Philosophiegeschichte als philosophisches Problem: Kritische Überlegungen namentlich zu Kant und Hegel 9783495997642, 3495478701, 9783495478707


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German Pages [425] Year 1998

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Table of contents :
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Vorwort
Zitationsweise
I. Einleitung
1. Philosophie der Geschichte der Philosophie versus Historie der Philosophie
2. Kant im Lichte späterer „Philosophiegeschichtsphilosophien“
3. Projektbeschreibung
3.1 Der Platonismus in der Philosophiegeschichtsschreibung
3.2 Gut erfundene Geschichten
3.3 Plädoyer für ein verändertes Verständnis von Historie der Philosophie
3.4 Vorgehensweise
II. Geschichtliche Vernunft - Drei Ansätze
0. Vorbemerkung
0.1 Nähe zu Hegel
0.2 Subjektvernunft anstatt Vernunftsubjekt? Frage an die neuere „Philosophiegeschichtsphilosophie“
1. Philosophie als „Theorie über solches, was ist“ (Hermann Lübbe)
1.1 Die Programmatik
1.2 Einwände gegen die Programmatik
a) Philosophiehistorie als Signum unserer Zeit?
b) Unterbestimmung von Philosophiehistorie
c) Abschluß gegen mögliche Kritik
2. Philosophie als Geschichtsphilosophie der Philosophiegeschichtsschreibung (Lucien Braun)
2.1 Die Programmatik
2.2 Einwände gegen die Programmatik
a) Zirkularität
b) Problematischer Umgang mit Texten
c) Ordnungsprobleme
d) Historie der Philosophie: bloß „stückweise Lektüre“ von Texten?
3. Philosophie als Bemühen um begründete Orientierungen (Jürgen Mittelstraß)
3.1 Die Programmatik
3.2 Einwände gegen die Programmatik
a) Der metaphysische Hintergrund der konstruktiv-hermeneutischen Position
b) Defizit an historischem Wissen
c) Meinungs- versus Argumentationsgeschichte?
4. Kurze Zusammenfassung
III. Logische Vernunft - Hegel und die Geschichte der Philosophie
0. Vorbemerkung
0.1 Nähe zu Kant
0.2 Die Interpretationsschritte
1. Konzeptuelle Voraussetzungen der Philosophiegeschichtsphilosophie
1.1 Aspekte des philosophischen Systems
a) Philosophie als „Wissenschaft der Idee“
b) Realphilosophische Programmatik
c) Philosophie der Geschichte
d) Geschichtlichkeit der Philosophie?
e) Kritik der Geschichte
1.2 Exkurs: Ansatz zu einer philosophischen Geschichte der Philosophie4 (1801)
1.3 „Historie“ im späteren System
a) Wissen unnützer Sachen
b) Historie mit Verstand
1.4 Die Struktur ,,jede[r] Geschichte“ im eigentlichen Sinn
a) Die Kreuzstruktur der „eigentlich sogenannten Geschichte“
b) Methodische Konsequenzen
1.5 Geschichte im normativ ausgezeichneten Sinn: Die Weltgeschichte
a) Der Organismus Weltgeschichte“
b) Geschichtsbetrachtung sub specie aeternitatis und als Theodizee
1.6 Ungeschichtliches Werden
a) Verlaufsformen
b) „Sinnige“ Geschichtsbetrachtung
1.7 Die Normativität des Hegelschen Geschichtskonzepts
2. Geschichte der Philosophie: Die Programmatik
2.1 Das Verhältnis von Philosophie und Philosophiegeschichte
2.2 Funktionen der Philosophiegeschichtsphilosophie
3. Einwände gegen die Hegelsche Programmatik
3.1 Uneingelöste Programmatik
3.2 Gründe und Folgen
a) Mangel an Zeit
b) Sinnverstehen
c) Verstehen im zeitlichen Nachhinein
d) Theoretisch geschlossene Zukunft - ein Gedankenexperiment
e) Historie der Philosophie: bloß „unordentliche“ Anhäufung von „Meinungen“?
f) Die Zeit als Grenze
IV. Teleologische Vernunft - Kant und die Geschichte der Philosophie
0. Vorbemerkung
0.1 Nähe zu Hegel?
0.2 Die Interpretationsschritte
0.3 Als Leitfaden
1. Schritte in der Kantischen Philosophiegeschichtsphilosophie
1.1 Vorkritische Philosophie
a) Die alten „Arten zu philosophieren“
b) Der „Mechanismus in den menschlichen Neigungen“ (Beschreibung)
1.2 Der erste Schritt: Philosophiegeschichtsphilosophie als rationale Naturmetaphysik
a) Rationale Naturmetaphysik im allgemeinen
b) Philosophiegeschichtsphilosophie als „philosophische Archäologie“
1.3 Ausgang aus der Naturmetaphysik
a) „Geschichte [...] der sich aus Begriffen entwickelnden Vernunft“
b) „Geistesschwung“ zu Ideen
1.4 Der zweite Schritt: Steigerung der Philosophiegeschichtsphilosophie zur teleologischen Naturlehre
a) Vernunftnatur und „Vernunftkunst“
b) Die Ausbildung von Philosophie als Vernunftkunst
1.5 Ausgang aus der Naturteleologie
a) Der moralisch-praktische Zweck
b) „Selbstdenken“: Die philosophiespezifische „Revolution der Denkungsart“
c) Das Schema der Philosophiegeschichtsphilosophie als ,Idee zu einer ganz besonderen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“
1.6 Zwischenüberlegung: Relevante Aspekte der philosophischen Grundprogrammatik „Weisheit, aber durch den Weg der Wissenschaft“
1.7 Der dritte Schritt: Steigerung der Philosophiegeschichtsphilosophie zur Physikotheologie
a) Allgemeine Geschichtsphilosophie als Beispiel
b) Philosophischer Naturzustand
c) Die ,Kritik der reinen Vernunft“ als „Gerichtshof“
1.8 Die wissenschaftliche Ordnung im philosophischen Rechtszustand
1.9 Vom philosophischen Naturzustand zum Rechtszustand oder: von der kriegerischen zur streitbaren Verfassung der Philosophie
1.10 Resümee zur Kantischen Philosophiegeschichtsphilosophie
a) Der Geltungsanspruch
b) Die Sinnstiftung
c) Geschichtsphilosophie anstatt rationale Theologie
d) Der Ort der Geschichte: das „Leere und eben darum Unbegreifliche“
2. Philosophiegeschichtsphilosophie versus Historie der Philosophie
2.1 Die Grunddisjunktion ,rational versus historisch4
2.2 Rationale versus historische Wissenschaften
2.3 Zwei Dispositionen nichtphilosophischer Philosophiegeschichtsschreibung
2.4 Kurzes Resümee zum Kantischen Verständnis von Historie der Philosophie
3. Einwände gegen die Kantische Programmatik von Philosophiegeschichtsschreibung überhaupt
a) Praktischer Dogmatismus
b) Praktisch geschlossene Zukunft
c) Historie der Philosophie: „unbefugte“ Geschichtsschreibung?
V. Plädoyer für die „bloße“ Philosophiehistorie -EinAusblick
1. Gesamtresümee
2. Literarische Texte als Quellen
3. Sinn- und Argumentationsdimension philosophischer Texte
4. Die Kenntnis von Texten im Nachhinein und in zeitlichen Zusammenhängen
5. Wozu Philosophiehistorie?
5.1 Orientierungsfunktion
5.2 Korrektivfunktion
5.3 Erinnerungsfunktion
Verzeichnis der zitierten Literatur
Personenregister
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Philosophiegeschichte als philosophisches Problem: Kritische Überlegungen namentlich zu Kant und Hegel
 9783495997642, 3495478701, 9783495478707

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Petra Kolmer

Philosophiegeschichte als philosophisches Problem Kritische Überlegungen namentlich zu Kant und Hegel

ALBER PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495997642

.

B

ALBER REIHE PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

Zu diesem Buch: Kauu Philosophiegeschichtsschreibuug mehr seiu als uur eiu histo­ risch-empirisches Geschäft; kauu sie eiu apriorisch-philosophisches Huteruehmeu seiu? Ausgeheud vou zeitgeuössischeu Ausätzeu zu eiuer gleichsam ,philosophischeu Geschichte der Philosophie“ (bei Lübbe, Brauu uud Mittelstraß) bietet das Buch eiue dezidierte Aualyse der wirkmächtigeu .Philosophiegeschichtsphilosophieu“ vou Hegel uud (erstmals ausführlich) vou Kaut. Es macht dabei klar, daß die vou Kaut als „Geschichte der reiueu Veruuuft“ auf deu Weg ge­ brachte philosophische Form der Philosophiegeschichtsschreibuug meuscheuuumöglich ist. Deuu Meuscheu siud eudlich. Möglich uud siuuvoll - für sie ist Philosophiegeschichtsschreibuug uur iu historisch-empirischer Form, die dieses Buch iu umfasseuder Weise ueu zu bestimmeu versucht. Cau the writiug of the history of philosophy be more thau just au historical, empirical busiuess? Cau it be au a prioriphilosophical eudeavor? Based ou coutemporary approaches to a “philosophical his­ tory of philosophy” (Lübbe, Brauu aud Mittelstraß), Kolmer offers au iucisive aualysis of the powerful “Philosophies of the History of Phi­ losophy” from Hegel aud - for the first time iu detail - from Kaut. She clearly shows that the philosophical form for the writiug of the his­ tory of philosophy, which emauates from the “History of Pure Reasou” from Kaut, is humauly impossible. This is because humaus are fiuite. For the author, the writiug of the history of philosophy is possible - aud meauiugful - ouly iu a historical, empirical form, which this book attempts to describe iu a uew aud compreheusive way. Die Autoriu: Dr. phil. Petra Kolmer, geb. 1957, ist wlsseuschafth'che Mitarbeiteriu am Philosophischeu Semiuar A der Huiversität Bouu. Veröffeutlichuug beiAlber: „Greuzbestimmuugeu der Veruuuft“ (hrsg. zus. mit H. Korteu, 1994).

https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

Petra Kolmer Philosophiegeschichte als philosophisches Problem

https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

Alber-Reihe Philosophie

https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

Petra Kolmer

Fhilosophiegeschichte als philosophisches Problem Kritische Überlegungen namentlich zu Kant und Hegel

Verlag Karl Alber Freiburg/München https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

Die Deutsche Bibliothek - CVP-Einheitsaufnahme Kolmer, Petra:

Philosophiegeschichte als philosophisches Problem : kritische Überlegungen namentlich zu Kant und Hegel / Petra Kolmer. - Freiburg [Breisgau]; München : Alber, 1998 (Alber-Reihe Philosophie) ISBN 3-495-47870-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte Vorbehalten - Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Preiburg/München 1998 Einbandgestaltung: Eberle H Kaiser, Preiburg Einband gesetzt in der Potis SemiSerifvon Otl Aicher Satzherstellung: SatzWeise Trier Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 1998 ISBN 3-495-47870-1

https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

Für meine Eltern, Marianne und Walter Kolmer, und für Thomas

https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

„Es erhellt schon zum Voraus, daß die Zeit eines Semesters zu kurz ist, die Geschichte der Philosophie, diese Arbeit des Geistes von mehreren tausend Jahren, ganz vollständig auseinanderzusetzen.“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel „Die Menschen würden viel darum geben, wären sie imstande, ihre Handlungen mit den Augen künftiger Historiker zu sehen.“ Arthur C. Danto

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Vorwort

Diese Arbeit lag im Mai 1995 dem Fachbereich Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen als Dissertation vor. Sie wurde für den Druck leicht überarbeitet. Die Überarbeitung ist durch Hinweise angeregt worden, die mir meine Lehrer gegeben ha­ ben. Dafür schulde ich ihnen Dank: zuerst Prof. Dr. Dr. h.c. Odo Marquard, der mein Gießener ,Adoptiv‘-Doktorvater ge­ wesen ist; sodann Prof. Dr. Dr. h.c. Cornelius Mayer sowie Prof. Dr. Günter Oesterle, meinen zwei philosophieexternen Gießener Lehrern, denen ich zugleich freundschaftlich verbun­ den sein darf; und dem seinerzeitigen Dekan des Fachbereichs Germanistik der Gießener Universität, Prof. Dr. Erwin Leib­ fried. Danken darf ich auch Herrn Prof. Dr. Rainer Specht (Mannheim): Er hat mir noch wichtige, weiterführende Hin­ weise gegeben, die ich für die Drucklegung jedoch - aus Mangel an Zeit - leider nicht mehr angemessen berücksichtigen konnte. Schließlich danke ich Herrn Dipl.-Phys. Dietmar Hübner für seine Bereitschaft, Korrektur zu lesen, und Herrn Dr. Falk Redecker sowie dem Alber-Verlag für ein wirklich freundliches Entgegenkommen. Mein besonderer Dank aber gilt meinem langjährigen Lehrer und Freund, Prof. Dr. Hans Michael Baumgartner (Bonn): Er regte das Projekt an und stand mir mit hilfreicher Kritik stets zur Seite. Gewidmet ist die Arbeit meiner Familie, die mich in vielerlei Hinsicht unterstützt hat, und vor allem meinem Vater. Denn für ihn war die Zeit, die Lebenszeit, zu kurz, um die Fertigstellung dieser Arbeit noch erleben zu können. Bonn, im März 1998

P. K.

11 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

Inhalt

Vorwort.................................................................................

11

Zitationsweise......................................................................

19

I. Einleitung....................................................................

21

1. Philosophie der Geschichte der Philosophie versus Historie der Philosophie.................................................

21

2. Kant im Lichte späterer „Philosophiegeschichtsphilo­ sophien“ ...........................................................................

37

3. Projektbeschreibung....................................................... 3.1 Der Platonismus in der Philosophiegeschichts­ schreibung ................................................................ 3.2 Gut erfundene Geschichten...................................... 3.3 Plädoyer für ein verändertes Verständnis von Historie der Philosophie......................................... 3.4 Vorgehensweise.......................................................

41 42 51 56 62

II. Geschichtliche Vernunft - Drei Ansätze .... 67 0. Vorbemerkung................................................................ 0.1 Nähe zu Hegel.......................................................... 0.2 Subjektvernunft anstatt Vernunftsubjekt? Frage an die neuere „Philosophiegeschichtsphilosophie“ . . 1. Philosophie als „Theorie über solches, was ist“ (Hermann Lübbe).......................................................... 1.1 Die Programmatik .................................................

67 67 69 70 70

13 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

1.2 Einwände gegen die Programmatik.......................

75

a) Philosophiehistorie als Signum unserer Zeit?............................ b) Unterbestimmung von Philosophiehistorie................................ c) Abschluß gegen mögliche Kritik................................................

77 79 81

2. Philosophie als Geschichtsphilosophie der Philosophie­ geschichtsschreibung (Lucien Braun)............................. 84 2.1 Die Programmatik.................................................... 84 2.2 Einwände gegen die Programmatik....................... 101 a) Zirkularität........................................................................................ b) Problematischer Umgang mit Texten........................................ c) Ordnungsprobleme........................................................................ d) Historie der Philosophie: bloß „stückweise Lektüre“ von Texten?................................................................................................

102 105 107 110

3. Philosophie als Bemühen um begründete Orientierun­ gen (Jürgen Mittelstraß)................................................. 112 3.1 Die Programmatik .................................................... 112 3.2 Einwände gegen die Programmatik....................... 119 a) Der metaphysische Hintergrund der konstruktiv-hermeneutischen Position.................................................................................... b) Defizit an historischem Wissen.................................................... c) Meinungs- versus Argumentationsgeschichte?........................

4. Kurze Zusammenfassung..............................................

120 123 129

132

III. Logische Vernunft - Hegel und die Geschichte der Philosophie................................ 135 0. Vorbemerkung................................................................ 0.1 Nähe zu Kant............................................................. 0.2 Die Interpretationsschritte......................................

135 135 137

1. Konzeptuelle Voraussetzungen der Philosophie­ geschichtsphilosophie .................................................... 139 1.1 Aspekte des philosophischen Systems ................. 139 a) Philosophie als „Wissenschaft der Idee“.................................... b) Realphilosophische Programmatik............................................ c) Philosophie der Geschichte............................................................ d) Geschichtlichkeit der Philosophie?............................................ e) Kritik der Geschichte....................................................................

139 143 147 150 153

1.2 Exkurs: Ansatz zu einer philosophischen Ge­ schichte der Philosophie4 (1801)............................. 154

14 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

1.3 „Historie“ im späteren System................................

164

a) Wissen unnützer Sachen................................................................ b) Historie mit Verstand....................................................................

166 174

1.4 Die Struktur ,,jede[r] Geschichte“ im eigentlichen Sinn........................................................................... 180 a) Die Kreuzstruktur der „eigentlichsogenannten Geschichte“ . 182 b) Methodische Konsequenzen........................................................

193

1.5 Geschichte im normativ ausgezeichneten Sinn: Die Weltgeschichte.................................................

197

a) Der Organismus Weltgeschichte“................................................ b) Geschichtsbetrachtung sub specie aeternitatis und als Theo­ dizee ....................................................................................................

197 199

1.6 Ungeschichtliches Werden...................................... 202 a) Verlaufsformen................................................................................ b) „Sinnige“ Geschichtsbetrachtung................................................

202 206

1.7 Die Normativität des Hegelschen Geschichts­ konzepts ................................................................... 208 2. Geschichte der Philosophie: Die Programmatik............ 212 2.1 Das Verhältnis von Philosophie und Philosophie­ geschichte ................................................................ 212 2.2 Funktionen der Philosophiegeschichtsphilosophie . 218 3. Einwände gegen die Hegelsche Programmatik............220 3.1 Uneingelöste Programmatik................................... 220 3.2 Gründe und Folgen................................................. 224 a) Mangel an Zeit................................................................................ b) Sinnverstehen.................................................................................... c) Verstehen im zeitlichen Nachhinein............................................ d) Theoretisch geschlossene Zukunft - ein Gedankenexperiment e) Historie der Philosophie: bloß „unordentliche“ Anhäufung von „Meinungen“?............................................................................ f) Die Zeit als Grenze........................................................................

224 227 230 233 240 243

IV. Teleologische Vernunft - Kant und die Geschichte der Philosophie................................ 245 0. Vorbemerkung............................................................... 0.1 Nähe zu Hegel?...................................................... 0.2 Die Interpretationsschritte..................................... 0.3 Als Leitfaden .........................................................

245 245 254 259

15 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

1. Schritte in der Kantischen Philosophiegeschichts­ philosophie ..................................................................... 264 1.1 Vorkritische Philosophie......................................... 264 a) Die alten „Arten zu philosophieren“........................................ b) Der „Mechanismus in den menschlichen Neigungen“ (Be­ schreibung) ........................................................................................

264 276

1.2 Der erste Schritt: Philosophiegeschichtsphilo­ sophie als rationale Naturmetaphysik.................... 281 a) Rationale Naturmetaphysik im allgemeinen............................ b) Philosophiegeschichtsphilosophie als „philosophische Archäologie“....................................................................................

284

1.3 Ausgang aus der Naturmetaphysik.......................

295

a) „Geschichte [...] der sich aus Begriffen entwickelnden Ver­ nunft“ ................................................................................................ b) „Geistesschwung“ zu Ideen........................................................

290

295 299

1.4 Der zweite Schritt: Steigerung der Philosophiege­ schichtsphilosophie zur teleologischen Naturlehre 302 a) Vernunftnatur und „Vernunftkunst“........................................ b) Die Ausbildung von Philosophie als Vernunftkunst ....

305 309

1.5 Ausgang aus der Naturteleologie..........................

313

a) Der moralisch-praktische Zweck................................................ b) „Selbstdenken“: Die philosophiespezifische „Revolution der Denkungsart“................................................................................ c) Das Schema der Philosophiegeschichtsphilosophie als ,Idee zu einer ganz besonderen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“............................................................................................

313 316

320

1.6 Zwischenüberlegung: Relevante Aspekte der philosophischen Grundprogrammatik „Weisheit, aber durch den Weg der Wissenschaft“..................... 322 1.7 Der dritte Schritt: Steigerung der Philosophie­ geschichtsphilosophie zur Physikotheologie .... 327 a) Allgemeine Geschichtsphilosophie als Beispiel.................... b) Philosophischer Naturzustand.................................................... c) Die ,Kritik der reinen Vernunft“ als „Gerichtshof“................

329 331 334

1.8 Die wissenschaftliche Ordnung im philosophischen Rechtszustand .......................................................... 335 1.9 Vom philosophischen Naturzustand zum Rechts­ zustand oder: von der kriegerischen zur streitbaren Verfassung der Philosophie ................................... 346 1.10 Resümee zur Kantischen Philosophiegeschichts­ philosophie ............................................................. 353 a) Der Geltungsanspruch.................................................................... b) Die Sinnstiftung............................................................................

16 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

353 356

c) Geschichtsphilosophie anstatt rationale Theologie.................... d) Der Ort der Geschichte: das „Leere und eben darum Unbegreifliche“...................................................................................

2. Philosophiegeschichtsphilosophie versus Historie der Philosophie...................................................................... 2.1 Die Grunddisjunktion ,rational versus historisch4 2.2 Rationale versus historische Wissenschaften .... 2.3 Zwei Dispositionen nichtphilosophischer Philo­ sophiegeschichtsschreibung ...................................... 2.4 Kurzes Resümee zum Kantischen Verständnis von Historie der Philosophie.........................................

357 358

361 361 363 366 368

3. Einwände gegen die Kantische Programmatik von Philosophiegeschichtsschreibung überhaupt..................... 369 a) Praktischer Dogmatismus............................................................... b) Praktisch geschlossene Zukunft....................................................... c) Historie der Philosophie: „unbefugte“ Geschichtsschreibung?

370 373 377

V. Plädoyer für die „bloße“ Philosophiehistorie -EinAusblick.......................................................... 379 1. Gesamtresümee................................................................

379

2. Literarische Texte als Quellen ...................................... 392 3. Sinn- und Argumentationsdimension philosophischer Texte ................................................................................. 396 4. Die Kenntnis von Texten im Nachhinein und in zeit­ lichen Zusammenhängen.............................................. 401 5. Wozu Philosophiehistorie?.............................................. 5.1 Orientierungsfunktion.............................................. 5.2 Korrektivfunktion.................................................... 5.3 Erinnerungsfunktion.................................................

408 408 410 412

Verzeichnis der zitierten Literatur ......................................

414

Personenregister ................................................................... 422

17 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

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Zitationsweise

Die Zitationsweise wird wie folgt gestaltet: 1. Die vollständigen bibliographischen Angaben der in dieser Arbeit herangezogenen Schriften finden sich im Literaturver­ zeichnis. 2. In denjenigen Kapiteln oder Abschnitten, die sich auf einen einzigen Autor beziehen, besitzen häufig zitierte Werke (Bücher oder Aufsätze) ein Sigel oder einen verständlichen Kurzitel, die im Literaturverzeichnis erläutert sind. Sigel bzw. Kurzitel und Seitenangaben werden in den laufenden Text eingefügt. In Ka­ piteln, die sich auf ein einziges Werk (Buch oder Aufsatz) bezie­ hen, werden lediglich Seitenangaben in den laufenden Text ein­ gefügt; auf ein Sigel wird verzichtet. 3. Wird ein Text, der in einem Teil dieser Arbeit als Primärtext behandelt wird, in einem anderen Teil, Kapitel oder Abschnitt noch einmal als Sekundärliteratur herangezogen, so wird in einer Fußnote auf ihn verwiesen. Handelt es sich um einen Text der beiden in dieser Arbeit behandelten ,Klassiker‘ der Philoso­ phie (Kant und Hegel), so wird in der Fußnote nur ein Kurzti­ tel verwendet und die Seite der im Literaturverzeichnis erwähn­ ten Werkausgabe angegeben, aus der bzw. der gemäß zitiert wird. 4. Werke, die ausschließlich den Status von Sekundärliteratur besitzen, werden dort, wo sie in den Fußnoten zum erstenmal erwähnt werden, bibliographisch vollständig verzeichnet. 5. Das innerhalb eines Zitats in eckigen Klammern Gesetzte resultiert aus einer Umstellung des jeweiligen Zitats, zumeist aus Gründen grammatikalischer Einpassung in den Duktus der Ar­ gumentation oder Darstellung. Auslassungen in den Zitaten sind ebenfalls durch eckige Klammern gekennzeichnet. Nur gele­ gentlich werden Hervorhebungen, die sich im Original finden, mit übernommen. Hervorhebungen in den Zitaten, die auf die Verfasserin zurückgehen, sind durch ,,H. v. V.“ gekennzeichnet, Zusätze, für die dies gilt, durch ,,Z.v. V.“. 19 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

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I. Einleitung

1. Philosophie der Geschichte der Philosophie versus Historie der Philosophie Nach Ansicht vieler Philosophen seit Kant ist die Philosophie­ geschichtsschreibung nicht eine Geschichtsschreibung wie jede andere. Sie ist Geschichtsschreibung von ganz „besonderer Art“1. Sie ist es z. B. dann, wenn man, wie Kant, der Auffassung sein kann, das Philosophieren sei Movens und Medium der Ent­ wicklung der Philosophie als einer auf Entwicklung hin angeleg­ ten „Idee“, welche wie keine andere die Vernunft im Innersten zusammenhält, so daß man geradezu definieren kann: „[...] das Philosophiren ist eine allmälige Entwickelung der [...] Vernunft [,..]“2. Dort, wo das Philosophieren in diesem Sinn mit Ver­ nunftentwicklung in Verbindung gebracht werden kann, wie spä­ ter noch bei Hegel und im teleologischen Denken seither, dort ist die Philosophiegeschichtsschreibung ein „Theil der Philoso­ phie“3. Dort gibt es die „philosophische“4 oder „philosophirende Geschichte der Philosophie“5, d.h. die philosophische, ideen­ gestützte Bezugnahme auf den Gegenstandsbereich ,Geschichte der Philosophie4 (res gestae), die schon Kant der Philosophiege­ schichtsschreibung als einem bloß historisch-empirischen Ge­ schäft und als einem Teil der „Gelehrsamkeit“6 entgegengesetzt hatte. Gelehrte, die nur ,gelehrsam‘ sind, können, so sah es Kant, im Höchstfall „erzähl[en]“ (beschreiben), „wie man und

1 2 3 4 5 6

I. Kant, Lose Blätter, AA XX, 343. Ebda, 340. Ebda, 343. Ebda, 341. Ebda, 340. Ebda, 343.

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in welcher Ordnung bisher philosophirt hat“7. Sie skizzieren, der Sache nach, lediglich den „empirischen Weg[]“8 (nach der „Zeit­ folge der Bücher“), auf dem das Philosophieren jeweils bis heute (im deskriptiven Sinne) fortgegangen ist. Von einem Fortschritt im normativen Sinne aber können sie nicht Auskunft geben. Denn sie bewegen sich lediglich auf dem Standpunkt von Sinn­ lichkeit und Verstand (nicht auf dem der Vernunft), d. h. im Me­ dium einer „historischen Vorstellung der Philosophie“9, in der sich die philosophiegeschichtlichen Dinge nur erkennen lassen, „wie sie sind“10, nicht aber, daß sie auch „nothwendig so seyn müssen“11. So bleiben die Historiker und Empiriker im Grund­ satz bei einer „cop[i]elichen Betrachtung [...] der Weltord­ nung“12 stehen, obgleich gerade ihr Gegenstandsbereich, ja schon der Gegenstandsbereich „Geschichte“ überhaupt eine weitergehende, philosophische Betrachtung nahelegt. Denn Geschichte ist derjenige Wirklichkeitsbereich (neben oder über der physischen Natur), in dem die „menschliche Vernunft“ selbst derart „wahrhafte Kausalität“ zeigen kann, daß (praktische) „Ideen“, wie z.B. der „transzendente Begriff der Freiheit“13, „wirkende Ursachen“ von „Handlungen und ihrer Gegenstände“ werden14. Nun kommt es den Philosophen zu, sich im „Geiste[]“ zur Ver­ nunft und zu „Ideen“ aufzuschwingen, was denn auch „in der Tat“ (und zwar seit „Plato“) „die eigentümliche Würde der Phi­ losophie ausmacht“15. Weshalb es angemessen ist, daß sie sich der Geschichte annehmen und sie „unter Ideen“16 fassen. Die Geschichte wird, jedenfalls nach Kants programmatischem Vorschlag, „unter Ideen“ (und damit unter Prinzipien gefaßt, die in der Geschichtsschreibung „immer bleiben können“17), in­ dem diese als „Zwecke“ (d. h. als auf Entwicklung hin angelegte 7 Ebda, 340. 8 Vgl. I. Kant, Brief an K. Morgenstern vom 14.8.1795, AA XII, 36. 9 Lose Blatter, a. a. O., 340. 10 Ebda. 11 Ebda. 12 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 375. 13 Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 169. 14 Kritik der reinen Vernunft, B 374. 15 Ebda, B 375; zu Platon vgl. B 372ff. 16 Kant, Nachlaßreflexion Nr. 1997. 17 Ebda.

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Finalgründe) in den Gegenstandsbereich hineingelegt werden. Auf diese Weise läßt sich Geschichte „nach ihrer Nothwendigkeit“ vorstellen18 und als ein sich dynamisch entfaltendes System und als Totalität in diesem Sinn zur Geltung bringen. Es waren zwei, auf komplexe Weise miteinander zusammen­ hängende „Ideen“, welche Kant für diejenige sittliche Welt (oder Geschichte) namhaft machte, die für ihn ein Bestandteil der sittlichen Welt oder der Geschichte überhaupt (d.h. der Weltgeschichte) und doch am nachdrücklichsten auf Vernunft und auf Ideen hin angelegt gewesen ist: für die Geschichte des Philosophierens als des diskursiven „Gebrauchs“ der menschli­ chen Vernunft („nur [...] nach Begriffen“), der zugleich auch auf Vernunft gerichtet, d.h. „Vernunftforschung“ ist. Erstens die Idee einer „Philosophie der spekulativen Vernunft“ (als der Wis­ senschaft von den grundlegenden Prinzipien der menschlichen Erkenntnis) und zweitens (aber systematisch primär) die genuin praktische Idee von Philosophie als „Weisheitslehre“. Diese Ideen (im allgemeinen die Ideen von Wahrheit und Freiheit) be­ stimmte Kant als Zwecke, von denen sich ,mutmaßen‘ ließ, daß sie (wie „Keime“) zutiefst im menschlichen Vernunftvermögen angelegt sind, genauer: in einer „Natur“, die Kant diesem Ver­ mögen vindiziert hat. Von Ideen her ließ sich nun dem Philosophieren in der Ver­ gangenheit allererst ein Sinn abgewinnen: Mußte man im histo­ risch-empirischen Kontext zur Kenntnis nehmen, daß einzelne Denker bzw. Gruppen („Schulen“) in und mit dem Philosophie­ ren unterschiedliche Zwecke verfolgt, d. h. verschiedene Philo­ sophiekonzepte zu realisieren versucht hatten, so konnte man es jetzt im ganzen sehen und so deuten, als sei es Movens und Me­ dium der Entfaltung bezeichneter Ideen und also ein vereintes Bemühen gewesen, das nur der Realisierung dieser Ideen gegol­ ten habe. Weiter ließ sich annehmen, es sei jenem Bemühen zu verdanken gewesen, daß sich diese Ideen in zeitgenössischer Ge­ genwart in „hellerem Licht“ gezeigt hatten und nun jene philo­ sophische Grundwissenschaft hatte etabliert werden können, die diese Ideen (mit der ihnen eigenen Dynamik) ebenso vollständig wie kritisch explizierte: die Kritik der reinen Vernunft. Diese wie­ derum fundierte das „wahre“ philosophische System, in das, als 18 Formuliert im Anschluß an Kant, Lose Blätter, a. a. O., 340.

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„Theil“, eine „philosophische Geschichte der Philosophie“ hineingehörte19 - eine Geschichtsphilosophie der Philosophie oder „Philosophiegeschichtsphilosophie“20, in der nach dem Leitfaden der KrV21 jene Geschichte auszulegen war, als deren Resultat man diese Wissenschaft selbst zu verstehen hatte. So ist die Philosophiegeschichtsschreibung - in der Tat - nicht eine Geschichtsschreibung wie jede andere, sondern Geschichts­ schreibung von ganz „besonderer Art“. Kants Versuch, die Philosophiegeschichtsschreibung in den Rang einer philosophischen Wissenschaft zu erheben, die das Philosophieren zunächst überhaupt auf eine „allmälige Entwikkelung der menschlichen Vernunft“ bezieht (welche „nicht auf dem empirischen Wege fortgegangen seyn oder auch angefan­ gen haben [kann]“22, auch wenn sie jederzeit in Raum und Zeit Gestalt annimmt und Geschichte konstituiert) und das Gesche­ hene dann als „Geschichte [...] der sich aus Begriffen entwikkelnden Vernunft“23 (oder auch als „Geschichte der reinen Vernunft“24) zur Geltung bringt, setzt, historisch gesehen, vieler­ lei voraus: Zu nennen wäre vor allem die folgenreiche Entdeckung des 18. Jahrhunderts, daß sich der Bereich der menschlichen Taten und Begebenheiten überhaupt (die dynamisch gedachte sittliche Welt, die „Weltgeschichte“) als ein eigenständiger Objektbe­ reich neben bzw. über der physischen Natur und auch gleichsam als eine Natur auffassen ließ - als eine gänzlich lebendige Natur, wie die Terme „Entwicklung“ oder „organische[r] Zusammen­ hang“25 anzeigen, mit denen man die Geschichte zunächst vor allem beschrieb. Für diese zweite Natur glaubte man zugleich, 19 Vgl. Kritik der reinen Vernunft, B 880ff. 20 Diesen Terminus hat Hermann Lübbe geprägt, in: Philosophiegeschichte als Philo­ sophie. Zu Kants Philosophiegeschichtsphilosophie, in: K. Oehler/R. Schaeffler (Hrsg.), Einsichten. Gerhard Krüger zum 60. Geburtstag, Frankfurt/M. 1962, 204­ 229. Der Ausdruck wird in dieser Arbeit zur Bezeichnung des Projekts einer philoso­ phischen Bezugnahme auf den Gegenstandsbereich ,Philosophiegeschichte‘ beibehal­ ten. 21 Vgl. Kant, Brief an K. Morgenstern, a. a. O. 22 Kant, Lose Blatter, a. a. O., 340. 23 Ebda, 343. 24 Kritik der reinen Vernunft, B 880. 25 So formuliert nach Johann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklo­ pädie und Methodologie der Geschichte, kritische Textausgabe von P. Ley, Stuttgart/ Bad Cannstatt 1977,7.

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ein sie hervorbringendes Subjekt namhaft machen zu können, nämlich (wenigstens zunächst, und so auch bei Kant) die „Menschheit“ bzw. den „Menschen“ (kollektiv gesehen), der in der neu entstehenden Disziplin „Philosophie der Geschichte“ zu erkennen sucht, was er qua Vernunft aus sich selbst hervorge­ bracht bzw. (im Sinne der Entwicklung) aus sich selbst gemacht hat26. Zu nennen wäre aber auch die geradezu „schulmäßige Form“, in der das 18. Jahrhundert die Historie (als cognitio factorum) der Philosophie (als cognitio causarum) im allgemeinen strikt entgegengesetzt hat27. In Kants Abgrenzung der Philosophiehi­ storie und -empirie von der Philosophiegeschichtsphilosophie lebte diese Entgegensetzung weiter. Und auch post Kant hielt man gerade im Bereich der Philosophiegeschichtsschreibung an dieser Differenzierung und damit zugleich auch an drei Über­ zeugungen fest, die sich mit Kants Konzept von Philosophiege­ schichtsschreibung überhaupt verbanden: erstens, daß die Philo­ sophiegeschichtsschreibung eine Aufgabe sei, die in erster Linie von Philosophen und niemals von Historikern und Empirikern zu bewältigen ist. Genauer: Sie ist eine Aufgabe der Philo­ sophen, die es erst jetzt, nach einer langen Geschichte des Be­ mühens um Philosophie, wirklich geben kann. Zweitens hielten insbesondere diejenigen wirklichen Philosophen, die, wie Kant, teleologische Denker waren, mit Kant daran fest, daß die Phi­ losophiegeschichtsschreibung von Historikern und Empirikern betrieben wird, solange es noch keine wirklichen Philosophen 26 Zur Entstehung der Geschichtsphilosophie im 18. Jahrhundert vgl. in aller Kürze: G. Scholtz, Art. Geschichte, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Sp. 344-398, insbes. Sp. 357 ff. Scholtz skizziert gut, wie im 18. Jahrhundert „an die Stelle der theologisch bestimmten Universal-G[eschichte] [...] die G[eschichte] der Menschheit als Zivilisationsprozeß und universale Kulturentwicklung [tritt]“, wie sich damit der Ausdruck „Geschichte“ im „Kollektivsingular“ durchsetzt, mit dem sich nun die Vorstellung von einer „Kohärenz“ der berichteten Ereignisse ebenso verbindet wie die Vorstellung von einem einheitlichen „Geschichtssubjekt“, und wie dadurch die (in der Rhetorik festgelegten) ,leges historicae\ die zunächst nur „Anweisungen gaben, wie ein verstehbarer Erzählzusammenhang herzustellen sei, [...] zu gesetzli­ chen Zusammenhängen der Sache selbst“ werden; aber auch, wie später, im Deut­ schen Idealismus, „Geschichte“ zum Entwicklungsprozeß einer von der Menschheit abgelösten und, so bei Hegel, als „Geist“ personifizierten absoluten Vernunft avan­ ciert, die in einer „Philosophie der Geschichte“ zu erkennen sucht, was sie aus sich selbst gemacht hat. 27 Vgl. G. Scholtz, ebda, Sp. 354f.

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gibt. Denn nach gewissen teleologischen Gesichtspunkten ent­ stehen historische und empirische Wissenschaften früher als die Philosophie (so sieht es die Ordnung der Geschichte vor), ob­ gleich die ersteren der letzteren, der epistemologischen Ord­ nung nach zu urteilen (wie sie am Ende der Geschichte aller Wissenschaften erkennbar wird), in jedem Fall nachgeordnet sind. Drittens blieb in teleologischen Vernunft-, Philosophieund Geschichtskonzepten Kants Überzeugung in Kraft, daß eine blühende Philosophiehistorie und -empirie das Entstehen wirklicher Philosophie blockieren kann, weil man eine histo­ risch-empirische Beschäftigung mit philosophischen Systemen irrtümlich für eine Weise zu philosophieren halten kann. Kant brachte die beiden zuletzt genannten Ansichten im Zusammen­ hang mit einer komplexen Kritik am zeitgenössischen Zustand des Wissenschaftsgefüges zum Ausdruck: Ihr zufolge beendet die Kritische Philosophie eine Situation, in der auf bisher nie dagewesene Weise alles Philosophieren (alle „Vernunftfor­ schung“) brachgelegen und, philosophiebezogen, „gänzlicher Überdruß“ und „Indifferentismus“, d. h. eine Gleichgültigkeit aller Vernunft (Wahrheit und Freiheit) gegenüber geherrscht ha­ be („die Mutter des Chaos und der Nacht“). Denn „alle Wege“, Philosophie als eine für jedermann akzeptable Wissenschaft zu­ stande zu bringen, schienen beschritten - und „vergeblich“ be­ schritten - worden zu sein28 (freilich war aber der „kritische Weg [...] noch offen“29). Diese Situation ist nun eigentümlich auch insofern, als in ihr, folgt man Kant weiter, Gelehrte auf den Plan getreten sind, „denen die Geschichte der Philosophie (der alten sowohl als der neuen) selbst ihre Philosophie“ war30. Nach Auf­ fassung des Autors der Kritik philosophierte man also kurz vor dem Entstehen dieses Buches erst einmal nicht mehr. Stattdessen beschäftigte man sich historisch-empirisch mit Philosophie und hielt schon für Philosophie, was in Wahrheit nur „Gelehr­ samkeit“ war. Daß „die Philosophie [...] unter uns ein Gegenstand der Gelehrsamkeit geworden“ ist31, verfällt auch später, z.B. bei 28 Kritik der reinen Vernunft, A X. 29 Ebda, B 884. 30 Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, A 3. 31 F. W. J. Schelling, Über die Preisfrage der Berliner Akademie für 1795 (1797), in:

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Schelling,

noch der Kritik. Inzwischen faßte man philosophie­ bezogene Gelehrsamkeit tatsächlich als eine Weise zu philoso­ phieren selbst auf. Bereits für den Hegel der Differenzschrift stand Gelehrsamkeit nicht mehr, wie noch für Kant, für eine vorübergehende Besiedlung des brachliegenden philosophi­ schen Terrains durch philosophiefremde Akteure. Sie stand für eine ,Umwandlung‘ der Philosophie selbst in ein „Wissen von Philosophie“ von der Dignität einer historischen „Kenntnis“ älterer und neuerer philosophischer Systeme: Die Wissenschaft par excellence war „in den Rang der Kenntnisse versetzt“32. Al­ lerdings kam Hegel mit Kant in der Ansicht überein, daß sich in der Reduzierung der Philosophie auf ihre eigene Historie eine philosophische „Indifferenz“ der Vernunft gegenüber artikulier­ te, zu der, wie Hegel vermutete, wohl „ein Zeitalter“ kommen müsse, das, wie das gegenwärtige, nicht nur „eine solche Menge philosophischer Systeme als eine Vergangenheit hinter sich lie­ gen hat“, in dem man vielmehr auch noch der Überzeugung ist, das Philosophieren habe sich nun „in allen Formen versucht“: In einer solchen Situation kann sich der für Philosophie maßgebli­ che „Trieb zur Totalität“ freilich bloß noch „als Trieb zur Voll­ ständigkeit der Kenntnisse“ äußern33. Indes stellte sehr viel später z. B. auch Heidegger noch kri­ tisch fest, daß man in der Philosophie nicht mehr „denkt“, son­ dern sich hauptsächlich „,mit‘ Philosophie“ beschäftigt34. Wobei inzwischen allerdings schon das ganze Universitätsfach ,Philosophie‘ - aufgrund der hier statthabenden Bezugnahme auf Texte (die als Bestandteile von Philosophiegeschichte gelten) - als An­ zeichen für ein Übermaß an Historie in der Philosophie bzw. für Schellings Werke, hrsg.v. Manfred Schröter, 1. Hauptband, München 1927, 377­ 385, 379. 32 Vgl. G. W. F. Hegel, Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, 15. 33 Ebda (H.v.V.). 34 Martin Heidegger, Überden Humanismus, Frankfurt/M. 81981, 9. Die „Beschäfti­ gung“ mit Philosophie ist Heidegger zufolge Ausdruck dafür, daß das „Denken zu Ende geht, indem es aus seinem Element“ - dem Sein - „weicht“ und diesen „Verlust“ dadurch ersetzt, daß es sich zu einer „Technik des Erklärens aus obersten Ursachen“ depotenziert, im „Wettbewerb solcher Beschäftigungen“ schließlich öffentlich anbie­ tet und „als Instrument der Ausbildung und darum als Schulbetrieb und später als Kulturbetrieb eine Geltung verschafft“ [ebda, 8f.]. Über einen solchen „Umtrieb“ seiner selbst berichtet der Mensch in „Geschichtshistorien“, wie Heidegger formu­ liert [vgl. 15].

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die Rückstufung von Philosophie auf ihre „eigene Historie“ ge­ deutet wurde35. So zeigte schon für Wilhelm Windelband „ein Blick auf den Lehrbetrieb der Universitäten [...], daß bei keiner Wissenschaft ihre Geschichte eine so große Rolle spielt wie bei der Philosophie“36. Und auch heute werden Vorlesungsverzeich­ nisse oft noch so gelesen, als müsse sich „die Philosophie [...] denen, die sie in Deutschland gegenwärtig studieren, vor allem als ihre eigene Historie“ präsentieren37. Denn sie scheint nur noch „mit der Geschichte ihrer eigenen Wissenschaft oder Tei­ len dieser Geschichte“ befaßt38. 35 Die Kritik an der Philosophiehistorie ließe sich auch von Nietzsche her stützen, der für seine Zeit ein Übermaß an Historie überhaupt diagnostizierte, die nicht in den Dienst einer „unhistorischen Macht“ (des „Lebens“) gestellt war. Nach Nietzsche bedarf das „Leben“ der Historie. Werde sie jedoch im „Übermaß“ betrieben, so han­ dele es sich um eine „bequeme Abkehr vom Leben und von der Tat“: Vgl. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: Werke in drei Bänden, hrsg.v. Karl Schlechta, Darm­ stadt 91982, Bd. 1, 219 und 209. 36 Vgl. Wilhelm Windelband, Geschichte der Philosophie, in: Ders. (Hrsg.), Die Phi­ losophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Festschrift für Kuno Fischer zum 80. Geburtstag, Heidelberg 1905, II. Band, 175-199,178. 37 Hermann Lübbe, Philosophiegeschichte als Philosophie, a. a. O., 204. 38 Hans-Martin Sass, Philosophische Positionen der Philosophiegeschichtsschrei­ bung, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschich­ te 46, 1972, 539-567, 539: „Die Philosophie, sofern sie als akademische Disziplin an wissenschaftlichen Hochschulen auftritt, unterscheidet sich von anderen Wissen­ schaften schon dadurch, daß sie die Beschäftigung mit der Geschichte ihrer eigenen Wissenschaft oder Teilen dieser Geschichte zu einem der bevorzugten Gegenstände ihrer wissenschaftlichen Bemühung macht“. Die Auffassung, daß die akademische Philosophie für eine Bezugnahme auf Ge­ schichte der Philosophie (als Gegenstand), mithin in subjektiver Rücksicht für Philo­ sophiehistorie steht, ist Ausgangspunkt fast aller jüngeren Arbeiten zum Thema Phi­ losophiegeschichte. Um nur wenige kurz zu nennen: Hans Georg Gadamers Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (Tübingen, 5. erweiterte Aufl. 1986) hatte einen bedeutsamen Aus­ gangspunkt darin, daß „in der philosophischen Arbeit der Gegenwart die Geschichte der Philosophie“ ein großes Gewicht besitzt [2]. Auch Lutz Geldsetzers material­ reiche Untersuchung Die Philosophie der Philosophiegeschichte im 19. Jahrhundert. Zur Wissenschaftstheorie der Philosophiegeschichtsschreibung und -betrachtung (Meisenheim 1968) setzte ein mit der Feststellung: „Ein Blick in die philosophischen Zeitschriften belehrt uns, daß wohl der überwiegende Teil der philosophischen For­ schungen historischen Themen gewidmet ist. So hört man denn auch oft die Klage oder den Vorwurf, die Philosophie sei in ihre Geschichte gleichsam versponnen und darum der Gegenwart und ihren andrängenden Fragen verschlossen“ [7]. Günther Bien ging davon aus, eine „Beobachtung in Form eines Blickes in die Vorlesungsver­ zeichnisse zeigt genügend deutlich, wie sich die Philosophie heute darstellt: die über­ wiegende Mehrzahl der an deutschen Universitäten angebotenen philosophischen

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Die Philosophie ist zur Geisteswissenschaft“39 geworden, wie man gelegentlich formuliert, und das heißt: Sie präsentiert sich gegenwärtig nicht nur überhaupt in einer Gestalt, in der es für sie konstitutiv ist, sich auf sich selbst, d. h. auf ihre (raumzeitli­ che) „Entwicklung“ (Geschichte) zurückzubeziehen40. Sie präLehrveranstaltungen hat klassische Texte sowie vergangene Denker und Systeme zum Gegenstand“: Das Geschäft der Philosophie, am Modell des juristischen Prozesses er­ läutert, in: Philosophie und Wissenschaft. 9. Deutscher Kongreß für Philosophie, Düs­ seldorf 1969, hrsg. von L. Landgrebe, Meisenheim 1972, 55-77, 56. Auch Walter Chr. Zimmerli setzte in seinen Untersuchungen insbesondere zur Geschichtsphiloso­ phie und Philosophiegeschichte im Denken des jungen Hegel so an: „Von Geschichts­ philosophie wird oft geredet - von Philosophiegeschichte dagegen und ihrem Verhält­ nis zur Geschichtsphilosophie seltener. Und das ist eigentlich erstaunlich, denn Philosophiegeschichte ist etwas, was wir alle - professionell oder nicht, zumeist jedoch mit schlechtem Gewissen betreiben; - mit schlechtem Gewissen deswegen, weil wir nicht recht sagen können, warum wir es eigentlich tun“: W. Chr. Zimmerli, Ge­ schichtsphilosophie und Philosophiegeschichte im Denken des jungen Hegel, in: Ders., Die Frage nach der Philosophie. Interpretationen zu Hegels ,Differenzschrift‘, Bonn 21986, 235-246, 235. Vgl. auch schon: Ders., Wozu noch Philosophiegeschichte? Legi­ timationsprobleme als Ansatz zu einer Philosophiegeschichtstheorie, in: Studia Philosophica 37,1977,199-234. Für Ulrich Johannes Schneider, dessen Diskursanalyse der „Inauguration des historischen Blicks“ im frühen 18. Jahrhundert gewidmet ist, ist das, was „akademische Lehrer der Philosophie“ tun, vergleichbar mit dem, was Philo­ logen oder Historiker der Philosophie tun: Ulrich Johannes Schneider, Die Vergan­ genheit des Geistes. Eine Archäologie der Philosophiegeschichte, Frankfurt/M. 1990, vgl. 12. Drei weitere Theorieentwürfe, in denen die Annahme, gegenwärtige Philosophie konstituiere sich als ihre eigene Historie, der Ausgangspunkt für ein von Kants oder Hegels einfacher ,Philosophie der Geschichte der Philosophie‘ abweichendes Kon­ zept von Philosophiegeschichtsphilosophie ist, werden im Rahmen dieser Arbeit nä­ her behandelt: die programmatischen Entwürfe 1) von Hermann Lübbe, Philosophie­ geschichte als Philosophie. Zu Kants Philosophiegeschichtsphilosophie, a. a. O.; 2) von Lucien Braun, Histoire de l’histoire de la philosophie, Paris 1972, dt.: Geschichte der Philosophiegeschichte. Bearbeitet und mit einem Nachwort versehen von Ulrich Jo­ hannes Schneider, Darmstadt 1990; sowie 3) von Jürgen Mittelstrass, Das Inter­ esse der Philosophie an ihrer Geschichte (Beitrag zum Symposium der schweizerischen philosophischen Gesellschaft in Zürich am 29. Februar 1976 unter dem Titel „Tradi­ tion und philosophisches Selbstverständnis“), in: Studia Philosophica 36, 1976, 3-15 und 37-51 (Diskussion). 39 So ist z.B. auch für Herbert Schnädelbach der „Typ wissenschaftlicher Philoso­ phie, der heute immer noch - in Deutschland zumindest - dominiert“, „Philosophie als Geisteswissenschaft“. „Philosophie als Geisteswissenschaft“ setzt sich zusammen aus „Philosophiehistorie“ und „Philologie philosophisch genannter Texte“, wobei sich die erste an die Geschichtswissenschaft und die zweite an die Literaturwissenschaft an­ schließt: Herbert Schnädelbach, Philosophie als Wissenschaft und als Aufklärung (1987), in: Ders., Zur Rehabilitierung des animal rationale. Vorträge und Abhandlun­ gen 2, Frankfurt/M. 1992, 372-386, 378. 40 Vgl. auch den von Lutz Geldsetzer verfaßten Art. Philosophiegeschichte im

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sentiert sich in einer Form dieser Gestalt, welche diejenigen, die in Forschung und Lehre Texte lesen, die sie nicht selbst, die viel­ mehr andere zu früheren Zeitpunkten verfaßt haben, sozusagen nur auf den Standpunkt von Sinnlichkeit und Verstand operie­ ren läßt: Man besitzt eine „objektive, rein historische Einstel­ lung“*41 zu den Texten (und damit zur Geschichte), ist lediglich bedacht auf „Quellentreue“ und gewissenhafte Darstellung der „historischen Fakten“42, ohne zu einer philosophischen Beurtei­ lung der Fakten als Philosophien (nach ihrem Wahrheitswert wie ihrem praktischen Wert) oder, m. a. W„ zum Standpunkt der Ver­ nunft noch weiterzugehen. Macht nun aber ein derart text- und damit zugleich geschichtsorientiertes Selbstverständnis unsere gegenwärtige philosophische „Identität“ aus43 und besteht in diesem Sinne „der größere Teil der literarischen Produktion auf dem Gebiet der Philosophie heute in Arbeiten über ihre Ge­ schichte“44, dann ist dies sowohl ein besorgniserregendes als auch ein rechtfertigungsbedürftiges Phänomen: Sorge bereitet die „Geschichte der Philosophie als Gegen­ stand der Forschung, Darstellung und Lehre“ z.B. nach Nicolai Hartmann, weil diese Forschung den Studierenden (den „Ler­ nenden“) mittlerweile in eine dramatische Situation hineinge­ führt hat. Stellt man ihn nämlich heute, „wie es die Sachlage erfordert, nicht nur vor die Vielheit der Systeme und Lehrmeinungen, sondern auch noch vor die der Deutungen und Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Sp. 912-924, Sp. 912: „In der Ph[ilosophiegeschichte] reflektiert die Philosophie ihre eigene Entwicklung in der Zeit. Der Begriff hat daher - wie der der Geschichte selbst - den Doppelsinn von objektivierba­ rer historischer Realität (res gestae) und einer darauf gerichteten Erinnerungsrefle­ xion (historia rerum gestarum)“. Diese Umschreibung legt nicht nur die Auffassung nahe, Geschichte im Sinne von res gestae sei lediglich vergangene Geschichte, sondern auch, vergangene Geschichte sei das Geschehen eines sich kontinuierenden Subjekts. 41 Walter E. Erhardt, Philosophiegeschichte und geschichtlicher Skeptizismus. Un­ tersuchungen zur Frage: Wie ist Philosophiegeschichte möglich?, Bern/München 1967, 23. 42 Ebda. 43 Erfolgte die Kritik an der Philosophiehistorie bei Kant und im 19. Jahrhundert noch im Lichte der Forderung nach Spontaneität und Originalität des Denkens, so ist an die Stelle des Originalitätsproblems mittlerweile das Identitätsproblem getreten. Vgl. dazu Helmut Holzhey, Philosophische Epigonalität. Ein abbrechendes Plä­ doyer in einer neu zu beurteilenden Sache, in: Studia Philosophica 36, 1976, 24-36 und 37-51 (Diskussion). 44 Lucien Braun, Geschichte der Philosophiegeschichte, a. a. O., 1.

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Auffassungen, so nimmt man ihm jede Möglichkeit, sich in dieser ufer­ losen Mannigfaltigkeit zurechtzufinden; man bringt ihn, statt zur Orien­ tierung und zum Verstehen, geradezu zur Verzweiflung an allem Ver­ stehen, ja zu vorzeitiger Ernüchterung und Abwendung“ angesichts jenes „Relativismus der ,Meinungen über Meinungen4“45.

Ein rechtfertigungsbedürftiges Phänomen aber ist die akademi­ sche Philosophie deshalb, weil eine Philosophie, die nur noch „auf historische Bildung“ 46 ausgeht, ihr Wesentlichstes preisge­ geben hat: das vernünftige Denken. Nun kann eine Philosophie, in der, wie der gegenwärtigen, die „eigene“ Geschichte eine so große Rolle spielt (Windelband), nicht mehr einfach auf jenem Weg in die Dimension des Den­ kens und der Vernunft einrücken, den Kant und Hegel noch beschreiten konnten: Ließ sich nach Kant schlicht der Ent­ schluß fassen, anstatt aus „Büchern“, aus den „Quellen der Ver­ nunft“ zu schöpfen47, und konnte man nach Hegel (wie er selbst zu Beginn seiner Jenaer Zeit) durch das Verfassen kleiner Schriften darauf hinarbeiten, daß in der Philosophie bald wieder nur von der „Philosophie selbst“ (anstatt von vorhandenen Systemen) die Rede sein würde, und zwar auch dann, wenn man (philosophisch) von deren Geschichte spricht48, so ist das Interesse an Philosophiegeschichte heute das unveräußerliche Interesse einer Philosophie, die Einsicht in die Geschichtlich­ keit4 des Denkens gewann und Geschichte als ihren unvordenk­ lichen Horizont gelten läßt. Wenn daher heute wieder philoso­ phisch von der „Philosophie selbst“ die Rede sein soll, dann muß zugleich von Geschichte die Rede sein, in deren Medium sie sich entfaltet und inzwischen bis zur Stufe einer Geisteswissenschaft entfaltet hat. Diese Entwicklung gilt es zu begreifen. Hans-Georg Gadamers Theorie der hermeneutischen Er­ 45 Nicolai Hartmann, Der philosophische Gedanke und seine Geschichte. Aus den Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Philologisch-Histori­ sche Klasse (Nr. 5,1936). In: Kleinere Schriften, Band II (Abhandlungen zur Philoso­ phie-Geschichte), Berlin 1957,1-48,1. Ähnlich wie Hartmann war auch Kant schon in bezug auf die „Gelehrsamkeit“ besorgt, da man sie als Anzeichen für eine „Kultur“ auffassen könne, in der man letztlich „alles unter einander [lernet]“, anstatt zum „all­ gemeinen Besten“, nach einem (philosophischen) „Plane“: vgl. Kant, Nachlaßrefle­ xion Nr. 1524. 46 Jürgen Mittelstrass, Das Interesse der Philosophie an ihrer Geschichte, a. a. O., 4. 47 Kant, Prolegomena, a. a. O., A 3. 48 Hegel, Differenzschrift, a. a. O., 8.

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fahrung kann als ein Beitrag dazu angesehen werden. Gadamer wies nicht nur nach, daß die Auseinandersetzung mit Texten „großer Denker“ als eine „Weise des Philosophierens“ selbst verstanden werden kann49, weil auf diesem Wege eine „Wahrheit erkannt wird, die auf anderem Wege nicht erreichbar ist“50. Das Mittel, dessen er sich zu diesem Nachweis bediente, war zudem geschichtsphilosophischer Art: Er suchte zu zeigen, daß in der zur Geisteswissenschaft avancierten Philosophie ein „wirkungs­ geschichtliches Bewußtsein“ seinen Ausdruck findet, das - nach den Epochen „unmittelbarer“ (in „naiver Unschuld“51 geschehe­ ner) Traditionsfortbildung und reflexiv-distanzierten „histori­ schen Bewußtseins“52 - als der dritte Schritt in einer als Fort­ schritt zu wertenden „Entwicklung“ aufzufassen ist. Während Gadamers Theorie die Entstehung der Geisteswis­ senschaften überhaupt betraf, wurde gelegentlich auch nur eine Antwort auf die Frage zu geben gesucht, wann im engeren Sinne „die Philosophie beginnt, sich ausdrücklich auf vergangene Phi­ losophie zu beziehen“53. So deutet der junge Hermann Lübbe544955505651 52 die Kantische „Philosophiegeschichtsphilosophie“ als Teil einer Vernunftentwicklungsgeschichte, an deren Ende es allge­ mein und selbstverständlich wird, daß sich Philosophie als ihre eigene Historie konstituiert. Lucien Braun verfolgt in seiner „Geschichte der Philosophiegeschichte“55 diese Entwicklung bis in die Antike zurück und zeigt so, daß der Rückbezug der Philosophie auf ihre „eigene“ Geschichte immer schon ein we­ sentlicher Bestandteil des Philosophierens gewesen ist56. Brauns 49 Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, a. a. O., 3. 50 Ebda, 2. 51 Ebda, 4. 52 Vgl. ebda, insbes. 287, 290. 53 Hermann Lübbe, Philosophiegeschichte als Philosophie, a.a.O., 209. Vgl. entspre­ chend Lucien Brauns Frage „Wann und wie setzt sich die Philosophie in Beziehung zu ihrer eigenen Vergangenheit?“, in: Geschichte der Philosophiegeschichte, a.a.O., 355. 54 Vgl. Lübbe, Philosophiegeschichte als Philosophie, a. a. O. 55 Demgegenüber verstand Lutz Geldsetzer seine Interpretationen zum Verhältnis „der Philosophie zu ihrer Geschichte“ als „historische“ Untersuchungen. „Historisch“ werden sie deshalb genannt, weil sie nicht spekulativen Voraussetzungen, sondern nur der Chronologie folgen. Vgl. L. Geldsetzer, Die Philosophie der Philosophiege­ schichte im 19. Jahrhundert, a. a. O., insbes. 7. 56 Welcher Geschichte oder „Entwicklung“ sich die gegenwärtige Situation der Philo­ sophie nun genau verdankt und wie diese Situation zu beschreiben ist, darüber kann

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„Geschichte der Philosophiegeschichte“ zeugt davon, daß mitt­ lerweile an die Stelle einer Philosophie, die sich noch ihrer selbst vergewissern konnte, ohne dabei sogleich schon den Weg über Texte und eine Betrachtung ihrer „eigenen“ Geschichte nehmen man freilich vielfältigster Ansicht sein. Nimmt man an, der gegenwärtige Zustand der Philosophie, in dem sie sich als ihre eigene Historie präsentiert, gehe nachdrücklich auf Hegel zurück, er also sei es, der noch im „gewissen Abstand“ unsere Identität bestimme, und wird dies dann positiv bewertet, wie etwa bei Braun (vgl. Braun, Geschichte der Philosophiegeschichte, a. a. O., 362 ff.), dann wird eine andere Geschich­ te konzipiert werden, als wenn der Hegelsche Einfluß negativ bewertet wird, wie z. B. Jürgen Mittelstrass es tut (vgl. Mittelstrass, Das Interesse der Philosophie an ihrer Geschichte, a. a. O., 3). Es ist jedoch auch möglich, andere Einschnitte in einer als gegeben angenommenen Geschichte vorzunehmen. So kann man mit Herbert Schnädelbach der Ansicht sein, daß „in unserer philosophischen Gegenwart“ eher „die Wirkungen Heideggers und Adornos allgegenwärtig“ seien, daß „Heidegger und Adorno [...] uns geformt [haben]“, so daß „Nähe und Distanz zwischen ihnen zu unserer philosophischen Identität [gehören]“. Im letzteren Fall müßte man nicht bis zu Hegel zurückgehen, sondern könnte sich damit begnügen, „um unseres eigenen Selbstverständnisses willen - und nicht nur aus Gründen historischer Gerechtigkeit beide Wirkungsmächte endlich explizit zusammen[zu]führen und so ihren Wirkungen auf uns die gemeinsame Ursache im nachhinein hinzu[zu]fügen [...]“: Herbert Schnädelbach, Philosophieren nach Heidegger und Adorno, in: Ders., Zur Reha­ bilitierung des animal rationale, a. a. O., 307-328, 307. Philosophische Identitäten können aber auch auf viel umfassendere Weise bestimmt werden. Bekannt ist die Debatte, ob die gegenwärtige Epoche ,modern‘ oder ^ostmodern1 ist. Ist sie modern, so kann der Philosophie die Funktion einer kritische Theo­ rie zukommen, die der „Selbstvergewisserung der Moderne“ so dient, daß sie „im weichen Medium der Geschichte“ „Strukturmuster“ von Bildungsprozessen ausfindig macht, die „verschlüsselte Hinweise auf die Pfade unabgeschlossener, abgebrochener, fehlgeleiteter Bildungsprozesse“ geben, so Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1988, 69 Anm. 4. Ist sie postmodern, so kann es nur noch darum gehen, eine „Positivdiagnose“ der „in ihrem eigenen Licht wahrge­ nommenen Aktualität“ zu leisten, die als „Postmoderne“ affirmiert wird: Vgl. Wolf­ gang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987, 153. Nach Welsch situiert sich die postmoderne Gegenwart oder „Aktualität“ nach „Cartesischer Neu­ zeit“, neuzeitlicher Moderne (Vico, Rousseau, Baumgarten, Schelling, Hegel, Marx) und Moderne des 20. Jahrhunderts (Pluralismus in Wissenschaft und Kunst). Dabei ist der „philosophische Postmodernismus“ die „entschiedene Praxis und theo­ retische Reflexion des Pluralismus“, der, „Alltagsform“ geworden, nach Welsch „die Grundverfassung [...] der Moderne des 20. Jahrhunderts ausmacht“ [79]. Dabei braucht die Philosophie sich nicht mehr auf die vergangene Geschichte zurückzuwen­ den, da in der Gegenwart die verschiedensten Traditionen präsent, aktualisiert und mit neuen Erfahrungen vermittelt sind [105]. Insofern ist „das Geschichtsverständnis der Postmoderne“ „gerade in diesem Punkt wirklich neuen Zuschnitts“: Die Postmo­ derne „lebt nicht neuzeitlich-modernistisch-progressistisch aus einer vorgeblichen Ne­ gation alles Vorausgegangenen, sondern sieht der gegenwärtigen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ins Auge und prüft und begrüßt Vorgängerschaft ohne Geschichts­ scheu“ [83]. Freilich kann die postmoderne Philosophie auf prinzipientheoretisch in-

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zu müssen, eine Philosophie getreten ist, die sich als in Ge­ schichte existierend versteht: Die einfache „Philosophiege­ schichtsphilosophie“ Kantischer und Hegelscher Provenienz ist sozusagen abgelöst worden von der ,Philosophiegeschichtsgeschichtsphilosophie‘*57. Diese Konzeption profitiert von modernen Theorien der Ra­ tionalität, in denen die erstmals von Kant vorgenommene Ver­ bindung der Terme „Vernunft“ und „Entwicklung“ um eine un­ verbrüchliche Verbindung mit dem Term „Geschichte“ so erweitert worden ist, daß Geschichte, insbesondere Philosophie­ geschichte, als unhintergehbares Medium und als Totalitätshori­ zont der Vernunftentwicklung angesehen wird. Dabei wird aller­ dings unter „Vernunft“ nicht mehr, wie noch bei Kant, nur ein menschliches Vermögen verstanden, das vor allem im Philoso­ phieren entwickelt wird, sondern - im Anschluß an den Deut­ schen Idealismus, insbesondere an Hegel (und in einem in die­ ser Arbeit noch zu präzisierenden Sinn) - eine Struktur geistiger Wirklichkeit, eine Struktur von subjektivitätsontologischer Di­ gnität. D.h., Geschichte gilt als Objektivation eines auf vollen­ dete Selbsterkenntnis und dadurch mögliche Freiheit abzwekkenden und sich im Verfolgen dieser Zwecke (nach Maßgabe einer bestimmten Logik) entwickelnden intelligenten Wesens („Subjekts“), das nicht, wie der Mensch, Vernunft nur hat, son­ dern die Vernunft selbst ist. Und eben diese Vernunft „hat“ (qua „Rationalität“) selbst derart Geschichte58, daß Geschichte als spirierte Retrospektion ebensowenig verzichten wie auf positive Zukunftsvisionen. Die Postmoderne situiert sich zwar nicht nach der gesamten Geschichte, aber doch „nach der Moderne“, was „wesentlich bescheidener“ ist als z. B. die Behauptung soge­ nannter „Posthistoire“ [18]. Und zugleich verbindet sich mit ihr auch der Glaube an einen „kommendenEntwicklungsschritt“, d.h. die „Verkündigung1 einer Zukunft, die [...] eine Epoche gesteigerter Vielfalt und neuer Konstellationen und Interferenzen anzeigt“ [18]. Ersteres soll aber nicht die Bedeutung einer „epochalen Absetzung“ und letzteres nicht die Bedeutung einer „prophetischen Prognose eines kommenden Äons“ besitzen [82]. 57 Vgl. auch die phänomenologischen Untersuchungen von Walter E. Erhardt, Phi­ losophiegeschichte und geschichtlicher Skeptizismus, a. a. O., 25: „Die hier beabsichtig­ ten Untersuchungen wollen [...] erweisen, daß die Geschichte der Philosophiege­ schichte Gegenstand einer selbständigen philosophischen Wissenschaft werden kann.“ In der vorliegenden Arbeit wird zur Bezeichnung auch dieser neueren Variante philosophischer Bezugnahme auf Philosophiegeschichte der Ausdruck „Philosophie­ geschichtsphilosophie“ verwendet, um noch monströsere Ausdrücke zu vermeiden. 58 Jürgen Mittelstrass, Das Interesse der Philosophie an ihrer Geschichte, a. a. O., 45. Allerdings steht nicht überall die Vernunftentwicklung schon für „Geschichte“.

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das unvordenkliche Medium der Vernunftentwicklung anzuse­ hen ist. Allerdings tangiert auch diese Vernunftentwicklung nach wie vor keine andere Wissenschaft so sehr wie die Philoso­ phie. Denn noch immer ist die Philosophie der genuine Ort der Selbsterkenntnis der Vernunft. Aber zu einer „Strukturtheorie“ der Vernunft gehört heute eine genetische „Theorie der Ratio­ nalisierung“59 gerade derjenigen Sphäre unverbrüchlich hinzu, Jürgen Habermas z.B. unterscheidet „Geschichte“ und „Entwicklung“: Innovative Leistungen, die - wie im Falle der Philosophie, aber auch der Physik - sektorial be­ grenzt sind, gehen auf eine „Geschichte“ zurück. Bringt die Innovation jedoch „eine voll entwickelte, in ihrer Dimension unüberbietbare und zudem Universalität bean­ spruchende Kompetenz“ - eine Gattungskompetenz - zum Ausdruck, dann „hat“ eine solche Kompetenz „keine Geschichte, sondern eine Entwicklung (die sich ,logisch‘, über nachkonstruierbare Stufen) vollzieht“: Habermas, Geschichte und Evolution, in: Ders., Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Frankfurt/M. 1976, 200-259, 217. 59 Diese Ausdrücke sind übernommen aus: Herbert Schnädelbach, ,Etwas Verste­ hen heißt Verstehen, wie es geworden ist“. Variationen über eine hermeneutische Maxi­ me, in: Vernunft und Geschichte. Vorträge und Abhandlungen 1, Frankfurt/M. 1987, 125-151, 146f.: „Theorien der Rationalität“ bestehen nach Schnädelbach aus einer „Strukturtheorie der Rationalität“, die nach Schnädelbach „entweder idealtypisch (Max Weber) oder regelkonstitutiv (Jürgen Habermas)“ vorgehen muß, sowie einer genetischen „Theorie der Rationalisierung“, in der man „sich entweder der theoreti­ schen Schemata der Evolutionstheorie bedienen [...] oder mit dem Modell ,Entwicklungslogik/Entwicklungsdynamik‘ operieren“ muß. Im Hinblick auf diese zweite Komponente stellt sich also nicht die Frage, ob Vernunft eine „Geschichte“ hat, son­ dern nur, „wie diese Geschichte zu fassen ist: theoretisch oder narrativ“ [ebda]. Nach Schnädelbach kann die „Geschichte“, welche die Vernunft hat, nicht narrativ gefaßt werden, weil „Vernunft“ kein „Eigenname“ ist, der für ein „historisch singuläre[s] Referenzobjekt[] einer großen Erzählung“ stehen könnte [ebda, 144]. (Vgl. dazu auch: Ders., Die Aktualität der ,Dialektik der Aufklärung“, in: Zur Rehabilitierung des ani­ mal rationale, a. a. O., 231-250.) Allerdings kann im Hinblick auf die Entwicklung der Vernunfttheorien „erzählt“ werden: In diesem Zusammenhang prägte Jürgen Habermas den Ausdruck „rationale Geschichten erzählen“: Geschichte und Evolu­ tion, a. a. O., 215. Habermas vertrat schon früh die Ansicht, daß in spezialgeschichtli­ chen Bereichen, wo nur besondere („partikulare“) Kompetenzen rekonstruiert wer­ den - und Philosophiegeschichte ist ein solcher Fall - „erzählt“ wird. Rationale Geschichten erzählen heißt, daß „historische Vorgänge auf idealisierten Pfaden der Problemlösung“ angeordnet werden [ebda, 214]. Dabei ist die Philosophiegeschichts­ schreibung allerdings von so besonderer Art, daß sich der Theoretiker hier selbst mit ins Spiel bringen kann und muß. Jedenfalls liegt „anspruchsvolle“ Philosophiege­ schichtsschreibung nur dann vor, wenn sie dem Zweck dient, daß zu der „innovativen Leistung“, die der Theoretiker selbst erbracht hat, mindestens ein „komplexer Lern­ vorgang systematisch“ angegeben wird [ebda, 215]: „So ist es in der Philosophiege­ schichte seit den Tagen des Aristoteles üblich, die jeweils eigene Theorie als Lösung eines Problems darzustellen, das von den philosophischen Vorgängern nur schrittwei­ se einer Lösung nähergebracht worden ist. Hegels begriffliche Virtuosität hat sich nicht zuletzt darin gezeigt, die Geschichte der Philosophie insgesamt so zu schreiben,

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in der die auf Selbsterkenntnis zielende Vernunft vor allem ma­ nifest wird: der Geschichte der Philosophie60. Bedeutsam ist, daß in solchen Zusammenhängen Kants „phi­ losophische Geschichte der Philosophie“ nicht nur überhaupt starke Beachtung gefunden hat, sondern Beachtung in einer Deutung, die sie als Vorläuferin des genetisch-geschichtlichen Komplements moderner Theorien der Rationalität erscheinen läßt (während die Kritik der reinen Vernunft gleichsam für jene Strukturtheorie steht). Drei Interpretationen, die in diese Rich­ tung gehen und sich vor allem auf die von Kant in den soge­ nannten Losen Blättern gegebene Bestimmung konzentrieren, die Geschichte der Philosophie sei die „Geschichte [...] der sich aus Begriffen entwickelnden Vernunft“61, sollen an dieser Stelle kurz genannt werden.

daß sie als ein universaler, zu Hegels eigenem System hinführender Lernprozeß ver­ standen werden konnte. Immer noch anspruchsvoll genug, hat Richard Kroner im Geist des Meisters zu zeigen versucht, daß Hegels Enzyklopädie das zwingende Er­ gebnis eines rational nachkonstruierten Lernprozesses darstellt, der von Kant über Fichte und Schelling zu Hegel läuft. Diese Art der Philosophiegeschichtsschrei­ bung hat es zum Rang einer ,problemgeschichtlichen Methode1 (N. Hartmann) ge­ bracht [...]“ [ebda]. Auch in Diskurstheorien wird in diesem Sinne erzählt, so bei Lucien Braun (vgl. Geschichte der Philosophiegeschichte, a. a. O., insbes. 362). Vgl. zur Erzählung in der Diskursanalyse auch: Ulrich Johannes Schneider, Die Vergan­ genheit des Geistes, a. a. O., insbes. 17. 60 Dabei können die Ausdrücke „Vernunft“ („Rationalität“), „Philosophie“ und „Ge­ schichte“ einander ersetzen und vertreten. Wie sehr dies der Fall sein kann, zeigt fol­ gende Formulierung: „Heute ist es um die Reputation der Vernunft schlecht bestellt. Vernunft steht im Kreuzfeuer der Kritik. Man könnte, ähnlich wie Kant 1781 in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft, sagen: ,Es war eine Zeit, in welcher sie die Königin aller Wissenschaften genannt wurde1“ (Wolfgang Welsch, Die Verfassung der Rationalität und die Aufgaben von Vernunft heute, in: P. Kolmer/H. Korten, Grenzbestimmungen der Vernunft. Philosophische Beiträge zur Rationalitätsdebatte, Freiburg/München 1994,139-185,139). Diese Formulierung ist eigentümlich insofern, als man einerseits zwar sogleich versteht, daß nicht gemeint sein kann, für Kant sei die Vernunft die Königin aller Wissenschaften gewesen (es war freilich die Metaphysik), andererseits aber auch erkennbar wird, daß „Vernunft“ und „Philosophie“ nur dann synonyme Ausdrücke darstellen, wenn man unter Vernunft nicht mehr nur, wie z. B. Kant, ein menschliches Vermögen, sondern eine Struktur der Philosophie - und auch der Philosophiegeschichte -, d.h. „Rationalität“, versteht. 61 Kant, Lose Blätter, a. a. O., 343.

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2. Kant im Lichte späterer „Philosophiegeschichtsphilosophien“ 1) In einem frühen Aufsatz hat Hermann Lübbe62 Kant als einen der ersten Denker bezeichnet, die „die Vernunft [...] als das Produkt ihrer eigenen Genesis“ (Geschichte) verstehen63. Nach Lübbe gehört überhaupt „zur Erkenntnis von ,Gegenständen‘, die Resultat einer Genesis sind, [...] wesentlich die Er­ kenntnis dieser Genesis“ hinzu64. Ist „die Philosophie in ihrer Geschichte“ der exklusive „Ort“ der „Genesis“ der Vernunft, so gehört zu einer Theorie der Vernunft wesentlich eine Theorie der Vernunftgenesis und also eine Theorie der „Philosophie in ihrer Geschichte“ hinzu - ein Umstand, dem, jedenfalls nach Ansicht Lübbes, erstmals Kant ausdrücklich Rechnung trägt. Ist die Kantische „Philosophiegeschichtsphilosophie“ somit im allgemeinen als Korrelat einer abstrakten, von Textbezügen ab­ sehenden Vernunfttheorie anzusehen, so sieht Lübbe deren spe­ zifische Funktion darin, daß in ihr eine „entschiedene Antwort auf die Frage“ zu geben war, „wie und ob überhaupt Philosophie als Wissenschaft möglich sei“65. Denn das unermeßliche Trüm­ merfeld zerstörter Systeme, auf das zurückzublicken war66, habe Kant als einen „entscheidenden Einwand“ nicht nur „gegen die gegenwärtige Möglichkeit“ von Philosophie, sondern „gegen den Theoriecharakter der Philosophie“ überhaupt betrachtet67. Es ist nach Lübbe die „Erfahrung“ vom „chaotischen Gang“ der Geschichte - diese „Grunderfahrung des Historismus“68, die Kant mit Dilthey teilt -, welche die „philosophierende Ge­ schichte der Philosophie“ hervortrieb und zum „Ort der philoso­ phischen Reflexion“ auf diese Erfahrung hatte werden lassen, an dem der „Einwand“, den die Geschichte darstellt, zu ,entkräften‘ gewesen und entkräftet worden sei, als philosophisch der Nachweis erbracht wurde, daß die Geschichte, dem ersten An­ schein entgegen, im Grunde „vernünftig“ verlaufen sei: daß sie 62 63 64 65 66 67 68

Hermann Lübbe, Philosophiegeschichte als Philosophie, a. a. O. Ebda, 223. Ebda. Ebda, 214. Ebda. Ebda. Ebda, 215.

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„Geschichte des Werdens des Subjekts der Philosophie“, der Vernunft, und in diesem Sinne die Geschichte der „sich aus Be­ griffen entwickelnden Vernunft“ gewesen sei69. 2) Eine ähnliche Deutung der Kantischen Philosophiege­ schichtsphilosophie als einer subjektivitätsontologisch fundier­ ten Theorie bietet Lucien Braun70, auch wenn sie hier nicht als eine gerade auf Dilthey vorausweisende Position zur Gel­ tung gebracht wird. Im Gegenteil: Für Braun ist es zunächst überhaupt bemerkenswert, daß eine so „scheinbar ungeschicht­ liche Philosophie“ wie die Kantische eine neue Auffassung von Philosophiegeschichte begründet71: nämlich die Auffassung, Phi­ losophiegeschichte sei „Geschichte der Vernunft“. „Geschichte der Vernunft“ ist für Braun der Titel für eine Philosophiege­ schichtsprogrammatik, dergemäß hätte gezeigt werden sollen, daß jede „historische Philosophie [...] auf einem Prinzip“ ba­ siert, das sie Bestandteil eines Systems sein läßt, in welchem man „auf logische Weise“ von einer zur anderen übergehen kann - ein System, welches Struktur der Vernunft und der als Ver­ nunftentwicklung bestimmten Philosophiegeschichte ist72. Auch Braun zufolge gehörte somit zur Kantischen „Theorie der Vernunft“ (Kritik der reinen Vernunft) eine Philosophie­ geschichtsphilosophie hinzu, die sich mit der geschichtlichen „Genese der Vernunft“ befaßt73. Allerdings geht Braun nun davon aus, daß dieses zweigliedrige, aus Vernunfttheorie und Philosophiegeschichtsphilosophie bestehende philosophische System74 erst spät, zur Zeit der sogenannten Preisschrift und der dazugehörigen Losen Blätter, seine endgültige Gestalt ge­ wann, wobei erst zu dieser Zeit „die kritische Philosophie“ auch in geschichtlicher Hinsicht als „die endgültige“75 vorgestellt wor­ den sei, welche zugleich den Geschichtsverlauf „genau“ dadurch beenden wollte, daß sie ihn „begreift“76. Mit dieser Intention sei Kant über den zunächst eingenommenen „transzendentalen“ Ebda, 223. Lucien Braun, Geschichte der Philosophiegeschichte, a. a. O., 217-236. Ebda, 225. Vgl. ebda, 224, 230. Ebda, 226. Ebda, 224. Ebda, 222. Ebda, 225.

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Standpunkt hinausgegangen und zu einem emphatisch spekula­ tiven Metaphysiker geworden, der jetzt unter Vernunft eine Art intelligentes Lebewesen - ,,eine[] Art ,Vernunftgenius“‘ - ver­ stand (wie Braun in loser Anlehnung an einen Ausdruck in den Losen Blättern formuliert), welcher „sich entfaltet“ und jetzt „seine Sendung erkennt“77. Vorausweisend auf (nach Braun sowohl zeitlich wie logisch) später in Romantik und Idealismus entwickelte Positionen der Philosophiegeschichts­ schreibung finde sich mithin hier schon die Vorstellung, Ver­ nunft sei „[...] eine[] reale[] Instanz“ sowohl im Sinne eines Sub­ strats geschichtlicher Veränderung, als auch im Sinne eines intelligenten Wesens: „Subjekt einer Entwicklung in der Zeit“78, oder „[...] der Geschichte“ 79, das dieser Geschichte schließlich durch Begreifen ein Ende bereiten wollte. 3) Eine dritte Variante subjektivitätsontologisch zumindest in­ spirierter Deutung der Kantischen Philosophiegeschichtsphilo­ sophie hat Jürgen Mittelstrass vorgelegt80. Für Mittelstrass ist der späte Kant aber nicht direkt ein spekulativer Philoso­ phiegeschichtsphilosoph, der eine Subjekt-Vernunft in der Ge­ schichte tatsächlich wirksam wähnte. Vielmehr habe Kant in bezug auf die Philosophiegeschichte, moderater, „Vernünftigkeit von Entwicklungen“ bloß zu Zwecken der Geschichtsrekon­ struktion ,unterstellt‘: Im „Begriff“ einer „philosophierenden Geschichte der Philosophie“ sei nur ein „hermeneutisches Prin­ zip“ ausgearbeitet worden, das „besagt, daß ohne eine Vermu­ tung über die Vernünftigkeit von Entwicklungen“ „Rekonstruk­ tionsbemühungen“ jeweils zurückliegender Denkgeschichte „gar nicht erst ansetzen können“81 - Bemühungen, die Mittel­ strass zufolge in der zur „Geisteswissenschaft“ avancierten, stark text- und damit geschichtsorientierten Philosophie allent­ halben unternommen werden82. In all diesen Interpretationen kommt Kants „philosophierende Geschichte der Philosophie“ als ein Projekt zur Geltung, das von 77 78 79 80 81 82

Ebda, 229. Ebda. Ebda, 232. Jürgen Mittelstrass, Das Interesse der Philosophie an ihrer Geschichte, a. a. O. Ebda, 13. Vgl. ebda, 45.

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erstaunlicher Aktualität ist. Diese Aktualität nun bliebe ein er­ staunliches Phänomen - wäre es nicht noch viel erstaunlicher, daß man auf der Basis mehr oder weniger desselben Corpus Kantischer Texte die gesamte Kritische Philosophie auch ganz anders interpretieren kann: zum Beispiel wie Hegel. Für Hegel war Kant nicht nur weit entfernt davon, ein spekulativer Philo­ sophiegeschichtsphilosoph zu sein oder auch nur ein Konstrukti­ ver Hermeneutiken Er war weit entfernt sogar davon noch, überhaupt ein Philosoph zu sein. Denn Hegel konnte in der Kantischen Philosophie nicht mehr sehen als nur eine Position von der aggregativen Formgestalt einer erzählenden (beschrei­ benden) Historie. Für ihn bezog Kant einen Standpunkt inner­ halb der Philosophiegeschichte, wie er sie verstand, auf dem (noch) gar nichts anderes möglich war, als nur erst „psycholo­ gisch, d. h. geschichtlich“, und d.h. „erzählend“ zu Werke zu gehen83. Und so stellt sich denn die Frage, wie es sich mit der Kanti­ schen Philosophie und der in sie integrierten Philosophiege­ schichtsphilosophie eigentlich verhält: War Kant ein Philoso­ phiegeschichtsphilosoph, der (vor allem spät) die Vernunft für ein intelligentes Wesen (ein „Subjekt“) gehalten hat, das sich im Totalitätshorizont von Geschichte entfaltet, oder war er das Gegenteil eines solchen Denkers: ein Philosoph, der nur erst „geschichtlich“ (anstatt philosophisch) hat vorgehen können und sich im Vorfeld „wahrhafter Philosophie“ situiert, das bei Hegel unter dem Titel „Geschichte der Philosophie“ firmiert? Wie Kant es mit der Philosophie und „ihrer“ Geschichte hielt, was er selbst unter einer „philosophierenden Geschichte der Philosophie“ verstanden hat, dieser Frage soll in der folgenden Arbeit nachgegangen werden. Auf eine Weise, die im herkömm­ lichen Sinne „historisch“ heißen würde, ist sie dem Themenkom­ plex „Geschichte der Philosophie“ bei Kant gewidmet.

83 G. W. F. Hegel, Geschichte der Philosophie, Bd. 9,151.

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3. Projektbeschreibung Damit scheint die Arbeit allerdings den „Verdacht“ zu nähren, daß sich die Philosophie, zumal in akademischen Zusammen­ hängen, noch immer nur als ihre eigene Historie konstituiert und weit hinter dem Reflexionsniveau zurückbleibt, das sie in modernen Vernunfttheorien erreicht hat. Die Arbeit bleibt tat­ sächlich dahinter zurück - aus einer bewußten Entscheidung heraus. Denn mit ihr verbindet sich ein Plädoyer für bloße Phi­ losophiehistorie und d.h.: für einfache „historische Bildung“ und „Forschung“ und das Schreiben von Geschichten ohne Rükkendeckung durch Rationalitätsmodelle - für eine Philosophie­ geschichtsschreibung, in der das Zeitbedingte der „Gesichts­ punkte, unter denen gewertet, ausgelesen, gedeutet und zusammengebaut“ wird, nicht als problematisch und „fragwür­ dig“ gilt84, sondern als etwas, das zu bejahen ist. Zugleich wird in dieser Arbeit die Auffassung zu begründen versucht, daß das von Kant inaugurierte Projekt einer Philosophie der Geschichte der Philosophie in die falsche Richtung ging, weil an die Stelle textgestützter Philosophiegeschichten die denkende Betrach­ tung von Philosophiegeschichte getreten ist - die Betrachtung einer immer wieder anderen Geschichte im Lichte von Ideen, die „immer bleiben“ sollten, tatsächlich aber in dem Sinne, in dem sie intendiert waren, niemals länger als nur einen kurzen Augenblick geblieben sind. Nimmt man die verschiedenen, seit Kant entwickelten Philo­ sophiegeschichtsphilosophien zur Kenntnis und zwar so, daß man tut, was man ihrer Programmatik zufolge eigentlich nicht tun dürfte, weil es nur ein Fall unvernünftiger Philosophiehisto­ rie wäre, nämlich: Texte ohne Rückendeckung durch bestimmte Auffassungen von Vernunft, Philosophie und Geschichte zu le­ sen und zu interpretieren, dann geschieht nicht nur das, was Hegel einmal wie folgt beschrieben hat (und das er allerdings hoch bewertet hat): Dann wird das Bewußtsein „in die reine Re­ gion der Begriffe“ versetzt, und „wenn das Bewußtsein in die reine Region der Begriffe versetzt wird, dann weiß es nicht, wo

84 So aber z.B. für Nicolai Hartmann, Der philosophische Gedanke und seine Ge­ schichte, a. a. O., 1.

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es in der Welt ist“85, die man aus Erfahrung kennen kann. Viel­ mehr geschieht in der Bezugnahme auf das „Stimmengewirr der Legenden“86, in denen die Totalität der Philosophiegeschichte immer wieder anders ausgelegt worden ist, daß man auch nicht weiß, wo man sich befindet in derjenigen Welt, an der die Philo­ sophen seit Platon vorzüglich ein Interesse haben: in der Welt der reinen Begriffe (insbesondere der Ideenbegriffe), d. h. in der Welt der Philosophie und der Vernunft. Sollte Vernunft eine „Entwicklung“ haben und sollte sich dies im philosophischen Blick auf Philosophiegeschichte zeigen, dann würde keine Wis­ senschaft weniger „zur Orientierung und zum Verstehen“ (Nicolai Hartmann) beitragen als die Philosophiegeschichts­ philosophie. Denn in ihrem Zusammenhang kann Kant zu­ gleich ein Philosophiegeschichtsphilosoph und ein Historiker sein, der bloß „erzählt“.

3.1 Der Platonismus in der Philosophiegeschichts­ schreibung Das „Stimmengewirr“ der philosophischen Geschichts-„Legenden“ ist verwirrend, weil es sich in eine umfassendere Legende nicht integrieren läßt. Dies an ausgewählten Konzeptionen bei­ spielhaft zu zeigen, ist eines der Ziele, das in dieser Arbeit ver­ folgt werden soll. In erster Linie ist die Arbeit dem Themenkom­ plex „Geschichte der Philosophie“ bei Kant gewidmet. Aber es werden ausgewählte Philosophiegeschichtskonzeptionen mitbe­ handelt, in deren Rahmen Kants Philosophie unterschiedliche Deutungen erfahren hat. So werden im II. Teil die bereits ange­ sprochenen Theorieentwürfe von Hermann Lübbe, Lucien Braun und Jürgen Mittelstrass aufgegriffen: Verdeutlicht werden soll, daß die in sie eingebundenen KANT-Interpretatio­ nen abhängig sind von der Auffassung, Philosophiegeschichte ließe sich als Realisat einer Vernunft zur Geltung bringen, die als ein sich in aller Zeit durchhaltendes Substrat geschichtlicher Veränderung und als logisch strukturiertes „Subjekt“ bestimmt wird, das in einem naturwüchsigen Drang nach Selbsterkenntnis

85 86

Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), § 3. Ulrich Johannes Schneider, Die Vergangenheit des Geistes, a. a. O., 17.

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das Element, in dem es lebt, die Philosophiegeschichte, als „qua­ lifizierte Wirklichkeit“ (Braun) konstituiert (geschichtliche Ver­ nunft). Der III. Teil ist der KANT-Deutung Hegels gewidmet. Er soll deren konzeptuellen Hintergrund aufklären. Es wird sich dabei zeigen, daß, während die jüngeren Theorien die Vernunft in den Horizont der menschlichen Lebenswelt (Geschichte) einschließen, Hegels Vernunft einen solchen Einschluß nicht zuläßt: Als göttlicher Logos und Geist ist sie vielmehr umge­ kehrt gerade Horizont der Welt, d.h. jeder Geschichte und auch der physischen Natur (logische Vernunft). Der IV. Teil gilt der Kantischen Philosophiegeschichtsphilosophie. In ihm soll der Nachweis erbracht werden, daß sich Kants Philosophie weder im Kontext der Hegelschen noch in den Kontexten der späte­ ren Philosophien triftig interpretieren läßt. Sind die letzteren einer Vernunft- oder subjektivitätsontologisch fundierten moni­ stischen Philosophie- und Philosophiegeschichtsprogrammatik verpflichtet, so ist Kant nie ein solch spekulativer Denker noch auch nur der Vorläufer eines solchen Denkens gewesen. Im Zen­ trum der Kritischen Philosophie steht nicht irgendeine Vernunft, sondern der Mensch. Sein Fortschritt zu „sittlicher Vollkommen­ heit“ ist es, dem Philosophie nach Kant im letzten zu dienen hat. Und so wird denn auch in der Kritischen Philosophiege­ schichtsphilosophie nur eine moderate Beurteilung der Fakten in grundlegend praktischer Absicht geleistet, als fügten sie sich zu einer „Geschichte [...] der sich aus Begriffen“ (d.h. im dis­ kursiven Vernunftgebrauch „nur [...] nach Begriffen“) entwikkelnden Vernunft, deren Finalgrund in praktischer Freiheit (Moralität oder „Weisheit“) zu sehen ist (teleologische Vernunft) und die als noch lange nicht abgeschlossen gelten kann. Die genannten Entwürfe lassen sich insofern als inkommen­ surable Positionen im Rahmen philosophischer Philosophiege­ schichtsschreibung ausweisen. In wenigstens vier Hinsichten sind sie allerdings strukturähnlich: 1) Es sind insgesamt (im weitesten Sinn) teleologische Kon­ zeptionen, die in großem Ausmaß allerdings Platon verpflichtet bleiben. Der latente Platonismus findet Ausdruck nicht zuletzt in der strikten Abtrennung der philosophischen von der empiri­ schen oder gar nur historischen Bezugnahme auf die Geschichte der Philosophie, für die von paradigmatischer Bedeutung ist, „wie schon Plato philosophia und doxa [entgegengesetzt]“ 43 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

hat87. Diese Entgegensetzung (und Hierarchisierung) bezeichneter Wissenschaften suggeriert, Historiker und Empiriker lebten in einer anderen Welt als Philosophen. Und tatsächlich teilt sich seit Kant die Welt derjenigen, die mit Philosophie befaßt sind, grundlegend in zwei Welten, a) in die Welt der Sinne und des Verstandes und b) in die Welt der Vernunft und der Ideen, die sich unter Bezugnahme auf alle hier interessierenden Denker im allgemeinen wie folgt charakterisieren lassen: a) Da gibt es erstens die Sinnenwelt und in ihr auf unterster Stufe die bloßen Historiker der Philosophie, d. h. diejenigen, welche Philosophie nur nach Daten der Anschauung, d. h. aus diesen und jenen Büchern kennen, die chronologisch angeord­ net sind. Mit diesen werden sie auf dem Weg einer Lektüre be­ kannt, welche irgendeinem (willkürlichen) Zweck dient, immer unsystematisch, „stückweise“ ist (Braun) und jemanden bloß dahin führt, daß er das Gelesene am Ende gut (auswendig) kennt (Kant). Diejenigen, die nicht weiter als nur zu einer solch histo­ rischen Kenntnis gelangen, vermögen, jedenfalls nach Ansicht von Philosophen, niemals zu sagen, weshalb die „historischen Fakten“, die sie da zur Kenntnis nehmen, d. h. die Texte und das in ihnen Gesagte, „eigentlich Philosophie sind“88. Versteht man auf dieser Ebene jeden Text doch nur so, wie man nicht umhin kommt, die eigenen Äußerungen anzusehen: als eine Meinung, die zufällig entstanden, grundlos und ohne Bezug auf Wahrheit ist (Kant bis Mittelstrass). Meinung aber ist, „wie schon Plato“ es sah, der Philosophie entgegengesetzt. Deshalb werden denn auch in der Historie nur „Meinungen“, zumal ganz „unordentlich“, angehäuft (Hegel). Über diesen Standpunkt einer der Sinnlichkeit verhafteten Hi­ storie, wenn auch nicht über die Grenzen der Sinnenwelt, gehen diejenigen Gelehrten hinaus, „denen die Geschichte der Philo­ sophie (der alten sowohl als der neuen) selbst ihre Philosophie 87 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Einleitung, Bd. 6,110. Die Ausdrücke „platonisch“, „Platonismus“ werden in dieser Arbeit allerdings unspezi­ fisch verwendet: Sie sollen nicht eine bestimmte philosophische Position bezeichnen, sondern den latenten Hintergrund von Positionen, die eine historisch empirische Be­ zugnahme auf Geschichte von einer philosophischen Bezugnahme nach Platons Art radikal abtrennen. 88 So noch Walter E. Erhardt, Philosophiegeschichte und geschichtlicher Skeptizis­ mus, a. a. O., 23.

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ist“ (Kant). Es sind die Empiriker, die auf der Ebene des Ver­ standes (im Medium einer „historischen Vorstellung der Philoso­ phie“) den „empirischen Weg“ zu skizzieren versuchen, den das Philosophieren bisher genommen hat. Dabei orientieren sie sich an Verstandesprinzipien (Grundsätzen der Erfahrungserkennt­ nis und Regeln der „Geschicklichkeit“, nach Kant) und nehmen Bezug auf alle schon entstandenen Texte (von denen man glaubt, es seien zur Philosophie gehörende Texte). Diese Gelehrten for­ mulieren nun zwar schon eine zusammenhängende Geschichte (eine „Erzählung“, einen „Bericht“), aber es bleibt doch man­ gels eines systematischen Leitfadens eine unphilosophische „Geschichte der Meynungen, die zuf[ä]llig hier oder da aufstei­ gen“ (Kant)89 - eine Geschichte zumal, die der Materie nach keinen Abschluß kennt. Allerdings läßt sich aus einer solchen Geschichtsdarstellung eine empirische Theorie der Philosophie­ geschichte entwickeln, die im Rekurs auf die Vielfalt der kon­ tingenten Bedingungen, unter denen das Philosophieren in der uns aus Erfahrung bekannten Welt erfolgt, eine Erklärung dafür anbieten kann, weshalb man zu unterschiedlichen Zeiten so un­ terschiedliche Ansichten hatte. (Eine solche Theorie wird am deutlichsten von Kant und Braun reflektiert und wird in der Arbeit an der entsprechenden Stelle zu skizzieren sein.) b) Nun gibt es aus Sicht der Philosophen aber nicht nur dieses „Reich der Sinne und des Verstandes“, wie man es mit Kant nennen kann, sondern zweitens auch die Welt, die ihre eigene ist: die Welt der Vernunft (im engeren Sinne) und der Ideen, unter die man ganze Gegenstandsbereiche (z. B. die Philosophie­ geschichte) zu fassen vermag. Dabei sehen die Philosophen al­ lerdings durchaus, daß Philosophiehistoriker und -empiriker nicht ohne alle Existenzberechtigung sind. Denn zum einen kann es nur ihnen gelingen, den weniger Gebildeten in der Welt, in der sie leben, von jener Welt „Nachricht“ zu geben89 90, in der sie nur Gäste sind. Und zum anderen hat das historisch-empirische Vorgehen auch insofern sein Recht, als es, mag es in der Philo­ sophie selbst‘ am Ende auch keine „Meinungen “ und keine Be­ liebigkeit mehr geben, Meinung und Willkür aber doch in den Systembildungen vormaliger Denker gibt. War es diesen doch 89 Kant, Lose Blätter, a.a. O., 343. 90 Vgl. Kant, Prolegomena, A 3.

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noch verwehrt, des wahrhaften Prinzips der Philosophie, ihrer Idee, habhaft zu werden, die entweder wie ein „Keim“ in der menschlichen Vernunft angelegt ist (so bei Kant) oder die die Subjekt-Vernunft ihrer logischen Infrastruktur nach selbst ist (so bei Hegel und in den späteren Theorien). Mochten die Denker diesbezüglich auch bereits einige unverlierbare Einsichten ge­ wonnen haben (was sie in einer sehr allgemeinen Hinsicht über­ haupt als Philosophen qualifiziert), so waren sie überwiegend aber doch nur das, was man nach Ansicht von teleologischen Denkern im Grundsatz dann ist, wenn man zwar ein Gelehrter, aber (noch) kein wirklicher Denker ist: Historiker und Empiri­ ker, die ihr Wissen aus der Erfahrung und nicht zuletzt aus Tex­ ten der Vorgänger bezogen. Und in der Tat werden in den im folgenden zu behandelnden Philosophiegeschichtsphilosophien, wie sich zeigen wird, nicht nur diejenigen Gelehrten als Philosophiehistoriker oder -empi­ riker bezeichnet, deren Interesse sich darin erschöpft, Systeme historisch-empirisch zu kennen, sondern auch die jeweils voraus­ gegangenen Denker. So stellt sich Kant für Hegel als jemand dar, der nicht anders als nur erst „geschichtlich“ hat zu Werke gehen können - während bei Lübbe, Braun und Mittelstrass sich wiederum Hegel auf einen Historiker reduziert: Denn die jüngeren Denker kommen in der Auffassung überein (die sich freilich nicht auf Texte, sondern auf Konzepte stützt), Hegel ha­ be die Philosophie in Geschichte aufgelöst und das „eigene Wis­ sen“ „als Teil einer geschichtlichen Einordnung“ verstanden91. Ein Wissen nun, das sich so versteht, muß zwangsläufig die Form textbezogener Historie und Empirie annehmen, wenn es sich seiner selbst vergewissern will. Weshalb es denn, so gesehen, auf Hegel zurückgeht, daß sich die Philosophie heute überwie­ gend als ihre „eigene“ Historie konstituiert und an die Stelle „systematischer Beurteilungen“ geschichtliche „Einordnungen“ getreten sind92. Diesen durch Hegels Philosophie in Gang ge­ brachten Übergang der Philosophie in den Zustand, nur noch ihre eigene Historie zu sein, zu begreifen, war, so die weitere

91 Nach Lucien Braun z. B. gilt in der Hegelschen Philosophie: „die Philosophie ist ihre Geschichte“, vgl. Geschichte der Philosophiegeschichte, a. a. O., 364. 92 Jürgen Mittelstrass, Das Interesse der Philosophie an ihrer Geschichte, a. a. O., 7 f.

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Auffassung, unserer Gegenwart Vorbehalten, in der die Philoso­ phie darüber hinausgehen sollte, nur solche Historie zu sein. Teleologische Philosophiegeschichtsphilosophen üben Kritik an ihren Vorgängern, indem sie sie auf Historiker und Empiriker zurückstufen, welchen es als solchen freilich unmöglich war, die Philosophie zu entfalten. Historiker und Empiriker haben näm­ lich keine Ideen. Aber sie folgen Ideen und entwickeln sie un­ bewußt, wie Philosophiegeschichtsphilosophen zeigen. Und in der Tat gehen nun alle im folgenden interessierenden Autoren daVon aus, daß sich aufgrund der bisher geleisteten Arbeit die wahre Philosophie, der Idee nach, schon Vollständig entfaltet hat: zwar nicht in einem System, aber doch in der Gesamtheit der Systeme. Diese fügen sich nach Maßgabe jener Idee, der man heute hat habhaft werden können, zu einem raumzeitlichen Ganzen, zur Geschichte der Einen Philosophie. So erscheint die zurückliegende Geschichte stets wie eine Vorabbildung der „wahren Philosophie“, die heute sei es schon vollständig (Hegel, Braun, Lübbe) oder nur erst in einer Hinsicht vollgül­ tig (Kant, Mittelstrass) realisiert werden kann. Sie ist deren spiegelverkehrtes Abbild: Was jetzt ein einziges Individuum mit Bewußtsein und in kurzer Zeit entwickeln kann, nahm vormals eine lange Zeit und viele Individuen in Anspruch, die zudem nicht wußten, was mit ihnen geschah. Es wird in der Arbeit zu verdeutlichen sein, wie die genannten Denker dieses Schema auf individuelle Weise variieren. 2) In einer zweiten Hinsicht kommen die angesprochenen Denker darin überein, daß unter „Geschichte“ (immer auch noch) eine „verobjektivierbare Realität (res gestae)“93 verstan­ den wird. Geschichte ist eine Gegebenheit, zumal in jüngster Zeit. Es gibt sie für die einen auf schon vollendete Weise (für Hegel, Lübbe und Braun), für die anderen aber ist ihre Voll­ endung erst noch aufgegeben (für Kant und Mittelstrass)94. 93 Lutz Geldsetzer, Art. Philosophiegeschichte, Hist. Wörterb. der Phil., a. a. O., Sp. 912. 94 Es wird im Laufe der Arbeit gezeigt werden, daß Kant und Mittelstrass ihre Position innerhalb einer Geschichte situieren, die über den Aspekt der Vernunft- oder Ideenentwicklung definiert wird und zugleich für ein zeitliches Ganzes steht, das alle Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfaßt, somit noch lange nicht als abge­ schlossen gelten kann. Mit beiden Konzepten soll (bei Mittelstrass auf spekulativer Basis, bei Kant mit Hilfe der teleologischen Urteilskraft) eine Entwicklung befördert werden, die von nun an in primär praktische Richtung, in Richtung Realisierung prak-

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Für alle aber ist Geschichte (sei es nun im ganzen oder in Teilen) so gegeben, als warte sie nur darauf, in Gestalt einer auf sie ge­ richteten philosophischen „Erinnerungsreflexion (historia rerum gestarum)“95 bewußt in Angriff genommen zu werden. Mit die­ ser Inangriffnahme können sich - über die allgemeine Intention hinaus, die Philosophiegeschichte als ein auf Wahrheit und Frei­ heit hin angelegtes Geschehen zur Geltung zu bringen - im ein­ zelnen unterschiedliche Zwecksetzungen verbinden, die in die­ ser Arbeit zu skizzieren sein werden. Hervorhebenswert an dieser Stelle ist nur, daß der Ausdruck „Geschichte“ in jedem der im folgenden interessierenden Konzepte zur Bezeichnung einer verobjektivierbaren Realität verwendet wird, die im allge­ meinen folgende Merkmale hat: Geschichte ist ein Gegenstands­ bereich, mit einer gleichsam sinnlichen Oberfläche und einer intelligiblen Infrastruktur. Die Oberfläche (der „empirische Weg“ nach Kant) ist formal durch das räumliche Neben- und zeitliche Nacheinander von Positionen mit aggregativer Formgestalt cha­ rakterisiert. An ihr bleiben Historie und Empirie haften. Die intelligible, den Bedingungen von Raum und Zeit nicht unter­ worfene Infrastruktur wird als „Vernunft-“, „Ideen-“ oder „dis­ kursive Entwicklung“ (Braun) bezeichnet. Ihr gilt das philoso­ phische Interesse. Da nun aber die Geschichte (als Geschichte) ein empirisches Gepräge hat, muß in der Philosophiegeschichts­ philosophie stets Bezug genommen werden auf historisch-empi­ rische Forschung: Entweder ist die Konkretisierung des philo­ sophisch erarbeiteten Rahmenkonzepts der Geschichte den Historikern bzw. Empirikern zu überlassen (Kant), oder in der

tischer Vernunft geht. Während das Telos bei Kant aber jenseits der Geschichte (d. h. der irdischen Welt überhaupt) liegt, bleibt das Telos bei Mittelstrass in den Horizont von Geschichte eingeschlossen. Nicht in allen Konzepten indiziert der Ausdruck „Geschichte“ jedoch das schlechthinnige zeitliche Ganze. Bei Hegel z. B. ist die „eigentlich sogenannte Geschichte“ das, was die jetzt vollgültig realisierbare „wahrhafte Philosophie“ radikal hinter sich gebracht hat. Dieses Geschichtskonzept läßt sich unter der Fragestellung in Erwägung ziehen, was im Sinne Hegels zeitlich ,nach‘ der Philosophiegeschichte und der philo­ sophischen Wissenschaft noch kommen kann. Nun sehen, wie Hegel, auch Lübbe und Braun ihre Positionen als das Telos aller philosophiegeschichtlichen Entwicklung an, jedoch liegt dieses Telos nicht, wie bei Hegel, jenseits, sondern innerhalb der Grenzen der Geschichte. 95 Lutz Geldsetzer, Art. Philosophiegeschichte, a. a. O., Sp. 912.

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Philosophiegeschichtsphilosophie ist selbst historisch-empirisch vorzugehen (Hegel bis Mittelstrass). 3) Eine dritte Strukturähnlichkeit der im folgenden zu skizzie­ renden Konzeptionen besteht darin, daß die Geschichte eigen­ tümlich naturalisiert wird. Nicht zuletzt die Metapher „Ent­ wicklung“, die der Bildwelt organischer Wachstumsprozesse entstammt, zeigt an, daß die Philosophiegeschichte als eine Art lebendiger Natur, ja als der gesetzmäßig geregelte (und zunächst vorbewußte) Lebensprozeß eines denkenden Wesens aufgefaßt wird, handele es sich nun um die kollektiv in Betracht gezogenen „Denker unter den Menschen“ (so bei Kant) oder um die Ver­ nunft selbst (so bei Hegel und in den späteren Theorien). Man kann daher sagen, daß die im folgenden zu skizzierenden Philo­ sophiegeschichtsphilosophien Varianten einer speziellen „Natur“-Philosophie sind: Es sind Philosophien, die das Ganze der Geschichte in seiner lebendigen Bewegung zu verfolgen suchen, als handele es sich um eine Natur und als seien die Texte, die in philosophiegeschichtsphilosophischen Zusammenhängen je­ weils zur Interpretation anstehen, fixe Bestandteile dieser Na­ tur: „Fakta“ in Raum und Zeit (Kant), die Aufschluß geben über verschiedene Entwicklungszustände der Einen Philoso­ phie, Vernunft oder Idee, wenn man sie mit einem gleichsam ,ideenhaften Auge‘ (Kant, Hegel) in den Blick nimmt. 4) Die Naturalisierung der Philosophiegeschichte kann als Hinweis auf den unendlichen Zeithorizont verstanden werden, in dem sich philosophische Betrachtungen von Philosophiege­ schichte, zumindest dem Anspruch nach, ansiedeln und (diskur­ siv) bewegen - als sei das Ende der Zeit und eine endgültige Zukunft schon herbeigekommen und die wahre Bedeutung der Dinge erkennbar. Tatsächlich sollte ja mit der Philosophiege­ schichtsphilosophie eine Form von Philosophiegeschichtsschrei­ bung gefunden sein, deren Gesichtspunkte und Leitfäden nicht wieder als zeitbedingte fragwürdig werden. Der Vernunft-Stand­ punkt der Philosophiegeschichtsphilosophie ist daher zugleich der Standpunkt der endgültigen Zukunft, die in den hier inter­ essierenden teleologischen Philosophiegeschichtskonzeptionen mit der Angabe des Telos der für die Philosophiegeschichte an­ genommenen Vernunft- und Ideenentwicklung auch selbst the­ matisch wird. Dabei hat dieses Telos bei Kant und Hegel einen eschatologisch-apokalyptischen Sinnhintergrund: Es steht hier 49 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

für eine durch Vernunft (Wahrheit und Freiheit) derart ,erfüllte Zeit‘, daß diese prinzipientheoretisch als jenseits dieser „Erden­ welt“ (Kant) liegend anzusehen ist. Jedoch läßt sich in allen im folgenden zu behandelnden Konzepten feststellen, daß Philoso­ phiegeschichtsphilosophen gewissermaßen „Propheten“ sind, die in alle Zukunft schauen und die Geschichte von ihr her aus­ legen, und daß es Propheten sind, die auch in den vormaligen Denkern schon Propheten sehen96: Denn in der oben kurz ange­ deuteten Auslegung der gesamten vorausgegangenen Philoso­ phie als der spiegelverkehrten Vorabbildung der (sei es jetzt schon oder erst später vollgültig einlösbaren) wahrhaften Philo­ sophie wird jene gleichsam als eine große „Realprophetie“ zur Geltung gebracht: Das vormalige Philosophieren weist an ihm selbst auf seine zukünftige Erfüllung, auf das Hervorgehen der wahren Philosophie, voraus97. Die genannten Aspekte - erstens der Platonismus; zweitens der latente Erkenntnisrealismus, demzufolge es Geschichte als Rea­ lität gibt; drittens die Orientierung der Philosophiegeschichts­ philosophien am Paradigma naturwissenschaftlicher Erkenntnis, demzufolge es Geschichte als eine Art Natur gibt; und viertens das Motiv einer Betrachtung dieser Natur gleichsam sub specie aeternitatis - werden in dieser Arbeit in der Auseinandersetzung mit den jeweiligen Konzepten (deren große Unterschiede im Detail liegen) zu präzisieren sein. Im allgemeinen zeigen diese Aspekte den Ausschließlichkeitsanspruch derjenigen Philoso­ phien an, die entweder mit Philosophiegeschichtsphilosophien verbunden sind (wie diejenigen Kants und Hegels) oder selbst basal Philosophiegeschichtsphilosophien sind (wie die jüngeren Theorien). Diesem Anspruch nach gibt es in der Philosophie zwar viele Bücher, die es wert sind, im Rahmen einer Philoso­ phiegeschichtsphilosophie zur Kenntnis genommen zu werden, aber nur ein Buch (oder Werk), das an sich selbst lesenswert ist: 96 Der Ausdruck „Prophetie“ wird im Rahmen dieser Arbeit näher erläutert in den „Einwänden“ zur Hegelschen Philosophiegeschichtsphilosophie. 97 Dieses Deutungsverfahren hat im typologischen oder figuralen Interpretationsver­ fahren der antiochenischen Exegetenschule seinen ältesten Vorläufer: „Sub figuralitate historiae“ wurden hier die „alttestamentlichen Ereignisse als Vorabbildungen der neutestamentlichen und damit als Realprophetien“ begriffen: G. Scholtz, Art. Ge­ schichte, in: Hist. Wörterb. der Philosophie, a. a. O., Sp. 346.

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das Buch (oder Werk), in dem die Philosophiegeschichte auf un­ verrückbare Weise philosophisch ausgelegt worden ist. Dort, wo es Philosophiegeschichtsphilosophie gibt, gibt es (jeweils) nur ein bedeutsames Buch und nur eine Geschichte. Und im Lichte dieses einen Buchs haben alle anderen Bücher und hat diese Geschichte nur eine Deutung (Odo Marquard)98.

3.2 Gut erfundene Geschichten Die philosophische Philosophiegeschichtsschreibung macht Schwierigkeiten - nicht nur unter dem Gesichtspunkt, daß es in der Philosophie nun aber weder nur ein Buch gibt, noch nur ein einziges Buch, von dem man sagen könnte, es sei in allen Hin­ sichten und unter allen Gesichtspunkten im Vergleich zu ande­ ren, früheren oder späteren, wirklichen und möglichen Büchern das bedeutsamste. Sie macht Schwierigkeiten vor allem in ge­ schichtstheoretisch-kritischer Hinsicht, insofern die Mannigfal­ tigkeit der Konzeptionen Zweifel erweckt, es könnte Geschichte (als „verobjektivierbare Realität“) überhaupt geben. Denn was es - zumindest auf den ersten Blick - gibt (bzw. aufgrund der Existenz von Archiven und Bibliotheken gegeben werden kann), das sind Texte - nicht zuletzt Texte, aus deren Lektüre hervorgeht, daß man sich zwar zu einer bestimmten Zeit die Philosophiegeschichte philosophisch zum Gegenstand gemacht hat, aber immer wieder eine andere Geschichte im Lichte einer immer wieder anderen Vernunft. Deshalb läßt sich nicht nur fra­ gen - und wird in dieser Arbeit stärker nachzufragen sein -, wel­ che Geschichte welche Philosophie auf der Basis welcher Ver­ nunft denn nun eigentlich hat, sondern grundlegender noch, wodurch gezeigt wäre, daß die philosophischen Geschichts-„Legenden“ überhaupt ein durch den Ausdruck „Geschichte“ bezeichenbares Referenzobjekt haben und damit mehr sind als nur gut erfundene Geschichten. 98 Vgl. aber Odo Marquards Hinweis darauf, „daß Bücher nicht nur eine Deutung haben und daß es nicht nur ein Buch gibt, und: daß Geschichten nicht nur eine Deu­ tung haben und daß es nicht nur eine Geschichte gibt“: Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften, in: Ders., Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart 1986, 98-116,109 ff. Vgl. auch schon: Ders., Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, in: Ders., Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981,117-146, insbes. 130ff.

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Unter einer gut erfundenen Geschichte ist im folgenden zu verstehen: eine Geschichtsdarstellung, die sich begrifflich auf­ wendigen Überlegungen in ihrem Vorfeld verdankt, was unter Vernunft, Philosophie und Geschichte zu verstehen ist und wie diese Komponenten Zusammenhängen. Eine solche Darstellung ist also weit mehr als nur das Produkt eines ad-hoc-Einfalls. Und doch ist es fraglich, ob sie mehr ist als das Produkt eines guten Einfalls oder eine bloße Konstruktion. In einem Vergleich mit Produkten möglicher historischer Philosophiegeschichtsschrei­ bung (unabhängig zunächst von der speziellen Unterscheidung zwischen Historie und Empirie) läßt sich dieses Problem gut deutlich machen: Für die historische Philosophiegeschichts­ schreibung kann es, schon nach klassischem Verständnis, als cha­ rakteristisch gelten, daß man in ihrem Zusammenhang der Ma­ terie nach aus Büchern schöpft, wobei Bücher bzw. Texte" nicht nur die Quellen für die jeweils projektierte Geschichte sind (für den Geschichtsentwurf, den man zu einem bestimmten Zeit­ punkt formuliert), sondern auch die („dokumentarischen“) Be­ weise, welche den ausgeführten Entwurf schließlich als gut begründet erscheinen lassen und zugleich für jedermann über­ prüfbar machen. In der philosophischen Philosophiegeschichts­ schreibung dagegen schöpft man (auf einem überzeitlichen Standpunkt) aus den „Quellen der Vernunft“. Es sind (ideen-) begriffliche oder „konzeptuelle Beweise“99 100, welche die projek­ tierte Darstellung der Geschichte (als einer Totalität) unter­ mauern sollen. Kann man darüber hinaus noch annehmen, daß man im Zusammenhang der sich auf Dokumente stützenden Philosophiegeschichtsschreibung zugleich dem Vetorecht des in Texten Gesagten Rechnung zu tragen versucht, so ist man in der konzeptuell oder begrifflich gestützten Philosophiegeschichts­ schreibung gewissermaßen sinnproduktiv orientiert: Noch bevor 99 „Text“ wird in dieser Arbeit ein Zusammenhang von syntaktisch korrekt gebilde­ ten, semantisch gehaltvollen und im Hinblick auf ihren propositionalen Gehalt be­ gründbaren menschlichen Sprachäußerungen genannt, ob diese mündlich oder schrift­ lich geäußert und tradiert werden. Zum speziellen Problem einer Interpretation schriftlich fixierter Rede vgl. Detlef Thiel, Über die Genese philosophischer Texte. Studien zu Jaques Derrida, Freiburg/München 1990. 100 Die Unterscheidung zwischen „dokumentarischen“ und „konzeptuellen Bewei­ sen“ geht auf Arthur C. Danto zurück: Analytical Philosophy ofHistory, Cambridge 1965. Vgl. in der dt. Ausgabe (Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt/M. 1980) 200ff.

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man die Bücher gelesen hat, auf die man sich bezieht, steht der Sinn des Gesagten fest, denn Bücher bzw. Texte gelten als Be­ standteile jener Geschichte, die der Philosoph aus Vernunft her­ aus auszulegen sucht. Daß man Sinn produzieren müsse - und zwar einen Sinn, der die Texte in aller Wahrheit trifft -, ist eine mit Philosophiegeschichtsphilosophien implizit verbundene her­ meneutische Forderung, der man insbesondere in den spekulati­ ven, subjektzentrierten Konzeptionen so strikt folgt, daß es den Anschein hat, es ginge in der Philosophiegeschichtsschreibung darum, die Texte erst noch zu produzieren - Texte, die sich in das jeweilige philosophiegeschichtsphilosophische Rahmenkon­ zept bruchlos einfügen. Hegels KANT-Interpretation und die späteren KANT-Deutungen werden im folgenden als Fälle eines sinnproduktiven Auslegungsverfahrens vorgestellt, das sich da­ durch auszeichnet, daß der Interpret Texte gleichsam nur dem ,Buchstaben‘ nach aufnimmt, um ihnen dann einen ,Geist‘ ein­ zuhauchen, auf den man nicht kommen würde, wenn man Kants Texte, sei es in einem anderen philosophiegeschichtsphilosophi­ schen Rahmenkonzept, sei es außerhalb solcher Rahmenkon­ zepte überhaupt, liest. Nicht, daß einem solch sinnproduktiven Vorgehen jeder heu­ ristische Wert und jede texterschließende Kraft von vornherein abgesprochen werden soll. Nur wird in dieser Arbeit am speziel­ len Fall der verschiedenen Interpretationen der Kantischen Philosophie nachgefragt, wie der produzierte Sinn mit dem Sinn zusammenhängt, den die Worte Kants vielleicht von sich her noch besitzen - zumal nicht beides zugleich der Fall sein kann: Kant kann nicht ein spekulativer Philosophiegeschichtsphilo­ soph sein und ein Philosoph, dem noch gar nichts anderes mög­ lich war, als nur erst „geschichtlich“ zu Werke zu gehen. Beide Interpretationsvarianten werden in dieser Arbeit ernst genommen, gerade weil sie etwas über die Schwierigkeiten von Philosophiegeschichtsphilosophien aussagen, Texte zu nehmen, wie sie sind, als etwas bereits Konstituiertes, und also nicht aus­ zulassen, „was anderem Denken gerade das Wesentliche war“, wie schon Karl Jaspers insbesondere Hegel kritisierte101. Daß 101 Karl Jaspers, Geschichte der Philosophie, in: Ders., Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, München (11953) 271988,101-110,106. Jaspers bietet interessan­ te Gesichtspunkte zur Kritik an der spekulativen Philosophiegeschichtsphilosophie

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philosophische Texte einen eigenen ,Geist‘ besitzen, d. h. eine Evidenz- und Sinndimension, welche selbst noch ein mögliches Verständnis von Vernunft, Vernunftentwicklung, Philosophie, Geschichte tangiert, ist erfahrbar im Kontext einer Lektüre, in der der Interpret noch zur Disposition stellt, was er selbst unter Vernunft, Philosophie oder Geschichte versteht. Stellt er dies aber zur Disposition, dann wird deutlich, daß das, was „anderem Denken“ bei diesen Grundthemen der Philosophie „das Wesent­ liche“ war, in Verbindung steht mit einem umfangreichen Wis­ sen prä-diskursiver oder prä-rationaler Art, das man gar nicht anders als nur verstehen kann: Auffassungen von Vernunft, Phi­ losophie und Geschichte (nicht zuletzt die des Interpreten) sind abhängig von grundlegenden Überzeugungen, Einsichten oder Motiven, in die wenigstens zweierlei hineinspielt: erstens die be­ stimmte Bildung, die jemand hat und unter schicksalhaften Um­ ständen bis zu dem Zeitpunkt, zu dem er die Bücher schreibt, auch nur haben kann - Bildung, die ihn zugleich teilhaben läßt an den allgemeineren Überzeugungen, in deren Bahnen schon viele philosophierten, ohne sie in Frage zu stellen (die vielmehr vielleicht sogar zur „Obsession“ geworden sind102); zweitens ein bestimmtes Selbst- und Weltverständnis oder eine „persönlich existenzielle Weltsicht“, wie Hans Michael Baumgartner es Hegelscher Provenienz, aber aus einem selbst spekulativen Hintergrund heraus. Vgl. zur Kritik an Jaspers neuerdings: Hans Michael Baumgartner, Anspruch und Ein­ lösbarkeit. Geschichtstheoretische Bemerkungen zur Idee einer adäquaten Philoso­ phiegeschichte, in: Rolf W. Puster, Veritas filia temporis? Philosophie zwischen Wahrheit und Geschichte. Festschrift für Rainer Specht zum 65. Geburtstag, Berlin/ New York 1995,44-61. 102 Hans Michael Baumgartner zeigt in einer kritischen ScHELLiNG-Interpretation (Das absolute Ich und die Kategorien. Zum Aufbau von Schellings Schrift ,Vom Ich als Prinzip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen1 (1795), im Erscheinen), was sich als „Obsessionen“ der Zeit, in der Schelling philosophierte, namhaft machen läßt: z. B. „die Idee der Begründung einer wissenschaftlichen kriti­ schen Philosophie im Anschluß an Kant“; „die Idee einer zureichenden Wissensga­ rantie durch ein irgendwie geartetes Absolutes, das unser Wissen hieb- und stichfest macht“; „die Faszination, durch die Selbsterfahrung des Menschen als eines Ich-Wesens, in dem die Welt allererst ,die Augen aufschlägt1, wie man sagen könnte“ [Typo­ skript, S. 2], oder auch - und dies ist für das hier interessierende Thema „Philosophie­ geschichte“ besonders bedeutsam - das Motiv von der „Vollendung des geschicht­ lichen Prozesses der Menschheit“, die zu der „Einheit [...] einer [...] Person“ in einem „Reich[] Gottes“ gelangen sollte [7]. Als „Obsession“ ließe sich jedoch auch die „schulmäßige Form“ (G. Scholtz) bezeichnen, in der man im 18. Jahrhundert zwi­ schen philosophischer und historischer Erkenntnis unterschieden hat.

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nennt103. Diese läßt sich zurückführen auf (typologisierbare) Er­ fahrungen (von praktischer Relevanz), die in einer Welt zu ma­ chen sind, welche immer wieder anders „kulturell gestaltet)]“104 ist und in der es „Grenzsituationen“ (Karl Jaspers) gibt - Si­ tuationen, die zu Bewußtsein bringen können, daß für Menschen weder alles begreifbar noch machbar ist. Solche Situationen können dem einzelnen unter Umständen erhebliche Sinnstif­ tungsleistungen abverlangen. In ihnen wird ausgegriffen auf ein Unbedingtes und Transzendentes (das in Theologie und, profa­ ner, in Philosophie dann seine begriffliche Formulierung erhält), von dem her sich dann bestimmt, wie die Welt im Innersten auf­ gebaut ist und welche Möglichkeiten sie in sich birgt, den „traurige[n] Erfahrung[en]“ (Kant), die in ihr zu machen sind, zu entkommen - vielleicht gerade durch Philosophie, die dafür ein­ steht (und als Geschichtsphilosophie zeigt), daß die irdische Welt in eine andere, bessere Welt verwandelt werden kann. Am Beispiel ausgewählter Texte zumindest deutlich werden zu lassen, daß das Philosophieren sozusagen einen ,Sitz im Leben‘ hat, d. h. in einer kulturell schon gestalteten Welt geschieht und auf einer persönlich existenziellen Weltsicht aufruht, wel­ cher die Texte ihre individuelle, vorrationale Evidenz- und Sinn­ dimension verdanken; daß diese Sinndimension ferner Zeugnis davon gibt, daß das Subjekt der Philosophie nicht irgendeine „Subjekt“-Vernunft, noch aber auch nur der Mensch nach einem möglichen Begriff (Kant), sondern ein endliches und sterbliches Vernunftwesen ist, das auf der Erde und in schwierigen Verhält­ nissen (zur Natur und zum Anderen) existiert; und daß man des­ halb Philosophie nur dann auf Vernunft zurückführen kann, wenn man unter „Vernunft“ immer auch noch verstehen kann: die menschliche Fähigkeit sowohl zur prädiskursiven Einsicht als auch zur Stiftung von Sinn mit Blick auf die Welt im ganzen, mit dem Philosophieren darin, dies ist ein weiteres Ziel, das in dieser Arbeit verfolgt wird.

103 Hans Michael Baumgartner, Anspruch und Einlösbarkeit, a. a. O., 55. 104 Ebda.

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3.3 Plädoyer für ein verändertes Verständnis von Historie der Philosophie In erster Linie soll in der Arbeit das herkömmliche Verständnis von Philosophiehistorie in Frage gestellt werden - und zwar ebensowohl die Auffassung, Historie stehe nur für eine ,objekti­ ve Einstellung4 (zu Texten und zur Geschichte), in welcher man nicht Rechenschaft darüber zu geben vermag, weshalb die „hi­ storischen Fakten“ eigentlich Philosophie sind4; als auch die Deutung, das, was gerade heute an Hochschulen geschieht, sei schon ein Fall von Philosophiehistorie in diesem Sinn. Denn zum einen leuchtet es nicht unter allen Umständen ein, weshalb es im Rahmen der Philosophiehistorie nicht möglich sein sollte, Ge­ sagtes argumentativ-kritisch zu beurteilen. Und zum anderen ist nicht klar, was es überhaupt mit Philosophiehistorie zu tun haben könnte, wenn Menschen Texte lesen, die sie nicht selbst verfaßt haben, und wenn sie dies heute in institutionellen Zu­ sammenhängen tun, deren Statuten es zweckmäßigerweise vor­ sehen, daß einige wenige Personen, die als Philosophen aner­ kannt sind, viele andere, die es (noch) nicht sind, mit dem bekannt machen, was in der abendländischen Philosophietradi­ tion wiederum andere anerkannte Philosophen jeweils als Philo­ sophie anerkannt haben oder noch anerkennen105. Der erste Aspekt leuchtet dann nicht ein, wenn man Schwierigkeiten mit der Vorstellung hat, es könnte wahrhafte Philosophen geben, welche alleine die ,historischen Fakten4 als ein Stück Philosophie zu beurteilen in der Lage wären, während der zweite Aspekt dann ein Problem markiert, wenn man die Bezugnahme auf Texte nicht ohne weiteres schon als eine Bezugnahme auf Ge­ schichte verstehen kann. Denn gerade die Mannigfaltigkeit der Philosophiegeschichtsphilosophien erweckt Zweifel, es könnte Philosophiegeschichte im Sinne einer bestimmten, auf wunder­ bare Weise unsichtbar geordneten Lebenswelt geben - anstatt nur Lebenswelt, die über weite Strecken mehr unordentlich, denn ordentlich ist, und Geschichte nur dann, wenn man sie schreibt. Weil somit die Philosophiegeschichte eher noch ein Problem 105 Dies ist die Variation einer Formulierung Odo Marquards: „Wissenschaft ist das, was anerkannte Wissenschaftler als Wissenschaft anerkennen“, in: Über die Unver­ meidlichkeit der Geisteswissenschaften, a. a. O., 107.

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und nicht so sehr eine Gegebenheit zu sein scheint, wird in dieser Arbeit - insbesondere in ihrem Schlussteil - für ein veränder­ tes Verständnis von Philosophiehistorie plädiert. Angezielt ist ein nichtdiskursives, historisches Wissen von Philosophie, das man besitzen kann, unabhängig davon, ob und welche Philo­ sophiegeschichte (welche Ordnung) es gibt - ein auf die Ver­ gangenheit bezogenes Wissen, das sich als Resultat einer (der Materie nach) auf mehrere Texte (als Quellen) bezogenen retro­ spektiven Konstitutionsleistung auf seiten des Interpreten aus­ weisen läßt und von dem zugleich angenommen werden kann, daß man in einer kulturell gestalteten Welt ein gewisses Maß von ihm (in Gestalt einer der Materie nach erweiterbaren „hi­ storischen Bildung“) zur jeder Textlektüre schon mitbringt. Daß dieses Wissen eine unverzichtbare Komponente im Philosophie­ ren selbst darstellt, soweit man sich in ihm mit Konzepten vor­ ausgegangener Denker auseinandersetzt (was für die abend­ ländische Philosophietradition überhaupt als charakteristisch gelten kann), und doch etwas völlig anderes ist als Philosophie, soll im folgenden einleitungsweise in einigen Stichworten umris­ sen werden wie auch dies: daß Philosophiehistorie zugleich als eine der Philosophie gegenüber eigenständige Wissenschaft auf­ treten kann, die professionell von philosophisch kompetenten Historikern betrieben wird, welche im Bereich der Philosophie, dem sie zugehören, bestimmte Aufgaben übernehmen, die von reinen Philosophen - den Spezialisten im Begrifflichen - nicht übernommen werden können. Es ist möglich, für die Philosophiehistorie eine autochthone Formgebung und spezielle Funktionen ausfindig zu machen, wenn man davon ausgeht, daß Texte, die man nicht selbst verfaßt hat, gelesen werden müssen, will man wissen, was genau in ihnen steht. Setzt man so an, dann lassen sich zwei Bedingungskomple­ xe nennen, unter denen Textlektüren erfolgen, von denen der zweite auf das historische Wissen aufmerksam macht: 1) Texte werden erfahrungsgemäß nach bestimmten Themenstellungen und Gesichtspunkten gelesen, die sich aus den Projekten erge­ ben, welche die Interpreten in der Interpretation verfolgen. In solchen Projektzusammenhängen stehen Texte in Auswahl und in nochmaliger Auswahl des in ihnen Gesagten zur Disposition, wobei ein und derselbe Text in verschiedenen Projekten wichtig werden kann, so daß sich nicht sagen läßt, es gäbe für einen Text 57 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

nur eine Deutung (dafür sind die unterschiedlichen Deutungen eines einzigen Textes im Rahmen der Philosophiegeschichts­ philosophie selbst ein Beleg). In einer ersten Zugangsweise las­ sen sich zwei Typen von Projekten unterscheiden, in denen der Textbezug eine Rolle spielt: Es gibt Projekte, in denen man, wie im Projekt ,Philosophiegeschichtsphilosophie‘, sinnproduktiv orientiert ist, und Projekte, in denen dem Sinnhintergrund des Gesagten (dem ,Vetorecht der Quellen4) Rechnung zu tragen versucht wird. Projekte der letzteren Art können z.B. dem Zweck dienen, zur Lösung eines Problems zu gelangen, an dem der Interpret - aus welchen Gründen auch immer - ein Interesse hat. Derartige Unternehmungen sind sachbezogen und lassen sich als genuin philosophische bezeichnen. 2) Menschen lesen Texte aber nicht nur stets im Lichte eigener Vorhaben, sondern immer auch noch in einer Perspektive, die genuin historisch ge­ nannt werden kann: Sie lesen sie im zeitlichen Nachhinein und auf eine Weise, in der sie, sei es nun ausdrücklich oder nur still­ schweigend, ein Wissen mit ins Spiel bringen, das derjenige nicht besitzen konnte, dessen Text gelesen wird: ein Wissen um Ge­ schehnisse, die zum Zeitpunkt, als der gelesene Texte entstand, noch nicht eingetreten waren, - ein Wissen um die Zukunft, die jetzt Vergangenheit ist. Arthur C. Danto hat darauf aufmerksam gemacht, daß es einen „einzigartigen Vorteil“ gibt, den man nur im zeitlichen Nachhinein (und oft sogar nur lange, nachdem etwas geschehen ist) besitzt, nämlich (gut dokumentierte) Geschehnisse „im Zu­ sammenhang mit späteren Ereignissen [...] zu kennen“, die zum früheren Zeitpunkt nicht voraussehbar waren; sie so zu kennen, heißt, sie „als Teilstücke zeitlicher Ganzheiten“ oder, m. a.W., im Zusammenhang von (thematisch bestimmten) Geschichten zu kennen106. Und dies wiederum heißt, sie zu beschreiben und zu erklären, wie es weder Akteuren noch Zeitzeugen jemals möglich sein kann - nämlich in der Beziehung auf zeitlich späte­ re Ereignisse, von denen begründetermaßen niemand wissen konnte, daß sie eintreten würden. Daß es im Bereich der Philosophie für ein angemessenes Ver­ ständnis von Texten nicht nur erforderlich ist, dem Sinnhinter­ grund des Gesagten Rechnung zu tagen, sondern es immer auch 106

Arthur C. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, a. a. O., 294.

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noch darauf ankommt, Textinhalte in ein temporales Ganzes einbetten oder, m. a.W., eine Geschichte erzählen zu können wobei ausdrücklich Geschichten formulieren zu wollen, den professionellen Historiker ausmacht -, läßt sich in besonderem Maße gerade am Beispiel der Interpretation von Texten zur te­ leologischen Philosophiegeschichtsphilosophie deutlich ma­ chen: Teleologische Philosophiegeschichtsphilosophen greifen auf dem Wege einer präzisen Bestimmung von Philosophiege­ schichte als geschlossenem Ganzen einer Vernunft- oder Ideen­ entwicklung sowohl der Sache wie dem Anspruch nach in die endgültige Zukunft aus. Insofern sie dies jedoch zu einem be­ stimmten Zeitpunkt tun, lassen sich die entsprechenden Texte auch in einer zeitlichen Perspektive interpretieren. In dieser Hinsicht zeigt sich nun, daß der Ausgriff in alle Zukunft, wie ihn z. B. Kant und Hegel unternahmen, in keinem Falle ein­ schließt, daß diese Denker auch vorausgesehen hätten, was spä­ ter tatsächlich geschah. So hatten Kant und Hegel, wie sich im Nachhinein zeigt, auch nicht die mindeste Vorstellung von dem, was die Zukunft bringen sollte. Nichts in den Texten Kants weist darauf hin, daß schon so bald - und zwar gerade aus einer Auseinandersetzung mit der Kantischen Philosophie - eine Philosophie wie die Hegelsche hervorgehen würde und daß diese (und nicht die Kritische Philosophie und Philosophiege­ schichtsphilosophie) noch 150 Jahre später Vorbild und Bezugs­ punkt einer Vielfalt von Philosophiegeschichtskonzeptionen sein würde, die dann aber wiederum z. B. die Struktur von Theo­ rien geschichtlicher Vernunft besitzen sollten. Nichts in den Bü­ chern Hegels gibt einen Hinweis darauf, daß derartige Theo­ rien noch entstehen würden, könnten oder sollten. Kant und Hegel konnten unmöglich voraussehen, was geschehen würde. Denn was in der Zukunft lag, war (wie man im Nachhinein wis­ sen kann), daß jeweils später die konzeptuellen Beweisgründe preisgegeben wurden, auf deren Basis man früheren Zeitpunk­ ten in alle Zukunft ausgegriffen hat. Auch in bezug auf die neue­ ren Theorien, die jeweils mit eigenen Vorstellungen von aller philosophischen Zukunft verbunden sind, läßt sich daher nicht voraussagen, wie lange und in welch philosophischen Projektzu­ sammenhängen und auf der Basis welcher Vernunft sie später noch zur Kenntnis genommen werden. Es kommt Nachgebore­ nen zu, dies zu wissen. 59 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

Es könnten nun professionelle Philosophiehistoriker sein, die sich der Aufgabe ausdrücklich widmen, philosophische Texte im Zusammenhang mit späteren Texten zu kennen. Die von ihnen verfolgten Projekte, in denen es darum ginge, eine Geschichte zu schreiben oder im Lichte eines thematisch bestimmten Geschichtsentwurfs in Archiven an den „Quellen“ (Texten) zu forschen, ließen sich im Unterschied zu sach- oder problemorien­ tierten Projekten als genuin historische bezeichnen. In philoso­ phischen Projekten wird ein historisches Wissen im eben skiz­ zierten Sinn nur eine untergeordnete Rolle spielen. Und doch wird man sagen müssen, daß auch in deren Rahmen eine ange­ messenen Deutung von Texten einschließt, daß man den Zeit­ punkten ihrer Entstehung Rechnung trägt und - über die bloße Datierbarkeit (die chronologische Anordnung der Quellen) hin­ aus - eine Geschichte erzählen kann. Nicht nur läßt sich nämlich erst im Zusammenhang einer Geschichte Antwort geben auf eine (freilich jeweils thematisch bestimmte) Frage, was in der Vergangenheit überhaupt geschah und im Verhältnis von Frühe­ rem zu Späterem an Veränderungen geschah. Auch lassen sich allein in Form einer Geschichte (und sei es nur in ihrem Ent­ wurf) Konzepte, die sich, wie die genannten Philosophie­ geschichtsphilosophien, systematisch ausschließen, so zueinan­ der in eine Beziehung setzen, daß man erkennen kann, wo Früheres für Späteres dennoch von Bedeutung, von „histori­ scher Bedeutung“ war. Geschichten konstituieren in bezug auf das, was hier und jetzt gelesen werden kann, ein temporales Sinnganzes und mit ihm den historischen Gegenstand, der nicht schon mit den Texten selbst gegeben ist. Denn ob es außerhalb unserer Entwürfe Geschichte gibt, in die Texte per se hineinge­ hören würden, und welche Geschichte es gibt, das eben ist ange­ sichts der Vielheit der Philosophiegeschichtsphilosophien noch die Frage. In diesem Sinne soll in der vorliegenden Arbeit verdeutlicht werden, daß man unter Philosophiehistorie etwas anderes ver­ stehen kann, als nur eine gelehrte Kenntnis, wer wo wann was im Unterschied zu einem anderen in der Vergangenheit gesagt hat. Philosophiehistorie kann dafür stehen, daß man dann, wenn man dies weiß, zumeist noch sehr viel mehr weiß: z. B. daß eine zukunftsbezogene Philosophieprogrammatik, wie sie sich in den Texten Kants abzeichnet, später nicht so eingelöst worden ist, 60 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

wie es intendiert war, da man gerade preisgab, was dem früheren Denker in seiner Sinnperspektive auf die Welt im ganzen „das Wesentliche“ war. Die hier angezielte Historie ist allerdings zugleich ein kriti­ scher Kontext: Weit davon entfernt, daß man in ihrem Rahmen die Konzepte nicht nach ihrem Wahrheitswert beurteilen könn­ te, stellen sie sich in ihr vielmehr in einem bestimmten kritischen Licht dar und erweist sich im Grunde schon jede Philosophiege­ schichtsphilosophie als problematisch. Denn die Historie läßt deutlich werden, in welch starkem Ausmaß gerade Philosophie­ geschichtsphilosophien nachgeborenen Philosophen Probleme machen: Philosophien, die Philosophiegeschichtsphilosophien enthalten oder grundlegend Philosophiegeschichtsphilosophien sind, können dem Philosophieren eine offene Zukunft nicht ein­ räumen. Vor allem gestatten sie keine philosophiegeschichtsphi­ losophischen Nachfolgekonzeption, in denen ein und dieselbe Geschichte noch einmal nach ganz anderer Prinzipien ausgelegt würde. Daß das Entstehen späterer Konzeptionen den Geltungs­ anspruch der früheren berührt und wie dies der Fall sein kann, darauf wird in der Arbeit anhand der jeweils behandelten Kon­ zeptionen zurückzukommen sein. Nun könnte es wohl den Philosophen im professionellen Phi­ losophiehistoriker interessieren, philosophische Konzepte unter der Fragestellung nach dem Verhältnis von Wahrheit und Zeit kritisch in den Blick zu nehmen. Und doch wäre die Historie (als Historie) ein Bereich in der Philosophie, in dem man nicht in erster Linie kritisiert, sondern tut, was in der Philosophie in der Tat nur Historie leisten kann: nämlich Antworten auf ver­ gangenheitsbezogene Fragen zu geben, die sich in und mit dem Philosophieren stellen. Indes können der Historie in der Verbindung mit dieser Auf­ gabe noch drei weitere (praktisch relevante) zugestanden wer­ den (wie dann im Schlußteil der Arbeit zu verdeutlichen sein wird): erstens die Aufgabe, diejenigen, die philosophieren und dabei Bezug nehmen auf Texte, schnell zu orientieren, d.h. da­ von zu entlasten, selbst in den Bibliotheken forschen zu müs­ sen; zweitens die Aufgabe, einen Krieg vermeiden zu helfen, der „tödlich“ enden kann, wie Odo Marquard gezeigt hat, nämlich den „hermeneutischen Bürgerkrieg“ um die absolut eindeutige Auslegung von Texten sowie der Einen Geschich­ 61 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

te107; an die Stelle des Kriegs könnte mit ihr der Streit um die jeweils richtige Textinterpretation und um den richtigen Ge­ schichtsentwurf treten. Dritte - und höchste - Aufgabe der Phi­ losophiehistorie aber könnte es sein, immer wieder neu an dieje­ nigen zu erinnern, die nicht mehr leben: die Philosophen als unverwechselbare, endliche und sterbliche Vernunftwesen, die unter schicksalhaften Umständen zu existieren genötigt waren und dabei zeigten, zu welchen Reflexions- und Sinnstiftungslei­ stungen Menschen unter Umständen fähig sind.

3.4 Vorgehensweise Um zu zeigen, daß auf Philosophiehistorie nicht ohne Not ver­ zichtet werden kann, wird folgender Weg eingeschlagen: In in­ haltlicher Hinsicht ist die Arbeit in erster Linie dem Themen­ komplex „Geschichte der Philosophie“ bei Kant gewidmet. Aber vier zeitlich spätere Ansätze zu einer Philosophiege­ schichtsphilosophie, die, wie der Kantische, Beispiele für „te­ leologisches Vollendungsdenken“108 sind, werden in die Diskus­ sion miteinbezogen. Von jeweils zeitlich späteren Konzeptionen führt der Weg (der Zeit nach) zu Kant zurück. Mit dieser An­ ordnung soll schon äußerlich der Auffassung Ausdruck verlie­ hen werden, daß in Textinterpretationen ein Wissen um die Zu­ kunft, die jetzt Vergangenheit ist, ins Spiel gebracht wird, das derjenige nicht besitzen konnte, dessen Text interpretiert wird. Allerdings führt der Weg auch in argumentativer Hinsicht zu­ rück: Anders als es die klassische Hierarchisierung des Wissens vorsieht, wird gegen die philosophische Betrachtung der Philo­ sophiegeschichte und für die bloße Historie argumentiert. Nun bedürfte es freilich einer ausführlichen Historik der Philosophie­ geschichtsschreibung, um die Struktur des angezielten Wissens und die verschiedenen Aufgaben kenntlich zu machen, die in der Philosophie nur Philosophiehistorie erfüllen kann. (Lose) 107 Vgl. vor allem: Odo Marquard, Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissen­ schaften, a. a. O., 108. 108 Stefan Majetschak, Die Logik des Absoluten. Spekulation und Zeitlichkeit in der Philosophie Hegels, Berlin 1992, 318 Anm. Majetschak, der teleologischem Denken kritisch gegenübersteht, hat aus Hegels Ansatz ein nichtteleologisches Konzept von Philosophiegeschichtsphilosophie entwickelt, auf das im dritten Teil der Arbeit kurz eingegangen wird.

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Einwände aber, die jeweils gegen die vorgeschlagenen Philoso­ phiegeschichtsprogrammatiken erhoben werden, sollen auf eine solche Historik zumindest zuführen, deren möglicher Umriß in freilich noch äußerst rudimentärer und experimentierender Form im Schlußteil der Arbeit zu skizzieren versucht wird. Das philosophiehistorische Wissen ist aber nicht nur Thema der Arbeit. Diese bewegt sich vielmehr selbst in seiner Dimen­ sion sowie in den zwei weiteren Dimensionen, die in einer Aus­ einandersetzung mit Texten, in denen dem Gesagten ein Veto­ recht eingeräumt wird, bedeutsam sind. Sie bewegt sich folglich a) in der hermeneutischen Dimension eines Sinnverstehens (be­ reits konstituierter Texte), die in allen Projekten eine Rolle spielt, die nicht sinnproduktiv orientiert sind; b) in der histori­ schen Dimension einer Deutung von Vergangenem im Lichte von zeitlich Späterem, die in denjenigen Projekten im Vorder­ grund steht, in denen es darum geht, eine Geschichte zu schrei­ ben; sowie c) in der philosophischen Dimension (der Argumen­ tation), in der Sachen und Probleme im Mittelpunkt stehen, im gegebenen Fall Probleme, die man in Sachen ,Philosophiegeschichtsschreibung‘ haben kann. Ad a) Die Methode ist interpretativ, insofern anhand von Tex­ ten Positionen vorgestellt werden, die sich zuschreiben, das zwingende Ergebnis eines geschichtlichen Prozesses zu sein, welcher in allen Konzepten mit Hilfe naturphilosophischer Me­ taphern („Entwicklung“) beschrieben wird. Reden nun aber auch alle Positionen in bezug auf Philosophiegeschichte von „Vernunftentwicklung“, so wird zu zeigen sein, daß keineswegs von derselben Entwicklung die Rede ist. Was man jeweils unter Vernunft und deren Entwicklung, unter Philosophie und Ge­ schichte versteht, erweist sich vielmehr als abhängig von einem Komplex von Grundüberzeugungen, der, zurückweisend auf eine jeweils bestimmte Lebenswelt und einen Menschen, dem Gesagten einen individuellen Evidenz- und Sinnhintergrund verleiht und die Texte auf Verstehen hin angelegt sein läßt. Ad b) Die Interpretation der Philosophiegeschichtsphiloso­ phien erfolgt im zeitlichen Nachhinein und in einer Perspektive, in der die Zeitpunkte der Entstehung der Texte berücksichtigt werden. Die Datierbarkeit bildet den Rahmen, in dem Gedach­ tes und Gesagtes aufeinander bezogen werden kann, für das sich kein gemeinsames konzeptuelles Fundament ausfindig machen, 63 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

von dem sich somit begründetermaßen auch nicht sagen läßt, Späteres habe mit Notwendigkeit auf Früheres folgen oder (im Sinne von Entwicklung) aus ihm hervorgehen müssen. Gedach­ tes und Gesagtes dann - über die chronologische Anordnung der Texte hinaus - im Zusammenhang eines temporalen Geschichts­ entwurfs zu kennen und wenigstens angeben zu können, wo et­ was Früheres für Späteres von „historischer Bedeutung“ war, steht für einen einzigartigen Vorteil, den man nur im zeitlichen Nachhinein besitzt. In diesem Sinne wird in dieser Arbeit anzu­ deuten versucht, in welchen Hinsichten die Programmatik der Kantischen Philosophiegeschichtsphilosophie für die Hegelsche Konzeption und diese für die späteren Theorien geschicht­ licher Vernunft von historischer Bedeutung war. Ad c) Die Interpretation, die im zeitlichen Nachhinein erfolgt und in der zugleich dem Sinnhintergrund des Gesagten Rechnung zu tragen versucht wird, dient vor allem dazu, auf problematische Aspekte der Philosophiegeschichtsphilosophie hinzuweisen. Insbesondere soll die philosophiegeschichtsphilo­ sophische Grundannahme in Zweifel gezogen werden, philoso­ phische Positionen stünden in einem Zusammenhang (im Sinne von „Entwicklung“), in dem (als solchem) im Prinzip zu jedem beliebigen Zeitpunkt voraussehbar ist, was in Zukunft gesche­ hen wird. Tatsächlich aber sind die Philosophiegeschichtsphilo­ sophien selbst Dokumente dafür, daß die Zukunft in theoreti­ scher Hinsicht für Menschen opak ist, darum aber auch den vielfältigsten philosophischen Projekten offensteht. Niemand kann sagen, was geschehen wird und ob und wie lange und unter welchen Gesichtspunkten z. B. das Konzept, das er selbst der Öf­ fentlichkeit zugänglich macht, später rezipiert werden wird. Da­ bei geben Texte, insbesondere Texte zur Philosophiegeschichts­ philosophie, zugleich zu der Vermutung Anlaß, daß Philosophen, würden sie wirklich wissen können, was später ge­ schehen wird - was gedacht und gesagt werden wird und wie da­ bei gerade das von ihnen selbst Erarbeitete uminterpretiert und unter Preisgabe der ursprünglichen Intention produktiv weiter­ gebildet wird -, wohl viel daran setzen würden, das Eintreten dieser Geschehnisse zu verhindern. Beim begründeten Zweifel an der Philosophiegeschichtsphi­ losophie soll es in dieser Arbeit allerdings bleiben. Denn es muß wohl auch offen bleiben, ob sich nicht eine der im folgen64 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

den zu skizzierenden Konzeptionen in Zukunft doch noch ein­ mal bewahrheiten wird - in der endgültigen Zukunft, in die sie ausgreifen, am Ende aller Zeit, von dem Kant und Hegel zu­ mindest so viel zeigten, daß es nicht sinnlos ist, zu denken, es könnte einmal herbeikommen, da man dann aller Wahrheit an­ sichtig wird. Erst dann würde man aber auch wissen, ob die „Phi­ losophiegeschichtsphilosophie“,

dieses

menschliche

Projekt,

stets für mehr gestanden hat, als wofür sie bis dato eher zu stehen scheint: nämlich für menschliche Ungeduld, die sich vielleicht nährt aus dem Bewußtsein der eigenen Lebenskürze und der Länge der Zeit, die das Philosophieren stets in Anspruch nimmt. Auf diese Ungeduld, die für Geschichtsphilosophen überhaupt charakteristisch ist, hat wiederum Arthur C. Danto aufmerk­ sam gemacht.

Der „Geschichtsphilosoph“, so schreibt er, „ist ungeduldig. Er möchte jetzt schon tun, wozu gewöhnliche Historiker“ - wenn überhaupt - erst „im Fortgang der Zeit später imstande sein werden. Er möchte die Ge­ genwart wie die Vergangenheit aus der Perspektive der Zukunft sehen (in Wahrheit aus derjenigen der endgültigen Zukunft)“.109 Es wird sich im folgenden allerdings zeigen, daß ein Philosophie­ geschichtsphilosoph noch ein wenig ungeduldiger ist als ein gewöhnlicher Geschichtsphilosoph. Denn jener möchte die Ge­ genwart wie die Vergangenheit der Philosophie aus der Perspek­ tive der endgültigen Zukunft stets im Zusammenhang mit dem bestimmten Nachweis sehen, daß gerade seiner Philosophie die­ se Zukunft gehört und immer schon gehört hat. Doch ob und in welchen Hinsichten ihm jeweils auch nur diejenige Zukunft ge­ hört hat, von der man jeweils jetzt Kenntnis haben kann, näm­ lich die „vergangene Zukunft“ (so der bekannte Ausdruck von Reinhart Koselleck), auf diese Frage eine Antwort zu geben, könnte alle diejenigen interessieren, die nicht in der endgültigen Zukunft, sondern hier und jetzt philosophieren. Es ist jedenfalls eine Frage, auf die nur Philosophiehistorie eine befriedigende Antwort geben kann. So berührt die Arbeit die Philosophiehistorie, ohne indes eine Geschichtsdarstellung zu sein. Ein Philosophiegeschichtswerk besäße eine andere Gestalt als nur die einer in der Zeit zurück­

109 Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, a. a. O., 29.

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gehenden Aneinanderreihung von Textinterpretationen, mit de­ nen sich hauptsächlich ein sachliches Interesse verbindet. Die vorgelegten Interpretationen könnten freilich Materialien zu einer Geschichte sein, deren Thema die ,Philosophiegeschichtsphilosophie‘ ist. Aber es wären Materialien, mit denen nur bean­ sprucht ist, daß die Interpretationen triftig (richtig) oder in dem Sinne wahr sind, daß sie sich an den Texten überprüfen lassen. Auf Überprüfung sind sie allerdings angelegt. Auf einen der Gründe, die eine solche Überprüfung als nötig erscheinen las­ sen, hat Hegel aufmerksam gemacht: Er deutete an, daß für Menschen als sterbliche Wesen (anders als für die ewige Ver­ nunft bzw. den Weltgeist) „die Zeit“ für vieles zumeist ,,[...] zu kurz“ ist110. Dieser Hinweis soll im folgenden aufgenommen und, nicht zuletzt gegen Hegel selbst, zu der Behauptung zuge­ spitzt werden: daß die menschliche Lebenszeit nicht nur dafür zu kurz ist, um z.B. alle Texte, die für ein philosophisches Projekt relevant sein können, zu lesen, oder um diejenigen, auf die man sich dann beschränkt, so zu lesen, wie sie gelesen werden müß­ ten, damit sich ihr Sinnhintergrund erhellt. Die Lebenszeit ist auch und in jedem Falle zu kurz, um (begründet) wissen zu kön­ nen, was geschehen wird: ob z. B. die Probleme, die man sieht, für andere in Zukunft noch von gleicher Bedeutung sein werden.

110 Vgl. Hegel, Einleitung in die Geschichte der Philosophie, hrsg. von J. Hoffmei­ ster, Hamburg 31959, 137. Vgl. auch den dritten Teil der Arbeit. Was das Problem der Lebenskürze und der vielen kontingenten, insbesondere „schicksalszufälligen“ Bedingungen betrifft, denen das menschliche Leben unterliegt, so ist die Arbeit insge­ samt Odo Marquard verpflichtet; in geschichtstheoretischer Hinsicht Arthur C. Danto und insbesondere der kritischen Reformulierung des Dantoschen Ansatzes durch Hans Michael Baumgartner; in ihrer Kritik an der Philosophiegeschichtsphi­ losophie den Überlegungen von Karl Jaspers.

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II. Geschichtliche Vernunft Drei Ansätze

0. Vorbemerkung Wer sich, aus welchen Gründen auch immer, für Kants Projekt einer „philosophierenden Geschichte der Philosophie“ interes­ siert, wer in Erfahrung bringen möchte, welchen Stellenwert und welche Funktionen Kant dieser Wissenschaft zugestanden hat, der kann mittlerweile Interpretationshilfe finden in einem erst jüngst auf deutsch erschienenen (allerdings bereits zu Beginn der 70er Jahre entstandenen) Buch: in der Geschichte der Philo­ sophiegeschichte des Elsässer Philosophen Lucien Braun. Viel­ leicht ist ihm dieses Buch (wie in dieser Arbeit) Anlaß dafür, im Nachhinein noch weitere Texte zur Kantischen „Philosophie­ geschichtsphilosophie“ zu rekapitulieren, die mehr oder weniger zur selben Zeit entstanden sind, z. B. die genannten Aufsätze von Hermann Lübbe1 und Jürgen Mittelstrass2. So könnten sich drei Texte versammeln, die in ihren KANT-Deutungen einer aus­ gesprochen strukturähnlichen Philosophiegeschichtsprogram­ matik verpflichtet sind: einer Philosophiegeschichtsphilosophie, die sich als Theorie geschichtlicher Vernunft bezeichnen läßt. Die folgende Auseinandersetzung mit den Ansätzen von (1.) Hermann Lübbe, (2.) Lucien Braun und (3.) Jürgen Mit­ telstrass dient zwei Zwecken:

0.1 Nähe zu Hegel Erstens soll verdeutlicht werden, was unter einer solchen Theo­ rie verstanden werden und welche Formen sie annehmen kann eine Theorie, die von der Philosophie des Deutschen Idealismus,1 2 1 Hermann Lübbe, Philosophiegeschichte als Philosophie. Zu Kants Philosophiege­ schichtsphilosophie, a. a. O. 2 Jürgen Mittelstrass, Das Interesse der Philosophie an ihrer Geschichte, a. a. O.

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insbesondere von der Hegelschen, stark beeinflußt ist. Was sich von Hegel her für die neueren Konzeptionen als relevant erweist, ist die Auffassung von Vernunft als „Subjekt“ nicht nur im Sinne eines unveränderlichen Substrats der Veränderung (auch geschichtlicher Veränderung), sondern als eines intelligen­ ten höheren Wesen. Diese Vernunft ist zugleich unauflösliche Einheit von Denken und Sein, und zwar „in dem radikalen Sinne, daß Denken und Sein dasselbe sind und daß nur das Denken Sein hat“, wie Rolf-Peter Horstmann mit Bezug auf Hegel formuliert3. Als solche Einheit ist sie das sowohl materielle wie geistige Substrat der Instantiierung alles dessen, das in einem emphatischen Sinne „ist“ (Wirklichkeit ist) und damit mehr ist als nur eine vorübergehende Erscheinung. Alles, was ist, ist daher selbst von der doppelten Bestimmtheit Denken/Sein, „wobei die Materie- bzw. die Geistanteile bei unterschiedlichen Instantiierungen in unterschiedlichen Gewichtungen zur Gel­ tung kommen“4. Die neueren Konzeptionen sind, unausdrück­ lich, aber deutlich, Hegels ontologischem Vernunftbegriff verpflichtet, wenn in ihnen von „Diskurs“ (Braun) oder „Ratio­ nalität“ (Mittelstrass) oder auch einfach nur von „Vernunft“ (Lübbe) gesprochen wird. Und sie tradieren damit eine der be­ deutsamsten Überzeugungen, die sich bei Hegel mit diesem Vernunftbegriff verbanden: nämlich die Überzeugung, daß es „neben materiellen Dingen wie Stühlen, Bäumen und Schreib­ maschinen“ (in denen der Materieanteil überwiegt) „auch ande­ re Arten von Gegenständen“ (mit höherem Geistanteil) gibt, Gegenstände wie Kunstwerke, Familien, Staaten, aber auch die Geschichte und nicht zuletzt die Geschichte der Philosophie5. In diesem Sinne halten die zu skizzierenden Philosophiegeschichts­ philosophien an Hegels Auffassung fest, daß es Philosophiege­ schichte gibt und daß es sie deshalb gibt, weil die Vernunft die Wirklichkeit (als ihre eigene Objektivität) in einem teleologi­ schen Prozeß konstituiert6. Allerdings variieren sie Hegels Vernunftkonzept - in z. T. deutlichem Anschluß an neukantiani3 Rolf-Peter Horstmann, Die Grenzen der Vernunft. Eine Untersuchung zu Zielen und Motiven des Deutschen Idealismus, Weinheim 21995,179. 4 Ebda, 178. 5 Vgl. ebda. 6 Vgl. zu Hegels „Dogma, daß es ohne Dynamisierung der Ontologie keine adäquate Theorie der Wirklichkeit geben kann“, Horstmann, a. a. O., 180.

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sehe Positionen7 - in einem entscheidenden Punkt: Sie schließen die Vernunft in die menschliche Lebenswelt, d. h. in die Ge­ schichte und insbesondere in die Philosophiegeschichte ein und reduzieren dadurch Sein auf Geschichtlichsein. Dieser Einschluß der Vernunft (des „Diskurses“, der „Ratio­ nalität“) in den Horizont von Geschichte kann als ein Versuch angesehen werden, Hegels Vernunft ein wenig zu verendlichen - wenigstens so weit, daß der individuell existierende Mensch sie stärker auf sich beziehen und gewissermaßen als seine eigene verstehen kann: als „Geist“ des „Menschen“ (Braun), der sie ist, wenn sie sich in den „Geisteswissenschaften“, insbesondere in der zur Geisteswissenschaft gewordenen „Philosophie“, selbst zu erfassen sucht.

0.2 Subjektvernunft anstatt Vernunftsubjekt? Frage an die neuere „Philosophiegeschichtsphilosophie“ Die Auseinandersetzung mit ausgewählten Konzepten neuerer Philosophiegeschichtsphilosophie dient zweitens der Prüfung der Frage, ob eine philosophische Bezugnahme auf die ganze Philosophiegeschichte ein eigenständiges historisches Wissen um vergangene Geschehnisse im Bereich der Philosophie erset­ zen kann. Einwände, die gegen die jeweils vorgeschlagenen Phi­ losophiegeschichtsprogrammatiken

zu

formulieren

versucht

werden, gelten im letzten einem Lebewesen, von dem man mit mehr Gewißheit sagen kann, es sei Subjekt von Philosophie und Philosophiegeschichtsschreibung, als von der Vernunft, wie sich zeigen wird: Die Auseinandersetzung gilt dem Menschen, und zwar ihm als einem endlichen und sterblichen Vernunftwesen, das individuell in einer ihm in erster Linie aus Erfahrung be­ kannten Welt existiert und philosophiert - und das vielleicht aus Gründen eines unüberwindbaren, weil sterblichkeitsbeding­ ten Mangels an Zeit anstatt der Philosophiegeschichtsphiloso­ phie gerade der Philosophiehistorie in vielerlei Hinsicht bedarf8.

7 Dies wird im folgenden durch stichwortartige Hinweise auf Wilhelm Windel­ bands Philosophiegesehiehtskonzeption exemplarisch zu verdeutlichen sein. 8 Zu dem, was menschlich ist, gehört, daß man eine einmal eingenommene Position nach eigener Erwägung wieder verlassen kann. Hermann Lübbe hat an dem im fol­ genden zu skizzierenden philosophiegeschichtsphilosophischen Ansatz später nicht

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1. Philosophie als „Theorie über solches, was ist“ (Hermann Lübbe) 1.1 Die Programmatik 1962 publizierte Hermann Lübbe einen Aufsatz zur Kanti„Philosophiegeschichtsphilosophie“9, der interessante programmatische Überlegungen zu einer Philosophie sich ge­ schichtlich entwickelnder und verstehender Philosophie bzw. Vernunft enthält. Ausgangspunkt bildet die Zeitdiagnose, daß sich „die Philosophie denen, die in Deutschland gegenwärtig studieren, vor allem als ihre eigene Historie [präsentiert]“ [204]. Das „Ausmaß“, in dem die Philosophie gegenwärtig als ihre „eigene Historie“ auftritt, veranlasse zu fragen, wie dies zu „verstehen“ (oder auch zu „denken“) sei. Eine Philosophie, die so fragt, geht darüber hinaus, nur eine Historie zu sein. Sie stei­ gert sich zu einer „Theorie“, die dem nachfragt, „was“ in einem emphatischen Sinne „ist“ [209], und dabei das, „was ist“, schon als Resultat eines teleologischen Prozesses verstanden hat, in dem die Vernunft ihre eigene Objektivität konstituierte. Eine „Theorie über solches, was ist“ [ebda], tritt heute wesentlich als Geschichtsphilosophie auf. Als Geschichtsphilosophie hat Philosophie Lübbe zufolge erst einmal nachzuweisen, daß „Philosophie als Philosophiehistorie“ überhaupt ein „Faktum“ ist [206], das zumal im Gefüge aller Wissenschaften seinesgleichen sucht (denn „welche andere Wis­ senschaft gibt es, die in ähnlicher Weise statt sich selbst ihre Ge­ schichte zum Studium darböte?“ [205]). Dieser Nachweis wird im vorliegenden Aufsatz, ex negativo, dadurch erbracht, daß zwei unangemessene Auffassungen von Philosophie namhaft ge­ macht werden, in und mit denen sich die bezeichnete Frage - wie es zu verstehen sei und komme, daß die Philosophie heute in hohem Ausmaß „faktisch mit der Interpretation ihrer eigenen Geschichte“ zusammenfällt [ebda] - auf eine „scheinproblema­ tische [...] von fiktiver Dramatik“ [ebda] reduziert. schen

festgehalten. Wenn dieser Ansatz hier gleichwohl noch behandelt (und zumal kritisch behandelt) wird, dann aus dem Grunde, weil er sich als aktuell erweist: Lübbes Pro­ grammatik wurde in gewisser Weise von demjenigen eingelöst, dessen Text erst jüngst auf deutsch erschienen ist: von Lucien Braun. 9 Hermann Lübbe, Philosophiegeschichte als Philosophie. Zu Kants Philosophiege­ schichtsphilosophie, a. a. O.

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1) Aufklärungs- und Erklärungsbedarf angesichts der gegen­ wärtigen Lage der Philosophie in Deutschland besteht für den­ jenigen nicht, der die akademische Philosophie lediglich für einen „Spezialfall unter den Literaturwissenschaften“ hält. Wer sie so versteht und akzeptiert, für den existiert eine „problema­ tische Identität von Philosophie und Philosophiegeschichte“ (Philosophiehistorie) nicht, sondern nach Lübbes Konstruktion „bloß [...] die letzte“ (also Philosophiehistorie), während sich „die erste“ (also Philosophie) notwendig auf deren „Gegen­ stand“ reduziert [205]. In einem solchen Verständnis ist das „ge­ schichtliche Ende“ der Philosophie, d.h. der Möglichkeit, ur­ sprünglich zu denken und dies auch in bezug auf Gegebenes zu tun, proklamiert: das Ende der Philosophie als Theorie. Die Phi­ losophie hat sich auf die „Historiographie eines Kulturphäno­ mens“ reduziert, „das nun der Vergangenheit angehört“ [205]. Sie ist zum Spezialfall unter Literaturwissenschaften (der „Lite­ raturgeschichte“ [204] oder auch „Literaturhistorie“ [206]) ge­ worden, insofern Philosophie als Theorie jetzt als aussterbende Literaturart gilt10. Man interpretiert dann zwar philosophische Texte, aber „Pascal wie Racine, Schelling wie Hölderlin und Heidegger wie Rilke“ und läßt „Denker und Dichter sich wechselseitig interpretieren“ [204]. Man hat den „Bruch“ nicht bemerkt, der zwischen Literaturhistorie und Philosophie be­ steht: Zeigt sich dieser schon äußerlich darin, daß „die Geschich­ te der schönen und die Geschichte der philosophischen Litera­ tur“ auch „lehrstuhlmäßig“ „unter verschiedene Kompetenzen fallen“ [204], so kommt hinzu, daß vom Literaturhistoriker nie­ mand erwartet, daß er auch dichtet, während der Philosoph schon institutionellerweise auch dann für Philosophie zuständig bleibt, „wenn er, wie heute zumeist, Geschichte der Philosophie lehrt“ [ebda]. Denn „der Philosoph“ ist „nicht nur Historiker der Philosophie, vielmehr [.] in erster Linie sozusagen ihr Lachver­

10 Die Rubrizierung gleichsam gedankenloser Lektüre gedankenvoller Texte unter Literaturwissenschaft qua Literaturhistorie (die sich auch bei Jürgen Mittelstrass und Lucien Braun findet) ist durch den Neukantianismus inspiriert: So gehörten schon für Wilhelm Windelband Auseinandersetzungen mit philosophischen Texten, von denen angenommen wird, daß sie Problemlösungen anbieten, zur „allgemeinen Literaturgeschichte“, wenn in diesen Auseinandersetzungen selbst kein „Beitrag zu der historischen Gestaltung philosophischer Begriffe und Probleme“ geliefert wird: Vgl. Windelband, Geschichte der Philosophie, a. a. O., 193.

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treter. Er soll nicht nur von ihrer Traditionssubstanz zehren - er soll sie auch mehren. Philosophie ist nicht [nur] das Objekt des Philosophen, sondern er [...] ihr Subjekt“ [ebda; Z. v.V.]. 2) Aufklärungsbedarf im Hinblick auf die gegenwärtige Lage der Philosophie in Deutschland besteht auch für denjenigen nicht, der der Auffassung ist, Philosophie sei, „als wahre, heute so wahr [...] wie sie es gestern war“ und könne „insofern über­ haupt gar nichts [... sein], was einer Vergangenheit angehört[]“ [206, Z.v. V.]. Auch für denjenigen, der Philosophie so versteht und akzeptiert, gibt es eine „problematische Identität von Philo­ sophie und Philosophiegeschichte“ nicht. Für ihn gibt es aber jetzt nur noch Philosophie, während sich die Philosophiehistorie auf eine zum Textverständnis nötige „Hilfswissenschaft“ redu­ ziert [207]. D. h., wer das Denken allem geschichtlichem Wandel überhoben glaubt, der kann auch die für die akademische Philo­ sophie heute charakteristische Bezugnahme auf Texte - die nach Lübbes Konstruktion identisch ist mit einer Bezugnahme auf (zurückliegende) Geschichte (als deren Teile die Texte zu verste­ hen sind) - nur als eine Bezugnahme wahrer Philosophie auf wahre Philosophie und somit „als ein Verhältnis zur fortdauern­ den Gegenwart der einfachen Wahrheit“ [ebda] verstehen. Auf diesem Standpunkt sozusagen einer philosophia perennis hat man die geschichtliche Entwicklungsdimension der Philosophie preisgegeben: „Philosophie“ bezeichnet dann nicht „ein histori­ sches, einmaliges philosophisches Denken, [...] welches, her­ meneutisch fortschreitend sich verändernd tradiert wird“ [207]. Lübbe bestimmt die Philosophie als ein „Denken“, das, als „historisches“, in das raumzeitliche Medium der Geschichte ein­ geschlossen ist und in ihm, „fortschreitend [...] tradiert“, in je­ weils „einmaligen“ Theorien von epochaler Bedeutung manifest wird. Im Lichte dieser Auffassung nun erhält zunächst das eben­ so einmalige „Faktum“, daß die Philosophie heute überwiegend „[...] mit der Interpretation ihrer eigenen Geschichte“ zusam­ menfällt, die als angemessen geltende Deutung: daß die „Theo­ rie zu einem erheblichen Teil mit ihrer eigenen Historiographie identisch“ ist [209]. Diese Deutung gilt als adäquat, weil hier die für Philosophie als wesentlich zu erachtenden zwei Komponen­ ten - eines spontanen, auf Wahrheit hin orientierten Denkens und einer Bezugnahme auf Texte (mithin auf Geschichte) - eine unauflösliche Verbindung eingehen. Ausgehend vom Refle­ 72 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

xionsmodell der Beziehung eines Subjekts auf sich selbst als Ob­ jekt wird die (sowohl im zeitlichen wie im metaphysischen Sin­ ne) gegenwärtige (aktuale) Philosophie als das Unternehmen einer denkend-interpretativen Bezugnahme auf die ganze (so­ wohl im zeitlichen wie im metaphysischen Sinne) vergangene (zu Texten geronnene), als Entwicklungsprozeß des „Denkens“ bestimmte Geschichte gedeutet. In diesem Sinne setzt die Philo­ sophie heute „ihre Realität“ in das Verhältnis zu ihrer eigenen Geschichte und wird „Philosophiehistorie als Philosophie“ ver­ standen [209]. Ist die aktuelle Situation der Philosophie derart grundlegend interpretiert, dann kann auch eine Antwort auf die Frage gege­ ben werden, wie es zu „denken“ sei, daß sich die Philosophie heute überwiegend als ihre „eigene Historie“ konstituiert. Die Philosophie, die darüber hinausgegangen ist, nur ihre eigene Hi­ storie zu sein, und sich zu einer „Theorie“ gesteigert hat, die dem nachfragt, „was ist“, d.h. heute aktuale Gegenwart oder Wirk­ lichkeit ist, gliedert sich nach Lübbes programmatischem Vor­ schlag in zwei Teile, entsprechend der beiden zu Philosophie überhaupt gehörenden Komponenten: Realisierte sich Philoso­ phie in einem ersten Teil, unabhängig von Bezügen auf gegebene Texte, als „Analyse“ der möglichen „Verhältnisse^ der Philoso­ phie zu ihrer eigenen Geschichte“ [vgl. 209], so wäre dies in einem zweiten Teil unter Bezugnahme auf Texte zu konkretisie­ ren: Es wäre, auf der Basis der gegebenen Analyse, (empirisch) zu erforschen, „wann die Philosophie beginnt, sich ausdrücklich auf vergangene Philosophie zu beziehen“, wann sie darüber hinaus beginnt, „Theorien dieses Verhältnisses zu entwickeln“ (wie bei Kant, Hegel, Johann Eduard Erdmann oder Kuno Fischer), „bis hin zu dem Punkt, wo sie, partiell, ihre Realität in dieses Verhältnis setzt, indem sie Philosophiehistorie als Philo­ sophie versteht“, also bis zur „gegenwärtigen Lage in Deutsch­ land“ [ebda]. Es ist nun der Kontext der angezielten Vernunfttheorie als einer „Theorie über solches, was ist“ [ebda], in dem Kants „Phi­ losophiegeschichtsphilosophie“ die Bedeutung erhält, eine Vor­ läuferin des historisch-empirischen Teils dieser Theorie zu sein. D. h., Kants Philosophiegeschichtsphilosophie wird als eine be­ greifende Darstellung der Geschichte der Philosophie und zu­ gleich als eine bestimmte Stufe sich entwickelnder Vernunft 73 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

oder auch Philosophie verstanden, die in der Gegenwart die nächstmalige Identität von Philosophie und Philosophiehistorie zur Folge hat: „Kants Philosophiegeschichtsphilosophie ist die Theorie der Vernunft

[...]. [...] Zur Theorie der Vernunft gehört, weil die geschichtliche Ge­ nesis der Vernunft sich in Theorien vollzieht, zugleich auch die begrei­ fende Darstellung der Geschichte dieser Vernunfttheorien. Solche Zu­ gehörigkeit der Geschichte einer Theorie zu dieser Theorie selbst tritt, formal gesprochen, dann ein, wenn eine Theorie ihren Gegenstand nicht läßt, wie er ist, sondern ihn gerade verändert und so in gewisser Weise hervorbringt. Dieser Fall ist in der Philosophie, sofern diese ver­ nünftige Selbsterkenntnis ist, gegeben. Mit jedem Schritt in dieser Selbsterkenntnis wirkt die Vernunft, die Bedingungen ihrer Selbster­ kenntnis verändernd, auf sich selbst zurück und kann so einen weiteren Schritttun“ [229]11.

Dieser Gedanke finde sich bei Kant jedoch nur „ansatzweise“. Erst Hegel habe „in seiner Phänomenologie des Geistes, auf den Spuren Kants“, eine solche „Dialektik [...] philosophiege­ schichtsphilosophisch und darüber hinaus geschichtsphiloso­ phisch entfaltet“ [ebda].12 11 Auf dieselbe Weise hatte schon Windelband (a. a. O.) das (allerdings „nicht immer deutlich bewußte“) „Gefühl[] [...], daß die Philosophie ein weit intimeres Verhältnis zu ihrer eigenen Geschichte hat, als irgendeine eine andere Wissenschaft zu ihrer Ge­ schichte“, gedanklich zu rechtfertigen gesucht, um damit zugleich „die gegenwärtige Lage und Aufgabe“ der Disziplin ,Philosophiegeschichte‘ zu bestimmen [178]. „Ein intimes und notwendiges, allen anderen Wissenschaften gegenüber prinzipiell eigen­ artiges Verhältnis der Philosophie zu ihrer Geschichte“ ist auch für Windelband „[...] nur dann zu verstehen“, wenn man annehmen kann, „daß ihrem Gegenstande selbst, den sie zu erkennen hat“ - und dies ist die Philosophie selbst oder aber auch die „menschliche Vernunft“ oder der menschliche „Geist“ - „eben die Entwicklung we­ sentlich ist, die in ihrer Geschichte empirisch erforschbar vorliegt“ [182]. Bei Windel­ band zielt die „menschliche Vernunft“ indes darauf, ein „wahrhaft Allgemeingültige[s]“ [185], eine „übergreifende Wahrheit, die weit über uns selbst hinaus ihre Geltung besitzt“ [183], zu ergreifen und zu einer „übergreifenden Weltvernunft“ [184] zu werden. So formuliert er im Blick auf den Sinn der Geschichte: „Der Mensch als Vernunftwesen ist nicht naturnotwendig gegeben, sondern historisch aufgegeben. Seine in immer neuer Selbstgestaltung begriffene Verwirklichung vollzieht sich in den­ jenigen Lebenssphären, welche die Individuen in ihrer Wechselwirkung als ein neues und höheres Reich über sich aufbauen“ [185]. 12 Vgl. auch Wilhelm Windelbands Deutung von Hegels Phänomenologie (Ge­ schichte der Philosophie, a.a.O.): „Schon in der Phänomenologie hatte Hegel die Selbstverständigung der Vernunft nach zwei Richtungen entrollt, indem er einerseits den dialektischen Fortschritt des sich selbst von Stufe zu Stufe tiefer und konkreter verstehenden Bewußtseins, andererseits die reiche Fülle der Gestalten verfolgte, in

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1.2 Einwände gegen die Programmatik Es ist hier noch nicht der Ort, an dem die Sachfrage geklärt wer­ den könnte, ob man eine solche Interpretation der Kantischen „Philosophiegeschichtsphilosophie“ (sowie der Hegelschen Phänomenologie) auch dann geben könnte, wenn man lediglich von den Texten ausginge. Festzuhalten ist an dieser Stelle nur, daß die Interpretation von umfangreichen konzeptuellen Vor­ aussetzungen abhängig ist, die es erlauben, das in Texten Gesag­ te ontologisch als Manifestation sich geschichtlich entfaltender Vernunft anzusehen: Die Vernunft ist substantiales, nach Selbst­ erkenntnis strebendes ,,Subjekt[] der Philosophie“ [223], das sich, unhintergehbar im raumzeitlichen Medium von Geschich­ te, als Subjekt im engeren Sinne (repräsentiert durch die Philo­ sophen) zu sich (als Objekt) immer wieder neu und auf ent­ wickeltere Weise in ein Verhältnis setzt. Dabei ist es dem Eingeschlossensein der Vernunft in Geschichte zu verdanken, daß die aus dieser Bewegung resultierenden „Vernunfttheorien“ den Wert besitzen, „einmalig“ zu sein [vgl. 207]. Nun bleibt es im vorliegenden Aufsatz aufgrund seiner programmatischen Kürze offen, ob sich die Vernunft auch noch in Zukunft in solch einmaligen Theorien manifestieren wird und wie dies gedacht werden könnte. Deutlich wird aber, daß das bezeichnete Vernunftkonzept auch noch der Ableitung jener zwei Ideen-, Bewußtseins- oder Geistesgestaltungen zugrundeliegt, die im Blick auf eine angemessene Bestimmung der gegenwärtigen Phi­ losophie als jeweils unangemessen ausgeschaltet werden: Ge­ genwärtige Philosophie ist nicht Literaturwissenschaft - ein Ausdruck, für den auch „Literaturgeschichte“ oder „Literaturhi­ storie“ eingesetzt werden kann, weil der Bezug auf Texte, die derjenige, der auf sie Bezug nimmt, nicht selbst verfaßt hat, im vorliegenden Konzept grundsätzlich als Bezug auf (zurück­ liegende) Geschichte gilt [vgl. 205]. Sie ist nicht Literaturwissen­ schaft, weil der adäquate Begriff der Philosophie ausschließt, sie könnte es jemals sein. Derselben Begriff erlaubt es aber auch nicht, die Gegenwarts­ philosophie als eine Wissenschaft zu deuten, die in der Bezug­ deren Reihe es sich, wie in allen Formen des lebendigen Kulturgeistes, so auch in den historischen Gebilden des wissenschaftlichen Begreifens entfaltete [...]“ [176].

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nähme auf Texte und Geschichte zwar auf ewige Wahrheit oder Vernunft, aber noch nicht auf dynamisch sich entfaltende Wahr­ heit bzw. Vernunft rekurriert. Die zum Universitätsfach avan­ cierte Philosophie ist weder diese noch jene Geistesgestalt, son­ dern eine Einheit aus beiden. Wenn man nun von einem Platonismus in der Philosophiege­ schichtsschreibung sprechen kann, dann läßt sich Lübbes Kon­ zept als Beispiel anführen: Denn mit der nächstmaligen Unter­ scheidung von „Literaturwissenschaft“ und sich ungeschichtlich verstehender Philosophie wird, auf subjektivitätsontologischem Lundament, gleichsam eine diesseitige Welt - eine Welt raum­ zeitlich gebrochenen Selbstverhältnisses - einer jenseitigen Welt - einer Welt intelligibler Selbstbeziehung - entgegengesetzt, auf deren Verbindung das Konzept allerdings zielt. Bemerkenswert ist aber auch die in der Einleitung erwähnte Naturalisierung der Geschichte als Gegenstand der angezielten „Theorie über sol­ ches, was ist“: Geschichte steht für den Wachstumsprozeß (die „Genesis“) eines intelligenten Wesens („Vernunft“), das sich heute sozusagen des Strukturgesetzes bewußt geworden ist, das diesen Prozeß bestimmte. Weil sich die Philosophiegeschichte auf ein einziges Subjekt zurückführen läßt, ist sie nicht Ge­ schichte der „Meinungen“ [223] vieler denkender Wesen, die im Denken und mit dem Denken partikulare Zwecke verfolgen, sondern bewegte, geordnete, sinnvolle, auf vollendete Wahrheit, aber auch auf Lreiheit hin angelegte Wirklichkeit, in der sich die Einzelnen immer schon vorfinden. Es ist nachzufragen, wie einsichtig begründet das Konzept im allgemeinen, die darin eingebundene KANT-Interpretation im besonderen und auch schon die Ausgangsthese ist, derzufolge sich „die Philosophie [...] denen, die in Deutschland gegenwär­ tig studieren, vor allem als ihre eigene Historie“ präsentiert eine These, mit der sich im gegebenen Lall die Vorstellung ver­ bindet, heute werde offenbar, was die Philosophie immer schon war, nämlich eine Wissenschaft, die sich von anderen Wissen­ schaften wesentlich darin unterscheidet, daß sie immer auch „als Darstellung und Deutung ihrer eigenen Geschichte begeg­ net“ [vgl. 205]. Insofern sich in den Konzepten von Lucien Braun und Jürgen Mittelstrass ähnliche Geschichtsvorstel­ lungen, KANT-Interpretationen und Zeitdiagnosen finden, ha­ ben die folgenden Erwägungen zunächst nur eine einleitende 76 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

Funktion. Lediglich stichwortartig soll auf mögliche Probleme einer ,Theorie geschichtlicher Vernunft allererst aufmerksam gemacht werden. a) Philosophiehistorie als Signum unserer Zeit? Es ist eine vielfach geteilte Ansicht, daß sich zur Bezeichnung der als „Fach unter oder über Fächern“ [204] an Universitäten institutionalisierten Philosophie der Ausdruck ,Historie‘ ver­ wenden läßt. Dabei vertritt Lübbe die Auffassung, diese Ver­ wendung gehöre nicht in den Kontext einer Interpretation (Be­ schreibung und Bewertung) von Tatsachen, im gegebenen Fall also des Tatbestands universitärer Philosophie, sondern in den Kontext der Tatsachenfeststellung. Daß Philosophie heute über­ wiegend als ihre „eigene Historie“ auftritt, gilt als ein „Faktum“, das schon denjenigen erkennbar sein soll, die gegenwärtig in Deutschland Philosophie studieren. Nun wäre diese Verwen­ dung des Ausdrucks „Historie“ dann gerechtfertigt, wenn man zeigen könnte, daß die Voraussetzungen, denen gemäß sich die­ ses Faktum feststellen läßt, unausweichlich sind. Es läßt sich je­ doch der Nachweis erbringen, daß sie es nicht sind, und somit die Aussage, die Philosophie sei heute überwiegend mit ihrer eige­ nen Historie identisch, nicht den Status einer Feststellung, son­ dern den der Interpretation einer Tatsache besitzt, über die man streiten kann. Zunächst ist zu sehen, daß sich nur unter bestimmten Bedin­ gungen eine „problematische Identität von Philosophie und Phi­ losophiegeschichte“ behaupten läßt, worauf Lübbe aufmerksam gemacht hat. Abhängig ist diese Behauptung, kritisch formuliert, sowohl von starken konzeptuellen (begrifflichen) Voraussetzun­ gen als auch von einem bestimmten Bildungswissen, d. h. von einfachen historischen Kenntnissen (insbesondere neuzeitlicher Philosophie), ohne die der Gebrauch des Ausdrucks „Historie“ für eine Bezugnahme auf Texte, die derjenige, der sich mit ihnen befaßt, nicht selbst verfaßt hat, nicht verständlich wäre. Demje­ nigen, der diese Voraussetzungen kennt und akzeptiert, von de­ nen die Beschreibung akademischer Philosophie als selbstbe­ züglicher Historie abhängig ist, wird sie keine Verständnis- und Akzeptanzschwierigkeiten bereiten. Es ist nun aber ausgespro­ 77 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

chen zweifelhaft, daß diejenigen selbst sagen könnten, „die Phi­ losophie präsentierte] sich [...] gegenwärtig [...] vor allem als ihre eigene Historie“, die in dieser Beschreibung von Lübbe zu­ gleich angesprochen sind: nämlich von denen, die gegenwärtig in Deutschland Philosophie studieren. Denn damit sich den Studierenden auf der Basis von Vorle­ sungsverzeichnissen [205] die gegenwärtige Situation der Philo­ sophie in Deutschland so darstellen kann, müßten sie nicht nur alle Vorlesungsverzeichnisse gelesen, sondern bereits die Be­ kanntschaft mit Lübbes oder einem ähnlichen Philosophiekon­ zept gemacht haben und darüber hinaus auch ein gewisses Maß an so etwas wie „historischer“ Bildung, also vergangenheitsbe­ zogene Kenntnisse, mitbringen, die es ihnen z. B. möglich machen würden, eine im Zusammenhang mit Philosophie er­ folgende Auseinandersetzung mit Texten als „Historie“ zu ver­ stehen. Solche Bekanntschaft und Bildung erwerben Studieren­ de erfahrungsgemäß aber erst im Laufe des Studiums. Und man könnte es sogar als einen der Zwecke des Studiums ansehen, daß Studierende diese Bildung - und zwar nicht zuletzt durch Text­ lektüren - erwerben. Daher ist es mehr als wahrscheinlich, daß sich für die Studierenden die gegenwärtige Situation der Philo­ sophie anders und viel unproblematischer darstellen wird: Viel­ leicht als der zweckmäßige Fall einer durch Auseinandersetzung mit Texten gekennzeichneten Lehre, durch die sie - die im Stu­ dium und mit dem Studium Zwecke verfolgen, die sich nach Ver­ nunftgründen kritisch beurteilen, nicht aber bestimmen lassen in Erfahrung bringen können, was anerkannte Philosophen in Vergangenheit und Gegenwart als Philosophie anerkannt haben bzw. anerkennen. Doch auch auf seiten der akademischen Leh­ rer könnten sich mit der Lehre Zwecksetzungen verbinden, die dazu geeignet sind, der Lehrpflicht über das Pflichtgemäße hin­ aus weiteren Sinn zu verleihen: So könnte die Lehre als eine günstige Gelegenheit angesehen sein, aus Texten „Problemstel­ lungen“ aufzunehmen, „um zu einer Lösung des Problems zu gelangen“, an dem der Philosoph ein Interesse hat; es könnte ebenso darum gehen, in bezug auf ältere Texte Positionen „im ganzen zu interpretieren, um sie [.] in ihrem Ansatz, ihrer Zeit, ihrer eigenständigen Bedeutung gleichsam vollständig zu erfas­ sen“ und dann etwa „für gegenwärtiges Philosophieren frucht­ bar zu machen“; schließlich könnte die Auseinandersetzung mit 78 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

älteren Texten auch durch die Absicht bestimmt sein, daß eine Philosophiegeschichte geschrieben werden soll13. Nicht in jedem Falle hat die Auseinandersetzung mit Texten schon etwas mit Geschichte zu tun; nicht in jedem Falle steht sie für eine Philoso­ phie, die als ihre „eigene Historie“ auftritt. Denn werden ältere oder neuere Texte interpretiert, um bestimmte Gedanken, Überlegungen oder Motive für gegenwärtiges Philosophieren fruchtbar zu machen, so wird man dies deshalb nicht als genui­ nen Fall von Philosophiegeschichtsschreibung beurteilen kön­ nen, weil das Interesse nicht der Vergangenheit gilt. Selbst wenn hier Kompetenzen erforderlich sind, die auch genuine Philoso­ phiehistoriker besitzen müssen, so wird man dies nicht als einen Fall von ,Philosophiehistorie‘ bewerten wollen, wenn man nicht jede Bezugnahme auf das Denken anderer schon als einen Fall von Philosophiehistorie ansehen will. b) Unterbestimmung von Philosophiehistorie Es ist nun aber ein Charakteristikum der von Lübbe seinerzeit vorgeschlagenen Philosophieprogrammatik, daß der Umgang mit Texten grundsätzlich unter Historie zu rubrizieren ist: ,,[M]it Texten zu tun“ zu haben, das heißt per se, „historisch [zu] verfahren[]“ [205], weil der Bezug auf Texte als Bezugnah­ me auf Geschichte verstanden wird. ,Mit Texten zu tun zu haben‘ ist somit nicht als eine bloß notwendige Bedingung (auch) von Philosophiehistorie angesehen, sondern gilt als hinreichen­ de Bedingung für deren Vorliegen. Die Historie so zu bestim­ men, heißt aber, sie unterzubestimmen bzw. gar nicht näher zu bestimmen. Und tatsächlich lassen sich im vorgelegten Konzept, anstatt der Historie, immer nur mögliche Formen der Historie, d. h. des Textbezugs spezifizieren, die zugleich für etwas Wirk­ liches stehen sollen: für, sei es jetzt oder einstmals, institutiona­ lisierte Wissenschaften. Die Literaturwissenschaft ist eine Ge­ staltungsweise der Historie, ebenso die Philosophie, da „beide historisch verfahrend, mit Texten zu tun“ haben [205] (wobei die Literaturwissenschaft durchaus theorieförmig und z. B. „Poe­ tik“ sein kann [204]). In bezug auf die Philosophie selbst zieht die Unbestimmtheit des Ausdrucks „Historie“ nun nach sich, 13 Vgl. Hans Michael Baumgartner, Anspruch und Einlösbarkeit, a. a. O., 44.

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daß sowohl problem- und sachorientierte Auseinandersetzungen mit dem Denken anderer (z.B. Platons Dialoge) zur ,Philosophiehistorie‘ gehören wie Kants und Hegels „Philosophiege­ schichtsphilosophien“ oder auch nur eine akademische Prüfung - eine Auffassung, der dann Lucien Braun explizit Ausdruck verliehen hat. Es ist tatsächlich dieses weite Feld, von dem Lüb­ be im ersten Schritt ausgeht, um es dann zu ordnen. Geordnet wird es - auf der Ebene der angezielten „Theorie über solches, was ist“ - unter Vorgabe eines bestimmten Begriffs von Philosophie bloß mit Hilfe von Logik (einer bestimmten Re­ flexions- oder Entwicklungslogik). In der Tat ist diese Theorie ausgesprochen konsistent: Aus dem Begriff werden (in ihrem ersten Teil) zunächst mögliche „Verhältnisse)] der Philosophie zu ihrer eigenen Geschichte“ analysiert, d. h., es werden nach Maßgabe erwähnter Entwicklungslogik andere Begriffe abgelei­ tet, die besondere Positionen der sich auf Geschichte beziehen­ den Philosophie bezeichnen. Dann wird das Rahmenkonzept, das lauter Denkmöglichkeiten enthält, die zugleich wirkliche Möglichkeiten sein sollen, d. h. etwas, das in Raum und Zeit zur Erscheinung kommen kann, unter Bezugnahme auf Texte kon­ kretisiert. Ohne einer differenzierten Kenntnis der Projekte, die Menschen in den Wissenschaften tatsächlich verfolgt haben bzw. verfolgen, noch einen Platz zu verstatten - einer Kenntnis, die Maß nähme an den Projektbeschreibungen, die sich in den Tex­ ten selbst finden -, dient die Empirie im vorliegenden Konzept nur zur Bestätigung der These, daß das Geschehene für eine zu­ nehmend stärkere Ausbildung der sehr logischen Vernunfttheo­ rie steht, in deren Kreis sich heute derjenige bewegt, der von Philosophie und deren Geschichte sowie von allen übrigen Wis­ senschaften und deren Geschichten das angemessene Verständ­ nis hat. Nun hat das Eingeschlossensein des Philosophen in den Kreis dieser Theorie ihn jedoch deutlich zweierlei vergessen las­ sen: 1) zu bedenken, unter welchen Bedingungen diese Theorie für andere allererst verständlich wird, 2) das Problem zu erwä­ gen, wie sich denn nachweisen ließe, daß die in den Rahmen dieser Theorie eingeschlossene Empirie überhaupt einen als Ge­ schichte zu bezeichnenden Gegenstand bzw. Gegenstandsbe­ reich hat. Diese beiden Fragenkreise sind kurz zu präzisieren.

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c) Abschluß gegen mögliche Kritik Ad 1) Lübbes Aufsatz dementiert - nicht zuletzt aufgrund seiner Kürze im Verhältnis zur enormen Komplexität der Thematik die in ihm formulierte Auffassung, eine Lektüre philosophischer Texte müsse eine philosophische Lektüre sein, da Philosophie nicht nur „das Objekt des Philosophen, sondern er [...] ihr Sub­ jekt“ ist. Sicher wird man Lübbes Ansicht nicht widersprechen wollen, daß es in der Philosophie nicht nur von der Tradition zu zehren gilt. Aber man kann und muß auch differenzieren: Denn die Traditionssubstanz läßt sich nicht in der Lektüre, sondern nur auf der Basis einer Lektüre vermehren, in der die Themen­ stellungen, die den Texten wirklich eigen sind, und der jeweils spezifische Sinnhintergrund der Thematisierung im Vordergund stehen. Kurz, Traditionsfortbildung ist eine Leistung, im Hin­ blick auf die garantiert sein muß, daß man vermehrt, was tat­ sächlich gedacht worden ist. Daher setzen philosophische Pro­ jekte, in denen im Lichte von Sachfragen auf überliefertes Gedankengut zurückgegriffen wird, voraus, daß man sich von der „Tradition“ (wenn man es so nennen will) erst einmal etwas geben läßt - und zwar selbst in so bedeutsamen Fragen noch wie denen nach der Vernunft, Philosophie und Geschichte. D. h., Texte zielen, um bei der Sprachregelung Hermann Lübbes zu bleiben, in erster Linie auf einen „literarischen Leser“, der „lite­ rarische Texte“ liest und interpretiert (wie später Odo Marquard gegen spekulative Textdeutungen ins Feld geführt hat14). Eine literarische Einstellung zu Texten, die man als ein auf Sinn­ verstehen hin angelegtes Stück Literatur auffaßt, gehört somit keineswegs zur Literaturwissenschaft, sondern ist eine notwen­ dige Voraussetzung für das Verständnis von Texten überhaupt, um welche es sich auch handelt und in welch möglichen Projekt­ zusammenhängen (von welcher Art, zu welchen Zwecken und unter welchen Gesichtspunkten) der Interpret sie auch zur Kenntnis nimmt. Sie ist eine solche Voraussetzung jedenfalls dann, wenn es darum geht, bereits konstituierte Texte zu inter­ pretieren. Denn das „philosophische Denken“ - und dies wird sich in dieser Arbeit beispielhaft zeigen - ist einmaliger, als Lüb­ 14 Vgl. Odo Marquard, Frage nach der Frage, aufdie die Hermeneutik die Antwort ist, a.a.O., 130ff., auch: Ders., Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften, a. a. O., insbes. 108 ff.

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Konzept dies denk- und vorstellbar machen kann. Nicht sind die Interessen, Fragestellungen oder Methoden in der Philoso­ phie letztlich doch zu allen Zeiten immer dieselben, lediglich unterschieden durch zunächst mindere, dann stärkere Ausbil­ dung der Einen Philosophie, die sich am Ende als spezifische „Theorie über solches, was ist“ generiert. Das Denken ist ein­ malig in dem Sinne, daß es nicht der Anstrengung begrifflichen Denkens, sondern der Arbeit an den Texten bedarf, um heraus­ zubekommen, was bei jemandem ein herausragendes Interesse war oder, bei gleichem Interesse (z. B. an Geschichte der Philo­ sophie), vor welchem Sinnhintergrund dieses Interesse thema­ tisch wurde und in welchem Sinn er z. B. die Ausdrücke ,Vernunft‘, ,Philosophie‘ und ,Geschichte‘ gebraucht hat. Ad 2) Nun erlaubt der Kontext einer ,literarischen Lektüre literarischer Texte‘ allerdings auch noch, die Argumentationsdi­ mension zu berücksichtigen, die die Texte selbst haben. Daß Texte eine eigene Argumentationsdimension besitzen, ist eben­ so erfahrbar wie dies: daß sich in ihrer Sinndimension bestimmt, was (über allgemeine Merkmale hinaus) als ein Argument, als Vernunft und vernünftig anzusehen ist. Dabei belehrt die Erfah­ rung, wie wenig im vorhinein ausgeschlossen werden kann, daß es Texte gibt oder gegeben hat, deren Argumentationsstruktur es verbietet, daß sie im Rahmen einer Philosophiegeschichtsphi­ losophie interpretiert werden, in der, wie in der Lübbeschen, das Vermögen, Behauptungen begründen und argumentieren zu können, metaphysisch zum ersten Grund aller philosophi­ schen und philosophiegeschichtlichen Dinge avanciert ist. Ein Beispiel dafür, daß Textinterpretationen, die im Rahmen solcher Philosophiegeschichtsmetaphysiken erfolgen, der Argumentati­ onsstruktur nach fehlgehen können, könnte gerade Lübbes Auf­ satz zur Kantischen „Philosophiegeschichtsphilosophie“ sein. Auch wenn zunächst noch offen bleiben soll, ob sich das Kriti­ sche Philosophiegeschichtskonzept als eine auf eine „Subjekt“Vernunft rekurrierende „Theorie der Vernunft“ im Sinne einer „begreifenden Darstellung“ der Geschichte von Vernunfttheo­ rien verständlich machen läßt, so stellt sich aber zumindest die Frage, ob in dieser Interpretation nicht doch bedeutsame Sätze der Kantischen Philosophie ausgeblendet worden sind, die ge­ lesen zu haben man sich erinnern kann. Ist nicht Kant, so wäre zu fragen, gerade mit der Auffassung berühmt geworden, daß bes

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„alle [...] Versuche“ spekulativer Vernunft, den „ersten Grün­ den der Dinge“ nachzustreben, das „einerlei Schicksal“ haben, daß sie nämlich mit dem „Leeren und [...] Unbegreiflichen“ enden? D.h., hatte er nicht zu zeigen versucht, daß derartige Unternehmungen stets in Begriffe (Ideen) einmünden, die ein Unbedingtes bedeuten, denen man aber theoretisch die objek­ tive Realität nicht sichern kann, weil sich aus reinen Begriffen ein reales Objekt nicht ,herausklauben‘, sich daher „das Unbe­ dingte nicht faßlich“ machen läßt?15 Wie immer man zu Kants Nachweis auch stehen mag (und tatsächlich hat er, so wie er in Texten vorliegt, seinen eigenen Sinn) - müßte man in der Kon­ sequenz aber nicht in jedem Falle annehmen, daß auch ein mög­ licher Versuch spekulativer Vernunft, sich selbst als ersten Grund aller philosophischen und philosophiegeschichtlichen Dinge festzusetzen, in der Kritischen Philosophie unmöglich war? Zumindest wäre an Lübbes Geschichtskonzept die Kantische Frage zu stellen, wodurch denn nun eigentlich gezeigt wäre bzw. wie sich zeigen ließe, daß die (Ideen-)Begriffe, mit denen es operiert, einen Sachgehalt besitzen, der von einem Objekt her stammt, und daß der Entwurf somit noch eine andere Wahrheit für sich in Anspruch nehmen kann als nur den formallogischer Widerspruchsfreiheit. Lübbes ,Theorie‘ macht freilich Ge­ schichte widerspruchsfrei denkbar. Aber es bleibt die Frage, wie sich wohl aus dem Denken auch noch ein reales Objekt ,herausklauben‘ und insbesondere das Unbedingte, die Vernunft in der Geschichte, so faßlich machen ließe, daß unter den Philosophen Einstimmigkeit erzielt wird, welche Philosophiegeschichte es denn nun eigentlich gibt - eine Einstimmigkeit, die es nicht gibt (wie noch deutlich werden wird) -, und auch diejenigen noch überzeugt werden könnten, die der Ansicht sind, es sei bis dato niemals Wahrheit und Vernunft in der Philosophie gewesen16. Daß aus der Problemstellung der Kritischen Philosophie tat­ sächlich resultiert, daß die in sie eingebundene Philosophiege­ schichtsphilosophie keine Vorläuferin der Lübbeschen Theorie darstellt, in welcher spekulative Vernunft zum „Subjekt“ einer begreifbaren Geschichte avanciert, mithin Kants Texte die Ein­ 15 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, A 158. 16 Vgl. zu dieser Behauptung im sogenannten Neopositivismus den V. Teil der Arbeit.

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sicht der Kritischen Philosophie nur bewähren, daß man zwar allenthalben (auch in Textinterpretationen) notwendig auf das Unbedingte hindenkt (wenn man nicht nur interpretiert, son­ dern das in Texten Gesagte bedenkt), daß sich dessen Existenz aber nicht beweisen läßt - dafür eben wird im vierten Teil der Arbeit der Beleg zu erbringen sein.

2. Philosophie als Geschichtsphilosophie der Philosophiegeschichtsschreibung (Lucien Braun) 2.1 Die Programmatik Indes ist es gar nicht nötig, in die Vergangenheit, zu Kant, zu­ rückgehen, um zu zeigen, wie schwierig es ist, sich das Unbeding­ te - im gegebenen Fall das Unbedingte aller philosophischen und philosophiegeschichtlichen Dinge - ,faßlich‘ zu machen. Denn mehr oder weniger zur selben Zeit wie Hermann Lübbe war Lucien Braun der Auffassung, daß eine ganz andere Ver­ nunft eine ganz andere Geschichte als ihre eigene Objektivität konstituiert. Allerdings wollte auch Braun mit seiner Geschich­ te der Philosophiegeschichte eine Antwort auf die Frage geben, weshalb der „größere Teil der literarischen Produktion auf dem Gebiet der Philosophie heute in Arbeiten über ihre Geschichte besteht“ [1]. Auch für Braun gibt es also gegenwärtig - als Resultat einer Vernunftentwicklungsgeschichte („diskursiven Entwicklung“) - das Faktum einer in hohem Ausmaß mit Histo­ rie identischen Philosophie. Denn auch bei ihm gehören, kritisch formuliert, die Lektüre und Interpretation von Texten, die der­ jenige, der sich mit ihnen befaßt, nicht selbst verfaßt hat, in das (im ersten Schritt noch unbestimmte) Feld einer Beschäftigung mit Geschichte, genauer: mit jener Geschichte, als deren Resul­ tat der Tatbestand einer inzwischen auf Historie reduzierten Philosophie anzusehen ist. In diesem Resultat werden, als dem Resultat einer Entwicklung, alle traditionellen Weisen der Beschäftigung mit Geschichte praktiziert. Der Ausdruck bzw. der „Begriff der Philosophiegeschichte“ [1], wie er somit sowohl auf die gegenwärtige Situation als auch die gesamte Tradition des Philosophierens anwendbar ist, umfaßt daher völlig „hete­ rogene Hervorbringungen“ wie etwa: Monographien, allgemei­ ne Problemgeschichten, Einflußuntersuchungen, Kommentare 84 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

oder auch Philosophiegeschichtsphilosophien Kantischer oder Hegelscher Provenienz, wobei selbst Kant widerfährt, als „Philosophiehistoriker“ bezeichnet zu werden: Und zwar ist er es Braun zufolge dort, wo er sich in einem Bereich der Philo­ sophie bewegt, in der der Bezug auf Texte anderer einen gewis­ sen Stellenwert hat, nämlich in seiner „philosophischen Ge­ schichte der Philosophie“ - obwohl „Kant sich“, so fügt Braun denn doch hinzu, „niemals als Philosophiehistoriker vorgestellt“ hat [217]. Gemeint ist, daß er die „philosophische Geschichte der Philosophie“ nur grundgelegt, nicht aber unter Bezugnahme auf Texte auch ausgeführt hat. Verweist nun aber der Ausdruck ,Philosophiegeschichte‘ (histoire de la philosophie) im ersten Schritt auf Hervorbringungen, die nach den verschiedensten Methoden ausgearbeitet sein kön­ nen (nach „biographischen“ und „doxographischen“ Methoden, unter Verwendung von pragmatischen Erklärungen, Deduktio­ nen apriori oder biologischen Schemata) und mit denen sich die unterschiedlichsten Zwecke verbinden können (Gelehrsamkeit, Allgemeinbildung, Unterricht, akademische Abschlüsse etc.) [1], so sind im zweiten Schritt - in einer prinzipientheoretisch­ systematischen Einstellung auf das weite Feld der Philosophie­ geschichtsschreibung - nach Braun allerdings „deutliche Wider­ sprüche“ erkennbar, die sowohl „den Gegenstand“ als auch An­ nahmen im Hinblick auf „die Entwicklung der Geschichte“ sowie deren „Einheit“ betreffen [ebda]. „Es gibt“ also „für die Philosophiegeschichte, trotz einer unleugbar geradezu wuchern­ den Vielfalt der Arbeiten, weder Sicherheit im Begriff, noch tat­ sächlichen Zusammenhang“ [ebda]. Zum Zwecke, der prakti­ schen ,Arbeit an der Geschichte4 [vgl. 373] diese Sicherheit und diesen Zusammenhang - einen systematischen Zusammenhang - zu geben (sie neuzubegründen), hat Braun die „Geschichte der Philosophiegeschichte“ (d. h. der Philosophiegeschichts­ schreibung) konzipiert, mit der zugleich die von Lübbe erhobe­ ne Forderung zum Programm erhoben wird, man müsse erfor­ schen, „wann die Philosophie beginnt, sich ausdrücklich auf vergangene Philosophie zu beziehen“. Wie bereits der Titel des Werks (Histoire de l’histoire de la philosophie, Geschichte der Philosophiegeschichte) zum Aus­ druck bringt, setzt Braun sein Konzept vor allem Hegels Pro­ jekt einer „Geschichte der Philosophie“ entgegen, auf das es in 85 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

einem sowohl zeitlich wie reflexionslogisch bestimmten „Ab­ stand“ allerdings bezogen bleibt. Es war Michel Foucault, der der Geschichtsschreibung überhaupt den Weg zu einer Abset­ zung vom Hegelschen Denken aufgezeigt hat, die gewisser­ maßen im Paradigma dieses Denkens verbleibt. In Umkehrung der Prämissen der Hegelschen Philosophie (unter Abkehr vom Primat der Einheit oder des Ganzen) drang Foucault gegen Hegel darauf, „daß wir Unterschiede sind, daß unsere Vernunft der Unterschied der Diskurse, unsere Geschichte der Unter­ schied der Zeiten und unser Ich der Unterschied der Masken ist“17 und daher auch der „Diskurs“ des Historikers durch einen „Bruch“ ermöglicht wird, der ihm allererst „die Geschichte und seine eigene Geschichte als Gegenstand“ darbietet18. In eben dem Sinne haben „wir“ auch bei Braun nunmehr „Ab­ stand“ gewonnen: im besonderen zu Hegel [vgl. 363], damit im allgemeinen jedoch auch schon zur gesamten Geschichte der Philosophiegeschichtsschreibung, die Braun zunächst (und auf gleich noch näher zu bezeichnende Weise) in Hegels Philoso­ phie gipfeln läßt. Braun bestimmt diese Geschichte mithin als eine bis zu Hegel laufende „Bewegung“, die sich in „sukzessive[n] Variationen des Begriffs Philosophiegeschichte“ auf epo­ chemachende Weise jeweils anders ,definiert‘ [2]. Die im „Ab­ stand“ zu Hegel gleichwohl noch vorhandene Hinwendung gerade zu Hegel findet Ausdruck vor allem darin, daß der „voll­ kommen intellektuelle“ „historiographische Akt“ [5], auf den Braun die Philosophiegeschichtsschreibung zurückzuführen sucht, durch den Ausdruck „Begriff“19 gekennzeichnet wird. Die Verwendung dieses Ausdrucks zeigt an, daß dem „historiographischen Akt“ die (logische) Struktur absoluter Subjektivität zugeschrieben und er zugleich als das Herzstück einer ineins so­ wohl theoretischen wie praktischen Vernunft aufgefaßt wird, die nun den Namen „historische[r] Diskurs auf dem Gebiet der Phi­ losophie“ [1] trägt. Der „Diskurs“ ist ein sich im unhintergehbaren raumzeitlichen Medium der Geschichte selbst systematisie­ rendes System, durch das dieses Medium Struktur gewinnt und 17 Michel Foucault, L’archeologie du savoir (1969), dt. Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 31988,190. 18 Ebda, 18. 19 Vgl. zum „Begriff“ bei Braun: Geschichte der Philosophiegeschichte, a. a. O., 4f. und 363.

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zur „qualifizierten Wirklichkeit“ [373] wird. Die Bewegung ge­ horcht Gesichtspunkten idealistischer Reflexionslogik, d.h., ein Subjekt setzt sich als Subjekt („Bewußtsein“) zu sich als Objekt („Gegenstand“) [363] immer wieder neu in ein Verhältnis. In diesem Sinne also handelt Braun von der „Geschichte der Phi­ losophiegeschichte“ als einer „diskursiven Entwicklung“ [2]. Die Darstellung dieser Geschichte, in der, dem Anspruch nach, alle möglichen „Formen“, sich auf die (zurückliegende) Ge­ schichte der Philosophie zu beziehen, namhaft gemacht werden, wie sie sich zugleich geschichtlich herausgebildet haben, also Wirklichkeiten sind, erfolgt in gewisser praktischer Absicht. Es geht

darum,

der

Philosophiegeschichtsschreibung

künftig

„Sicherheit im Begriff“ und „tatsächlichen Zusammenhang“ zu geben. „Die Philosophiegeschichte“ soll „zu dem Bewußtsein ihrer selbst“ ,gerufen‘ werden, „damit sie sich endlich die Mittel verschafft, im voraus den Raum ihrer möglichen Ausübung und das Feld ihrer Gültigkeit zu bestimmen“ [8]. Zu diesem Zweck wird gezeigt, daß sich die Geschichte der Philosophiegeschichtsschreibung in drei (allerdings noch mehr­ fach subdifferenzierte) Hauptepochen gegliedert hat: Da gibt es erstens die (von der griechischen Antike bis 1715 währende) Epoche der unmittelbaren „Praxis“, die sich zunächst als „naive“20 21darstellt und dann zur „gelehrten oder polyhistori­ schen“ Praxis steigert (Höhepunkt im ersten Fall ist Diogenes Laertius; im zweiten Fall Thomas Stanley21). Beide Formen lokalisieren sich innerhalb des „Raums“ (Epoche) „kritikloser Gewohnheiten“ [7]: Mehr als zwei Jahrtausende habe man „in der Öffnung eines nie fehlgehenden Vorverständnisses“ „nicht­ spezifische Instrumente“ benutzt, „die immer von außen genom­ men wurden - aus der Biographie, der Doxographie, der Sekten­ geschichte, der Schulfolge oder dem Kommentar. Später prägten die Apologetik und die Polemik [...], die gelehrte Untersuchung, 20 Diese Praxis ist nicht deshalb „naiv“, weil sie etwa unwissenschaftlich wäre. „Tat­ sächlich ist die historiographische Praxis niemals naiv“ in diesem Sinne [362]. „Wenn wir diese Geschichtsschreibung naiv genannt haben, so deshalb, weil sie sich konstitu­ iert und weiterentwickelt, ohne je ihre eigene Vorgehensweise zu reflektieren, ohne ihre Zielsetzung zu definieren, ohne sich nach ihren Vorbildern und Modellen zu fra­ gen“ [50]. „Die naive Praxis ist jene, die in ihrer Ausübung das Subjekt vergißt, wel­ ches sie betreibt, die sich nicht um die Gültigkeit der eigenen Vorgangsweise beküm­ mert und sich in einer Art natürlicher Evidenz ohne Ende wiederholt“ [12]. 21 Vgl. Thomas Stanley, The History of Philosophy, 1655.

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die philologische Bemühung und die polyhistorische Neugier dieser Disposition nur sekundäre Modulationen auf“ [7]. Mit den ab 1715 erschienenen Acta philosophorum von Christoph August Heumann22 beginnt jene Epoche, in der „sich die Phi­ losophiegeschichte in einem gesteigerten Bewußtsein ihrer selbst installiert“ [6]. Sie ergreift ihren „Begriff“, wenigstens in­ soweit, als der philosophiehistoriographischen Praxis nun „Defi­ nitionen“ vorangestellt werden, die im vorhinein umreißen, „was man im Bereich der Geschichte wird finden können“ [228]. Damit repräsentiere Heumann den „privilegierten Mo­ ment, in dem die Philosophiegeschichte sich selbst zum ersten Mal durch eine Definition sozusagen ,anschaut“‘ [110]. Die Phi­ losophiegeschichtsschreibung überschreite damit eine „Schwel­ le“ [ebda], welche „eine unschuldige Ausübung nicht mehr zu­ lassen wird“ [109]. Es beginnt die Epoche der „Disziplin“, eine Wegetappe, auf der „die Philosophiegeschichte sich konstituiert, indem sie nach Regelgesetzen ihre eigene Theorie produziert“. Dies geschieht nun in vier Subdispositionen: auf die „pragmati­ sche Geschichte“ (und vor allem Jacob Brucker23) folgt die als Fortschrittsgeschichte konzipierte Philosophiegeschichte (und vor allem Dietrich Tiedemann24); auf diese die „kritizistische Philosophiegeschichte“

(Wilhelm

Gottlieb

Tennemann25)

und auf diese schließlich die romantische „Vision der Philoso­ phiegeschichte“ (der Schellingianer Friedrich Ast26). Die definitorische Form, Philosophiegeschichtsschreibung zu betreiben, die „Disziplin“, kommt mit der „Hegelschen Evidenz“ an ihr Ende: „Man weiß“, so Braun, „daß die Philosophie Hegels sich nicht als eine Philosophie wie alle anderen sah, sich nicht einfach22 23 24

22 Christoph August Heumann, Acta philosophorum, das ist gründliche Nachrichten aus der historia philosophica, Halle 1715-1726. 23 Jacob Brucker, Institutiones historiae philosophicae usui academicae iuventutis adornatae, Lipsiae 1747; Miscellanea historiae philosophicae, litterariae, criticae. Olim sparsim edita, nunc uno fasce collecta, multique accesionibus aucta et illustrata, Augustae Vindelicorum, 1748. 24 Dietrich Tiedemann, Geist der speculativen Philosophie, Marburg 1791-1797, in 6 Bänden. 25 Wilhelm Gottlieb Tennemann, Geschichte der Philosophie, Leipzig 1798-1819, in 11 Bänden. 26 Friedrich Ast, Grundriß einer Geschichte der Philosophie, Landshut 1807.

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zeitlich nach den anderen situierte, sondern als Philosophie alle in sich aufnahm und in ihnen und durch sie hindurch zum höhe­ ren Bewußtsein ihrer selbst stieg“ [7]. Nach Brauns Verständnis kommt dieses „höhere Bewußtsein“ darin zum Ausdruck, daß bei Hegel Philosophie und Geschichte miteinander verschmel­ zen. Bei Hegel gilt, so Brauns These: „Die Philosophie ist ihre Geschichte“ [364]. Diese „Mutation“ habe die Philosophiege­ schichte im 19. Jahrhundert empfunden und sich von da ab „un­ fähig“ gezeigt, „eine zusätzliche Definition hervorzubringen“ [7]. Es entsteht, sei es im Eklektizismus, Positivismus oder in der Lebensphilosophie, ein „neues historiographisches Bewußt­ sein“, das „die Disziplin zu sich selber ruft, [...] sie dazu führt, sich über ihre eigene Möglichkeit zu befragen“ [7]. „In diesem Bemühen werden wir nicht dahin geführt, eine neuerliche Defi­ nition aufzustellen, welche sich an hundert andere anschließt, sondern dazu, die Philosophiegeschichte zu dem Bewußtsein ihrer selbst zu rufen [...]“ [8]. In der neuen Praxis, an der Geschichte zu arbeiten, die Braun mit seiner Geschichtsdarstellung zu fundieren sucht, bleibt aller­ dings die theoretische Stelle der Definition nicht unbesetzt. Zwar wird der Praxis nicht mehr irgendein (willkürlich erzeug­ ter) Begriff vorausgeschickt, aber doch immer noch ein Begriff jetzt aber der „Begriff der Philosophiegeschichte“ selbst. Er soll es ermöglichen, alle Praktiken nur vor dem „Hintergrund ihrer eigenen Bewegung“ erscheinen zu lassen, „sie untereinander zu vergleichen, damit sie sich durch Differenz wechselseitig defi­ nieren“ [6]. Dieser „Begriff“, der die neue philosophiehistoriographische Praxis als „Analyse“ der „diskursiven Entwicklung“ fundiert, die „in methodischer Weise der Bewegung [...]“ zu „entsprechen“ versucht, „welche die Philosophiegeschichte an ihrer eigenen Geschichte hat“ [8], erweist sich näherhin als ein umfangreiches System begrifflicher Voraussetzungen, die mit bestimmten Voraussetzungen nichtbegrifflicher Art verbunden sind. Diese Voraussetzungen wiederum sind, dem Anspruch nach, nicht nur als Bedingungen künftiger ,Arbeit an der Geschichte‘ zu verstehen. Es handelt sich vielmehr zugleich um die Bedingungen des geschichtlichen Gegenstands selbst als einer „qualifizierten Wirklichkeit“, d.h. um die ersten Gründe aller Geschichte. Vorausgeschickt wird der Diskursanalyse folgendes Voraussetzungsgefüge: 89 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

1) In allgemeinster (formal-begrifflicher) Hinsicht liegt fest, daß der „historische Diskurs“ als ein „sekundärer Diskurs“ an­ zusehen ist. Sekundäre Diskurse sind, so definiert Braun, „for­ mal betrachtet [...], [...] ein Echo zu gewissen primären Dis­ kursen“ [1]. Der historische Diskurs ist ein Echo zu dem als (systematisch) primär geltenden philosophischen Diskurs. Be­ deutsam an den Ausdrücken „primär“ und „sekundär“ ist, daß mit ihnen eine Entzweiung der Ordnung intellektuellen Han­ delns in zwei verschiedene, gegeneinander sowohl der Zeit wie der Logik nach abgestufte Ordnungen angezeigt wird, deren nicht aufhebbare Differenz bzw. deren dynamischer „Abstand“ (im Sinne von „Verspätung“ des Auftretens von Historie der Philosophie gegenüber reiner Philosophie) die „Geschichte der Philosophiegeschichte“ von Anfang an trägt und vorantreibt. Der primäre Diskurs (die Philosophie) ist, folgt man Brauns Beschreibungen, durch abstrakte Selbstreflexivität gekennzeich­ net, während der sekundäre Diskurs (Philosophiehistorie) ein komplexes theoretisches (und auf noch näher zu bezeichnende Weise „empirisches“) Verhältnis zum primären Diskurs unter­ hält, in dem nicht nur auf Texte Bezug genommen wird, sondern auch die intuitiven Erkenntniselemente ,Anschauung‘ und ,Vorstellung‘ eine bedeutsame Rolle spielen. Dabei zeigt der Sach­ verhalt, daß Philosophiehistorie betrieben wird, an, daß „wir die Seite gewechselt“ haben [363], daß „wir“ also von der Seite ur­ sprünglichen, aktualen, sich abstrakt auf sich beziehenden Den­ kens oder Handelns des „Geistes“ (der für Braun der des Men­ schen ist [vgl. 387]) auf jene Seite hinübergewechselt sind, auf der diese Handlungen empirisch zum Gegenstand und sowohl im zeitlichen wie reflexionslogischen Nachhinein ,erinnert‘ wer­ den. ,Erinnern‘ hat eine metaphysische Bedeutung und heißt, daß der philosophische Diskurs als „voraufliegende[r] Diskurs[] einer anderen Natur“ im Laufe der „Geschichte der Philoso­ phiegeschichte“ in die ontologische Sphäre des philosophiehi­ storischen Diskurses „aufgehoben“ wird [1]. In diesem Sinne ist die „Geschichte der Philosophiegeschichte“ als Erinnerungsge­ schehen, als „Gedächtnis“ [vgl. 390] bestimmt. Der Braunschen Konstruktion nach verschmelzen nun phi­ losophischer und historischer Diskurs an einem bestimmten Punkt im Ablauf der Geschichte. Dies, so Brauns These, findet bei Hegel statt. Denn hier gelte: „die Philosophie ist ihre 90 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

Geschichte“27. Doch bildet Hegels Philosophie nicht den end­ gültigen Geschichtsabschluß. Denn das Denken erscheint stets „getrennt“ von sich, „immer in Verspätung zu sich selbst“ [390], d. h., es vermag sich nicht einzuholen. So geht die Entwicklung über Hegels Position noch hinaus, um - heute - in einen Dis­ kurs gleichsam dritter Ordnung einzumünden, dessen Gegen­ stand eben diese Geschichte ist. D. h., die Geschichte der Philo­ sophiegeschichte läuft in eine sowohl theoretische wie praktische „Wiederaufnahme aller Versuche der Wiederaufnahme“ hinein [386]. 2) Verknüpft mit der Bestimmung von Geschichte als Erinne­ rungsgeschehen ist die Annahme, daß der historische Diskurs in jeder seiner Gestaltungen auf eine „Gesamtheit“ philosophi­ scher Texte Bezug nimmt, die Texte aber nicht nach „ihrer Buch­ stäblichkeit“ aufnimmt. Denn nicht das, was die Texte „aus­ drücklich“ sagen [vgl. 1], zieht „die ganze Aufmerksamkeit“ zunächst von Praktikern, dann von Theoretikern und schließlich von Philosophen der Philosophiegeschichtsschreibung - „[...] auf sich“ [385], sondern das, was gerade kein Text „ausdrücklich sagt“ [1], genauer: Was eigentlich Aufmerksamkeit erweckt, ist, daß ,uns‘ ein Text ausdrücklich nur noch eingeschränkt (partiell) etwas sagt. Was also Aufmerksamkeit erregt - und zwar inner­ halb des „Akts der Lektüre“ (als Teil des „historiographischen Akts“) selbst -, ist das „Gefühl“, daß die „Handlungen“ des menschlichen „Geistes“ [387] nicht in der ganzen Sinnfülle ihrer „Gegenwart“ geblieben sind [387]. „Immer hat sich zugleich in der Beziehung auf sie ein bestimmter Abstand geltend gemacht, ein bestimmtes Gefühl des Verlusts“ [390]. So entsteht im „un­ vermeidlichen Abstand [.] in der Aufmerksamkeit [.] das, was wir den Gegenstand der Philosophiegeschichte nennen“ [385]: die „Vergangenheit“ [387]. Vergangenheit ist bei Braun phäno­ menologisch bestimmt, und zwar als (je partielle) „Anwesen­ 27 Wiederum war auch schon für Wilhelm Windelband (Geschichte der Philosophie, a.a.O.) bei Hegel „Philosophie wirklich in ihre Geschichte aufgelöst“ [188]. Diese Auflösung soll systematisch in der Behauptung eines „Parallelismus“ von dialektischer und historischer Entwicklung Gestalt angenommen haben [vgl. z.B. 177, 188]. Die Parallelitätsthese lebt bei Braun selbst in der Unterscheidung zwischen philosophi­ schem und historischem Diskurs weiter, bei Lübbe in der Differenzierung zwischen Literaturhistorie und Philosophie. Auf die allerdings problematische These vom „historischen Idealismus“ bei Hegel [184] wird im III. Teil der Arbeit zurückzukom­ men sein.

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heit-Abwesenheit“ [vgl. 390] von Sinn, Evidenz und Aktualität. Vergangenheit in diesem Sinne ist nun der eigentliche, der „spe­ zifische“ [388] und „eigene Gegenstand“ der „historischen For­ schung“ [387]. Sie ist es, die in der Textlektüre die „Operation der Erinnerung“ auslöst [388]. Dabei ist die Erinnerung nach Braun in erster Linie ein „vorbegriffliche[s] Unternehmen“: Die „Erinnerung der Vergangenheit ist keine aus der Reflexion folgende Forderung“ [386], sondern Ausdruck eines ursprüngli­ chen ,Ergriffenseins‘, das den Menschen „heimlich“ und „von Anfang an“ an den aufbewahrenswert erscheinenden „ver­ gangenen Handlungen seines Geistes“ [387] ein „unvordenkli­ ches Interesse“ nehmen läßt [388]. Doch provoziert dieses Er­ griffensein schließlich auch das begriffliche Unternehmen der Kompensation der verlorenen Aktualität, das Unternehmen der reaktualisierenden „Rettung“ der in diesem Sinne „verlore­ nen Texte“28. Es evoziert die Philosophiegeschichtsschreibung als „historischen Diskurs“. Zwar kann dieser die philosophi­ schen Texte nicht in ihrer einstigen Sinnfülle wiedererstehen las­ sen „(was unmöglich ist)“ [386], aber er vermag ihnen - dem immer besser etablierten „Corpus von Texten“ - doch eine „neue Gegenwart“ zu geben, die „eine gewisse Rettung garan­ tieren kann“ [386]. Dies geschieht im „Akt der Lektüre“ selbst [2], der (begrifflich) „komplexer“ ist, „als er zunächst erscheint“ [ebda]. Seine (zunehmend größere begriffliche) Komplexität resultiert daraus, daß sich „jede neue Lektüre“, so Brauns The­ se, „in bezug auf die vorangegangenen Lektüren [...] zu determi­ nieren“ sucht. Dies wiederum kann der neuen Lektüre „nicht anders“ als nur dadurch gelingen, daß sie alle vorangegangenen (reflexionslogisch) „übersteig[t]“ [ebda]. Auf diesem Wege wer­ den die philosophischen Texte im Resultat in immer wieder neu­ en „Ensembles“ zusammengestellt (angefangen von der Form­ gebung der Chronologie bis zur philosophischen Geschichte der Philosophie). Somit gab es „immer schon [...] Lektüren, die durch Auslese, Auswahl und Klassifizierung die Texte in neuen Ensembles zusammenstellten: Das ist es, was wir Philosophiege­ schichte nennen“ [3]. Philosophiehistoriographie zielt also, so gesehen, auf die Herausstellung jeweils einer neuen und notwen­ digerweise reflexionslogisch höherstufigen „Legende, die es den 28 Vgl. näherhin: Braun, a. a. O., 2; 386.

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philosophischen Texten erlaubt, gelesen und dadurch überschrit­ ten zu werden in Richtung auf den [...] Gegenstand, den wir die Vergangenheit der Philosophie nennen“ [4]. M.a.W., der „zwei­ te Diskurs“ konstituiert - aus dem „Verlangen nach Kompensa­ tion des Verlustes einer sich verlierenden Fülle“ [390] - auf der Objektseite eine jeweils komplexere Sinn- und Werdetotalität einen durch den Ausdruck „Philosophiegeschichte“ bezeichenbaren (idealen) Zusammenhang „in der Vergangenheit“ [vgl. 386]. Die Vergangenheit steht ihm somit weder wie eine „fest­ stellbare Äußerlichkeit“, noch auf beliebige Weise offen. Ihre Bestimmung erfolgt vielmehr „schrittweise“, in einem zielge­ richteten Prozeß, ohne daß allerdings ein definitives „SichSelbst-Gegenwärtigsein der Philosophie“ gelingen könnte. Denn „es müssen“ sowohl (und zunächst) „die Philosophie“, als auch (und später) „ihre Geschichte“ (d. h. die Philosophiegeschichts­ schreibung in ihren mannigfaltigen Formen) „sich immer eines unmittelbar drohenden Verlusts erwehren, [.] da das Denken von sich selbst getrennt erscheint, immer in Verspätung zu sich selbst“ [390]. 3) Wer sich heute der Aufgabe verschreibt, nicht mehr nur von der Philosophie, sondern auch von der Philosophiegeschichts­ schreibung selbst den Sinnverlust abzuhalten, der selbst ihr dro­ hen kann, der muß im Vorfeld allerdings noch über weitere, im „Begriff der Philosophiegeschichte“ enthaltene Bestimmungen vorrationaler und rationaler Provenienz informiert sein: a) Unter den vorrationalen Prinzipien spielt in der Braunschen Konzeption das der Evidenz die größte Rolle: Dieser Ausdruck, dessen Sinn sich in den Metaphern „Öffnung“, „Raum“, „Licht“ erhellt, steht dafür, daß jede Zeit (Epoche) ihre „eigene Weise des Sehens und des Denkens“ hat [356]. Er „verweist auf das, was in einem bestimmten Moment für eine gegebene Gemeinschaft sich von selbst versteht“. Er steht für den „geistigen Konsens“ und das „Übereinkommen über eine Gesamtheit von Vorschriften und Gewohnheiten“: „Es mußte ein bestimmter Raum der Verständlichkeit existieren, der nicht als solcher thematisiert wurde, sondern als weithin geteilt, den hi­ storischen Produktionen einen Hintergrund gab. Diese Evidenzen wa­ ren vielfältige und zeitlich unterschiedene. Das heißt, sie konnten in einem bestimmten Moment etwas von ihrer Fülle verlieren und den

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Platz anderen überlassen, die sich aufdrängten. Ausgehend von diesen späteren Evidenzen sind sie [...] bezeichenbar als vergangene Mo­ mente. In der Tat ist es dieser Verlust an Fülle, dieser Umstand, daß die Evidenzen sich selber entgehen [...], was wir eigentlich Vergangen­ heit nennen“ [3]. In Brauns Konzept ist das „Auftauchen der Evidenz“ das ent­ scheidende Moment [359]. Dabei hat das Prinzip der Evidenz mehrere Funktionen: Es begründet, daß philosophiehistorische Konzepte als Sinntotalitäten in den Blick genommen werden können. Denn die Evidenz „ist das, worin die insgesamt genom­ menen und durch bestimmte Beziehungen verbundenen Ele­ mente erst ihren Sinn erhalten und deswegen sind, was sie sind“, außerhalb der Evidenz wären die Elemente „einer unüberwind­ lichen semantischen Unbestimmtheit ausgeliefert“ [361]. Das Evidenzmoment begründet aber auch in geschichtsphilosophi­ scher Hinsicht, daß solche Ganzheiten sogleich als epochale (raumzeitliche) Größen aufgefaßt werden können. Und schließ­ lich liegt in diesem Prinzip, historisch betrachtet, eines der bedeutsamsten Momente in der von Braun vorgenommenen Umwertung Hegelscher Systematik: Neben der Hervorhebung des Differenz-Aspekts steht es (im Anschluß insbesondere an Heidegger) für die Vorordnung des bildlichen Aspekts vor dem (reflexionslogisch strukturierten) Bewußtsein. Nicht das Bewußtsein ist „der Herr der Evidenzen“, nicht es breitet das „Licht über die Dinge“ aus; nicht es „setzt“ aus eigener Kraft den Gegenstand; nicht im Bewußtsein finden sich die „Grund­ lagen“ der Evidenzen, „selbst wenn sie darin erst manifest wer­ den“; vielmehr gilt:

„Das Bewußtsein trägt und erleidet die Evidenzen: es verharrt insoweit in ihrer Unkenntnis, als es die Dinge auf die Weise denkt, die ihm selbstverständlich zu sein scheint. Durch und in der Evidenz finden sich das Bewußtsein und die Dinge in einer besonderen Beziehung aufein­ ander bezogen. Das Bewußtsein und die Dinge sind, was sie sind, durch die Evidenz, die sie trägt“ [363]. Allein durch die Annahme eines Evidenzhintergrundes, auf den die Diskursanalyse zielt, ohne daß er für sie wirklich greifbar wäre, kann verständlich werden, „warum zu verschiedenen Zei­ ten sich die Vergangenheit der Philosophie in verschiedenen Ge­ sichtern“ - oder „Bild[ern]“ - „darstellte“ [361].

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b) Ein weiteres bedeutsames Prinzip ist das der Methode, der Beherrschung (maitrise), das auch durch die Metapher „Weg“ wiedergegeben werden kann [vgl. 4]. Dieses Prinzip steht dafür, daß sich „eine Zeit“ eben auf der Grundlage eines jeweils be­ stimmten und „in sich vollkommen intellektuelle[n] Verfah­ ren^]“ konstituiert, „welches die Texte hervorbringt, in denen die Vergangenheit - eine bestimmte Vergangenheit - Gesicht und Gestalt annimmt“ [4]. Dieses Prinzip steht dann im Mittel­ punkt, wenn man nach den jeweiligen „Dispositionen“, „charak­ teristische^] Distributionen“, der „rhetorische[n] Organisa­ tion“, dem „Vokabular usw.“ des „Wissens“ fragt, das sich in nachgelassenen Arbeiten angesammelt hat. Dann kann man fin­ den, daß die mit der Philosophiegeschichtsschreibung verbunde­ nen „Zwecksetzungen jeweils anders bestimmt, die spezifischen Bereiche jeweils anders artikuliert, die Gegenstände anders ge­ setzt, die Aufmerksamkeit anders ausgerichtet, die Interessen anders benannt, [...] die Einteilungen anders ausgeführt, die Bil­ der anders gewertet, die Gliederungen anders markiert usw.“ sind [374 f.]. c) Ferner hat man mit Regularitäten nichtdiskursiver Art zu rechnen. Festhaltend an der (dann zu verdeutlichenden) Hegelschen

Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Ge­

schichte

differenziert

Braun

zwischen

dem

„Bereich

der

Verständlichkeit, der Intelligibilität“ und den zufälligen Rah­ menbedingungen der Bezugnahmen auf Geschichte, die als „Erscheinungs- und Ausübungsbedingungen der Philosophiege­ schichte“

bezeichnet werden.

Nichtdiskursive Regularitäten

sind z. B. „Auftrittsorte der historiographischen Praktiken“, Institutionen („Entscheidungsinstanzen“) oder Publikationsor­ gane. d) Auszugehen ist aber auch und vor allem von der „Idee der Tradition“: Wenn angenommen wird, daß sich „jede neue Evi­ denz [...] zur vorigen absetzen“ muß [356], dann steht für die damit verbundene Kontinuitätsvorstellung die „Idee der Tradi­ tion“. In Abgrenzung von einer „historischen“ Vorstellung von „Tradition“ als einer nur „kumulativen Anhäufung“ von Texten [386], verweist ein philosophischer Traditionsgedanke (wieder­ um im Anschluß an Hegel) auf den logoshaften „Grund“, der für die oben angedeutete intelligible Ordnung der Geschichte der Philosophiegeschichte verantwortlich zeichnet. Die „Tradi­

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tion“ ist es, die „sich in der Öffnung jeder Evidenz auf eine neue Weise [gibt] und [...] jedesmal verschiedene Möglichkeiten“ freisetzt [387]. Sie „verweist auf das, was [...] die Evidenzen und die darin definierten Gegenstände verbindet“; sie „verweist auf eine bestimmte Kontinuität, welche die Diskontinuität der Dispositionen niemals als Schöpfung ex nihilo oder als beliebige Positionen erscheinen läßt“ [387]. Sie übermittelt den Men­ schen, denen sie in einer jeweiligen Epoche „erlaubt“, „zu sein, was sie sind“ [ebda]29, das „Kapital“ und repräsentiert insofern den Ort eines nicht-empirischen „Gedächtnisses“ des „Gewese­ nen“ als des „Wesentlichen“ [ebda]. Dieses Gedächtnis hat uns „immer schon“ in seiner „Gewalt“. Denn es begründet die „Fol­ ge der Legenden, der Gegenstände und Funktionen“ und zu­ gleich die „Zerstreuung“ der „Dispositionen“, sich auf Ge­ schichte zu beziehen [388]. e) Zu nennen ist an dieser Stelle aber auch noch einmal das schon genannte Prinzip der Verspätung, das mit der Idee der Tradition eng zusammenhängt. Denn denjenigen „Ort“, an dem sich die für die Philosophiegeschichtsschreibung konstitutive „Verspätung“ einstellt, nennt Braun die „Tradition“. Mit „Ver­ spätung“ ist jene „gewisse Verzögerung“ gemeint, in der das Denken alleine seiner selbst habhaft zu werden versuchen kann: Erst im Rahmen nachfolgender Evidenzen können vorherge­ hende zum „Gegenstand“ werden [363], allerdings sind sie dann „bezeichenbar“ nur noch „als vergangene Momente“ [3], die an­ zeigen, daß wird so nicht mehr denken. In diesem Zusammen­ hang entsteht das „Bewußtsein der Vergangenheit“. Braun schreibt in Variation einer bekannten Hegelschen Formulie­ rung: „Wenn sich die Dinge in einem bestimmten Maß der Fremdheit und der Äußerlichkeit geben, das uns sagen läßt, daß wir so nicht mehr denken“, dann „entsteht das Bewußtsein der Vergangenheit“ [363]. Evidenz, Beherrschung, Regularitäten, Tradition und Verspä­ tung sind nach Braun intelligible Grundbestimmungen der „Geschichte der Philosophiegeschichte“ als einer insofern „qua­ lifizierten“, bewegten und in der Lektüre aller Philosophiege­ schichtswerke auch erfahrbaren „Wirklichkeit“. Diese Wirklich­ 29 „Sie durchquert mich und trägt mich, wie mich die Sprache trägt, die ich spreche“ [387].

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keit zu ,bestimmen‘, ist nun Aufgabe jener „theoretischen Arbeit“ an der Geschichte, die Braun mit seinem Buch als „Analyse“ der „Entwicklung“ des historischen Diskurses neu zu fundieren sucht, in deren Rahmen alle „Formen“ der „Wie­ deraufnahme“ 1) theoretisch zum Gegenstand werden, was zu­ gleich 2) deren methodische Wiederaufnahme (als bestimmter Praktiken) möglich macht. Ad 1) In impliziter Orientierung an der klassischen Abstufung des Wissens in historisches, empirisches und philosophisches sie­ delt Braun die von ihm angezielte „theoretische Arbeit“ an in der „Mitte“ zwischen zwei Extrempositionen, sich auf Geschich­ te zu beziehen (die zugleich geschichtliche Dispositionen gewe­ sen sind). Das eine. Extrem ist die „rein empirische Forschung“ (Praxis) [384; H. v. V.], gleichsam bloße Historie, die „an reinen Fakten“, d. h. an den Texten, „kleben“ bleibt [362] und den „Do­ kumenten“ ,nachjagt‘ [384], sei es in der Form der Doxographie, die auf „Meinungen“ auszieht, dabei selbst das „Willkürliche der Meinung“ an sich hat, sich in jedem Fall „mit Zufälligem zufrie­ den“ gibt, ohne überhaupt „einen Zusammenhang definieren zu können“ [ebda]; sei es aber auch schon in Form der „Chronik“, die zwar einen Zusammenhang (des Nacheinanders) etablieren kann, aber der Sache nach „das Vielfältige nicht beherrscht [...]“. Das andere Extrem ist die „einfache Konstruktion“ der Philosophiegeschichte im Medium „deduktiven Denkens“ (Not­ wendigkeit, Disziplin) [362], die durch einen „Willen“ bestimmt wird, der nur nach „Übereinstimmung mit sich selbst“ strebt [384], in der Konsequenz Geschichte „global“ überfliegt und „[...] phantastische, niemals widerlegbare Lektüren autorisiert [...]“ [vgl. 384]. Die in der Mitte zwischen diesen Extremen an­ gesiedelte Diskursanalyse bezieht sich auf die „Aufeinanderfol­ ge der Formen“ des historischen Diskurses, die für Braun etwas Erfahrbares ist: Nicht die Texte, sondern diese Aufeinanderfolge ist es, die „empirisch zu bleiben scheint“ [362]30 und im Zusam­ 30 „Der Begriff der Erfahrung“ ist bei Braun zunächst „zweideutig [...], besonders wenn es um das Problem der Philosophiegeschichte geht“ [362]. In Reformulierung der klassischen Differenzierung zwischen bloß historischem Faktenwissen und empi­ rischem (d.h. bereits theorieförmigem) Wissen hält Braun im besonderen Falle der Philosophiegeschichtsschreibung „den Begriff der Erfahrung“ deshalb für „zweideu­ tig“, weil hier nicht nur Texte gegeben sind, die als „reine Fakten“ [362] bezeichnet werden, sondern auch - und vor allem - das, „was keiner von ihnen ausdrücklich sagt“

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menhang einer (auf bezeichnete Weise vorinformierten) Lek­ türe aller „Geschichtswerke (es sind etwa 1200)“ [374] erfahren werden kann. Dabei heißt ,erfahren‘, auf einen „Widerstand“ zu treffen, der zur Anerkennung einer vom Subjekt unabhängigen „Realität“ führt. Es ist der „Widerstand dieser Realität der ver­ gangenen Tätigkeiten und ihre eigene Dichte, die uns dazu führt, sie als solche zu akzeptieren“ [362]. Die von Braun angezielte Diskursanalyse entfaltet sich nun als eine „Theorie“ empirischer Provenienz, die als Theorie die „Gegebenheiten“ nicht bloß nach „ihrer rein empirischen Auf­ einanderfolge“ aufzunehmen [363], sondern „als einfache Gege­ benheiten“ zu „überschreiten“ und in ein „Netz des Verstandes“ zu integrieren hat, „so daß wir uns ihrer auf eine geregelte Art und Weise annehmen können“ [362]. Es gilt, die „Elemente“ jenes „Spiels“ sichtbar zu machen, das den „Begriff“ der Philo­ sophiegeschichte im besonderen „disponiert und redisponiert“ [5]. Die intendierte Theorie wird als „Topik“ bezeichnet: Die Diskursanalyse konkretisiert sich als „topisches Denken“ [384], das in bezug auf die (allgemeinen) „Hauptsachen“ der Geschich­ te (d. h. die „hauptsächlichen Artikulationen“ des philosophiehi­ storischen Diskurses) deren jeweilige Besonderheit festzustellen versucht: konkrete Problemverbindungen, die „Örter“ der Ar­ gumentation oder Diskursivität [385], um die herum - wie zum Beispiel um das Thema des „Ursprungs der Philosophie“ [5] „die Restrukturation des Begriffs sich abspielt“, die sich also in „modifizierten Rollen in jeder Disposition wiederfinden“ [ebda]. Es gilt, ein „Koordinatensystem der Örter“ [384] zu er­ stellen, von dem her sich „Wesen und [...] Funktion der Philoso­ phiegeschichte“ allererst wirklich „sichtbar machen [...]“ läßt [385]. Erst „von den Örtern der Argumentation und Diskursivität“ her kann vom „Auftauchen der Evidenzen“ und von den [1], nämlich die „Aufeinanderfolge der Formen“ der Philosophiegeschichtsschreibung (als den „Bedingungen“ ihrer unterschiedlichen „Möglichkeiten“ [362]). Auf diese Formen hin sind die Texte unter Absehung von ihrer „Buchstäblichkeit“ [vgl. 1] sinn­ produktiv [ebda] zu lesen. Man muß also wissen, daß „das Gegebene“, das im Rahmen der Diskursanalyse von Interesse ist, „[...] im Extremfall die reine Sammlung der Texte“ sein würde [362], aber damit eben schon eine Sammlung, in der Texte bereits von Texten anderen Typs („von nichtphilosophischen Texten“) getrennt und chrono­ logisch geordnet sind [ebda]. Kritisch formuliert: Der historische Diskurs steht nicht so sehr dafür, daß es Texte mit spezifischen Inhalten gibt, sondern dafür, daß es Ord­ nung gibt.

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Transformationen des historischen Diskurses Rechenschaft ge­ geben werden. Denn „der Begriff der Philosophiegeschichte“ ist „nicht einer ohne Unterlaß wachsenden Rationalität unterwor­ fen“ (jedenfalls nach Brauns Bewertung nicht), „sondern hat charakteristische Umkehrungen und Transformationen erfah­ ren“ [375]: konkrete und materialiter nur der Geschichte der Philosophiegeschichte zukommende Umkehrungen. In diesem Sinne artikuliert sich die Arbeit an der Geschichte zwischen den Extremen von Zufall und Notwendigkeit zunächst als theoretische „Wiederaufnahme der hauptsächlichen Artiku­ lationen“ der Geschichte der Philosophiegeschichte, die sich, zu­ sammenfassend formuliert, „mit Hilfe bestimmter Kategorien“ „auf eine Analyse der Örter“ stützt, um ausgehend von dort die Evidenzen deutlich zu machen. Das Ergebnis der Analyse, die sich auch auf bestimmte Abschnitte der Geschichte beschränken kann, wird dann in Form einer ,Erzählung‘ präsentiert. Daß am Ende „erzählt“ wird [362], hat bei Braun insofern keine kon­ stitutive Bedeutung, sondern heißt nur, daß die „Ergebnisse der Analyse [...] anschließend in Form von Behauptungen über die betrachtete Realität, d. h. in Form des Wissens, zusammenge­ faßt“ werden [374]. Ad 2) Nun ermöglicht das „topische Denken“ allerdings auch eine Wiederaufnahme der „hauptsächlichen Artikulationen“ der Geschichte der Philosophiegeschichte der Methode nach. D. h., es läßt die vormaligen Formen, mithin auch die genannten Ex­ trempositionen, wieder praktikabel sein. Dabei verhindert Topik, daß sich die Forschung in diesen Formen verfestigt. Sie kann „Gesamtbetrachtungen ermöglichen, indem sie maßgebliche Blick­ punkte angibt. Sie könnte die Chronik beleben, indem sie die Möglich­ keit der Zusammenstellung des Vielfältigen um bestimmte privilegierte Zentren [...] gibt. Sie könnte bis zu einem gewissen Grad die Meinung selbst retten, indem sie dort Allgemeinplätze geltend macht [...]“ [384].

Aber Gesamtbetrachtungen, Chroniken und Doxographien ha­ ben im „Koordinatensystem der Örter“ nun ihren gemeinsamen Bezugspunkt und setzen daher die Diskursanalyse voraus, die sich auch in methodischer Hinsicht in der Mitte zwischen den Extrempositionen ansiedelt: Ihr Verfahren ist „organisierter“ als das „rein empirische[r] Forschung“, deren „heuristischer Wert“ ohne Topik „nicht von vornherein evident ist, weil sie 99 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

nicht weiß, was sie finden kann“; und es ist zugleich weniger ab­ strakt „als das deduktive Denken“, dessen „heuristischer Wert“ ohne Topik „unbedeutend und dessen Verlangen nach Korres­ pondenz dem Willen der Übereinstimmung mit sich selbst unter­ geordnet ist“ [384], Das diskursanalytische Vorgehen ist Braun zufolge allerdings nicht nur diesen prähegelianischen Positionen überlegen, son­ dern auch noch allen posthegelianischen Weisen, Philosophiege­ schichte zu betreiben, nämlich als „Geistesgeschichte“, „Pro­ blemgeschichte“ oder „Ereignisgeschichte“ [361]. Im Gegensatz zu diesen Formen vermag nämlich nur die Diskursanalyse z. B. dem Denken Hegels gerecht zu werden. Gerade am Beispiel Hegels könne gezeigt werden, so Braun, welche Differenz be­ steht zwischen „Geistesgeschichte“, welche die Positionen nicht als Totalitäten in den Blick nehmen kann, die also vom Auftau­ chen der Evidenzen nicht Rechenschaft zu geben vermag, und der Diskursanalyse, die es kann. Die Geistesgeschichte könne lediglich „Schlüsselbegriffe“ herausgreifen und Behauptungen treffen, denen sich ebenso „gegenteilige Behauptungen“ (von prinzipieller Dignität) entgegensetzen ließen. Sollte auf ihrem Standpunkt z. B. Kant mit Hegel verglichen werden, dann könnte einerseits behauptet werden, in Hegels Geistbegriff ha­ be sich die Kantische Entdeckung überliefert, daß man sich der Philosophiegeschichte „von innen her versichern“ könne. Ande­ rerseits lasse sich aber ebenso gut zeigen, daß Hegel gegen Kant stehe, weil jener „mit der Vorstellung einer Philosophie­ geschichte bricht, die sich“, wie die Kantische, „ausgehend von Möglichkeiten des Bewußtseins definiert“ [360]. Anders die Diskursanalyse: Sie zersplittert sich nicht in Gegensatzbehaup­ tungen kontradiktorischer Art, sondern nimmt Philosophien als jeweilige „Ganze in formaler Rücksicht“. So geht sie z.B. davon aus, daß sich „die Neuheit Hegels [...] nur unzureichend durch die verschiedenen Themen bezeichnet“ finde, „die seit dem Er­ scheinen der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie durch die Schüler und Nachfolger Hegels populär wurden; sie ergibt sich eher durch das, was alle diese Elemente zusammen­ hält und ihnen Sinn und Einheit gibt“ [361]. So steht - in und mit alledem - am Ende einer langen „Ge­ schichte der Philosophiegeschichte“ eine „Vernunft“, die keine „triumphierende“ sein soll, welche im Blick auf die Geschichte 100 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

„die Deduktion, die Evidenzen, die Kategorien und die Örter bewirkte“. Sondern eine „kämpferische Vernunft“, die sich der Aufgabe verschreibt, mit Hilfe des Verstandes immer wieder neu den Sinnverlust abzuwehren, der auch die „jahrhundertealte Geste der Philosophiegeschichte“ ständig bedroht - eine Ver­ nunft, die nur „eine bestimmte Verständlichkeit“ zu erreichen strebt [vgl. 362f.]. Denn sie weiß, daß in der Philosophie ein voll­ kommenes „Sich-Selbst-Gegenwärtigsein“ des Geistes „unmög­ lich“ ist [vgl. 390].

2.2 Einwände gegen die Programmatik Lucien Brauns „Geschichte der Philosophiegeschichte“ zeich­ net sich durch ein hohes Maß an begrifflicher Differenziertheit aus. Konzeptuell lassen sich unterscheiden: Vergangenheit und Geschichte; Geschichte als ontischer Verlauf und als Bewußt­ seinsphänomen; Gegenwart und Tradition; vorbegriffliche und begriffliche Dimension von Philosophie und Philosophiege­ schichtsschreibung. Zugleich wird mit unterschiedlichen topi­ schen Interessen von Philosophiehistorikern gerechnet und wer­ den zukunftsweisend Verfahren und Aufgaben spezifiziert, welche die Philosophiegeschichtsschreibung als „empirisches“ Unternehmen zu übernehmen hat. Das Konzept ist indes keineswegs unproblematisch. Denn die Empirie wurde auf eine Vernunftontologie, auf einen spekulati­ ven „Begriff der Philosophiegeschichte“ gegründet, mit dem sich die Annahme verbindet, daß es Geschichte als „qualifizierte Wirklichkeit“ oder, einfacher, „daß es Ordnung gibt“, wie Foucault einmal formulierte31. Braun hat den konzeptuellen Hintergrund der Diskursanalyse im vorliegenden Werk nicht nä­ her reflektiert, vor allem nicht unter der Fragestellung, wie zu beweisen wäre, daß es sich beim „Begriff der Philosophiege­ schichte“ und den mit ihm zusammenhängenden vorrationalen Prinzipien nicht lediglich um subjektive und zumal recht willkür­ liche Annahmen handelt, die problemlos durch andere abgelöst werden könnten, wenn es darum gehen soll, Geschichte wider­ spruchsfrei (als System) und mit praktischem Sinn zu entwerfen.31

31 Michel Foucault, Les mots et les choses (1966), dt. Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 1974, 23.

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Zwar sind der Darstellung besondere „theoretische Überlegun­ gen“ angegliedert, Überlegungen also, die die theoretische Ar­ beit betreffen, in deren Zusammenhang dann Fragen aufgewor­ fen werden, wie: „Warum die Veränderungen auf diesem Niveau definieren? Warum sie nicht genauer oder [...] sehr viel umfas­ sender beschreiben?“ [362], d.h„ warum beim (logisch) Beson­ deren (den „Örtern“) stehenbleiben und nicht zum (logisch) Einzelnen (zum Detail) weitergehen. Doch die Antworten zei­ gen nur die Vorzüge auf, welche die neue Form, Philosophiege­ schichte zu betreiben, anderen Weisen gegenüber besitzt - Wei­ sen, die man aus der Erfahrung nur unter der Voraussetzung kennen kann, daß man den angemessenen „Begriff der Philoso­ phiegeschichte“ hat, aus dem sie, wie bei Hermann Lübbe, so auch hier aller Erfahrung voraus abgeleitet werden. Dieses Ver­ fahren der Auseinandersetzung mit konstruierten Positionen der Philosophiegeschichtsschreibung ist noch einmal etwas deutli­ cher zu skizzieren. a) Zirkularität Strukturell ähnlich wie Lübbe grenzt auch Braun die von ihm angezielte theoretische Arbeit von zwei einander extrem entge­ gengesetzten Positionen der Philosophiegeschichtsschreibung ab, die bei ihm allerdings, anders als bei Lübbe, ebensowohl ein­ mal geschichtliche Dispositionen gewesen sind, wie sie in der „neuen Untersuchung“ reaktualisiert werden können. Die neue Form der „Untersuchung“ steht in der Mitte zwischen „rein em­ pirische^] Forschung“ (Praxis) und deduktivem Geschichts­ denken (Disziplin) und gilt aufgrund dieser Positionierung als „angemessen“ [362]. Was aber macht diese Mitte eigentlich an­ gemessen? „Was aber“, so fragt Braun selbst, „sind die Gründe dieser Angemessenheit? Sicherlich müßte man letztlich erklä­ ren, warum alle großen Philosophien nicht zu einer solchen Er­ Öffnung in Richtung auf das Vergangene geführt haben“ [362]. Diese Erklärung hat Braun freilich mit seiner Darstellung des Verlaufs der ganzen Geschichte als einem irreversiblen Prozeß notwendig aufeinander aufbauender Positionen der Philosophie­ geschichtsschreibung gegeben. Diese Darstellung zeigt, daß sich die in der Mitte zwischen Extremen ansiedelnde kämpferische „Vernunft, welche wir in die Prüfung der Geschichte der Philo102 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

Sophiegeschichtsschreibung einzuführen versuchen“ [362], nicht dem „Zufall“ verdankt [vgl. 363], sondern eine Konsequenz der Geschichte der Philosophiegeschichtsschreibung ist. Freilich: Eine solche Konsequenz ist sie, kritisch gesehen, nur unter der Bedingung, daß wir die Geschichte der Philosophiegeschichte so abfassen, wie Braun sie abfaßt und nicht anders. Und entspre­ chend wird man die neue Form der Untersuchung auch nur dann als angemessen ansehen können, wenn man den „Begriff der Philosophiegeschichte“ für angemessen hält, nach dem die Ge­ schichte abgefaßt wird. Warum aber dieser Begriff angemessen ist, darauf läßt sich freilich innerhalb der Braunschen Theorie (i. w. S.) keine Antwort geben, da er in ihrem Rahmen immer nur mit Konzepten verglichen werden kann, die aus ihm abgeleitet sind. Tatsächlich stehen ja nie Philosophiegeschichtsauffassun­ gen zur Debatte, wie sie andere zur früheren Zeitpunkten in Texten formuliert haben, nie Praktiken, wie sie wirklich prakti­ ziert worden sind. Hieße doch, sich darauf einzulassen, Texte bloß dem „Buchstaben“ nach aufzunehmen. Zur Debatte stehen Praktiken und Konzepte, wie sie andere zu früheren Zeitpunk­ ten nach Maßgabe des zugrundegelegten Begriffs haben prakti­ zieren bzw. vertreten müssen. So sind „wir“ in der Tat „gewisser­ maßen in einem Zirkel gefangen“ [374] - in einem leeren Zirkel, den Braun allerdings als produktiv angesehen hat. Er hat die Zirkularität seiner Position reflektiert, aber nur auf der Ebene der theoretischen Arbeit (des Verstandes): Hier bezieht sich der Ausdruck „Zirkel“ auf den eigentümlichen Umstand, daß „uns“ einerseits die „relevanten Elemente“, die „verschiedenen Evi­ denzen“ und „die verschiedenen Örter“ der Geschichte, nur „[...] durch die Geschichte selbst bekannt“ sind [361], während „wir“ andererseits „diese Regularitäten“ und das erst ,festzustellen‘ suchen, „was wir eine Evidenz nennen“ [374]. Sind uns aber wirklich, so wäre nachzufragen, die „relevanten Elemente“, die „verschiedenen Evidenzen“ und „die verschiedenen Örter“, durch die Geschichte selbst bekannt? Sind sie uns nicht vielmehr nur unter der Bedingung bekannt, daß wir die Geschichte im Vorfeld einfach so definieren, wie Braun sie definiert, und nicht anders? Was garantiert eigentlich, daß sich die diskursanalyti­ sche „Prüfung der Geschichte der Philosophiegeschichte“ nicht lediglich darin erschöpft, aus einem bestimmten Corpus von Texten nur herauszuholen, was gemäß einem bestimmten „Be­ 103 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

griff der Philosophiegeschichte“ in dieses Corpus hineingedacht worden ist? Wie ließe sich der Zweifel ausräumen, der Ausdruck „Diskursanalyse“ könnte noch einen anderen als nur diesen lee­ ren Sinn von „analytisch“ besitzen, und wie der Zweifel, daß in die „Prüfung der Geschichte der Philosophiegeschichte“ eine diskursanalytisch-kämpferische Vernunft nur unter der Bedin­ gung einer „triumphierenden Vernunft“ eingeführt worden ist, die auf der Ebene der Braunschen Geschichtsdarstellung „die Evidenzen, die Kategorien und die Örter“, mit denen sich die erstere abmühen soll, erst einmal „bewirkt“ oder, besser, erfin­ det? Diese Frage drängt sich um so mehr auf, je mehr man erkennt, wovon Brauns „Geschichte“ letztlich ,erzählt‘: Sie berichtet von einem höheren intelligenten Wesen und dessen Aktivitäten, von einer philosophiehistorischen „Praxis“, die etwas ,beschreibt‘, ,bedenkt‘, ,entwirft‘ oder sich gegen etwas ,wendet‘ [vgl. z. B. 96]; von ihrer vorbewußten „Entwicklung“ und davon, daß in dieser Entwicklung darauf abgezielt war, daß sich die Pra­ xis einmal ihrer selbst bewußt wird. Zugleich wird aufgezeigt, daß diese Entwicklung ein normativer Fortschrittsprozeß gewe­ sen ist und es noch immer darauf ankommt, auf frühere Stand­ punkte der Entwicklung nicht ,zurückzufallen‘ [vgl. 374]. Formu­ lierungen, in denen von der ,Rückfall‘-Möglichkeit gesprochen wird, zeigen an, daß Braun die „verschiedenen historiographischen Praktiken“ an einem „idealen Modell“ von Philosophiege­ schichtsschreibung bemißt [vgl. 374], auch wenn in seinem Kon­ zept die Forderung bestand, sie nicht (mehr) „an einem irgendwie angenommenen idealen Modell zu messen“ [ebda]. Das Gewicht in dieser Formulierung liegt nur auf dem „irgend­ wie“. Denn ein nur „irgendwie“ (willkürlich) angenommenes Modell ist irgendwie unangemessen. Um nichts weniger schwe­ ben auch Braun bestimmte Rationalitätsstandards und Ideal­ normen32 vor. Und was als vernünftig gilt, ist eine philosophie32 Diese Unterscheidung orientiert sich an einem Einteilungsvorschlag Herbert Schnädelbachs. Schnädelbach unterscheidet zwischen Handlungs- und Gegen­ standsnormen. Im Umkreis von Gegenstandsnormen lassen sich vor allem Normalnor­ men von Standards und Idealnormen unterscheiden: „Gegenstandsnormen können feststellen, was das Normale ist. [...] Gegenstandsnormen können aber auch festlegen, welche Merkmale jemand oder etwas aufweisen muß, um bestimmten Anforderungen zu genügen. [...] Normen, die Anforderungen definieren, sollte manNormierungsnor-

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historiographische Praxis, die um „die Bedingungen der unter­ schiedlichen Möglichkeiten“ ihrer selbst weiß [vgl. 362], die also diese in ihrem Wesen gegründeten Bestimmungsmomente nun ausdrücklich ergreift (was darüber hinaus auch so etwas wie Heil mit sich zu bringen scheint, wie in der z. T. religiösen Sprachgebung Brauns zum Ausdruck kommt). b) Problematischer Umgang mit Texten Es bleibt die Frage, wie sich nachweisen läßt, daß es solche Ver­ nunft in der Geschichte und damit auch Philosophiegeschichte als eine „qualifizierte Wirklichkeit“ gibt. Dieser Nachweis läßt sich nicht aus Begriffen und nicht im Zusammenhang einer von Begriffen abhängigen Empirie erbringen. Es ist unausweichlich, auf unabhängige Beweismittel zurückzugreifen - z. B. auf Text­ interpretationen, in denen das Gesagte im Vordergrund steht. Solche Interpretationen sind nun aber bei Braun ausdrücklich nicht mehr zugelassen. Tatsächlich nämlich tritt die Diskurs­ theorie vor allem einer „stückweisen Lektüre“ von Texten ent­ gegen, in der man sich an das hält, was „buchstäblich“ in Texten steht. So ist denn auch der angesprochene „Zirkel“ in der neuen Empirie für Braun der „Preis“, der „zu zahlen“ ist, „wenn wir nicht dahin zurückfallen wollen“, von den Texten „nacheinander einzeln zu handeln“ [374] (sei es im Sinne der Meinungsge­ schichte, der Doxographie, oder einer Chronik). Dieser Rückfall brächte es immerhin mit sich, daß heute etwa 1200 Philosophie­ geschichtswerke im einzelnen abzuhandeln wären. Das größte Problem, das eine so umfangreiche „stückweise Lektüre“ auf­ werfen würde, besteht nach Braun indes nur darin, daß man das mittlerweile erreichte Wissen preisgeben würde, daß selbst eine solche Lektüre nur „im Namen einer Evidenz möglich“ ist, im gegebenen Fall einer Evidenz, die „uns“ im reinen „Faktum den sicheren und unwiderleglichen Boden unseres Vorgehens zu men oder Standards nennen. - Eine dritte Klasse von Gegenstandsnormen wird zur Festlegung dessen benutzt, was jemand oder etwas im Idealfall ist: ein idealer Ehe­ mann; ein richtig gebratenes Roastbeaf; eine gelungene Tristanaufführung; die frei­ heitliche Demokratie; das Glück. Normen, die uns Urbilder oder Vorbilder vor Augen stellen, kann man als Idealnormen bezeichnen.“ Vgl. Herbert Schnädelbach, Über Rationalität und Begründung, in: Ders., Zur Rehabilitierung des animal rationale, a. a.O., 61-103; 84.

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besitzen glauben macht“ [374]. Dies ist die zentrale Perspektive auf die stückweise Lektüre. Andere Probleme ergeben sich für Braun in diesem Zusammenhang nicht. Deshalb bleibt vieles unthematisiert, was das Thema „Histo­ rie“ und den von Braun selbst praktizierten Umgang mit Texten betrifft. So bleibt z. B. offen, was an einer Behandlung „aller Ge­ schichtswerke“ im Nacheinander und im einzelnen eigentlich das Historische sein würde. Eine eigenständige Bestimmung von Historie ist in der Diskurstheorie ebensowenig möglich wie im Lübbeschen Konzept - und ebensowenig nötig. Denn Philo­ sophiehistorie ist, so die Auffassung, immer dann gegeben, wenn man nicht nur denkt, sondern Texte anderer, insbesondere vor­ ausgegangener Denker liest, da die Bezugnahme auf Texte un­ mittelbar schon als eine Bezugnahme auf Geschichte anzusehen ist. Was aber Brauns Umgang mit Texten angeht, so erfährt der Leser z.B. nicht, wie die Zahl von 1200 Geschichtswerken ei­ gentlich zustandekommt, die heute zu bewältigen wären, oder wie sie am Ende gar bewältigt worden sind, wenn es der Fall sein soll, daß „uns“ die „relevanten Elemente“ in der Geschichte „durch die Geschichte selbst“, und d. h. doch wohl: auf dem Wege der Textlektüre, „bekannt“ werden. Nun hat Braun im Literaturverzeichnis allerdings nur „alle wichtigen Arbeiten zur Philosophiegeschichte“, „die uns über die Entwicklung der Dis­ ziplin Auskunft geben können“ [3], verzeichnet (und dann auch nur solche „seit der Erfindung des Buchdrucks bis zu Hegel“) [391]. Er hat also eine bestimmte Auswahl unter den Texten ge­ troffen, ohne jedoch die Kriterien zu nennen, nach denen sich die „Wichtigkeit“ einiger Texte und die Irrelevanz anderer Texte bestimmt. Anzunehmen ist, daß die komplexe Rahmenlegende für die Selektion, aber auch für die Interpretation der für relevant gehaltenen Texte verantwortlich ist. Wenn dies aber der Fall sein sollte, dann erweckt die ganze Konzeption noch einmal Zweifel, in die „Prüfung der Philosophiegeschichte“ sei eine kämpferische und nicht (noch einmal) jene Vernunft einge­ führt worden, welche „die Deduktion, die Evidenzen, die Kate­ gorien und die Örter“ selbst „bewirkt“ und (anstatt auf „Korres­ pondenz“ mit der Geschichte) nur auf „Übereinstimmung mit sich selbst“ zielt, was den „globalen Überflug“ und letztlich „[...] phantastische, niemals widerlegbare Lektüren“ - oder ein­ facher: bloß gut erfundene Geschichten - zur Folge hat. 106 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

c) Ordnungsprobleme Daß die von Braun in die Philosophiegeschichtsschreibung ein­ geführte Vernunft hauptsächlich auf „Übereinstimmung mit sich selbst“ zielt, unangesehen der Texte, mit denen sie es zu tun be­ kommt, deutet sich im Verlauf der Darstellung mehrfach an. Über weite Strecken entfaltet sich Brauns „Geschichte“ näm­ lich nur als die Suche nach einer ,werdenden‘ (sich entwickeln­ den) „Subjekt“-Vernunft [68], die sich allerdings recht schwierig gestaltet. Denn es kann z. B. geschehen, daß sie an Stellen ge­ sucht wird (ohne daß man sie findet), wo es problematisch ist, sie überhaupt ins Spiel zu bringen, wenn man den Texten in der Interpretation ein Vetorecht einräumt, nämlich bei Descartes. Möglich ist auch, daß man sie findet, wo man sie, hielte man sich wiederum lediglich an die Texte, gar nicht finden könnte, näm­ lich bei Kant. Dabei ist nun freilich im Auge zu behalten, daß Text-Interpretationen dem ,Buchstaben‘ nach zunächst nicht ge­ gen Braun ins Feld geführt werden können, der ausdrücklich darauf hingewiesen hat, Texte „nicht allein in ihrer Buchstäb­ lichkeit“ aufgenommen zu haben, sondern vor allem mit Bezug auf das, „was keiner von ihnen ausdrücklich sagt“ [vgl. 1]. Und doch können sie als Einwand gelten, insofern es nämlich bei Braun auch jenen eigentümlichen Fall gibt, daß sich in Texten, dem Buchstaben nach, eine schon in hohem Maße entwickelte Subjekt-Vernunft finden läßt, wo man sie aber, dem „Begriff der Philosophiegeschichte“ zufolge, noch gar finden dürfte, nämlich bei Aristoteles. Diese drei Beispiele seien kurz exemplifiziert: Die Einordnung des thematisch relevanten ersten Buchs der Aristotelischen Metaphysik33 muß im vorgeschlagenen An­ 33 Aristoteles’ Auffassung von Philosophie ist der Braunschen affin: Philosophie hat Sinn und Zweck in sich selbst. Nach Aristoteles’ Erstem Buch der Metaphysik ist Philosophie die einzige „freie unter den Wissenschaften“ [982 b], denn sie ist um ihrer selbst und nicht um eines anderen willen da. Sogar die „Gottheit“ müßte im Hinblick auf diese Wissenschaft die Menschen beneiden, hätten die Dichter recht und könnte also überhaupt angenommen werden, daß die Gottheit „neidischer Natur“ wäre. Denn als Wissen um die letzten Gründe des Seienden als solchen beendet das Philosophie­ ren auf grundsätzliche Weise das am Anfang allen menschlichen Wissens stehende Staunen. „Philosophiert“ man also, „um der Unwissenheit zu entgehen, so ist klar, daß man um des Wissens willen dem Verständnis nachgejagt hat und nicht zu irgend­ einem gemeinen Bedarf. Auch der Gang der Dinge legt Zeugnis hierfür ab [...]“ [982 b]. Daß man „wissenschaftliche Einsicht solcher Art“ erst dann zu suchen begonnen hat, als „alles Notwendige und zu erhöhtem Lebensgenuß Dienliche vorhanden war“

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satz Probleme bereiten, wenn gelten soll, daß sich die Philoso­ phiegeschichtsschreibung anfänglich nur als „Praxis“ konsti­ tuierte. Denn bei Aristoteles findet sich bekanntlich schon ein Ansatz dazu, Vorgängerkonzeptionen prinzipienorientiert einzuordnen34. Daher muß die Aristotelische Philosophie ei­ gentümlich ortlos erscheinen. Und in der Tat, aus „retrospekti­ ver Sicht“, und d. h. bei Braun: aus der Kenntnis der weiteren „Entwicklung“ heraus, erscheint die Aristotelische Philoso­ phie denn auch als ein „Zufall“ - als der Zufall einer „große[n] Philosophie, die in eminenter Weise in der Lage ist, ihren genau­ en Bezug zu anderen Philosophien zu beschreiben, und die den­ noch die historiographische Praxis nicht dazu führt, die Schwelle der Wissenschaftlichkeit und der Disziplin zu überschreiten. [...] Man muß bis zur Neuzeit warten, um die Vorstellungen des Stagiriten wiederaufgenommen zu sehen“ [20], im Grunde bis zu Hegel, auch wenn dieser sich gar „ungerecht gegen seinen illustren Vorgänger“ zeigte [ebda]. Soll das Auftauchen der Aristo­ telischen

Philosophie in der Epoche naiver Praxis erklärbar

sein, so muß Braun von dem bekannten geschichtsphilosophi­ schen Theorem der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem Ge­ brauch machen. Nun kann es, etwas kritischer betrachtet, frei­ lich nicht der Aristotelischen Philosophie selbst angelastet werden, zu einem Zeitpunkt entstanden zu sein, wo sie einem späterem Philosophiegeschichtskonzept zufolge nicht hätte ent­ stehen dürfen. Nicht sie selbst ist ein „Zufall“. Ein „Zufall“ ist sie nur unter der Bedingung, daß man die Geschichte so entwirft

[982 b], und daß es sich also um keine „Wissenschaft des Tuns“ handelt [982 a], dies beweisen auch die „ersten Anfänge des Philosophierens“. 34 Philosophische Konzepte werden von Aristoteles danach eingeteilt, welche Prin­ zipien des Seienden bereits gefunden worden sind: Alle Philosophen haben nach die­ sen Prinzipien geforscht. Denn zu wissen, heißt, „den letzten Grund“ von etwas zu kennen [983a]. Der letzten Gründe aber gibt es vier: Formalursache (Begriff, Wesen), Materialursache (das Substrat), Wirkursache (bewegende Ursache) und Finalursache („Zweckursache“, „das Gute, welches das Ziel aller Erzeugung und Bewegung ist“) [983 a]. „Alle Philosophen haben nach in den physischen Büchern aufgestellten Prin­ zipien geforscht, und daß außer den angegebenen kein neues mehr aufgebracht wer­ den kann, ist aus dem eben Gesagten klar. Doch haben diese Philosophen nur dunkel davon geredet, und man kann ebensogut sagen, es sei keines dieser Prinzipien vorher dagewesen, als, sie seien sämtlich aufgestellt worden“ [993 a]. Die Aristotelische Philosophie thematisiert als Metaphysik also ihrem Anspruch nach auf explizite Weise jene Totalität der Seinsprinzipien, nach denen im Kontext verschiedener Philosophien dunkel geforscht worden ist.

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wie Braun und eine „große Philosophie“35 von daher bewertet, daß sie „in eminenter Weise in der Lage“ ist, „ihren genauen Bezug zu anderen Philosophien zu beschreiben“. So gesehen ist nun die Philosophie des Descartes freilich kei­ ne große Philosophie. Zwar werden die Cartesianer, „ungeach­ tet“ ihrer „Weigerung [...], das von der Tradition überlieferte Wissen in Betracht zu ziehen“, von Braun mit Verständnis be­ handelt. Hat doch deren Denken die historische Forschung indi­ rekt und in verschiedener Hinsicht folgenreich berührt [66]. Gleichwohl wird Descartes selbst unter der Perspektive beur­ teilt, daß noch der „ganze Bereich von Behauptungen“ außer Acht bleibe, „die sich auf das Subjekt und sein Werden bezie­ hen“ [68]. Erst später, in der epochalen Disposition der „Disziplin“, in deren Rahmen die Philosophiegeschichte „nach Regelgesetzen ihre eigene Theorie produziert“ [228], konstituiert sich das wer­ dende Subjekt, die geschichtliche Vernunft, in gesteigertem Be­ wußtsein seiner selbst, z.B. bei Kant. Kants Philosophiege­ schichtsphilosophie ist gleichsam schon ein entwickelteres Abbild der Braunschen Theorie. Hier eben werde „Vernunft“ zum „Subjekt der Geschichte“ [232]. „Vernunft und Geschichte“ treten „in einen bislang ungeahnten Dialog miteinander“ ein [228]. Dabei ist, wie für Hermann Lübbe, auch für Braun Kants Philosophiegeschichtsphilosophie eine Vorform Hegel­ scher Phänomenologie: Denn nun wird die Philosophiege­ schichte „ausgehend von Möglichkeiten des Bewußtseins“ defi­ niert [360]. Aus Vernunft heraus wird bei Kant nun festgelegt, was die Philosophiegeschichtsschreibung „jemals wird umfassen können“, wobei die Philosophiegeschichtsschreibung nun „ge­ meinsam mit der kritischen Philosophie zu einem echten Teil des Systems werden und von der Anerkennung dieses Systems die Erlaubnis zu einer erschöpfenden und apriorischen Deduk­ tion möglicher Philosophien herleiten“ wird [224]36. Zugleich ge­ winnt die Vernunft in dem Maß, in dem sie „der Geschichte eine 35 In dieser Bewertung trifft sich Lucien Braun mit der in der Einleitung angespro­ chenen Habermasschen Hochschätzung des Aristoteles. 36 Auch diese KANT-Interpretation, in der angenommen wird, „kritische Philosophie“ und philosophische Philosophiegeschichte seien zwei Teile eines Gesamt-„Systems“, ist bedingt durch die Braunsche Grundannahme einer Parallelität zwischen den zwei auf Vereinigung angelegten Ordnungen systematischen (philosophischen) und histo­

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bisher ungeahnte Vernünftigkeit zuschreibt, in der Geschichte selbst, zu deren Lektüre sie beiträgt, einen zusätzlichen Grund zum Glauben an sich selbst“ [228]. Dabei werde im Rahmen des Ganzen der Geschichte der Philosophiegeschichte zum ersten­ mal die „Idee“ eines realen Fortschritts durch Selbsterkenntnis der Vernunft ausgesprochen: „Das Subjekt der Geschichte, in­ dem es sich selbst erkennt“, verändere eben dadurch diese Ge­ schichte [232]. Mit dieser Idee korrigiere Kant die bisherige „Idee des Fortschritts [...] in einem wichtigen Punkt. Sie verwandelt das Fortschreiten in eine Entwicklung, d.h. sie gibt dieser Abfolge eine neue Stütze, ein Subjekt - die Vernunft -, das sowohl für die einzelnen Formen wie für ihre Aufeinanderfolge verantwortlich ist, indem diese Vernunft fortschreitend all ihre virtuellen Möglichkeiten auseinander­ faltet. Die Romantiker werden diesen Begriff aufgreifen und verwen­ den, den Kant nicht mehr näher hatte bestimmen können: der allge­ genwärtige transzendentale Gesichtspunkt hinderte ihn daran. Seine in Richtung auf eine mehr metaphysische Definition des Werdegangs der Vernunft unternommenen Versuche wurden immer wieder durch diese wesentliche Disposition gebremst“ [234].

So wird es Kant bei Braun letztlich zum Vorwurf, noch kein spekulativer Geschichtsmetaphysiker gewesen zu sein, als der er sich bei Lübbe allerdings schon darstellte. Braun ,produziert“ mit Blick auf Kant eben auf veränderte Weise „Sinn“ [1]. d) Historie der Philosophie: bloß „stückweise Lektüre“ von Texten? Nun könnte das Resultat dieser Sinnproduktion eine zwar gut erfundene, aber wenig triftige KANT-Geschichte sein. Und die­ ser Frage nachzugehen, läßt die Diskursanalyse nun allerdings selbst zu. Sie kann nicht verhindern, daß man von den Werken noch einmal „nacheinander einzeln“ handelt und sie dabei so liest, daß die ihnen eigene Sinn-, aber auch Argumentations­ dimension berücksichtigt wird. Freilich handelte es sich dabei nur um eine aggregative, eine „stückweise“, d. h. im strengen Sinne unsystematische Lektüre. Und diese wäre ein problemati­ sches Unterfangen, würde in ihrem Zusammenhang die Forde­ rischen Denkens, die für eine Theorie geschichtlicher Vernunft überhaupt als charak­ teristisch gelten kann.

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rung bestehen, daß man jeweils eine Gesamtheit von Texten zu bewältigen hätte, würde also der Anspruch auf Vollständigkeit bestehen. Einen solchen Anspruch aber kann es nicht geben, jedenfalls nicht für diejenigen Lebewesen, die in dieser Welt er­ fahrungsgemäß Philosophie und Philosophiegeschichtsschrei­ bung betreiben, die Menschen. Für diese Wesen steht nie eine präzise umgrenzbare Gesamtheit von Texten zur Disposition: weder alle Texte, die überhaupt gelesen werden könnten, noch alle Texte, die sich einem begrifflich eindeutig bestimmbaren Sachgebiet zuordnen ließen, noch nur solche Texte, die unter allen Umständen die bedeutsamsten wären, denn die Begriffe, die sowohl eine solche Zuordnung vorzunehmen als auch eine solche Auswahl zu treffen erlaubten, sind, wie sich im Verhältnis von Lübbe und Braun bereits gezeigt hat, selbst keineswegs eindeutig. Zur Disposition stehen nur Texte, die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt entstanden sind und mit denen man bis zu einem bestimmten Zeitpunkt (zufällig) bekannt geworden ist, und zwar im Zusammenhang von - historischen oder philosophi­ schen - Projekten, die bestimmen, was vom Gelesenen wichtig ist und was nicht. Es kann geradezu als ein Kennzeichen dafür betrachtet werden, daß es jemand überhaupt verstanden hat, „einen Gegenstand zu organisieren, wenn er weiß, was er aus­ scheiden muß, und wenn er sich zutraut zu behaupten, daß einige Dinge wichtiger sind als andere“37. Welchen Sinn und Zweck also könnte wohl eine unter dem Anspruch der Vollständigkeit stehende „stückweise Lektüre“ haben, in deren Zusammenhang man einen Gegenstand überhaupt nicht zu organisieren wüßte? Nun trägt Lucien Braun selbst in seiner Geschichtsdarstellung freilich dem Sachverhalt Rechnung, daß jede Darstellung etwas auslassen muß. Denn sie bezieht sich nur auf „alle wichtigen Ar­ beiten zur Philosophiegeschichte“. Aber angenommen, es wäre der Fall, daß man zwischen einer aggregativen Lektüre und einer systematischen „Geschichte der Philosophiegeschichte“ wählen müßte, so würde man sich für die letztere wohl kaum entschei­ den. Denn in ihr wird ausgeblendet, daß es Menschen sind, die Philosophiegeschichte betreiben. Geschichte aber, die von Men­ schen betrieben wird, wird unter (kontingenten) Bedingungen

37 Arthur C. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, a. a. O., 214ff.

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der eben bezeichneten Art betrieben. Es sind Bedingungen, die es niemals zulassen zu sagen, man habe Geschichte begriffen.

3. Philosophie als Bemühen um begründete Orientierungen (Jürgen Mittelstraß) 3.1 Die Programmatik Daß sich Geschichte zumindest nicht auf dem Weg einer „geschichtsphilosophische[n] Konstruktion“ begreifen läßt, die, wie z.B. diejenige Brauns, gewissermaßen nur „dogmatisch ent­ scheidet, wie es ist“, darauf hat Jürgen Mittelstrass aufmerk­ sam gemacht38. Auch er versuchte, eine Antwort auf die Frage zu geben, welches Interesse die Philosophie an „ihrer“ Geschichte wohl haben könnte - nun allerdings auch haben sollte -, wenn man das „Ausmaß“ bedenkt, in dem sie, als akademisierte, heute „historische Forschung“ ist. Die Sicht auf die Universitätsphilo­ sophie ist jedoch kritischer als bei Hermann Lübbe und Lucien Braun, läßt doch das „Ausmaß“ an „historischer Forschung“ für Mittelstrass ein „Übermaß an historischer Bildung vermu­ ten“: „Wohl kaum eine andere Disziplin befaßt sich so nachdrücklich mit ihrer eigenen Geschichte wie die Philosophie; und selbst dort, wo philo­ sophische Titel ein systematisches Lehrstück vermuten lassen, verbirgt sich dahinter nichts anderes als eine historische Analyse“ [3].

Diese Situation der Philosophie wird als Effekt ihrer „Eingliede­ rung“ in die „Geisteswissenschaften“ beschrieben, die ihr „pri­ mär historisches und textorientiertes Selbstverständnis auf die philosophische Forschung übertragen und damit gleichzeitig die Ausbildung eines Lehrbuchwissens nach Art anderer Wissen­ schaften behindert“ haben [3]. Mittelstrass erkennt hier ein Nachwirken der „idealistischen These“, genauer: der Hegelschen These, Philosophie sei „,System in der Entwicklung4 [...] und somit ,das Studium der Geschichte der Philosophie Studium der Philosophie selbst4“ [3]. Demgegenüber wird Kant (vor al­ lem dem Kant der Kritik der reinen Vernunft und der Prolegomena) das Verdienst zuerkannt, darauf hingewiesen zu haben, 38 Jürgen Mittelstrass, Das Interesse der Philosophie an ihrer Geschichte, a.a.O., vgl. 13.

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daß aus den Quellen der Vernunft „nicht nur historisches Was­ ser“ fließe [4]. Auch wenn Kant selbst diese „Quellen [...] für allzu rein“ gehalten habe [ebda], so sei mit ihm daran festzuhal­ ten, daß sich das Interesse der „Philosophie an ihrer Geschichte“ als ein „systematisch geführt[es]“ oder, kürzer, als ein philoso­ phisches ausweisen lassen können müsse, „wenn die Philosophie „nicht den Verdacht, bloß [noch] auf historische Bildung aus zu sein, auf sich ziehen will“ [ebda; Z.v. V.]39. Auf „rein historische Bildung“ [8] aus zu sein, heißt, sich auf eine Kenntnis des „faktischen Verlaufs“ der Geschichte („Ent­ wicklung“) zu beschränken. Diese Kenntnis, die unter dem An­ spruch steht, „Vollständigkeit aller für diesen Verlauf relevanten Gesichtspunkte“ sowie „Gerechtigkeit gegenüber den dabei her­ angezogenen Positionen in allen Stücken“ erreichen zu müssen [vgl. 5], bezieht sich nach Mittelstrass auf eine ,Geschichte‘, die als „Traditions-“ oder „Wirkungszusammenhang“ verstan­ den ist [ebda], dem man sich unentrinnbar zugehörig glaubt [vgl. 11] und den man in „historischer Forschung“ (als der „Ana­ lyse“ der „faktischen Entwicklung[]“ [vgl. 8]) nur reproduziert. Wie Lübbe nimmt auch Mittelstrass an, daß philosophische Texte in diesem Zusammenhang wie „literarische Texte (als Exempel ästhetischer Rede)“ [5] behandelt, philosophische Be­ hauptungen nur als „Meinungen“ rezipiert werden. Dabei weiß der Interpret nie mehr, als die Texte wissen, insofern er deren 39 Die bei Mittelstrass zentrale „Unterscheidung historisch/systematisch bzw. histo­ rische Bildung/systematische Bildung ist selbst eine systematische Unterscheidung“: Unter „historischer Bildung“ versteht Mittelstrass - in der Diskussion seines Bei­ trags Das Interesse der Philosophie an ihrer Geschichte (Studia Philosophica, a. a. O., 37-51) - das „Wissen“ um (geschichtliche) „Entwicklungen“ (eine Bestimmung, die sich an ein überkommenes Verständnis von Historia als einer „an Augenzeugenbe­ richte geknüpften Kenntnis“ anlehnt); unter „systematischer Bildung ein Wissen mit Gründen“, das sich dynamisch zu einem ,Begründungszusammenhang‘ zu entfalten sucht [37], zu einer „Wissenschaft“, die zugleich den praktischen Sinn eines „Bemü­ hens um rationale Orientierungen“ hat. Dabei kann „ein Wissen mit Gründen [...] selbst wiederum auf historische Entwicklungen rekurrieren, also seinerseits von histo­ rischer Bildung, in Begründungszusammenhängen, Gebrauch machen“ und somit „Teile [...] historischer Bildung zur Voraussetzung haben“; aber der „systematische Charakter der angeführten Unterscheidung“ wird ebensowenig davon „berührt“ [ebda] wie davon, daß diese Unterscheidung (als „ein Gegensatz innerhalb der philo­ sophischen Orientierung“ selbst) „Resultat einer philosophischen Entwicklung“ ist, d. h. sich geschichtlich herausgebildet hat, und „von daher (auch) eine historische“ ist [38]. Wie diese philosophische Entwicklung aussieht, wird im folgenden zu skizzieren sein.

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Wissen „lediglich in eine [...] unreflektiert bleibende [...], im vorhinein durch historische, nicht systematische Bildung gepräg­ te Sprache, übersetzt4“ [4]. In diesem Sinne stellt sich „philoso­ phische Forschung als [...] ein besonderer Fall von [...] literari­ scher Forschung“ dar [5]. Philosophie ist aber nicht eine Literatur-, sondern (nach einer Minimaldefinition) eine sich selbst reflektierende, systematisch sich selbst begreifende Wissenschaft: ein „Wissen mit Gründen“, welche dieses sich (auf dem Weg „systematischer Bildung“) selbst zur Verfügung zu stellen sucht [vgl. 14]. Daher muß sich denn auch das Interesse der „Philosophie an ihrer Geschichte“ als ein „reflektiertes historisches“, „systematisch geführt[es]“ [4] sowie „begründbares“ [5] Interesse ausweisen können. Um dem vermutungsweisen „Übermaß“ an „rein historischer Bildung“ in der gegenwärtigen Philosophie und der Gefahr verselbständigter historischer Forschung zu begegnen, zeigt Mittelstrass zunächst auf, daß es schon in der Vergangenheit ein philosophisches Interesse an Philosophiegeschichte gegeben hat - ein Verhältnis der Philosophie zu „ihrer Geschichte“, in bezug auf das sich die zwei Grundtypen eines „reinen“ und eines „historischen Bewußtseins“ unterscheiden lassen. „Reines“ und „historisches Bewußtsein“ sind zwei „erkenntnistheoretische[n] Konstruktionen]“ [9], die zugleich epochale „historische“ Gestaltungsweisen der Philosophie bezeichnen der Philosophie, zu der nach Mittelstrass wesentlich ein Bezug auf Geschichte hinzugehört. Es sind Grundtypen der Einen Phi­ losophie, die sich geschichtlich, d.h. mit der Zeit, aber nach Maßgabe einer bestimmten Entwicklungslogik nacheinander herausgebildet haben und heute, im „Resultat“ der „philosophi­ schen Entwicklung“, einen noch unversöhnten „Gegensatz innerhalb der philosophischen Orientierung“ selbst bilden40. Dabei zeigt der Ausdruck „Bewußtsein“ an, daß auch Mittel­ strass das Verhältnis der Philosophie zu „ihrer Geschichte“ nach dem idealistischen Modell sich auf sich beziehender Sub­ jektivität deutet, wobei die zwei genannten Selbstverhältniswei­ sen der Philosophie zugleich strukturell ungleichgewichtige Va­ rianten eines (später näher zu skizzierenden) „adäquaten“ [7] Grundtypus von Philosophie sind, von dem her sie sowohl unter 40 Vgl. Mittelstrass, Diskussion, 38.

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theoretischen wie praktischen Gesichtspunkten negativ bewer­ tet werden: Das „reine Bewußtsein“ (1.) zeichnet sich dadurch aus, daß man in systematischer Hinsicht aus dem Gang der Ge­ schichte nicht lernen wolle, das historische (2.) dadurch, daß man aus diesem Gang nicht lernen könne [10]. Ad 1) Im „reinen Bewußtsein“ (paradigmatisch bei Aristote­ les,

Descartes, z.T. auch Kant) wird die Subjekt-Position von

einem „Systematiker“ besetzt, der lediglich auf „systematische Bildung“ abzielt, d. h. auf das Wissen, „das die sich systematisch begreifende Philosophie zur Verfügung zu stellen sucht“ [14]. Dieser Systematiker versteht die Geschichte, die sich in dieser Disposition auf der Objekt-Seite lokalisiert, lediglich „als Vorge­ schichte“ des eigenen Denkens [5]. So spielen geschichtliche Entwicklungen hier „primär die Rolle des Hintergrundes“, vor dem sich ein systematisches Wissen „formiert“, welches sich „von bloß historischer Bildung“ (von einem rein historischen „Wissen um Entwicklungen“ im oben bezeichneten Sinne) frei­ zuhalten sucht [ebda]. Es wird die „systematische Unabhängig­ keit von zurückliegenden Entwicklungen“ und „gleichzeitig die Überlegenheit des eigenen Wissens“ behauptet [ebda]. Anstatt das eigene systematische Wissen im „Rekurs auf Geschichte“ zur Disposition zu stellen, werden „Lernprozesse“ - „dogma­ tisch“41 - als „subjektiv“-autarke Prozesse „mißverstanden“ [7]. Das Cartesische Denken gilt als ein herausragendes Beispiel für diese Position: „Bekanntlich“ habe Descartes versucht (im Discours de la methode), „die Geschichte der Entdeckung der neuzeitlichen Vernunft als Autobiographie der eigenen Ver­ nunft zu schreiben“, wobei die „aufgeklärte (u. a. von Kant wie­ derholte) These [...]“ zugrundegelegen habe, „daß die Vernunft alles allein sich selbst verdankt, mit anderen Worten: als syste­

41 Die Bezeichnung eines philosophischen Standpunkts, auf dem man sich der Ge­ schichte überhoben glaubt, als „dogmatisch“ findet sich ebenfalls schon bei Wilhelm Windelband. Windelband charakterisiert den Vertreter dieses Standpunkts wie folgt: „Ein solcher Dogmatiker verhält sich zur Geschichte der Philosophie etwa so wie der Mathematiker oder der Physiker zu der seiner Wissenschaft: überzeugt, die wahre Erkenntnis seines Gegenstandes im Prinzip errungen zu haben, betrachtet er die Arbeit seiner Vorgänger als die in den Irrtum verschlungenen Wege zu der Höhe, von der er auf sie zurücksieht. Die Geschichte der Wissenschaft ist die werdende Wahrheit: als solche wird sie begriffen, wenn die Wahrheit geworden, fertig geworden ist. So etwa hat Herbart [...] die Geschichte der Philosophie aufgefaßt: sie gehört nicht zu ihr selbst“: W. Windelband, Geschichte der Philosophie, a. a. O., 182.

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matische Bildung von jeglicher historischer Bildung unabhängig sei“ [ebda]. So werde das Denken der Vorgänger als bloße „Vor­ geschichte des eigenen Denkens“, als „Verhinderungsgeschich­ te“ oder als ein Geschehen verstanden, in dem sich nur „Vor­ übungen großer Köpfe“ aneinanderreihen, wie Mittelstrass mit dem Hegel der Differenzschrift formuliert [6].42. Ad 2) Im „historischen Bewußtsein“ treten „historische“ und „systematische Bildung“ nicht länger in einen „Gegensatz“. Stattdessen fallen sie nun unmittelbar zusammen. Es findet eine „Identifikation des philosophischen Wissens mit dem histo­ rischen Gang der philosophischen Verhältnisse“ statt [7], so daß „das Verhältnis zur Geschichte als Eintritt in die wahre Geschichte“ aufzufassen ist [9]. Das „historische Bewußtsein“ geht - so Mittelstrass, wie Lübbe und Braun - auf Hegel zurück [vgl. 8] und bestimmt die „deutsche Hermeneutik“ von Schleiermacher bis Gadamer. Hier wird das „eigene Wissen [...] als Teil einer geschichtlichen Einordnung“ aufgefaßt und „systematische Beurteilungen durch geschichtsphilosophische Einordnungen“ ersetzt. Dies sei „Historismus“ - Historismus im Sinne der „bewußten Historisierung allen Wissens, in dessen Rahmen aus der richtigen Einsicht, daß die „Praxis philosophi­ scher Rede unter historischen Bedingungen steht, die u. a. Ab­ weichungen von der Idee vernünftiger Verhältnisse erklären las­ sen, die voreilige Folgerung gezogen wird, daß systematische Orientierungen prinzipiell nicht möglich sind“ [8]. 42 Mittelstrass’ Interpretation des Discours de la Methode - hier werde „die Ge­ schichte der Entdeckung der neuzeitlichen Vernunft“ in Form einer „Autobiographie“ der eigenen Vernunftentwicklung zu schreiben gesucht, so daß „die Autonomie der Vernunft [...] als Autarkie subjektiver Lernprozesse mißverstanden“ werde, während die „Rekonstruktion der Vorgeschichte dessen, was man selbst systematisch weiß, [.] einzig und allein als Mittel besserer Selbstdarstellung“ diente [7] - ist insofern inter­ essant, als sich eine ähnliche Interpretation auch bei Jean-Francois Lyotard findet. Lyotard schreibt: Ein „so entschlossenes Denken wie das von Descartes“ vermöge die „Legitimität der Wissenschaft nur in Form dessen darzustellen, was Valery die Geschichte eines Geistes nannte, oder auch in jener Art von Bildungsroman, die der Discours de la methode ist“. Vgl. Jean-Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen, Graz/Wien 1986,91. Indes wird man, z. B. mit Herbert Schnädelbach, den vermeint­ lichen „Bildungsroman“ Discours als eine bloß „didaktische Einkleidung“ verstehen müssen, die Descartes seinem „Ideal intellektueller Autonomie gibt“: vgl. dazu Herbert Schnädelbach, ,Etwas Verstehen heißt Verstehen, wie es geworden ist, a. a. O., 146. Den Discours mit dem Thema .Geschichte’ in Verbindung zu bringen, zeugt von einer späteren philosophiegeschichtsphilosophischen Interpretation.

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Gemeinsam ist beiden Bewußtseinsgestalten, daß Geschichte der Philosophie im jeweiligen Verständnis nur als eine „Ent­ wicklung“ aufgefaßt wird, „mit deren Erzählung sich auch das historische Interesse erschöpft“ [13]. Beiden Typen von Philoso­ phie gegenüber plädiert Mittelstrass für einen dritten Typ eines „systematischen Interesses“ der Philosophie an „ihrer“ Geschichte, das sich an eine Gestalt der Philosophie bindet, die strukturell adäquat ist: Abgezielt ist auf eine Konstruktive Her­ meneutik, in der 1) sowohl die „Bereitschaft“ besteht, in syste­ matischer Hinsicht aus dem „Gang der Verhältnisse“ lernen zu wollen, als es 2) auch die Möglichkeit gibt, aus ihr lernen zu kön­ nen. Ad 1) Lernen zu wollen, bedeutet, „das eigene systematische Wissen im Hinblick auf seine mögliche Erweiterung und Verän­ derung zur Disposition“ zu stellen [11]. Diese Lernbereitschaft bindet das „systematische Denken“ an eine Hinwendung zu der ihm jeweils im Rücken liegenden „Geschichte“, weil das eigene Wissen nur an „fremdem systematischen Wissen“ zur „Disposi­ tion“ gestellt werden kann [10]. Die neue Gestalt der Philoso­ phie verbindet also mit dem „systematischen Denken“ zugleich ein Interesse an Aufarbeitung „fremden“ systematischen Wis­ sens [11]. Ad 2) Damit man lernen kann, muß dem faktischen „Gang der Geschichte“ „Vernünftigkeit“ unterstellt werden. Dies gelingt mit einem bestimmten Begriff von Philosophie bzw. vom Philo­ sophieren: Man muß es als „Praxis philosophischer Rede“ verstanden haben, deren „wesentliche Eigenschaft“ ist, daß „Be­ hauptungen formuliert“ werden, „die sich als Problemlösungs­ vorschläge auffassen lassen“, und daß „Begründungen für diese Behauptungen angeführt“ werden, „die deren Geltungsanspruch sichern sollen“ [4]. Diese „apophantische“ Redestruktur kann nach Mittelstrass der Geschichte so unterlegt werden, daß sie sich auffassen läßt als ein Prozeß, der gekennzeichnet ist durch Zuwachs an „Vernünftigkeit“, d.h. an „Bereitschaft“, aus der Geschichte lernen zu wollen und also „bereits zur Verfügung stehende Orientierungen“ immer wieder zu verändern oder zu erweitern [ebda]. Nur diese Auffassung von Geschichte als „Rahmen einer möglichen, sich geschichtlich in aufeinanderfol­ genden Schritten entfaltenden vernünftigen Praxis“ [13] - der die aktuelle Bezugnahme auf zurückliegende Geschichte um­ 117 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

faßt - garantiert im Prinzip, daß, wer im bezeichneten Sinne ler­ nen will, dies auch kann. Auf diesem Wege wird aus dem Interesse an Geschichte ein Interesse an einer „vernünftigen“ Geschichte, das bei einem „Systematiker“ besteht, der sein „Denken schon auf begründete Orientierungen“ gestellt hat, aber nicht dogmatisch an ihnen festhält. Philosophie ist für ihn ein offenes Projekt, ein „Be­ mühen um begründete Orientierungen“ [10; H.v.V.]. Dieses Verständnis von Philosophie erlaubt es ihm, die philosophi­ schen Texte in ihrer „primären Intention“ zu lesen, „selbst be­ gründete Orientierungen zu vermitteln“ [ebda], und zu ihnen begründungsorientiert-kritisch Stellung beziehen. Zugleich stel­ len sich ihm die Texte im Zusammenhang dar: als potentielle Teile „eines argumentativ strukturierten und argumentativ begreifbaren Zusammenhangs“ [5]. „Aus Meinungen, die man zur Kenntnis bringt oder deren Traditionszusammenhang man sich unentrinnbar zugehörig glaubt, werden erst jetzt (poten­ tielle) Argumente, aus einer Geschichte philosophischer Mei­ nungen erst jetzt potentielle Teile einer philosophischen Ge­ schichte“ [11]. Das Interesse an einer vernünftigen Geschichte ist zugleich ein „vernünftiges“ Interesse. Es ist dies zum einen in praktischer Hinsicht, weil es durch Lernbereitschaft ausgezeichnet ist. Das „Ziel“ des „Lernens“ aus dem „Gang der Geschichte“ besteht in „vernünftiger Autonomie“, und auf dem Weg zu ihr gewinnt man jeweils „ein Stück vernünftiger Autonomie“ hinzu [10]. „Vernünftig“ ist das Interesse zum anderen in theoretischer Hin­ sicht, weil es begründbar ist, d. h. weil die Annahme, Geschichte sei ein „argumentativ strukturierter und argumentativ begreif­ barer Zusammenhang“, lediglich den Status eines in methodi­ scher Hinsicht relevanten „hermeneutischen Prinzips“ - des „konstruktiv-hermeneutischen“ Prinzips - besitzt [15]. Es han­ delt sich um einen Verständnis- und Auslegungsrahmen im „Umgang“ mit überlieferten Texten, in dem der „lesende Inter­ pret“ weiß, daß er die mit diesem Rahmen verbundene Unter­ stellung eines „gemeinsamen Problembewußtseins und einer [...] gemeinsamen Unterscheidungsbasis“ grundsätzlich, in con­ creto jedoch „vor allem gegenüber älteren Texten“, selbst zu verantworten hat [10]. Denn „Vernünftigkeit von Entwicklun­ gen“ [12] ist nur eine „Vermutung“ und nicht zugleich auch eine 118 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

„Behauptung über den faktischen Gang der Verhältnisse“ [13]. Es handelt sich um eine Idealisierung, „wie es sein soll“, im Un­ terschied zu dem, „wie es ist“ [ebda]. „Mit der Möglichkeit, daß Geschichte in Teilen Verfallsgeschichte ist, muß immer gerech­ net werden“43. In diesem Kontext nun wird Kants Bestimmung von Philoso­ phiegeschichte in den Losen Blättern, sie sei die „Geschichte [...] der sich aus Begriffen entwickelnden Vernunft“, als ein Hinweis darauf verstanden, daß die Kritische Philosophiegeschichtsphi­ losophie letztlich eine Vorläuferkonzeption Konstruktiver Her­ meneutik darstellt: Bereits in Kants „Begriff einer philosophi­ schen Geschichte“ sei die „Vernünftigkeit von Entwicklungen“ zur „organisierenden Idee“ geworden, deren „Realisierung“ „nicht der historischen, sondern der systematischen Erweiterung des philosophischen Wissens dienen“ soll [12].

3.2 Einwände gegen die Programmatik Auch hier ist noch nicht der Ort, an dem der Frage nachgegan­ gen werden kann, ob und inwieweit nun diese KANT-Deutung oder aber auch Mittelstrass’ Variation der These von einer Auflösung von Philosophie in Geschichte bei Hegel triftig ist. Festzuhalten ist zunächst nur, daß auch diese Interpretationen abhängig sind von einem komplexen Verständnis von Philoso­ phie, Vernunft und Geschichte, in dem in konzeptueller Hinsicht die idealistische Bewußtseinsphilosophie zu einer mit den Ele­ menten „historisch“ und „systematisch“ operierenden Theorie geschichtlich gewordener und sich immer schon geschichtlich verstehender Philosophie bzw. Vernunft („Rationalität“) reformuliert worden ist. In diesem Konzept sind zwei Ebenen zu un­ terscheiden: die Ebene des konstruktiv-hermeneutischen „Um­ gangs“ mit der Geschichte und die Ebene der Begründung dieser Position. Verbindet sich mit der Konstruktiven Herme­ neutik selbst der Anspruch, daß sie begründeter und auch in praktischer Hinsicht vernünftiger ist als „rein historische Bil­ dung“, rein systematisches Philosophieren und vor allem das „historische Bewußtsein“, in dem sich das Interesse an Ge­ schichte zu einem „spekulativ[en] [.] Interesse“ erweitert, das 43

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in einer ,,geschichtsphilosophische[n] Konstruktion“ Ausdruck sucht und findet, „die dogmatisch entscheidet, wie es ist“ [13] ein Bewußtsein, dem sich nach Mittelstrass’ Beschreibung durchaus die Ansätze Lübbes und Brauns zuordnen lassen -, so ist Mittelstrass im Vorfeld der Begründung der Konstrukti­ ven Hermeneutik allerdings selbst ein Vertreter jener spekulati­ ven Geschichtsmetaphysik, der auch Lübbe und Braun ver­ pflichtet sind. Wie diese nämlich, so geht auch er ohne weitere Begründung davon aus, daß Vernunft bzw. „Rationalität [...] selbst Geschichte hat“44, es mithin Geschichte im Sinne intelligibel strukturierter Wirklichkeit gibt, in der sich Denker und Hi­ storiker immer schon vorfinden. a) Der metaphysische Hintergrund der konstruktiv-hermeneutischen Position Die Geschichte, welche die „Rationalität [...] selbst [...] hat“, bleibt der unausdrückliche Hintergrund der vorgelegten Kon­ zeption. Ausdrücklich ist von Philosophiegeschichte (d. h. von raumzeitlicher Entwicklung oder vom „faktischen Verlauf“ der Philosophie) nur in dreifachem Sinn die Rede: erstens beim „rei­ nen Bewußtsein“ von Geschichte als „Vorgeschichte“ „eigenen systematischen Wissens“ und als distanziertem „Hintergrund“, vor dem es sich zu formieren sucht; zweitens beim „historischen Bewußtsein“ von Geschichte als mit dem Gang „philosophi­ schen Wissens“ identifizierter und als Wahrheitsgeschehen auf­ gefaßter Geschichte, als deren Teil das „eigene Wissen“ verstan­ den wird; drittens bei der Konstruktiven Hermeneutik von Geschichte als „argumentativ strukturiertem und argumentativ begreifbarem Zusammenhang“, wobei die Annahme, Geschich­ te als faktischer Verlauf sei ein derartiger Zusammenhang, nur den Status einer „Vermutung“ besitzt, die ebensowohl für die Rekonstruktion faktischer Verläufe notwendig ist, wie es da­ durch möglich wird, „die Geschichte zu verstehen“ [14]. In und mit alledem ist aber, wenn auch nur unausdrücklich, viertens immer auch noch die Rede von Geschichte in dem fun­ damentalen Sinn, daß „Rationalität [...] selbst Geschichte hat“, es den „Umstand“ gibt, „daß dem reinen Bewußtsein [...]“ 44

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zeitlich und entwicklungslogisch später - „ein historisches Be­ wußtsein gegenübertritt [...]“ [9] und beide Bewußtseinsgestal­ ten nun in der Position Konstruktiver Hermeneutik miteinander versöhnt werden. Denn in deren Rahmen weiß sich der Vertreter des reinen Bewußtseins, also der „Systematiker“, „zu Rekon­ struktionsbemühungen gegenüber einer in ihrer sachlichen Be­ deutung häufig [...] mißverstandenen Tradition verpflichtet“ [12] und also dazu, etwas zu tun, das für einen Vertreter des „historischen Bewußtseins“ als charakteristisch gelten kann45. Die Annahme einer Geschichte, welche die Rationalität „hat“, macht das ganze Konzept nun allerdings eigentümlich wi­ dersprüchlich. Denn die Behauptung, Geschichte sei durch Zu­ wachs an „Vernünftigkeit“ ausgezeichnet, hat nun keineswegs mehr nur den Status einer „Vermutung“. Mag sie diesen Status auch im Rahmen der Konstruktiven Hermeneutik besitzen, deren Interesse an Geschichte ein „methodisch reflektierte[s] [...] In­ teresse“ daran ist, „wie es sein soll“ [13], wobei durchaus „mit der Möglichkeit“ gerechnet wird, „daß Geschichte in Teilen Ver­ fallsgeschichte ist“. Im Kontext der Begründung dieser Position aber - als einer Position, die heute gleichsam alternativlos ,an der Zeit‘ ist - steht längst fest, daß Geschichte im ganzen (und grundlegend) ein Fortschrittsprozeß ist. Im Vorfeld der Kon­ struktiven Hermeneutik artikuliert sich nicht lediglich ein „me­ thodisch reflektiertes [...] Interesse“ an der Geschichte. Wirk­ sam ist vielmehr ein „[...] spekulativ[es] Interesse“ an ihr, das mit einer „geschichtsphilosophische[n] Konstruktion [...] ent­ scheidet, wie es ist“ [ebda]. In der Tat setzt die Konstruktive Hermeneutik ein intaktes, sich zur Spekulation erweiterndes 45 So ist die Geschichte der Philosophie grundlegend als die systematische „Entwick­ lung“ von „Philosophie (Wissenschaft)“ bzw. von „Rationalität“ bestimmt, an deren „Anfang“ (und Ursprung) unter „Philosophie (Wissenschaft) nur eine „Bemühung um rationale Orientierungen verstanden“ und diese definiert wurde „(1) über die Existenz von Begründungszusammenhängen und (2) über den Gegensatz zur ,historia‘“, womit kein Grund bestand, innerhalb der Philosophie „zwischen ,historisch‘ und ,systematisch‘, bzw. ,historischer Bildung‘ und systematischer Bildung‘ zu unterscheiden“; Jürgen Mittelstrass, Diskussion, 37f. Diesem insofern „reinen Bewußtsein“, das sich über den Gegensatz zur ,historia‘ definiert, tritt später eine Philosophie entgegen, die sich selbst als historische versteht und also Ausdruck „historischen Bewußtseins“ ist. Heute sind beide Bewußtseinsweisen so miteinander verbindbar, daß im Zusam­ menhang eines „Wissens mit Gründen [.] auf historische Entwicklungen rekurrier[t]“ wird [37].

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„historisches Bewußtsein“ voraus, da in ihrem Vorfeld nach wie vor philosophische Positionen als Teile einer geschichtlichen Ordnung aufgefaßt und „systematische Beurteilungen durch ge­ schichtsphilosophische Einordnungen“ ersetzt werden. Dabei ist dieses „historische Bewußtsein“ eine Verbindung mit dem „rei­ nen“ eingegangen: Zwar wird nicht mehr, wie im vorausgegange­ nen reinen Bewußtseinstyp, die „systematische Unabhängig­ keit“ des „eigenen“ Wissens und der praktischen Verhältnisse „von zurückliegenden Entwicklungen“ behauptet, so aber doch immer noch „die Überlegenheit“ der konstruktiv-hermeneutischen Position gegenüber allen vorausgegangenen Positionen der Philosophie, womit zugleich die zurückliegende Geschichte als „Vorgeschichte“ der Konstruktiven Hermeneutik und als „Hintergrund“ aufgefaßt ist, vor dem diese sich formiert. Jürgen Mittelstrass hat die hinter der Konstruktiven Her­ meneutik stehende spekulative Geschichtsmetaphysik nicht wei­ ter reflektiert. Aber sie ist erkennbar. Sie dokumentiert sich in der Annahme: daß die Vernunft qua „Rationalität“ eine „Idee“ ist - die unverbrüchlich im Medium der Geschichte, insbesonde­ re in dem der Philosophiegeschichte, sich situierende, auf Ent­ wicklung hin angelegte Idee sowohl der Wahrheit als auch der Freiheit. Fundiert diese Idee heute auf angemessene Weise Phi­ losophie als Wissenschaft, so zugleich „vernünftige Verhältnis­ se“ in der „philosophischen Diskussionsgemeinschaft“46. Dieser Idee verdankt die Geschichte die teleologische Struktur, über Ausdifferenzierung zwei inadäquater Bewußtseinsgestalten in die konstruktiv-hermeneutische Position hineinverlaufen zu sein, die nun einer fortgesetzten Realisierung vor allem prakti­ scher Vernunft (hin zu „vernünftiger Autonomie“) Raum gibt. Damit aber stellt sich die Frage, in welchem Umfang der Kon­ struktive Hermeneutiker, dessen Position derart spekulativ be­ gründet wurde, in der Auseinandersetzung mit Texten, die er nicht selbst verfaßt hat, überhaupt noch etwas lernen, d. h. sein Wissen zur Disposition stellen, und was er lernen kann. Immer­ hin besitzt er ein komplexes Wissen, das er niemals zur Disposi­ tion zu stellen vermag: das Wissen um die Idee, die der Ge­ schichte Struktur, Zweck und Sinn gab. So scheint er doch erheblich sowohl in seinen Fernmöglichkeiten als auch in seiner 46 Mittelstrass, Diskussion, 47.

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möglichen Lernbereitschaft eingeschränkt worden zu sein: Denn in der Konsequenz kann (oder muß) er im vorhinein davon aus­ gehen, daß das „eigene“ systematische Wissen allem früheren („fremden“) Wissen und die mit seiner Position verbundenen praktischen Verhältnisse allen früheren Verhältnissen überlegen sind und somit ein „gemeinsames Problembewußtsein und eine gemeinsame Unterscheidungsbasis“ im Grundsatz weder be­ steht noch bestehen kann.

b) Defizit an historischem Wissen In bezug auf das Interpretationsverfahren von Texten, das Mittelstrass im Vorfeld der Konstruktiven Hermeneutik zu deren Begründung anwendet - das Verfahren einer Interpreta­ tion gleichsam „durch geschichtsphilosophische Einordnung)]“, das zugleich die eigene Position als überlegen erscheinen läßt -, ist freilich festzuhalten, daß es in dem kleinen Aufsatz lediglich darum gehen sollte, eine relativ knappe „Festlegung auf ein be­ gründbares Interesse an einer philosophischen Geschichte vor­ zunehmen“, wobei dies in bezug auf die dabei angesprochenen Denkansätze (Descartes, Kant, Hegel, Gadamer etc.) „in Kenntnis, aber nicht in Abhängigkeit von der Geschichte der Philosophie geschehen“ sollte [5]. Mittelstrass war es bewußt, daß er den dabei herangezogenen Positionen nicht „Gerechtig­ keit“, wenigstens nicht „in allen Stücken“, widerfahren ließ. Doch ließ er auch keinen Zweifel daran, daß der Verzicht auf „Gerechtigkeit [...] in allen Stücken“ ein Preis sei, der dann ge­ zahlt werden müsse, wenn sich ein textbezogenes philosophi­ sches Unterfangen nicht der zu Anfang beschworenen Gefahr aussetzen will, sich als rein historische Forschung zu ,verselbständigen‘ [ebda]. Diese Absicht des Verfassers eingerechnet, wäre aber doch nachzufragen, ob man Positionen überhaupt „Gerechtigkeit“ widerfahren lassen kann, wenn man - allem „systematischen“, „philosophischen“ oder „vernünftigen“ Inter­ esse voraus und unabhängig von ihm - nicht erst einmal danach fragt, was jemand überhaupt und in welchem Sinnduktus er es gesagt und welche Argumente er für das Gesagte ins Feld ge­ führt hat. Es ist doch fraglich, ob im vorhinein ausgeschlossen werden kann, es könnte Positionen gegeben haben oder noch geben, in denen, wie z.B. in der des Descartes, das Thema

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Geschichte aus konzeptuellen Gründen gar keine Rolle, mithin auch nicht die Rolle einer „Vor-“ oder „Verhinderungsgeschich­ te“ des „eigenen Denkens“ spielen konnte47 - denn nicht jede Philosophie ist doch schon ein basal teleologisches Konzept. 47 Das „Cartesische Denken“ schließt freilich - im Lichte eigener Vorstellungen von „Vernünftigkeit“ - auch eigene Vorstellungen vom Wert des Bezugs auf Geschichte ein, gegen die sich argumentieren läßt, die sich aber kaum hinwegdefinieren lassen. Der Kontext, in dem Philosophiegeschichte bei Descartes selbst zum Thema wird, soll kurz angedeutet werden: Schon in der „Schule“, so schreibt Descartes im Discours - in einer Wortwahl, die noch Kant benutzt -, habe er gelernt, daß Philosophen „zu allen Zeiten“ („de tout temps“) abweichende „Meinungen“ („opinions“) über denselben Gegenstand hatten und „man sich nichts so Sonderbares und Unglaubliches ausdenken kann, was nicht schon von irgendeinem Philosophen behauptet worden wäre“ („Mais ayant appris, des le college, qu’on ne saurait rien imaginer de si etrange et si peu croyable, qu’il n’ait ete dit par quelqu’un des philosophes; [...]“ [A/T VI, 18]). Er habe daher „statt jener spekulativen Philosophie, die in den Schulen gelehrt wird, eine praktische finden“ wollen („et qu’au lieu de cette philosophie speculative, qu’on enseigne dans les ecoles, on en peut trouver une pratique“), damit wir uns zu „Herrn und Eigentümern der [inneren und äußeren] Natur machen könnten“ („et ainsi nous rendre comme maitres et possesseurs de la nature“ [A/T VI, 62]). „Maitre et possesseur de la nature“ zu sein, dies, so scheint es, ist das Ideal, dem das Philosophieren nach Descartes dienen soll und im Hinblick worauf es von keiner allzu großen Be­ deutung wäre, würde man in der Vergangenheit nachzuforschen suchen, ob sich nicht Elemente dieses Konzepts z.B. schon bei Augustinus finden, wie Descartes einmal auf derart gelehrte Anmerkungen replizierte (vgl. dazu Lucien Braun, Geschichte der Philosophiegeschichte, a. a. O., 66 Anm. 34). Descartes lehnt nicht Philosophiehi­ storie überhaupt ab. Sie war nur nicht von großem Wert angesichts der Aufgabe der Grundlegung einer Philosophie, die der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur dienen sollte. Um nichts weniger weisen die „Grundsätze“ („maximes“) der „morale par provision“ [A/T VI, 24], die während der Zeitspanne der Grundlegung und Ausarbeitung der Wissenschaft als Ratschläge eines klugen Verhaltens ein „glück­ liches“ Weiterleben sichern sollten, darauf hin, daß für Descartes gerade das Fest­ halten an Überkommenem Bedeutung hatte: Es genüge nicht, „das Haus, in dem man wohnt, nur abzureißen, bevor man mit dem Wiederaufbau beginnt, [...] sondern man muß auch für ein anderes Haus vorgesorgt haben, in dem man während der Bauzeit bequem untergebracht ist“. Die Grundsätze („maximes“) der provisorischen Moral, die nur für die Zeit des Handelns („mes actions“) gelten sollten - einer Zeit, in der die Vernunft („raison“) dazu nötigt, im Hinblick auf Urteile („mes judgements“) unent­ schlossen („irresolue“) zu sein -, raten dazu, z. B. den Gesetzen und Sitten des Vater­ landes zu gehorchen, an der überkommenen Religion festzuhalten, sich nach maßvol­ len Überzeugungen zu richten, in allen Handlungen und auch in zweifelhaften Ansichten fest entschlossen zu sein; eher seine Wünsche zu ändern als die Weltord­ nung; schließlich in der Beschäftigung fortzufahren, die im Grunde die beste („meilleure“) ist: der Kultivierung des Verstandes („cultiver ma raison“ [A/T VI, 28]). Gewiß wird man argumentieren können, daß die in der provisorischen Moral „entwickelten praktischen Orientierungen“ für „Vermittlung und Rechtfertigung ethischer Ziele“ auch „im letzten literarischen Stadium dieser Philosophie so unentbehrlich bleiben wie im ersten“, weil die Prinzipien der dann als Psychophysik konzipierten Moral des

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Fraglich ist ebenso, ob man annehmen kann, in jeder Position, in der, wie z.B. in der Kantischen, Philosophiegeschichte philoso­ phischer Erkenntnisgegenstand ist, werde davon ausgegangen, Philosophiegeschichte sei ein vernünftiger und begreifbarer Zu­ sammenhang, und handele es sich dabei auch nur um eine „Ver­ mutung“ - denn nicht jede Philosophie, die Vernunft und Ge­ schichte zusammenbringt, muß doch unter ,Vernunft‘ schon eine wirklichkeitskonstituierende Idee verstehen. Und schließ­ lich: Kann man einfach voraussetzen, daß niemals jemand Philo­ sophie, anstatt als etwas Selbstzweckhaftes, als eine Wissen­ schaft angesehen hat, die im Dienste nur des Überlebens oder auch nur eines bequemen Lebens der Menschen hätte stehen sollen? Wenn dem so sein sollte, dann wäre dies doch nicht gleichbedeutend damit, daß Philosophie überhaupt oder die mo­ ralisch-praktische Dimension des Philosophierens oder die be­ gründungsorientierte Struktur philosophischer Rede preisgege­ ben worden sei. Es handelte sich lediglich um eine Position, die in das Mittelstrass’sche Schema nicht angemessen aufgenom­ men werden kann. Nun geht Mittelstrass davon aus, daß gerade heute in der Philosophie ein Interesse an „historischer Bildung“ und „For­ schung“ zu bestehen scheint, die sich auf Facetten des Philosophierens beziehen, welche globalen Geschichtsentwürfen gera­ de entgehen48. Dabei mag es auch an dieser Stelle offen bleiben, welche Motive Menschen heute tatsächlich bewegen, sich mit Texten anderer auseinanderzusetzen - ob sie es aus dem Grunde tun, weil sie mit Hegel (in einer bestimmten, nicht unproblema­ tischen Interpretation seiner Philosophie) davon ausgehen, Phi­ losophie sei „System“ in primär geschichtlicher „Entwicklung“ und darum „das Studium der Geschichte der Philosophie“ das „Studium der Philosophie selbst“. Denn selbst wenn sie dieser Cartesischen Systems eben solche Orientierungen nicht ersetzen können (vgl. Rai­ Specht, Art. Rene Descartes, in: O. Höffe (Hrsg.), Klassiker der Philosophie I, München 1981, 301-321; 318). Denn diese Moral ist lediglich eine Kunst, die es jedem erlaubt, durch Weckung oder Unterdrückung bestimmter Affekte den Körperzustand weitgehend selbst zu bestimmen (vgl. Principes de la philosophie, AT IX/2,14). Insofern wird man Descartes vieles zum Vorwurf machen können, nur dies nicht: daß er sich nicht philosophisch mit einer als Vernunftentwicklungsprozeß bestimmten Philosophiegeschichte befaßte, die doch so viel später erst erfunden wurde. 48 Eine etwas andere Antwort auf die Frage nach dem post Hegel entstandenen großen Interesse an Texten wird im Schlußteil dieser Arbeit zu geben versucht. ner

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Auffassung sein und sich aus diesem Grunde heute exzessiv mit älteren und neueren Texten auseinandersetzen sollten, wodurch sie „Bildung“ (nicht zuletzt „historische“, d. h. vergangenheits­ bezogene „Bildung“ in dem in dieser Arbeit angezielten Sinn) erwerben, dann kann ein „systematisch“ geführtes „Interesse an einer vernünftigen Geschichte“ einem solchen Bildungsinteres­ se niemals Genüge tun. Die Konstruktive Hermeneutik wäre kein Ersatz für „rein historische Bildung“ und „Forschung“, son­ dern bedeutete nur deren Einschränkung, für die ein hoher Preis zu zahlen wäre, würde sie gelingen: Gelänge sie, dann lebten Menschen in der Philosophie nahezu vollständig in der Gegenwart. Gestützt auf ein bestimmtes Kon­ zept von (vermeintlich) überzeitlicher Geltung bezöge man sich auf hier und jetzt vorliegende Texte, die im Lichte dieses Kon­ zepts im wesentlichen auch so gelesen würden, als würden sie eben hier und jetzt erst formuliert: als gehörten also nicht nur lebende Philosophen, sondern z. B. auch „Platon und Aristo­ teles“ oder „Konfuzius und Laotse (potentiell)“ in eine „Diskussionsgemeinschaft“49, die seit den Anfängen des Philosophierens besteht und im Hinblick auf die ein Ende in dieser Welt nicht abzusehen ist. Kritisch betrachtet sind nun freilich Platon, Aristoteles, Konfuzius und Laotse keine „potentiell[en]“ Diskussionsteilnehmer, weil die Bezeichnung „poten­ tiell“ logisch voraussetzt, sie könnten auch ,aktuelle‘ Teilnehmer sein, was aber - jedenfalls aller Erfahrung nach - unmöglich ist. Freilich wird man Mittelstrass’ Intention nicht verkennen dür­ fen, die sich mit der Anerkennung aller Denker als potentieller Diskussionsteilnehmer verbindet: die Intention, daran festzuhal­ ten, daß Konzepte aktuell sein können, zu welcher Zeit deren Autoren auch gelebt haben und aus welchem Kulturkreis sie auch stammen mögen. Diese Absicht eingerechnet, kann aber nicht übersehen werden, daß es die Lebenden sind, welche die Diskussion - oder das, was sie darunter verstehen - aktiv bestim­ men, während nicht mehr lebende Philosophen dieser Diskus­ sion mit dem, was sie hinterlassen haben, ausgeliefert sind. Das Verhältnis zwischen Lebenden und Toten ist nicht symmetrisch, was anzeigt, daß der Mensch selbst dann mehr ist als nur ein denkendes Wesen, wenn er denkt, Menschen lassen sich nicht 49

Mittelstrass, Diskussion, a. a. O., 47.

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auf die jeweilige Subjektposition im Zusammenhang mit einer Ideen- oder Bewußtseinsgestalt, mithin auf reine Begriffe redu­ zieren. Menschen sind keine Begriffe (jedenfalls steht „Mensch“ nicht nur für einen Begriff), noch fügen sie sich, wie sich im wei­ teren Verlauf der Arbeit deutlich zeigen wird, immer dem Be­ griff, den sie sich von sich machen können. Denn sie leben nicht in einer Welt der reinen Begriffe, der Ideen, die im Prinzip im­ mer vorhanden und unvergänglich sind, sondern in einer Welt, in der es Vergänglichkeit und Vergangenheit gibt und man sich selbst und das, was einen umgibt, immer auch in einer zeitlicher Perspektive wahrnimmt50. Soll Orientierung in dieser Welt gelin­ gen, dann ist es nötig, angesichts von hier und jetzt Gegebenem und auch hier und jetzt zu Lesendem zeitbezogene Unterschei­ dungen zu machen, d.h. zu wissen, daß das, was hier und jetzt gelesen werden kann, nicht auch hier und jetzt erst entsteht51. Es gilt, den Zeitpunkt der Formulierung der Texte ausdrücklich in Rechnung stellen und damit eine Grenze zu respektieren, die es für Menschen als sterbliche Wesen und für die Projekte, die sie verfolgen, gibt: die Zeit. Projekte haben ihre jeweils bestimmte Zeit und an der Zeit ihre Grenze: Es ist zu einem bestimmten Zeitpunkt noch eine offene Frage, ob ein Projekt überhaupt ge­ lingen wird, und, sollte es gelungen sein, ob es dann von anderen überhaupt und wie lange und vor allem unter welchen Gesichts­ punkten in welch neuen Projektzusammenhängen später rezi­ piert werden wird. Daß es tatsächlich unmöglich ist, vorauszu­ sehen, was später geschehen wird, und man deshalb auch im Nachhinein nicht sagen kann, Späteres habe auf Früheres mit Notwendigkeit folgen bzw. im Sinne der „Entwicklung“ aus ihm hervorgehen müssen, und es gäbe also Geschichte als einen von Philosophen erzeugten, rekonstruierbaren „faktischen Verlauf“, 50 Daß wir uns selbst und die uns umgebende Welt in einer zeitlichen Perspektive wahrnehmen und dies in Sätzen der natürlichen Sprache durch Verwendung der Tem­ pora (,s ist F‘, ,s war F‘, ,s wird F sein‘, und entsprechende Negationen) zum Ausdruck gebracht wird, während Theorien diese Zeitwahrnehmung gerade ausblenden, vgl. dazu wiederum Arthur C. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, a. a. O., 292ff., insbes. 308f. 51 Die Fähigkeit, angesichts von Gegebenem die in temporaler Hinsicht richtigen Un­ terscheidungen treffen zu können, ließe sich als historische Urteilskraft bezeichnen. Vgl. dazu den Schlußteil der Arbeit.

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auch dies wird sich im weiteren Verlauf dieser Arbeit herausstei­ len. Der Zeit einen Stellenwert einzuräumen, heißt nicht, die Be­ deutung der Projekte auf eine bestimmte Zeit (und auf einen bestimmte kulturellen Zusammenhang) zu beschränken. Es heißt nur, einer Erfahrung Rechnung zu tragen, die man im Kon­ text einer im Mittelstrass’schen Sinn unphilosophischen, d.h. nicht systematisch geführten Lektüre von Texten - einer ,literarischen Lektüre literarischer Texte‘ im allgemeinen, einer im oben angedeuteten Sinne ,historischen‘ Lektüre älterer literari­ scher Texte im speziellen - machen kann: die Erfahrung, daß sich menschliche Projekte nicht „erkenntnistheoretischen Kon­ struktionen“ unterwerfen lassen und es bei nichtkonzeptualistischen Textinterpretationen bleiben muß. Stehen ältere Texte zur Debatte, dann bedarf es des historischen Wissens und näherhin „historischer Forschung“, die nicht schon in den Seminarräumen der Universitäten stattfindet, sondern in den Archiven bzw. Bi­ bliotheken betrieben wird - Forschung, die angeleitet wird durch den thematisch bestimmten Entwurf einer Geschichte, mit wel­ cher man zu sagen versucht, was in der Vergangenheit in be­ stimmter Hinsicht geschah, - Forschung, die dazu dient, weiteres Beweismaterial für den sie anleitenden Geschichtsentwurf zu finden, die aber auch Unerwartetes zu Tage bringen und zur Mo­ difikation der projektierten Geschichte führen kann, - For­ schung als ein eigenständiges, d. h. von Philosophie im Mittel­ strass’schen Sinne unabhängiges Unternehmen, insofern die Forscher in ihren (aus Textlektüren hervorgehenden) Ge­ schichtsentwürfen eigene Möglichkeiten besitzen, um „nicht nackt in die Archive“ zu gehen, wie Arthur C. Danto formu­ liert52, somit philosophischer Bedeckung nicht bedürfen. Eine Funktion dieser Forschung kann es sein, im allgemeinen die „hi­ storische Bildung“ zu befördern, die es erlaubt, sich angesichts von dem, was hier und jetzt gegeben bzw. gelesen werden kann, zu orientieren. Orientierung in dieser Welt setzt voraus, daß man dem, was hier und jetzt gegeben bzw. gelesen werden kann, nicht „historisch illiterat“ entgegentritt53.

52 Arthur C. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, a. a. O., 183. 53 Danto, ebda, 151; vgl. insgesamt 148-157.

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c) Meinungs- versus Argumentationsgeschichte? Nun wird man der Philosophiehistorie vielleicht diese Funktion zugestehen wollen. Eine andere Frage ist, ob es in ihrem Rah­ men möglich ist, philosophische Positionen in der ihnen zukom­ menden Argumentationsdimension zu erfassen. Müßte man in diesem Kontext Gesagtes nicht als bloße „Meinung“ stehen las­ sen, wie Mittelstrass annimmt? Dies wäre freilich dann der Fall, wenn man annehmen müßte, Philosophiehistorie sei eine Gestalt der Philosophie selbst, die sich in eine bloße Kenntnis von Philosophie bzw. Philosophiegeschichte verwandelt und da­ mit jegliches Interesse an Argumentation und Begründung preisgegeben hat. Anders sieht es aus, wenn man unter Philoso­ phiehistorie ein eigenständiges Unternehmen verstehen kann, in dem es etwas anderes zu erreichen gilt als die Kenntnis eines „faktischen Verlaufs“ in „Vollständigkeit aller [...] Gesichts­ punkte“, die „für den faktischen Verlauf dieser Geschichte rele­ vant“ sind, sowie in vollkommener „Gerechtigkeit gegenüber den dabei herangezogenen Positionen“ [vgl. 5]. Denn diese von Mittelstrass gegebene Bestimmung von Philosophiehistorie ist auf der einen Seite viel zu stark, weil es nicht schon als ausge­ macht gelten kann, es gäbe faktische „Verläufe“, die man ken­ nen könnte. Auf der anderen Seite ist sie aber auch zu schwach, insofern behauptet wird, daß man es in ihrem Rahmen nur zu einer Geschichte von „Meinungen“ zu bringen vermöchte, der sich dann - mit der Konstruktiven Hermeneutik - die ,Argumentations‘-Geschichte entgegensetzt. ,Meinungs- versus Argumentationsgeschichte‘ steht für eine Reformulierung der klassischen Unterscheidung zwischen histo­ rischer und philosophischer Philosophiegeschichtsschreibung. Charakteristisch für diese Reformulierung ist, daß „Meinung“ und „Argument“ nun (u. a.) den Status von Kategorien gewin­ nen, mit denen auf subjektiver Seite Geschichte unterschiedlich konstituiert wird. Dabei ist die Konstitution der Argumentati­ onsgeschichte systematisch grundlegend, weil die Begründungsorientiertheit philosophischer Rede als deren

„wesentliche

Eigenschaft“ gilt. Nun ist es, kritisch betrachtet, freilich nicht zwingend, „Meinung“ und „Argument“ als einander entgegen­ gesetzte Terme von kategorialer Dignität zu verstehen. Sie können auch als Terme aufgefaßt werden, die - lokalisiert auf

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gleicher metatheoretischer Ebene - dem Kontext der Beurtei­ lung und Überprüfung von solchem zugehören, das im Rahmen einer Lektüre von Texten gegeben werden kann. Dies setzt frei­ lich voraus, daß man die zu interpretierenden Texte nicht als etwas erst noch zu Konstituierendes auffaßt. Und tatsächlich sind sie ja schon etwas Konstituiertes: ein jeweiliges Ganzes von syntaktisch korrekt gebildeten, semantisch gehaltvollen und im Hinblick

auf

ihren

propositionalen

Gehalt

begründbaren

menschlichen Sprachäußerungen. Sofern der Interpret die Fä­ higkeit besitzt, diese Sprachäußerungen überhaupt zu verstehen, kann er sie durchaus zunächst als eine „Meinung“ - etwa im (losen) Anschluß an Kant als „ein [...] sowohl subjektiv, als ob­ jektiv unzureichendes Fürwahrhalten“54 - annehmen. Und es könnte das Resultat der Überprüfung gegebener Aussagen sein, daß es sich tatsächlich nur um eine Meinung handelt, weil sich weder im Text noch im Rahmen eigener Überlegungen zurei­ chende Gründe finden lassen, welche die in Frage stehende Be­ hauptung akzeptabel machen55. Solche Beurteilungen können im Rahmen der professionellen 'Philosophiehistorie eine bedeut­ same Rolle spielen, für die in dieser Arbeit plädiert wird. Aber es ist dann der Philosoph im Philosophiehistoriker, der nach Gründen fragt, während der Philosophiehistoriker im Philoso­ phen zuvor erst einmal danach fragt, was gesagt worden ist. Auch Mittelstrass behandelt (im Zusammenhang mit der Grundlegung der Konstruktiven Hermeneutik)

ausgewählte

Aussagen in ausgewählten Texten (etwa Descartes’, Kants oder Gadamers) kritisch zunächst als Meinungen, um für das Gesagte dann aber Gründe zu finden, von denen man nicht weiß, ob und wie sie in Verbindung stehen mit dem, was in den Büchern gesagt worden ist. Denn es sind Gründe, welche die Texte als Bestandteile jener Geschichte betreffen, die die „Ra­ tionalität“ selbst „hat“, von der nach Mittelstrass’ eigener Konstruktion aber noch kein Denker zuvor jemals ein Bewußt-

54 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 850. 55 Eine solche Ansicht läßt sich allerdings auf Kant nur eingeschränktermaßen zu­ rückführen. Denn auch nach Kant bringen Gelehrte, die nicht wirklich Philosophen sind, die Philosophiegeschichte nur als eine „Geschichte der Meynungen[,] die zufäl­ lig hier oder da aufsteigen“ zur Geltung (Lose Blätter, 343). Daraus wird dann bei Hegel ein „unordentlicher Haufen“ oder „Vorrat“ von „Meinungen“ (Einleitung in die Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. 6,15).

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sein haben konnte, so daß sich die Behauptung, daß „Rationali­ tät [...] selbst Geschichte hat“, durch das in Büchern ausdrück­ lich Gesagte nicht belegen läßt. Dieses Verfahren, mehr zu wis­ sen, als die behandelten Texte wissen [4], nämlich von einem Grund, der von historischer Forschung in den Texten nie ent­ deckt werden kann, ist aufschlußreich, wenn man verschiedene geschichtsphilosophische

Konstruktionen

miteinander

ver­

gleicht: Deutlich wird, daß das, was jemand der Sache nach für einen Grund (und ein Argument) hält, ganz offensichtlich in eine komplexe vorrationale Evidenz- und Sinndimension einge­ bettet ist, in der sich bestimmt, was als ein Grund, als Vernunft und vernünftig anzusehen ist. Davon, daß Philosophien auf einem (individuellen) Sinnhintergrund aufruhen, der sich aus vorrationalen Überzeugungen und einem bestimmten Bildungs­ wissen zusammensetzt, zeugt gerade das von Mittelstrass vor­ gelegte Konzept. Gerade in ihm, wie es freilich in aller Kürze vorgelegt wird und nur der „Festlegung auf ein begründbares Interesse an einer philosophischen Geschichte“ gilt, wird (wenn) stets so argumentiert, daß der Leser dabei auf eine bestimmte philosophische und philosophiehistorische Bildung und ferner auf ein bestimmtes Selbst- und Weltverständnis verwiesen wird: Es läßt sich eben nicht weiter begründen, sondern muß (erst ein­ mal) verstanden (und schließlich auch eingesehen) werden kön­ nen, daß ein Argument und Vernunft und vernünftig das ist, wo­ von Mittelstrass vorschlägt, daß es dies sei. Deshalb fordern philosophische Konzepte auf der Seite des Interpreten nicht in erster Linie dazu auf, zu argumentieren und zu kritisieren, son­ dern erst einmal zu verstehen. Das Sinnverstehen schließt freilich eine weitergehende be­ gründungsorientiert kritische Stellungnahme zum Gelesenen nicht aus. Zu argumentieren macht den Philosophen aus. „Daß [...] Behauptungen formuliert werden, die sich als Problem­ lösungsvorschläge auffassen lassen, und Begründungen für diese Behauptungen angeführt werden, die deren Geltungsanspruch sichern sollen“ [4], ist eine „wesentliche Eigenschaft der philoso­ phischen Rede“. Jedoch wäre diese Bestimmung wohl noch zu präzisieren. Denn die Begründungsorientiertheit ist eine Eigen­ schaft der menschlichen Rede überhaupt. Nicht dadurch unter­ scheidet sich die philosophische von anderen Redeweisen, son­ dern durch die Art der Gründe, die in ihr eine Rolle spielen. Auf

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die Gründe kommt es an und darauf, wie einsichtig man sie an­ deren machen kann. Ob der von Mittelstrass eingeschlagene Weg, die Begründungsorientiertheit selbst zum letzten Grund aller philosophischen und philosophiegeschichtlichen Dinge zu erheben, allen vorausgegangenen Denkern hätte einsichtig ge­ macht werden können, ist eine in philosophischer Hinsicht wohl nicht uninteressante Frage. Eine befriedigende Antwort auf sie läßt sich jedoch nur im Anschluß an eigenständige „historische Forschung“ geben.

4. Kurze Zusammenfassung Drei Ansätze zu einer materialen Theorie sich geschichtlich ver­ stehender Philosophie sind behandelt worden - Ansätze, die un­ ter sich tatsächlich „syntaktische Analogien“ (Braun) aufwei­ sen. Es sind subjektivitätsontologisch fundierte, monistische Geschichtskonzeptionen, Theorien also, die eine als gegeben an­ genommene Geschichte als die Objektivation einer Vernunft verständlich zu machen suchen, die nicht nur substantiales Sub­ jekt der Veränderung (ontologisches Substrat), sondern ein hö­ heres intelligentes Wesen ist, das auf Selbsterkenntnis und da­ durch mögliche Freiheit (von naturwüchsig geschichtlicher Bestimmtheit) zielt. Von ihr her gliedert sich die Philosophiege­ schichte dynamisch in aufeinander aufbauende Grundpositionen des Philosophierens bzw. der Philosophiegeschichtsschreibung. Bedeutsam ist, daß es nicht zureichend wäre, würde man nur sagen, solche Vernunft sei in der Philosophiegeschichte. Viel­ mehr ist die Vernunft nun selbst geschichtlich, d.h. in ihrer „Genesis“ in das (raumzeitliche) Medium der Geschichte, insbe­ sondere

der

Philosophiegeschichte,

eingeschlossen.

Daher

kommt den verschiedenen Philosophien bzw. Dispositionen der Philosophiegeschichtsschreibung der Wert zu, „einmalig“ zu sein (Lübbe). Zugleich wird angenommen, in unserer Gegen­ wart - als dem, sei es endgültigen (Lübbe, Braun), sei es vor­ läufigen, Ende der als „Entwicklung“ bestimmten Philosophie­ geschichte (Mittelstrass) - werde offenbar, daß die Vernunft geschichtlich ist. Denn Historizität macht die Identität der ge­ genwärtig Philosophierenden aus. Besteht somit gleichsam die Gewißheit der Vernunft, „alle philosophiegeschichtliche Reali-

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tat“ zu sein, so ist diese Gewißheit zur Wahrheit erst noch zu erheben56. Dies geschieht in Gestalt einer (bei Mittelstrass al­ lerdings unausdrücklich bleibenden) spekulativen Philosophie der Geschichte sich geschichtlich verstehender Philosophie (,Philosophiegeschichtsgeschichtsphilosophie‘),

in

deren Zu­

sammenhang z.B. Hegel die Deutung widerfährt, im Zeichen anbrechenden „historischen Bewußtseins“ die Philosophie in Geschichte aufgelöst zu haben. Indes: Wie „geschichtlich“ war für Hegel eigentlich die Phi­ losophie, wie „historisch“ für ihn das philosophische Bewußt­ sein, wenn aus seiner Sicht z.B. Kant jemand war, der nur erst „geschichtlich“ zu Werke ging? Diese Frage soll im folgenden beantwortet werden. Dabei wird eingerechnet, daß Hegel, der „große Empiriker“57, Theorien des eben skizzierten Typs nicht hat kennen können. Kennen können und gekannt hat er jedoch die Kantische Philosophie, zu der, wie schon in der Kritik der reinen Vernunft zum Ausdruck kam, eine „philosophierende Ge­ schichte der Philosophie“ hinzugehören sollte.

56 Formuliert im Anschluß an denjenigen Hegel, der diesen Konzeptionen das Vor­ bild gab: dem der Phänomenologie des Geistes, 324. 57 Odo Marquard, Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Men­ schen, in: Ders., Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, a. a. O., 117-139,117.

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III. Logische Vernunft Hegel und die Geschichte der Philosophie 0. Vorbemerkung 0.1 Nähe zu Kant Hegels Geschichtsphilosophie entsteht in einer Zeit, in welcher der Bereich menschlicher Taten und Begebenheiten - die sittli­ che Welt oder „Geschichte“ im Gegensatz zur physischen Natur - als ein eigenständiger Objektbereich für die Philosophie ent­ deckt war1. Schon Kant war daran gegangen, sich „um die Ge­ schichte wie ein Genie verdient“ zu machen, als er sie „unter Ideen“ zu fassen suchte, „die immer bleiben können“2, was bei ihm nicht zuletzt aus Sorge um die Nachkommen geschah: Weil sich dieser Gegenstandsbereich (jedenfalls seiner Ansicht nach) mit dem Zeitlauf immer mehr ausdehnt, müsse man doch beden­ ken, „wie es unsere späten Nachkommen anfangen werden, die Last von Geschichte [...] zu fassen“, würde sie weiterhin auf solch ,umständliche‘ Art3 abgefaßt werden wie jetzt, nämlich in bloß historischer oder ,gelehrsamer‘ Form4. Bei Kant knüpfte sich die Begründung einer (über die Historie hinausgehenden) Philosophie der Geschichte an die Annahme, daß der Mensch­ heit in dieser Welt ein bestimmter Zweck zu ,bewirken‘ aufgege­ ben ist: nämlich die Realisierung eines „Reichs“ der Sitten. Der Nachweis, daß dieser Zweck a priori durch reine praktische Ver­ nunft bestimmt gegeben ist, fundierte eine Philosophie der Ge­ schichte „im großen und ganzen“, in deren Perspektive diese als 1 Vgl. insbes. G. Scholtz, Art. Geschichte, in: Hist. Wörterb. der Philosophie, a. a. O., insbes. Sp. 358ff. 2 I. Kant, Nachlaßreflexion Nr. 1997. 3 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), Neunter Satz, A 410 f. 4 Kant, Nachlaßreflexion Nr. 1997.

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(raumzeitliche) „Entwickelung“ aller „Naturanlagen“ (in der „Schöpfung“) zur Geltung zu bringen war, welche über die „me­ chanische“ Anordnung bloß „tierischen Daseins“ hinausgehen: der Anlagen der menschlichen Vernunft als einem primär prak­ tischen Vermögen. Dabei sollte die Geschichtsphilosophie selbst der Beförderung weltumspannender Moralität (der „Weisheit“) als dem Finalgrund der Vernunftentwicklung dienen (der zu­ gleich einen Ausblick in die ,fernste Zukunft“ gab), auch jene philosophische Wissenschaft, die sich die Philosophiegeschichte zum Gegenstand macht. In der „philosophierenden Geschichte der Philosophie“ war aber vor allem festzuhalten, in welchem besonderem Maße gerade die „Denker unter den Menschen“ in bezug auf die „Weisheit“ in Anspruch genommen sind. War es Kant zufolge ihnen doch bestimmt, daß sie den „Weg zur Weis­ heit“ durch ihre Wissenschaft zunächst ,gut und kenntlich4 bah­ nen und dann auch praktisch den anderen auf diesem Weg vor­ angehen, um sie „vor Irrwegen zu sichern“5. Das von Kant inaugurierte Projekt einer philosophischen Be­ trachtung der Philosophiegeschichte als „Geschichte der reinen Vernunft“ setzt in konzeptueller Hinsicht voraus: a) eine Natu­ ralisierung der menschlichen Vernunft, deren durch menschli­ chen Vernunftgebrauch evozierte „Entwicklung“ nach Prinzi­ pien teleologischer Naturlehre gedeutet wird; b) die Annahme, daß den Philosophierenden in bezug auf das gesamte mensch­ liche Geschlecht und dessen Fortschritt zum „Besseren“ eine führende Rolle zukommt; c) eine theologische Grundperspekti­ ve, das Motiv der „Theodizee“6; 7 aber auch (soweit möglich) d) die Orientierung am Erkenntnisideal moderner exakter Na­ turwissenschaften, da im Blick auf die Geschichte etwas geleistet werden sollte,

das vergleichbar wäre mit dem, was

einst

„Kepler“7 in den Naturwissenschaften tat, als dieser die Plane­ tenbahnen allgemeinen „Gesetzen“ unterwarf. Diese später noch ausführlich zu skizzierende Programmatik, die heterogene

5 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 292. 6 Vgl. zur „Rechtfertigung [...] der Vorsehung“ bei Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte, Neunter Satz, A 410; auch: Die Religion innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft (1793), A VII; vgl. zum „Plan der Vorsehung“ bei Hegel u. a. Enz., § 549 Anm. 7 Vgl. zu „Kepler“ bei Kant: Idee, A 388; bei Hegel: PG, 89 ff.

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(theoretische, praktische und, basal, teleologische) Elemente enthält, teilt Hegel mit Kant. In gewisser Weise. Denn Hegel verbindet mit dem von Kant auf den Weg ge­ brachten Unternehmen einer Philosophie der reinen Vernunft überhaupt die Vorstellung, daß in der Philosophie so rein und „frei von allen natürlichen Bestimmungen, frei von Partikularitäten“ gedacht werden kann [GP 6, 144], daß die aus diesem Denken resultierenden Gedanken zugleich als „die metaphysi­ schen Definitionen Gottes“ [Enz., § 85] und das reine Denken in seiner ganzen Entfaltung als „Darstellung Gottes“ zu bezeich­ nen sind [WdL I, 44]. Mit einer Philosophie, in deren Rahmen eine „Darstellung Gottes“ möglich ist, vollführt sich der „abso­ lute Endzweck der Welt“ [vgl. Enz., §549]. Philosophie wird zu einem abgesonderten „Heiligtum“, dessen „Priesterstand“ mit der Welt nicht „zusammengehen“ darf, sondern das „Besitztum der Wahrheit“ zu hüten hat [Rel. 5, 96f.]. Ist aber die Zeit „er­ füllt“ [vgl. ebda, 96], so ist es auch möglich geworden, Geschich­ te - „jede Geschichte“ [Rel. 3, 294f.] und also auch die Ge­ schichte der Philosophie - in ihrer „objektive[n] Wahrheit“ zu erfassen [Enz., §549 Anm.]8. Zwar wird in diesem Zusammen­ hang Geschichte noch immer „unter Ideen“ gefaßt, wie Kant es formulierte. Aber „Idee“ ist nun grundsätzlich nicht mehr (Kantisch) „zu nehmen als eine Idee von irgendetwas“ [Enz., §213]. Vielmehr ist „Idee“ die „eigentlich philosophische Be­ deutung“ für „Vernunft“ [vgl. Enz., § 213] (oder das „Absolute“ [Enz., § 14]). Die „Idee“ ist „das Wahre“ und als solches zugleich das „substantielle Wesen“ der „natürlichen“ wie der „sittlichen“ Wirklichkeit [GPR, 27]. Sie ist also auch das „substantielle We­ sen“ jeder Geschichte.

0.2 Die Interpretationsschritte Unter besonderer Gewichtung des Themenkomplexes „Ge­ schichte der Philosophie“ wird im folgenden Hegels Ge­ schichtsphilosophie (im weitesten Sinne des Worts) in drei Hauptabschnitten umrissen: In der Berliner Zeit ist die Betrach­ tung (oder auch ,Beobachtung‘) von Geschichte als Teil eines

8 „Es muß endlich an der Zeit sein, auch diese reiche Produktion der schöpferischen Vernunft zu begreifen, welche die Weltgeschichte ist“ [PG, 28 ].

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(organischen) Systems philosophischer Wissenschaften fest eta­ bliert, welche insgesamt als „Wissenschaften der Idee“ ausge­ wiesen werden. In einem ersten Hauptabschnitt (1.) sollen dieses Wissenschaftskonzept sowie einige der bedeutsamsten konzeptuellen Voraussetzungen der Hegelschen Philosophie­ geschichtsphilosophie kurz erläutert werden: Ein erster Unter­ abschnitt (1.1) nennt allgemeine Aspekte des philosophischen Systems und bestimmt den systematischen Ort der Philosophie­ geschichtsphilosophie im Rahmen der sogenannten Realphilo­ sophie. Dabei soll in einer ersten Annäherung deutlich gemacht werden, was es bedeutet, wenn Hegel davon spricht, daß „die“ Philosophie selbst eine Geschichte „hat“, und unter welchen Be­ dingungen man im Duktus der Hegelschen Texte von einer „Geschichtlichkeit“ der Philosophie sprechen kann. Da sich in diesem Zusammenhang andeutet, daß ,Geschichte‘ bei Hegel kein Grundkonzept, sondern eher ein philosophisches Gegen­ konzept darstellt, wird in einem zweiten Unterabschnitt (1.2) exkursorisch zur sogenannten Differenzschrift (1801) zurückge­ gangen: Es soll nicht nur gezeigt werden, daß in dieser philoso­ phischen Erstpublikation schon bedeutsame Elemente

der

späteren Philosophiegeschichtsphilosophie erarbeitet worden sind, sondern vor allem, daß sich Hegels Zuwendung zur Philo­ sophie zu Beginn der Jenaer Zeit mit einer Kritik an der zeit­ genössischen Philosophie verknüpft, die seiner Ansicht nach nur noch als ihre eigene Historie auftrat. Was Hegel später, in Berlin, unter „Historie“ verstanden hat, wird in einem dritten Unterabschnitt (1.3) umrissen. Dabei sollen die Schwerpunkte auf (a) Historie der Philosophie und (b) Philosophie als Historie liegen und die Frage im Mittelpunkt stehen, wie es kommt und was heißt es, daß Hegel zufolge auf dem Standpunkt der Kantischen Philosophie nichts anderes möglich war, als nur erst „geschichtlich“ vorzugehen. In einem vierten Unterabschnitt (1.4) wird Hegels Auffassung von „eigentlich sogenannter Ge­ schichte“ skizziert und in einem fünften Unterabschnitt (1.5) kurz diejenige Geschichte behandelt, die im innersten durch die sich entwickelnde Philosophie (d. h. die Philosophiegeschichte) zu­ sammengehalten wird: die Weltgeschichte. „Geschichte“ ist bei Hegel ein normatives Konzept. D.h. im Schatten derjenigen Bildungs- oder „Entwicklungs“-Prozesse, die „eigentlich soge­ nannte Geschichte“ sind, siedeln sich Prozesse an, die nur als

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„ungeschichtliche Geschichte[n]“ oder als Prozesse „geschichts­ losen Werdens“ bezeichnet werden können. Einige dieser Ge­ stalten werden in einem sechsten Unterabschnitt (1.6) vorgestellt. Ein siebter Unterabschnitt (1.7) dient der Präzision der normati­ ven Grundlagen der Hegelschen Geschichtsphilosophie. So kann in einem zweiten Hauptabschnitt (2.) die Programmatik von Hegels Philosophiegeschichtsphilosophie in zwei Unterab­ schnitten (2.1-2.2) leicht umrissen werden. In einem dritten

Hauptabschnitt (3.) werden einige Einwände gegen diese Pro­ grammatik vorgebracht, die, wie in einem ersten Unterabschnitt (3.1) verdeutlicht werden soll, nicht als eingelöst betrachtet wer­ den kann: Der philosophischen Programmatik entgegen steht, so wird zu zeigen sein, die bloß „historische“ Durchführung (im Hegelschen Sinn). In einem zweiten (und letzten) Unterab­ schnitt (3.2) werden dann einige Gründe genannt, die es zweifel­ haft erscheinen lassen, daß eine Programmatik von Philosophie­ geschichtsschreibung, wie Hegel sie favorisierte, in einer Welt, wie wir sie kennen, überhaupt einlösbar sein kann. In all diesen Schritten bleibt die Interpretation überwiegend auf einer Ebene, die Hegel selbst schon (wenn auch nur) als „historisch“ bezeich­ net hätte: auf der Ebene beschreibender und auswählender Distanz9.

1. Konzeptuelle Voraussetzungen der Philosophiegeschichtsphilosophie 1.1 Aspekte des philosophischen Systems a)

Philosophie als „ Wissenschaft der Idee“

Schon nach Kant, so wurde gesagt, hat der Philosoph „Ge­ schichte“ unter eine „Idee“ zu fassen. Im Duktus des Hegel­ Sprachgebrauchs läßt sich dies so übersetzen, daß man sagt, „daß Vernunft in der Geschichte sei“ [Enz., §549 Anm.], schen

oder auch: daß Geschichte eine ideale Infrastruktur hat, die in dem Maße „das Wahre“ ist, in dem die Idee das Wahre ist. Unter 9 In diesem Zusammenhang kann und soll keine dezidierte systematische Analyse all jener Prozesse, Entwicklungen oder Verlaufsformen gegeben werden, die im Hegel­ schen System in Abhängigkeit von ihrer jeweiligen Systemstelle unterschieden wer­ den. Vgl. dazu insbesondere Hans Friedrich Fulda, Das Problem einer Einleitung in Hegels Wissenschaft der Logik, Frankfurt/M. 1965.

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„Idee“ wird eine kongruente Einheit von intellectus und res, oder (metaphorisch) von „Seele“ und „Leib“ [WdL II, 464], oder auch (reflexionslogisch) von „innerer Idee“ oder (formellem) „Be­ griff“10 und einer „Realität“ verstanden, die aus dem „freien, sich selbst und hiermit zur Realität bestimmende[n] Begriff“ heraus gesetzt wird [Enz., §213]. Nicht nur die als „Geschichte“ bezeichenbaren Bildungsprozesse sind in philosophischer Per­ spektive ein Ganzes von solcher Struktur. Vielmehr ist alles, was mehr ist als eine „bloße“ Erscheinung, abbildlicher Aus­ druck der „einen und allgemeinen Idee“: angefangen vom „me­ chanischen Objekt“, über das „chemische Objekt“, das „geistlo­ se Subjekt“ (das organische und animalische Individuum), das als Subjekt (d.h. mit Bewußtsein) existierende (geistige) Indivi­ duum (das zunächst nur endlich und sich „nur des Endlichen“ bewußt ist, nicht aber seines inneren „Wesens“), bis hin zur Sphäre der „Lebendigkeit des Geistes“ [GP 6,19], d.h. der Welt­ geschichte (mit den integrierten Partialgeschichten der politi­ schen Geschichte, Wissenschafts-, Kunst-, Religions- oder Philo­ sophiegeschichte). Alles was ist, ist „nur insofern [...], als es die Idee in sich hat und sie ausdrückt“ [WdL II, 464]. Alles Wirkli­ che ist „eine Kongruenz des Begriffs und der Realität“ [ebda]. Aber, sofern es endlich ist, ist es diese Kongruenz nur als „Ur­ teil“: Es ist als etwas, das „gemessen“ ist an dieser seiner „inne­ ren Natur“ [vgl. Enz., §167], d.h. seiner intelligiblen Struktur, der Idee, die an sich das Wahre, „Wirklichste“ [Enz., §5] und Wirklich-Unendliche (infinitum actu) ist. Diese transzendiert al­ le ihre Erscheinungen, sie umgreifend, und strebt darauf zu, sich selbst zu erfassen - in einer Philosophie, deren Standpunkt der folgende ist: das Wissen der Idee als wissende und sich wissende Idee, also als „Geist, als absoluter Geist“ [vgl. GP 6,188]. Die Philosophie entfaltet sich als ein organisches System von Systemen, das sich im Bild eines „Kreises von Kreisen“ symbo­ lisieren läßt. Ein solches System hat „keinen Anfang im Sinne anderer Wissenschaften“ (so daß von einem Anfang nur in Be-

10 „Begriff“ steht für eine organismusartig sich entwickelnde intelligible Struktur, die in der Hegelschen Logik umrissen wird. Der „konkrete Gedanke, näher ausge­ drückt, ist der Begriff, und noch weiter bestimmt ist es die Idee; die Idee ist der Be­ griff, insofern er sich realisiert; er realisiert sich - dazu gehört, daß er sich bestimmt [...]“ [GP 6,211]. So ist die „Idee“ (oder „die Wahrheit“) der Gedanke, wie er in seiner Totalität an und für sich selbst bestimmt ist.

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Ziehung auf ein „Subjekt“ gesprochen werden kann, „welches sich entschließen will zu philosophieren“ [Enz., §17]). Es zeich­ net sich durch logische Vollkommenheit aus. D. h., es erfüllt in höchstem Maße die szientifische Forderung nach Systematizität philosophischer Erkenntnisse auf der Basis eines vollständigen, in der Wissenschaft der Logik umrissenen Prinzipiengefüges. Denn unter Philosophie werde nur „fälschlich“ ein „System[e] [...] von einem beschränkten, von anderen unterschiedenen Prinzip verstanden“, da es „im Gegenteil Prinzip wahrhafter Philosophie [ist], alle besonderen Prinzipien in sich zu enthal­ ten“ [Enz., § 14]. Die Wissenschaft der Logik ist, als „Wissenschaft der Idee an und für sich“ [Enz., § 18], nicht lediglich ein Teilsystem unter an­ deren, sondern die Philosophie in einem ausgezeichneten Sinne selbst: Das „Logische“ ist die Sphäre der „Allgemeinheit“, des „Apriorischen“ [Enz., § 12], des „reine[n] Wissen[s] in dem gan­ zen Umfange seiner Entwicklung“ [WdL I, 55] oder auch das „System der reinen Vernunft“ [WdL I, 44], und zwar so, daß sich das Denken hier seine „eigentümlichen Bestimmungen und Ge­ setze selbst gibt“ (anstatt „in sich vorfindet“) [Enz., § 19] und sich ihrer bewußt wird. Mit dieser Disziplin sucht Hegel zu­ gleich die Ansprüche moderner (transzendentaler) und klassi­ scher Metaphysik ebenso kritisch miteinander zu verbinden wie einzulösen: zunächst auf der Ebene der Ontologie - „Die Logik fällt [...] mit der Metaphysik zusammen, der Wissenschaft der Dinge in Gedanken gefaßt“ [Enz., §23] -, aber auch auf den Ebenen der drei besonderen metaphysischen Disziplinen (ratio­ naler Psychologie, Kosmologie und insbesondere Theologie). In der höchsten Bedeutung ist der logische „Inhalt“, wie Hegel metaphorisch, für das „gewöhnliche Bewußtsein“ formuliert, „Darstellung Gottes [...], wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist“ [WdL I, 44], so daß denn der Durchgang durch das Logische auch „dieselbe intensive Natur der Befriedigung und Beseligung“ bietet „wie die Religion“ [vgl. Enz., § 12]. Auf die „Wissenschaft von der absoluten Form, welche in sich Totalität ist und die reine Idee der Wahrheit selbst enthält“, fol­ gen zwei besondere (mehrfach subdifferenzierte) Wissenschaf­ ten, nämlich Natur- und Geistphilosophie, „welche aber das Logische und den Begriff zum inneren Bildner haben und behal­

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ten, wie sie es zum Vorbildner hatten“ [WdL II, 231]11. In der Naturphilosophie - als der Wissenschaft der „Idee in ihrem An­ derssein“ - wird ein vollständiger Begriff der erfahrbaren Natur gegeben. Die Natur erweist sich, ihrer logischen Infrastruktur gemäß, „an sich“ (oder für uns) als ein „lebendiges Ganzes“ [Enz., §248]. Deshalb wird durch einen „Stufengang“ von Ge­ staltungen (und entsprechenden Grundlagenwissenschaften wie Mechanik, Physik, Organik) hindurch die „Bewegung“ verfolgt, deren Ziel darin besteht, daß „die Idee“ sich als das setzt, „was sie an sich ist“; sie geht „in sich“, um zunächst „als Lebendiges zu sein“ [Enz., §251]. Das (im metaphysischen) Sinne „Lebendige“ (das „geistlose Subjekt“) ist das Höchste, was die Natur erreicht. Aber das Lebendige bleibt in dieser Sphäre der „Äußerlichkeit“ in äußere Verhältnisse eingebunden und mithin vereinzelt. Die Natur ist mithin zu ,ohnmächtig‘, „um den Begriff in seiner Aus­ führung festzuhalten“ [Enz., §250 Anm.]. So bietet sie immer auch bloße „Notwendigkeit“, und d.h.: ein „Spiel der Formen“ in ungebundener, zügelloser Zufälligkeit [vgl. Enz., §248]. Erst in der Sphäre des Geistes „sind“ die „Bestimmungen und Stufen wesentlich nur als Momente, Zustände, Bestimmungen an den höheren Entwicklungsstufen“ [Enz., §380]. In der Wissenschaft des Geistes ist zunächst thematisch, wie die Idee „aus ihrem An­ derssein in sich zurückkehrt“ [Enz., §18], das Wissen um sich selbst erlangt und schließlich „den höchsten Begriff“ ihrer selbst „in der logischen Wissenschaft als dem sich begreifenden reinen Begriff findet“ [vgl. WdL II, 573]. So wird verdeutlicht, wie sich in und mit der Philosophie zugleich eine Freiheitsintention er­ füllt, die eigentlicher Finalgrund jeglicher naturaler und welthaf­

11 Die Passage, in der das Verhältnis von Logik und den besonderen philosophischen Wissenschaften bestimmt wird, lautet ausführlich: Die Logik zeige „die Erhebung der Idee zu der Stufe, von der aus sie Schöpferin der Natur wird und zur Form einer kon­ kreten Unmittelbarkeit überschreitet, deren Begriff aber auch diese Gestalt wieder zerbricht, um sich selbst als konkreter Geist zu werden. Gegen diese konkreten Wis­ senschaften, welche aber das Logische und den Begriff zum inneren Bildner haben und behalten, wie sie es zum Vorbildner hatten, ist die Logik selbst allerdings die formelle Wissenschaft, aber die Wissenschaft der absoluten Form, welche in sich Totalität ist und die reine Idee der Wahrheit selbst enthält“ [WdL II, 231]. L. Bruno Puntel hat im zweiten Teil seiner HEGEL-Interpretation Darstellung, Methode und Struktur. Untersuchungen zur Einheit der systematischen Philosophie G. W. F. Hegels (Bonn 1973, 69) gezeigt, daß „die realsystematischen Inhalte (Sphären) in der Logik enthalten“ sind.

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ter Bildung ist. Alles zielt auf Freiheit - und frei ist, „was nicht von einem anderen [...] abhängt, was nicht [...] verwickelt ist in ein Anderes“; „der Geist, indem er [sich] mit sich selbst schließt, erreicht er dieses, als ein freier zu sein, bei sich zu sein. Das ist sein absolutes, höchstes Ziel“ [GP 6,147].

b) Realphilosophische Programmatik Philosophie ist Philosophie der Freiheit auch und gerade in ihren realphilosophischen Teilen, mithin also auch in der Philosophie­ geschichtsphilosophie. Die realphilosophische Aufgabe besteht darin, eine „Versöhnung“ der mit sich selbst in höchstem Maß entzweiten Vernunft zu leisten: nämlich eine „Versöhnung der selbstbewußten Vernunft mit der seienden Vernunft, mit der Wirklichkeit“ [Enz., §5]. Im Duktus religiöser Grundmotivation sollte Philosophie vollenden, was Luther begann: „Was Luther als Glauben im Gefühl und im Zeugnis des Geistes begonnen, ist dasselbe, was der weiterhin gereifte Geist in Begriffe zu fassen und so in der Gegenwart sich zu befreien und dadurch in ihr sich zu finden bestrebt ist“ [GPR, 27]. Die für Realphilosophie cha­ rakteristische Versöhnungsintention hat den Sinn einer Recht­ fertigung dessen, was wirklich ist, im Unterschied zu dem, was „bloße Erscheinung“ ist. Eingelöst wird sie gleichsam im Verfah­ ren einer ,Kritik der reinen Vernunft‘. Denn es soll herausge­ stellt und festgehalten werden, was im „weiten Reich äußeren und inneren Daseins [...] nur Erscheinung, vorübergehend und bedeutungslos ist, und was in sich wahrhaft den Namen der Wirklichkeit verdient“ [Enz., §5]. „Was vernünftig ist, das ist“, nach Hegels berühmter These, „wirklich“, und „was wirklich, das ist vernünftig“ [ebda]. Was wirklich und vernünftig ist, ist in jedem Fall etwas anderes als ein „vorübergehendes Dasein, äu­ ßerliche Zufälligkeit, Meinung, wesenlose Erscheinung, Un­ wahrheit, Täuschung usf.“, ist etwas anderes als eine „Existenz“, „die keinen größeren Wert als den eines Möglichen hat, die so gut nicht sein kann, als sie ist“ [GPR §1]12. Was vernünftig und mithin wirklich ist, ist eine durch den Begriff gesetzte Wirklich­ keit. „Was nicht diese durch den Begriff selbst gesetzte Wirklich­ keit“ ist, resultiert aus Zufall und Willkür, für welche solange 12 Vgl. auch WdL II, 44; Enz., § 16.

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Platz ist, solange und soweit die Realität dem Begriff nicht un­ terworfen werden kann. Dabei geht die Unterscheidung zwi­ schen Wirklichkeit und bloßer Erscheinung auf Platon zurück: Wie die „Platonische Idee nichts anderes [ist] als das Allgemei­ ne oder bestimmter der Begriff des Gegenstandes“, so hat „nur in seinem Begriffe [...] etwas Wirklichkeit; insofern es aber von seinem Begriffe verschieden ist, hört es auf, wirklich zu sein, und ist ein Nichtiges“ [WdL I, 44]. So lassen sich zwar „Spuren der Begriffsbestimmung [...] bis in das Partikulärste hinein verfol­ gen“ [Enz., §250]. Aber „das Ungehörigste“ sei, „von dem Be­ griffe zu verlangen, er solle dergleichen Zufälligkeiten begrei­ fen“ [ebda]. Stattdessen hat „die philosophische Betrachtung [...] keine andere Absicht, als das Zufällige zu entfernen“13. Der der Entfernung des Zufälligen geltende, insofern kriti­ sche Rekurs auf das „weite Reich des äußeren und inneren Da­ seins“ in den realphilosophischen Systemteilen hat seinen Ansatzpunkt (wenigstens zunächst) bei den selbständigen Er­ fahrungswissenschaften (der „besonderen“ wissenschaftlichen „Bildung“). Das „Denken“ bleibt also nicht „bei sich“ in der logischen Sphäre der „Unmittelbarkeit [...] (des Apriorischen)“ [Enz., § 12] stehen, sondern besondert sich14. Wenn der „Gedan­ ke“ im Durchgang durch das logische „Reich der Schatten“ erst einmal „in dem Abstrakten und in dem Fortgehen durch Begrif­ fe ohne sinnliche Substrate heimisch“ geworden ist [WdL I, 55], reagiert er auf den „Reiz“, den die Erfahrungswissenschaften mit sich bringen. Empirische Naturwissenschaften und die (spä­ ter noch etwas näher zu erläuternde) empirische Geschichtswissenschaft15, die dem Sachverhalt Rechnung trägt, daß sich, 13 So heißt es in der von Johannes Hoffmeister herausgegebenen Einleitung in die Philosophie der Weltgeschichte. Vgl. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, hrsg. von J. Hoffmeister, Hamburg 51955,29. Hier ist „Zufälligkeit [.] dasselbe wie äußerliche Nothwendigkeit, d. h. eine Nothwendigkeit, die auf Ursachen zurückgeht, die selbst nur äußerliche Umstände sind“ [ebda]. 14 Das Denken entfaltet sich als Totalität (Idee) nach den Bestimmungen des „Be­ griffs“: der „Allgemeinheit“, „Besonderheit“ und „Einzelheit“. Das „Allgemeine“ ist das „mit sich Identische, aber ausdrücklich in der Bedeutung, daß in ihm zugleich das Besondere und Einzelne enthalten sei“. Das Besondere ist das „Unterschiedene“ oder die „Bestimmtheit, aber in der Bedeutung, daß es allgemein in sich und als Einzelheit sei“. Das Einzelne hat die „Bedeutung, daß es Subjekt, Grundlage sei, welche die Gattung und Art in sich enthalte und substantiell sei“ [Enz., § 154]. 15 „Wir heißen jene Wissenschaften, welche“ - wie die „Newtonische Physik“ oder Hugo Grotius’ „Zusammenstellung der geschichtlichen Benehmungen der Völker“ -

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wie in der „äußeren Natur“, so auch in der Geschichte - in jeder Geschichte - „Begebenheiten [...] in Wirkungen fortsetzen“ [vgl. GP 6, 5], d. h. im Sinne eines nexus efficiens miteinander verbunden sind, stehen für endliche, dennoch bedeutsame Ge­ staltungen des Geistes, für seine „besondere Bildung“: Denn es werden „allgemeine Bestimmungen“, „Gattungen“ und „Geset­ ze“ gefunden, womit zugleich das „Vorhandene“ in „Gedanken“ („Theorien“) verwandelt wird. In diesem Sinne bereiten die Er­ fahrungswissenschaften den „Inhalt des Besonderen“ so vor, daß er schließlich in die Philosophie aufgenommen werden kann [Enz., §12]. Bereits sie sind kritisch: Eine „sinnige Betrachtung der Welt unterscheidet schon, was von dem weiten Reiche des äußeren und inneren Daseins nur Erscheinung, vorübergehend und bedeutungslos ist“ (und nur Gegenstand „historischer“ Kenntnis sein kann) „und was in sich wahrhaft den Namen der

„Philosophie genannt worden sind, empirische Wissenschaften von dem Ausgangs­ punkte, den sie nehmen. Aber das Wesentliche, das sie bezwecken und hervorschaffen, sind Gesetze, allgemeine Sätze, eine Theorie; die Gedanken des Vorhandenen. [...] Noch hat der Name Philosophie bei den Engländern allgemein diese Bestimmung“ [Enz., §8 Anm.]. Die empirischen Wissenschaften gehören zur allgemeinen Volks„Bildung“, die der weltgeschichtlichen Entwicklung unterliegt, zeichnen sich vor all­ gemeiner Bildung lediglich durch eine „gebildetere Metaphysik“, d.h. dadurch aus, daß man bestrebt ist, Tatsachen bereits in einen „Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen, Gründen und Folgen“ zu bringen. Dabei bleiben allerdings sowohl die Gegenstände, die „Gesichtspunkte“ der Betrachtung und nicht zuletzt die „Bestim­ mungen und Grundsätze des Denkens“, nur vorausgesetzt: Als „Metaphysik“ durch­ weben letztere wie ein „Netz“ den „vielschichtigen Stoff“, den das Bewußtsein vor sich hat [Vgl. GP 6, 60ff.]. Aber „dieses Gewebe und dessen Knoten [...], jene allge­ meinen Fäden werden nicht herausgehoben und für sich zu den Gegenständen unserer Reflexion gemacht“ [GP6, 63]. Dabei beruht „Bildung [...] überhaupt“, wie Hegel definiert, „in den allgemeinen Vorstellungen und Zwecken, in dem Umfang der bestimmten geistigen Mächte, welche das Bewußtsein und das Leben regieren“ [ebda, 62]. Bereits in der Phänomenologie hieß es, daß „der Anfang [...] des Herausarbeitens aus der Unmittelbarkeit des substantiellen Lebens“ allerdings immer „damit gemacht werden müsse, Kenntnisse allgemeiner Grundsätze und Gesichtspunkte zu erwerben, sich nur erst zu dem Gedanken der Sache überhaupt herauszuarbeiten, nicht weniger sie mit Gründen zu unterstützen oder zu widerlegen, die konkrete und reiche Fülle nach Bestimmtheiten aufzufassen und ordentlich Bescheid und ernsthaftes Urteil über sie zu erteilen wissen. Dieser Anfang der Bildung wird aber [...] dem Ernste des erfüllten Lebens Platz machen, der in die Erfahrung der Sache selbst hineinführt [...]“ [Phän., 13]. Und er wird von dort aus im späteren System in diejenige Disziplin einmünden, die dann alleine die „absolute Bildung“ und „Zucht des Bewußtseins“ gewähren kann: in die logische Wissenschaft.

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Wirklichkeit verdient“ [Enz., §5]16. Nun gilt es nur noch, die dem „Inhalt des Besonderen“ noch „anklebende Unmittelbar­ keit und das Gegebensein“ sowie die „Form“ aufzuheben, in welcher der Inhalt in den Erfahrungswissenschaften (sowohl di­ stributiv als auch kollektiv betrachtet) „als ein nur Unmittelba­ res und Gefundenes, nebeneinander gestelltes Vielfaches, daher überhaupt Zufälliges geboten wird“ [Enz., § 12]. In der Philoso­ phie tritt an die Stelle des beglaubigenden „Berufens auf die Erfahrung“ [Enz., § 246] die fest im Logischen verankerte Inten­ tion, die

„Tatsache zur Darstellung und Nachbildung der

ursprünglichen und vollkommen selbständigen Tätigkeit des Denkens“ werden zu lassen [Enz., §12]. In der Philosophie er­ hält die Tatsache die „Gestalt“, die ihre Wahrheit ausmacht: an sich „frei im Sinne des ursprünglichen Denkens“ und „nur nach der Notwendigkeit der Sache hervorzugehen“ [ebda]. In diesem Sinne nimmt die Philosophie „die sonstige Mannigfaltigkeit der Kenntnisse und Wissenschaften in die vernünftige Form“ auf: Sie erfaßt „sie in ihrem Wesentlichen“ [vgl. WdL I, 55], d. h., sie streift ihnen „das Äußerliche“ ab und ,zieht‘ „auf diese Weise aus ihnen das Logische“ aus. Oder, „was dasselbe ist“: Sie erfüllt die (vorher „durch das Studium erworbene“) „abstrakte Grund­ lage des Logischen mit dem Gehalt aller Wahrheit“ und verleiht ihm „dadurch den Wert eines Allgemeinen, das nicht mehr als ein Besonderes neben anderem Besonderen steht, sondern über alles dies übergreift und dessen Wesen, das Absolut-Wahre ist“ [WdL I, 55f.]17. Nach einer Formulierung Hans Friedrich Fuldas markiert diese Philosophie den „Kairos der Wahrheit“18. Die in ihr gelei­ stete „Versöhnung“ kann allerdings nur eine „partielle“ sein. D. h., die Philosophie berührt die „zeitliche Gegenwart“ (das Volk, die Welt) nicht, für deren „gedrungenbleibende Vernunft“ die „Wahrheit“ zudem nur in der Anschauung oder „Vorstel­

16 Auch die Differenzierung zwischen den auf Einzelheiten (als solchen) gehenden historischen Wissenschaften, den besonderen empirischen sowie dem allgemeinen Sy­ stem der Philosophie ist, wie noch deutlicher werden wird, am „Begriff“ und seiner entwicklungslogischen Konkretion orientiert. 17 „So muß denn allerdings die Logik zuerst gelernt werden“, und zwar „als etwas, das man wohl versteht und einsieht, aber woran Umfang, Tiefe und Bedeutung anfangs vermißt wird“ [WdL II, 54]. 18 Hans Friedrich Fulda, Das Problem einer Einleitung, a. a. O., 219.

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lung“ (Religion), niemals aber im Denken liegen kann [ebda]. „Wie es der Welt gehen mag“, wie sie „sich gestalte“, ist grund­ sätzlich „nicht unsere Sache, ist nicht die unmittelbare prakti­ sche Sache und Angelegenheit der Philosophie“ [Rel. 5, 97].

c) Philosophie der Geschichte Eingebunden in dieses Konzept, gewinnen nun die ihrerseits einen komplexen Systemzusammenhang bildenden Geschichts­ philosophien, die sich im Übergang zwischen den Systemsphä­ ren objektiven und absoluten Geistes so ansiedeln19, daß für sie die Philosophie der Geschichte im allgemeinen (Weltgeschichte) fundamental bleibt20, Sinn und Aufgabenstellung daraus, daß es gilt, „die sonstige Mannigfaltigkeit der Kenntnisse und Wissen­ schaften [...] in ihrem Wesentlichen“ (dem Logischen) zu erfas­ sen und ihnen „das Äußerliche“ abzustreifen: also das Zufällige, Vergängliche und nur im Modus des Vergangenen noch Präsen­ te. Auch das „Wesen“ der Geschichte (jeder Geschichte) ist, phi­ losophisch betrachtet, die „Idee“. Doch wie in der äußeren Na­ tur ist auch in dieser Sphäre deren „Erscheinung“ noch in das Feld „der Zufälligkeit und [.] der Willkür“, mithin der „Äußer­ lichkeit“ eingelassen [Enz., §16]. D. h., Geschichte drückt als Geschichte aus, daß die Realität dem „Begriff“ noch nicht voll­ kommen unterworfen, er noch nicht das Übergreifende ist. Dies gilt auch für die Geschichte der Philosophie als philosophischem Gegenstand. In der Philosophiegeschichtsphilosophie wird „die

19 Die Frage, ob Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie überhaupt als Teil des Hegelschen Systems aufgefaßt werden können, gilt in der neueren HEGEL-Forschung als eine noch offene Frage. Dagegen wird die Auffassung, die „Ge­ schichte der Philosophie“ habe gar den Abschluß des Systems bilden sollen, nicht mehr vertreten. Die letztere Auffassung wurde von HEGEL-Schülern ins Spiel gebracht und im sogenannten Neukantianismus noch vertreten - so im Anschluß an Kuno Fi­ scher etwa von Wilhelm Windelband, der annahm, bei Hegel bildete die Ge­ schichte der Philosophie „das letzte, abschließende Glied“: Vgl. Windelband, Ge­ schichte der Philosophie, a. a. O., 177. Was jedoch die erste Frage betrifft, ob die Geschichte der Philosophie Teil der Philosophie ist, so wird sie im folgenden positiv zu beantworten versucht: Die „Geschichte der Philosophie“ ist Teil des philosophi­ schen Systems, insofern in ihr - im Unterschied zu einer empirischen sowie histori­ schen Behandlung des Gegenstands ,Philosophiegeschichte‘ - dieser Gegenstand un­ ter Voraussetzung der philosophischen Grundwissenschaft, der Wissenschaft der Logik, behandelt werden sollte. 20 Vgl. Hans Friedrich Fulda, Das Problem einer Einleitung, a. a. O., 212.

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Entstehung und Entwicklung der Philosophie als Geschichte die­ ser Wissenschaft“ vorgestellt [Enz., § 13]. Thematisch ist die Ent­ wicklung der Philosophie als potentieller Wissenschaft zur Wis­ senschaft, „in der eigentümlichen Gestalt“ von Geschichte oder unter einer „empirischen“, durch den Raum und, vor allem, durch die Zeit bestimmten „Form“ [GP 6, 27]. D. h. die Stufen der Entwicklung treten zu unterschiedlichen Zeitpunkten, an verschiedenen Orten und gebunden an einzelne („zufällige“) In­ dividuen (als einzelne) und in ,Verwicklung‘ mit kulturellen, politischen, religiösen Umständen hervor - mit einem „Beiwe­ sen“, das der Philosophie selbst fremd ist. Aber diese Geschichte hat systematischen Zusammenhang. Hegel bestimmt sie als denjenigen Prozeß, in dem Schritt für Schritt ,das Logische‘ oder „das an sich Vernünftige aus dem Schachte des Geistes, worin es zunächst nur als Substanz, als inneres Wesen ist, zu Tag ausge­ bracht, in das Bewußtsein, in das Wissen“ ,befördert‘ wird [GP 6, 47]. Die einzelnen Positionen, in denen dies geschieht, zeichnen sich selbst allerdings durch äußerste Begrenztheit aus: Denn der Systembildung konnte immer nur eines der Prinzipien des logi­ schen Prinzipiengefüges zugrundegelegt werden, wobei die er­ sten Prinzipien, wie in der Logik gezeigt wird, zudem noch „ab­ strakt“,

d. h.

unterentwickelt

sind

und

dies

deshalb

auch

„notwendig in den ersten Philosophien“ wie „z. B. dem Sein der eleatischen Schule, dem Werden Heraklits u. dgl. der Fall ist“ [Enz., §12]. Nun begründen besondere Prinzipien (seien sie noch abstrakt oder schon konkreter) kein System und führen so­ mit auch nicht zur Philosophie als Wissenschaft: Denn kann „ein Philosophieren ohne System [...] nichts Wissenschaftliches sein“, weil es seinem „Inhalte nach zufällig“ wäre, so eben wird „unter einem System [...] fälschlich eine Philosophie von einem beschränkten [...] Prinzip verstanden [...]“ [Enz., §14]21. Beson­ dere Prinzipien begründen in szientifischer Hinsicht somit kein System, sondern nur ein Aggregat, eine „Historie“, ein Wissens­ ganzes, in dem die Inhalte (Gedanken und eine Menge einfacher Vorstellungen) den Status von etwas zufällig Aufgefundenem (anstatt des im Zusammenhang Entwickelten und Gerechtfer­

21 „Philosophien eines noch untergeordneten Prinzips, kann man auch sagen, taten Blicke, die über ihre Prinzipien hinausgehen, welche [aber] nicht hinreichten, das Gan­ ze, die Weltanschauung in diesem Prinzip zu erfassen“ [GP 6,156].

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tigten) haben. So zeichnet sich die Philosophie in der Geschichte dadurch aus, daß sich über die Sektoren des logischen Prinzi­ piengefüges, gleichsam wie eine anschauliche Schicht, Historien legen, die nicht zuletzt der Geschichte das ihr als Geschichte zu­ kommende empirische Gepräge geben. Die Philosophie sucht die Geschichte der Philosophie „in ihrem Wesentlichen“ (im Ge­ gensatz zum Unwesentlichen) zu erfassen. Sie ist deshalb eine (kritische) Erkenntnis von Empirischem, deren Ansatzpunkt je­ doch nicht irgendeine Erfahrungswissenschaft ist: Ansatzpunkt sind die als „Taten der denkenden Vernunft“ [vgl. GP 6, 144] gewerteten philosophischen Werke selbst. Denn die Texte zeu­ gen selbst davon, was die Philosophie bislang gewesen ist: „Ent­ stehung und Entwicklung der Philosophie“ noch nicht in der Ge­ stalt systematischer Wissenschaft, sondern solche Entwicklung nur erst in der „eigentümlichen Gestalt“ von Geschichte, die zur Wissenschaft führt. Von Bedeutung in diesem Zusammenhang ist, daß Hegel den defizienten Modus der Systementfaltung vormaliger Positionen mit dem Ausdruck „Historie“ belegt: So z. B. war die Logik bis­ lang nur ein „Aggregat von Bestimmungen und Sätzen“ - und d. h. „eine Historie von mancherlei zusammengestellten Gedan­ kenbestimmungen“ (die endlich waren, aber „als etwas Unend­ liches gelten“ sollten) [Enz., §82]. In eine solche Historie kann die „spekulative Logik“ - die „teils den systematische[n] Zusam­ menhang, teils aber [...] de[n] Wert der Formen“ [WdL II, 269] erkannt und zugleich ausgeschieden hat, was sich in ihrem Zu­ sammenhang nicht rechtfertigen läßt - durchaus zurückverwan­ delt werden: wenn aus ihr „das [...] Vernünftige“ (das Denken und eigentlich Logische, die sich selbst bestimmende und ent­ wickelnde Idee) hinweggenommen wird [Enz., §82]22. Und so ist denn auch die Kantische Philosophie im ganzen nur eine „Historie“ gewesen, wenn auch schon - darauf wird zurückzu­ 22 Hegels Kritik gilt vor allem „Kant, der [...] die Logik, nämlich das Aggregat von Bestimmungen und Sätzen [...] darüber glücklich“ gepriesen habe, „daß ihr vor an­ deren Wissenschaften eine so frühe Vollendung zuteil geworden sei; seit Aristoteles habe sie keinen Rückschritt getan, aber auch keinen Schritt vorwärts, das letztere des­ wegen, weil sie allem Ansehen nach geschlossen und vollendet zu sein scheine. Wenn die Logik“, so Hegel, „keine Veränderung erlitten hat [...], so ist daraus eher zu folgern, daß sie [...] einer totalen Umarbeitung bedürfe; denn ein zweitausendjähriges Fortarbeiten des Geistes muß ihm ein höheres Bewußtsein über sein Denken und seine Wesenheit verschafft haben“ [WdL I, 46].

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kommen sein - eine Historie mit gewissem Zusammenhang, Hi­ storie in „erzählender“ Version. Reichte nun aber auch kein besonderes Prinzip zu, um Philo­ sophie als ein („organisches“) „System der Entwicklung der Idee“ zu begründen [GP 6, 28], so begründete die Gesamtheit der Prinzipien aber doch Philosophiegeschichte als ein solches System. Wobei nur eine Betrachtung, die die Geschichte der Phi­ losophie als ein „System der Entwicklung der Idee“ aufzufassen vermag und die sich damit selbst als ein System generiert, „den Namen einer Wissenschaft verdient“ (während „eine Sammlung von Kenntnissen [...] keine Wissenschaft“ ausmachen würde) [GP 6, 28 f.]23.

d) Geschichtlichkeit der Philosophie? Hegels Philosophiegeschichtsphilosophie hat, wie die mannig­ faltigen Hinweise auf eine entwicklungsfähige „denkende Na­ tur“ [Enz., §13] bzw. „Natur des Denkens, der Vernunft“ [vgl. GP 6, 220] anzeigen, ihr Paradigma an der teleologischen Natur­ lehre, die schon bei Kant in der Philosophiegeschichtsphiloso­ phie eine Rolle spielt. Dabei ließe sich im Anschluß z. B. an Rolf-Peter Horstmann aber zeigen, wie diese Konzeption aus einer eigentümlichen Rezeption der Kantischen Philoso­ phie hervorgegangen ist, insofern Hegel die „Zentralidee der teleologischen Urteilskraft“ Kants mit dessen Prinzip der „ur­ sprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption24 so ver­ knüpft hat, daß dieses Prinzip zu einer „materialen Bedingung ontologischer Realität“ und „die Idee der objektiven Zweck­ mäßigkeit der Natur“ zur „Idee eines sich in der Natur als des Inbegriffs aller Realität sich manifestierenden intelligenten We­

23 Vgl. zu Hegels Verständnis von Philosophiegeschichtsphilosophie als philosophi­ scher Wissenschaft auch die Einleitung von Walter Jaeschke in die Studienausgabe von Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Teil 1: Einleitung in die Geschichte der Philosophie - Orientalische Philosophie, Hamburg 1993 (Philoso­ phische Bibliothek Bd. 439), VII - XL, sowie das Vorwort der beiden Herausgeber der Kritischen Ausgabe von Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (= GP 6), hier insbes. XI-XVII. 24 Hegel versteht dieses Prinzip auf seine Weise: als eine „Einheit des Ich mit sich selbst“ [WdL II, 255], die ihm „das Wesen des Begriffs“ ist [ebda, 221].

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sens“ avancierte25. Im folgenden wird zumindest zu verdeutli­ chen sein, wie sich für Hegel die Philosophiegeschichte und dar­ über hinaus jede andere („eigentlich“ so zu nennende) Ge­ schichte (die es für ihn schon innerhalb der physischen Natur gibt) tatsächlich als eine Art lebendiger Natur dargestellt hat, in der sich - in jeder einzelnen wie in allen zusammen - ein höheres intelligentes Wesen manifestiert hat und in der Perspek­ tive einer Philosophie, die auf dieses Wesen und damit auf „ewig Gegenwärtiges“ zielt, auf immer manifestieren wird. In diesem Sinne verband Hegel mit einer Philosophie der Geschichte überhaupt (insbesondere mit Welt- und Philosophiegeschichts­ philosophie)

das

Theodizee-Motiv,

glaubte

aber

auch,

die

Ansprüche noch einlösen zu können, die in Orientierung am Er­ kenntnisideal exakter Naturwissenschaften in der Geschichts­ philosophie schon von Kant erhoben worden waren, nämlich: den Nachweis erbringen zu können, „daß Verstand, daß Ver­ nunft in der gegenständlichen Welt ist, daß der Geist und die Natur allgemeine Gesetze haben, nach welchen ihr Leben und ihre Veränderungen sich machen“ [WdL I, 45]. Damit deutet sich nun allerdings an, daß Hegels Geschichts­ philosophie (im allgemeinsten Sinn des Worts) keine Vorläuferin von Theorien sein kann, welche die Vernunft in die menschliche Lebenswelt und in Geschichte in diesem Sinn einschließen. Be­ reits Lutz Renthe-Links Analysen der Verwendung des Aus­

25 Rolf-Peter Horstmann, Wahrheit aus dem Begriff, Frankfurt/M. 1990, 63 f. Um die Passage vollständig zu zitieren: „Der Punkt, an dem nicht nur Hegel, sondern [...] auch Lichte und Schelling einen Anknüpfungspunkt in Kants Theorie der tran­ szendentalen Einheit der Apperzeption finden zu können gemeint haben, ist der bei Kant selbst eigentlich gar nicht angelegte Aspekt, demzufolge das die Objektivitäts­ bedingungen der Erkenntnis sichernde nichtempirische Ich in irgendeiner von Lichte, Schelling und Hegel jeweils verschieden gefaßten Weise zugleich so etwas wie Pro­ duzent von Realität in materialer Hinsicht sei. Was Lichte, Schelling und Hegel sowie einige andere ihrer Zeitgenossen bewogen hat, die von Kant zunächst nur als logische Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis eingeführte Vorstellung der tran­ szendentalen Einheit der Apperzeption um fast jeden Preis zu einer materialen Be­ dingung ontologischer Realität umzuwenden, - diese Frage, [...] will man sie nur für Hegel mit einem sehr verkürzenden Hinweis beantworten, so wird man sagen kön­ nen, daß Hegel primär daran interessiert gewesen zu sein scheint, die Vorstellung der transzendentalen Einheit der Apperzeption mit der Zentralidee der teleologischen Urteilskraft in einen Zusammenhang so zu bringen, daß die Idee der objektiven Zweckmäßigkeit der Natur sich zu der Idee eines in der Natur als des Inbegriffs aller Realität sich manifestierenden intelligenten Wesens umformen läßt.“

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drucks „Geschichtlichkeit“ bei Hegel hatten zum Resultat, daß dieser Begriff „noch nicht [...] für die philosophische Kenn­ zeichnung des Wesens der Geschichte als einer werdenden Seinsart oder für die besondere Situation des Menschen in die­ sem Geschehen im Sinne eines sich als geschichtlich Wissenden“ verwendet wird26. Im Kontext von Theorien, wie sie im zweiten Teil der Arbeit exemplarisch vorgestellt worden sind - Theorien, die zwar an Hegels Überzeugung festhalten, „Sein“ komme einzig dem Denken zu, dann aber Sein auf Geschichtlich-„Sein“ reduzieren und somit Geschichte, insbesondere Philosophiege­ schichte als das exklusive Medium der Entwicklung des Den­ kens (der Vernunft) ansehen - wird Hegel selbst zum Denker der Geschichtlichkeit: Bei Hegel, so die Deutung, „ist“ die Phi­ losophie „ihre Geschichte“27, mithin „Geschichtlichkeit die Di­ mension des Hegelschen Denkens von Anbeginn an“28, wes­ halb sich denn, in der Konsequenz, für Hegel die Philosophie gerade in demjenigen „Werden“, das den Titel „Geschichte“ (an­ statt den der Wissenschaft) trägt, „als philosophia perennis“ dar­ gestellt habe29. Also ist „die Philosophie als ganze [...] nach Hegel Geschichtsphilosophie“30 - eine Geschichtsphilosophie, der nun die „historische Aufgabe“ zugekommen sei, sich „in ihrer Geschichtlichkeit zu begreifen“31. Folgt man also diesen Interpretationen, dann war schon Hegel der Ansicht, es gäbe, „anfänglicher gedacht“, wie Martin Heidegger es formuliert, „die Geschichte des Seins, in die das Denken als Andenken die­ ser Geschichte, von ihr selbst ereignet gehört“, und „nicht nur,

26 „Es bleibt bei der [...] isolierten Verwendung; .Geschichtlichkeit1 wird kein syste­ matischer Zentralbegriff Hegels“, unter anderem auch „wegen der ambivalenten Haltung, die Hegel dem geschichtlichen Geschehen gegenüber einnimmt: Das .nur Faktische1 und .bloß Historische1 ist letztlich spekulativ gleichgültig“: Art. Geschicht­ lichkeit, in: Hist. Wörterb. der Philosophie, Bd. 3, Sp. 404-408, Sp. 405. Vgl. dazu auch L. Renthe-Fink: Geschichtlichkeit. Ihr terminologischer und begrifflicher Ursprung bei Hegel, Haym, Dilthey und Yorck, Göttingen 21968. 27 Lucien Braun, Geschichte der Philosophiegeschichte, a. a. O., 364. 28 Ebda, 365. Dabei ist für Braun auf problematische Weise „die Hegelsche Ge­ schichtlichkeit vor allem dies: die sich fortschreitend entwickelnde, aber in dieser Ent­ wicklung sich auch immer sich selbst versichernde Wahrheit“ [ebda]. 29 Emil Angehrn, Vernunft in der Geschichte? Zum Problem der Hegelschen Ge­ schichtsphilosophie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 35, Heft 3/4 (1981), 341-364, 355. 30 Ebda, 341. 31 Ebda, 356.

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wie Hegel meint, eine Systematik, die das Gesetz ihres Den­ kens zum Gesetz der Geschichte machen und diese zugleich in das System aufheben könnte“32.

e) Kritik der Geschichte Heideggers Verständnis von Hegels Philosophie ist freilich, wie sich zeigen wird, triftig. Der Kontext, in dem Hegel selbst die Terme „Vernunftentwicklung“, „Geschichte“, „geschicht­ lich“ oder „historisch“ verwendet, ist nicht eine sich über Ge­ schichte, sondern über ,das Logische‘ und damit über „ewig Ge­ genwärtiges“ definierende Philosophie. Dabei zeugt selbst der Sachverhalt, daß sich Hegel (im pflichtgemäßen Rahmen seiner Vorlesungstätigkeit) mit keinem anderen Thema so ausgiebig beschäftigt hat wie mit „Geschichte der Philosophie“33, nicht von einem Denken der „Geschichtlichkeit“, sondern, geradezu umgekehrt, von dem Versuch, das von Kant inaugurierte Pro­ jekt einer „philosophischen Geschichte der Philosophie“ in den Rang einer starken Metaphysik zu erheben. In deren Rahmen sollte durch eine bestimmte Auswahl und Interpretation chrono­ logisch angeordneter Texte (mit gewissem praktischen, religiös motivierten Sinnhintergrund) von der Philosophie gerade dasje­ nige ,entfernt‘ werden, was für Philosophie in Geschichte noch kennzeichnend ist: das Historische, Geschichtliche, Vergängli­ che, oder, allgemeiner: das Zufällige, um das man sich „ge­ schichtlich“ (historisch-empirisch) bemühen muß. „Kritik der Geschichte“, um es mit einem Kantischen Ter­ minus zu formulieren, insbesondere Kritik an einer Philosophie, die sich als Historie konstituiert und sich um sich selbst nur „ge­ schichtlich“ bemüht - dies ist eine Programmatik, die Hegel schon in der Differenzschrift verfolgt. Diese Schrift gibt zugleich Auskunft darüber, was eine „Kritik der Geschichte“ auch immer noch einschloß: Kritik an der Philosophiegeschichtsschreibung der Kantianer. Die diesbezüglich bedeutsamsten Aspekte sind kurz zu skizzieren.

32 Martin Heidegger, Über den Humanismus, a. a. O., 26. 33 Jena 1805/1806; Heidelberg 1816/1817; 1817/1818; Berlin 1819; 1820/21; 1823/1824; 1825/1826; 1827/1828; 1829/30; kurz vor seinem Tod 1831 hat Hegel mit der Vorlesung erneut begonnen.

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1.2 Exkurs: Ansatz zu einer philosophischen Geschichte, der Philosophie1 (1801) Unvermittelt setzt die Differenzschrift ein mit einer Kritik an „mancherlei Formen, die bei dem jetzigen Philosophieren ver­ kommen“ [Diff., 15 ff.]. Diese Kritik dient dazu, den Eingang in die „Philosophie selbst“ wieder freizulegen, der durch das Philo­ sophieren in diesen Formen gerade „übersponnen“ und „ver­ deckt“ wird [vgl. Diff., 13f.]. Es sind Formen einer „geschichtli­ chen Ansicht philosophischer Systeme“. Bald sollte wieder einmal „durchaus nur von der Philosophie selbst die Rede“ sein [vgl. Diff., 14], anstatt „geschichtlich“ bloß von philosophischen Systemen in jener Wissenschaft par excellence, der eigentlich die Gegenwart des Absoluten aufbehalten34 und die jetzt doch zur bloßen „Kenntnis“ umgewandelt worden war [Diff., 15]. Zwar gibt sich diese „Kenntnis“ sowohl durch das Moment der Selbstreflexivität als auch durch „Trieb zur Totalität“ [ebda] noch im­ mer als Form der Philosophie zu erkennen. Aber bezeichneter „Trieb [...] äußert sich [nur] noch als Trieb zur Vollständigkeit der Kenntnisse“ [Diff., 15; Z.v. V.]. Und das reflexive Moment kommt bloß als sinnlich gebrochenes, vernunftloses Verhältnis einer toten, auf lebendiges Philosophieren, d. h. auf „Spekula­ tion“ Verzicht tuenden Geistesgestalt zu Geistesgestalten (Sy­ stemen) noch zur Geltung, welche dem Subjekt, das sich in Form der „Kenntnis“ auf sie bezieht, den „lebendigen Geist“, der in ihnen wohnt, nicht „enthüllen“ (verlangte dies doch, daß er durch einen „verwandten Geist“ erneut geboren wird) [Diff., 16]. Dabei vermutet der Verfasser der Differenzschrift, daß wohl „ein Zeitalter, das eine solche Menge philosophischer Systeme als eine Vergangenheit hinter sich liegen hat, [...] zu derjenigen Indifferenz kommen zu müssen [scheint], welche das Leben er­ langt, nach dem es sich in allen Formen versucht hat“ [Diff., 15]: Man philosophiert nicht mehr, wagt sich nicht mehr ins (speku­ lative) „Leben“, sondern beschäftigt sich, alt, „verknöchert“ und gleichgültig aller Vernunft und Wahrheit gegenüber geworden [vgl. ebda], nur noch mit Systemen. Freilich könnte Philosophie nichts anderes mehr sein als nur noch eine Kenntnis, in deren 34 Die Philosophie gewinnt den Vorrang vor der Religion allerdings erst in der Jenaer Zeit. In den Tübinger, Berner und Frankfurter Manuskripten zielte Hegel mit Philo­ sophie noch auf Religion.

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Perspektive sich die Systeme sofort in eine „tote Meinung und [...] in eine Vergangenheit“ verwandeln [Diff., 16], wenn es denn zuträfe, daß alle Formen lebendigen Philosophierens schon durchgespielt sein würden. Doch macht die Differenzschrift deutlich, daß sich die „Spekulation“ zwar in allen besonderen Formen schon versucht hat, aber jene absolute Form der Gegen­ wart vorbehalten war, in und mit der sie zu ihrer vollständigen „Selbstkonstruktion“ in einem System durchdringen sollte [vgl. Diff., 45 ff.]. Zum Zweck, den Weg zu diesem System freizule­ gen, ist die Differenzschrift geschrieben, die mit einer Kritik der Philosophie an sich selbst einsetzt, wie sie in zweierlei Weise nur noch als „Kenntnis“ oder als ihre eigene Historie auftritt, an der jeder „lebendige Geist [...] als ein fremdes Phänomen vorüber[streift]“ [Diff., 16], um den Geist, der doch auch in ihr noch wohnt, zu neuem Leben zu erwecken. 1) Da kommt „beim jetzigen Philosophieren“ zunächst die völlig positivistische Form eines „neugierigen Sammeln von Kenntnissen“ vor [Diff., 16], das „irgendeinem Interesse“ dient [ebda]. Kenntnisse beziehen sich auf vereinzelte „fremde Objek­ te“, auf „Zufälligkeiten“ („Akzidenzien“) und im gegebenen Fall auf „Meinungen“ [Diff., 16] (rein „eigentümliche Ansich­ ten“ von Philosophen [Diff., 17]), deren „allgemeinen Haufen“ man nur zu vergrößern sucht [Diff., 16]. In dieser Form „ge­ schichtlichen Benehmens“ [ebda] gibt man den Systemen, auf die man sich bezieht, also „kein anderes Verhältnis zu sich, als daß die Meinungen sind“ [ebda]. Denn man hat im Grundsatz „nicht erkannt, daß es Wahrheit gibt“, ist gegen sie völlig „gleichgültig“ [ebda], und sieht daher auch in den Systemen „das Vernünftige“ nicht [Diff., 47], den „lebendigen Geist“, der in jeder „wahren Philosophie“ [Diff., 17] wohnt. Man behandelt die Systeme als „Kollektion von Mumien“ [Diff., 16] und legt in deren

Klassifikation

zugleich

eine

ungerechtfertigte

Herr­

schaftsattitüde an den Tag: Man gibt ihnen „Namen“ - „wie Adam seine Herrschaft über die Tiere dadurch ausgesprochen hat, daß er ihnen Namen gab“ [Diff., 15]. 2) Eine, philosophiebezogen, schon etwas „nützlichere Seite“ [Diff., 16] hat jene verständigere, ,technische‘ Form des Um­ gangs mit überlieferten Systemen, die Hegel bei Reinhold am Werk sieht. Sollte hier doch die „Geschichte der Philosophie“ dazu dienen, „tiefer“ in den „Geist der Philosophie“ einzudrin­

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gen (tiefer, „als je geschah“, wie Hegel polemisiert), um „die rein-eigentümlichen Ansichten der Vorgänger über die Ergrün­ dung der Realität der menschlichen Erkenntnis“ dann „durch neue eigentümliche Ansichten weiterzuführen“ [ebda] - als kön­ ne „nur durch solche Kenntnis der bisherigen vorübenden Ver­ suche die Aufgabe der Philosophie“ gelöst werden [ebda]. Und Aufgabe der Philosophie ist es, jedenfalls nach Hegel, „das Ab­ solute im Bewußtsein zu konstruieren“ [Diff., 19]. Freilich läßt sich diese Aufgabe nicht lösen, wenn man unter Philosophie „eine Art von Handwerkskunst“ versteht, „die sich durch immer neuerfundene Handgriffe verbessern läßt“ [ebda]. Denn dann setzt zwar „jede neue Erfindung [...] die Kenntnis der schon ge­ brauchten Handgriffe und ihrer Zwecke voraus“, aber es bleibt, so Hegels Einwand, „nach allen [...] Verbesserungen [...] im­ mer doch die Hauptaufgabe“, deren Lösung man sich dann „so zu denken scheint, daß [...] ein allgemeingültiger letzter Hand­ griff zu finden wäre, wodurch für jeden, der sich nur damit be­ kannt machen mag, sich das Werk selbst macht“ [Diff., 16f.], d. h. die bezeichnete Aufgabe gelöst wird. Nun gelingt die Lösung dieser Aufgabe in einer Philosophie, die man nur als „ein totes Werk“ der „Geschicklichkeit“ und eine („teleologisch“) bloß auf „Perfektibilität“ hin angelegte „mechanische Kunst“ ansieht [Diff., 17], Hegel zufolge deshalb nicht, weil (ähnlich wie schon in der ersten Form) auch hier das Bewußtsein noch in Eigentüm­ lichkeiten befangen ist: Philosophie gilt noch immer nur als Aus­ druck „eigentümliche[r] Ansichten“, wenn auch das, was die Vorgänger taten, schon die Bedeutung von „Vorübungen großer Köpfe“ hat [ebda]. Das „Wesen der Philosophie“ ist aber „gera­ de bodenlos für Eigentümlichkeiten“ [Diff., 19], weshalb man denn im Rahmen solchen Philosophierens allenthalben nur im „geräumigen Vorhof“ [Diff., 17].

der Philosophie selbst stehen bleibt

Das Philosophieren und die in ihm zu lösende Aufgabe setzt Hegel zufolge ein geschichtliches Bemühen überhaupt nicht voraus. Im Gegenteil: „Wahre Philosophie“ ist ein Produkt der sich nur auf sich selbst richtenden und erkennenden Vernunft als der „Erscheinung“ des Absoluten und dem wahrhaften Subjekt der Philosophie. „Jede Vernunft“ - die freilich „ewig“ ein und dieselbe ist - jede Vernunft also, welche sich nur auf sich selbst richtet und erkennt (und es somit „nur mit sich selbst zu tun

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hat“), produziert „eine wahre Philosophie“ und löst die bezeichnete Aufgabe, „welche wie ihre Auflösung zu allen Zeiten die­ selbe ist“ [Diff., 17]. Jede Philosophie ist daher „in sich vollendet und hat, wie ein echtes Kunstwerk, die Totalität in sich“ [Diff., 19]. Jede wahre Philosophie ist „Selbstreproduktion der Ver­ nunft“ [Diff., 46] und diesem ihrem „innre[n] Wesen“ nach „bo­ denlos für Eigentümlichkeiten“ jeglicher Art. Es sind daher eigentümliche Befangenheiten nur des Bewußtseins, die auch in vorhandenen Systemen „nichts als Eigentümlichkeiten“ sehen läßt [Diff., 17]: „sinnlose“ [Diff., 47], „fremde Meinungen“, „par­ tikulare Ansichten“ [Diff., 17], „zufällige Begebenheiten des menschlichen Geistes“ [Diff., 47]. Gerade aus solcher Befangen­ heit gilt es, sich „in die Freiheit“ zu ziehen [Diff., 20] und auf den Standpunkt der Vernunft zu erheben, auf dem es, wenigstens in Rücksicht auf das „innre Wesen“ der Philosophie, „weder Vor­ gänger noch Nachgänger“ gibt [Diff., 17]. Allerdings ist die Philosophie nicht ohne alle „Eigentümlich­ keiten“. Zwar dem inneren Wesen nach „bodenlos“ für alle Ei­ gentümlichkeiten und jederzeit frei auch von Eigentümlichkei­ ten des Bewußtseins, so gibt es nach Hegel doch eine „wahre Eigentümlichkeit einer Philosophie“, und diese besteht in der „Form, [...] aus der das System hervorgeht“ [Diff., 20]. Hegel differenziert zwischen der eigentümlichkeitslosen „Philosophie des Systems“ und der besonderen, eigentümlichen „Form des Systems“ oder auch: dem „Wesen der Philosophie“ und dem „Sy­ stem“ selbst [vgl. Diff., 17; 47]. So ist z. B. die genannte „Begrün­ dungs- und Ergründungstendenz“ der Philosophie Reinholds, „die sich mit eigentümlichen philosophischen Ansichten und einem geschichtlichen Bemühen um dieselben viel zu schaffen macht“, eine der „Form des eigenen Systems“ geschuldete „Ei­ gentümlichkeit“ [Diff., 18]. Derartige Eigentümlichkeiten resul­ tieren daraus, daß sich „die Vernunft“ jeweils aus dem „Bauzeug eines besonderen Zeitalters“ eine Gestalt (einen „Körper“) or­ ganisiert. Aber „was einer Philosophie eigentümlich ist, kann eben darum, weil es eigentümlich ist, [...] nicht zum Wesen der Philosophie“, sondern „nur zur Form des Systems“ gehören“ [Diff., 17], die durch die „Bildung“ des jeweiligen Zeitalters ge­ prägt ist. Diese Form steht daher für die „unfreie gegebene Sei­ te“ an der Philosophie [Diff., 20], die Zeugnis davon gibt, daß und wie die Philosophie jeweils auf eine bestimmte epochale Si­

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tuation der „Bildung“ des (als „Leben“ bestimmten35) Absolu­ ten antwortet. Philosophie entsteht, so Hegels bekannte These, wenn der Verstand (die zertrennende, entzweiende, entgegen­ setzende, beschränkende „Reflexion“) Herrschaft über die „Bil­ dung“ gewinnt [vgl. Diff., 35] und die „Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen“ verschwindet und also im Be­ wußtsein „Gegensätze“, wie „Geist und Materie, Seele und Leib, Glauben und Verstand, Freiheit und Notwendigkeit“, ihre „lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben“ [Diff., 22]. Zwar ist „Entzweiung [...] ein Faktor des Lebens“, das „ewig entgegensetzend sich bildet“ [Diff., 21]. Aber die Phi­ losophie tritt der Herrschaft des Verstandes, dem „absolute[n] Fixieren der Entzweiung“ [Diff., 22; H.v. V.], entgegen. Jedes Philosophieren (jede „echte Spekulation“) sucht die absolute Entgegensetzung zu einer relativen herunterzustimmen, selbst wenn sie „nicht zu ihrer vollständigen Selbstkonstruktion im Sy­ stem durchdringt“ und also die „Philosophie des Systems und das System“ nicht zusammenfallen“ [Diff., 47]. Denn jedes geht „notwendig von der absoluten Identität aus“ [Diff., 47f.], be­ nutzt die „Reflexion als ein Instrument“ [vgl. Diff., 25], zur Differenzierung, um radikale Gegensätze als Momente einer Relation verständlich zu machen, und ist in diesem Sinne „Kon­ struktion“ oder „Produktion“ des Absoluten im Bewußtsein. Von Bedeutung für das hier interessierende Thema be­ schichte der Philosophie4 ist, daß bereits die Differenzschrift von einem raumzeitlichen Bildungsprozeß des als Leben be­ stimmten Absoluten, d.h. von einem „Kultur“-Fortschritt [vgl. Diff., 23 f.] (und von ,Geschichte‘ in diesem Sinn) ausgeht: „Je weiter die Bildung gedeiht“, so formuliert Hegel, „je mannigfal­ tiger die Entwicklung der Äußerungen des Lebens wird, in wel­ che die Entzweiung sich verschlingen kann, desto größer wird die Macht der Entzweiung“, desto fremder werden gleichzeitig aber auch „dem Ganzen der Bildung [...] die Bestrebungen des

35 Nur wenig später (1802/03), im sogenannten Naturrechtsaufsatz,, avanciert „Leben“ ausdrücklich zum Grundbegriff des Systems. Dieter Henrich hat gezeigt, daß dieser Begriff später vom Geistbegriff abgelöst wird, wie dieser den zuvor von Hölderlin her entwickelten und für Hegels Frankfurter Zeit, insbesondere das sogenannte „Sy­ stemfragment“ (1800), maßgeblichen Begriff der „Liebe“ abgelöst hat. Vgl. dazu ins­ besondere: Dieter Henrich, Historische Voraussetzungen von Hegels System, in: Ders., Hegel im Kontext, Frankfurt/M. 31981, 41-72,67.

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Lebens, sich zur Harmonie wiederzugebähren“ [Diff., 22 f.]. In diesem Sinn sind „die Gegensätze, die sonst unter der Form von Geist und Materie, Seele und Leib [...] usw. und in mancherlei Arten bedeutend waren“, in einem geschichtlichen Prozeß „fort­ schreitender Kultur“ [Diff., 23 f.], der in den „westlichen Nor­ den“ führt [Diff., 21], inzwischen „in die Form der Gegensätze von Vernunft und Sinnlichkeit, Intelligenz und Natur“ oder all­ gemeiner: „von absoluter Subjektivität und absoluter Objektivi­ tät“ übergegangen [ebda]. Jetzt steht eine ganze „Welt von den­ kendem und gedachtem Wesen“ einer „Welt von Wirklichkeit“ gegenüber [Diff., 22]. Die gegenwärtige Epoche ist damit nicht mehr nur ein „besonderes Zeitalter“ unter anderen. Sie ist ein Zeitalter von normativ besonderer Art: Es herrscht „höchste Trennung“ [Diff., 22], „der Verstand ist seiner sicher geworden“ [Diff., 23], er hat sich selbst fixiert [vgl. Diff., 22]. Doch sind da­ mit auch diejenigen Bedingungen gegeben, daß sich das „Le­ ben“ in „höchste[r] Lebendigkeit“ wiederherstellen kann. Denn „höchste Lebendigkeit“ ist überhaupt „[...] nur durch Wieder­ herstellung aus der höchsten Trennung möglich“ [Diff., 22f.]. So gibt die Epoche einer Philosophie Raum, die nicht mehr nur eine besondere Philosophie unter anderen, vielmehr von so besonde­ rer Art ist, daß sie die Macht, die der Verstand ist, selbst zu über­ winden vermag. Erstmals sieht sich Philosophie der „fixierten Reflexion“ [Diff., 22] selbst gegenüber. Erstmals aber auch kann sie sich auf dem Wege „eine[r] Entwicklung der Vernunft selbst“ generieren - in einem (Schellingschen) System, in welchem die Vernunft „die Emanation ihrer Erscheinung“ (die eine „Du­ plizität“ ist), anstatt sie immer wieder in sich zurückzurufen, ste­ hen läßt und sich zu einer „durch jene Duplizität bedingten Identität konstruiert, diese relative Identität wieder sich entge­ gensetzt, so daß das System bis zur vollendeten objektiven Tota­ lität fortgeht“, um zuletzt „mit der entgegengesetzten subjekti­ ven zur unendlichen Weltanschauung“ vereinigt zu werden, „deren Expansion sich damit zugleich in die reichste und ein­ fachste Identität kontrahiert“ [vgl. Diff., 47]. Damit enthält nun die Differenzschrift zugleich bedeutsame programmatische Überlegungen zu einer gleichsam philoso­ phierenden Geschichte der Philosophie4, welche die Philoso­ phiegeschichte als „Geschichte der in unendlichen mannigfalti­ gen Formen sich darstellenden ewigen und einen Vernunft“ zur

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Geltung bringt [ebda]. Diese Disziplin - die etwas anderes bietet als nur eine „Erzählung zufälliger Begebenheiten des mensch­ lichen Geistes, und sinnloser Meinungen“ [ebda], sei es in rein positivistischer oder in Reinholdscher Form - setzt (im Zu­ sammenhang des philosophischen Systems) den Nachweis vor­ aus, daß sich „das Absolute“ in den als „Selbstreproduktionen der Vernunft“ zu verstehenden Philosophien unter Raum- und Zeitbedingungen, mithin anschaulich, jeweils als eine „objektive Totalität“ gesetzt hat [vgl. Diff., 22]: als eine in sich selbst getra­ gene und vollendete „Organisation von Sätzen und Anschauun­ gen“ [Diff., 46], die „zugleich der Erscheinung angehört“ [Diff., 15] und mit anderen Totalitäten in einem dynamischen Zusam­ menhang steht: im Zusammenhang der Philosophiegeschichte als der „Geschichte der in unendlichen mannigfaltigen Formen sich darstellenden ewigen und einen Vernunft“, der in dem Maße eine Doppelstruktur besitzt, in dem dies für die darin in­ tegrierten Systembildungen gilt. Lassen sich diesbezüglich un­ terscheiden: die (intelligible) „Philosophie des Systems“, im Hinblick auf die es weder Vorgänger noch Nachgänger (und also keine Geschichte) gibt, sowie die „besondere Form, welche die Entzweiung trägt“ [Diff., 20] und als solche für die „unfreie, ge­ gebene Seite“ am Philosophieren steht, so gibt die Philosophie­ geschichte zum einen ein intelligibles „Fortgehen“ des als Leben bestimmten Absoluten bzw. der ewigen und einen Vernunft zu erkennen: den (normativen) Fortschrittsprozeß des sich bis zur „höchsten Lebendigkeit“ verlebendigenden „Lebens“. Zum an­ deren hat die Geschichte (als Objektivität) erstens eine sinnliche Dimension: Die „Objektivität des Absoluten“ läßt sich „als ein Fortgehen in der Zeit“ sowie „als Nebeneinander im Raum“ „anschau[en]“ [Diff., 22]; und zweitens eine Verstandesdimen­ sion: Die Philosophie entsteht unter gegebenen Bedingungen (sich zuspitzender „Entzweiung“ und „Trennung“) in einer je­ weils besonderen Formgestalt und unter Verwendung eines be­ stimmten „Bauzeugs“. Insofern das Entstehen einer Philosophie von etwas Gegebenem - einer „gegebenen Entzweiung“ [Diff., 22] - abhängt, bleibt es „zufällig“ (d.h. läßt sich aus Vernunft heraus nicht bestimmen), „Wann? und Wo? und in welcher Form? solche Reproduktionen der Vernunft auftreten“ [ebda]. Deshalb kann in bezug auf den Gegenstandsbereich ,Philosophiegeschichte‘ nicht nur die Philosophie gefragt sein, welche

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ihn als „Geschichte der in unendlichen mannigfaltigen Formen sich darstellenden ewigen und einen Vernunft“ verständlich zu machen vermag. Es bedarf prinzipiell der Historie und Empirie, um herauszukriegen, wann, wo, und in welcher Form bestimmte Philosophien auftreten - einer „geschichtlichen Ansicht philoso­ phischer Systeme“, die in die Philosophie eingebunden ist36. (Es wird zu verdeutlichen sein, wie Hegel auch später an dieser Pro­ grammatik einer Historie und Empirie in sich integrierenden Philosophiegeschichtsphilosophie festgehalten hat.) Indes stellt selbst eine philosophierende Bezugnahme auf die Philosophiegeschichte nicht die Voraussetzung für das Philoso­ phieren, sondern umgekehrt das sich Hineinstürzen in die Philo­ sophie „a corps perdu“ [Diff., 19] deren Voraussetzung dar. Denn das Bewußtsein ist zunächst immer „in Besonderheiten befangen“, was auch „in den philosophischen Systemen ver­ schiedener Zeitalter und Köpfe nur verschiedene Weisen und rein-eigentümliche Ansichten [...] sehen“ lassen würde. Deshalb ist es im Grundsatz nötig, daß sich die Vernunft erst einmal „zu sich selbst erhebt, und allein sich selbst und dem Absoluten, das zugleich ihr Gegenstand wird, sich anvertraut; sie wagt nichts daran als Endlichkeiten des Bewußtseins, und um diese zu über­ winden und das Absolute im Bewußtsein zu konstruieren, erhebt sie sich zur Spekulation und hat in der Grundlosigkeit der Be­ schränkungen und Eigentümlichkeiten ihre eigene Begründung in sich selbst ergriffen“ [Diff., 19]. Dann allerdings vermag sie auch in anderen „Selbstreproduktionen der Vernunft“ - „durch die besonderen Formen“ hindurch - „sich selbst“ zu finden („Geist von ihrem Geist, Fleisch von ihrem Fleisch, sie schaut sich in ihnen als ein und dasselbe und als ein anderes lebendiges Wesen an“) [ebda] und ein Verhältnis zur ganzen (vergangenen) Geschichte aufzubauen, das durch Verständnis für die (besonde­ re) Besonderheit und die Endlichkeit vormaliger Systeme ge­ prägt ist: Denn es ist

36 Allerdings kann jedes philosophische System nach wie vor auch rein „geschichtlich behandelt [.] werden; „kein philosophisches System kann sich der Möglichkeit einer solchen Aufnahme entziehen“, denn „wie jede lebendige Gestalt zugleich der Erschei­ nung angehört, so hat sich eine Philosophie als Erscheinung derjenigen Macht über­ liefert, welche [... sie] in eine tote Meinung und von Anbeginn in eine Vergangenheit verwandeln kann“ [Diff., 15f.; Z.v.V.]: der rein geschichtlichen Ansicht philosophi­ scher Systeme.

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„möglich, daß eine echte Spekulation sich in ihrem System nicht voll­ kommen ausspricht, oder daß die Philosophie des Systems und das Sy­ stem selbst nicht zusammenfallen. [...] Wenn in einem System sich das zum Grunde liegende Bedürfnis nicht vollkommen gestaltet hat, und ein Bedingtes [...] zum Absoluten erhoben hat, so wird es als System Dogmatismus, aber die wahre Spekulation kann sich in den verschie­ densten sich gegenseitig als Dogmatismen und Geistesverirrungen ver­ schreienden Philosophien finden“ [Diff., 47]. Dies ist nicht zuletzt gegen die Reflexionsphilosophie Kantischer, Fichtescher und (insbesondere) Reinholdischer Pro­ venienz gesagt, in der andere Philosophien im Grundsatz unter dem Verdacht stehen, wenn nicht Skeptizismus, dann „Dogma­ tismus“ zu sein. Demgegenüber hat für Hegel „die Geschichte der Philosophie [...] allein Wert und Interesse, wenn sie diesen Gesichtspunkt festhält“, daß die Philosophie des Systems und das System nicht immer schon zusammenfallen.

„Sonst gibt sie nicht die Geschichte der in unendlichen mannigfaltigen Formen sich darstellenden ewigen und einen Vernunft; sondern nichts als eine Erzählung zufälliger Begebenheiten des menschlichen Geistes, und sinnloser Meinungen, die der Vernunft aufgebürdet werden, da sie doch allein demjenigen zur Last fallen, der das Vernünftige in ihnen nicht erkennt, und sie deswegen verkehrt hat“ [Diff., 47]. In diesem Sinne wendet sich Hegel in der Differenzschrift ge­ gen ein bloß historisch-empirisches (geschichtliches) Bemühen um eigentümliche philosophische Ansichten, das er als Reduzie­ rung der Philosophie auf ihre eigene Historie versteht. Diesem Vorgang entgegen gilt es, Philosophie als ein spekulatives Unter­ nehmen zu restituieren, das sich nun auch der Philosophiege­ schichte zu widmen hat. Dabei gehört vor allem

„die Frage [.] der Philosophie an, ob das System die endliche Erschei­ nung, die es zum Unendlichen steigerte, in Wahrheit von aller Endlich­ keit gereinigt hat, ob die Spekulation in ihrer größten Entfernung vom gemeinen Menschenverstande und seinem Fixieren Entgegengesetzter nicht dem Schicksal ihrer Zeit unterlegen ist, [...] ein seinem Wesen nach Entgegengesetztes absolut gesetzt zu haben“ [Diff., 33]. Deshalb wird man nun Walter Jaeschke nicht ganz darin zu­ stimmen können, daß es von den frühen Schriften her überra­ schend sei, daß Hegel gerade die Philosophiegeschichte so rasch (nämlich bereits 1805/1806) zum Gegenstand seiner Lehr­

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tätigkeit gemacht hat37. Fänden sich doch zuvor „keinerlei An­ satzpunkte zur Entwicklung einer Konzeption der Philosophie­ geschichte als eigenständiger philosophischer Disziplin“38. Folgt man der neueren HEGEL-Forschung, so eröffnet aber erst die Ablösung des Lebens- durch den Geistbegriff sowie die Neukon­ zeption der Logik die Möglichkeit, die Geschichte der Philoso­ phie deutlicher als „Geschichte der in unendlichen mannigfalti­ gen Formen sich darstellenden ewigen und einen Vernunft“ auf verschiedenen „Ausbildungsstufen“ [vgl. Enz., §13]39 zur Gel­ tung zu bringen. Später repräsentiert dann das „Logische“ das­ jenige Element, das in der Differenzschrift die „Philosophie des Systems“ im Gegensatz zur „Form des System“ genannt worden ist. Diese Neubestimmung ändert jedoch an einem nichts: Eine bloß „geschichtliche“ (historisch-empirische) Bezugnahme auf Philosophie bzw. Geschichte der Philosophie bleibt inakzepta­ bel. Was aber Hegel im späteren System eigentlich unter „ge­ schichtlich“ und „historisch“ versteht, ist nun etwas deutlicher zu skizzieren.

37 Walter Jaeschke, Einleitung in die Studienausgabe von Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a. a. O., IXf. 38 Ebda. Allerdings ist es nun auch keineswegs so, wie Walter Chr. Zimmerli meint. Zimmerli vertritt die These, bereits in der Differenzschrift habe die Philosophie eine Geschichte, die von der Philosophie selbst erfaßt werden müsse, damit sie „den Zeit­ punkt der geistigen Revolution“ erkennen kann, die gegen die Herrschaft des Verstan­ des nötig wird: „Die Philosophiegeschichte hat systematisch im Rahmen der Philoso­ phie demnach die Funktion, aus den aus dem jeweiligen ,Bauzeug des Zeitalters1 organisierten Gestalten der Vernunft die interessante Individualität in dem Sinne zu ersehen, daß sie sich über den Stand der Herrschaft des Verstandes [...] bewußt wird“: Zimmerli, Geschichtsphilosophie und Philosophiegeschichte im Denken des jungen Hegel, in: Ders., Die Frage nach der Philosophie, a.a.O., 242f. Diese Deutung ver­ trägt sich jedoch nicht mit der Hegelschen Annahme, daß Philosophie unter einer „gegebenen Entzweiung“ allererst einsetzt: „Das Bedürfnis der Philosophie [...] ist insofern eine Zufälligkeit; aber unter der gegebenen Entzweiung der notwendige Ver­ such, die Entgegensetzung [...] aufzuheben“ [Diff. 14]. Was unter dieser Bedingung einsetzt, ist sich der Herrschaft des Verstandes längst bewußt geworden, da es ande­ renfalls überhaupt nicht einsetzen würde. 39 Mit dem Geistbegriff wird dann ein „Subjekt der Bewegung“ gedacht: Der Geist „ist das Subjekt der Bewegung, und er ist ebenso das Bewegen selbst oder die Sub­ stanz, durch welche das Subjekt hindurchgeht“ [Phän., 572].

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1.3 „Historie“ im späteren System Der Ausdruck „Historie“ ist im Berliner System lediglich formal bestimmt. Intendiert ist ein Wissen, das sich in jeder der System­ sphären ansiedeln kann, die im Gesamtsystem unterschieden werden. Wenn Hegel es selbst zum Gegenstand einer näheren Reflexion gemacht hat, dann vor allem in Vorreden, Einleitun­ gen oder Anmerkungen, in denen sich auch z. B. die einzigen „näheren Bemerkungen über die Geschichtsschreibung über­ haupt“40 finden. Daß die Historie vor allem hier zum Thema wird, hängt damit zusammen, daß Vorreden, Einleitungen oder Anmerkungen der von der Differenzschrift her bekannte „Vor­ hof“ der Philosophie sind. Auch im späten System zeichnet sich dieser Vorhof noch dadurch aus, daß das hier statthabende Wis­ sen als ein bloß „historisches“ Wissen verstanden wird. Dieses Wissen kann sich auf geschichtliche Wirklichkeit (Geschichte im objektiven Sinn), mithin auch auf Philosophiegeschichte be­ ziehen und ist dann ein „geschichtliches“ Wissen. Von Relevanz an diesem Wissen im vorphilosophischen Bereich ist, daß es sich als ein begriffloses („unphilosophisches“ [Enz., § 10]) „Vorstel­ len“ qualifiziert, das (auf noch zu bezeichnende Weise) allenfalls „räsonierend“ (reflektierend) sein kann. Es ist „unphiloso­ phisch“, weil das Subjekt im Vorfeld der Philosophie noch nicht der Anforderung genügt (genügen kann), sich „als abstraktes Ich, als von aller Partikularität sonstiger Eigenschaften, Zustän­ de usf. befreites“ zu verhalten „und nur das Allgemeine“ zu tun, „in welchem es mit allen Individuen identisch ist“ [Enz., §23]. Zwischen philosophischem und vor- oder unphilosophischem Bereich besteht ein durch die Logik markierter Hiatus: Erst der Durchgang durch das logische „Reich der Schatten“ gewährt dem Bewußtsein die „absolute Bildung“ und „Zucht“, durch die es einerseits von „sinnlichen Anschauungen und Zwecken, von Gefühlen“, oder kurz: von der „bloß gemeinten Vorstel­ lungswelt“ und der sich darauf beziehenden „Zufälligkeit des räsonierenden Denkens“ befreit wird und umgekehrt der „Ge­

40 Es handelt sich zumeist um rechtfertigende Repliken „auf den der Philosophie ge­ machten Vorwurf über apriorisches Geschichtsschreiben“ [vgl. Enz., §549 Anm.], auf „Vorwürfe [...], welche einer philosophischen Betrachtung über eine sonst sich empi­ risch haltende Wissenschaft wegen der sogenannten Apriorität und des Hineintragens von Ideen in jenen Stoff gemacht werden“ [PG, 86ff.].

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danke“ Selbständigkeit“ und ,Unabhängigkeit‘ gewinnt [WdL I, 55]. Für Vorreden und Einleitungen kann dies nicht in jedem Falle vorausgesetzt werden. Welcher philosophischen Disziplin auch immer diese Vorreden gelten, der Standpunkt ist der der „allgemeinen“ oder „besonderen“ (wissenschaftlichen) „Bil­ dung“, des „gewöhnlichen“, „sinnlichen und räsonierenden Be­ wußtseins“ [Enz., §12]. In diesem Vorhof nun spielt ein be­ stimmtes Intersubjekivitätsverhältnis eine Rolle: das Verhältnis zwischen jemandem, der die Wissenschaft schon durchlaufen hat, und einem Adressaten, dem ein „Überblick“ über dasjenige Ganze vermittelt werden soll, das die Wissenschaft darstellt: Auf „begrifflose“, „unphilosophische“ [Enz., §10], aber bereits „rä­ sonierende“ (reflektierende) Weise wird ihm eine vorläufige Bekanntschaft mit der Wissenschaft vermittelt, was bei ihm ein bloßes „Bild der Vorstellung“ erzeugt [vgl. WdL II, 571]. Hegel geht davon aus, daß es nicht nur „für die Übersicht notwendig“ ist, „sich mit [...] reflektierenden] Vorstellungen zu helfen“41, sondern daß eine solch vorgängige Übersicht für das gewöhnliche Bewußtsein selbst notwendig ist42. Deshalb wird die Wissenschaft, selbst die Logik, im Vorfeld nach be­ stimmten Gesichtspunkten überblicksweise zunächst bloß „hi­ storisch“ aufgenommen. Dabei kann man sich zur Begründung des Gesagten allerdings immer nur auf „Anerkanntes“ und Be­ kanntes berufen, wie das Gesagte im ganzen bloß die Dignität von „willkürlichen Voraussetzungen“ hat, die nur durch eine in medias res steigende Abhandlung gerechtfertigt werden können [vgl. GP 6, 3f.]43. Nicht mehr historisch ist dann der Durchgang 41 Erster Entwurf der Einleitung in die Geschichte der Philosophie (1822/1828), 553. 42 „Ohne Einleitung vermögen wir nicht zu beginnen“, denn die „Vorstellung oder der Geist überhaupt“ fordere, „daß vorher das Ganze übersehen werde [...]; man muß den Wald im ganzen betrachten, ehe man daran geht, im einzelnen die Sträucher und Bäu­ me zu sehen, sonst sieht man den Wald vor Bäumen nicht [...]“ [GP 6,139]. 43 Um einige Beispiele anzuführen: So sind „die Einteilungen und Überschriften der Bücher, Abschnitte und Kapitel, die in dem Werk angegeben sind, sowie etwa die da­ mit verbundenen Erklärungen, zum Behuf einer vorläufigen Übersicht gemacht [...] und [...] eigentlich nur von historischem Wert [...]. Sie gehören nicht zum Inhalte und Körper der Wissenschaft, sondern sind Zusammenstellungen der äußeren Reflexion, welche das Ganze der Ausführung schon durchlaufen hat, daher die Folge seiner Mo­ mente vorausweiß und angibt, ehe sie selbst noch durch die Sache sich selbst herbei­ führen“ [WdL I, 50]. In diesem Sinne hat auch die Einleitung z. B. in die „Wissenschaft der Logik“ „nicht den Zweck, den Begriff der Logik etwa zu begründen oder den Inhalt und die Methode derselben zum voraus wissenschaftlich zu rechtfertigen, son­

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durch die Logik selbst. Er ist als ein „Lernen“ bestimmt: Man lerne, so Hegel, die Logik zunächst „als etwas, das man wohl versteht, und einsieht, aber woran Umfang, Tiefe und weitere Bedeutung anfangs vermißt wird“ [WdL I, 55]. Denn erst „aus der tieferen Kenntnis der anderen Wissenschaften erhebt sich für den subjektiven Geist das Logische als ein nicht nur abstrakt Allgemeines, sondern als das den Reichtum des Besonderen in sich fassende Allgemeine“ [ebda]. Bleibt man jedoch zunächst bei dem Ausdruck „historisch“, so lassen sich bei Hegel mindestens zwei Dispositionen des im Vorhof der Philosophie angesiedelten historischen Wissens namhaft machen, deren eine die eben genannte, dem einleiten­ den „Überblick“ über ein Ganzes geltende und als solche bereits vom „Denken“ („Räsonnement“, Reflexion oder Verstand) im­ prägnierte Form des „Vorstellens“ ist und deren andere die dem­ gegenüber noch unreflektierte Kenntnisnahme von „Details“ (Einzelheiten als solchen) ist: von Zufälligem, das, je nach Sach­ bereich, ein „ganz und gar Geschichtliches“ [vgl. GP 6, 12f.], „abstrakt Historisches“, „Meinung“ sein kann. Es handelt sich in jedem Falle um ein „schwachsinniges Ergehen des Vorstel­ lens“ [vgl. Enz., §549 Anm.]. Beide Dispositionen sollen im fol­ genden kurz charakterisiert werden.

a) Wissen unnützer Sachen Der Ausdruck „historisch“ ist bei Hegel kein (im zeitlichen Sin­ ne) vergangenheitsbezogener Ausdruck und hat unmittelbar nur insofern etwas mit Geschichte zu tun, als das historische Wissen (Kenntnis) sich auch auf dem Gebiet der Geschichte ansiedeln kann - wie am Rande jeder der realphilosophischen System-

dern durch einige Erläuterungen und Reflexionen in räsonierendem und historischem Sinne den Gesichtspunkt, aus welchem diese Wissenschaft zu betrachten ist, der Vor­ stellung näher zu bringen“ [WdL I, 36]. Auch könnte „eine Definition, mit der irgend­ eine Wissenschaft den absoluten Anfang macht, [...] nichts anderes enthalten als den bestimmten, regelrechten Ausdruck von demjenigen, was man sich zugegebener- und bekanntermaßen unter dem Gegenstande und Zweck der Wissenschaft vorstellt. Daß man sich gerade dies darunter vorstelle, ist eine historische Versicherung, in Ansehung derer man sich allein auf dieses und jenes Anerkannte berufen oder eigentlich nur bittweise beibringen kann, daß man dies und jenes als anerkannt gelten lassen möge“ [WdL I, 42f.].

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Sphären, die im Hegelschen System ausdifferenziert werden44. Nach klassischem Vorbild steht der Ausdruck „historisch“ zu­ nächst für ein Wissen, für das die aggregative Form sowie die Gegebenheit oder bloße Gebbarkeit des Inhalts maßgeblich ist. Bei dem, was nur gegeben werden kann, gibt es nicht viel zu denken. Historisches (gelegentlich auch: rein-„positives“) Wis­ sen realisiert sich als eine unabschließbare Kenntnis von „Nich­ tigem“, Zufälligem, Vergänglichem (und damit auch „Vergange­ nem“). Man beschäftigt sich mit bloßen „Details“. In diesem Rahmen können höchstens Ansprüche auf „genauen Bericht“ des (in einem nichtkonzeptualistischen Sinne) „Äußerlichen“ er­ hoben werden und sind allenfalls „qualitative und quantitative Urteile“ zugelassen [Enz., §549 Anm.]. Es handelt sich um eine Beschreibung, „Schilderei“, Aufzählung (,dann und dann‘) oder um ein bereits zeitbezogenes und zusammenhängendes Her­ erzählen („was zu einer Zeit gewesen, zu einer anderen aber verschwunden und durch anderes verdrängt worden ist“ [GP 6, 9]). Gegenstand sind in jedem Falle die „Masse“ von gegenein­ ander gleichgültigen „Einzelheiten“ als solchen (mit einer Men­ ge von gleichgültig gegeneinander seienden Eigenschaften [vgl. Enz., §250]), deren (mögliche) Bedeutung und Zweckmäßigkeit auf „Umstände“ eingeschränkt sein kann [vgl. GPR §3 Anm.], so daß, was dessen („äußeres“) „Entstehen“ betrifft, höchstens „gute Gründe“ (die „Verstandesallgemeinheit“) geltend ge­ macht werden können [GPR §3 Anm.; Enz., § 16]. Historisches Wissen steht nicht nur unter theoretischen Ge­ sichtspunkten (in bezug auf seine aggregative Form) unter Vor­ behalt, sondern (wie bereits in der Differenzschrift) vor allem in praktischer Hinsicht. Es besitzt den Negativwert, daß meine „denkende Vernunft“ an einem solchen Bewußtseinsinhalt fron­ tal an eine Grenze stößt: Was man nur kennt und nur kennen kann, ist „mir ein Fremdes, ein toter äußerlicher historischer Stoff“ [vgl. GP 6, 142]45. Man kann denkend nicht „dabei“ und

44 Damit entspricht die Verwendungsweise des Ausdrucks bei Hegel noch immer derjenigen vor allem des 18. Jahrhunderts, wo er „ein weites Bedeutungsspektrum hat“ und es „nötig ist, definitorisch kenntlich zu machen, wenn nur von der Geschichte menschlicher Handlungen die Rede sein soll“, so G. Scholtz, Art. Geschichte, in: Hist. Wörterb. der Philosophie, a. a. O., Sp. 355. 45 Das bloß „Historische“ hat denn Sinn des „Fremden“, das „abstrakt Historische“ gar den des radikal Fremden, des „Toten“ [vgl. etwa GP 6, 231].

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somit nicht „frei“ sein [vgl. GP 6,148]. Der potentielle Freiheits­ gehalt von Wissenschaft ist maßgeblich für die Herabstufung der mit „Details“ befaßten historischen oder „positiven“ Quasi-Wis­ senschaften. Sie stehen noch unter den „besonderen“ empiri­ schen und bereits rudimentär systematischen Wissenschaften (der Natur und Geschichte), die bereits der (sich bloßer Glau­ bensautorität [vgl. GP 6, 141] entgegensetzenden) Forderung des Menschen Ausdruck verleihen, daß er „für das Annehmen und Fürwahrhalten eines Inhalts [...] selbst dabei sein müsse, bestimmter, daß er solchen Inhalt mit der Gewißheit seiner selbst in Einigkeit finde. Er muß selbst dabei sein, sei es nur mit seinen äußeren Sinnen oder aber mit dem tieferen Geist“ [Enz., § 7]. Ist man in den Erfahrungswissenschaften nur erst mit seinen äußeren Sinnen dabei, so findet das Dabeisein „mit dem tieferen Geist“ dagegen in der Philosophie statt, in der auf grundsätzli­ che Weise „alle Fremdheit verschwunden und der Geist absolut frei, bei sich selbst ist“ [GP 6,148]. In subjektiver Hinsicht ist das Philosophieren, insofern es vom Subjekt fordert, daß es sich selbst als ein „von aller Partikularität sonstiger Eigenschaften, Zustände“ Befreites verhält, zugleich ein (mit den Werten „De­ mut“ und „Bescheidenheit“ in Verbindung gebrachtes) sittliches Ideal46. Von ihm her erhält die „bloße Kenntnis“ von gehaltlosen „Partikularitäten“ nicht lediglich nur den Negativwert, daß man nicht wirklich dabei und nicht frei ist. Dieser Negativwert ist moralisch-praktisch konnotiert, jedenfalls dann, wenn (über­ kommene) Philosophien (als Teile des Philosophiegeschichts­ ganzen) thematisch sind, aber man nur historisch auf „Partikularitäten

anderer“

zielt,

auf

„Meinungen“.

Zielt

man

auf

Meinungen, dann hat die Kenntnis den Wert, daß man sich „im

46 „Wenn daher von Demut und Bescheidenheit und von Hochmut in Beziehung auf das Philosophieren die Rede ist und die Demut oder Bescheidenheit darin besteht, seiner Subjektivität nichts Besonderes von Eigenschaft und Tun zuzuschreiben, so wird das Philosophieren wenigstens von Hochmut freizusprechen sein, indem das Denken dem Inhalte nach insofern nur wahrhaft ist, als es in die Sache vertieft ist und der Form nach nicht ein besonderes Sein oder Tun des Subjekts, sondern eben dies ist, daß das Bewußtsein sich als abstraktes Ich, als von aller Partikularität sonstiger Eigenschaften, Zustände usf. befreites verhält und nur das Allgemeine tut, in welchem es mit allen Individuen identisch ist. - Wenn Aristoteles dazu auffordert, sich eines solchen Verhaltens würdig zu halten, so besteht die Würdigkeit, die sich das Bewußt­ sein gibt, eben darin, das besondere Meinen und Dafürhalten fahrenzulassen und die Sache in sich walten zu lassen“ [Enz., § 23 Anm.].

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Eitlen“ befriedigt, und eben dies ist selbst nur „subjektive Eitel­ keit“ [GP 6, 142]. Tatsächlich wird der historische Rekurs auf Meinungen daran bemessen, zu welcher Wissenschaft in prakti­ scher Hinsicht das sich im Bereich der Philosophie ansiedelnde Wissen eigentlich fähig wäre. Die Philosophie stellt im hierarchi­ schen Gefüge aller Wissenschaften nicht nur Normen auf, son­ dern ist selbst Realisat einer Norm: In ihr verschwindet (dem „Begriff“ nach) die Besonderheit des Subjekts und werden Ta­ ten (des Denkens) getan, die um so „vortrefflicher“ sind, „je we­ niger ihr das Subjekt das Siegel seiner Partikularität aufgedrückt hat“ [GP 6,144]47. Daß historisches oder positives Wissen und Philosophie in einem extremen Spannungsverhältnis stehen, zeigt sich also dann, wenn dieses Wissen die Philosophie selbst berührt und sich als Kenntnis von Philosophie zur Geltung bringt. Die Span­ nung zwischen Philosophie und Historie baut sich im Rahmen des Systemzusammenhangs auf, und kann (in Auswahl einiger Wissensbereiche) wie folgt umrissen werden: (1) Historisches Wissen ist auf den Sachbereich der Geschich­ te nicht beschränkt. Denn auch der „Idee der Natur“ ist es eigen­ tümlich, „die Strenge des Begriffs nicht festhalten und darstellen zu können“, sondern sich in eine „begrifflose blinde Mannigfal­ tigkeit“ von „Arten und Unterschieden“ „zu verlaufen“ [WdL II, 282]48, die von „äußerlichem Zufall und vom Spiele, nicht durch Vernunft bestimmt sind“ [Enz., § 16]. Deshalb bietet auch sie ein weites Feld nicht nur für Disziplinen, die sich, wie die Botanik, der Klassifikation solch blinder Mannigfaltigkeit wid­ men, sondern auch für Wissenschaften, die, wie die zum damali­

47 Dieter Henrich hat herausgestellt, daß nach Hegel die „richtige Haltung des Sub­ jekts dem Zufall gegenüber“ (dem absolut Zufälligen gegenüber) nicht sei, daß dem „unendlichen Drang“ nachzugeben wäre, „das Kontingente aufzulösen, sondern gera­ de im Verzicht auf solches Begreifen“ liege, und er hat darauf hingewiesen, daß es sich dabei im Grunde um eine praktisch bestimmte Programmatik handelt: Zwar sei He­ gels „Theorie über den Zufall“ im ganzen problematisch, gewinne aber (wie eben angedeutet) „in der Ethik und als theoretische Voraussetzung des sittlichen Bewußt­ seins selbst einen guten Sinn“. Man müsse freilich zugestehen, „daß [...] damit [...] auf eine Interpretation seiner Logik gezielt ist, die sich auf das kritische, skeptische Ele­ ment in ihr zu beschränken sucht“: Vgl. Henrich, Hegels Theorie über den Zufall, in: Iring Fetcher, Hegel in der Sicht der Neueren Forschung, Darmstadt 1973,161-187, insbes. 186 f. 48 Vgl. auch Enz., § 16.

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gen Wissenschaftskanon gehörende „Naturgeschichte“ [Enz., § 16], an der Entstehung von derart Zufälligem interessiert sind. Gehen solche Wissenschaften dann aber auf „Arten und Unter­ schiede“, d.h. auf Allgemeineres, dann besitzen sie einen „ratio­ nellen Anfang und Grund“ und damit einen Bestandteil, der als solcher der Philosophie angehört: Anders als „bloße Aggregate von Kenntnissen“ sind es rudimentär schon systematische Wis­ senschaften. Doch geht „ihr an sich rationeller Anfang [...] in das Zufällige dadurch über, daß sie das Allgemeine in die empi­ rische Einzelheit und Wirklichkeit“ - in „das Feld der Veränder­ lichkeit und Zufälligkeit“ - „herunterzuführen haben“ [Enz., § 16]. Solche Wissenschaften sind noch immer „keines sicheren Letzten“ fähig: Sie stützen sich nur auf gute Gründe, denen zu­ folge einmal etwas so, dann wieder anders gefaßt werden kann [vgl. ebda]. (2) Nicht nur die Idee der Natur ,verläuft‘ sich an ihrer Ober­ fläche. Ein solches „Verlaufen“ charakterisiert auch die Idee als „subjektiver Geist“, der sich zunächst als solcher, als endlicher, nur des Endlichen bewußt ist. Für diesen Geist ist es charakteri­ stisch, daß er sich, wie im „gemeinen Leben“, so auch in der Sphäre der „besonderen“ wissenschaftlichen Bildung, „aufs Vor­ stellen“ einläßt und sich „in einer unendlichen Mannigfaltigkeit desselben“ herumtreibt [WdL II, 282]. Nach Hegel müssen „die vielfachen Naturgattungen oder Arten [...] für nichts Höheres geachtet werden als die willkürlichen Einfälle des Geistes in sei­ nen Vorstellungen“ [ebda]49. Daß die Kantische Transzenden­ talphilosophie nach Hegel diejenige Historie darstellt, die gera­ de zeigte, wie es im bloßen Vorstellen zugeht, darauf wird gleich zurückzukommen sein. (3) Im Rahmen der zur Sphäre des höherstufigen (mithin be­ reits organischeren) objektiven Geistes (Staat) gehörenden „politischen Geschichte“ artikuliert sich das geschichtliche Be­ mühen als Kenntnis „der individuellen Kleinigkeiten der Zeit und der Personen“ [Enz., §549 Anm.]. Solche Kleinigkeiten mehr als nur in oberflächlicher Weise in die Geschichtsbetrach­ tung miteinzubeziehen, gilt nach Hegel nicht nur als „überflüs­ 49 Vgl. allerdings Enz., § 248: „Wenn aber Vanini sagte, daß ein Strohhalm hinreichte, um das Sein Gottes zu erkennen, so ist jede Vorstellung des Geistes, die schlechteste seiner Einbildungen, das Spiel seiner zufälligsten Launen, jedes Wort ein vortreffli­ cherer Erkenntnisgrund für Gottes Sein als irgendein einzelner Naturgegenstand.“

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sig“, sondern wird auch als der Geschichte „nicht würdig“ be­ wertet [ebda]. Es wäre gar „vollkommen gleichgültig, ob solche Unbedeutendheiten förmlich beglaubigt oder aber [...] charak­ teristisch erdichtet sind“ [ebda]. Daß sie in diesem Bereich denn nunmehr auch „in den Roman“ (der Art Walter Scotts [vgl. ebda]50) verwiesen worden seien, sei für „guten Geschmack“ zu halten. Denn die „Masse der [...]. Einzelheiten“, der „geschicht­ lichen“ oder „historischen“ Details [vgl. GPR §3 Anm.], aus „müßiger Neugierde“ [vgl. GP 6, 16] getreu aufzusammeln wie es Hegel zufolge z.B. bei Ranke geschieht51 - bedeutet nicht nur, daß „die der Geschichte würdigen Gegenstände ge­ drückt und verdunkelt werden“ [Enz., §549 Anm.]. Es selbst wäre auch nur „Gelehrsamkeit“. Denn „Gelehrsamkeit“ besteht „vornehmlich darin, eine Menge unnützer Sachen zu wissen, d. i. solcher, die sonst keinen Gehalt und kein Interesse in ihnen selbst haben als dies, die Kenntnis derselben zu haben“ [GP 6, 16]. Wäre die politische Geschichte nur dies: ein Aufsammeln solch unnützer Sachen, so resultierte daraus, wie Hegel formu­ liert, noch „nicht einmal ein Kindermärchen, denn selbst die Kinder fordern in den Erzählungen ein Interesse, d. i. einen wenigstens zu ahnen gegebenen Zweck und die Beziehung der Begebenheiten und Handlungen auf denselben“ [Enz., §549 Anm.]. Der Ausdruck „Erzählung“ steht also, anders als das Hererzählen, bereits für einen Zusammenhang von (wesenlosen) Erscheinungen im Sinne eines nexus finalis, in dem allerdings keine systematische Notwendigkeit zum Ausdruck kommt52. (4) Auf dem höchststufigen Gebiet der Geschichte der Philo­ sophie artikuliert sich die Historie oder Gelehrsamkeit in Ge­ stalt des bereits erwähnten Rekurses auf einen „unordentlichen Haufen“ oder „Vorrat“ von „Meinungen“53, die partikularisierte

50 Vgl. auch den Ersten Entwurf der Einleitung in die Geschichte der Philosophie, Werke, Bd. 12, 553. 51 Ebda. 52 Die Verbindung von Begebenheiten im Sinne eines nexus finalis ist für Geschichte charakteristisch: Geschichte ist im Grunde ein (im organologischen Sinne) teleologi­ scher Prozeß. Dies schließt allerdings nicht aus, daß sich, sozusagen an der Oberfläche von Geschichte, „Begebenheiten [...] wie alle Begebenheiten [...] in Wirkungen fort­ setzen“ [GP 6, 5]. 53 Hegels Angriff auf das nunmehr abzulösende Prinzip subjektiver Subjektivität, die Meinung, durchzieht wie ein roter Faden das Werk. Daß Philosophiegeschichte kein Inbegriff „zufälliger Begebenheiten des menschlichen Geistes und sinnloser Meinun­

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Subjekte zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten über die Gegenstände der Philosophie, nämlich (nach Hegels Sy­ stemaufbau) „über Gott, die Natur, den Geist“ [GP 6, 15, vgl. auch 18] zufälligerweise hatten und geäußert haben. Die vorma­ lige Philosophie stellt nun allerdings für denjenigen einen „unor­ dentlichen Haufen“ von Meinungen dar, für den als ausgemacht gilt, „daß die Vernunft nichts Wahres erkennen könne“ und so­ mit nur die „eigene Überzeugung“, wie sie ein jeder mit sich selber auszumachen habe, mithin das subjektive Subjektive (Ah­ nung und Gefühl) der „Maßstab“ und „das Letzte für den Men­ schen sein soll“ [GP 6, 141]. „Eine Meinung ist nichts als eine subjektive Vorstellung, ein beliebiger Gedanke, eine Einbil­ dung, die ich so oder so, und ein anderer anders haben kann; eine Meinung ist mein; sie [ist] nicht ein in sich allgemeiner, an und gen“ ist und Philosophiegeschichtsschreibung entsprechend keine darauf bezogene „Erzählung“ (kein Bericht) zu sein hat, beherrschte bereits die Differenzschrift. Auch die Phänomenologie setzt sich dem Prinzip „Meinung“ entgegen, allerdings nun schon unter dem Gesichtspunkt, daß die „Meinung“ „die Verschiedenheit philosophischer Systeme“ „nicht so sehr als fortschreitende Entwicklung der Wahrheit“ begreife, „als sie in der Verschiedenheit nur den Widerspruch sieht. Die Knospe verschwindet in dem Hervorbrechen der Blüte, und man könnte sagen, daß jene von dieser widerlegt wird; ebenso wird durch die Frucht die Blüte für ein falsches Dasein der Pflanze er­ klärt, und als ihre Wahrheit tritt jene an die Stelle von dieser. Diese Formen unter­ scheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als unverträglich miteinander. Aber ihre flüssige Natur macht sie zugleich zu Momenten der organischen Einheit, worin sie sich nicht nur nicht widerstreiten, sondern eins so notwendig als das andere ist, und die gleiche Notwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus. Aber der Widerspruch gegen ein philosophisches System pflegt teils sich selbst nicht auf diese Weise zu begreifen, teils auch weiß das auffassende Bewußtsein gemeinhin nicht, ihn von seiner Einseitigkeit zu befreien oder frei zu erhalten und in der Gestalt des strei­ tend und sich zuwider Scheinenden gegenseitig notwendige Momente zu erkennen“ [Phän., 12]. In der Enzyklopädie wird gegen die Meinung, Philosophie biete nur den „Anschein der so vielen, verschiedenen Philosophien“, die Meinung selbst ins Feld geführt: Hegel nimmt Bezug auf das „gemeine Leben“, das in seiner Konstruktion prinzipiell nur begrifflose Vorstellungen und Meinungen hat: Aber auch hier fände man es doch auch „unangemessen“, „wenn z.B. einer, der Obst verlangte, Kirschen, Birnen, Trauben usf. ausschlüge, weil sie Kirschen, Birnen, Trauben, nicht aber Obst seien“ [Enz., § 13; vgl. u. a. auch GP 6,110 und 226]. Daß es „so verschiedene Philoso­ phien gebe und jede nur eine Philosophie, nicht die Philosophie sei“ [Enz., § 13], könne insofern nicht als Einwand gegen die Philosophie aufgefaßt werden. Denn jede ver­ schieden scheinende Philosophie ist in der Tat (noch) nicht die Philosophie, sondern nur ein Teil von ihr bzw. sie selbst nur auf verschiedenen Ausbildungsstufen. So zeigt die Philosophiegeschichtsphilosophie, „daß die besonderen Prinzipien, deren eines einem System zugrundelag, nur Zweige eines und desselben Ganzen sind“ und daß somit die „verschieden erscheinenden Philosophien [...] nur eine Philosophie auf ver­ schiedenen Ausbildungsstufen“ sind [ebda].

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für sich seiender Gedanke“ [GP 6,18]. Eine Meinung ist sowohl dem Zusammenhang wie dem Inhalt nach zufällig, denn jeder „Inhalt hat allein als Moment des Ganzen seine Rechtferti­ gung“, ist aber außerhalb desselben „eine unbegründete Voraus­ setzung oder subjektive Gewißheit“, eine „Gesinnung“ [Enz., §13]. Und wenn auch „eigene Überzeugung [...] in der Tat das Letzte, absolut Wesentliche [ist], was die Vernunft, Philosophie zur Erkenntnis fordert“, so beruht aller Unterschied doch da­ rauf, ob die Überzeugung nur auf „subjektiven Gründen“ basiert (wodurch sich jemand „der Gemeinschaft der Vernünftigkeit verweigert, sich in seine isolierte Subjektivität, die Partikularität einschließt“54) oder „auf dem Gedanken“ oder „der Natur der Sache“ [GP 6,141 f.]. Dabei würde es, Hegel zufolge, nun aller­ dings eine contradictio in adiecto darstellen, würde man von philosophischen Meinungen sprechen: „Die Philosophie [...] enthält keine Meinungen - es gibt keine philosophischen Mei­ nungen. Man hört einem Menschen - und wenn es auch selbst ein Geschichtsschreiber der Philosophie wäre - sogleich den Mangel der ersten Bildung an, wenn er von philosophischen Meinungen spricht. Die Philosophie ist objektive Wissenschaft der Wahrheit, Wissenschaft ihrer Notwendigkeit, begreifendes Erkennen, - kein Meinen und kein Ausspinnen von Meinungen“ [GP 6, 18]. Allerdings lassen sich „Meinungen“, „zufällige Ge­ danken“, wenn auch nicht in der Philosophie selbst, so aber in der Geschichte der Philosophie finden, davon Zeugnis gebend, daß die Philosophie in der Geschichte die ihr angemessene Ge­ stalt noch nicht gefunden hat. Für den Philosophen ist Meinung ein Sachverhalt im Gegenstandsbereich ,Philosophiegeschichte‘, der im Kontrast zu den durch die „Heroen der denkenden Ver­ nunft“ vollbrachten besonderen „Taten der Philosophie“ (Qua­ sisystemen) steht. Daher gilt, daß „Tausende, die Partikularitäten behandelten, vergessen [sind]; nur hundert Namen sind uns als solche aufbewahrt. Die Mnemosyne der Weltgeschichte teilt ihren Ruhm nicht an Unwürdige aus; sie erkennt [.] auch in der Geschichte der Philosophie nur die Taten der Heroen der den­ kenden Vernunft an“ [GP 6, 287]. Meinungen sind möglicher­

54 „Wenn ein Mensch sich über etwas nicht auf die Natur und den Begriff der Sache oder wenigstens auf Gründe, die Verstandesallgemeinheit, sondern auf sein Gefühl beruft, so ist nichts anderes zu tun, als ihn stehenzulassen [...]“ [Enz., §447].

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weise nicht vergessen, jedoch (dem Wert nach) einfach zu ver­ gessen. „Meinungen“ gehören eben zu jenen Erscheinungen im Gegenstandsbereich ,Philosophiegeschichte‘, die ihrer Natur nach ein „ganz und gar Geschichtliches“ oder ein Vergängliches sind, das in metaphysischer Hinsicht nur an einem absolut Not­ wendigen existieren und selbst niemals an jenem bedeutsamen Ort aufbewahrt oder „erinnert“ werden kann, von dem noch die Rede sein wird: im „Tempel“ der Vernunft [GP 6, 47]55. Zusammenfassend formuliert, konstituiert eine aufzählende oder erzählende Kenntnis der „unzähligen“ Einzelheiten einen Wissensbereich, in dem der absolute Zufall regiert. Nicht nur hängt die Erinnerung an solche Geschehnisse vom gleichen Zu­ fall ab, wie die Einzelheiten ihrer Entstehung nach. Auch das „Interesse“, sie zu kennen, ist so vergänglich wie diese selbst. Doch wenn nun auch die Philosophie als Philosophie an einem solchen Wissen grundsätzlich vorbeigeht, so werden doch z.B. im Rahmen der Philosophiegeschichtsphilosophie, wenn auch nicht Meinungen, so aber doch eine Vielfalt faktischer Details aufgenommen (z.B. Lebensdaten von Philosophen). Weil aber Einzelheiten nicht zur Philosophie selbst gehören, kann man in der Darstellung an der Stelle, an der es um Details und „bloße Erscheinung“ geht, beliebig kürzen.

b) Historie mit Verstand Ein „schwachsinniges Ergehen des Vorstellens“ ist noch keine Wissenschaft. Denn „bei allem insbesondere, was wissenschaft­ lich sein soll, [...] muß Nachdenken angewandt werden“ [PG, 23], und sei es zunächst auch nur als verständiges, „reflektieren­ des Nachdenken“ [Enz., §2], durch das es bereits möglich wird, einen ganzen Gegenstandsbereich in Augenschein zu nehmen. Als zweite Disposition von Historie bei Hegel wurde oben die­ jenige namhaft gemacht, die dem „Bedürfnis der Übersicht eines Ganzen“ zu genügen sucht. Wo dies geleistet wird, handelt es sich um empirisches Wissen. Hegel hat diese Disposition aus­ drücklich nur (und auch hier lediglich beiherspielend) im Kon­ text des Sachbereichs politischer und Weltgeschichte behandelt.

55 Vgl. auch ebda, 109.

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Und doch ist sie, wie er an vielen Stellen implizit zum Ausdruck gebracht hat, nicht auf diese Bereiche beschränkt. Unter wenigstens drei (von Hegel kritisierten) Aspekten kann diese Form der Historie charakterisiert werden. Die dem Überblick über ein Ganzes (z. B. der ganzen Geschichte „eines Volkes oder Landes oder der ganzen Welt überhaupt“56, oder des Ganzen der Geschichte der Philosophie, aber auch des Gan­ zen der Wissenschaft, d.h., der Philosophie selbst) dienende Hi­ storie setzt „Vorstellungen“ vom gesamten Gegenstandsbereich und einen davon unterschiedenen gegebenen Inhalt voraus. Die­ se Vorstellungen sind von kategorialer Dignität, die aber will­ kürlich und im partikulären Sinne „subjektiv“ sind und damit der jeweiligen Gesamtbetrachtung nur scheinbare Konsistenz verleihen: Eine Gesamtdarstellung bleibt in dem Maße „über­ haupt etwas Schwankendes“, als prinzipiell (und z. B. epochen­ spezifisch) „abweichende Vorstellungen“ existieren können, so daß sich denn die jeweilige Konzeption im Vergleich mit ande­ ren „leicht den Vorwurf der Einseitigkeit“ zuzieht [vgl. GP 6, lf.]. Deshalb könne es vorkommen, daß man, je nach der Vor­ stellung, die man z. B. vom Wesen des Staates habe, „in einer politischen Geschichte eines Landes“ nicht finde, was man in ihr suche, oder daß man in Darstellungen der Philosophiege­ schichte „alles andere, nur nicht das, was man für Geschichte der Philosophie hält, zu finden meinen könnte“ [ebda]. Zum an­ deren sind die vorausgesetzten Vorstellungen „allgemein“ oder „einfach“ im Sinne der abstrakten Verstandesallgemeinheit. Sie verleihen dem Werk, so Hegel im Kontext der politischen Ge­ schichte, die abstrakte Struktur, nur „einen Ton“ zu haben57. Diese Vorstellungen vom Gegenstandsbereich sind „Produkte der denkenden Reflexion“, Resultate des „Verfahrens des wis­ senschaftlichen Verstandes“, „ein weitläufiges individuelles Ganzes“ mit der Form der „Allgemeinheit“ (Einfachheit) zu be­ kleiden, die das abstrakte Ich kennzeichnet: Diesem ist es darum zu tun, ein Ganzes auf eine „einfache Vorstellung“ zu reduzie­ ren, „mit einem Wort“ (einem „Namen“) zu bezeichnen, um es schließlich zu einem unberechenbaren „Reichtum“ besonderer Vorstellungen von gleicher gehaltloser Dignität zu erweitern

56 Erster Entwurf der Einleitung in die Geschichte der Philosophie, a. a. O., 550. 57 Ebda, 550f.

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[vgl. ebda]58. Der Ansatzpunkt bleibt das Gegebene, mit Bezug auf das man sich mit „Abstraktionen“ begnügt. Es wird „epitomiert“, abgekürzt, hier treibt man sich mit „Unbestimmtheiten“ herum (im Falle der politischen Geschichtsschreibung mit „Schlacht“, „Krieg“, „Erde“, „Mensch“, „Alexander“ oder „Cä­ sar“ [PG, 92]). So wird der Gegenstandsbereich nur ober­ flächlich strukturiert. Er bildet von daher noch immer „ein uner­ meßliches Feld für [...] gelehrte Ansichten“ und lediglich „tiefscheinende Reflexionen“, die in diesem Schein „um so glän­ zender werden können, je mehr ihnen das Unbestimmte zu Ge­ bote steht“ [PG, 89]. Allerdings soll in der Aufnahme eines Gehaltes in die „Form des Ungefährs“, des „Meinens“ und der „Namen“, Hegel zufol­ ge schon die (wenn auch unausdrücklich bleibende) Intention bestehen, das „Wesen“ (das „Allgemeine“) dieses Gegenstands­ bereichs herauszuheben - den „Gedanken“ [vgl. Enz., §2]. Be­ reits hier ist mithin der Grundsatz leitend, daß „das Wesentliche von dem sogenannten Unwesentlichen geschieden und heraus­ gehoben werden müsse“ [PG, 88], und gilt als das Wesentliche der „Gedanke“, der als solcher den „Wert der Sache“, des „We­ sentlichen“, des „Inneren“, des „Wahren“ [Enz., §21] des vorge­ stellten Gegenstandsbereichs besitzt. Freilich vermag erst die Philosophie an die Stelle der konzeptualistischen Fassung dieses Wesentlichen, an die Stelle der subjektiv-kategorialen bestimm­ ten Vorstellungen überhaupt, „das Logische“ zu setzen: den Logos der Dinge, auf den gegenstandsbezogene Vorstellungen (als „Metaphern“) dann referieren, wenn sie „sinnig“ sind59. Nun entspricht, folgt man zumindest den Hegelschen Be58 Vgl. hierzu insbesondere Enz., §§440-481. Das Zusammenziehen eines konkreten Bewußtseinsgehalts in eine „einfache Bestimmung“ hat zugleich die praktische Konnotation, daß dieser Inhalt dann die „Bestimmung des Meinigen“ erhält: Ein Inhalt, der „in Mir“, im „unbestimmten Raum“ des Ich ist, ist mit anderen Vorstellungen, in die der ursprünglich konkrete Gehalt aufgelöst wird, zunächst durch das bloße ,auch‘ oder ,und‘ (bzw. ,und dann‘) verbunden. Erst der Verstand setzt dann „Beziehungen der Notwendigkeit“, sei es im Sinne von „Ursache und Wirkung“, „Allgemeinem und Besonderem“ oder „Grund und Folge“ [vgl. dazu Enz., § 20]. 59 Es sei „der alte Glaube angeführt worden“, so Hegel, „daß, was das Wahrhafte an Gegenständen, Beschaffenheiten, Begebenheiten, das Innere, Wesentliche, die Sache sei, auf welche es ankommt, sich nicht unmittelbar im Bewußtsein einfinde, nicht schon dies sei, was der erste Anschein und Einfall darbiete, sondern daß man erst darüber nachdenken müsse, um zur wahrhaften Beschaffenheit des Gegenstandes zu gelangen, und daß durch das Nachdenken dies erreicht werde“ [Enz., § 21].

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Schreibungen, auch die theoretische Philosophie Kants (von der nach Hegels Systematik angenommen werden muß, daß ihr im Kantischen Konzept der Primat zugekommen sei) eher dem eben angesprochenen Wissenstypus verständigen historischen Wissens. Zwar enthält die Kantische Philosophie den „höchst wichtigen Gedanken“ von der ,,ursprüngliche[n] Synthesis der Apperzeption“ und damit eines der „tiefsten Prinzipien für die spekulative Entwicklung“, das eigentlich „den Anfang zum wahrhaften Auffassen der Natur des Begriffs“ ausmacht [WdL II, 260]. Denn das Ich wird jetzt auf eine Weise aufgefaßt, die einer „leeren Identität oder abstrakten Allgemeinheit, welche keine Synthesis ist, vollkommen entgegengesetzt ist“ [ebda]. Aber dieses Prinzip wird als endliches, subjektives Prinzip (miß-)verstanden und zugleich eine bleibende Bedingtheit des (gegenstandsbezogenen) Denkens durch die Anschauung be­ hauptet, ohne deren Mannigfaltigkeit das Denken leer sei [WdL II, 261]. In diesem Sinne ist Kant nur beim „psychologi­ schen Reflexe des Begriffs“ stehengeblieben [ebda] und konnte daher auch in der Ausführung der Philosophie lediglich „psycho­ logisch [...] zu Werke“ gehen [GP 9, 151]. „Psychologisch zu Werke“ zu gehen, „d. h. geschichtlich“ zu Werke zu gehen, und dies wiederum heißt, daß man sich in Vorstellungen ergeht und „erzählt“: „Es gibt eine Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft im Menschen; das erzählt er so her, nimmt es ganz empirisch auf, ohne es aus dem Begriff zu entwickeln“ [ebda]. In diesem Sinne wurden lediglich (historisch) die Momente eines Ganzen ange­ geben, wobei Kant dem „gemeinen Leben“ verpflichtet geblie­ ben war (das „keine Begriffe, sondern Vorstellungen“ hat [WdL II, 406]) und der Wirklichkeit, wie sie sich ihm darstellt, der sinn­ lichen, empirischen Wirklichkeit. In Kraft blieb diese Wirklich­ keit allerdings auf reflektiertem Niveau. Denn „die Erfahrung“ selbst war hier der „erscheinende Inhalt“ [WdL II, 261], welcher in einer „Theorie“ des unter dem Namen „Vorstellungsvermö­ gen“ laufenden „Bewußtseins“ [Enz., §415] empirisch aufgefaßt, zergliedert und so in einen Zusammenhang gebracht wurde, daß man sich schließlich vorstellen konnte, „wie es im Vorstellen und dem erscheinenden Denken zugehe“ [vgl. WdL II, 260]60. Doch mußte sich Kant über die bequeme Introspektion des Vorstel­ 60 Vgl. z.B. die Kritik an einer solchen KANT-Deutung von Herbert Schnädelbach,

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lungsvermögens hinaus auch noch extern als Historiker betäti­ gen: Er mußte die „Arten der Begriffe“ (die Kategorien, die „nichts taugen“, weil sie nur „endliche beschränkte Verhältnis­ se“ betreffen [GP 9, 167]) sowie die Arten „der Urteile, der Schlüsse“ aus der gewöhnlichen, lediglich „zugegebener- und be­ kanntermaßen“ geltenden Logik und damit „aus der Beobach­ tung“ aufnehmen - „dies ist ein empirisches, philosophisch un­ berechtigtes Verfahren“ [ebda, 157], Dabei ist Aristoteles das „unendliche Verdienst“ zuzugestehen, zumindest schon eine „naturhistorische Beschreibung“ solcher „Erscheinungen des Denkens, wie sie sich vorfinden“, gegeben zu haben [WdL II, 269]. Für Kant war es also „glücklicherweise“ (zufällig) der Fall, daß sich „in der gewöhnlichen Logik“ z. B. „die verschiedenen Arten des Urteils bereits empirisch angegeben“ gefunden haben [Enz., § 42]. In der historischen Aufnahme von „Erscheinungen“ des endlichen (subjektiven) Denkens (also von bloßen Erschei­ nungen), in der Einbettung dieser Erscheinungen (oder subjek­ tiv: Vorstellungen) in einen das Geschehen transparent machen­ den Erzählzusammenhang - etwa derart: „daß wir mit Gefühlen und Anschauungen anfangen und der Verstand aus dem Mannig­ faltigen derselben eine Allgemeinheit oder ein Abstraktes her­ ausziehe und begreiflich jene Grundlage [d.h. die Anschauung] dazu nötig habe, welche bei diesem Abstrahieren noch in der gan­ zen Realität, [...] dem Vorstellen stehenbleibe“ [WdL II, 260; Z. v. V.] - fehlte der Kantischen Philosophie die wissenschaftli­ che Form. Sie war noch nicht Philosophie [vgl. Enz., §415], aber wenigstens gute Einleitung in die Philosophie [vgl. GP 9,150]. Diese KANT-Interpretation ist für das hier interessierende Thema ,Geschichte der Philosophie4 insofern aufschlußreich, als sich zeigt, wie doch jede Konzeption daran bemessen wird, daß „ein Philosophieren ohne System [...] nichts Wissenschaft­ liches sein“ kann und seinem „Inhalte nach zufällig“ ist [Enz., §14], wobei es bis heute ein ,Philosophieren mit System4 („das wahre System“ [vgl. WdL II, 249]) noch nicht gegeben hat. Zwar steht die Kritische Philosophie mit ihrem „höchst wichtigen Ge­ danken“ von der „ursprünglichen Synthesis der Apperzeption“ aus Hegelscher Sicht für einen „notwendigen Standpunkt, auf

Reflexion und Diskurs. Fragen einer Logik der Philosophie, Frankfurt/M., 1977, insbes. 108 f.

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welchen das Absolute sich stellt“ [vgl. ebda] - ein Standpunkt, der als solcher „überhaupt immer vorhanden[]“ ist [vgl. Enz., § 27] und ebenso in der Wissenschaft wie auch in der ihr voraus­ gehenden Geschichte, hier allerdings in einer sinnlich gebroche­ nen (gleichsam schematisierten) Form zur Geltung kommt (denn Kant selbst ist eben nur beim „psychologischen Reflexe des Begriffs“ stehen geblieben und konnte nur „psychologisch“ zu Werke gehen). Daher „[ist] ein solcher Standpunkt [...] nicht als eine Meinung, eine subjektive, beliebige Vorstellungs- und Denkweise eines Individuums, eine Verirrung der Spekulation anzusehen, diese findet sich vielmehr auf ihrem Wege notwendig darauf versetzt, und insofern ist das System vollkommen wahr“ [ebda], zumal die Form der Kantischen Philosophie, das „psy­ chologisch zu Werke“-Gehen, dem (besonderen) Prinzip dieser Philosophie vollkommen angemessen ist. Aber Kants Philoso­ phie war freilich nicht das „wahre System“, das alle Prinzipien und - als Ausdruck des „höchsten Standpunkts“ [ebda], auf den das Absolute sich stellen kann - alle endlichen Standpunkte in sich enthält. Dieses System setzt voraus bzw. schließt ein, daß man im Medium „denkender Vernunft“61 zum „wahrhaften Auf­ fassen der Natur des Begriffs“ gelangt ist. Im Gegensatz dazu gehörte die Kantische Philosophie zu denjenigen Philosophien, die der Sinnlichkeit und dem Verstand verpflichtet geblieben waren: In ihr war zum Grundsatz gemacht, „Wahres“ sei nicht „zu erkennen“ [vgl. GP 6,141], und so war sie in Hegels Sicht, dem ontologischen Status nach, überwiegend selbst von der Di­ gnität dessen, was stattdessen als erkennbar galt: Sie war eine Historie (in erzählender Version) und damit selbst ein nur histo­ risches, zeitliches, vergängliches Moment, das jetzt nur noch als Vergangenes präsent ist und einem Interpreten selbst ein histo­ risches Vorgehen abverlangt - bis auf jenen „höchst wichtigen Gedanken“ von der „ursprünglichen Synthesis der Apperzep­ tion“. Dieser Gedanke läßt die Kritische Philosophie in der Per­ spektive einer Philosophie, die nicht mehr nur eine „Erzählung dessen“ ist, „was geschieht“, vielmehr zu erkennen vermag, was „wahr“ ist in solchem Geschehen [WdL II, 260], ein bedeutsamer Bestandteil der Philosophiegeschichte sein, die philosophisch als

61 Formuliert im Anschluß an WdL II, 78.

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Prozeß der (vom Absoluten selbst geleisteten) „Entdeckung der Gedanken über das Absolute“ [Enz., I, 22] zu konzipieren war. Hegels Kant-Deutung ist wirkmächtig geworden. Es wurde die Legende vom Kantischen Psychologismus62, wenn viel­ leicht auch nicht erfunden, so aber doch transportiert. Sie lebt heute im Mentalismus-Vorwurf weiter63. Daß Kant nur ein psy­ chologisch („geschichtlich“) zu Werk gehender ,Denker‘ gewe­ sen sei, könnte sich als eine gut erfundene Geschichte bzw. Teil einer gut erfundenen Geschichte erweisen. Darauf deutet hin, daß Hegels Interpretation mit den zuvor skizzierten Deutun­ gen nicht verträglich ist, denen zufolge Kant längst ein speku­ lativer Philosoph - ein spekulativer Philosophiegeschichts­ philosoph und z. T. sogar schon ein methodisch reflektierter spekulativer Philosophiegeschichtsphilosoph - gewesen ist. Um nun aber Hegels Auffassung von ,Geschichte der Philosophie‘ noch ein wenig näher zu kommen (in welche die ange­ sprochene KANT-Deutung hineingehört), ist zunächst zu ver­ deutlichen, was er eigentlich unter Geschichte überhaupt verstanden hat und wie die Geschichte philosophisch (und nicht nur historisch oder empirisch) zum Gegenstand wird - wenn zu­ gleich gelten soll, daß Philosophie keine „Erzählung dessen sein [soll], was geschieht“.

1.4 Die Struktur ,,jede[r] Geschichte“ im eigentlichen Sinn Ein berühmtes imperativisches Diktum Hegels lautet: „[...] die Philosophie soll keine Erzählung dessen sein, was geschieht, sondern eine Erkenntnis dessen, was wahr darin ist, und aus 62 Allerdings kann nach Hegel „die Kantische Philosophie [...] am bestimmtesten so betrachtet werden, daß sie den Geist als Bewußtsein aufgefaßt hat und ganz nur Bestimmungen der Phänomenologie, nicht der Philosophie desselben enthält“ [Enz., §415]. Sie gehört also - im Rahmen des subjektiven Geistes - eher auf die Stufe der Phänomenologie. Wenn einige der im ersten Teil der Arbeit behandelten Interpreten die Kantische Philosophie in Beziehung gesetzt haben zu Hegels Phänomenologie des Geistes, dann bleibt in gewissem Sinne die Hegelsche Zuordnung in Kraft. Aller­ dings ist festzuhalten, daß es Hegel nicht bloß um eine Phänomenologie, sondern letztlich um eine Philosophie des Geistes ging. 63 Vgl. zu diesem Verfahren der Legendenbildung: Gerhart Schmidt, Die zweite ,.Phänomenologie des Geistes‘ als philosophiehistorische Kritik, in: Lothar Eley (Hrsg.), Hegels Theorie des Geistes in der ,Enzyklopädie der philosophischen Wis­ senschaften im Grundrisse1 (Spekulation und Erfahrung, Bd. II, 14), Stuttgart/Bad Cannstatt 1990, insbes. 160 ff. und 171 ff.

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dem Wahren soll sie ferner das begreifen, was in der Erzählung als ein bloßes Geschehen erscheint“ [WdL II, 260]. In diesem Diktum nun ist auch das nähere Verfahren angezeigt, dem die Hegelsche Geschichtsphilosophie folgt. Hegels Auffassung von „Geschichte“ erschließt sich von der Annahme her, der Philosophie könnten „Vorstellungen“ eigen sein64, die, anders als diejenigen im vorphilosophischen Bereich, als „Metaphern der Gedanken und Begriffe bezeichnet werden können“ [Enz., § 21]. „Der Gegenstand, wie er ohne das Denken und den Begriff ist“, so Hegel, „ist nur eine Erscheinung“ [WdL II, 255], eine „Vorstellung oder auch ein Name“ [ebda, 560]. Erst „das Denken“ hebt diese „seine Unmittelbarkeit, mit der er zu­ nächst vor uns kommt, auf“: Es erhebt den Gegenstand zu einer „Objektivität“, die er nur „im Begriffe“, d. h. in der „Einheit des Selbstbewußtseins“ hat, „in die er aufgenommen worden“, so daß „seine Objektivität oder der Begriff [...] selbst nichts ande­ res [ist] als die Natur des Selbstbewußtseins“; seine Objektivität hat insofern „keine anderen Momente oder Bestimmungen als Ich“ [WdL II, 255]65. In diesem Sinne besitzen, allgemein formu­ liert, Gedanken und Begriffe den „Wert der Sache“, des „We­ sentlichen“, des „Inneren“ oder „Wahren“ des vorgestellten bzw. sich präsentierenden Gegenstands. In diesem Sinne aber auch bezieht sich die Philosophie in den realphilosophischen Sphären auf fest umgrenzte Gegenstandsbereiche mit (begriffs-) logischer Infrastruktur und einem sich dem „Betrachter“ darbie­ tenden empirischen Außenaspekt. Dies ist bei der Geschichte - und im Grundsatz bei „jede[r] Geschichte“ [Rel. 3, 294] - der Fall, sofern von „eigentlich soge­ nannte^] Geschichte“ [vgl. Rel. 5, 121] (und nicht nur von Ge­ schichte im unbestimmten Sinne von „Geschehen“) die Rede ist66. Im philosophischen Zusammenhang indiziert der Ausdruck „Geschichte“ den Entwicklungs- oder Bildungsprozeß eines durch Subjektivität ausgezeichneten, sei es „vegetabilischen“, „animalischen“ oder bewußt existierenden Individuums - seine im organologischen Sinne teleologische Genesis, die durch die 64 Vgl. zur „Vorstellung“ im Systemzusammenhang: L. Bruno Puntel, Darstellung, Methode und Struktur, a. a. O. 65 Dies hat zugleich die Bedeutung, daß der Gegenstand „nur in den Denk- und Be­ griffsbestimmungen [...] ist, was er ist“ [ebda, 560]. 66 Vgl. zum Thema Geschichte insbes. Rel. 5,120ff.

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Infrastruktur aller Subjektivität, den „Begriff“, bestimmt wird. Das, was eine Geschichte „hat“, wie Hegel formuliert67, - und

„[sjchon jeder Halm, jeder Baum hat in diesem Sinne seine Geschichte [...]. Aber mehr noch ist dies im Gebiete des Geistes der Fall, der als wirklicher, erscheinender Geist erschöpfend nur kann dargestellt wer­ den, wenn er uns als solch ein Verlauf vor die Vorstellung kommt“68 ist dadurch ausgezeichnet, daß ihm eine selbstbestimmte (durch den „Begriff“ bestimmte) „Entwicklung“ (oder „Bildung“) zu­ kommt, in deren Rahmen es durch zunehmend komplexere epo­ chale Zustände (Zeit-Räume) seiner selbst hindurchgeht. Was eine Geschichte hat, hat also „eine Veränderung, Folge und ab­ geschlossene Totalität unterschiedener Zustände“69, durch die erkennbare Wirklichkeit gesetzt wird.

a) Die Kreuzstruktur der „eigentlich sogenannten Geschichte“ Die komplexe Struktur der als Geschichte bestimmten Realisie­ rungsprozesse, deren Vorkommen das „Leben“ bezeugt - d.h. die Stufe des Organischen im Gebiet der physischen Natur, das

67 Die Terminologie ist beachtenswert, in der Hegel von Geschichte spricht: Etwas „hat“ nur eine Geschichte, „ist“ aber nicht seine Geschichte, wie Theoretiker ge­ schichtlicher Vernunft interpretieren. So „hat“ z.B. die Philosophie nur eine Ge­ schichte, „ist“ aber nicht ihre Geschichte, wie etwa Lucien Braun formuliert. In der Verwendung des Hilfsverbs „Haben“ kommt zum Ausdruck, daß Hegel unter Ge­ schichte nicht die fundamentale Seinsweise von Etwas versteht: In vielen Sprachen, so Hegel zu Beginn des zweiten Teils der Logik (der „Lehre vom Wesen“), werde „Haben [...] zur Bezeichnung der Vergangenheit gebraucht, - mit Recht, indem die Vergangenheit das aufgehobene Sein [.] ist“ [Enz., § 125, Anm.]. Geschichte steht für das aufgehobene Sein. So kann man Hegel zufolge zwar sagen: Die Geschichte, die etwas „hat“, „ist“, aber dieses Sein ist zugleich negiertes, damit zum „Schein“ herab­ gesetztes Sein oder „Erscheinung“. So heißt es z. B. in einer dem Thema „Geschichte“ gewidmeten Passage der Religionsphilosophie [vgl. Rel. 5,120ff.]: Die Geschichte „ist, denn Erscheinung heißt etwas, das ist, Sein hat, aber ein Sein, das zum Schein herab­ gesetzt ist; als Erscheinung ist sie unmittelbares Dasein, das auch zugleich negiert ist, dies ist Vergangenheit - die eigentlich sogenannte Geschichte, die sich eben dadurch als bloße Erscheinung erweist, daß sie nur Geschichte ist“ [ebda, 121, H.v. V.]. Die derart metaphysisch als „Vergangenheit“ [ebda] bestimmte Geschichte (im eigentlichen Sinn) gehört insofern nicht in die Sphäre des „Seins“, noch schon in die des „Begriffs“, sondern in die des „Wesens“. Vgl. dazu auch noch einmal unten Fußnote 84. 68 Vorlesungen über die Ästhetik III, 226. 69 Ebda.

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„Leben, das mit dem Geiste in Verbindung steht“70 - läßt sich wie folgt umschreiben: Zum einen geht Geschichte (dem Begriff gemäß) „von einem inneren unveränderlichen Prinzip“ aus, des­ sen „Existenz“ nach dem ersten Begriffsmoment (noch unent­ wickelter „Allgemeinheit“) zunächst noch „einfach ist, dann aber Unterschiede aus sich zum Dasein bringt“ [PG, 75], wobei diese „einfache Wesenheit“ nicht mit in das „Werden“ ,gerissen‘ wird, sondern sich als „Seele“ desjenigen „kontinuiert“ [vgl. WdL II, 276], das im Laufe der Entwicklung „zum Dasein“ ge­ bracht wird [vgl. auch Enz., § 214 Anm.]. Geschichte bietet inso­ fern einen „notwendigen“, „vernünftigen“ oder auch „wesentli­ chen Zusammenhang“ von (besonderen) Gestaltungen ein und desselben Substrats, der (metaphorisch formuliert) die Struktur eines „organisch fortschreitende^] Ganze[n]“ hat [vgl. GP 6,4]. Bedeutsam ist aber, daß das Geschehen nur „innerlich“ durch den „Begriff“ - durch ihn als „innere Idee“ - vorangetrieben wird: Der „Begriff [wirkt] zwar nach seiner Konsequenz [...], aber diese Konsequenz [ist] nicht ausgedrückt [...]“ [vgl. GP 6, 26]. Denn Geschichte steht im Grundsatz dafür, daß sich der Begriff noch nicht begriffen hat. Der Begriff ist daher lediglich das „innere Leitende“ [ebda], der „innere Bildner“, mit dem man allerdings dann, „wenn man es so nennen will, a priori ver­ traut sein“ muß, wenn man das, was „vor die Vorstellung kommt“ - und das sind Erscheinungen, die zu einer Zeit sind, zu einer anderen aber verschwinden und durch anderes ver­ drängt werden -, angemessen „verstehen“ können will [vgl. PG, 87]. So ist Geschichte von Hegel zum einen als kontinuierlicher Prozeß bestimmt. Zum anderen aber ist sie zugleich auch als ein diskontinuierliches Ganzes von der Formgestalt einer Zufällig­ keit indizierenden „Reihe“ aufgefaßt. Diese Geschichte als Ge­ schichte charakterisierende „Reihen“-Gestalt geht auf die „rei­ nen Form[en] der Sinnlichkeit oder des Anschauens“ [Enz., § 258] zurück: auf den Raum und - vor allem - die Zeit. Denn was im Laufe der Entwicklung zum „Dasein“ gebracht wird, „fällt sowohl in die Zeit als in den Raum“ [vgl. PG, 105], und zwar so, daß die Momente zuerst „in der Zeit nacheinander, dann im Raum nebeneinander“ folgen [vgl. Rel. 3, 295]. Der Raum - oder der Begriff als (noch) unentwickelte, abstrakte 70 Formuliert nach WdL II, 470f.

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Form des „Nebeneinanders“ [vgl. Enz., §254] - und die Zeit oder „die abstrakte Form“ eines Nacheinanders, das (struktu­ rell) als „Negativität“, als rastloses „Werden“ (Entstehen und Vergehen) bestimmt ist [vgl. Enz., §258]71 - verleihen der Ge­ schichte die sie als Geschichte charakterisierende „empirische Form“ [GP 6, 27]: die Form eines „Außereinanders“ [Enz., §254] oder auch „Auseinanders“ [PG, 106]. Dieser Form, die Hegel „die Form der Natürlichkeit“ nennt [ebda], ist es aller­ dings zu verdanken, daß das, was jeweils hervorgebracht wird, ein (wenn auch nur vorübergehendes) Bestehen hat72 und also mehr ist als nur eine Äußerung, „die als Äußeres“ in demselben Moment, in dem sie ist, schon wieder verschwunden ist73. Und so ist denn nun „überhaupt in jeder Geschichte dies Gedoppelte“[Rel. 3, 294]74: Jede Geschichte besteht einerseits aus einer „zufälligen Reihe“ oder Aufeinanderfolge von Erschei­ nungen, „deren Zusammenhang“ in erster Linie „das Nach und Vor und Zugleich oder die Zeit“ ist [vgl. GP 6, 139]. So bietet sich Geschichte der „Vorstellung“ dar. D. h., sie präsentiert „sich zunächst sinnlich“, ist „eine Folge von [...] sinnlichen Bestim­ mungen, die in der Zeit nacheinander, dann im Raum nebenein­ ander folgen“ [Rel. 3, 295]. Geschichte „erzählt“ als Geschichte 71 Hegel zufolge ist die Zeit „dasselbe Prinzip“ als es der „Begriff“ ist, wenn man auf die beiden eignende „Negativität“ achtet: Der Begriff ist „dieselbe Negativität wie es die Zeit im Sinnlichen ist“. Während jedoch dieser „die innerste, die unendliche Form selbst“ ist, „in welcher daher alles Seiende überhaupt aufgelöst wird“ [PG, 103], so daß er weder „in der Zeit und Zeitliches“, sondern vielmehr die selbst ewige „Macht der Zeit“ ist, ist „das Endliche vergänglich und zeitlich, weil es nicht, wie der Begriff an ihm selbst die totale Negativität ist, sondern diese als sein allgemeines Wesen zwar in sich hat, aber ihm nicht gemäß [...] ist, daher sich zu derselben als zu seiner Macht verhält“, einer Macht, die in Relation zum Endlichen als die Macht der Zeit, und d.h. als die abstrakte Form der Negativität zur Geltung kommt [Enz., §258]. 72 Vgl. dazu im Grundsatz z.B. GP 6,112. 73 Vgl. dazu, daß die Selbstbewegung der Idee gemäß dem Aufbau des Hegelschen Systems anfänglich nur im reinen Element des Gedankens und damit im Element der „Ewigkeit“ im Sinne noch „an und für sich seiender Zeit“ spielt, die als solche der ausdrücklich gesetzten Zeit „gegenübergestellt“ ist: Rel. 5, 121 (so dargestellt in der Hegelschen Logik). In diesem Element sind „Äußerungen [...] als Äußeres unmit­ telbar wieder verschwunden“, haben also kein Bestehen: WdL II, 550. Vgl. auch unten Fußnote 84. 74 Dieses Gedoppelte läßt sich als ein der Geschichte „inner[er] Widerstreit“ verste­ hen, wie Hegel in bezug auf die Philosophiegeschichte zum Ausdruck bringt: vgl. GP 6, 9 ff. Der Widerspruch ist freilich „die Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit; nur insofern etwas in sich selbst einen Widerspruch hat, bewegt es sich, hat Trieb und Tätigkeit“: WdL II, 75.

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gleichsam von sich her, „was zu einer Zeit gewesen, zu einer an­ deren aber verschwunden und durch anderes verdrängt worden ist“ [GP 6, 9]. Andererseits hat jede Geschichte aber auch eine intelligible Struktur, ist im Grunde Ideen- oder Vernunftent­ wicklung (und partizipiert an der alle Wirklichkeit erzeugenden Entwicklung der einen Idee oder Vernunft), was sich allerdings nicht der Sinnlichkeit und dem Verstand, sondern nur der „den­ kenden Vernunft“ erschließt. Der erste Aspekt charakterisiert Geschichte sozusagen in „horizontaler“75 Linie: Die „unterschiedenen Stufen und Ent­ wicklungsmomente“ der Idee treten (vor allem) „in der Zeit“ und auf die Weise „natürlichen“, „zufällig scheinenden“ Fortge­ hens hervor. Dabei ist von Bedeutung, daß Hegel - ausdrück­ lich in bezug auf Kunst-, Religions- und Philosophiegeschichte sowie die Geschichten der besonderen Wissenschaften - zwi­ schen „innerer“ und „äußerlicher Geschichte“ unterscheidet [vgl. GP 6, 9ff.]: Ist von „innerer Geschichte“ die Rede, dann im gegeben Falle vom „Inhalt“ der Kunst, Religion, Wissen­ schaft, wie er „in der Zeit“ von vielen („zufälligen“) Individuen entfaltet wird, in deren „inneren Bewußtsein [...] als Einzelner“ diese Entwicklung zunächst auch spielt [vgl. ebda, 112]. Der Aus­ druck „äußerliche Geschichte“ bezeichnet das „äußere Schick­ sal“, das diesem Inhalt in der Welt widerfährt: die Ausbreitung einer Lehre, deren von kontingenten (z. B. politischen) Umstän­ den („mannigfaltigsten zeitlichen Berührungen“ [ebda, 10]) ab­ hängiges „Entstehen[], Verbreiten[], Blühen[], Verkommen[], Wiederaufleben[]“ [ebda, 11] von bestimmten Personen und In­ stitutionen getragen wird, so z. B. im Falle des Christentums von der Kirche, zu der das Christentum (über Bekenntnis und „Leh­ re“ hinaus) seine Existenz zu einem „äußeren Dasein“ erbaut [ebda, 10]. Institutionen und Personen haben selbst „mannigfal­ tige Schicksale“, die unter dem Titel „äußerliche Geschichte“ thematisch sind. Nun haben „eine äußerliche Geschichte, wie die Religion [...] auch die anderen Wissenschaften, ingleichen die Philosophie: Auch sie „hat eine Geschichte ihres Entstehens, Verbreitens, Blühens, Verkommens, Wiederauflebens“, zu der

75 Die Verwendung der Schemata „horizontal“ und „vertikal“ schließt an einen Sche­ matisierungsvorschlag von L. Bruno Puntel (Darstellung, Methode und Struktur, a. a. O.) an.

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eine Geschichte der „Lehrer, Beförderer, auch Bekämpfer“ (die deren „äußere Schicksale“ betrifft) ebenso hinzugehört wie eine Geschichte der „äußeren Verhältnisse)]“, die sie „häufiger zur Religion, zuweilen auch zum Staate“ hat [ebda, 11]. Der Aus­ druck „äußerliche Geschichte“ bezeichnet also letztlich die wei­ te Kontingenz-Dimension „geschichtlicher Äußerlichkeit“ [vgl. ebda, 112], in der sich im Hegelschen Konzept zugleich einzig Welt-, Kunst-, Religions- und Philosophiegeschichte sowie die Geschichten der besonderen Wissenschaften ,berühren‘ und sich (lose) miteinander ,verwickelt‘ zeigen76. Auf das „Schauspiel“ der äußerlichen Geschichte [vgl. ebda] beziehen sich die histo­ risch-empirischen Geschichtswissenschaften ebenso wie die Phi­ losophie, die als Geschichtsphilosophie eine erfahrungsunab­ hängige (und mit Blick auf das Zufällige, Geschichtliche, Vergängliche zugleich kritische) Erkenntnis von Empirischem ist und die „interessanten Fragen“ zu beantworten vermag, die sich von dieser Seite her stellen: z. B. warum sich die Philosophie, die doch „die Lehre der absoluten Wahrheit“ sein soll, nur auf eine so geringe Anzahl von Individuen, besondere Völker und besondere Zeitperioden beschränkt habe; wie es komme, daß im Christentum die Wahrheit in sehr viel allgemeinerer Gestalt auf­ trete als in der Philosophie; oder auch: warum die Wahrheit mit der christlichen Religion so spät in der Zeit hervorgetreten sei und so lange und selbst noch gegenwärtig auf besondere Völker eingeschränkt geblieben sei [ebda, 11]. Der zweite Aspekt jeder Geschichte charakterisiert sie in ,vertikaler‘ Linie: Bei allem „Auseinander“-Gehen verliert die Idee den Status nicht, „Mittelpunkt“ und „Lichtquell“ ihrer eigenen „Entwicklung“ zu sein: In allen Expansionen, die „Spiegel und

76 Hans Friedrich Fulda zeigte ausführlich, daß die „äußerliche Geschichte“ die einzige Dimension ist, in der bei Hegel Welt-, Kunst-, Religions- und Philosophiege­ schichte gleichzeitig zum Thema gemacht werden können: Fuldas Rekonstruktion vor allem „des letzten Teils der Encyklopädie“ hatte nämlich „beiläufig ein Ergebnis, das der gewöhnlichen HEGEL-Interpretation widerspricht“: nämlich daß „Hegels Sy­ stematik [...] nicht die Möglichkeit einer Universalgeschichte [kennt], wenn man un­ ter einer solchen eine alle Zeiten und Gestaltungsregionen umfassende Entwicklung des menschlichen Geistes versteht. Eine solche Disziplin kann Hegel allenfalls in Form einer .äußerlichen Geschichte1 denken, die nicht Wissenschaft ist“, vielmehr „in einer erzählenden Darstellung“ nur die unterscheidbaren „Strukturen gleichzeiti­ ger geistiger Notwendigkeiten“ zusammenbringen könnte: Fulda, Das Problem einer Einleitung, a. a. O., 261.

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Abbilder dieser einen Lebendigkeit“ sind, kommt sie „nicht au­ ßer sich [...], sondern [bleibt] gegenwärtig und immanent in sich“ [vgl. GP 6, 25]. So gesehen ist Geschichte ein „System der Notwendigkeit“ - ein System der „eigenen Notwendigkeit“ der Idee, welche „damit ebenso ihre Freiheit ist“ [vgl. ebda]. Nimmt man beide Aspekte zusammen, so ergibt sich für Ge­ schichte die dynamische Verlaufsform eines Auseinandergehens, das ein ,Insichgehen‘ und ,Insichvertiefen‘ ist, mit dem sich die Strukturierung des Ganzen verbindet. Das, was in diesem Ver­ lauf zutage gebracht wird, „dient“ der „Idee“, hat nur durch sie „Wert“ und „Existenz“ [vgl. Enz., § 549 Anm.]. Umgekehrt inhäriert die Idee ihren im Laufe der Zeit aufeinanderfolgenden Ge­ staltungen auf immer entfaltetere und transparentere Weise. Hegel hat die organo-logische Infrastruktur, also das Konti­ nuitätsmoment von Geschichte im eigentlichen Sinn, in dyna­ mischer Hinsicht unter den Stichworten „Widerlegung“, „be­ stimmte Negation“ oder auch „Dialektik“77 thematisiert. Das „Widerlegen“, das „in aller Entwicklung vorkommt“ [GP 6, 227], bezeichnet ein Fortschreiten, in welchem das zunächst Er­ zeugte zu einem untergeordneten Moment herabgesetzt wird [ebda, vgl. auch 154]. Widerlegen bedeutet das „Aufheben“78, genauer Sich-Aufheben von etwas in einer besonderen Be­ stimmtheit in dem „gedoppelten Sinn“, daß das Aufgehobene ebensowohl ,aufbewahrt‘ (erhalten, idealisiert, verklärt, verall­ gemeinert) wird, wie ihm ein ,Ende gemacht4 wird [vgl. WdL I, 113f. Anm.]. Hier wird ein bestimmtes (endliches) Sein nicht etwa zum „Nichts“ gemacht, sondern zu einem „Nichtseienden“ im positiven Sinne, d. h. zum „Moment“ eines Ganzen herabge­ 77 „Das bewegende Prinzip des Begriffs, als die Besonderungen des Allgemeinen nicht nur auflösend, sondern auch hervorbringend, heiße ich die Dialektik“. Sie ist nicht etwa ein „äußeres Tun eines subjektiven Denkens, sondern die eigene Seele des Inhalts, die organisch ihre Zweige und Früchte hervortreibt. Dieser Idee als eigener Tätigkeit ihrer Vernunft sieht das Denken als subjektives, ohne seinerseits eine Zutat hinzuzufügen, nur zu. [...] Die Wissenschaft hat nur das Geschäft, diese eigene Arbeit der Vernunft der Sache zum Bewußtsein zu bringen“ [GPR §31]. 78 „Aufheben und das Aufgehobene (das Ideelle) ist einer der wichtigsten Begriffe in der Philosophie, eine Grundbestimmung, die schlechthin allenthalben wiederkehrt [...]“ [WdL I, 113]. Dabei mache der Satz, daß das Endliche letztlich ideell ist, den Idealismus aus: „Der Idealismus der Philosophie besteht in nichts anderem als darin, das Endliche nicht als ein wahrhaft Seiendes anzuerkennen. Jede Philosophie ist we­ sentlich Idealismus oder hat denselben wenigstens zu ihrem Prinzip, und die Frage ist dann nur, inwiefern dasselbe wirklich durchgeführt ist“: WdL 1,172.

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setzt und dadurch aufbewahrt: Das Aufbewahren schließt zu­ gleich ein, „daß etwas seiner Unmittelbarkeit und damit einem den äußerlichen Einwirkungen offenen Dasein entnommen wird, um es zu erhalten. - So ist das Aufgehobene ein zugleich Aufbewahrtes, das nur seine Unmittelbarkeit verloren hat, aber darum nicht vernichtet ist“ [WdL I, 114]. Das Aufhören-Lassen bedeutet, daß widerlegt wird, daß irgendeine konkrete Weise oder Form der Idee jemals (jetzt oder zu einer anderen Zeit) die absolut höchste sein könnte [GP 6,154]. Wenn also in erster Hinsicht endliche (besondere) Gestaltungen der Idee, wie es im Fall der Philosophiegeschichte heißt, „nicht als falsch, als der Widerlegung bedürftig und fähig angesehen werden“ können nicht zuletzt darum, weil es sich dabei um Standpunkte handelt, die „überhaupt immer vorhanden“ sind [Enz., §27] -, so sei aber etwas daran, sie „als das Falsche zu betrachten“, da sie nicht „der höchste Standpunkt“ sind [vgl. WdL II, 249f.]. Niemals kann irgendeine konkrete Weise oder Form der Idee (auch wenn sie „wahr“ ist) als ,das Wahre‘ gelten. „Das Endliche ist nicht das Wahre, nicht das, was es sein soll; es widerspricht seinem Inhalt“, der „Idee“, und muß daher „zu Grunde gehen“ [GP, 6 154]. Könnte es einerseits nicht subsistierend existieren, hätte es nicht die Idee in sich, so muß andererseits „die Idee als die innere“ doch diese „einseitige Existenz“ zertrümmern, um sich „die ab­ solute Form, die Harmonie von Form und Inhalt zu geben“ [eb­ da]. Sich „die absolute Form zu geben“, ist der nur in der „wahr­ haften Philosophie“ überhaupt einlösbare Endzweck nicht nur aller Geschichten, sondern der gegenständlichen Welt über­ haupt.79 79 Die hier gegebene Strukturbeschreibung von Geschichte ist freilich noch abstrakt: Je nach Gegenstand, der eine Geschichte „hat“, sind die Verlaufsmodalitäten unter­ schieden. Sie bemessen sich daran, wie nahe sie, als Abbilder, der reinen Ideenent­ wicklung kommen. Da in dieser Arbeit vor allem ein Interesse an Hegels Philoso­ phiegeschichtskonzeption besteht, werden im folgenden nur einige weitere Beispiele für Geschichtsprozesse genannt. Dezidiert hat Hans Friedrich Fulda (Das Problem einer Einleitung, a.a.O., 203ff.) die Modalitäten im Umkreis der Weltgeschichte her­ ausgearbeitet: An der Weltgeschichte, so zeigte Fulda, bezeichnet „die Kategorie der Entwicklung nur einen formellen Aspekt“, d.h. nicht ihre an sich logische Dialektik (innere Dialektik) bestimmt den Fortgang, sondern eine Dialektik („Bewußtseinsdia­ lektik“), in der nur ein Typus von Negation vorkommt. Denn es kommt „nicht zum abstrakten Gegensatz, sondern nur zum Unterschied der Prinzipien gegeneinander und gegen das eine Prinzip“; der „Fortgangsmodus der Weltgeschichte ist daher we­ sentlich durch die Kategorie der Veränderung bestimmt. Aber [...] sie geht nicht wie

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Hegels subjektivitätsontologisch (also metaphysisch) fun­ dierte teleologische Auffassung von Geschichte hat an organi­ schen Wachstumsprozessen ihr Paradigma. D. h., die sich auf Geschichte beziehenden Wissenschaften sind spezielle Natur­ wissenschaften (mit allerdings praktisch und, wie noch deut­ licher werden wird, religiös motiviertem Sinnhintergrund). Es unterstreicht den naturalen Charakter der eigentlich so zu nen­ nenden Geschichte, daß Hegel den Ausdruck nicht nur zur Be­ zeichnung solcher Prozesse verwendet, im Hinblick auf die un­ terstellt wird, sie seien Prozesse der Bewußtwerdung, also geistige Prozesse, sondern auch zur Bezeichnung der Bildungs­ prozesse vegetabilischer und animalischer Individuen: Denn überall dort, wo sich etwas der Begriffsstruktur gemäß „als er­ scheinend“ in erster Linie „in einer zeitlichen Folge“ (und nicht im Raum) auslegt, dort legt sich etwas in Form von „Geschichte“ (im eigentlichen Sinne) aus [vgl. PG, 96]:

„Schon jeder Halm, jeder Baum hat in diesem Sinne seine Geschichte, eine Veränderung, Folge und abgeschlossene Totalität unterschiedener Zustände. Mehr noch ist dies im Gebiete des Geistes der Fall, der als wirklicher, erscheinender Geist erschöpfend nur kann dargestellt wer­ den, wenn er uns als solch ein Verlauf vor die Vorstellung kommt.“80 Nun unterscheidet sich zwar der bloßen „Vorstellung“ nach ein Halm von einem Baum und dieser wiederum z. B. von der Philo­ sophie zumal in der Mannigfaltigkeit ihrer oberflächlich so „ver­ schieden“ anmutenden Erscheinungen. Und in der Tat sind für die „Meinung“ die vielen Philosophien auch wirklich nur ver­ schieden, nicht aber kann sie „die Verschiedenheit philosophi­ die Veränderung in der Natur äußerlich an einem Substrat vor, sondern [...] bringt Neues zum Vorschein“ [ebda, 207]. „In der Philosophiegeschichte dagegen ist es die innere Dialektik der gestalteten Momente der Entwicklung, die weiterleitet. In dieser lösen nicht die Prinzipien einander selbst, sondern einander nur in der Herrschaft über die Gestaltung ab [...]“ [ebda, 208]. Ungeachtet dieser Unterschiede ist, so sei an dieser Stelle nur angemerkt, freilich auch die Weltgeschichte durch die Begriffsent­ wicklung bestimmt, die in der Logik umrissen wird. Hegel weist im Kontext seiner Philosophie der Geschichte einleitungsweise darauf hin: „Die logische und noch mehr die dialektische Natur des Begriffes überhaupt, daß er sich selbst bestimmt, Bestim­ mungen in sich setzt und dieselben wieder aufhebt und durch dieses Aufheben selbst eine affirmative, und zwar reichere, konkretere Bestimmung gewinnt, - diese Notwen­ digkeit und die notwendige Reihe der reinen abstrakten Begriffsbestimmungen wird in der Logik erkannt. Hier haben wir nur dies aufzunehmen, daß jede Stufe als ver­ schieden von der anderen ihr bestimmtes eigentümliches Prinzip hat“ [PG, 87]. 80 Vorlesungen über die Ästhetik III, 226.

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scher Systeme [...] als fortschreitende Entwicklung der Wahr­ heit“ begreifen, so Hegel schon in der Phänomenologie [Phän., 12]. Was es aber ermöglicht, gleichsinnig von der Geschichte eines Halms, eines Baums und der Geschichte der Philosophie zu reden, ist darin begründet, daß Vorstellungen oder Erschei­ nungen, sofern sie überhaupt Sinn und Bedeutung haben, nicht irgendeinen (willkürlichen) Sinn und irgendeine Bedeutung ha­ ben, sondern die „Idee“ bedeuten, die alles in sich hat, was mehr ist als nur eine flüchtige Erscheinung. Und etwas hat nur dann „Sinn“ und „Bedeutung“, „Tiefe“ und „Ausbreitung“, „Inten­ sion“ und „Extension“, wenn es „Beziehung auf ein Allgemei­ nes, auf eine Idee“ hat [GP 6,139], die tatsächlich von der Digni­ tät des Denkens ist, also den Logos der Dinge ausmacht, der den besonderen Vorstellungen oder Erscheinungen sowohl inne­ wohnt als auch das durch sie zur Realisierung anstehende Um­ greifende darstellt81. Daher ist nun Geschichte - jede Geschichte im eigentlichen Sinn - selbst nur als eine konkrete Ideen-Gestalt bestimmt, die der „Harmonie von Form und Inhalt“ noch entbehrt. Keine Ge­ schichte ist schon „das Wahre“, weshalb sie denn nicht nur der 81 An vielen Stellen hat Hegel auf den Modus „trieb“-hafter Wirksamkeit des noch unergriffenen „Begriffs“ ab der Stufe des Lebendigen aufwärts hingewiesen: Alles, was den Begriff nicht als tote Struktur (als „abstraktes An sich sein“) in sich hat, son­ dern, wie das Lebendige, „als an und für seiende Totalität“, hat oder ist „Trieb“ (z.B. „Leben, Empfindung, Vorstellen usf.“) [WdL I, 146], Aufgrund eines in ihm existie­ renden Widerspruchs (der allerdings darauf angelegt ist, sich aufzuheben [vgl. WdL II, 75]) geht es über die Schranken, die seinem Sein zunächst gesetzt sind, hinaus: „Die Pflanze geht über die Schranke, als Keim zu sein, ebenso über die, als Blüte, als Frucht, als Blatt zu sein, hinaus; der Keim wird entfaltete Pflanze, die Blüte verblüht usf.“; und auf der Ebene des animalischen Lebens ist „das Empfindende in der Schranke des Hungers, Durstes usf. [...] der Trieb, über die Schranke hinauszugehen [...]“ [WdL I, 146.]. Auf dieselbe Art wird auch die denkende Vernunft über den ursprünglichen Seinsmodus hinausgetrieben: Die „logische Idee“, wie sie zunächst „eingeschlossen“ ist „in den reinen Gedanken“, in die „Subjektivität“, ist (gleichsam als „das logische Leben“ [vgl. WdL II, 470]) „der Trieb“, diese Sphäre aufzuheben [WdL II, 572f.]. Innerhalb des philosophischen Systems ist man sich dieses Hinausgetriebenseins be­ wußt, während aber z.B. in der Geschichte der Philosophie ein solches Bewußtsein nicht besteht [vgl. GP 6, 25]. Das nicht zuletzt für Geschichte bedeutsame „Trieb“-Philosophem spielt bei Hegel vor allem auf Leibniz an: auf den appetitus oder nisus der Monaden [vgl. insbes. WdL 1,147 und II, 76]. Nennen läßt sich jedoch auch ein Kantisches Philosophem, das sich insbesondere für dessen Philosophiegeschichtsphilosophie als bedeutsam erweist: das Philosophem vom „Bedürfnis“ und „Hang“ in der „Natur“ der „denkenden Ver­ nunft“. Darauf wird im nächsten Teil der Arbeit zurückzukommen sein.

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Zeit nach vorübergeht, sondern „zu Grunde gehen“ muß. Das Vergehen muß vergehen, wie man formulieren kann82. D. h. Ge­ schichte ist im Grundsatz darauf angelegt, überwunden zu wer­ den, und zwar durch das ,,Prinzip[] des Gedankens“ [vgl. PG, 103]. Bedeutung, Sinn und Funktion, die Geschichte (jede Ge­ schichte) Hegel zufolge hat, ließe sich in folgendem Bild veran­ schaulichen: Man könnte sagen, Geschichte sei eine (kleinere oder größere) Brücke, die ausgeht von Gott: von ihm als der „ewigen Idee“, wie sie zunächst nur erst „in dem Elemente des reinen Gedankens der Ewigkeit“ ist, die als „an und für sich seiende Zeit“ der ausdifferenzierten Zeit noch entgegengesetzt ist [vgl. Rel. 5,121]; und die zu Gott führt: zu ihm als demjenigen, der schließlich die „Macht“ der Prinzipien gebrochen hat, die für alles irdische „Auseinander“ (für alle „Trennung“) und mithin auch für die Form verantwortlich sind, die die Geschichte cha­ rakterisiert: die „Macht“ von Raum und (vor allem) von Zeit83. 82 Nach WdL 1,141. 83 Vgl. dazu insbes. Rel. 5, 120ff. - eine Passage, die auch unter dem Gesichtspunkt aufschlußreich ist, daß sich hier Formulierungen finden, die, zumindest auf den ersten Blick, eher Theoretikern geschichtlicher Vernunft, und nicht der hier gegebenen In­ terpretation der Hegelschen Geschichtsauffassung, Recht zu geben scheinen. So heißt es z.B. an einer Stelle: „Geist ist die göttliche Geschichte“ [ebda, 120, H.v. V.]. War für Hegel Geschichte also doch die fundamentale Seinsweise von Etwas? Daß dem nicht so ist, zeigt sich bei genauerer Lektüre. In der Formulierung „Geist ist die göttliche Geschichte“ wird von Geschichte in einem noch unbestimmten Sinne ge­ sprochen. Geschichte heißt hier einfach Geschehen - ein Begriff, unter den die „ei­ gentlich sogenannte Geschichte“ fällt, die Hegel präzise bestimmt. Wie er dies im religionsphilosophischen Zusammenhang und in Beziehung auf die „göttliche Ge­ schichte“ unternimmt, ist aufschlußreich und an dieser Stelle kurz zu skizzieren: Hegels Hinweis auf die „göttliche Geschichte“ findet sich in einer Einleitung in die Religionsphilosophie, in der die drei „Formen“ oder „Elemente“ verdeutlicht werden (für die „Vorstellung“), in die sich der Geist (der Logik gemäß) setzt: Da ist „1. Das ewige in und bei sich Sein, die Form der Allgemeinheit. 2. Die Form der Erscheinung, die der Partikularisation, des Seins für Anderes. 3. Die Form der Rückkehr aus der Erscheinung in sich selbst, die Form der absoluten Einzelheit, des absoluten Beisichseins“ [Rel. 5,120]. Diese drei Formen werden dann unter Verwendung des Ausdrucks „Geschichte“ in einem noch unbestimmten Sinn wie folgt beschrieben: „In diesen drei Formen ist es, daß die göttliche Idee sich expliziert. Geist ist die göttliche Geschichte, der Prozeß des Sichunterscheidens, Dirimierens und dies in sich zurücknehmend; er ist die göttliche Geschichte und daher in jeder der drei Formen zu betrachten“ [ebda]. In diesem Zusammenhang „können [wir]“, so Hegel weiter, „diese drei Formen auch so erklären; wir können sagen, diese Geschichten gehen gleichsam an verschiedenen Or­ ten vor. So ist dann die erste göttliche Geschichte außer der Welt, raumlos, außer der Endlichkeit als solcher - Gott, wie er an und für sich selbst ist. Der zweite Ort ist die Welt, die göttliche Geschichte als real, Gott in der Welt sein Dasein habend. Der dritte

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Daß Geschichte philosophisch deshalb in Betracht gezogen wird, weil in ihr schon ein Ansatz dazu gemacht ist, gerade die „Macht der Zeit“ (und damit sich selbst) zu überwinden, soll im folgenden am Beispiel der Hegelschen Weltgeschichtskonzep-

Ort ist der innere Ort, die Gemeinde, zunächst in der Welt, zugleich aber auch, inso­ fern sie sich zum Himmel erhebt, den Himmel auf Erden schon in sich hat, oder als Kirche, voll Gnade, in der Gott wirksam, präsent ist“ [ebda, 121]. Von diesem unbe­ stimmtem Gebrauch des Wortes „Geschichte“ wird nun die „eigentlich sogenannte Geschichte“ unterschieden: Von Geschichte im eigentlichen Sinn ist die Rede nur bei der zweiten „Form“ oder dem zweiten „Element“ der Selbstexplikation der Idee. Wird das zweite Element „in Rücksicht auf das subjektive Bewußtsein“ bestimmt, so erweist es sich als das für Ge­ schichte bedeutsame „Element der Vorstellung“ (während das erste Element das „des Gedankens“ und das dritte das der „Subjektivität“ ist). Wird es „in Rücksicht auf die Zeit bestimmt“, so ist es das Element der „eigentlich sogenannte[n] Geschichte“ [ebda, 120]. Was Hegel näher darunter versteht, wird im Zusammenhang einer Be­ schreibung aller drei Elemente deutlich, die „auf die Zeit“ Rücksicht nimmt: „Das erste Element ist [...] Gott außer der Zeit, Gott als die ewige Idee, in dem Elemente des reinen Gedankens der Ewigkeit - die Ewigkeit, aber insofern sie der Zeit gegen­ übergestellt wird“ [ebda; H.v.V.]. Die der Zeit gegenübergestellte Ewigkeit ist noch „an und für sich seiende Zeit“ [ebda], wie sie im philosophischen System in der Wis­ senschaft der Logik thematisch wird: Die Logik, deren Sinn es (auch) ist, „Darstellung Gottes“ zu sein, „wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist“, stellt die der Idee im Element des Gedankens zukom­ mende „Selbstbewegung“ dar „als das ursprüngliche Wort [...], das eine Äußerung ist, [...] die als Äußeres unmittelbar wieder verschwunden ist, indem sie ist“ [WdL II, 550]. Sie stellt sie mithin in einer „Selbstbestimmung“ dar, in der sie nur dies ist, „sich zu vernehmen“, ohne daß dabei auftretende „Unterschied[e]“ Bestand haben würden [vgl. ebda]. „In diesem Element gibt es mithin „[...] noch kein wahres Bestehen, Er­ kennen“ [vgl. GP 6, 113], zu welchem es der „Trennung“ bedarf: ebenso der räum­ lichen Trennung (der physischen Natur) wie auch der zeitlichen Trennung, d.h. der Geschichte, die „mit der zeitlichen Trennung an[fängt]“ [GP 6, 113]. Die „göttliche Geschichte“ (die Geschichte der Religion) vor allem stellt nun dar, wie sich die Zeit, die im ersten Element noch „an und für sich seiende Zeit“ ist, „[...] auseinander[legt] in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ [ebda, 121]. Das zweite Element ist das Element der Vergangenheit und zugleich der „eigentlich sogenannte[n] Geschichte“; das „dritte Element ist dann die Gegenwart, die aber zunächst nur die beschränkte Gegenwart, nicht die ewige Gegenwart als solche [...]“ ist. Auf ewige Gegenwart aber zielt der Geist, und da sie „noch nicht ist“, ist sie „als Zukunft zu fassen [...]“ [ebda]: als endgültige Zukunft, als erfüllte Zeit und ewige Gegenwart. Nicht zuletzt diese Konzeption der „göttlichen Geschichte“ mit ihren drei Stufen, die Ausblick ins Transzendente geben, legt einen Vergleich der Hegelschen Ge­ schichtsphilosophie überhaupt mit älteren Geschichtstheologien, z. B. der Augustinischen, nahe, denen sie in der Tat strukturverwandter ist als neueren Theorien der Geschichtlichkeit. Um dies kurz anzudeuten: Bereits Augustinus hatte (in den Büchern 11-22 des Gottesstaates) das „Drama der Weltgeschichte“ in drei Teile geglie­ dert: in Vorgeschichte (exortus), eigentliche Geschichte (procursus) und Nach­ geschichte (debiti fines), wie es der AuGuSTiNus-Forscher Cornelius Mayer formu-

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tion verdeutlicht werden. Zuvor jedoch sind noch einige Konse­ quenzen zu erörtern, die sich aus dem Skizzierten für eine philo­ sophische Betrachtung von Geschichte - und d. h. notwendig: von Geschichte im großen und ganzen - in methodischer Hin­ sicht ergeben.

b) Methodische Konsequenzen Die beiden genannten Aspekte haben in der Betrachtung von Geschichte eine wechselseitige kritische Funktion: Hat man nach dem zweiten Aspekt davon auszugehen, daß Geschichts­ prozesse nicht ins Indefinite (ins „schlecht Unendliche“) verlau­ fen, noch aber auch nur zielgerichtete Prozesse sind, über die hinweg das „absolute, höchste Ziel“ nicht zu erreichen wäre,

liert (in: ,Die Zeiten hast Du gewirkt“. Zur Geschichtstheologie Augustins, in: W. Böhme (Hrsg.), Zeit, Endzeit, Ewigkeit, Herrenalber Texte, Bd. 78, Karlsruhe 1987,70-82,72). Dabei zeigt sich schon in der Komposition der Bücher ein deutlicher „Vorrang des Grundes sowie des Ziels vor der Geschichte selbst“: So beanspruchen die Bücher 11-14, die mit der Vorgeschichte, sowie die Bücher 19-22, die mit der Nachgeschichte befaßt sind, gegenüber den mit der eigentlichen Geschichte befaßten Bücher genau das Doppelte an Raum [vgl. Mayer, ebda]. „Man hat die Augustinische Geschichtsgliederung“, so Mayer weiter, „[...] mit einer Brücke verglichen. Die Vor- und Endgeschichte“ - d. h. der vorzeitliche Grund (die Weltschöpfung) einerseits und das (transitorische) Ziel der eigentlichen Geschichte andererseits (die ewige Ge­ genwart und Ruhe eines Reiches Gottes) - „markieren die beiden massiven Brükkenpfeiler [...]. Nicht der Geschichtsablauf als solcher ist im Bild der Brücke das Wichtige, sondern der Ausgang und das Ziel, zu dem der Übergang führt“ [ebda]. Für den Übergang steht der Geschichtsablauf, der bei Augustinus in verschiedenen Zeitabschnitten (bzw. Altersstufen der Menschheit) und aufgrund der Spannung, die zwischen einem Reich der Gläubigen (civitas Dei) und einem Reich der Ungläubigen (civitas terrena) herrscht, vom Zeitlichem zum Ewigen zurückführt. Auch wenn mit dem Ausdruck „Geschichte“ bei Hegel nun Gott selbst, wie er in der Welt sein Dasein hat, mithin das „Leben des Geistes“ selbst in Frage steht (das sich nicht „vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält“ [so schon Phän., 36]), daher das auf die Augustinische Geschichtstheologie geprägte Brücken-Bild zur Charakterisierung des Hegelschen Geschichtskonzepts nicht ganz angemessen ist, so bestätigt sein Konzept in gewisser Weise aber doch die berühmte These Karl Löwiths von den „theologischen Voraus­ setzungen der Geschichtsphilosophie“ (vgl. Karl Löwith, Weltgeschichte und Heils­ geschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart/ Berlin/Köln/Mainz 1953). Hegels Philosophie, die ja insgesamt „Gottesdienst“ sein will [vgl. Rel. 3, 63], ist in jedem Falle der (platonisch inspirierten) Tradition christli­ cher Heilsgeschichte mehr verbunden geblieben, als es neuere HEGEL-Interpretatio­ nen oft vermuten lassen.

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auf das alles zustrebt84, so steht der erste Aspekt dafür, daß phi­ losophische Geschichtsbetrachtungen mehr sind als nur gedank­ liche Konstruktionen und etwas völlig anderes als nur „apriori­ sche Erdichtungen]“ [vgl. Enz., §549 Anm.]85. Worauf sich die philosophischen Wissenschaften beziehen, die sich Geschichte zum Gegenstand machen, das ist in einer Hinsicht immer etwas, das sich „historisch“ nachweisen läßt (Völker, die es tatsächlich gegeben hat oder noch gibt, philosophische Positionen, die tat­ sächlich ausgebildet worden ist und sich durch Texte nachweisen lassen). Doch bleibt dabei gewußt, daß sich „[...] nach einer Sei­ te die Folge als Zeitfolge der Geschichte von der Folge in der Ordnung der Begriffe“ so „unterscheidet“ [GP 6, 27], daß das, was an Intelligiblem in jeder Geschichte ist, jeder Geschichte ebenso unbedingt vorausliegt, wie es über sie hinauszugehen strebt, d.h. im Grundsatz von ihr „trennbar“ ist86. Der Philosoph 84 In der von Hoffmeister herausgegebenen Einleitung in die Philosophie der Ge­ schichte (Weltgeschichte) bringt Hegel zum Ausdruck, daß er für die Geschichte einen „gewissen Kreislauf“ als bestimmend ansah, und wendet sich dabei gegen Ge­ schichtsmodelle, in denen vom Theorem der „Perfektibilität“ Gebrauch gemacht wird: „Dies Fortgehen, dieser Stufengang“, so gibt Hegel zu bedenken, „scheint ein Prozeß in die Unendlichkeit zu sein gemäß der Vorstellung der Perfektibilität, ein Prozeß der ewig seinem Ziel fernbleibt. Indessen, wenn auch bei dem Fortschritt zu einem neuen Prinzip der Inhalt des vorigen allgemeiner gefaßt wird, so ist doch so viel gewiß, daß auch die neue Gestalt wieder nur eine bestimmte ist. Ohnehin hat es die Geschichte mit der Wirklichkeit zu tun, in der sich das Allgemeine als eine bestimmte Weise dar­ stellt. Gegen den Gedanken, den Begriff kann keine beschränkte Gestalt sich festma­ chen. Gäbe es so etwas, was der Begriff nicht verdauen, nicht auflösen könnte, so läge dies freilich als die höchste Zerissenheit, Unseligkeit da. [...] Denn nur er ist das in sich unbeschränkte, und alle Wirklichkeit ist in ihm bestimmt. Und so hörte die Zerissenheit auf, und er wäre in sich befriedigt. Hier wäre der Endzweck der Welt. Die Vernunft erkennt das Wahrhafte, an und für sich Seiende, das keine Beschränkung hat. Der Begriff des Geistes ist Rückkehr in sich selbst, sich zum Gegenstande zu machen; also ist das Fortschreiten kein Unbestimmtes ins Unendliche, sondern es ist ein Zweck da, nämlich die Rückkehr in sich selber. Also ist auch ein gewisser Kreislauf da, der Geist sucht sich selbst“ (Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, hrsg. von J. Hoffmeister, a. a. O., 180f.). 85 „Dergleichen apriorisches Geschichtsschreiben“ betrifft „Erdichtungen [.] wie die von einem Urzustande und dessen Urvolk, das sich im Besitze der wahrhaften Gottes­ erkenntnis und aller Wissenschaften befunden habe, von Priestervölkern, und im spe­ ziellen z. B. von einem römischen Epos, welches die Quelle der für historisch gelten­ den Nachrichten über die ältere Geschichte Roms gewesen sei usf.“; „dergleichen apriorischer Verfahrensweise haben sich [...] heutzutage vornehmlich solche schuldig gemacht, welche reine Historiker sein zu wollen vorgeben und zugleich gelegentlich ausdrücklich gegen das Philosophieren teils überhaupt, teils in der Geschichte sich erklären“ [Enz., §549 Anm.]. 86 Formuliert im Anschluß an Enz., § 168. Als ein plastisches Beispiel für die Hegel-

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expliziert die „inneren Voraussetzungen“ der Geschichte im Zu­ sammenhang des philosophischen Systems, dabei um die End­ lichkeit seines Gegenstands und damit auch darum wissend, daß man in gleichsam horizontaler Abzweigung von jenem Punkt im System, in dem ein zureichend bestimmter Begriff vom Gegenstandsbereich gegeben werden kann, immer auch noch historisch-empirisch vorgehen muß87. In dieser Abzweigung ist vom Betrachter dann das gleichzeiti­ ge Beschreiten von zwei gegeneinander laufenden „Wegen“ der Erkenntnis gefordert: Er hat erstens, in Korrespondenz zur „zeitlichen Reihe“ der Geschichte, den „naturgemäßen Weg“ des Erkennens zu gehen, auf dem man sich Vorstellungen vom Gegenstand macht [vgl. WdL II, 520]. Naturgemäß ist dieser Weg, weil das „subjektive natürliche Erkennen“ oder „das Be­ wußtsein sich der Zeit nach Vorstellungen von Gegenständen früher als Begriffe von denselben macht, der denkende Geist sogar nur durchs Vorstellen hindurch und auf dasselbe sich wen­ dend zum denkenden Erkennen fortgeht“ [Enz., §1]. Dieser Weg ist freilich systematisch sekundär gegenüber dem am „Be­

sche Unterscheidung „der Folge als Zeitfolge“ und „der Folge in der Ordnung der Begriffe“ ließe sich das folgende nennen: „So hat die Idee, wie sie als Familie bestimmt ist, die Begriffsbestimmungen zur Voraussetzung, als deren Resultat sie im folgenden dargestellt werden wird. Aber daß diese inneren Voraussetzungen auch für sich schon als Gestaltungen, als Eigentumsrecht, Vertrag, Moralität usf. vorhanden seien, dies ist die andere Seite der Entwicklung, die nur in höher vollendeter Bildung es zu diesem eigentümlich gestalteten Dasein ihrer Momente gebracht hat“ [GPR §32 Anm.]. 87 Durch das explizit historische Vorgehen unterscheiden sich die Geschichtsphiloso­ phien vor allem von der Naturphilosophie: Zwar ist auch hier (der Hegelschen Ideenkonzeption entsprechend) „außerdem, daß der Gegenstand der nach seiner Be­ griffsbestimmung in dem philosophischen Gange anzugeben ist, noch weiter die em­ pirische Erscheinung, welche derselben entspricht, namhaft zu machen [...]“ [Enz., § 246]. Die Geschichtsphilosophien aber machen nicht nur die empirische Erscheinung namhaft, sondern gehen, freilich unverbrüchlich auf der Basis des Logischen oder „des Gegenstand[s] nach seiner Begriffsbestimmung“, selbst „historisch“ vor. Vgl. dazu für die Philosophie der Geschichte (u.v. a.) PG, 87; für die Geschichte der Philosophie, in deren Rahmen man sich nur an die eigenen Worte des Philosophen halten müsse, (u. v. a.) GP 6, 221: „Die Geschichte der Philosophie ist [_] eine geschichtliche Vorle­ sung“, in der auf die an und für sich seiende „Notwendigkeit“ der Entwicklung nur „aufmerksam“ gemacht wird. Wenn dieses Aufmerksammachen die Geschichte der Philosophie auch als philosophische Wissenschaft qualifiziert, „so haben wir uns also geschichtlich zu verhalten, d. h. die Gestalten aufzunehmen, wie sie in der Zeit aufein­ ander folgen, als zufällig erscheinen, aber wir müssen auch die Notwendigkeit des Hervorgangs auseinander bemerken“. Im übrigen schließt, historisch vorzugehen, ein, daß man „erzählt“ [vgl. z. B. GP 6, 352].

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griff“ orientierten „erkenntnisgemäßen Weg“ [ebda]: Die Philo­ sophie beruft sich nicht auf Erfahrung und soll nicht bloß „eine Erzählung dessen sein, was geschieht“, sondern „eine Erkennt­ nis dessen, was wahr darin ist“. Eine solche Erkenntnis könnte dem „Betrachter“ aber nicht gelingen, wäre sein „Auge“ „Ideenlos[]“, wie Hegel in platonischem Sprachduktus formuliert [GP 6, 28]. Diesen Platonismus in der Geschichtsbetrachtung („Beobachtung“) verbindet er nun zugleich mit dem Erkennt­ nisideal exakter Naturwissenschaften sowie mit der Kantischen

Programmatik transzendentaler Naturphilosophie:

„Man muß mit dem Kreise dessen, worein die Prinzipien fallen, wenn man es so nennen will, a priori vertraut sein, so gut als, um den größten Mann in dieser Erkenntnisweise zu nennen, Kepler mit den Ellipsen, Kuben [...] und mit den Gedanken von Verhältnissen derselben a priori schon vorher bekannt sein mußte, ehe er aus den empirischen Daten seine unsterblichen Gesetze, welche aus Bestimmungen jener Kreise von Vorstellungen bestehen, erfinden konnte. Derjenige, der in diesen Kenntnissen der allgemeinen Elementarbestimmungen unwissend ist, kann jene Gesetze, und wenn er den Himmel und die Bewegungen sei­ ner Gestirne noch so lange anschaut, ebensowenig verstehen, als er sie hätte erfinden können“ [PG, 87]. In diesem Sinne gilt es im philosophischen Blick auf die Ge­ schichte im Totalitätshorizont der Logik, das Logische heraus­ zuheben, und, wie etwa im Fall der Weltgeschichte, das „allge­ meine Prinzip“ eines jeweils in Frage stehenden, welthistorisch bedeutsamen Volks oder, wie im Fall der Philosophiegeschichte, das Prinzip einer besonderen Philosophie herauszufinden und umgekehrt dann die jeweilige Besonderheit wiederum aus die­ sem Prinzip heraus zu „verstehen“ [vgl. PG, 87]. In einem sol­ chen Auslegungsverfahren wird aus dem Wahren heraus diskur­ siv das begriffen, was in der Erzählung als bloßes Geschehen erscheint. Unter dynamischem Aspekt ist die Methode der Geschichts­ betrachtung dabei selbst von krucialer Struktur: Insofern der zweite Weg auf die Prinzipien zielt, die, wie der logische Prinzi­ pienzusammenhang zeigt, zunächst abstrakt sind, besitzt am An­ fang die Aufnahme von Historischem das Übergewicht. Aber das „Aufnehmen“ eines Inhalts hat zugleich die Bedeutung eines „Entwickeln des Denkens aus sich selbst“ [Enz., § 12] und zu sich selbst und ist insofern ein (auch in der Abstufung der

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verschiedenen philosophischen Geschichtswissenschaften noch einmal manifest werdendes) progressives „Besiegen“ der Form, in der ein Inhalt zunächst „als ein nur Unmittelbares und Gefun­ denes, nebeneinander gestelltes Vielfaches, daher überhaupt Zufälliges geboten wird“ [vgl. Enz., § 12] - eine Erkenntnis des Empirischen, in deren Rahmen dieses progressiv „zur Notwen­ digkeit“ erhoben wird [vgl. ebda].

1.5 Geschichte im normativ ausgezeichneten Sinn: Die Weltgeschichte a)

Der Organismus Weltgeschichte‘

Nun bezeichnet der Ausdruck „Geschichte“ bei Hegel immer auch noch eine eigenständige Realität neben bzw. über der phy­ sischen Natur. Zwar gibt es innerhalb der „äußeren Natur“ ebenfalls Geschichte. Denn sie „treibt“ es „in ihrem Dasein“ bereits zu dem (für Geschichte überhaupt entscheidenden) „Leben“88. Aber das Leben, so Hegel, ist hier noch in die „Äu­ ßerlichkeit des Bestehens hinausgeworfen“ [WdL II, 471]. Mag daher auch „organischen Naturdingen [...] gleichfalls eine Ent­ wicklung“ [PG, 75], d. h. eine Geschichte im angedeuteten Sinne zukommen, so handelt es sich aber um Partialgeschichten, die der „Unvernunft“ eines „gleichgültigen Bestehens“ gegeneinan­ der [vgl. Enz., §247f.] preisgegeben sind. Der Dynamikmodus dieser Geschichte verhält sich zu dem der Geschichte im allge­ meinen, d. h. der „Weltgeschichte“, die der organischen Grund­ verfassung der gesamten Geistsphäre expliziten Ausdruck ver­ leiht,

gleichsam

invers:

Steht

Geschichte

in

der

Sphäre

physischer Natur für ein ruhiges Hervorgehen, so die Weltge­ schichte für einen harten „Kampf“ (des Geistes gegen sich selbst); fallen Entwicklungen in der Natur auseinander und sind Anfangsgebilde (wie „Keime“ oder „Eltern“) und die dazuge­ hörigen Schlußgebilde (wie Samen und Kinder) verschiedene Individuen, obgleich von derselben Natur [vgl. GP 6, 26ff.; 356], so sind in der Sphäre des Geistes „Bestimmungen und Stu­

88 Vgl. Enz., §248. Das „Leben“ zeige an, daß der „Begriff“ auch „eine Stufe der Natur“ ausmache [WdL II, 257]. Der „unsterbliche“ [WdL II, 313] Begriff ist gar „die Seele des Lebens selbst; er ist der Trieb, der sich durch die Objektivität hindurch seine Realität vermittelt“ [WdL II, 471].

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fen [...] wesentlich nur als Momente, Zustände, Bestimmungen an den höheren Entwicklungsstufen“ [Enz., § 380]. Folgt man nun den Hegelschen Beschreibungen, so über­ wölbt die Weltgeschichte die „äußere Natur“ dynamisch gleich­ sam wie ein Organismus, der sich, „von Osten nach Westen“ ge­ hend, derart entfaltet, daß er wie ein lebendiges Wesen zunächst wächst und dann altert [PG, 134]. Dabei ist in der Weltgeschichte bereits „Freiheit“, d. h. eine durch den „Begriff“ bestimmte „Entwicklung“ das Bestimmende [Enz., §549]. Ihre Finalursa­ che ist es, sich zu einem „organischen Dasein“ (einer „sich erfas­ senden Totalität“) zu erheben und abzuschließen [PG, 105]. Um dieses Telos zu erreichen, legt sich die Weltgeschichte (oder auch der „Weltgeist“) aus in verschiedene Weltreiche (Universen, „Epochen“), die zugleich ihren Wachstums- und Alterungspro­ zeß dokumentieren: Vom asiatischen „Kindes“-, griechischen „Jünglings-“ und römischen „Mannesalter“ kommt die Weltge­ schichte im germanischen Reich in ihr „Greisenalter“, mithin zu ihrer vollkommenen „Reife“ [PG, 140]. An diesem „Ziel der Weltgeschichte“ [PG, 141] gewinnt die „Weltlichkeit“ die Schluß­ gestalt „organischen Daseins“ [PG, 140f.]. Zwar sind alle (je nach Perspektive)

„Reiche“,

„Epochen“,

„Universen“

oder

„Weltalter“ Gestaltungen der einen Idee: Jeweils ein Volk bringt die eine. „Idee“ in einer Begriffsbestimmtheit als eine „Stufe“ ihrer organischen Selbstentfaltung zum Ausdruck. Aber erst in der germanischen Welt wird das „Reich des Gedankens“ (reprä­ sentiert durch die Schlußgestalt griechischer, d. h. neuplatoni­ scher Philosophie89) nach einer langen Zeit der Übergangsperio­ de (Mittelalter)

„zur Wirklichkeit“ herausgeboren, mit der

Konsequenz, daß „die Gegensätze von Staat und Kirche ver­ schwinden“, sich „der Geist [...] in die Weltlichkeit“ einfindet und „diese als ein in sich organisches Dasein aus[bildet]. Der Staat steht der Kirche nicht mehr nach [...], und das Geistige ist dem Staate nicht mehr fremd“ [ebda]. Zugleich könne in einem Staat, zu dessen „Leben“ die Bildung und Blüte der Wissen­ schaften als „eines der wesentlichsten Momente“ hinzugehöre, „neben dem Regiment der wirklichen Welt auch das freie Reich

89 Vgl. z.B. auch GP 6,135.

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des Gedankens selbständig emporblühe[n]“90 - ein „Reich“, das den „Kreis“ der Geschichte durchbricht [vgl. Enz., §549] und davon Zeugnis gibt, „daß sich die Macht des Geistes so weit in der Zeit geltend gemacht hat“, daß das Bewußtsein vorhanden ist, „daß es nur die Ideen sind, und was Ideen gemäß ist, was sich jetzt erhalten kann“, und „daß, was gelten soll, vor der Einsicht und dem Gedanken sich rechtfertigen muß“91.

b) Geschichtsbetrachtung sub specie aeternitatis und als Theodizee Daß die „lebendige Bewegung“, die die Weltgeschichte ist, auf das Sich-Erfassen der in ihr wirksamen Idee zielt, hat Hegel plastisch (für das vorstellende Bewußtsein) in Form eines My­ thos erzählt: Zuerst, so Hegel, habe „Kronos, die Zeit, ge­ herrscht - das goldene Zeitalter, ohne sittliche Werke, und was erzeugt worden ist, die Kinder dieser Zeit, sind von ihr selbst aufgezehrt worden“ [PG, 101]. Das Herrschen des Kronos ist deshalb als „Vorgeschichte“ [PG, 82] zu bezeichnen, weil erst Jupiter (oder Zeus), jedenfalls „der politische Gott“, „der aus seinem Haupt die Minerva geboren und zu dessen Kreise Apollo nebst den Musen gehört, [...] die Zeit bezwungen und ihrem Vergehen“ [PG, 101], „dem Verschlingen der Zeit ein Ziel ge­ setzt und dies Vorübergehen sistiert“ hat, „indem er ein in sich Festes begründet hat“ [PG, 102f.], und zwar „den Staat“ [PG, 101]. Erst auf der Basis dieses „Festen“ beginnt die organologisch-teleologisch strukturierte „Weltgeschichte“ mit den vier bezeichneten „Weltaltern“. Schließlich aber seien denn auch „Zeus [...] und sein Geschlecht selbst verschlungen worden, und zwar [...] von dem Erzeugenden, nämlich dem Prinzipe des Gedankens [...]“ [PG, 102f.]. Hegels Mythos erzählt vom Besiegen der „Macht der Zeit“ als dem abstrakten bloßen Werden, dem sinn- und zwecklos „al­ les gebährende[n] und seine Geburten zerstörende[n] Chronos“, - von einem Sieg, den, wenn auch nur in perennierenden Etap­ pensiegen, schon die organischen Naturdinge erzielen: Schon

90 Konzept der Rede beim Antritt des philosophischen Lehramtes an der Universität Berlin (1818), in: Werke, Bd. 10, Frankfurt/M. 1981, 399-417, 400. 91 Ebda.

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deren Existenz stellt sich nicht mehr nur als eine unmittelbare, nur von außen bestimmbare dar, wie es bei unorganischen Din­ gen der Fall ist. Bereits sie vermögen, obgleich sie ein Innerzeit­ liches und also nur von begrenzter Dauer sind, die „Macht der Zeit“ zumindest eine Spanne lang zu brechen. Doch nur der Ge­ danke, die Philosophie bricht am Ende wirklich diese Macht, weil deren Prinzip „die innerste, die unendliche Form“ und da­ mit die „Macht der Zeit“ selbst ist [Enz., §258]. Hier wird nicht nur innerzeitlich Seiendes, sondern „alles Seiende überhaupt aufgelöst [...]“ [PG, 103]92. Dabei zielt die Philosophie als Geschichtsphilosophie auch im Gegenstandsbereich „Geschichte“ auf diese Macht und hat es, „als sich mit dem Wahren beschäftigend“, dem „wahrhaft We­ sentlichen“ nach [PG, 88] nur „mit ewig Gegenwärtige[m]“ zu tun [PG, 105]. Weil diese Wissenschaft im Blick auf die Ge­ schichte in „Richtung auf das wahrhaft Wesentliche“ [PG, 88] geht, das das „ewig Gegenwärtige“ ist - in Richtung auf den „Gedanken“, der das „Allgemeine“ ist und die einzige „Gattung, die nicht stirbt“ [PG, 103], wie Hegel sagt (in deutlicher Varia­ tion einer Kantischen Formulierung, wie sich zeigen wird) -, handelt es sich um Philosophie, und nicht um empirische Ge­ schichtswissenschaft oder gar nur um Historie. So zeigt sich, daß Philosophie bei Hegel philosophia perennis nicht etwa deshalb ist, weil sie selbst ein (zeitlich) Werdendes ist, sondern weil sie selbst dann, wenn sie ein (zeitliches) Werden betrachtet, auf das „ewig Gegenwärtige“ darin zielt. Wenn sie sich Geschichte im großen und ganzen und im allgemeinen, die Weltgeschichte, zum Gegenstand macht, dann gilt ihr Interesse demjenigen, der „nicht nur über der Geschichte wie über den

92 Die Abfolge Chronos-Zeus-Minerva wird, wie Hegel in den Grundlinien der Phi­ losophie des Rechts formuliert [vgl. GPR, 27 f.], nicht durch „die Geschichte“ selbst (also durch die Erfahrung) ,gelehrt‘, so daß man annehmen müßte, diese Abfolge kehrte auf indefinite Weise immer wieder. Es ist „der Begriff“, der sie ,lehrt‘ [vgl. ebda, 28]. Wenn daher „die Eule der Minerva“ heute wieder „ihren Flug“ beginnt [ebda], dann nicht mehr nur zu einem Zeitpunkt (in einer „Dämmerung“), an dem lediglich eine besondere „Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet“ hat. Sie be­ ginnt ihren Flug in dem Augenblick, in dem sich Wirklichkeit überhaupt vollendet und sich der „weiterhin gereifte Geist“ gefunden hat [vgl. ebda, 27]. So erlaubt das „intel­ lektuelle Reich“, das jetzt entsteht, weit mehr als nur eine untergehende Zeit (oder Epoche) zu begreifen. Es erlaubt das Untergehen der „Macht der Zeit“ - dieser „Bestimmung[] aus dem endlichen Leben“ [GP 6, 35] - selbst zu begreifen.

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Wassern schwebt, sondern in ihr webt und allein das Bewegende ist“: dem Geist [Enz., §549 Anm.]. So ist nicht das Wesen des Geistes geschichtlich, sondern das Wesen der Geistesgeschichte (und aller Geschichte) logisch. Im Rekurs auf das Logische in der Geschichte wird (sub specie aeternitatis) die „lebendige Be­ wegung“ festgehalten, die dieser Geist in Wahrheit ist:

Denn die „Lebendigkeit des Geistes, der Natur“ oder kurz: das „Leben Gottes“ ist die „ewige Erzeugung der Welt [...] - eine absolute Bewe­ gung, welche zugleich absolute Ruhe ist, denn er ist ewiges Vermitteln seiner mit sich, Zusammenschließen seiner mit sich selbst. Dies ist das Beisichsein der Idee. Es ist das ewige Zurückkehren des Geistes zu sich, die Freiheit des Geistes, bei sich ewig zu sein, im anderen sich selbst zu erhalten [...]“ [GP6, 216]. In diesem Sinne verwandelt die Philosophie zeitliche Prozesse in lebendige Prozesse und zeigt damit auf, daß in Wahrheit der „Weltgeist [...] außer der Zeit“ ist [GP 6, 114]. Und ist darin „Theodizee“:

„Nur die Einsicht kann den Geist mit der Weltgeschichte und der Wirk­ lichkeit versöhnen, daß das, was geschehen ist und alle Tage geschieht, nicht nur nicht ohne Gott, sondern wesentlich das Werk seiner selbst ist“93. Was aber in diesem Sinne geschehen ist, muß, in einer im we­ sentlichen auf das Präsens beschränkten Sprachgebung, festge­ halten werden, als geschähe es alle Tage neu. Geschichte sub specie aeternitatis zu betrachten und „das, was geschehen ist und alle Tage geschieht“, als das Werk Gottes zur Geltung zu bringen, schließt nun allerdings nicht Aussagen über das Ende aller Dinge überhaupt ein. Sowohl im Kontext der Weltgeschichte als auch der Philosophiegeschichte ist nach Hegel durchaus noch „Arbeit“ vorhanden. Aber die Ge­ schichtsphilosophie schließt Aussagen über das Ende aller we­ sentlichen Dinge ein: Was noch geschehen wird, ist marginale Arbeit, welche die Philosophie selbst nicht berührt.94 93 Erster Entwurf der Einleitung in die Geschichte der Philosophie, a. a. O., 540. 94 Hans Friedrich Fulda hat herausgestellt, worin nach Hegel eine solche Arbeit im Rahmen der Weltgeschichte noch bestehen könnte: Die Kollision des Prinzips der bürgerlichen Freiheit mit dem des Staates sei das Problem, an dem die Geschichte stehe und das künftige Zeiten zu lösen haben. Es sei nicht ausgeschlossen, so Fulda, daß andere Völker als die bisherigen hierfür noch weltgeschichtliche Bedeutung be­ kommen könnten: Das Problem einer Einleitung, a.a.O., 213. Im Hinblick auf die

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1.6 Ungeschichtliches Werden a)

Verlaufsformen

Die umrissene Auffassung von „jeder Geschichte überhaupt“, die als Weltgeschichte (d. h. als „Geschichte des Geistes“) ihre volle Konkretion erfährt (und in Gestalt von Philosophiege­ schichte dann auch „als Geschichte des Geistes“ dargestellt wird), ist ein normatives Konzept. Es fungiert zugleich als Maß­ stab zur Unterscheidung einer Reihe von Prozeßgestalten, die (überwiegend angesiedelt in der Sphäre des Geistes) nicht ,eigentlich‘ Geschichte, sondern z. B. nur „ungeschichtliche Ge­ schichte“ [vgl. PG, 136 f.] oder ,geschichtsloses Werden‘ [vgl. GP 6, 12] genannt werden können. In Auswahl lassen sich fol­ gende nennen: a) Geschichte im angedeuteten eigentlichen Sinne ist etwas anderes als ein Prozeß zweck- und ziellosen, mithin „geschichts­ losen Werdens“ und Vergehens wesenloser Erscheinungen nur nach Maßgabe der Zeit, dem als solchem die substantielle „Grundlage“ und damit auch das Moment der widerlegenden ,Er-Innerung‘ fehlt. b) Geschichte im eigentlichen Sinne steht aber auch für etwas anderes als nur für eine „räumliche Dauer“ [PG, 136] oder auch eine „rastlose Veränderung“ von etwas, die beides Fälle von „ungeschichtliche[r] Geschichte“ sind [vgl. PG, 136f.]. Diese zeichnet sich dadurch aus, daß die für Geschichte maßgebliche substantielle Grundlage zwar vorhanden ist, sich aber nicht im Sinne der ,Entwicklung‘ „bewegt“. So kommt z. B. „China“ als dem „Kindeszeitalter“ der „Weltgeschichte“ nur die „Ruhe“ einer „räumlichen Dauer“ zu [ebda], während sich „Mittelasien“ (das „Knabenalter“ der Weltgeschichte) bereits unter dem Pri­ mat der Zeit durch „rastlose Veränderung“ auszeichnet [PG, 137]. Philosophie könnte, und darauf wird unten noch zurückzukommen sein, eine solche Arbeit darin gesehen werden, daß der „substantielle Geist“, der in „uns“ allenthalben nur erst „natürlich“ ist, von den einzelnen ergriffen zu werden verlangt. Auf der an­ deren Seite hat Fulda darauf hingewiesen, daß eine philosophische Aufgabe auch in Verbesserungen der Wissenschaft der Logik liegen könnte - Verbesserungen, die al­ lerdings nur immanenter Natur sein können [vgl. ebda, 216 f.]. In beiden Fällen kann es sich jedoch nicht um einen Überstieg in einen neuen philosophischen Standpunkt, in eine neue Gedankenbildung handeln.

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c) Andere Verlaufsformen finden sich im Kontext der „beson­ deren wissenschaftlichen Bildung“, wenn man nur den „inneren Inhalt“ der besonderen Wissenschaften in Betracht zieht („Ge­ schichte des Inhalts“ oder „innere Geschichte“): Mathematik, Physik oder die Erfahrungswissenschaften haben in dieser Hin­ sicht nur einen „Verlauf“ durch die Zeit hindurch, nicht aber eine „Entwicklung“. Für die Erfahrungswissenschaften z.B. ist es charakteristisch, ihren Inhalt lediglich so zu vermehren, daß er „Zusätze“ erhält. Diese Wissenschaften schreiten insofern durch „Juxtaposition“ fort, aber die inhaltliche „Grundlage“ er­ fährt keine „Veränderung“ [GP 6, 12]. In der Mathematik gar habe die Geschichte nur das „erfreuliche Geschäft, Erweiterun­ gen zu erzählen“, wobei die Elementargeometrie sogar „in dem Umfang, welchen Euklid dargestellt hat, von da an als für ge­ schichtslos geworden angesehen werden“ kann [ebda]. Nun kann aber z. B. auch mit Bezug auf die „christliche Lehre“ (d. h. mit Bezug auf den Inhalt und damit die „innere Geschich­ te“ der christlichen Religion) überwiegend nur von einer unge­ schichtlichen Geschichte gesprochen werden: Zwar ist die „christliche Lehre [...] als solche nicht ohne Geschichte“ (im eigentlichen Sinn), d.h. nicht ohne alle „Entwicklung“; „aber sie hat notwendig bald ihre Entwicklung erreicht und ihre be­ stimmte Fassung gewonnen, und dies alte Glaubensbekenntnis hat zu jeder Zeit gegolten und soll noch jetzt unverändert als die Wahrheit gelten [...]“ [ebda, 10]. Gewinnt der „Inhalt des Christentums aber, der die Wahrheit ist“ [ebda, 11], schon bald seine bestimmte Fassung, so gibt es von da an nur noch das „Ver­ harren eines zusatzlosen, einfachern Inhalts“ [ebda, 12] „und darum keine oder so gut als keine Geschichte weiter“ [ebda, 11]. Genauer: Es gibt eine (ungeschichtliche) Geschichte, deren „Umfang [...] nur zweierlei“ enthält: „einerseits die mannigfalti­ gen Zusätze und Abirrungen von jener festen Wahrheit und an­ dererseits die Bekämpfung und die Reinigung der gebliebenen Grundlage von den Zusätzen und die Rückkehr zur ihrer Ein­ fachheit“ [ebda] - Geschichte nur von historischer (nicht philo­ sophischer) Relevanz, da sie Dinge umfaßt, die ihrer „Natur nach ganz und gar ein Geschichtliches“ sind [ebda] und in die oben angedeutete Sphäre des „Veränderlichen“ gehören. Von Bedeutung im Hegelschen Konzept von „ungeschichtli­ cher Geschichte“ oder, m. a. W., von Geschichten, deren Grund­

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läge sich nicht oder nicht mehr bewegt, ist, daß diese nicht selbst die Leistung der Er-Innerung oder Bewahrung erbringen, wie es im Rahmen ,eigentlicher‘ Geschichte strukturell (im Sinne der „Widerlegung“) geschieht. Erinnerung gehört aber in dem Maße zur Geschichte, in dem selbst das bloß Historische, Zufällige einen Zweck darin hat, daß es wenigstens zur Kenntnis genom­ men wird. Mit Bezug auf „ungeschichtliche Geschichten“ über­ nimmt nun aber eine (quasi-)empirische Mnemosyne diese Erinnerungs- und Bewahrungsfunktion. Ein Fall der Bewahrung bloß im „Tempel der Erinnerung“ (anstatt im „Tempel der Ver­ nunft“) ist die „politische“ Geschichtsschreibung. Denn Völker, in deren Dasein es „substantieller Zweck“ sei, „ein Staat zu sein“ (d. h. eine Organisation, die sich an der Idee Staat bemißt) und als eine solche Organisation sich zu erhalten [Enz., §549 Anm.], entfalten eine säkulare „Welt“ (den Staat mit den Subsy­ stemen Religion, politischer Verfassung, Sittlichkeit, Rechtssy­ stem, Sitten, Wissenschaft, Kunst, technische Geschicklichkeiten und nicht zuletzt auch Philosophie) aus einer „lebendigen, sub­ stantiellen Seele“ heraus, aber nur im Sinne einer „Bildung“, die im besten Falle (metaphorisch formuliert) die Struktur der Ent­ faltung einer Blüte besitzt, die am Ende „steht und besteht“ [PG, 99], dann aber gleichsam in sich zusammenfällt95. Nicht von ungefähr knüpft Hegel daher die Geschichtsschrei­ bung überhaupt (in Form „ursprünglicher Geschichte“) an die Entstehung von Staatsgebilden (die ihrerseits Sippenverbände ablösen) und läßt sie bei den Griechen beginnen96. Diese An­

95 „Das Volk ist sittlich, tugendhaft, kräftig“, solange es aus seiner „lebendigen, sub­ stantiellen Seele“ heraus „das hervorbringt, was es will, und [...] sein Werk“, d.i. eine sittliche, politische Organisation, „gegen äußere Gewalt in der Arbeit seiner Objekti­ vierung“ verteidigt [PG, 100]. Hat es sich aber schließlich „gegenständlich vor sich“, dann ist die „lebendige, substantielle Seele“ nicht mehr in Tätigkeit; „Gewohnheit“ tritt ein; „die Uhr ist aufgezogen und geht von selbst fort“; dies ist sein „natürlicher Tod“, weil nur noch „die formelle Dauer übrig sein kann [...]- eine gleichsam äußer­ liche, sinnliche Existenz“, eine „interesselose, unlebendige Existenz“, eine „politische Nullität und Langeweile“ [PG, 101]. Weil aber der Geist darauf ausgeht, sich weiter­ zuentwickeln, bleibt die „unlebendige Existenz“ bestehen. Im Falle des Geistes ver­ geht nichts. So unterscheidet sich der Geist selbst vom natürlichen Individuum. Weil der Volksgeist, anders als das Individuum, „als eine Gattung existiert“, kommt „das Negative seiner in ihm selbst, in seiner Allgemeinheit zur Existenz“ [PG, 102]. 96 Grundsätzlich gehört zu den Griechen, daß sie aus allem, „was sie getan und beses­ sen haben“, eine „Geschichte gemacht haben“: eine „Geschichte der Welt, Kosmogonie, der Götter, Theogonie, und auch, daß der Mensch zu Feuer, Ackerbau, Ölbaum

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knüpfung stützt implizit seine These, daß für Geschichtsschrei­ bung der Ideenbezug immer schon konstitutiv gewesen ist und stets mehr in ihr angelegt war, als ein (gelehrtes) „schwachsin­ niges Ergehen des Vorstellens“ oder die (der „ursprünglichen Geschichte“ nachfolgende) „reflektierte“ Form, sich auf Ge­ schichte zu beziehen, vermuten läßt, welche Hegel mit dem rö­ mischen Reich, insbesondere Livius, und der mit ihm einbre­ chenden Verstandeskultur in Verbindung bringt. Aber sie stützt auch seine These, daß alles Wissen auf das Perenne und damit auf eine Bewahrung abzielt, die nicht selbst wiederum nur von begrenzter zeitlicher Dauer ist: Denn bedeutsam an Hegels Verknüpfung von Staat und Geschichtsschreibung ist nicht nur, daß der Staat mit seinen vernünftigen Gesetzen und Einrichtun­ gen (die an die Stelle „nur subjektiver, für das Bedürfnis des Augenblicks genügender Befehle des Regierens“ treten [PG, 83]) klare und bestimmte Taten („eigentlich geschichtliche Ta­ ten“ [vgl. ebda]) herbeiführe, die dem Zweck des Fortschreitens und der Entwicklung gelten97. Bedeutsam ist auch nicht bloß, daß es erst jetzt „die Klarheit des Bewußtseins über sie“ gibt und damit auch „die Fähigkeit“ vorhanden ist, solche Taten auf­ zubewahren [PG, 84]. Bedeutsam ist vor allem, daß es nunmehr auch ein „Bedürfnis“ nach Aufbewahrung dieser Taten, nach al­ les überdauernder, zumal lebendiger Erinnerung gibt. Der Grund: Die „Existenz des Staates“ ist nur eine „äußerliche Exi­ stenz“, eine „unvollständige Gegenwart“ [ebda]; und die ihm und seiner Gestaltung geltenden Taten und Begebenheiten sind ebenso nur erst „äußerlich vorhanden“ sowie „in der subjekti­ ven, zufälligen Erinnerung zerstreut“ aufbewahrt [PG, 83]. „Zum Behuf des perennierenden Zwecks dieser Gestaltung und Beschaffenheit des Staats“ bedarf es deshalb der „Mnemosyne“, der Ergänzung durch die „Dauer des Andenkens“ [ebda]. gekommen ist“ [GP 7, 2]. Auf die Weise des Geschichtenmachtens werden nicht nur die „Anfänge aufbewahrt“ [ebda], sondern wird auch „das Fremde, Historische auf­ gegeben“ [ebda, 1], weil geistig angeeignet, umgebildet und wiedergeboren [2]. So fängt mit den Griechen die europäische Menschheit an, „bei sich zu Hause zu sein, für die Gegenwart, für sich selbst zu leben“ [1]. Der „Mensch“ hat „angefangen, in seiner Heimat sein zu wollen, aus seiner Vernunft, seinem Verstand einzusehen, zu schließen“ [ebda]. Daher wird es, „wenn wir von Griechenland sprechen, [...] jedem gebildeten Menschen, besonders uns Deutschen, heimatlich zu Mute“ [ebda]. 97 „Ohne Endzweck des Fortschreitens und der Entwicklung ist kein denkendes An­ denken, kein Gegenstand für die Mnemosyne vorhanden“ [PG, 85].

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Die Geschichtsschreibung gibt dem Volk „sein Bild in einem Zustande, der ihm dadurch objektiv wird“ [PG, 203], und zwar derart, daß Taten und Begebenheiten, die dem Ganzen gelten98, „in das Reich der geistigen Vorstellung“ versetzt, „zu einem Ganzen“ komponiert und in einer „Sprache der Anschauung“ und des „Dabeigewesenseins“99 „im Tempel der Mnemosyne“ aufgestellt werden, worin sie „unsterbliche Dauer“ erhalten100. Gewinnen die Taten durch die Geschichtsschreibung „einen bes­ seren, höheren Boden, als der Boden der Vergänglichkeit ist“, auf dem sie „gewachsen“ sind, so werden ihre Subjekte „in das Reich der (abgeschiedenen) nun dauernden ewigen Geister“ versetzt - in ein Reich, „wie die Alten das Elysium beschreiben, daß die Heroen ewig forttun, was sie in ihrem Leben nur einmal getan“101.

b) „Sinnige“ Geschichtsbetrachtung Vieles deutet darauf hin, daß Hegels „Philosophie der Ge­ schichte“ in dieser (auf den politischen Bereich beschränkten, d. h. auf „Volksgeister“ bezogenen) „ursprünglichen“ Form der Geschichtsschreibung (eines Herodot, Thukydides, Tacitus102, aber auch eines Montesquieu) ihr Paradigma besitzt und zu­ gleich deren Intention auf „unsterbliche Dauer“ einzulösen sucht. Dabei sieht Hegel die ursprüngliche Geschichte als mitt­ lerweile zu einer „sinnigen [...] Geschichte“ fortgeschritten, die (parallel zur Experimentalphysik auf dem Gebiet der äußeren

98 Das „Subjekt“ dieser Taten ist ein „Individuum nach der Besonderheit seines Na­ turells, Genies, seiner Leidenschaften, der Energie oder Schwäche seines Charakters, überhaupt nach dem, wodurch es dieses Individuum ist“ [GP 6, 4f.]. So hat die „poli­ tische Geschichte“, die „Geschichte eines Staates“, obgleich sie „[...] Handlung, Tun. Schicksal eines allgemeinen Geistes, des Geistes eines Volks“ ist, diese „vereinzelte Seite, Einzelnes, bis aufs Äußerste hinaus Individualisiertes“ - eine Seite, die für die „Vorstellung als solche“ ist, aber darin sind zugleich immer „auch die allgemeinen Gesetze, Mächte des Sittlichen erkennbar“, und „diese sind nicht mehr für die Vor­ stellung als solche“ [Rel. 3, 295]. Im Vergleich dazu sind in der Philosophiegeschichte nur diejenigen Begebenheiten und Handlungen bedeutsam, die dem „eigentümlich­ keitslosen Denken“ und damit dem „allgemeinen Charakter des Menschen als Men­ schen angehören“ [GP 6, 6] (darauf wird zurückzukommen sein). 99 Erster Entwurf der Einleitung in die Geschichte der Philosophie, a. a. O., 550. 100 Vgl. ebda, 544; auch: Vorlesungen über die Ästhetik III, 257 ff. 101 Erster Entwurf der Einleitung in die Geschichte der Philosophie, a. a. O., 544. 102 Vgl. Vorlesungen über die Ästhetik III, 257.

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Natur) Taten und Begebenheiten, die auf dieser Ebene „nur Er­ scheinungen“ sein können, immerhin schon wenigstens so ord­ net, „wie die innere Folge des Begriffs“ [Enz., § 16] ist. (Würde nicht „wenigstens insofern ein Begreifen“ stattfinden, als „die Form des Begriffs [...] Grundlage“ ist [WdL II, 520], so handelte es sich überhaupt nicht um ein akzeptables Wissen103.) Es gehört „zu solcher Empirie“, die sich als „rationelle Wissenschaft der [...] menschlichen Taten und Begebenheiten“ qualifiziert [Enz., §16], so beschreibt Hegel das hier anzuwendende Verfahren, „daß durch die Entgegensetzung und Mannigfaltigkeit der zu­ sammengestellten Erscheinungen die äußerlichen, zufälligen Umstände der Bedingungen sich aufheben, wodurch dann das Allgemeine vor den Sinn tritt“ [Enz., §16 Anm.], nämlich die „Weisheit“ der Gesetzgeber und Regierungen im Hinblick auf das, „was sie für vorhandene Umstände getan und für Zeitver­ hältnisse festgesetzt haben“104. Gegenüber dieser Form sinniger Geschichte ist die Philoso­ phie der Geschichte (der Weltgeschichte, der Philosophiege­ schichte), gleichsam eine „sinnige Geschichte“ auf höchstem Ni­ veau. Auch wenn die hier zu betrachtenden Taten nicht auf dem „Boden der Vergänglichkeit“ gewachsen sind und in einer „Phi­ losophie der Geschichte“ zudem an die Stelle des ursprüngli­ chen nur „Dabeigewesenseins“ das schlechthin aktuale „Dabei­ sein“ der denkenden Vernunft tritt, da „die Philosophie als sich mit dem Wahren beschäftigend“ es ja „mit ewig Gegenwärtigem zu tun“ hat, so ist es in der Geschichtsphilosophie doch ähnlich:

103 Denn wodurch sich „das Erkennen von der bloßen Wahrnehmung und der Vorstel­ lung unterscheidet, ist die Form des Begriffs überhaupt, die es dem Inhalt erteilt“ [WdL II, 527]. 104 Folgt man den Hegelschen Texten, so steht Montesquieus Geschichtsschrei­ bung für eine solch „sinnige Geschichte“. Denn dieser hatte im Hinblick auf das epo­ chenspezifische, also „geschichtliche Element im positiven Recht“ (mithin in bezug auf etwas, das langfristig keinen Bestand hat) „den echt philosophischen Standpunkt angegeben“, indem er „die Gesetzgebung überhaupt und ihre besonderen Bestim­ mungen [...] als abhängiges Moment einer Totalität, im Zusammenhange mit allen übrigen Bestimmungen, welche den Charakter einer Nation und einer Zeit aus­ machen“, betrachtet hatte [GPR §3]. Mit einer solchen, auf eine Idee und ein Ganzes, nämlich den Staat, rekurrierenden Betrachtung gelinge es erst, die „Weisheit der Ge­ setzgeber und Regierungen“ in dem anzuerkennen, „was sie für vorhandene Umstän­ de getan und für Zeitverhältnisse festgesetzt haben“, - eine Weisheit, die von der empirischen Geschichtsschreibung um so mehr anerkannt werden könne, je mehr die­ se „von philosophischen Gesichtspunkten“ unterstützt werde [ebda].

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Auch hier ist „eine freie umfassende Anschauung“ gefordert, die mit dem „tieferen Sinn der Idee“ (einer „vertrauten Bekannt­ schaft mit der Idee“ [PG, 87]) zu verbinden ist. Unter Voraus­ setzung einer „geübten Abstraktion“ [ebda] und einem ,ideenhaften‘ Auge, mit der Logik als einem „leitende[n] Prinzip der Betrachtung“ [vgl. PG, 76], legt der „Beobachter“ unter histori­ schem Rekurs auf „faktische Details“ (Gegebenes) einen Ge­ genstandsbereich aus, bei dem es sich allerdings nicht mehr um irgendeine Totalität in der Geschichte, sondern um die Totalität der Geschichte selbst handelt105.

1.7 Die Normativität des Hegelschen Geschichtskonzepts „Geschichte“, so konnte im letzten Abschnitt gezeigt werden, ist ein normatives Konzept. Daß jede Geschichtsbetrachtung einen normativen Hintergrund besitzt, hat Hegel in der Ansicht zum Ausdruck gebracht, daß auch der „gewöhnliche und mittelmäßi­ ge Geschichtsschreiber, der etwa meint und vorgibt, er verhalte sich nur aufnehmend, nur dem Gegebenen sich hingebend“, im­ mer schon mit „seinem Denken“ dabei sei, „seine Kategorien“ mitbringe und durch sie „das Vorhandene“ sehe [Enz., §549 Anm.]106. Denn diese Behauptung kann unmittelbar auch so übersetzt werden, daß man in der Geschichte nicht ohne „Partei­ lichkeit“ verfahren könne [vgl. ebda]. Nicht ohne Parteilichkeit verfahren zu können, heißt, daß das Vorverständnis vom Grund­ gegenstand der Geschichte als Selektionsprinzip im Hinblick darauf fungiert, was vom gegebenen Material in die Darstellung aufgenommen werden muß, was also „wichtig“ ist, und was nicht. Jede Geschichtsbetrachtung bringt mit sich: eine Auswahl der Begebenheiten, eine Art, sie zu fassen, Gesichtspunkte, un­ ter welche sie gestellt werden [GP 6,1]. Jede ist also selektiv und parteilich, aber auf eine nichtwillkürliche (nichtkonzeptualistische) Weise: Gegen das faktische Detail als solches engagiert sie sich für Details, die sich als sinn- und bedeutungsvoll im Kon­ text eines Ganzen erweisen. Dabei betont Hegel, daß die „For­ derung, daß eine Geschichte - von welchem Gegenstand auch

105 Dabei wird eben „die logische und noch mehr die dialektische Natur des Begriffs überhaupt [...] in der Logik erkannt“ [PG, 87]. 106 Vgl. u. v. a. auch GP 6,1 ff.

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immer - ohne Parteilichkeit, ohne besondere Interessen und Zweck die Tatsachen zu erzählen habe“, selbst der Philosophie­ geschichtsschreibung „als gerecht“ zugestanden werden müsse [Enz., §549 Anm.]. Eine solche Forderung sei aber nur „ein Ge­ meinplatz“, mit dem man nicht weit komme [GP 6,1]. Sei doch jedes Wissen parteilich und stecke selbst hinter dem gelehrten Interesse an faktischen Details, mithin an solchem, was „nur“ Erscheinungen sind, „Parteilichkeit“, wenn auch nur eine „Par­ teilichkeit im gewöhnlichen Sinne“, nämlich für das Partikulare, mithin für die eigene Meinung und Partikularität, auch wenn solche Gegenstände „von gleicher Gehaltlosigkeit“ sind und „sämtlich für indifferent“ gelten [Enz., §549 Anm.]. Diesem In­ teresse gegenüber aber soll die Geschichtsschreibung „unbefan­ gen“ Partei nehmen - eine Partei, wie sie „Richtern“ eigentüm­ lich ist [Enz., §347]. Richter nehmen in jedem Falle für das Recht und damit implizit für Vernunft Partei. Doch so Partei zu nehmen, heißt (gerade im Falle einer Philosophie der Geschich­ te), daß man von zweierlei ausgehen mußt: zum einen davon, daß im Totalitätshorizont der Vernunft nicht alles gleich relevant ist, und zum anderen davon, daß nicht alles, was relevant ist, schon das ist, was sein „soll“, ja, daß nichts innerhalb der Geschichte und darüber hinaus keine Geschichte schon das ist, was sein soll. Der erste Aspekt - der Aspekt nichtwillkürlicher Selektion kann gut am Beispiel von Hegels Weltgeschichtsbetrachtung exemplifiziert werden: Nicht jedes staatlich verfaßte Volk, von dem man Kenntnis haben kann (mag es noch bestehen oder nicht), drückt schon „eine Form, eine Stufe der Idee“ aus. Wenn es überhaupt als ein Kandidat dafür in Frage kommt, dann ist es an einer bestimmten Stelle im Ganzen der Geschichte der Fall, daß „dieses Volk und diese Zeit nur diese Form ausdrückt, inner­ halb welcher es sich sein Universum ausbildet“ [GP 6, 31]. Die „höhere Stufe dagegen“ kann „Jahrhunderte nachher in einem anderen Volke sich“ auftun [ebda]. Aber nicht alle Völker, son­ dern nur bestimmte sind überhaupt von welthistorischer Bedeu­ tung gewesen [vgl. PG, 101]. Nicht zuletzt darin, daß die Philoso­ phie die Geschichte so nimmt, wie sie mit einem ideenhaften Auge als ein „Positives“ [vgl. GP 6, 55] hingenommen werden muß, artikuliert sie sich als „Theodizee“: Sie ist eine „Rechtferti­ gung Gottes“, die weder dessen „Ratschluß“ zu enträtseln, noch ihm vorzuhalten sucht, wie es hätte sein sollen.

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Dies heißt allerdings nicht, daß in einer Philosophie der Ge­ schichte das Wirkliche nicht auch noch in normativer Hinsicht absolut kritisch zu beurteilen wäre: Denn was den zweiten As­ pekt normativ-kritischer Beurteilung in der Geschichtsschrei­ bung überhaupt betrifft, so rekurriert gerade eine Philosophie der Geschichte auf ein „schlechthin vorausgesetztes Sollen“. Mit seinem „tieferen Sinn für die Idee“ bringt der Philosoph nämlich ein „Apriori“ mit, das im Hinblick auf die relevanten Erscheinungen als ein absoluter Maßstab fungiert. In Hegels Worten: In der Geschichtsphilosophie werden nicht nur „Urteile der Notwendigkeit“ gefällt, sondern auch Urteile der „wahrhaf­ ten Beurteilung“ [WdL II, 344]: „Urteile des Begriffs“ [vgl. Enz., §549 Anm.]. In Urteilen des Begriffs wird auf den Sachverhalt Bezug genommen, daß „alle Dinge ein Urteil“ sind: Alle Dinge sind „Einzelne, welche eine Allgemeinheit oder innere Natur in sich sind“ [Enz., § 167], die sie absolut transzendiert. „Der Stand­ punkt des Urteils“, so Hegel, „ist die Endlichkeit, und die End­ lichkeit der Dinge besteht auf demselben darin, daß sie ein Ur­ teil sind, daß ihr Dasein und ihre allgemeine Natur (ihr Leib und ihre Seele) zwar vereinigt sind, sonst wären die Dinge nichts, aber daß diese Momente sowohl bereits verschieden als über­ haupt trennbar sind“ [Enz., § 168].107 Zugleich ist alles Endliche, und eben dies wird in den Begriffsurteilen zum Ausdruck ge­ bracht, an dieser seiner inneren Natur immer schon „gemessen“. Die Prädikate der Begriffsurteile sind im klassischen Sinne tran­ szendentale Prädikate, Prädikate wie „gut, schlecht, wahr, schön, richtig usf“ [Enz., § 167 Anm.]. Solche Prädikate gelten als „Prädikate der Gegenstände selbst“ und nicht des „subjekti­ ven Bewußtseins“. Diesen Prädikaten kann „die Realität ange­ messen sein [...] oder auch nicht“ [WdL II, 344]. In der „wahr­ haften Beurteilung“ wird also auf eine praktische Unbedingtheit rekurriert, die dem Logos als der „freien ursprünglichen Tätig­ keit des Denkens“ als solchem zukommt. Wie in der „Beurtei­ lung der menschlichen Handlungen“ auf „die Begriffe von dem,

107 So ist z. B. auch der „schlechteste Staat, dessen Realität dem Begriffe am wenigsten entspricht, insofern er noch existiert“, in dem Sinne „Idee“, daß die Individuen „einem machthabenden Begriffe“ gehorchen [WdL II, 465f.]. Aber die Trennung von „Leib“ und „Seele“ ist insofern möglich, als die Seele „in die abgeschiedenen Regionen des Gedankens“, in die Philosophie, entfliehen und gleichzeitig der Leib in eine Man­ nigfaltigkeit vereinzelter Individuen zerfallen kann [vgl. ebda, 465].

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was recht und gehörig ist“, Bezug genommen wird [GP 6, 28], so wird in der Geschichte im Blick auf die interessierende Beson­ derheit im Begriffsurteil Bezug genommen darauf, daß „die Sache an ihrem allgemeinen Begriffe, als dem schlechthin vor­ ausgesetzten Sollen gemessen und in Übereinstimmung mit demselben ist oder nicht“ [WdL II, 344].108 Solche Urteile brin­ gen zum Ausdruck, daß das Endliche niemals das Wahre ist und niemals als etwas, das schon das ist, was es sein soll, d. h. als ein wahrhaft Seiendes anerkannt ist [vgl. WdL II, 172]. Die Weltge­ schichte ist bereits offenbarer Ausdruck für dieses über die end­ lichen Dinge immer schon gesprochene Urteil. Sie ist das „Welt­ gericht“ [Enz., §548]. Die Forderung nach Begriffsurteilen in der philosophischen Geschichtsschreibung zeigt, daß die Dialektik im Hegelschen Sinn nicht ein zweck- und zielloses Fortschreiten begründet. Das Fortgehen hat seinen Grund in (transzendentaler) Freiheit und sein Ziel in erfüllter Freiheit. Auf diese Freiheit rekurriert der Richter-Philosoph derart, daß er im Blick auf die Teile der Ge­ schichte, ja die Geschichte selbst als einer Teilgestaltung im Rahmen des gesamten Realisierungs- und Selbsterfassungspro­ zesses der Idee, eine Machtbefugnis in Anspruch nimmt, die er, so wird man sagen dürfen, in der Tat nur dann und nur deshalb in Anspruch nehmen kann, wenn und soweit er davon ausgehen kann, daß in ihm ein höheres intelligentes Wesen über seine ei­ genen Erscheinungen in Natur und Geschichte sowie über diese Erscheinungen selbst immer schon geurteilt hat109. Man wird je­ doch auch sagen dürfen, daß, wenn es ein „Problem der Hegel­ schen Geschichtsphilosophie“110 gibt, dieses Problem hier liegt: in der Vorstellung von der „Allmacht des Begriffs“ [vgl. WdL II,

350], die in die Verwahrung eines Richter-Philosophen gestellt ist.

108 Vgl. dazu schon die Analyse von Herbert Marcuse, Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit, Frankfurt/M. 1968,142. 109 Vom Urteil, das über die Geschichte (über jede Geschichte) gesprochen ist, gibt vor allem die bereits erwähnte Passage in der Religionsphilosophie [Rel. 5, 120ff.] Auskunft. 110 So lautet der Untertitel des bereit erwähnten Aufsatzes von Emil Angehrn, a. a. O.

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2. Geschichte der Philosophie: Die Programmatik 2.1 Das Verhältnis von Philosophie und Philosophiegeschichte Daß und auf welche Weise Hegel auch in der Bezugnahme auf die Geschichte der Philosophie dogmatisch verfährt, ist exem­ plarisch bereits anhand der Beurteilung der Kantischen Philo­ sophie (als einem Bestandteil der Geschichte der Philosophie) angedeutet worden. Dabei bleiben für die Programmatik der Hegelschen Philosophiegeschichtsphilosophie neben der auf ein „absolutes Sollen“ Bezug nehmenden Beurteilungsdimen­ sion auch alle übrigen der erörterten Aspekte in Kraft: a) die Doppelstruktur von Geschichte (der Unterschied zwischen der „Ordnung der Begriffe“ und der „Zeitfolge der Geschichte“ in den zueinandergehörenden Dimensionen „äußerlicher“ und „innerer“ Geschichte), b) die kruciale Verschränkung von zwei verschiedenen Erkenntniswegen sowie c) die Perspektive einer Betrachtung sub specie aeternitatis, zumal der Totalitätshorizont gerade der Philosophiegeschichte das Denken ist111. Die Philo­ sophiegeschichte, die das Innerste der Weltgeschichte ausmacht, ist „eigentlich sogenannte Geschichte“, aber in keiner anderen bringt sich das Intelligible transparenter und reflektierter zur Geltung als in ihr. Denn sie ist eine „durch die Vernunft be­ gründete Folge [... von] Erscheinungen, welche selbst das, was die Vernunft ist, zu ihrem Inhalt haben und es enthüllen“ [GP 6, 39; Z.v.V.]. In einer ersten Zugangsweise zum Gegenstandsbereich be­ zeichnet der Ausdruck „Geschichte“ die „äußerliche Geschichte, die die Philosophie „hat“: Die nach Maßgabe der „Vernunft“ sinnvoll aufeinander folgenden, „ein organisch fortschreitendes Ganzes“ und einen „vernünftigen Zusammenhang“ [GP 6, 4] konstituierenden „geistigen Gestaltungen“, in denen Schritt für Schritt „das, was die Vernunft ist“, enthüllt wird, treten un­ scharf hervor: „in der Weise des Geschehens, an diesen be­ sonderen Orten, unter diesem oder jenem Volke, unter diesen politischen Umständen und unter diesen Verwicklungen mit

111 In ihrem Rahmen erscheint „der Gedanke“ (der die „Macht der Zeit“ ist) so in der Zeit, daß er Macht über die Zeit behält. Darauf hat Hans Friedrich Fulda (Das Problem einer Einleitung, a. a. O.) ausführlich aufmerksam gemacht.

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denselben [...]“ [GP 6, 26f.]. Weil die Philosophie in der Ge­ schichte derart ,verwickelt‘ ist, ist es in einer Philosophie der Geschichte der Philosophie stets nötig, ,lemmatisch‘ Bezug zu nehmen auf das „Beiwesen“ der Zeitumstände. In einem nächsten, tieferen Zugang zum Gegenstandsbereich bezeichnet der Ausdruck „Geschichte“ die „innere Geschichte“: die Entwicklung des „inneren Inhalts“ der Philosophie (der Ver­ nunft), wie sie sich zunächst im „inneren Bewußtsein einzelner Individuen als Einzelner“ und damit zugleich - zumal als Ge­ schichte - so „in der Zeit“ abspielt [vgl. GP 6,112], daß ein „Be­ wußtsein der Notwendigkeit“ nicht vorhanden ist, nach der „im Fortschreiten des Gedankens“ die verschiedenen Philosophien aufeinander folgen [vgl. GP 6, 25]. Es ist diese Geschichte, auf die sich Hegels Darstellung konzentriert, insofern hauptsäch­ lich eine „Galerie“ oder „Reihe“ von „Heroen der denkenden Vernunft“ vor die Vorstellung gebracht werden sollte. Dabei war eine mögliche „Besonderheit“ des „Naturells, Genies“ [ebda, 5f.], die in der politischen oder der Weltgeschichte eine Rolle spielt, nur kritisch und beiherspielend in Betracht zu ziehen. Denn Philosophie liegt als solche nur dort vor, wo „das eigen­ tümlichkeitslose Denken selbst das produzierende Subjekt“ ist [ebda, 5f.]. Das „eigentümlichkeitslose Denken“ ist bei Hegel zugleich das Kriterium zur Selektion von Texten und des in Texten Ge­ sagten, d. h. zur Unterscheidung des unverlierbar Wesentlichen („des Philosophischen der Philosophien“) vom Unwesentlichen (Zufälligen, nur Historischen, Geschichtlichen), wobei die „Her­ vorbringungen“ als „um so vortrefflicher“ zu bewerten sind, „je weniger auf das besondere Individuum die Zurechnung und das Verdienst fällt, je mehr sie dagegen dem freien Denken, dem allgemeinen Charakter des Menschen als Menschen angehören“ [GP 6, 6]. Dieses Kriterium ist jedoch von Hegel dahingehend noch präzisiert worden, daß die Vernunft oder der „Gedanke“ auch zur „Grundlage“, zum „Absoluten“ und damit zur Wurzel von allem gemacht worden sein muß. Die „Reihe“ von „geisti­ gen Gestaltungen“, die vor die Vorstellung gebracht werden sollte, umfaßt insofern philosophische Grundpositionen, deren Wert nicht in einer geschichtlichen Einmaligkeit, sondern darin liegt, daß es sich um „für sich überhaupt immer“ vorhandene „notwendige Standpunkte“ handelt, auf die das Absolute sich

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stellt [vgl. WdL II, 249f.]112. Diese Standpunkte konstituieren in der Geschichte (mehrfach untergliederte) Hauptepochen („Pe­ rioden“) des Philosophierens, die der Einteilung der Logik in Seins-, Wesens- und Begriffslogik (bzw. der durch die Logik selbstreflexiv begründeten Gliederung des philosophischen Ge­ samtsystems in Logik, Natur- und Geistphilosophie) entspre­ chen: Da gibt es erstens (gemäß der Seinslogik) die griechische Phi­ losophie, in deren Rahmen die Vernunft oder Idee am Anfang nur als die „unmittelbare, noch nicht entwickelte Allgemein­ heit“ gefaßt wird und am Ende (mit der „neuplatonischen“ oder auch „neuaristotelischen“ Philosophie) „unter Aufnahme aller früheren Formen der Philosophie“ das „Reich der Idealität“ aus­ gebildet ist [vgl. GP 6, 105f.]. Da gibt es zweitens (gemäß der Wesenslogik) die mittelalterliche Philosophie, die das „Christen­ tum zur Grundlage“ hat und mit der das „Reich der Idealität [...] zugleich als ein Reich der Wirklichkeit ausgesprochen [ist]“ [GP 6, 106]; arbeitet sie aber nur daran, daß „die Idee [...] die konkreten Verhältnisse durchdringt“ [ebda], so kann diese „zweite Periode“ lediglich eine „kurze Mittel-“ oder „Durch­ gangsperiode“ [ebda] genannt werden, insofern sie in philoso­ phischer Hinsicht nichts Neues bringt. Da gibt es aber drittens (gemäß der Begriffslogik) noch die germanische Philosophie: Macht sich an deren Anfang aller „Autorität“ entgegen zunächst der Geist des Menschen geltend [ebda., 107], so steht an deren Ende das Sicherfassen der absoluten „Idee als Geist, als sich wissende Idee“ [GP 9,188]. So gibt es in der Geschichte der Philosophie eigentlich nur zwei Philosophien bzw. „Hauptepochen“ philosophischen Den­ kens: „1. Die griechische Philosophie (mit Einschluß der griechi­ schen Philosophie im Römerreich, denn die Römer haben keine eigentümliche Philosophie gehabt; es ist bei ihnen nicht zum Spekulativen gekommen)“ und „2. die neu-europäische, germa­ nische Philosophie“ [GP 6, 135]. Die erste Hauptepoche geht „1) von Thales bis Aristoteles“ (Stufe der „Idee“ [GP 6, 106]); enthält „2) die griechische Philosophie in der römischen Welt und 3) die neuplatonische Philosophie“ [GP 6, 103]: die

112 Vgl. auch Enz., § 27.

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„konkrete Idee“ [GP 9,188]113. Die neueuropäische Philosophie, deren „Werk“ es ist, diese Idee zu fassen als Geist, setzt mit dem 16. Jahrhundert ein [GP 6, 106] und hat wiederum drei Ein­ schnitte, deren dritter durch das „Hervorkommen der Kantischen

Philosophie“ angezeigt wird (welche, zusammenfallend

mit der politischen Revolution, die „neuere Revolution im Den­ ken gemacht hat“) und mit der Schellingschen Philosophie zu Ende geht (in der „alle vorgehenden Philosophien und Gestal­ ten enthalten [sind]“ [GP 6,108]). So hat der ,Weltgeist‘ „dritthalb tausend Jahre“ gebraucht [GP 6, 188], um sich die Philosophie zu erarbeiten [GP 6, 34]. „Unser Standpunkt“ nun ist es, daß die „Idee“ sich weiß als Geist, „als absoluter Geist, der sich [...] entgegensetzt einem an­ deren Geist, dem endlichen, und das Prinzip und Bestimmung dieses endlichen Geistes ist, zu erkennen, daß für ihn sei der ab­ solute Geist“ [GP 9,188]. Daß es einer so langen Zeit bedurfte, diesen Standpunkt zu gewinnen, ist freilich nicht von besonderer Relevanz. Denn der Geist wird nicht an der Zeit, sondern, um­ gekehrt, gerade die Zeit (der Chronos) am Geist gemessen - dar­ an, daß der Geist selbst „ewig“ ist [GP 6, 35], „außer der Zeit“ und daß ihm „1000 Jahre“ wie ein Tag sind: Der Weltgeist „hat nicht zu eilen, er hat Zeit genug“ [ebda]. Anders als die Philoso­ phierenden, diese mühsam arbeitenden, daher stets „übernächti­ gen Emphemeren“, die für „viele [...] ihrer Zwecke nicht Zeit genug [haben]“ - denn: „wer stirbt nicht, ehe er mit seinen Zwecken fertig geworden“ [ebda] -, hat der Geist aber nicht bloß Zeit genug. Er hat auch Macht und übt sie aus. Es kommt ihm nicht darauf an, „daß er [...] viele Menschengeschlechter und Generationen an diese Arbeiten seines Bewußtwerdens wendet [...]; er ist reich genug für solchen Aufwand, er treibt sein Werk im Großen, er hat Nationen und Individuen genug zu depensieren“ [ebda], wenn man denn so reden will. Denn eigent­ lich gehören, so Hegel, „solche Bestimmungen aus dem endli­ chen Leben“, wie „Zeit, Mühe, Aufwand“ (aber z.B. auch „Langsamkeit“), gar „nicht hierher“ [ebda, 35f.].

113 Die Zuordnung einzelner Positionen zu logischen Bestimmungen ist in den Hegelschen Manuskripten nicht einheitlich. Zu diesem Problem vgl. wiederum Hans Friedrich Fulda, Das Problem einer Einleitung, a. a. O., 210ff.

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Der affirmativen Einstellung zur Geschichte der Philosophie korrespondiert somit der negativ-kritische Aspekt in der Beur­ teilung zum einen einzelner Positionen und zum anderen der Geschichte im ganzen (sowie als Ganzer). Im ersten Fall wird verdeutlicht, daß die bisherigen Systeme, wenn auch „wahr“, dennoch nicht „das Wahre“ gewesen sind (und es niemals sein können), so daß die „innere Dialektik“ der Gestaltungen das „Fortleitende“ ist. Es zeigt sich in dieser Geschichte klarer als in jeder anderen, daß etwas, das nicht die absolute, mit dem In­ halt identische Form hat, vorübergehen muß [GP 6, 154]. Der Fortgang ist „a priori notwendig“ [ebda]. Im zweiten Fall wird herausgestellt, daß die Philosophiegeschichte im ganzen nur erst dies ist: „Entstehung und Entwicklung der Wissenschaft als Ge­ schichte“, oder Philosophie „in der eigentümlichen Gestalt“ von Geschichte, zu der sie sich entäußert hat („in der eigentümlichen Gestalt von äußerlicher Geschichte“ in diesem Sinn) [Enz., § 13]. Das Verhältnis zwischen „Philosophie“ und gesamter Ge­ schichte der Philosophie bestimmt Hegel als ein wechselseitiges Abbild-Verhältnis: „Philosophie und Geschichte der Philoso­ phie ist eins Abbild des Anderen“ [GP 6, 222]. Es handelt sich um ein spiegelbildliches, insofern spekulatives Abbild-Verhält­ nis: Bestimmt das Logische die Geschichte implizit (ohne „Be­ wußtsein der Notwendigkeit“), so die philosophische Systembil­ dung

explizit

(mit

„Bewußtsein

der

Notwendigkeit“).

An

mehreren Stellen seines Systems hat Hegel das Spekulations­ verhältnis von Philosophie und Philosophiegeschichte angespro­ chen: So heißt es in der Enzyklopädie:

[a] „In der eigentümlichen Gestalt äußerlicher Geschichte wird die Ent­ stehung und Entwicklung der Philosophie als Geschichte dieser Wissen­ schaft vorgestellt. Diese Gestalt gibt den Entwicklungsstufen der Idee die Form von zufälliger Aufeinanderfolge und etwa bloßer Verschie­ denheit der Prinzipien und ihrer Ausführungen in ihren Philosophien“; dabei zeigt die „Geschichte der Philosophie [...] an den verschieden er­ scheinenden Philosophien teils nur eine Philosophie auf verschiedenen Ausbildungsstufen auf, teils daß die besonderen Prinzipien, deren eines einem System zugrundelag, nur Zweige eines und desselben Ganzen sind“ [Enz., §13]. [b] „Dieselbe Entwicklung des Denkens welche in der Geschichte der Philosophie dargestellt wird, wird in der Philosophie selbst dargestellt,

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aber befreit von jener geschichtlichen Äußerlichkeit, rein im Element des Denkens“ [Enz., §14]. Eingelassen in die „äußerliche Geschichte geschieht das Fortge­ hen ohne Bewußtsein der Notwendigkeit:

„Das Hervorgehen der unterschiedenen Stufen im Fortschreiten des Gedankens kann [...] mit dem Bewußtsein der Notwendigkeit, nach der sich jede folgende ableitet und nach der nur diese Bestimmung und Gestalt hervortreten kann, [geschehen] - oder es kann ohne dies Bewußtsein, nach Weise eines natürlichen, zufällig scheinenden Her­ vorgehens geschehen, so daß innerlich der Begriff zwar nach seiner Konsequenz wirkt, aber diese Konsequenz nicht ausgedrückt ist“ [GP6, 25 f.]. [a] „Die eine Weise dieses Hervorgehens, die Ableitung der Gestaltun­ gen, die gedachte, erkannte Notwendigkeit der Bestimmungen darzu­ stellen, ist die Aufgabe und das Geschäft der Philosophie selbst; und indem es die reine Idee ist, auf die es hier ankommt, noch nicht die weiter besonderte Gestaltung derselben als Natur und als Geist, so ist jene Darstellung vornehmlich die Aufgabe und das Geschäft der logi­ schen Philosophie.“ [b] „Die andere Weise aber, daß die unterschiedenen Stufen und Ent­ wicklungsmomente in der Zeit, in der Weise des Geschehens, an diesen besonderen Orten, unter diesem oder jenem Volke, unter diesen politi­ schen Umständen und unter diesen Verwicklungen mit denselben her­ vorgetreten - kurz, unter dieser empirischen Form -, dies ist das Schau­ spiel, welches uns die Geschichte der Philosophie zeigt“ [GP 6, 26f.]. Vor allem die „geschichtliche Äußerlichkeit“ ist das die „Philo­ sophie selbst“ trübende Element. Aber dem Wesen nach ist hier wie dort nur eine. Philosophie, und hier und dort ist „nur Eine Vernunft“ [GP 6, 220]. Und darauf kommt es an:

„Die Philosophie ist [...] die Darstellung der Entwicklung des Gedan­ kens in der Gestalt des einfachen Gedankens, ohne Beiwesen; Ge­ schichte der Philosophie ist diese Entwicklung, wie sie in der Zeit ge­ wesen ist. Daraus folgt, daß die Geschichte der Philosophie dasselbe ist als das System der Philosophie“ [GP 6, 220]. Hegels These lautet also:

„Nach dieser Idee behaupte ich nun, daß die Aufeinanderfolge der Systeme der Philosophie in der Geschichte dieselbe ist, als die Aufein­ anderfolge in der logischen Ableitung der Begriffsbestimmungen der Idee. Ich behaupte, daß, wenn man die Grundbegriffe der in der Ge­ schichte der Philosophie erschienenen Systeme rein dessen entkleidet, was ihre äußerliche Gestaltung, ihre Anwendung auf das Besondere

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und dergleichen betrifft, so erhält man die verschiedenen Stufen der Bestimmung der Idee selbst in ihrem logischen Begriff. Umgekehrt, den logischen Fortgang für sich genommen, so hat man darin nach sei­ nen Hauptmomenten den Fortgang der geschichtlichen Erscheinungen [...] “ [GP6,27]. Dem wahrhaft Wesentlichen nach gibt es zwischen Philosophie und Geschichte der Philosophie also keinen Unterschied: Wie schon in der Differenzschrift, so findet auch im späten Konzept die Philosophie in der Geschichte der Philosophie „Geist von ihrem Geist“, wenn auch nicht mehr

„Fleisch von ihrem

Fleisch“. Denn was einst Geschichte war, ist jetzt zur Wissen­ schaft geworden114.

2.2 Funktionen der Philosophiegeschichtsphilosophie Wenigstens zwei Funktionen - eine theoretische und eine prak­ tische - hat Hegel mit seiner Philosophiegeschichtsphilosophie verbunden: Zum einen hat diese Disziplin den „empirischen Be­ weis“ für die Behauptung zu erbringen, Geschichte der Philoso­ phie und System der Philosophie seien dasselbe. D. h., sie hat lediglich zu zeigen, daß der Verlauf der Philosophiegeschichte „die Systematisierung des Gedankens selbst“ ist [GP 6,220]. Da­ bei wird vorgängig ein „spekulativer Beweis“ für diese Behaup­ tung in der Philosophie selbst erbracht - ein Beweis, der die „Natur der Vernunft, des Denkens“ betrifft [ebda]. Jedoch hat eine „Geschichte der Philosophie“, nimmt man den Ausdruck subjektiv, nicht nur eine theoretische Funktion. Es geht in ihr im letzten (in einem religiös motivierten, praktischen Sinn) im­ mer auch noch darum, aus vorliegendem Material das Logische ,auszuziehen‘ und im Gegenzug dazu von der Philosophie die Geschichte (als solche) zu entfernen. Darin liegt ihre „Würde“

114 Die eigentliche Philosophiegeschichte läuft gleichsam aus (wie Fulda es nennt, Das Problem einer Einleitung, a. a. O., 248 Anm.): Sie wird - mit dem Standpunkt der jetzigen Zeit“ (der Schellingschen Philosophie) - „für jetzt“ [GP 9,188] geschlos­ sen: Die Schellingsche Philosophie ist die „letzte interessante, wahrhafte Gestalt der Philosophie“ (im Rahmen von Geschichte). Als solcher fehlt ihr noch, was wahr­ hafte Philosophie an sich selbst ausmacht: „die Form der Entwicklung, die das Logi­ sche ist, die Notwendigkeit des Fortgangs“ [GP 9,188].

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als einer wirklichen „Wissenschaft“, d. h., darin ist sie Philoso­ phie [vgl. GP 6, 4] und mehr als eine nur historische oder empi­ rische Wissenschaft, in der man es nur mit „dem Vergangenen, Äußerlichen zu tun haben“ würde: Vielmehr ergibt sich als „fernere Folge“ des bisher Ausgeführten, daß „wir“ es in ihr ge­ rade „nicht mit dem Vergangenen, Äußerlichen zu tun haben, sondern mit dem Gegenwärtigen, Präsenten“ [GP 6, 156]. Es geht nicht um empirische Erkenntnis der Philosophiegeschichte in ihrer „empirischen Form“ (als einer Geschichte) und auf kei­ nen Fall nur um „historische Kenntnis“ singulärer historischer Fakten, von „abstrakt Historischem“, das der Vergangenheit an­ gehört [vgl. ebda]. Und wenn nun auch solch „abstrakt Histori­ sches“ in ihrem Zusammenhang Erwähnung findet, dann nur, weil es in Verbindung mit dem „ewig Gegenwärtigen“ von ge­ wissem Interesse und eben darum auch nicht vergessen ist. Daß es nicht vergessen ist, verdankt es, wie Hegel in Anlehnung an einen populären Herderschen Terminus formuliert, der „Tra­ dition“: Die Tradition ist die „heilige Kette“, die durch all das hindurch, „was vergänglich ist und was daher vergangen ist“, sich schlingt [GP 6,7]. Die Tradition ist das Logische als das Gei­ stige. Eine zweite und gleichsam pragmatische Aufgabe besitzt die Philosophiegeschichtsphilosophie im Lehrkontext. Sie vermag auf eine andere Weise in die Philosophie einzuleiten, als es etwa durch einen „Überblick“ im bloß durch Historie und Räsonne­ ment geprägten einleitungsweisen „Vorhof“ der Philosophie möglich wäre. Ohne beim Adressaten den Durchgang durch die Logik schon vorauszusetzen, vermag sie - gerade sie - ein (im begrifflichen Sinne) bedeutungsvolles Bild von Philosophie zu vermitteln. Sie erlaubt ein Studium der Philosophie selbst, das den „wahrhaften Begriff“ von Philosophie zu finden hilft115, der die Studierenden dann „in Stand“ setzt, ohne Anleitung

115 Auch in diesem Sinne ist sie allerdings Bestandteil des philosophischen Systems: „In der Tat aber, wenn der Begriff der Philosophie auf eine nicht willkürliche, sondern wissenschaftliche Weise festgestellt werden soll, so wird eine solche Abhandlung die Wissenschaft von der Philosophie selbst; denn bei dieser Wissenschaft ist dies das Eigentümliche, daß ihr Begriff nur scheinbar den Anfang macht und nur die ganze Abhandlung dieser Wissenschaft der Erweis, ja man kann sagen, selbst das Finden ihres Begriffs und dieser wesentlich ein Resultat derselben ist“ [GP 6, 3].

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„die Werke der Philosophen zu verstehen [...]. Denn bei Gedanken, besonders bei spekulativen, heißt Verstehen ganz etwas anderes als nur den grammatischen Sinn der Worte fassen und sie in sich zwar hin­ ein-, aber nur bis in die Region des Vorstellens aufnehmen. Man kann daher eine Kenntnis von den Behauptungen, Sätzen oder, wenn man will, Meinungen der Philosophen besitzen, sich mit Gründen und Aus­ führungen solcher Meinungen viel zu tun gemacht haben, und die Hauptsache kann bei allen diesen Bemühungen gefehlt haben, nämlich das Verstehen der Sätze. Es fehlt daher nicht an bändereichen, wenn man will gelehrten Geschichten der Philosophie, welchen die Erkennt­ nis des Stoffes selbst [...] abgeht. Die Verfasser solcher Geschichten lassen sich mit Tieren vergleichen, welche alle Töne einer Musik mit durchgehört haben, an deren Sinn aber das Eine, die Harmonie dieser Töne, nicht gekommen ist. [...]“ [GP 6, 2]. Da nun die Philosophiegeschichtsphilosophie Bestandteil eines Wissenschaftsgefüges ist, mit dem sich relativ zu den Philoso­ phierenden zugleich ein gewisses moralisch-praktisches Ideal verbindet, ist deren Einleitungsfunktion nicht nur von pragmati­ scher Relevanz. Vielmehr stellt diese Disziplin „das Werden un­ serer Wissenschaft“ dar (und nicht „das Werden fremder Din­ ge“), welches unter der Voraussetzung, daß die Philosophen den allgemeinen Charakter des Menschen als Menschen re­ präsentieren, dem Wesentlichen nach „unser Werden“ genannt werden kann [GP 6, 9]. In dieser Hinsicht sind wir denn „in der Tat [...], was wir sind, [...] zugleich geschichtlich“, d.h., „wie [...] in [...] der Geschichte des Denkens[] das Vergangene nur Eine Seite ist, so ist [auch] in dem, was wir sind, das gemeinschaftliche Unvergängliche unzertrennt mit dem, daß wir geschichtlich sind, verknüpft“ [GP 6, 6, Z. v.V.].

3. Einwände gegen die Hegelsche Programmatik 3.1 Uneingelöste Programmatik Mit der These, die „Aufeinanderfolge der Systeme der Philoso­ phie in der Geschichte“ sei „dieselbe [...], als die Aufeinander­ folge in der logischen Ableitung der Begriffsbestimmungen der Idee“, verbindet sich, so hat es Walter Jaeschke formuliert, ein „derart kühner Anspruch“ - ein Anspruch, „in dem Spinozas Satz ,ordo et connexio idearum idem est, ac ordo et connexio rerum‘ nachklingt“ -, daß dies „nicht nur zur Bewunderung“ her­

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ausfordere; es gelte auch, die Einlösung bzw. die Bedingungen der Einlösbarkeit dieser These zu überprüfen. Einer solchen Überprüfung halte der Anspruch jedoch nicht stand116. Schon kurz nach Hegels Tod ist bekanntlich darauf hingewiesen wor­ den, daß Hegel für die Behauptung, in der Philosophiegeschich­ te werde dasselbe sich darstellen wie in der Philosophie, „nur wenige Fälle als Indizien“ der „Übereinstimmung des geschicht­ lichen mit dem logischen Ordo“ auszeichnen und in „noch weni­ ger Fällen diese Auszeichnung plausibel begründen“ konnte.117 Nicht so sehr problematisch, weil im Systemzusammenhang der Hegelschen Philosophie verständlich, ist der Sachverhalt, daß die jeweils „zweiten Bestimmungen“ der (mehrfach subdifferenzierten) logischen Sphären (z. B. das Nichts, das Dasein) als „Definitionen des Endlichen“ (und nicht des Absoluten) nicht Grundprinzipien von Philosophie als der potentiellen Wissen­ schaft des Absoluten sein können (wenngleich sie innerhalb einer Epoche Vorkommen können) [vgl. Enz., § 85]. Problemati­ scher ist, daß Hegel die Philosophiegeschichte in seinen Einlei­ tungen nicht immer einheitlich untergliedert hat oder daß z. B. aus der Zuordnung Heraklits zur Denkbestimmung „Werden“ dessen problematische „Nachordnung [...] gegenüber den Eleaten“ folgt118. Hans Friedrich Fulda hat im Hinblick auf solche Abwei­ chungen den Vorschlag gemacht, sie auf Trübungen im Sichselbsterfassen des Geistes zurückzuführen, die dem Medium der Geschichte (Weltgeschichte) geschuldet sind119. Gleichwohl wird man Walter Jaeschkes Ansicht sein können, daß „das wirkliche Ordnungsprinzip in Hegels Geschichte der Philoso­ phie“ gewissermaßen „nichts anderes als die Historie selber“ ge­ wesen ist120 und daß ihr somit keineswegs gelang, was der Pro­

116 Walter Jaeschke, Einleitung in die Studienausgabe zu Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a. a. O., XVII. 117 Ebda. 118 Walter Jaeschke, Einleitung, a.a.O., XVIII. Vgl. auch Klaus Düsing, Hegel und die Geschichte der Philosophie, Darmstadt 1983. 119 Vgl. Hans Friedrich Fulda, Das Problem einer Einleitung, a. a. O., 210ff. 120 Walter Jaeschke, Einleitung, a.a.O., XXIII. Walter Jaeschke greift nur die Hegelsche Programmatik, nicht aber das von Hegel wirklich verfolgte Verfahren an. Dabei nimmt er allerdings an, dieser Programmatik zufolge sei es in der „Ge­ schichte der Philosophie“ darum gegangen, eine mögliche „Identität“ von logischem und historischem Ordo zu „erkennen“ [ebda, XXVI]. Demgegenüber sei Hegels

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grammatik zufolge aber hätte gelingen müssen: nämlich den Zu­ fall zu entfernen. Man könnte Jaeschkes Hinweis vielleicht da­ hingehend präzisieren, daß man sagt: Hegels Vorlesungen be­ sitzen die Merkmale der oben kurz behandelten „sinnigen Geschichte“: Sie stehen für ein Begreifen von Geschichte nur insofern, als in einer „sinnvollen Anschauung das, was nur Er­ scheinungen sind“ - und Hegel blieb den Nachweis schuldig, daß die Philosophien mehr sind als bloße Erscheinungen -, so angeordnet wird, wie „die innere Folge des Begriffs“ ist [vgl. Enz., § 16]. Denn um mehr als nur um eine Aneinanderreihung kritischer Textinterpretationen nach dem Prinzip bloßer Chro­

„wirklicher Umgang mit der Geschichte der Philosophie“, so Jaeschke, aber „zu be­ greifen als geleitet von einem Interesse an solcher Erkenntnis - und nicht an Erkennt­ nis der logisch-historischen Identität“ selbst [ebda]. Jaeschke weist darauf hin, daß das Berliner System dazu auch gar keine Möglichkeit geboten habe: „Als Wissenschaft von den reinen Denkbestimmungen“ beweise die Logik zwar diese, habe aber nicht deren Verhältnis zur Historie zum Gegenstand [ebda]. Walter Jaeschke hätte den letzteren Sachverhalt ernster nehmen müssen. Denn tatsächlich bietet das System eine solche Möglichkeit nicht - und zwar deshalb nicht, weil es eine „logisch-historische Identität“ bei Hegel nicht gibt: Es gibt keinen eigenständigen historischen Ordo. Es gibt keinen Ordo, der nicht der logische wäre. Ein bloß historischer ,Ordo‘ wäre das zeitliche Nacheinander von Zufälligem und Vergänglichem und also überhaupt kein Ordo in Hegels strengem Sinn. Jaeschkes These von einer „logisch-historischen Identität“ bei Hegel - eine Iden­ tität, die er als „logisch-historische[n] Parallelismus“ [ebda, XXIV] bezeichnet, mit dem eine „unmittelbare Synchronie zwischen logischer und historischer Entwicklung“ [ebda, XVII] behauptet ist - ist eine zeitlich spätere These, wie sie für Theorien cha­ rakteristisch sind, die in dieser Arbeit als Theorien geschichtlicher Vernunft bezeich­ net und in Auswahl im ersten Teil behandelt wurden. Diese These ist neukantianisch inspiriert. Wie im zweiten Teil der Arbeit anmerkungsweise schon angedeutet worden ist, spricht Wilhelm Windelband (Geschichte der Philosophie, a. a. O.), von einem „Parallelismus von dialektischer und historischer Entwicklung“ bei Hegel (oder auch einem „Parallelismus von systematischer und chronologischer Reihenfolge der Kate­ gorien“ [ebda, 177] oder „der geschichtlichen und der dialektischen Entwicklung der Kategorien“ [ebda, 188]), der seiner Ansicht nach aber „die Form einer begrifflich notwendigen Beziehung“ annimmt [ebda, 176]. Für Windelband war der Idealismus bei Hegel in diesem Sinne ein „historischer“ [ebda, 184] und „Philosophie wirklich in ihre Geschichte aufgelöst“ [ebda, 188]. Die Schwierigkeit der Parallelismus-These liegt vor allem darin, daß von ihr her die Hegelsche Formulierung, es unterscheide „sich allerdings nach einer Seite die Folge als Zeitfolge der Geschichte von der Folge in der Ordnung der Begriffe“ [GP 6,27], nicht verständlich gemacht werden kann (vgl. denn auch Walter Jaeschke, a. a. O., XIX f.). Diese Formulierung bekommt Sinn, wenn man von der ,Trennbarkeit‘ von Logik und Geschichte ausgehen kann, d. h. von der absoluten Vorrangigkeit des Grunds aller Geschichte (des Logischen) vor aller Ge­ schichte, wie davon, daß der Geschichte ein Widerspruch zwischen Form und Inhalt eignet, der zum philosophischen System jenseits der Geschichte weitertreibt.

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nologie, die nach einem bestimmten Leitfaden lediglich äußer­ lich gruppiert werden, handelt es sich eigentlich nicht121. Man könnte aber auch einfacher sagen: Hegels „Geschichte der Phi­ losophie“ konstituiert sich auf eine Weise, die schlicht für Vorle­ sungen typisch ist: unproportioniert, aber doch so informativ, daß selbst noch solche Positionen ihren Platz darin finden kön­ nen, durch die die Geschichte keinen „Ruck“ getan hat, wie bei­ spielsweise eine Reihe schottischer „Popularphilosophen“. Und so ist nicht klar, nach welchen Prinzipien Texte und Relevantes in Texten tatsächlich ausgewählt worden sind. Oder ob über­ haupt ausgewählt werden muß und nicht vielleicht doch jedes Buch, das sich in Bibliotheken findet und wenigstens insofern ein philosophischer Text ist, als der Interpret im Gesagten einen ihm schon bekannten Gedanken wiederentdecken kann, in Fra­ ge kommt, nach bestimmten Gesichtspunkten und überwiegend, wie es denn bei Hegel auch gelegentlich heißt, als „Meinung“ eines Philosophen behandelt zu werden. Denn letztlich ist die Programmatik so offen, daß auch Zufälliges immerhin als Zufäl­ liges kritisch behandelt werden kann. Die Frage ist dann aber, ob ein solches Vorgehen noch den Kriterien philosophischer Wis­ senschaftlichkeit genügt. Und wirklich hat Hegel, wenn auch nur beiherspielend, selbst Zweifel erweckt, die „Geschichte der Philosophie“ könnte wirkliche „Wissenschaft“ (Philosophie) sein. Einige dieser Zweifel erweckenden Hinweise, die in philo­ sophiegeschichtstheoretischer Hinsicht relevant sind, sollen im folgenden kurz genannt und anschließend im Zusammenhang mit einer kritischen Reflexion auf das Schreiben von Geschich­ ten auf dem Gebiet der Philosophie nach möglichen Konsequen­ zen erörtert werden.

121 Auffällig bleibt dabei allerdings Hegels Vorliebe für die Griechen und insbeson­ dere für Platon. So ist für ihn „das Aufbewahren der Werke des Plato [...] eines der schönsten Geschenke des Schicksals; Form und Inhalt sind von gleich anziehender Wichtigkeit“ [vgl. GP 8, 1]. Demgegenüber werden z.B. die Werke Kants als ein weniger schönes Geschenk bewertet: Denn für Hegel zeichnen sie sich dadurch aus, daß das Verständnis des „Hauptsatzes“ der Kritischen Philosophie, der im Grunde „ganz einfach[]“ ist - und lautet: daß das „Subjekt in seinem Selbstbewußtsein“ die Quelle von „Bestimmungen wie Allgemeinheit und Notwendigkeit“ ist [GP 9,149] -, durch „Breite“ und „Weitläufigkeit“ der Darstellung und eine „eigentümliche Termi­ nologie“ erschwert wird [ebda, 150].

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3.2 Gründe und Folgen a)

Mangel an Zeit

Hegel war es bewußt, daß das „Feld“ der Philosophiegeschich­ te, das aus „Philosophien von 2500 Jahren“ besteht, zu „groß“ ist, als daß es „vollständig“ auseinandergesetzt werden könnte; es muß „beschränkt“ werden [GP 6, 233]. Dabei entspricht es der Orientierung am „Begriff“, wenn u.a. folgendes festgelegt wird: a) daß wir uns - und zwar „bei den älteren Philosophien [...] besonders“ - hauptsächlich mit den Prinzipien befassen; denn die „ältesten Philosophien sind die abstraktesten und Ein­ fachsten; sie sind die, die noch nicht zu weiterer Entwicklung des Gedankens gediehen sind“ [ebda]. (Diese Forderung kontra­ stiert allerdings damit, daß keine „Periode“ von Hegel so aus­ führlich behandelt worden ist wie die antike Philosophie.) b) Doch auch respektive neuerer Philosophien sollten realphilo­ sophische Entwicklungen ausgelassen werden (so z. B. die Be­ handlung der „vegetabilische[n] und animalische[n] Natur“ le­ diglich nach dem „Prinzip des Mechanismus“ bei Descartes, weil wir uns da „gleich nicht befriedigt finden“ würden [GP 6, 233f.]). c) Da nur „das Philosophische der Philosophien“ heraus­ gehoben werden soll, wird ebenso ausgeblendet, was über diese Philosophien so alles geschrieben und festgehalten wurde: „eine Menge Nebensachen, Erfindungen, Hypothesen“, zu denen man später noch mehr, noch „viel hinzugebracht“ hat [GP 6, 234]. d) Ausgeblendet bzw. nur am Rande angemerkt wird auch Bio­ graphisches und damit Vergängliches, das vergangen ist: „die Männer, ihre Schicksale“ [GP 6, 156]. e) Da es nun „nicht bloß um eine historische Kenntnis zu tun [ist], die sich mit Vergange­ nem beschäftigt“ [ebda], fallen auch „z.B. eine Menge Lehrer der stoischen Philosophie“ heraus, „berühmte Männer ihrer Zeit“, die „zum Teil das Bestimmtere“ (aber im Sinne bloßer „Details“) ausgebildet haben, wie die „stoische Logik; von die­ sem Detail abstrahieren wir und übergehen solche Männer, be­ sonders insofern sie nur berühmt sind als Ausbreiter“ [GP 6, 235]. Insofern sie nur das „Detail“ ausgebildet haben, gehören sie ja zu den „Tausenden“, die „Partikularitäten behandelten“ und darum zu vergessen sind. Könnte man nun annehmen, aus der Hegelschen Program-

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matik der Zufälligkeits-Entfernung ergäbe sich, daß nicht jedes sich in Bibliotheken findende Buch, das bestimmten Kriterien entspricht, abgehandelt werden muß, daß es tatsächlich nur „100 Namen“ sind, die das Interesse des Philosophiegeschichts­ philosophen wecken können, so scheint nun allerdings selbst diese Anzahl problemlos nicht bewältigt werden zu können. Denn es gibt eine Schranke, die nicht im Medium des Denkens gesetzt wird und deshalb auch nicht aufgehoben werden kann, sondern schlicht gesetzt ist, und zwar für Menschen. Diese Gren­ ze ist, wie Hegel sah, die Zeit, über die Menschen, anders als der Weltgeist, keine Macht haben: An verschiedenen Stellen in den Einleitungen zu seiner „Ge­ schichte der Philosophie“ hat Hegel darauf hingewiesen, daß die Einschränkung des philosophiegeschichtlichen Feldes nicht nur durch den Begriff diktiert wird, sondern auch durch das Ne­ gativprinzip „Mangel an Zeit“ [GP 6, 233]:

„Die beschränkte Zeit eines Semesters zwingt uns, nicht vollständig die Meinungen der Philosophen seit Tausend von Jahren auseinanderzuset­ zen. Es erhellt schon zum Voraus, daß es ein großes Feld ist, die Philo­ sophien von 2500 Jahren vor dem Geist vorüber gehen zu lassen, und es muß daher beschränkt werden“ [GP 6, 233].122 Für Menschen ist die Zeit also zu kurz. Doch nicht nur die Zeit eines Semesters scheint zu kurz. Blickt man auf den Zustand der Hegelschen Manuskripte, so ist offensichtlich die menschliche Lebenszeit insgesamt zu kurz dafür, um das philosophiege­ schichtliche Feld auch nur unter bestimmten Gesichtspunkten adäquat auseinanderzulegen. Mag daher der Philosoph auch den allgemeinen Charakter des Menschen als Menschen reprä­ sentieren, mag in ihm auch das „eigentümlichkeitslose Denken selbst“ das „produzierende Subjekt“ sein, so fällt dies dann nicht besonders ins Gewicht, wenn er es mit einer Materie zu tun be­ kommt, im Hinblick auf die er nicht allein aus Vernunft schöpfen kann. Dann wird es bedeutsam, daß die „übernächtigen Emphe-

122 Von besonderer Prägnanz ist die Formulierung bei Hoffmeister: Schon zum Vor­ aus erhelle, so Hegel, daß „die Zeit eines Semesters zu kurz ist, die Geschichte der Philosophie, diese Arbeit des Geistes von mehreren tausend Jahren, ganz vollständig auseinanderzusetzen. Das Feld muß also beschränkt werden“ (Hegel, Einleitungen in die Geschichte der Philosophie, hrsg. von J. Hoffmeister, Hamburg 31959,136).

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meren“ sterblichkeitsbedingt für „viele [...] ihrer Zwecke nicht Zeit genug [haben]“. Gegen die Hegelsche Programmatik der Zufälligkeits-Ent­ fernung hat daher Odo Marquard ins Feld geführt, daß der Typus von Zufall, den Hegel im Blick hat - den Zufall im Sinne des Beliebigen, der Willkür -, nicht der einzige Typus von Zufall ist, den es gibt: Es gibt nicht nur das „Beliebigkeitszufällige“123, d.h. solches, „,was auch anders sein könnte‘ und durch uns än­ derbar ist“, also „eine beliebig wählbare und abwählbare Be­ liebigkeit“ darstellt. Es gibt auch das „Schicksalszufällige“ und damit solches, „,was auch anders sein könnte‘“, aber „gerade nicht durch uns änderbar ist“124. Schicksalszufällig ist, folgt man Marquard, nicht nur, überhaupt geboren zu sein, oder zu dieser Zeit, in dieser Weltgegend, in dieser Kultur und Lebenslage ge­ boren zu sein125. Schicksalszufällig ist auch, sterben zu müssen. Deshalb ist, so wird man daran anknüpfen können, die mensch­ liche Lebenszeit in einer philosophiegeschichtstheoretisch rele­ vanten Hinsicht einfach zu kurz: für eine proportionierte und der Programmatik nach einstimmige Philosophiegeschichtsdar­ stellung, aber auch - und vor allem - für eine Gesamtdarstellung der Philosophiegeschichte, deren Einsichten gerechtfertigt sein könnten. Daß das „Schicksalszufällige“ und unter ihm vor allem der schicksalszufällige Faktor eines sterblichkeitsbedingten „Man­ gels an Zeit“ in der Philosophie selbst eine große Rolle spielt und daß von daher Texte dem nachgeborenen Interpreten mehr abverlangen, als Hegel meinte, läßt sich am Beispiel seiner ei­ genen Philosophiegeschichtskonzeption demonstrieren. Gerade diese Konzeption ist ein herausragendes Beispiel dafür, daß der Interpret im Versuch, Texte zu verstehen, in drei verschiedenen Hinsichten gefordert sein kann, von denen jede das Problem der Zeit berührt: Texte fordern ihn erstens in hermeneutischer Hin­ sicht heraus, etwas zu verstehen, das sich nicht jederzeit und nicht für jedermann von selbst versteht, z. B. Hegels Präferenz des Logischen in seinem theologischen Sinnhintergrund. Sie for­ dern ihn zweitens in historischer Hinsicht heraus: Der spätere 123 Odo Marquard, Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen, a. a. O., 128. 124 Ebda. 125 Ebda, 129.

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Interpret liest und beurteilt das in Texten Gesagte anders als Zeitgenossen, da er weiß (oder wissen kann), was später noch geschah. Er interpretiert mithin auch geschichtsphilosophische Aussagen - also Aussagen mit Prinzipienstatus über Geschichte - im Lichte einer nur Nachgeborenen überhaupt möglichen Kenntnis von zeitlich Späterem. Und so können ihn drittens eini­ ge Texte - wie gerade Texte zur Geschichtsphilosophie - auch philosophisch herausfordern: im gegebenen Fall zu einer Refle­ xion auf das Schreiben von Geschichten im Bereich der Philoso­ phie. Diese drei Aspekte - der hermeneutische (b), der histori­ sche (c) und der philosophiegeschichstheoretische (d, e, f) - sind kurz zu präzisieren.

b) Sinnverstehen Texte müssen verstanden werden. Und man wird wohl Hegel in der Auffassung folgen können, daß „Verstehen“ grundsätzlich etwas „ganz [...] anderes“ bedeutet, „als nur den grammatischen Sinn der Worte fassen und sie in sich zwar hinein-, aber nur bis in die Region des Vorstellens aufnehmen“. Wenn man annehmen kann, daß dies wohl auch für ein Verständnis von Kriminalroma­ nen gilt, so verlangen freilich philosophische Texte in dieser Hin­ sicht spezifische Kompetenzen. Es ist aber ausgesprochen zwei­ felhaft, daß sie die Kompetenz erfordern, Vorstellungen als Metaphern von Gedanken ansehen zu können. Denn abgesehen davon, daß man sich auch noch auf das Handwerk verstehen müßte, Texte aufzuschlüsseln, die nicht immer den prägnanten Ausdruck gefunden haben, den sich ihr Autor für sie gewünscht hätte, weil hierfür die Lebenszeit zu kurz war126, ist z. B. Hegels Philosophie selbst ein gutes Beispiel dafür, daß Philosophien

126 So bekannte sich Hegel z. B. dazu, in der Abfassung der „Wissenschaft der Logik“ nicht immer „die freie Muße“ besessen zu haben, um „im Angesicht der Größe der Aufgabe“ das Werk (wie es wohl nötig gewesen wäre) „siebenundsiebzigmal durchzu­ arbeiten“, analog zu Platon, der, obgleich er auf niedrigerer Bildungsstufe philoso­ phierte, „seine Bücher über den Staat“ immerhin schon „siebenmal umgearbeitet ha­ be“ [WdL 1,33]. Deshalb „mußte der Verfasser [.] sich mit dem begnügen, was es hat werden mögen, unter den Umständen einer äußerlichen Notwendigkeit, der unab­ wendbaren Zerstreuung durch die Größe und Vielseitigkeit der Zeitinteressen, sogar unter dem Zweifel, ob der laute Lärm des Tages und die betäubende Geschwätzigkeit der Einbildung [...] noch Raum für die Teilnahme an der leidenschaftslosen Stille der nur denkenden Erkenntnis offen lasse“ [ebda, 33f.].

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nicht nur Produkte reinen Denkens sind und deshalb auch nicht nur als - sei es schon vollendete oder noch zu vollendende - Pro­ jekte des Denkens aufgefaßt werden können, die man im letzte­ ren Fall vielleicht nur noch „zu Ende denken“ müßte127. Denn um z. B. zu verstehen, was Hegel meint, wenn er in geschichts­ philosophischem Kontext sagt, der „Gedanke“ sei eine „Gat­ tung“, die nicht „stirbt“, dazu ist nicht so sehr Nachdenken als die Arbeit erfordert, das Gesagte unter Bezugnahme auf zeit­ genössisches ,Gedankengut‘ allererst verständlich zu machen. Ähnliches gilt z. B. auch mit Bezug auf Hegels Annahme, der lebensweltliche Terminus „Gott“ könne durch die Ausdrücke „das Absolute“ bzw. „Geist“ übersetzt werden. Denn wie jener Hegelsche Geist, dem es nicht darauf ankommt, „einen unge­ heuren Aufwand des Entstehens und Vergehens“ zu betreiben, da er „Nationen und Individuen genug zu depensieren“ hat, bei­ spielsweise mit dem Gott der Christen in Verbindung stehen könnte, ist, wenigstens für Christen, auf Anhieb nicht verständ­ lich. Damit soll freilich nicht gesagt sein, daß die Hegelschen Texte keine Gedanken oder Überlegungen enthalten würden, die noch immer bedenkenswert sein können128. Aber doch dies: 127 Der Ausdruck bezieht sich hier auf Stephan Ottos Versuch, die Hegelsche Ge­ schichtsphilosophie noch gedanklich weiterzuführen: Vgl. Stephan Otto, Rekon­ struktion der Geschichte, 1. Teil: Zur Kritik der geschichtlichen Vernunft, München 1982. 128 Es ist bereits im zweiten Teil der Arbeit darauf hingewiesen worden, daß der Sinn­ dimension philosophischer Konzepte Rechnung zu tragen, keineswegs eine sachbezo­ gen- kritische Auseinandersetzung ausschließt. Es schließt aber auch nicht aus, daß man nicht nachfragen könnte, ja müßte, welche Konsequenzen es relativ zum Men­ schen hätte, wäre die Welt so, wie sie einem Konzept zufolge sein müßte. So wäre z. B. im Hinblick auf das theologische Grundmotiv der Hegelschen Philosophie zu über­ legen, ob eine Philosophie tatsächlich Funktionen einer Offenbarungsreligion über­ nehmen kann, in der Gott zur „Idee“ gerinnt. Menschen haben Fragen, die sich in einer Philosophie Hegelscher Provenienz nicht beantworten lassen: Fragen nach dem Sinn und Zweck ihres eigenen Lebens, nach dem Geborenwerden und Sterben­ müssen und all jenen Schicksalen, die Menschen zustoßen können und die zu ändern sie nicht in der Lage sind. Daß sich zureichende Antworten auf solche Fragen mögli­ cherweise überhaupt nicht auf philosophischem Wege, sondern nur in einer Religion geben lassen, deren Gott personale Züge trägt, darauf weist Hegel selbst hin. Doch sein Versuch, diesen Gottesbezug zu durchschauen und diese Art Religion auf das endliche, „gemeine Leben“ zu beschränken (für dessen „gedrungenbleibende Ver­ nunft“ die „Wahrheit“ nur in der „Vorstellung“ liegen kann), - dieser Versuch mutet den Denkern zu, von der Intensität abstrahieren zu können, mit der sich auch ihnen solche Fragen aufdrängen können, sofern sie nicht umhin kommen, auch in eben die­ ser Welt der „Vorstellungen“ zu existieren, in der sie letztlich auch sterben. So wird

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daß es nicht reine (für jedermann zu jeder Zeit zumindest im Prinzip nachvollziehbare) Gedanken und Überlegungen sind, die sie enthalten. Ihr Inhalt weist vielmehr immer auch auf eine bestimmte Lebenswelt, Kultur und Weltgegend und vor allem auf einen Menschen zurück, der im Lichte vorrationaler Einsich­ ten, Überzeugungen oder Motive sehr individuell philosophier­ te. Es ist der Sinn der Hegelschen Texte, der sie einmal mehr ein Beispiel dafür sein läßt, daß „Philosophie“ weder eine Wis­ senschaft ist, die in „Lehrbuch“-Form festgehalten werden könnte (wie Jürgen Mittelstrass, wenn auch mit Bedauern, festgestellt hat129); noch in der Vielfalt von Ausprägungen, in der sie dem Interpreten gegeben ist, ein Ganzes von eindeutigen Aussagesystemen darstellt, das sich von uns (wie Hegel meinte) gedanklich so ohne weiteres fassen ließe, dem wir uns einfach ,anzubilden‘ und das wir dadurch zugleich weiterzubilden und auf einen höheren Standpunkt zu erheben4 vermöchten [vgl. GP 6, 8]. Philosophie derart rationalistisch zu verstehen, bedeu­ tet auszublenden, was anderen ,Denkern‘ in einer Sinnperspek­ tive auf die Welt im ganzen einmal „das Wesentliche“ war (Karl Jaspers). So setzte der mögliche Versuch, Hegels Philosophie noch ,weiterzudenken‘, voraus, daß man sich (im freien An­ schluß an Hans Blumenberg) die „Metapher“ klarmacht, die in Hegels Auffassung vom „Gedanken“ selbst eingeschlossen ist130: das Sinnangebot, das Hegel macht - ein bestimmtes An­ gebot, das sich von demjenigen unterscheidet, das der weiter­ denkende Interpret den Adressaten seiner Texte zu unterbreiten sucht. Nicht alle Einsichten, die den Versuch des Weiterdenkens motivieren, finden sich schon bei demjenigen, dessen Ansatz weitergedacht wird. Und finden sich zum Glück zumeist dort noch nicht. Denn wie könnten bereits erarbeitete Philosophien - jedenfalls für Menschen - von Interesse sein, wenn es nicht

man Philosophie wohl eine kritische, an der „Idee der Humanität“ orientierte Beur­ teilungskompetenz zugestehen können und wahrscheinlich müssen, was die Unter­ scheidung zwischen Religion und Sekte betrifft. Aber Religionssubstitut kann sie nicht sein. Vgl. zu diesem Problem z. B. Hans Michael Baumgartner, Wahrheit und Ge­ wißheit, in: P. Eicher (Hrsg.), Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, Mün­ chen 1985, 263-274. 129 Mittelstrass, Das Interesse der Philosophie an ihrer Geschichte, a. a. O., 3. 130 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, in: Archiv für Begriffs­ geschichte, Bd. 6, Bonn 1960,7-142.

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immer auch noch herauszubekommen gälte, was anderem Den­ ken einmal das Wesentliche war.

c) Verstehen im zeitlichen Nachhinein Auf ein Sinnverstehen ist die Hegelsche Philosophie allerdings nicht angelegt. Hegel hat nicht damit gerechnet, daß seine Texte nicht die Grundbücher der Philosophie bleiben würden. Wenn der zeitlich spätere Interpret dennoch mit dem Problem mög­ lichen Sinnverlustes, des Verlustes an unmittelbarer Verständ­ lichkeit, zu kämpfen hat, so stellen die Hegelschen Texte ihn darüber hinaus jedoch noch vor ein erheblich gewichtigeres Pro­ blem, ein Problem, das sich überhaupt nur im zeitlichen Nachhin­ ein und in einer zeitlichen Perspektive ergibt und zugleich darauf aufmerksam macht, daß dem ständig drohenden Sinnverlust nicht das Unternehmen einer sinnproduktiven ,Rettung der Texte‘ entgegengesetzt werden kann, das (wie es etwa bei Lucien Braun geschieht) die Texte im Lichte aller Wahrheit - einer erst jetzt entdeckten letzten Wahrheit - zu aktualisieren versucht. Dieses Problem ist das der eindeutig geschlossenen Zukunft. Der nachgeborene Interpret, der die Hegelsche Philosophie für ein zumindest erwägenswertes Stück Philosophie hält (und nicht nur um eine beliebige Meinung), kann sich in der Tat fra­ gen - und es wurde post Hegel vielfach so gefragt -, was die Zukunft an philosophisch Neuem noch bringen kann, wenn es bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts gelungen sein sollte, die Philosophiegeschichte in ihrer „objektiven Wahrheit“ zu erken­ nen. Eine solche Frage drängt sich jedenfalls demjenigen philo­ sophisch ambitionierten Interpreten auf, der dem Sinnhinter­ grund der Hegelschen Texte Rechnung trägt und von daher weiß, was Hegel unter die Philosophiegeschichte verstand: daß er sie als eine Art organischer Natur auffaßte, die mittlerweile entfaltet ist, daß er also das Ende, d. h. die systematische Abge­ schlossenheit wie das zeitliche Abgelaufensein der Philosophie­ geschichte (genauer: der „eigentlich sogenannte[n]“ Philoso­ phiegeschichte)

und damit zugleich das Entfaltetsein aller

endlichen philosophischen Standpunkte sowie, darüber hinaus, auch das der wahrhaften Philosophie behauptet hat. Dieser Interpret weiß zugleich, daß Hegel nicht auch das Ende aller philosophiegeschichtlichen Dinge behauptet hat. Denn es war

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durchaus noch „Arbeit“ vorhanden, marginale Arbeit aller­ dings, die das wahrhaft Wesentliche des Philosophierens nicht berührt. Die Zukunft war geschlossen, und zu einem bestimmten Zeit­ punkt bekannt, daß das, was noch getan werden kann, unter die Kategorie des Marginalen, des Unwesentlichen und allenfalls epochal Gültigen fallen würde. Um dem Philosophieren doch noch eine Zukunft einzuräumen, die entscheidend Neues brin­ gen könnte, ohne dabei den Wahrheitsanspruch der Hegelschen

Philosophie völlig preiszugeben, wurde post Hegel gele­

gentlich der Weg eingeschlagen, die These vom Ende der Geschichte bei Hegel in Zweifel zu ziehen. Nicht immer fand man in den Texten noch einen Hinweis darauf, daß Hegel je­ mals den Anspruch erhoben haben sollte, in seiner Philosophie habe sich das philosophischen Denken vollendet131. Angesichts dieser HEGEL-Interpretationen wird man sich nicht auf eine Lektüre der Texte alleine berufen wollen, um die Behauptung zu stützen, daß Hegel ein ,Vollendungsdenker‘ ge­ wesen sei. Man kann einen anderen Weg einschlagen. In einem Gedankenexperiment läßt sich zeigen, daß jede Philosophie, die eine Philosophiegeschichtsphilosophie umfaßt (oder, wie die im zweiten Teil der Arbeit skizzierten neueren Theorieentwürfe, im Grunde eine solche ist), in welcher theoretische Aussagen mit Prinzipienstatus über eine als Realität verstandene Philosophie­ geschichte gemacht werden, im Prinzip weiß, was in alle Zukunft hinein geschehen wird - und daß sie dies unabhängig davon weiß, ob sie sich in einer noch nicht zu Ende gekommenen Ge­ schichte oder aber (wie es sich bei Hegel zumindest andeutet) radikal jenseits der Geschichte situiert. Solche Philosophien se­ hen die Zukunft in dem Maß voraus, in dem für die Zukunft das Entstehen einer konzeptuell völlig neuartigen Philosophie mit einer neuartigen Philosophiegeschichtsphilosophie radikal aus­ zuschließen ist132. Denn Philosophie ist kein ,,beliebige[s], prä­

131 Eine solche Deutung wird - insbesondere gegen die von Hans Friedrich Fulda (Das Problem einer Einleitung, a. a. O.) vertretene These von einer „Vollendung des philosophischen Denkens in der Hegelschen Position“ - vorgelegt von Stefan Majetschak, Die Logik des Absoluten. Spekulation und Zeitlichkeit in der Philosophie Hegels, a. a. O., insbes. 324 Anm. 132 Es sind Festlegungen dieser Art, die sich nach einem Normierungsvorschlag Arthur C. Dantos als „historische Feststellungen“ über die Zukunft bezeichnen las-

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missenrelative[s] Spiel mit gleichermaßen beliebigen gedankli­ chen Möglichkeiten“133, was ein und dieselbe Geschichte be­ trifft. Dort aber wo die Philosophiegeschichte so philosophi­ scher Gegenstand ist, daß man annimmt, man könne - und zwar jetzt - theoretisch ein wirkliches Prinzip (ein Gesetz, einen Strukturplan) namhaft machen, dem der Geschichtsprozeß in seiner Dynamik folgt (gelte er nun als abgeschlossen oder nicht), dort weiß man, was noch geschehen kann (bzw. getan werden kann und daher auch getan werden wird, wenn überhaupt noch etwas geschehen wird). Und in jedem Falle und in erster Linie nimmt man an, das, was noch geschehen wird, sei als zweit- oder gar drittrangig einzustufen, besitze nur den Wert einer ,Nebensache‘ (die in die Sphäre des Veränderlichen, Zufälligen und Un­ vorhersehbaren gehört). Sollte man aber von der Zukunft noch erwarten, daß diese etwas Neues von wirklich philosophischer Relevanz, d. h. eine „Hauptsache“ (Lucien Braun) mit sich bringt, dann kann diese Hauptsache niemals in einem neuen Prinzipienwissen (und in einer neuen Philosophie in diesem Sinn) bestehen. Denn ein solches Wissen ließe sich auf der Basis des gefundenen Prinzips der ganzen Philosophiegeschichte vor­ aussagen (andernfalls der Anspruch ungerechtfertigt sein würde, man habe ein solches Prinzip gefunden). Könnte man aber jetzt schon wissen, was man demnächst wissen wird, dann wüßte man es schon jetzt (nach dem sogenannten Popperschen Theorem in seiner extrem strengen Form). Daß für diejenigen Philosophen, die zugleich spekulative Phi­ losophiegeschichtsphilosophen sind, in diesem Sinne bekannt ist, was in alle Zukunft hinein geschehen wird, gleichgültig, ob sie annehmen, die eigene Position situiere sich in der Geschichte oder radikal jenseits ihrer, daß dieser Ausgriff aber tatsächlich auf einem Boden (Prinzip) unternommen wird, der ausgespro­ chen brüchig ist und nur einen kurzen Augenblick lang trägt, sen. Diese Feststellungen unterscheiden sich von (bedingten) Voraussagen (,ist die Bedingung B gegeben, dann folgt C‘) und induktiven Schlußfolgerungen (von einem Geschehnis auf alle Geschehnisses einer bestimmten Klasse) im Rahmen (empiri­ scher) Theoriebildung. In Aussagen der letzteren Art erhält man, anders als z. B. in Sätzen unserer Umgangssprache und in den hier interessierenden, zukunftsbezogenen Feststellungen, keine Auskunft darüber, ob etwas bereits geschehen ist, gerade ge­ schieht oder noch geschehen wird. Vgl. Analytische Philosophie der Geschichte, a. a. O., insbes. 24 (auch Anm.). 133 So formuliert mit Stefan Majetschak, Die Logik des Absoluten, a. a. O., 325.

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dies läßt sich nun im Zusammenhang eines Gedankenexperi­ ments zeigen, in dem einmal vorausgesetzt wird, Hegel habe seine Position nicht jenseits, sondern in einer Geschichte situiert.

d) Theoretisch geschlossene Zukunft ein Gedankenexperiment Es gibt Interpretationen, an die sich gewissermaßen das apolo­ getische Interesse knüpft, Hegel vom Anspruch zu entlasten, in seiner Philosophie habe sich das philosophische Denken und damit auch die Philosophiegeschichte vollendet.134 Ein solches Interesse kann freilich auch den im zweiten Teil der Arbeit skiz­ zierten Theorien zugeschrieben werden, in denen die Philoso­ phiegeschichte einfach über Hegel hinausgeführt und dadurch gezeigt wurde, daß sich das philosophische Denken in dessen Philosophie tatsächlich nicht vollendet hat. Diese Denker waren jedoch noch immer ,Vollendungsdenker‘, die Hegel im Zusam­ menhang einer materialen Philosophiegeschichtsphilosophie in­ terpretierten, die noch immer ein teleologisches Konzept war und die Hegelsche Philosophie einfach auf eine, wenn auch be­ deutsame,

Vorgängerposition

eben

dieser

Philosophiege­

schichtsphilosophie reduzierte. Gegenüber derartigen Versu­ chen

der

Relativierung

läßt

sich indes

auch

ein

Hegel­

Entlastungsversuch unternehmen, der anstatt von einem neuen Geschichtskonzept von den Texten selbst ausgeht - ein Versuch, bestimmte Aussagen Hegels, wie etwa die folgende, als zu­ kunftsbezogene Behauptungen zu lesen: Hegel stellte die These auf,

es sei „ebenso unsere und jedes Zeitalters Stellung und Tätigkeit, die Wissenschaft, welche vorhanden zu fassen und sich ihr anzubilden und sie ebendarin weiterzubilden und auf einen höhern Standpunkt zu er­ heben [...]“ [GP6, 8], Es gibt Deutungen, in denen diese und ähnliche Aussagen als zukunftsbezogene Behauptungen gelesen werden und also ange­ nommen wird, nicht erst nachgeborene Philosophen, sondern bereits Hegel selbst habe seine Philosophie in einer Geschichte situiert, welche die in der These angesprochene Struktur besitzt, 134 Die folgenden Überlegungen beziehen sich, allerdings experimentell, auf Majetschaks HEGEL-Interpretation in: Die Logik des Absoluten, a. a. O.

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die aber noch künftige „Zeitalter“ kennt. Hegels These von „unseres und jedes Zeitalters Stellung und Tätigkeit“ könnte dann z. B. so interpretiert werden, als habe er sagen wollen, daß „die Arbeit des Begriffs in seinen ,Absolutheitsintentionen“‘ nicht nur in der Vergangenheit in Form einer „interpretativen Beschäftigung“ mit vorausgegangenen Positionen immer wieder neuerlich angesetzt hat, sondern „auch in Zukunft“ in diesem Sinne immer wieder neu ansetzen wird, so daß die Wissenschaft in Form einer „Aneignung“ derjenigen Positionen, welche be­ reits vorhanden sind, durch eine jeweils spätere „Gedankenbil­ dung“ weiterhin fortschreiten wird135. Dabei gäbe es nun aller­ dings zunächst zwei Möglichkeiten, die These von „unsere[r] und jedes Zeitalters Stellung und Tätigkeit“ als eine zukunftsbe­ zogene Behauptung zu interpretieren: 1) Man könnte dies unter der Voraussetzung tun, daß man un­ ter Geschichte noch immer ein „organisch fortschreitendes Gan­ zes“ [GP 6, 4] versteht, sie also mit „organizistischen Meta­ phern“ beschreibt136, wie es Hegels Texte nahelegen und wie es auch post Hegel zunächst noch eine so gängige Auffassung war, daß man sich (wie z.B. Johann Gustav Droysen in seinem Versuch einer Neubegründung der Geschichtswissenschaften) gewissermaßen darauf berufen konnte, daß „wir die Geschichte objektiv einen Verlauf von Dingen [nennen]“, den wir vor allem in Termini wie „historische[] Entwicklung“ oder „organische[r] Zusammenhang“ beschreiben137 und (wie Heinrich Rickert dann ausführte) durch den „Begriff eines allgemeinen Ganzen“, also durch einen Totalitätsbegriff, bezeichnen138. Faßt man Ge­

135 Majetschak, a. a. O., 324 Anm. 136 Ebda, 318. 137 Vgl. Johann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Me­ thodologie der Geschichte, kritische Textausgabe von P. Ley, a. a. O., 7. 138 Rickert grenzte den „Begriff des allgemeinen Ganzen, mit dem es die Geschichte zu tun hat“, bzw. die für die Geschichtswissenschaften als charakteristisch angesehene Erkenntnis des „Einzelne[n] im ,Allgemeinen‘, das heißt als Glied eines Ganzen“ (eines „historischen Zusammenhangs“ in der Bedeutung einer „Entwicklungsreihe“) idealtypisch von der abstrakten Begriffsbildung in den Naturwissenschaften ab: Ist „der allgemeine Begriff der Naturwissenschaften“ („Gattungsbegriff“) „notwendig inhaltsärmer [...] als die ihm untergeordneten Exemplare“ und nimmt er „in der Re­ gel mit dem Wachsen seines Umfangs ab“, so ist der „historische“ Totalitätsbegriff im Vergleich zu den in ihm integrierten Teilbegriffen (die im Falle der Philosophiege­ schichte unterschiedliche „Standpunkte“ des Philosophierens bezeichnen könnten) „inhaltsreicher“ und um so inhaltsreicher, je mehr Teile er umfaßt; dieser nimmt also

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schichte aber derart „organizistisch“ (und also noch immer, wie Hegel selbst, als eine Art lebendiger Natur) auf und nimmt man dann an, Hegel würde seine Philosophie in einer so verstande­ nen Geschichte lokalisiert haben, dann wäre für ihn freilich „eine Antizipation zukünftigen Geschehens“ - im Prinzip möglich gewesen: Zukünftiges hätte genau dann ,antizipiert‘ werden können, wenn es die Geschichte in einem privilegierten geschichtlichen Augenblick zugelassen hätte, das „teleologische Strukturgesetz der Geschichte“139 zu finden, von dessen Entdekkung vielleicht die Wissenschaft der Logik zeugen würde. Wenn die Logik aber dafür stehen würde, daß eben dieses „Struktur­ gesetz“ gefunden wäre, dann wären nicht nur alle zukünftigen „Gedankenbildungen“ oder Standpunkte der Philosophie (rela­ tiv zur Hegelschen Philosophie) voraussehbar gewesen. Man hätte diese „Gedankenbildungen“ dem wahrhaft Wesentlichen nach jetzt einlösen können. Zukünftiges hätte nur noch als raumzeitliche Explikation des in der Logik bereits Ausgeführten angesehen werden können, so daß zwar das Philosophieren nach einem bekannten Gesetz und also mit Notwendigkeit (und als System der Notwendigkeit) noch fortschreitet, aber die Philoso­ phie schon vor dem Ende der Geschichte vollendet gewesen wä­ re. Für diese Geschichte würde es dann nicht zutreffen, daß „die Wissenschaft“ weiterhin noch auf „höhere Standpunkte“ erho­ ben wird, wie es in der oben zitierten Passage aber heißt. Aller­ dings hat z.B. Jürgen Mittelstrass gezeigt, daß man einen weiteren Fortschritt der Philosophie über die eigene Position hinaus dann denken kann, wenn man annimmt, daß dieser von nun an in praktische Richtung - in Richtung Realisierung prak­ tischer Vernunft - verläuft, was sich allerdings um nichts weniger an die Voraussetzung bindet, daß man weiß, wie es in der Ge­ schichte einzig weitergehen kann. 2) Um nun aber Hegels These von „unsere[r] und jedes Zeit­ alters Stellung und Tätigkeit“ als eine zukunftsbezogene Be­ hauptung unter dem Aspekt aufrecht zu erhalten, daß angenom­ men werden kann, Hegel habe wenigstens mit neuen (nicht mit dem Anwachsen seines Umfangs an Inhalt zu: vgl. Heinrich Rickert, Die Pro­ bleme der Geschichtsphilosophie. Eine Einführung, dritte, umgearbeitete Auflage, Heidelberg 1924, 45. 139 So Stefan Majetschak kritisch, allerdings nur Interpreten gegenüber, die Hegel für einen teleologischen Denker halten: Die Logik des Absoluten, a. a. O., 320.

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höheren) Standpunkten des Philosophierens noch gerechnet, ist es nötig, einen anderen Weg einzuschlagen. Folgender bietet sich an. Zunächst muß man versuchen, die Hegelsche Philoso­ phie vom „Ruch eines teleologischen Vollendungsdenkens“ zu befreien140. Dies gelingt, wenn man davon ausgehen kann, Aus­ drücke wie „Fortschreiten“ (auch der Wissenschaft) bezeichneten bei Hegel lediglich ein Fortschreiten „ohne Zweck und Ziel“141, also Fortschritt nur im deskriptiven Sinn. Eine solche Auffassung ist von den Hegelschen Texte her nicht unplausi­ bel, als dieser immerhin auch der Ansicht war, das in Geschichte wirksame „Absolute“ sei auf jeder seiner Stufen „ganz da“, und somit sei auch „das Telos der Geschichte, wenn man denn von ihm reden will, [...] zu jeder bestimmten Zeit erfüllt“142. Freilich müßte man dann in der oben genannten These die Formulierung streichen, die Wissenschaft würde stets auf „höhere Standpunk­ te]“ erhoben, weil im Kontext eines Fortschreitens ohne Zweck und Ziel „natürlich keine ,vollendetere‘ oder ,wahrere‘ Stufe“ gegenüber einer bereits manifest gewordenen Gedankenbildung „denkbar ist“143. Vielmehr wäre anzunehmen, daß Hegel alle philosophischen Positionen, auch die eigene, nur als endliche, auf einem besonderen Prinzip aufruhende Gestaltungen des Denkens mit lediglich „epochaler Gültigkeit“144 angesehen ha­ ben würde. Anderslautende Ansprüche, Ansprüche auf Vollen­ dung, die sich in manchen Texten (nicht in denjenigen Hegels) finden könnten, ließen sich dann im Rückgriff auf Theoreme der Philosophie des endlichen (vor allem subjektiven) Geistes ver­ ständlich machen: Man könnte z.B. denjenigen Philosophen, die solche Ansprüche erheben, einen nächstmaligen Mangel an Ein­ sicht konzedieren, der es verhindert, daß sie das ihre Position jeweils fundierende Prinzip, das sie für das unhintergehbar all­ gemeine halten, sogleich als das erkennen und anerkennen, was es in Wahrheit ist: nämlich ein nur besonderes Prinzip. So könnte man vielleicht sagen, „daß das Denken für Hegel natürlich nicht stets Einsicht in die Besonderheit allgemein vermeinter Prinzipien nimmt“ und daß, „solange dies nicht der Fall ist, [...] 140 141 142 143 144

Ebda, 318 Anm. Ebda, 311. Ebda, 318. Ebda. Ebda, 325.

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der Schein [besteht], es sei über eine Philosophie nicht hinaus­ zugehen. Wenn dies freilich einmal geschehen ist, setzt die Ar­ beit des Begriffs in seinen ,Absolutheitsintentionen‘ neuerlich an“145. Doch läge eigentliche Philosophie nur dort vor, wo man „stets“ um die Besonderheit des Prinzips weiß, auf das Philoso­ phie jeweils aufruht und das sie mit dem Geist einer ganzen Epo­ che teilt; und wo man mithin auch stets weiß, daß keine der Phi­ losophien je die „letzte sein kann“146. Denn es ist dieses Bewußtsein „um die Besonderheit des zu einer Zeit geltenden Allgemeinen“147, das jede Philosophie nicht nur in der Zeit, son­ dern zugleich „über der Zeit“ (Epoche) stehen und nicht nur von epochaler Gültigkeit sein läßt, wenn eben auch nur in „formel­ ler]“ Hinsicht: Indem sie Einsicht in die Besonderheit des (ma­ terialen) Prinzips nimmt, das sie bestimmt, und „es nicht mehr begründungslos gelten lassen will“, steht sie „an sich“ schon für eine „weitere Bestimmtheit [...] des Geistes“, ist sie „die innere Geburtsstätte“ desjenigen (besonderen) „,Geistes, der später als Wirklichkeit auftrih““148. Schreibt man Hegel diese Ansicht zu, dann ist einerseits klar, daß weder er noch ein anderer seiner oder einer anderen Position in der Geschichte eine überragende Bedeutung im Zusammenhang eines Geschichtsprozesses zuge­ stehen kann, der ins gleichsam ,schlecht Unendliche4 (Indefini­ te) verläuft: In keiner Philosophie hat und wird sich je das Den­ ken vollenden, wobei in jeder echten Philosophie auch „stets“ gewußt wird, daß ihr nur die Aufgabe zukommen kann, „zu [...] Begründungen zu finden“, in und mit denen Menschen „die epo­ chale Konstanz ihrer subjektiven Identität ermöglicht finden können“149. Jedoch muß man andererseits dann auch annehmen, daß nicht erst bei Hegel, sondern in jeder echten Philosophie Einsicht in das ,Strukturgesetz‘ besteht (bestanden hat und be­ stehen wird), nach dem sich Geschichte immer noch macht: in das Naturgesetz, das bedingt, daß es in der Geschichte, wenn auch keine Entelechie, so aber doch Dynamik - wenn nun auch nur noch Dynamik - gibt. Sollte man die Vorzüge einer solchen HEGEL-Interpretation 145 146 147 148 149

Ebda, 324 Anm. Ebda, 325. Ebda, 326. So formuliert Majetschak mit Hegel, ebda. Ebda.

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nennen, so könnten sie darin liegen, daß man nicht nur grund­ sätzlich alle echten Denker vom „Ruch eines teleologischen Vollendungsdenkens“ befreit hätte, sondern ihnen auch ein Be­ wußtsein der Notwendigkeit zustanden hätte, nach der die Ge­ schichte abläuft, in die sie gehören. Indes: Noch immer wäre für jeden echten Denker zukünftiges Geschehen antizipierbar: Denn man weiß im Grundsatz, was bis in alle Zukunft hinein geschehen wird und wie es geschehen wird. Und man weiß vor allem dies: daß kein echter Philosoph von der Geschichte jemals eine andere Ansicht haben wird oder, falls doch, er einfach kein echter Philosoph sein wird. Nun hat Hegel, gut dokumentierbar, weder die erste noch die zweite Position vertreten. Er hat seine Philosophie nicht in einer noch nicht zu Ende gekommenen Geschichte situiert, die man „objektiv einen Verlauf von Dingen“ (Droysen) nennt. Doch was die „Antizipation“ zukünftiger Geschehnisse betrifft, so ist es, kritischer gesehen, im Grunde gleichgültig, wo man die eige­ ne Position lokalisiert: ob in oder jenseits einer Geschichte, die man so nennt, und wie man diese Geschichte versteht. Entschei­ dend ist nur, daß man sie „objektiv einen Verlauf von Dingen“ nennt. Denn dies schließt ein, daß es ein „Strukturgesetz“ zu entdecken gibt. Und wenn man dann auch noch annimmt, es zu formulieren, komme der Philosophie (und nicht etwa empirisch­ historischer Wissenschaft) zu, dann ist, wenn dieses Gesetz ent­ deckt ist, nicht nur alle Zukunft bekannt (und im zweiten Bei­ spiel des Gedankenexperiments: zu jedem beliebigen Zeitpunkt bekannt). Dann philosophiert man im Grunde schon auf dem Standpunkt einer - dem Wesentlichen nach - erfüllten Zeit: Man vermag die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft aus der Perspektive der endgültigen Zukunft zu sehen150. Ein solcher Standpunkt läßt sich begründetermaßen aber nicht einnehmen. Denn für Feststellungen, die sich auf die Zu­ kunft beziehen, können grundsätzlich nur konzeptuelle, niemals aber dokumentarische Beweise (z.B. Texte) beigebracht werden. Wie problematisch eine konzeptuelle Beweisführung ist, zeigt sich am Beispiel der Hegelschen Philosophie. Es war vor allem die Wissenschaft der Logik, die hier die Funktion eines solch konzeptuellen Beweisgrundes übernahm. Doch eben diese Wis­ 150 Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, a. a. O., 29.

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senschaft wurde zu späteren Zeitpunkten preisgegeben, nicht zuletzt dort, wo man gerade an Hegel anzuschließen und dessen Texte gewissermaßen zu retten suchte, z.B. in Theorien ge­ schichtlicher Vernunft, in denen die Hegelsche Philosophie und Philosophiegeschichtsphilosophie in eine Geschichte einge­ bettet wurde, die über diese hinaus- und in ,unsere‘ Gegenwart hineingelaufen sein soll. Diese Einbettung war nur unter Preis­ gabe des konzeptuellen Beweisgrunds möglich, auf den Hegel selbst seine geschichtsbezogenen Behauptungen stützte. Jetzt war nicht mehr Vernunft Totalitätshorizont von Geschichte, son­ dern Geschichte Totalitätshorizont von Vernunft. Verglichen mit der Hegelschen Geschichte ist dies (bei aller Strukturähn­ lichkeit) eine völlig andere Geschichte mit einer völlig anderen Vernunft darin. Es ist eben diejenige Geschichte, die über Hegels Philosophie noch hinweggegangen sein soll, von der dieser dokumentierbar weder eine Vorstellung noch gar eine Idee besaß. Nun wurde die Hegelsche Konzeption durch die späteren Theorien freilich nicht ,widerlegt‘, denn Widerlegung setzt ein gemeinsames konzeptuelles Fundament voraus, das sich für die­ se Positionen nicht ausfindig machen läßt. Und wenn man nun sagen (und genauer anzugeben versuchen) kann, daß das, was Hegel tat, für die späteren Philosophiegeschichtsphilosophen von „historischer Bedeutung“ war, so wird man aber umgekehrt auch sagen können, daß das, was die späteren Denker taten, für die Hegelsche Philosophie selbst von Bedeutung war: Es war von philosophischer Bedeutung für sie. Denn das Spätere hat sie in ihren Wahrheitsanspruch berührt: Sie wurde zur Prophetie151 - zu einem Versuch, die Dinge im Lichte aller Zukunft zu sehen, der nicht nur bis dato unbegründet blieb, sondern unbegründbar ist, jedenfalls in einer Welt, wie wir sie kennen. Hängt er seinem Geltungsanspruch nach doch ab von dem, was alle Zukunft brin­ gen bzw. in aller Zukunft, an einem vorstellbaren Ende der Zeit, der Fall sein wird. So wird man Hegel vielleicht den Vorwurf machen können,

151 Dieser Ausdruck geht auf Danto (sowie Popper) zurück. Er bezeichnet die oben erwähnten „historischen Feststellungen“ über unsere Zukunft, deren Merkmal es ist, daß sich für sie immer nur konzeptuelle, niemals aber dokumentarische Beweise vor­ bringen lassen. Vgl. Analytische Philosophie der Geschichte, a. a. O., 24 und 274ff.

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nicht bedacht zu haben, daß eine philosophische „Geschichte der Philosophie“, wie er sie intendierte, in dieser Welt nicht ein­ lösbar ist. Doch etwas anderes läßt sich ihm nicht vorwerfen: Man kann ihn nicht, wie Vittorio Hösle, unter dem Gesichts­ punkt kritisieren, daß es ihm aus konzeptuellen Gründen nicht möglich gewesen wäre, in Rechnung zu stellen, daß eine Philoso­ phie nicht nur untergegangene Zeiten begreifen, sondern auch auf die „reale Wirklichkeit der Zukunft“ Wirkung ausüben kön­ ne, wie gerade die seine es tat152. Denn hätte Hegel jene „Wir­ kungen“, die sein „Denken“ später auf die „reale Wirklichkeit der Zukunft“ ausgeübt hat (in einer fast unübersehbaren Man­ nigfaltigkeit von Rezeptionen), noch für bedeutsam halten sol­ len, dann hätte er ein erheblich schwächeres Philosophie- und Philosophiegeschichtskonzept vorlegen müssen, und jene Wir­ kungen wären niemals geschehen. Doch um diese „Wirkungen“ auch nur kennen zu können, dazu hätte Hegel eine Grenze überschreiten müssen, die Menschen aber nicht zu überschreiten vermögen: ihre Lebenszeit.

e) Historie der Philosophie: bloß „unordentliche“Anhäufung von „Meinungen“? Das „Hegelsche Denken“ hat freilich Wirkungen auf die „reale Wirklichkeit“ der Zukunft ausgeübt, auf eine Zukunft, die nicht alle Zukunft, sondern Zukunft auf dieser Erde ist. Daß diese Wirkungen ungemein vielfältig waren, weiß man im Nachhinein und im Zusammenhang eines historischen Wissens (oder Be­ wußtseins), für das in dieser Arbeit Verständnis zu erwecken gesucht wird: eines retrospektiven, auf die Zeit Rücksicht neh­ menden Wissens, in dem man zugleich dem spezifischen Sinn-

152 Im Lichte posthegelianischer Zukunftstheorien kritisiert Hösle an Hegel, nicht eingerechnet zu haben, daß die Philosophie „nicht nur eine untergehende Zeit begrei­ fen“, sondern auch auf die „reale Wirklichkeit der Zukunft“ Einfluß ausüben könne, wovon gerade die „Wirkung“, die „das Hegelsche Denken“ im 19. Jahrhundert selbst gezeitigt habe, zeuge. Dieser „Sachverhalt“ aber könne „auf der Basis von Hegels Theorie der Geschichte [...] schwerlich begriffen werden“: Vittorio Hösle, Hegels System, Bd. 2: Philosophie der Natur und des Geistes, Hamburg 1987, 448. Abgesehen davon, daß Hegels Philosophie nicht nur eine untergehende Zeit, sondern das Unter­ gehen, zumal der Macht des Prinzips Zeit, selbst begreiflich machen kann, ist es aller­ erst noch eine Frage, ob und in welchem Sinne man in bezug auf Geschichte etwas „begreifen“ kann.

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Hintergrund des in Texten Gesagten Rechnung zu tragen ver­ sucht. Eine so bestimmte Philosophiehistorie ist derjenige Kon­ text, in dem frühere Positionen in der Vergangenheit auf zeitlich spätere Positionen beziehbar werden, für die sich ein gemein­ sames konzeptuelles Fundament nicht ausfindig machen läßt. Dieser

Kontext

macht

allerdings

auch

die

grundlegenden

Schwierigkeiten erkennbar, die Philosophiegeschichtsphiloso­ phien nachgeborenen Philosophen machen: Dort, wo es Philoso­ phiegeschichtsphilosophie gibt, dort läßt sich vor allem keine offene Zukunft denken und wäre es vollkommen selbstdestruk­ tiv, würde man Nachfolger im philosophiegeschichtsphilosophi­ schen Geschäft dulden, die ein und dieselbe Philosophiege­ schichte noch einmal nach ganz anderen Prinzipien auslegen. Philosophie ist eben kein ,,beliebige[s], prämissenrelative[s] Spiel mit gleichermaßen beliebigen gedanklichen Möglichkei­ ten“. Philosophie kann mehr sein als ein solches „Spiel“. Soll sie es sein, dann wird es nötig, die bei Hegel vorliegende Auffassung von Philosophiehistorie zu revidieren - eine Auffassung, die vor allem wirkmächtig geworden ist. Walter Jaeschke hat darauf hingewiesen, daß sich derjenige, der Hegels Philosophiege­ schichtsprogrammatik verwerfe, nicht zur Behauptung des ent­ gegengesetzten Extrems nötigen zu lassen brauche, die Philoso­ phiegeschichte zerfalle dann, wie Hegel formuliert, in einen „unordentlichen Haufen von Meinungen“. Es ist nicht nur jene Alternative denkbar, derzufolge man zwischen einer philoso­ phisch-systematischen Betrachtung der Geschichte der Philoso­ phie und einer historischen Kenntnisnahme von rein Histori­ schem (Unwahrem, Zeitlichem, Vergänglichem) zu wählen hätte. Nun macht Walter Jaeschke jedoch nicht den Schritt, das bei Hegel vorliegende Verständnis von Historie zu kritisie­ ren, sondern plädiert sogleich für eine moderate empirische Theorie der Philosophiegeschichte, die dem Umstand gerecht zu werden versucht, daß nur „wenige [...] diejenige Form einer Notwendigkeit bestreiten [werden], wie sie etwa in Hegels Bei­ spiel namhaft gemacht wird, daß weder zu Platos Zeit die Schellingsche noch jetzt die Platonische Philosophie konzi­ piert werden konnte. [...] Denn solche ,Notwendigkeit‘ gehört einer historischen Voraussetzungsstruktur an, deren konkrete Gestalt eine Vielzahl von weltgeschichtlichen, religiösen, sozia­

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len und sicherlich auch logischen Aspekten einschließt“153. Die Frage ist nun aber, ob bzw. in welchem Sinne man hier noch von „Notwendigkeit“ sprechen kann. Sollte gemeint sein, daß über eine „historische Voraussetzungsstruktur“, die empirisch erho­ ben werden könnte, erklärbar wird, weshalb das, was jemand zu einem bestimmten Zeitpunkt gesagt hat, verschieden ist von dem, was ein anderer zu einem anderen Zeitpunkt gesagt hat, dann wäre freilich einzurechnen, daß Philosophien ja nicht als solche verschieden sind. In abstracto (im Denken) mögen sie klar voneinander unterscheidbare Entitäten sein. In concreto aber sind sie verschieden nur für einen Interpreten, der die ent­ sprechenden Texte liest. Wenn er sie liest, dann liest er sie in jeweils bestimmten Hinsichten und in Abhängigkeit von dem thematisch bestimmten Projekt, das er dabei selbst verfolgt. Da­ rauf hat Hegel, z. T. in harten Worten, aufmerksam gemacht: Es ist das Projekt, von dem her sich bestimmt, was überhaupt wich­ tig ist von dem, was gelesen werden kann, und wie das Wichtige beschrieben und bewertet, d. h. interpretiert wird (um dann viel­ leicht erklärt zu werden). Wenn sich nun in einer ausführlichen Historik der Philosophiegeschichtsschreibung zeigen ließe, daß Menschen selbst in philosophischen (also sachbezogenen) Pro­ jektzusammenhängen (ausgewählte) Texte stets auch in einer Perspektive lesen, die in solchen Geschichten ihren Ausdruck finden kann, für die in dieser Arbeit plädiert wird, - nämlich zu einer bestimmten Zeit im Nachhinein und in einer zeitlichen Perspektive, in der frühere Geschehnisse in der Vergangenheit auf spätere zu bezogen werden, die zum früheren Zeitpunkt nicht voraussehbar waren -, dann müßte man sagen, daß der Versuch, Geschehnisse im Zusammenhang empirischer Theorie­ bildung durch ein allgemeines Erfahrungsgesetz (eine „histori­ sche Voraussetzungsstruktur“) abzudecken, um dadurch spezifi­ sche Züge und Eigenschaften dieser Geschehnisse erklärbar zu machen, ein solch historisches Wissen, d. h. die Kenntnis von Gelesenem in einem temporalen Zusammenhang, voraussetzt. Denn allererst in ihm entsteht ein historischer Gegenstand, der nicht schon mit den Texten selbst gegeben ist (da die Vielheit gerade der Philosophiegeschichtsphilosophien Zweifel erweckt, es könnte Geschichte geben, als deren Bestandteile die Texte zu 153 Walter Jaeschke, Einleitung, a. a. O. XXVI.

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werten sind); den aber auch keine Theorie selbst geben kann154, jedenfalls keine, die aus Texten nicht lediglich herausliest, was einem bestimmten Rahmenkonzept von Geschichte zufolge in ihnen stehen muß. Dieser Gegenstand wird in Beziehung zu zeit­ verschieden entstandenen Texten im Zusammenhang eines Wis­ sens erzeugt, das sich umgekehrt proportional dazu verhält, daß Menschen nicht wissen können, was in Zukunft geschehen wird - und es deshalb nicht wissen können, weil es für sie (und ihre Projekte) eine Grenze gibt, die sie nicht überspringen können. Diese Grenze ist die Zeit.

f) Die Zeit als Grenze Das Philosophieren, so ließ sich im Verhältnis der Hegelschen Philosophie zu späteren Theorien der Geschichtlichkeit zumin­ dest plausibel machen, hat an der Zeit seine Grenze, und nicht umgekehrt. Die Zeit ist ein Negativprinzip menschlicher End­ lichkeit. Menschen leben und philosophieren in der Zeit: in einer noch nicht zu Ende gekommenen Zeit, zu einer bestimm­ ten Zeit, und sie haben, sterblichkeitsbedingt, immer viel zu we­ nig Zeit. So ist für sie die Zeit zumeist schon dafür „zu kurz“, um auch nur die zweieinhalbtausendjährige Arbeit des Weltgeistes vollständig oder proportioniert auseinander zu legen. In jedem Falle aber ist sie zu kurz, um begründet voraussagen zu können, was in Zukunft anerkannte Philosophen als Philosophie aner­ kennen werden. Es ist nicht sicher, daß sich das (vorrationale) Welt- und Selbstverständnis der Menschen nicht ändert, das ab­ hängig von bestimmten Erfahrungen zu sein scheint, die in einer Welt zu machen sind, in der es, jedenfalls für sie, den ,Schicksalszufalk gibt: Das, was durch uns nicht änderbar ist, erhält in ihm bestimmten Sinn. Es entscheidet, wie die Welt im Inneren auf­ gebaut ist: ob sie Schöpfung eines Gottes ist oder eher ein sich selbst regulierendes System; ob ein organisches Ganzes oder eher ein Artefakt; ob eine widrige Natur beherrscht werden muß oder „betrachtet“ werden kann; ob staatliche Organisatio­ 154 Vgl. Hans Michael Baumgartner, Erzählung und Theorie in der Geschichte, in: J. Kocka/Th. Nipperdey, Theorie und Erzählung in der Geschichte, München 1979, 259-289, insbes. 262. Dabei kann es „mit Bezug auf dasselbe Objekt“ aber mehrere Theorien geben, die den „verschiedensten empirischen Wissenschaften entnommen werden“ und sich zueinander „alternativ verhalten“ können [ebda].

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nen verändert werden müssen oder akzeptiert werden können; was überhaupt im menschlichen Leben wichtig, was unter Ver­ nunft zu verstehen und was vernünftig ist, - und sei es, daß man, mit Platon, entscheidet, daß Philosophen als Philosophen mit der Welt, aus der sie als Menschen kommen und in der sich das „gemeine Leben“ abspielt, nicht mehr Zusammengehen dürfen und der Blick nun vordringlich auf eine andere, intelligible Welt zu richten ist, die der ersten Sinn und Zusammenhang gibt. So resultiert denn die Annahme, Geschichte der Philosophie sei gleichsam eine Art Natur, im Grunde nur aus der Schwierig­ keit, nicht anerkennen zu können, daß „Vernunft“ ein vieldeuti­ ger Ausdruck ist - so vieldeutig, daß man das, was man darunter verstehen kann, (nach einem Kantischen Ausdruck) gar nicht ,aus Vernunft erfinden‘ kann; und daß er deshalb vieldeutig ist, weil das Subjekt der Philosophie nicht die Vernunft selbst oder auch nur der Mensch nach einem seiner möglichen Begriffe ist, sondern ein endliches und sterbliches Vernunftwesen, das unter schicksalhaften Bedingungen auf der Erde zu existieren genötigt ist und in den Ausdruck „Vernunft“ immer auch noch seine Hoffnungen legt. Wenn man dies aber akzeptieren kann, dann ist nicht nur die philosophische Vergangenheit offen und macht vielfachen (historischen und nicht-historischen) Sinn, sondern auch die philosophische Zukunft. Dann kann angenommen wer­ den, daß es auch künftig noch Philosophien geben wird, in die existenziell bedeutsame Erfahrungen Eingang finden und auf höchstem Reflexionsniveau verarbeitet werden. Und dann wird man die endgültige Geschichte der Philosophie, die man kritisch betrachtet nicht schreiben kann, auch nicht schreiben wollen.

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IV. Teleologische Vernunft Kant und die Geschichte der Philosophie 0. Vorbemerkung 0.1 Nähe zu Hegel? Einen der ersten Versuche, die endgültige Geschichte der Philo­ sophie zu konzipieren, und zwar noch bevor sie an ihr Ende ge­ kommen ist, hat nun derjenige unternommen, dessen Denken auf die „reale Wirklichkeit der Zukunft“ einen so großen Ein­ fluß ausgeübt hat, daß man ihn rückwirkend immer wieder neu und anders in Betracht gezogen hat, z.B. als erzählenden Histo­ riker oder auch als spekulativen Philosophiegeschichtsphiloso­ phen: Immanuel Kant. Zu Beginn des dritten Teils der Arbeit ist angedeutet worden, daß Hegels Geschichtsphilosophie (im weitesten Sinne des Worts) als Nachfolgekonzeption der Kantischen Programma­ tik von philosophischer Geschichtsschreibung angesehen wer­ den kann. Denn schon Kant war der Auffassung, so wurde ge­ sagt, daß sich die Weltgeschichte, also der Bereich menschlicher Taten und Begebenheiten überhaupt, „unter Ideen“ bringen und als ein sich (im Sinne von Entwicklung) dynamisch entfaltendes „System“ darstellen läßt1, und daß dies auch und mehr noch in bezug auf die Philosophiegeschichte gelingen kann, die erstmals er mit ,Vernunftentwicklung‘ in Verbindung brachte [vgl. KrV, B 880ff.]. Ferner ist darauf hingewiesen worden, daß in den Kantischen Geschichtsphilosophien das Erkenntnisideal exak­ ter Naturwissenschaften („Kepler“), die Angabe eines Ent­ wicklungsziels, das auf dem Gebiet menschlicher Taten und Be­ gebenheiten eine genuin praktische Bedeutung haben mußte, sowie das „Theodizee“-Motiv eine Rolle spielten. Die komplexe

1 Vgl. den in geschichtsphilosophischer Hinsicht programmatischen Aufsatz Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht.

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Verknüpfung der Dimensionen theoretischer, praktischer und (letztlich religiös motivierter) teleologischer Vernunft, die die Kantische Geschichtsphilosophie charakterisiert, soll im fol­ genden unter besonderer Gewichtung des Themenkomplexes „Geschichte der Philosophie“ erhellt werden. Vergleicht man zunächst nur Kants Programmatik einer „philosophischen“ [LB, 341]2 oder „philosophierenden Ge­ schichte der Philosophie“ [LB, 340] mit derjenigen Hegels, so läßt sich, zumindest auf den ersten Blick, eine verblüffende Strukturähnlichkeit feststellen: Denn es zeigt sich, daß bereits Kant für sich in Anspruch genommen hat, nun endlich zum „wahren Prinzip[] der ganzen Philosophie in einem System“ ge­ langt zu sein [MS, AVI], das die Philosophie zur Wissenschaft macht. Deshalb hat es denn „vor dem Entstehen der kritischen Philosophie [...] noch gar keine [Philosophie] gegeben“ [ebda; Z. v.V.]. Gegeben hat es nur „verschiedene Arten zu philoso­ phieren, und zu den ersten Vernunftprinzipien zurückzugehen, um darauf, mit mehr oder weniger Glück, ein System zu grün­ den“ [ebda]. Nun kann es, „da es doch, objektiv betrachtet, nur Eine [.] Vernunft geben kann, [.] auch nicht viel Philosophien geben, d. i. es ist nur Ein wahres System derselben aus Prinzipien möglich“ [ebda]. Und möglich ist dieses System erst heute, und zwar aus folgendem Grund: Zunächst kann das „Eine wahre Sy­ stem“, d.h. Philosophie als Wissenschaft, nicht „stückweise zu­ sammengebracht werden“ [Prol., A 194]. Philosophie als Wis­ senschaft zu etablieren, setzt vielmehr voraus, daß man sich über das „wahre[] Prinzip[] der ganzen Philosophie“ klar gewor­ den ist - über die „echte Idee“ der Philosophie (oder die Philo­ sophie als Idee), die (wie ein „Keim“) in der Vernunft selbst an­ gelegt ist [vgl. KrV, B 860ff.]. Die Möglichkeit, sich dieser Idee ,bemächtigen‘ zu können [vgl. KrV, B XLIV], setzt indes seiner­ seits voraus, daß „viele Versuche“ [MS, A VI], ein System zu gründen, unternommen worden sind. Denn diese Idee liegt zu­ nächst, „wie ein Keim, in der Vernunft, in welchem alle Teile noch sehr eingewickelt und kaum der mikroskopischen Beob­ 2 Der Ausdruck „eine philosophische Geschichte der Philosophie“ findet sich bereits im Zusammenhang mit den Prolegomena, und zwar auf dem Ersten Bogen eines Ent­ wurfs zum Anhang Probe eines Urteils über die Kritik, das vor der Untersuchung vor­ hergeht, abgedruckt in: I. Kant, Prolegomena, hrsg. von Karl Vorländer, Hamburg 1969,164.

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achtung kennbar, verborgen liegen“ [KrV, B 862]. Die System­ bildungsversuche tragen zu deren Entwicklung bei. Mithin „mußte [es] viele Versuche dieser Art“ geben [MS, A VI; Z.v. V.], damit sich bezeichnete Idee - und zwar in jetziger Zeit (und in Büchern) - in „hellerem Licht“ zeigen und darüber hin­ aus in einer philosophischen Grundwissenschaft, einer Kritik der reinen Vernunft (KrV), vollständig „präformiert“ werden konn­ te. Gab es nun aber bisher noch keine Philosophie, sondern nur „verschiedene Arten zu philosophieren“ (und, in deren Rah­ men, „viele Versuche“, ein System zu gründen), so lassen sich diese „Arten“ und Versuche in der Philosophie, die es jetzt gibt, rückwirkend in ihren besonderen Vernunftstrukturen transpa­ rent machen. Sie können als Weisen der Realisierung bestimm­ ter Systemsphären zur Geltung gebracht werden, die in der Ver­ nunft angelegt, nach (besonderen) „Ideen“ strukturiert [vgl. KrV, B 863] und in ihrer Besonderheit Bestandteile eines umfas­ senderen systematischen Ganzen sind: nämlich der (zurücklie­ genden) Geschichte der Philosophie. Philosophisch gesehen ist diese nach jener „Idee im Ganzen“ [KrV, B XLIV] gegliedert (und hat sich ihr gemäß entfaltet), der man sich jetzt hat ,bemächtigen‘ können. So liegt das (normativ) Besondere der neuen, „wahren“ und einzig möglichen Philosophie nicht zuletzt darin, daß diese das, was ihr vorausging, aus sich selbst heraus transparent zu machen vermag: nach dem Leitfaden der KrV3 (wie bei Hegel später nach dem der Logik) und somit „in trockenen Formeln“ (be­ grifflich), „von allem Empirischen entkleidet“, „wie es einer Transzendentalphilosophie geziemt, [...] obgleich die ganze Pracht der Vernunftbehauptungen [vormaligen Philosophierens] nur in Verbindung mit demselben hervorleuchten kann“ [vgl. KrV, B 491; Z.v. V.]. Daß letzteres der Fall ist, verweist dar­ auf, daß die Geschichte zwar eine intelligible Infrastruktur, aber (als Geschichte) auch immer noch ein empirisches Gepräge hat: Verschiedene Individuen haben zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten ein System zu gründen versucht, so daß immer auch noch ein historisch-empirisches Vorgehen nötig ist. In dessen Kontext ist festzustellen, daß es „gar lange[r] Zeiten“ [vgl. KrV, B 863] bedurfte, bis „jene[] Einheit [...] der ganzen 3 Vgl. den Brief an K. Morgenstern vom 14. 8. 1795, AA XII, 36.

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Philosophie in einem System“ erreichbar war [MS, A VI]. Aus philosophischer Perspektive aber deutet alles darauf hin, daß diese Einheit schon in der Geschichte war, daß die Geschichte Prozeß der Entwicklung einer Idee und, da diese Idee wie ein „Keim“ in der Vernunft angelegt ist, Prozeß der „Entwickelung der [...] Vernunft“ [LB, 340; KrV, B 862f.] selbst gewesen ist, an dessen Ende es - jetzt - zugleich möglich wird, einen „Versuch der Vereinigung“ der bedeutsamsten Behauptungen zu unter­ nehmen [KrV, B 453], die sich an die vormaligen „Arten zu phi­ losophieren“ der Zeit nach knüpften und der Idee nach grund­ sätzlich knüpfen müssen. Und so ist denn auch bei Kant das Verhältnis zwischen „alter“ und neuer („wahrer“) Philosophie als spiegelbildliches Abbild-Verhältnis bestimmt: Was jetzt in die Einheit des Systems zusammengenommen werden kann, of­ fenbarte vormals Einheit nicht, wenngleich der Philosoph die Einheit darin entdecken und die Philosophiegeschichte als die „Geschichte [...] der sich aus Begriffen entwickelnden Ver­ nunft“ zur Geltung bringen kann [LB, 343]. So enthält die KrV nicht nur den Vorriß zum wahren System der Philosophie (Metaphysik), sondern auch den Umriß („Plan“) der zurückliegenden Philosophiegeschichte. Sie fun­ diert mithin eine „philosophische Geschichte der Philosophie“, mit der wiederum die Philosophiegeschichtsschreibung über­ haupt ihre systematische Vollendung erfährt. Sie gehört ab jetzt zur Philosophie, ist ein besonderer „Theil der Philosophie“ [LB, 343] (d. h. des in der KrV begründeten philosophischen System­ gefüges [vgl. KrV, B 880]) und also wirkliche Wissenschaft ge­ worden. Nicht länger tritt sie daher nur als eine rein historische Lehre (als eine klassifizierende Kenntnis einzelner Systeme) oder als eine empirische Wissenschaft („historische Vorstellung der Philosophie“ [LB, 340]) auf. Philosophiehistorie und -empi­ rie sind Teile der „Gelehrsamkeit“ („der Geschichte der Ge­ lehrsamkeit überhaupt“ [LB, 343]). Als solchen fehlt ihnen das „Auge der Philosophie“. D. h. selbst die Empirie ist „zyklopisch“ [vgl. Logik, A62], sie hat keine Ideen. Deshalb bleiben denn Empiriker auch stets bei der sinnlichen Oberfläche des ge­ schichtlichen Ganzen stehen und skizzieren lediglich den „empi­ rischen Weg“4, auf dem das Philosophieren jeweils bis heute 4 Brief an K. Morgenstern, a. a. O., 36.

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fortgegangen ist. Da sie aber von einer Vernunftentwicklung keine Vorstellung haben, vermögen sie die Systeme nie ange­ messen zu beurteilen. Anstatt sie als Teile eines sich in Raum und Zeit dynamisch entfaltenden Systems, der Geschichte der Philosophie, und damit als etwas zu verstehen, das Bezug auf Wahrheit hat (auf Wahrheit zumindest im formallogischen Sinne einer widerspruchsfreien Verbindung in einem System), halten sie sie für den Ausdruck reiner (vollkommen willkürlich erzeug­ ter, zusammenhangloser) Meinungen und bieten darum, der Geltung nach, auch nie mehr, als nur eine „Geschichte der Meynungen[,] die zuf[ä]llig hier oder da aufsteigen“ [vgl. LB, 343]. Die Strukturanalogien zum Hegelschen Konzept sind (je­ denfalls bei oberflächlicher Betrachtung) frappant, und sie las­ sen sich vermehren: Auch Kant versuchte sich nämlich an einer Gegenwartsdiagnose, wobei er die Situation, in der die neue, erstmals als Wissenschaft auftretende Philosophie einsetzt, ähn­ lich wie Hegel (in der Differenzschrift) beschreibt: Geprägt sei das gegenwärtige Zeitalter durch einen „gänzlichen Indifferen­ tismus“ [KrV, A X], d.h. durch eine radikal gewordene Gleich­ gültigkeit der philosophischen Wissenschaft (Metaphysik) und damit auch der Wahrheit gegenüber, der sich auf alle „gelehrte Völker“ erstrecke [vgl. Prol., A 191]: Die sich in und als Meta­ physik artikulierende „Vernunftforschung“ liege völlig brach. Bewiesen werde dieser Zustand z.B. dadurch, daß nur noch „die alte Einrichtung der Universitätsstudien“ den „Schatten“ der Metaphysik erhalte und nur „eine einzige Akademie der Wissenschaften [...] dann und wann durch ausgesetzte Preise“ dazu bewege, den einen oder anderen „Versuch darin zu machen“5; „unter gründliche Wissenschaften“ werde sie aber nicht mehr gezählt [Prol., A 191]. Möge man „selbst urteilen, wie etwa ein geistreicher Mann, den man einen großen Meta­ physiker nennen wollte, diesen wohlgemeinten, aber kaum von jemandem beneideten Lobspruch aufnehmen würde“ [ebda]. Dabei ist schon für Kant ein bedeutsames Merkmal dieser Si­ 5 Eben diese Akademie, die „Königliche Akademie der Wissenschaften zu Berlin“, hatte sich 1791 selbst des Themas ,Philosophiegeschichte‘ angenommen, als sie die Preisfrage aussetzte: „Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolf[f]s Zeiten in Deutschland gemacht hat?“ Wie die drei unvoll­ endet gebliebenen Manuskripte der sogenannten Preisschrift zeigen, hatte Kant vor, sich an dieser Ausschreibung zu beteiligen.

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tuation, daß es jetzt Gelehrte gibt, „denen die Geschichte der Philosophie (der alten sowohl als der neuen) selbst ihre Philoso­ phie ist“ [Prol., A 3]. An die Stelle der Versuche, Philosophie als Wissenschaft zustande zu bringen, ist also die historische, genau­ er: die empirische Bezugnahme auf Philosophie bzw. Philoso­ phiegeschichte getreten. Doch Empirie ist nicht Philosophie, we­ nigstens nicht „reine“, sondern „empirische Philosophie“ [KrV, B 868]. Reine Philosophen schöpfen nämlich „aus den Quellen der Vernunft“, Empiriker dagegen aus ,Daten‘ (empirischer An­ schauung, deren Gehalt im gegebenen Fall aus Büchern stammt). Weil dies ihr Kennzeichen ist, müssen sie denn auch „warten“, bis „diejenigen, die aus den Quellen der Vernunft selbst zu schöpfen bemüht sind, ihre Sache werden ausgemacht haben, und alsdann wird an ihnen die Reihe sein, von dem Ge­ schehenen der Welt Nachricht zu geben“ [Prol., A 3]. Nun könnte man diese Strukturanalogien zwischen Kantischem

und Hegelschem Konzept noch einmal zum Ausgangs­

punkt nehmen, um eine notwendige Entwicklung der Vernunft oder des philosophischen Denkens von Kant zu Hegel zu be­ haupten - wenn man mögliche Unterschiede der Konzepte ein­ rechnet, aber den Sachverhalt ausblendet, daß die Feststellung solcher Analogien auf einen Interpreten zurückgeht, der an aus­ gewählten Texten (recht willkürlich) ein thematisch bestimmtes Interesse hat. Indes wäre eine solche Behauptung auch von Kant her insofern gar nicht unplausibel, als dieser der Ansicht war, daß „diejenigen, die aus den Quellen der Vernunft selbst zu schöpfen bemüht sind, ihre Sache“ erst noch auszumachen hat­ ten: D. h. das, was er selbst getan und der Öffentlichkeit zugäng­ lich gemacht hatte, wollte er einer „allgemeine[n] Prüfung“ erst noch unterwerfen [Prol., A 193]. Schon Fichte hatte solch zu­ kunftsbezogene Aussagen Kants so interpretiert, als habe die­ ser nur erst die „Propädeutik zur Transscendental-Philosophie, nicht das System dieser Philosophie selbst liefern wollen“6. Und auch nach Fucien Braun kennzeichnen Vollendungsintentio­ nen erst den späten Kant. Wenn man nun annehmen könnte, daß Kant damit gerechnet hat, daß das von ihm initiierte Pro­ jekt einer Kritischen Vernunftphilosophie einer „allgemeine[n]

6 Vgl. dazu Kants Erklärung in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre, AA XII, 370f.

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Prüfung“ noch nicht ganz standhalten würde und eine weitere „Entwicklung“ des philosophischen Denkens, die er aus Alters­ gründen nicht selbst mehr herbeiführen konnte, möglich, ja viel­ leicht sogar notwendig war, dann läge es nicht allzu fern, das Hegelsche „System der reinen Vernunft“ (die Wissenschaft der Logik) als das Endresultat einer Entwicklung zu deuten, die (in einer letzten Epoche) mit Kants „System der reinen Vernunft“ (der Kritik der reinen Vernunft) einsetzt und über Fichte, Rein­ und Schelling zu Hegel läuft. Kants Bestimmung, die Philosophiegeschichte sei „die Geschichte der [...] sich aus Be­ hold

griffen entwickelnden Vernunft“, wäre dann nicht mehr bloß der Titel für eine auf die Kritische Philosophie beschränkte Pro­ grammatik von philosophischer Philosophiegeschichtsschrei­ bung, sondern eine wahre, zumal spekulative Aussage über das Wesen des Philosophiegeschichtsverlaufs - derart, daß die Kritik der reinen Vernunft darauf angelegt war, sich noch weiterzuent­ wickeln zu einer Wissenschaft der Logik. Erst mit dieser wird dann Kants Prinzip „synthetischer Einheit der Apperzeption“ zum „Begriff“ und die Vernunft selbst zur „Idee“ erhoben, wäh­ rend „Idee“ bei Kant noch für etwas steht, das (wie die „echte Idee“ von Philosophie) z. B. in der Vernunft angelegt ist. Ist aber „Idee“ hier noch „Idee von irgendetwas“ (wie Hegel formu­ liert), dann war es Kant freilich unmöglich, in der Ausführung der Philosophie streng systematisch vorzugehen. Er mußte noch (wenn man es denn so nennen will) „geschichtlich“ zu Werke gehen. Eine solche Vernunftentwicklungsgeschichte ließe sich kon­ struieren, ein solch systematischer Zusammenhang zwischen zeitverschiedenen Philosophien stiften - mit einigen Anhalts­ punkten in den Kantischen Texten selbst. Konstruierte man sie, dann wäre freilich das Erstaunlichste an der Kantischen Philosophie diese Prophetie gewesen: daß zeitlich später tat­ sächlich geschah, was freilich geschehen mußte, wenn die Philo­ sophiegeschichte Vernunftentwicklungsgeschichte ist. Da nun allerdings das Telos in einer vollendeten Transzendentalphilo­ sophie bestanden hätte, die zugleich ontologischer Gottesbeweis und Darstellung Gottes ist, hätte sich Kant in einer Hinsicht allerdings über den Gang der Verhältnisse getäuscht. Er war nämlich nicht in der Lage vorauszusehen, daß der Endzustand der Vernunftentwicklung, den auch er mit der Vorstellung eines

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Reichs Gottes auf Erden in Verbindung brachte, schon so nahe herbeigekommen war. So wäre Kant ein Prophet gewesen, der sich beträchtlich im Zeitpunkt geirrt hätte, an dem das Eschaton wahr werden würde - ein Schicksal, das er aber mit allen großen Propheten der jüdisch-christlichen Tradition teilt, die sozusagen noch nicht der Messias selbst waren. Würde man eine solche Vernunftentwicklungsgeschichte kon­ struieren, dann ergäbe sich allerdings die Schwierigkeit, daß die­ se Konstruktion nicht vereinbar wäre mit Geschichtskonstruk­ tionen des im zweiten Teil der Arbeit umrissenen Typs. Im Kontext neuerer Theorien der Geschichtlichkeit deutet die Kantische Bestimmung von Philosophiegeschichte (sie sei „Geschichte [...] der sich aus Begriffen entwickelnden Ver­ nunft“) auf eine ganz andere Geschichte hin: auf den über Hegel noch hinausführenden, bis in ,unsere‘ Gegenwart hinein­ reichenden Entwicklungsprozeß einer Vernunft,

die unver­

brüchlich in das Medium der Geschichte, insbesondere der Phi­ losophiegeschichte gehört. Zugleich wird dabei angenommen, nicht erst Hegel habe das logische „Ich“ zum „Begriff“ und die Vernunft zur „Idee“ erhoben, sondern bereits Kant (insbeson­ dere der späte Kant7), aber mit der Modifikation, daß diese Ver­ nunft nun unverbrüchlich subjekthaftes Substrat von Geschichte ist. Es stellt sich also die Frage, wie es sich mit der Kantischen Philosophie und Philosophiegeschichtsphilosophie eigentlich verhält. Im folgenden wird nun in erster Linie zu zeigen sein, daß sich in den Texten Kants freilich keine Anhaltspunkte für die Annahme finden, er sei der Ansicht gewesen, daß über die Kritische Philosophie hinaus Philosophien wie die Fichtesche, Reinholdsche, Schellingsche oder Hegelsche oder auch Theorien geschichtlicher Vernunft noch hätten entstehen müs­ sen. Kant war weder ein beredter, noch war er der still­ schweigende Prophet, als der er in den späteren Philosophie­ geschichtsphilosophien - in derjenigen Hegels ebenso wie in den bezeichneten Theorien geschichtlicher Vernunft - zur Gel­ tung kommt. Denn hier wird die Kritische Philosophie jeweils als Teil eines entwicklungslogischen Zusammenhangs gedeutet, in dem, zumindest im Prinzip, alle zukünftigen Geschehnisse7 7 Lucien Braun, Geschichte der Philosophiegeschichte, a. a. O., 225.

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voraussehbar sind. Tatsächlich aber gehen KANT-Interpretatio­ nen, die von einer Vernunft- oder subjektivitätsontologisch fun­ dierten, monistischen Philosophie- und Philosophiegeschichts­ programmatik abhängig sind, wie sie Hegel und die späteren Theoretiker favorisieren, im Grundsatz fehl. Trotz der Struktur­ analogien nämlich, die sich zwischen Kantischer und späteren Konzeptionen feststellen lassen - und sich deshalb feststellen lassen, weil es sich insgesamt um (im weitesten Sinne) teleologi­ sche Konzeptionen handelt8 - ist Kant überhaupt keiner moni­ stischen, geschweige denn einer subjektivitätsontologisch fun­ dierten

monistischen

Philosophieprogrammatik

verpflichtet.

Kant ist weder ein Systemdenker in diesem Sinn, noch läßt er sich als Vorläufer eines solchen Denkens zur Geltung bringen. Es ist also weder triftig, ihn als einen ,geschichtlich‘ vorgehenden Psychologen zu bezeichnen (wie Hegel es tut), noch ist er ein spekulativer Philosophiegeschichtsphilosoph gewesen, der eine ,vernünftige‘ Philosophiegeschichte hätte ,begreifen‘ wollen (wie Hermann Lübbe und Lucien Braun annehmen), noch war er ein methodisch reflektierter spekulativer Philosophiege­ schichtsphilosoph, der sich zur Rekonstruktion einer häufig miß­ verstandenen Tradition aufgefordert gesehen hätte (wie Jürgen Mittelstrass meint). Daß KANT vor allem kein spekulativer Philosophiegeschichts­ philosoph war, zeigt sich bereits in einem ersten Zugang zur Thematik. Deutlich wird nämlich, daß der Kritische Philosoph in der zurückliegenden Philosophiegeschichte auf Anhieb über­ haupt keinen Fortschritt (im normativen Sinn) erkennen kann. Die Kritische Philosophie setzt sich nicht nur radikal von den vormaligen „Arten zu philosophieren“ ab. Sie behauptet auch, daß zuvor nicht ein einziger, zu ihr hinführender Fortschritt er­ zielt worden ist:

„Ich bitte die gelehrten Männer um Vergebung, deren Schriften mir in anderer Absicht genutzt und immer zur Kultur der Gemütskräfte beige­ tragen haben, weil ich gestehe, daß ich weder in ihren noch in meinen geringeren Versuchen [...] habe finden können, daß dadurch die Wissen­ schaft im mindesten weitergebracht worden, und dieses zwar aus dem 8 So sagt die zu Anfang gegebene Skizze der Kantischen Philosophiegeschichtsphi­ losophie auch nur aus, daß es sich um ein teleologisches Konzept handelt, nichts aber darüber, was in ihm das Wesentliche war, welchen Status und Sinn die zitierten Be­ hauptungen haben.

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ganz natürlichen Grunde, weil die Wissenschaft noch nicht existierte und auch nicht stückweise zusammengebracht werden kann, sondern ihr Keim in der Kritik vorher völlig präformiert sein muß“ [Prol., A193f.]. Wenn Kant für die Philosophiegeschichte Einheit und Konti­ nuität behauptet und sie als einen Fortschrittsprozeß - als den raumzeitlichen Prozeß sich entwickelnder Vernunft - bestimmt hat, so ist angesichts solcher Aussagen auf den ersten Blick nicht zu erkennen, wie dies der Fall sein könnte.

0.2 Die Interpretationsschritte Die folgende Auseinandersetzung dient der Klärung dieser Frage. In einem ersten Hauptabschnitt (1.) wird zu zeigen sein, daß und wie sich Kants „philosophierende Geschichte der Philosophie“ in drei Schritten realisiert, entsprechend der in der KrV umrissenen teleologischen Aufstufung der Vermögen theo­ retischer Vernunft, Urteilskraft und praktischer Vernunft. Nach dem Leitfaden der KrV sollte die Philosophiegeschichte ab­ gefaßt werden, die Kant näherhin bestimmt als: Geschichte des erfahrungsunabhängigen („reinen“) und diskursiven „Ge­ brauchs“ der menschlichen Vernunft (i. w. S.)9 „nur [...] nach Be­ griffen“, der sich in vorkritischer Zeit an drei „Denkungsarten“ („Arten zu philosophieren“) bindet. Diese werden von (materia­ len)

„Maximen“

her charakterisiert,

d. h.

von praktischen

Grundsätzen, die (auf zu bezeichnende Weise) einer „Neigung“ Rechnung tragen, welche Menschen als Vernunftwesen haben und zwar gemäß jener „Natur“, die Kant der menschlichen Ver­ nunft vindiziert hat. Welch herausragende Bedeutung die von Kant vorgenommene Naturalisierung der Vernunft (der menschlichen Vernunft) für das hier interessierende Thema ,Philosophiegeschichte‘ hat, sollen nun folgende Unterabschnit­ te zeigen: Ein erster Unterabschnitt (1.1) macht deutlich, daß Kant das vorkritische Philosophieren, wie es in Raum und Zeit Gestalt angenommen hat (und durch Texte, „Bücher“, doku­ mentierbar ist), weder unmittelbar mit Vernunft i. e. S. - sei es

9 Die Kürzel „i. w. S.“ (= im weiteren Sinne) sowie „i. e. S.“ (= im engeren Sinne) wer­ den im folgenden gebraucht, um engere und weitere Verwendungsweisen eines Aus­ drucks zu unterscheiden.

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mit theoretischer, sei es mit praktischer Vernunft bzw. entspre­ chenden Ideen - in eine positive Verbindung gebracht hat, noch jemals so, wie es in (monistischen) Konzeptionen geschieht, die Vernunft anstatt für ein menschliches Vermögen für ein intelli­ gentes Wesen halten, in dem sich zumal theoretische, praktische und teleologische Dimension des Denkens unmittelbar ver­ knüpfen (bei Primat der Spekulation). Läßt sich in der Kriti­ schen Philosophie in bezug auf das Geschehene niemals ein Zu­ sammenhang im Sinne einer als Fortschritt zu wertenden Entwicklung (Ideen- oder Vernunftentwicklung) erkennen, so läßt es die Programmatik der Kantischen Philosophiege­ schichtsphilosophie im ersten Schritt auch nicht zu, das Gesche­ hene wenigstens so zu interpretieren, als ob es in einem solchen Zusammenhang stünde. Vielmehr war das Geschehene in einem ersten Schritt, wie ein zweiter Unterabschnitt (1.2) zeigen soll, un­ ter sachlichem Rekurs auf die Materie der vorkritischen Maxi­ men sowie (in subjektiver Rücksicht) unter Bezugnahme auf Anschauung und Verstandesprinzipien (Kategorien) nur erst (theoretisch) als ein mechanisch bewegtes Ganzes zur Geltung zu bringen: als ein spezifisches Reich der „Sinne“ und des „Ver­ standes“ selbst, das Menschen in einem neigungsbestimmten Vernunftgebrauch erzeugen. Die zurückliegende Philosophie­ geschichte ist so das Objektrelat einer Philosophiegeschichts­ philosophie, die zuerst als eine (auf basal praktischem Gebiet angesiedelte) rationale Naturmetaphysik, als „philosophische Archäologie“, auftritt. Weitere Unterabschnitte verfolgen dann den Weg, auf dem Kant die Vernunft i. e. S. ins Spiel gebracht hat - zunächst theoretische, dann praktische Vernunft bzw. ent­ sprechende Ideen, von denen sich ,mutmaßen‘ ließ, daß sie in der „Natur“ der menschlichen Vernunft (i. w. S.) als „Zwecke“ (Finalgründe) keimhaft angelegt sind: Ein dritter Unterabschnitt (1.3) thematisiert den zweiten Schritt in der Philosophiege­ schichtsphilosophie, ihre Aufstufung zu einer Art Naturteleolo­ gie, die, wie ein vierter Unterabschnitt (1.4) deutlich machen soll, in der Bezugnahme auf das schon Geschehene nun dasjenige Lebewesen in den Blick bringt, das für Kant - im Unterschied zu allen in dieser Arbeit zuvor behandelten Denkern - Ursprung und Urheber (Subjekt), zentrales Thema sowie Endzweck aller Wissenschaften ist: In den Blick rückt nicht irgendeine Vernunft, sondern der Mensch, genauer: der „Denker unter den Men­

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sehen“ (kollektiv gesehen) als ein Wesen, das in vorkritischer Zeit zwar nach materialen Maximen, aber eben doch Maximen agiert, der Mensch also als ein zugleich frei denkendes und han­ delndes „Wesen der Willkür“, das in gegeneinander isolierten „Schulen“ Philosophie in jeweils anderem Verständnis als Wis­ senschaft zu etablieren versucht. Die Kantische Philosophiege­ schichtsphilosophie unterläuft diese partikularen und willkürli­ chen Zwecksetzungen und verbindet sie final miteinander sowie mit der Kritischen Philosophie. Vom „Zweck“ (Finalgrund), der diese Verknüpfung erlaubt, nimmt Kant an, er sei in der Natur des theoretischen Erkenntnisvermögens, das nunmehr wie ein „organisierter Körper“ beurteilt wird, als Naturzweck angelegt. Bezogen werden alle Denkweisen final auf die „Grundidee“ einer „Philosophie der spekulativen Vernunft“, die in der Kri­ tischen Philosophie als „Metaphysik der Natur“ neu fundiert wird. Jetzt kann die Philosophiegeschichte als der (in die Gegen­ wart hineinlaufende) Prozeß der durch diskursiven Vernunftge­ brauch evozierten Entfaltung dieser Idee, mithin als Prozeß der ,Auswicklung‘ des theoretischen Erkenntnisvermögens selbst beurteilt werden oder, allgemeiner, als Prozeß der Erzeugung einer geistigen, Welt, die zweckmäßig eingerichtet ist (Geschich­ te quasi als organische Natur). In dieser Zweckmäßigkeit gibt es aber keinen wirklichen (End-)Zweck, den, als Endzweck allen Vernunftgebrauchs, allein praktische Vernunft zu erkennen ge­ ben kann. Endzweck ist die „Weisheit, als die Idee vom gesetz­ mäßig vollkommenen praktischen Gebrauch der Vernunft“10, und, philosophiespezifisch, die praktische Idee von Philosophie als Weisheitslehre. Auf „Weisheit“ orientiert der „kritische Weg“, der den vorkritischen Weg revolutioniert. Diese „Revo­ lution“ wird in einem fünften Unterabschnitt (1.5) beschrieben, während in einem sechsten Unterabschnitt (1.6) dann die Grund­ programmatik der Kantischen Philosophie überhaupt erläutert wird: (praktische) „Weisheit, aber durch den Weg der Wissen­ schaft“. In diesem Zusammenhang soll zugleich nachgewiesen werden, daß es sich dieser Programmatik verdankt, daß zur Kritischen Philosophie von Anfang an eine „philosophierende Geschichte der Philosophie“ hinzugehören sollte, und daß es mithin auch kein Zufall ist, daß die KrV unmittelbar (in ihren 10 Anthropologie in pragmatischerHinsicht, A 122.

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Vorreden) mit einer philosophierende Kurzgeschichte der bis­ herigen „Bearbeitungen“ der „Natur“ des menschlichen Er­ kenntnisvermögens einsetzt und mit der (fluchtpunktartigen) Grundlegung einer philosophierenden Geschichte der Philoso­ phie endet [KrV, B 880ff.]. Das Ganze vorkritischen Philosophierens ist für Kant aber nur ein Bestandteil der alle Vergan­ genheit,

Gegenwart

und

irdische

Zukunft

umfassenden

Philosophiegeschichtstotalität. D.h., die Kritische Philosophie versteht sich selbst - dem „Weltbegriff“ von Philosophie gemäß - als Bestandteil der „Welt“ („Erdenwelt“) und insbesondere als Bestandteil einer Philosophiegeschichte, die noch nicht (und z. T. noch lange nicht) vollendet ist. Vollendet ist sie weder, was die vollständige Ausführung des Systems der Philosophie (Wis­ senschaft), noch was die „Weisheit“ betrifft. Weil diese Ge­ schichte noch lange nicht zu Ende ist, besitzt die Philosophie­ geschichtsphilosophie in der Kritischen Philosophie, so soll hier behauptet werden, einen besonderen Stellenwert11: Sie wird in grundlegend „praktischer Absicht“ konzipiert und dient dem weiteren Fortschritt der „Denker unter den Menschen“ zu „sitt­ licher Vollkommenheit“12. In einem siebten Unterabschnitt (1.7) wird dann der dritte Schritt in der Kantischen Philosophie­ geschichtsphilosophie thematisiert: ihre im Medium reflektie­ render Urteilskraft erfolgende weitere Aufstufung zu einer Art Physikotheologie, deren Objektrelat jetzt die ganze (Vergangen­ heit, Gegenwart und alle irdische Zukunft umfassende) Philoso­ phiegeschichte ist. Im Lichte „machthabender“ praktischer Ver­ nunft (welche zugleich als „Stimme Gottes“ anzusehen ist) leistet Philosophiegeschichtsphilosophie als Physikotheologie eine „Auslegung“ (oder „Interpretation“) der Philosophie­ geschichte sozusagen „von oben“ herab, d. h. aus einer Perspek­ tive heraus, die die göttliche Weisheit oder „Vorsehung“ in einer Geschichte deutlich werden läßt, welche der Mensch zwar her­

11 Im folgenden soll deshalb der Ansicht widersprochen werden, Kant habe der Ge­ schichte „[...] nicht dieselbe prinzipielle Bedeutung zugesprochen“ wie Hegel: Dies meint z. B. Otfried Höffe in seinem Art. Immanuel Kant, in: Ders. (Hrsg.), Klassi­ ker der Philosophie II, München 1981,7-39, 30. Vgl. zur großen Bedeutung, die neben einer „Kritik der Vernunft“ für Kant gerade eine „Kritik der [...] Geschichte“ besaß z.B. Nachlaßreflexion 1998. 12 Vgl. Mutmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte, A 13. Von solchem Theorem der Perfektibilität wird sich Hegel später absetzen.

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vorbringt, aber auf einer Basis (eben der „Natur“ seiner Ver­ nunft), die er nicht selbst gemacht hat. Der physikotheologischen Interpretation zufolge hat die „Natur“ in ihm „gewollt“, daß er nicht bloß Organisationen des Wissens (insbesondere Me­ taphysik), sondern vor allem Organisationen der Freiheit aus sich herausbringe. Freiheit wird bereits manifest in der Einrich­ tung von ,Gemeinwesen‘ nach Prinzipien des Rechts. In einem achten Unterabschnitt (1.8) wird der philosophische Rechtszu­ stand skizziert, den Kant mit der KrV hauptsächlich begründen wollte und dem - als äußere Bedingung moralischen Fortschritts - alle irdische Zukunft der Philosophie gehören sollte. Ausge­ hend von dort wird in einem neunten Unterabschnitt (1.9) noch einmal der Blick auf die vorkritische Philosophie gelenkt, die im ersten Schritt nur erst unter theoretischen und im zweiten unter naturteleologischen Gesichtspunkten vorgestellt wurde: Nun läßt sich begründen, weshalb Kant die vergangene Geschichte stets als einen argumentativen „Stand der Natur“ oder des „Un­ rechts“ verständlich zu machen, diesem aber zugleich immer auch noch den Sinn abzugewinnen versuchte, als habe sich die „Natur“ selbst eines in der Spaltung vorkritischen Philosophierens zum Ausdruck kommenden „Mechanismus“ („in den menschlichen Neigungen“13) als einer Gelegenheitsursache be­ dient, um die Menschen dahin zu bringen, Organisationen der Freiheit zu installieren, mit denen sich zunehmend ihr „intelligibler Charakter“ offenbart: ihr Vermögen zu einer Kausalität der Freiheit. Ein zehnter Unterabschnitt (1.10) bietet eine kurze Zusammenfassung der Kantischen Programmatik von philoso­ phischer Philosophiegeschichtsschreibung, während ein zweiter Hauptabschnitt (2.) dann diejenigen zwei Dispositionen von Philosophiegeschichtsschreibung thematisiert, von denen sich die „philosophierende Geschichte der Philosophie“ vor allem aus praktischen Gründen abzusetzen sucht: empirische „Ge­ schichtserzählung“ und bloße Historie der Philosophie. Diese Dispositionen werden jedoch nicht preisgegeben, sondern an die Philosophie angebunden, deren abstrakter Entwurf der ganzen Philosophiegeschichte ebenso der Konkretion durch „Nachrich­ ten“ (vor allem „Bücher“) bedarf, wie er die Erfahrung zu seinem

13 Vgl. zu dieser Gedankenfigur im allgemeinen KU, B 367 f., im besonderenz. B. Zum ewigen Frieden, B 65f.

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unaufhebbaren Ausgangspunkt hat und (immer auch noch) so­ wohl zur Grenzbestimmung der Erfahrung als auch zur Erweite­ rung des Erfahrungswissens dienen sollte14. Ein dritter Haupt­

(3.) befaßt sich mit problematischen Aspekten des Kantischen Verständnisses von Geschichte und Geschichts­

abschnitt

schreibung überhaupt.

0.3 Als Leitfaden Kant war der Ansicht, daß derjenige, der auf eine „Reise“ geht, zur Orientierung einen „Plan“ oder „Leitfaden“ haben müsse, damit er nicht ,herumtappe‘. Es ist möglich, in der KrV einen Leitfaden ausfindig zu machen, der es erlaubt, Kants Konzept von Philosophiegeschichtsschreibung, das in seiner Besonder­ heit von ihm selbst eher beiläufig reflektiert worden ist, gleich­ sam gradlinig zu ,durchwandern‘. Die enorme Komplexität dieses Konzepts aber läßt es als sinnvoll erscheinen, der Orien­ tierung halber folgendes noch vorauszuschicken: Theoretische, naturteleologische und physikotheologische Dimension der Kantischen Philosophiegeschichtsphilosophie sind als jeweils „transzendentale Steigerungen“ dieser besonderen philosophi­ schen Wissenschaft sowie als spezielle, aufeinander aufbauende Explikate der von Kant als teleologia rationis humanae [KrV, B 867] bezeichneten und in der KrV umrissenen „natürlichen Gedankenfolge“15

zu verstehen,

die in der Philosophiege­

schichtsphilosophie als Leitfaden dienen sollte. Diesem Leitfa­ den gemäß - welcher selbst, wie sich zeigen wird, nur den Status einer „bloßen Gedankenform“ hat, d. h. lediglich begrifflich­ trockene Formeln“ enthält, die (u.a.) in der Philosophiege­ schichtsphilosophie „realisiert“ werden (wie Kant es nennt) hat die Geschichte folgenden dynamischen Aufbau: Der Syste­ matik nach schreitet man von den Vernunftgebrauchsebenen Sinnlichkeit und Verstand (vorkritische Philosophie) über die für die Kritische Philosophie selbst maßgebliche Ebene der Ur­ 14 Der Entwurf bleibt theoretisch ein Forschungsprogramm: Er bietet eine Regel für historisch-empirische Forschung, teleologische Zusammenhänge zu suchen, wobei da­ mit gerechnet werden muß, „daß, wo wir einen teleologischen Zusammenhang (nexus finalis) erwarteten, ein bloß mechanischer oder physischer (nexus effectivus) angetrof­ fen werde“: Vgl. dazu KrV, B 715f. 15 Brief an K. Morgenstern, a. a. O., 36.

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teilskraft zur Ebene praktischer Vernunft, damit zugleich (der Zeit nach) von der Vergangenheit über Gegenwart und nähere (irdische) Zukunft zur endgültigen (jenseits der Geschichte lie­ genden) Zukunft fort. Mit dieser Konzeption wird der Sache nach behauptet: Der Philosophiegeschichtsprozeß hebe an bei der Erden- oder Sinnenwelt als der Sphäre der Notwendigkeit im speziellen Sinne eines Philosophierens unter Gesetzen der Natur (Verstand), was in praktischer Hinsicht zugleich für einen Zustand von „Unrecht“ und „Krieg“ in einem bestimmten Ge­ meinwesen steht; er führe von dort über den Umschlag, den der „kritische Weg“ sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht mit sich bringt, zum Rechtszustand (als System äußerer Freiheitsverhältnisse) und einem „ewigen Frieden“ in der Philo­ sophie (im juridischen Sinn), der wiederum (eschatologisch-apokalyptisch) Ausblick gibt auf die Umwandlung der „Erdenwelt“ in eine „andere“, „intelligible Welt“, die wir theoretisch „nicht kennen“ [vgl. Fakult., A 118], die vielmehr nur durch fortgesetz­ te praktische „Realisierung des [...] transzendenten Begriffs der Freiheit“ [vgl. KpV, A 169] wirklich wird: nämlich auf die Um­ wandlung in ein „Reich der Sitten“ [Fakult., A 118] oder „der Zwecke“ („sowohl der vernünftigen Wesen als Zwecke an sich, als auch der eigenen Zwecke, die ein jedes sich selbst setzen mag“ [GMS, B 75]) - eine Verbindung nicht nur aller Denker, sondern aller Menschen unter Tugendgesetzen. So ist die Philosophiegeschichte, dem „Primat“ der praktischen Vernunft entsprechend, basal als eine „Geschichte der Freiheit“ konzipiert, als ein „Fortschreiten zu sittlicher Vollkommenheit“ auf philosophischem Terrain, das den Erwerb von Wissen (Kenntnissen und Einsichten) sowie die Bildung des Talents, ge­ schickt (zweckrational) vorzugehen (d. h. „Kultivierung“), eben­ so einschließt wie die der Klugheit im Umgang miteinander (d. h. „Zivilisierung“). In ihrem Zentrum steht der Mensch, der sich spezifischem Nachdenken („nur aus Begriffen“) verschrieben hat - ein „animal rationabile“, das aus sich ein „animal rationale“ allererst noch machen muß16. Daß der philosophierende Mensch in Kantischer Perspektive zunächst nur als ein animal rationa­ bile auftritt, läßt sich auch wie folgt umschreiben: Der Mensch „ist“ zuerst nur eine „Erscheinung“ [KrV, B 580], wie Kant im 16 Vgl. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, A 315.

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Grundsätzlichen formuliert, d. h., er „[erscheint] unter willkürli­ chen Handlungen [...]“ [KrV, B 581], die der Verwirklichung eines bloß durch „Bedürfnis“ und „Neigung“ bestimmten Zwekkes dienen, wie es (auf zu bezeichnende Weise) bei den vorkriti­ schen Versuchen, Philosophie als Wissenschaft zustandezubrin­ gen, in der Tat der Fall ist. Solche Handlungen sind selbst Erscheinungen, die „durch und durch mit anderen Erscheinun­ gen [.] im Zusammenhang“ stehen, aber nur „nach beständigen Naturgesetzen“ und als „Glieder einer einzigen Reihe der Natur­ ordnung“ [KrV, B 567]. Freilich kann der Mensch mehr sein als nur eine „Erscheinung“ (ein „empirischer Charakter“). Denn er besitzt ein „intelligibles Vermögen“ zu einer Kausalität in der Sinnenwelt, d. h. praktische Vernunft, welche die „beharrliche Bedingung aller willkürlichen Handlungen“ ist, unter denen der Mensch „erscheint“ [KrV, B 581]. Der Mensch „hat“ also einen „intelligiblen Charakter“ [KrV, B 579], der den Bedingungen „al­ les Veränderlichen“

[KrV, B 568], „der Sinnlichkeit“ [KrV,

B 581], insbesondere der „Zeitform, und mithin auch den Bedin­ gungen der Zeitfolge“ [KrV, B 579], nicht unterworfen ist, und es ist seine Bestimmung, ein solcher Charakter zu „sein“17. Die Kritische Philosophie bringt die Philosophiegeschichte als Prozeß der Überformung des empirischen durch den intelligi­ blen Charakter zur Geltung: als „allmälige Entwicklung der“ primär praktischen - „menschlichen Vernunft“ [LB, 340] oder als eine spezielle „Geschichte der Freiheit“ in diesem Sinn, wie sie im erfahrungsunabhängigen diskursiven Vernunftgebrauch („nur nach Begriffen“) raumzeitlich manifest wird. Ist Philoso­ phiegeschichte aber gleichsam als eine bestimmte ,Vernunftgebrauchsentwicklungsgeschichte‘ (Vernunftgebrauchsteleologie) zu verstehen, dann zugleich so, daß sie „nicht auf dem empiri­ schen Wege fortgegangen seyn oder auch angefangen haben“ kann [LB, 340]18. Daß Kant indes auch die Geschichten der phi­ losophieexternen Wissenschaften (z. B. Logik, Mathematik, em­ pirischen Naturwissenschaften) als Freiheitsgeschichten deutet, wird im folgenden ebenso wenigstens am Rande anzumerken 17 Vgl. zum ,Sein‘ und ,Haben‘ eines Charakters: Ebda, A 266 (auch ff.). 18 Freilich kann das Philosophieren auch unter dem Gesichtspunkt der Etablierung der Philosophie als Wissenschaft „nicht auf dem empirischen Wege fortgegangen seyn oder auch angefangen haben“. Doch liegt bei Kant, wie deutlich zu machen sein wird, in der praktischen Dimension des Philosophierens dessen perenner Grundzug.

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sein, wie dies: a) daß Philosophie- und Wissenschaftsgeschichten integrale Bestandteile der Weltgeschichte sind, die nicht minder basal als Freiheitsgeschehen bestimmt wird; und b) daß die Phi­ losophiegeschichte - und nur sie - den Aufbau der Weltgeschich­ te auf transparente Weise abspiegelt. Es läßt sich durchaus sa­ gen, daß bereits hier die Philosophiegeschichte als das ,Innerste‘ der Weltgeschichte verstanden worden ist (wie Hegel später formuliert). Welt-, Wissenschafts- und Philosophiegeschichte stehen indes nur für ,,Geschichte[n] der Freiheit in ihrem Fortgange“, wie Kant es nennt19. D. h., in jedem dieser Fälle bleibt in der philo­ sophischen Thematisierung von Geschichte die erste „Entwikkelung der Freiheit aus ihrer ursprünglichen Anlage in der Natur des Menschen“20, die „gänzliche Rohigkeit“ des Menschen als einem bloß „tierischen Geschöpf“21, außen vor. So wird die Be­ trachtung der Weltgeschichte erst dort aufgenommen, wo der Mensch „schon einen mächtigen Schritt in der Geschicklichkeit getan hat, sich seiner Kräfte zu bedienen“22, wo er also längst dem „Gängelwagen des Instinkts“ entronnen und zur „Leitung der Vernunft“, mithin in den „Stand der Freiheit“ und der „Menschheit“ wenigstens insoweit übergegangen ist23, daß er nicht nur nach (Natur-)Gesetzen „wirkt“, sondern selbstbe­ stimmt, nach praktischen Prinzipien (Maximen), handelt [vgl. GMS, B 36]. Die Philosophiegeschichte beginnt (innerhalb der Weltgeschichte) allerdings erst dort, wo man selbst über „Ge­ bräuche“ schon hinausgegangen ist, die von einem in kultureller Hinsicht noch „rohen Zustand der Völker“ [vgl. KrV, B 880] ebenso zeugen wie von einem in politischer Hinsicht vorstaatli­ chen Zustand „despotischer Barbarei“ [vgl. KrV, AIX], d. h. der Gewalt, ohne Gesetz und Freiheit. Denn erst danach gibt es so

19 Vgl. Mutmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte, A 2. 20 Ebda. Geschichten der Freiheit sind, was den „ersten Anfang“ dieser Entwicklung betrifft („so fern ihn die Natur macht“), auf „Mutmaßungen“ gegründet, die zur An­ thropologie, der „empirischen Philosophie“ auf praktischem Feld [vgl. dazu Prol., A 183; auch GMS, B III ff.] gehören. Was aber den „Fortgang“ der Freiheit angeht, so gründen sie sich auf „Nachrichten“: Mutmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte, A 2. 21 Ebda, A 3. 22 Ebda, A4. 23 Ebda, A12f.

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etwas Philosophie, die von gewissem philosophischem Interesse ist. Nun wird freilich in bezug auf die Philosophiegeschichte vor­ ausgesetzt, daß die „Natur“ den denkenden Menschen „längst von fremder Leitung“ (in Gestalt von Instinkt) „freigesprochen“ hat, so daß er von sich selbst „verlangen]“ kann, „zu kennen[,] was er hat lehren sollen u[nd] ob er das geleistet hat“ [LB, 343]24. Tatsächlich aber steht dieselbe Geschichte in philosophisch-kri­ tischer Perspektive eher für das Gegenteil: dafür nämlich, daß der denkende Mensch bis dato noch kein Lehrer, sondern nur erst ein ,Schüler‘ war, ein animal rationabile, das der „Leitung“ noch bedurfte und diese auch bekam. Er bekam sie (noch ein­ mal) durch die „Natur“, nicht aber durch die ihm als Vernunft­ wesen „fremde“ physische Natur, von deren Leitung durch In­ stinkt er längst freigesprochen war, sondern durch die „Natur“ in seiner eigenen Vernunft. So wird sich im folgenden letztlich zeigen, daß es weder nötig, noch aber auch möglich ist, die Kantische Philosophiege­ schichtsphilosophie im Kontext Hegelscher oder durch Hegel inspirierter Theorien zu interpretieren. Es ist nicht nötig, weil sie einen noch immer hinreichend verständlichen Eigensinn besitzt, der (unter bestimmten Gesichtspunkten) durchaus aktuell sein kann, und also Sinn im Lichte eines emphatisch aktuellen Ver­ ständnisses von Philosophie, Vernunft und Geschichte nicht erst produziert werden muß. Eine hegelianisierende Deutung ist

24 „Die Philosophie ist“, so Kant, „gleich als Vernunftgenius anzusehen[,] von dem man verlangt zu kennen[,] was er hat lehren sollen u[nd] ob er das geleistet hat“ [LB, 343]. Durch den Ausdruck „Vernunftgenius“ wird das (im folgenden zu skizzierende) theoretisch-praktische Ideal eines Philosophen bezeichnet, dem man sich anzunähern hat. Lucien Braun hat seine Interpretation des späten Kant, der in eine „metaphy­ sische Sichtweise“ hineingeraten sein soll, an dieser „Vernunftgenius“-Passage in den Losen Blättern festgemacht. Es läßt sich nun gut zeigen, woraus eine spekulative KANT-Interpretation resultieren kann: Im gegebenen Fall verdankt sie sich einfach einem Lese-, vielleicht auch Übersetzungsfehler: Nach Braun wird beim späten Kant die „Vernunft zu einer Art Vernunftgenius, der sich entfaltet, der seine Sendung er­ kennt“, und in diesem Sinn „zum Subjekt einer Entwicklung in der Zeit“ (Geschichte der Philosophiegeschichte, a. a. O., 229). Bei Kant selbst aber ist nur „die Philosophie“, nicht aber die Vernunft selbst, „[...] gleich als Vernunftgenius anzusehen“. Brauns Interpretation ist durch Hegel inspiriert (der z. B. in seiner „Anthropologie“ die Me­ tapher „Genius“ verwendet, vgl. Enzyklopädie (1830), § 405). Doch ist weder Hegels, noch Brauns subjektivitätsontologischer Ansatz als Interpretationsrahmen zur Erhel­ lung der Kantischen Philosophie geeignet.

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aber auch nicht möglich, wenn es darum gehen soll, die Texte Kants zu interpretieren. Denn Hegel und die bezeichneten Theoretiker geschichtlicher Vernunft gingen erneut in Richtung ,Philosophie als spekulativem Vernunftsystem‘, anstatt in Rich­ tung ,Philosophie als praktischer Weisheitslehre‘ - obwohl das Mittel, dessen sich die Kritische Philosophie bediente, um das Philosophieren zukunftsbezogen in die letztere Richtung zu len­ ken, gerade das einer (Selbst-)Kritik reiner spekulativer Vernunftphilosophie

gewesen

ist.

Philosophiegeschichtsphilosophie

in

Kants

Philosophie

spekulativen

und

Kontexten

Hegelscher Provenienz zu interpretieren, bedeutet mithin, daß in den Kantischen Texten ausgelassen werden muß, was derartigen Interpretationsrahmen von eben diesen Texten her nicht zuletzt auch in argumentativer Hinsicht - selbst „tödlich“ wäre25. Dem kritischen Potential der Kantischen Philosophie­ geschichtsphilosophie ist die folgende Auseinandersetzung ge­ widmet.

1. Schritte in der Kantischen Philosophiegeschichtsphilosophie 1.1 Vorkritische Philosophie a)

Die alten „Arten zu philosophieren“

Es war Kants Ansicht, so wurde gesagt, daß es bislang nur „ver­ schiedene Arten zu philosophieren“, nicht aber Philosophie als Wissenschaft gegeben habe. Anders aber als z.B. bei Hegel schließt diese Auffassung nicht ein, daß es bisher nicht gelungen sei,

ein geschlossenes System zu etablieren.

Denn gerade

Christian Wolfe, der nach Kant der Programmatik einer rein aus Vernunft entspringenden Philosophie verpflichtet war, zeig­ te, zu welch systematischer Vollendung jene „Vernunftfor­ schung“ fähig ist, die in dieser Absicht von Platon inauguriert worden ist: die Metaphysik. Und doch erscheint die PlatonWoLFF-Tradition des Philosophierens in Kantischer Perspekti­ ve weder als die einzig mögliche, noch als überlegene Tradition. Denn es gab auch noch Aristoteles und Epikur, also die empi-

25 Vgl. Karl Jaspers, Geschichte der Philosophie, in: Ders., Einführung in die Philo­ sophie, a.a.O., 106.

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ristische Philosophietradition, die schließlich in das System Lockes einmündete26, und darüber hinaus die Skeptiker (und zuletzt Hume), die auf methodische Weise stets „die Grund­ lagen aller Erkenntnis“ zu untergraben suchten, „um wo mög­ lich, überall keine Zuverlässigkeit und Sicherheit derselben üb­ rig“ zu lassen [KrV, B 451] und Erkenntnis nur noch der Historie, jedenfalls einem „[]spekulationsabstinenten Positivis­ mus“27 zu überlassen. Somit vermochte aber offensichtlich keine dieser Philosophieprogrammatiken jemals alle „Denker unter den Menschen“ zu überzeugen, sondern, parteibildend, immer nur einige zu ,überreden‘. Die vorkritische Philosophie, die sich in Kantischer Perspek­ tive dadurch auszeichnet, daß man Philosophie nur in Erkennt­ nisabsicht betrieb (also der theoretischen Vernunft den Primat einräumte), ohne dem Philosophieren jemals eine kritische Un­ tersuchung des ganzen Erkenntnisvermögens vorangehen zu las­ sen, wird von Kant im „Geschichte der reinen Vernunft“ beti­ telten Schlußabschnitt der KrV denn auch wie folgt eingeteilt28: Da gibt es erstens die (nach Kant) ursprüngliche Traditionslinie reiner Vernunftphilosophie („Dogmatismus der reinen Ver­ nunft“29) und zweitens die Tradition des Empirismus, der bei Epikur als „reiner Empirismus“ auftritt [vgl. KrV, B 493 f.]. Ra­ tionalismus und Empirismus zeugen Kant zufolge davon, daß die Vernunft bis heute „mit sich selbst entzweit“ war [KrV, A XII] - eine Entzweiung, die den Skeptizismus verständlich macht, d. h. die immer wiederkehrenden Phasen einer indiffe­ renten Grundhaltung jeglicher eigenständiger menschlicher Er­ kenntnisleistung gegenüber, handele es sich nun um Metaphysik oder um Empirie [vgl. KrV, B 434], „reine“ oder „empirische Philosophie“. Die beiden parallel nebeneinander her laufenden Traditions­ linien rationalistischen und empiristischen Denkens weisen nun 26 „Alle Philosophie aber ist entweder Erkenntnis aus reiner Vernunft, oder Vernunft­ erkenntnis aus empirischen Prinzipien. Die erstere heißt reine, die zweite empirische Philosophie“ [KrV, B 868]. 27 Vgl. Odo Marquard, Weltanschauungstypologie. Bemerkungen zu einer anthropo­ logischen Denkform des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, in: Ders: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt/M. 1982,110. 28 Vgl. zum folgenden: KrV, B 880ff. 29 Im folgenden wird „Dogmatismus der reinen Vernunft“ der Deutlichkeit halber zumeist als „Rationalismus“ bezeichnet.

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je für sich Entwicklungen auf, die, der Grundeinteilung des theo­ retischen Erkenntnisvermögens entsprechend, über folgende Ebenen laufen: ,,[...] alle menschliche Erkenntnis [fängt] mit Anschauungen“ - oder der Stufe der Sinnlichkeit - „an, geht von da zu Begriffen“ - oder zum Verstand - „und endigt mit Ideen“ - oder mit der Vernunft i.e.S. [KrV, B 730], Da Philoso­ phie jedoch ein Vernunft- und selbstreflexives Unternehmen ist, werden die „Denkungsarten“ von Kant als problemorientierte Weisen der Erwägung von drei grundlegenden Fragen beschrie­ ben, die sich auf diesen Ebenen stellen - Fragen, die in den un­ terschiedlichen Traditionen unterschiedlich, in jedem Falle ohne weitere Begründung, beantwortet werden (so daß man sich, dezisionistisch, für die eine oder andere „Denkungsart“ entschei­ den muß [vgl. KrV, B 884]). Die ersten beiden Fragen stellen sich auf der Ebene von Sinnlichkeit und Verstand (auf der Ebene des empirischen Vernunftgebrauchs bzw., reflektiert, auf der der Ontologie): Es handelt sich um die Fragen 1) nach dem „Gegen­ stand“ und 2) nach dem Ursprung aller unserer Erkenntnis. 3) sind Methodenfragen zu beantworten - Fragen, welche der Form nach die Systembildung und der Materie nach das Pro­ blem betreffen, wie sich und auf welchem Weg sich „in Anse­ hung der erhabensten Fragen“ etwas ausrichten läßt, welche die „Aufgabe“ (den „Zweck“) der Metaphysik ausmachen [KrV, B 883] (sie liegen auf gleich näher zu bezeichnende Weise auf der Ebene der Vernunft im engeren Sinne). Ad 1) Im Hinblick auf die erste Frage teilten sich die Schulen von vornherein in Intellektual- und Sensualphilosophen: Waren die ersteren (wie zuerst Platon) der Ansicht, allein „intelligible“ Gegenstände seien wahre Erkenntnisgegenstände, wobei sie die Möglichkeit zu „eine[r] Anschauung durch den von kei­ nen Sinnen begleiteten [...] reinen Verstand“ einräumen und den Verstandesbegriffen zugleich „mystische“ Realität zuschrei­ ben mußten, so behaupteten die zweiten (und vor allem Epi­ kur),

„in den Gegenständen der Sinne sei allein Wirklichkeit,

alles übrige sei Einbildung“, wobei sie gleichwohl noch mit „in­ tellektuellen Begriffen“ (Verstandesbegriffen) rechneten, die­ sen aber nur „logische Realität“ zugestanden [KrV, B 882]. Ad 2) Mit Bezug auf die zweite Frage nach dem Ursprung aller unserer Erkenntnisse waren die einen (wie zuerst wiederum Platon, zuletzt Leibniz) Noologisten, die ausschließlich in der

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Vernunft deren Ursprung sahen, die anderen (wie zuerst Ari­ stoteles,

zuletzt Locke) Empiristen, denen zufolge alle Er­

kenntnisse aus Erfahrung entsprangen. Ad 3) In Hinsicht auf die Methode unterscheidet Kant szientifische Verfahrensweisen von naturalistischen. Letztere folgen dem „Grundsatz“, „daß durch gemeine Vernunft ohne Wissen­ schaft [...] sich in Ansehung der erhabensten Fragen [...] mehr ausrichten lasse“ als auf kunstgerechte („scholastische“) Weise [KrV, B 883]. Dieser auf Grundsätze gebrachten „Misologie“ steht das kunstgerechte, szientifische, systematische und entwe­ der (vor allem nach Wolfe) dogmatische oder (nach Hume) skeptische Verfahren gegenüber. Nun behauptet Kant, daß gerade in der rationalistischen Schule geleistet worden ist, was in der Metaphysik zu leisten ist:

„Die Metaphysik hat zum eigentlichen Zwecke ihrer Nachforschungen nur drei Ideen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit [...]. Alles womit sich diese Wissenschaft sonst beschäftigt, dient ihr bloß zum Mittel, um zu diesen Ideen und zu ihrer Realität zu gelangen. Sie bedarf sie nicht zum Behuf der Naturwissenschaft, sondern um über die Natur hinaus zu kommen“ [KrV, B 395 Anm.]. Den Nachweis zu erbringen, ob Gott existiert, der Wille frei und die Seele unsterblich ist30, fundiert vor allem im entwickelten Rationalismus, so bei Wolfe, die drei metaphysischen Spezial­ disziplinen einer rationalen Psychologie, rationalen Kosmologie und rationalen Theologie. Allerdings finden sich diese drei Wis­ senschaften auch in der Schlußgestalt des Empirismus, bei Locke, dessen System Kant gleichsam als das sinnliche Schema des entwickelten rationalistischen Systems versteht. Die Sy­ steme von Wolfe und Locke werden als unterschiedliche Realisate der einen Metaphysik aufgefaßt, die sich nach Kant unveränderlich gliedert: in eine „Ontologie“ oder „Transzenden­

30 In dieser Reihenfolge steht die Ordnung der Ideenbegriffe dafür, daß der „zweite Begriff mit dem ersten verbunden, auf den dritten, als einen notwendigen Schlußsatz, führen soll“. Diese Ordnung ist die systematische oder „synthetische“. Für die auf der Ebene einer Kritik der menschlichen Vernunft erfolgende Bearbeitung der Ideen, die der „systematischen Vorstellung jener Ideen“ vorhergehen muß, „wird die analyti­ sche, welche diese Ordnung umkehrt, dem Zweck angemessener sein, um, indem wir von demjenigen, was uns Erfahrung unmittelbar an die Hand gibt, der Seelenlehre, zur Weltlehre, und von da bis zur Erkenntnis Gottes fortgehen [...]“ [KrV, B 395 Anm.].

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talphilosophie“ genannte Wissenschaft und in die drei genannten besonderen Metaphysiken [vgl. KrV, B 873 f.]31. Transzendentalphilosophie oder Ontologie ist im allgemeinen

„ein System aller Verstandesbegriffe und Grundsätze, aber nur, so fern sie auf Gegenstände gehen, welche den Sinnen gegeben und also durch Erfahrung belegt werden können [...]. Sie berührt nicht das Übersinn­ liche, welches doch der Endzweck der Metaphysik ist, gehört also zu dieser nur als Propädeutik, als die Halle, oder der Vorhof der eigentli­ chen Metaphysik und wird Transzendental-Philosophie genannt, weil sie die Bedingungen und ersten Elemente aller unserer Erkenntnis a priori enthält“ [PS, A 10]32. Nach Kant ist in diesem System nun „seit Aristoteles’ Zeiten nicht viel Fortschreitens gewesen“, wenigstens nicht in inhaltli­ cher Hinsicht [PS, A 11]. Denn man war, offensichtlich, der An­ sicht, daß der „Stoff“ dieser Wissenschaft durch ihn bereits voll­ ständig „erschöpft“ worden sei [vgl. PS, A 12], da man in der Folgezeit die Prädikamente lediglich tradierte, die Aristoteles (nach Beschreibungen Kants) auf eine typisch empiristische Weise aufgefunden hatte: nämlich durch Auflösung des „sehr vermischten Gewebes der menschlichen Erkenntnis“ [vgl. KrV, B 117] (im Sinne der „gemeinen Erfahrung“), das reine sowohl als empirische Begriffe enthält33. Denn eben dies ist Ontologie 31 Daß zu diesen noch eine „Metaphysik der körperlichen Natur“ hinzugehört, darauf wird später noch ausführlicher zurückzukommen sein. 32 Vgl. zu Kants Auffassung von Transzendentalphilosophie und Ontologie: Peter Baumanns, Kants Begriff der transzendentalen Erkenntnis in der ,Kritik der reinen Vernunft“. Versuch einer Richtigstellung, in: Hans-Dieter Klein/Johann Reikersdorfer (Hrsg.), Philosophia perennis. Erich Heintel zum 80. Geburtstag, Teil 1, Frankfurt/M. 1993, 91-100. 33 Aristoteles hat also in Kantischer Perspektive die Kategorien bloß „zusammen­ getragen“ [vgl. Prol., A 118], was Hegel später unter ,Naturhistorie‘ rubriziert. Indes war nicht erst Hegel, sondern schon Kant der Ansicht, nun endlich ein System der Verstandesbegriffe geliefert zu haben. In Prol., A 117 ff. kontrastiert Kant den Weg des rhapsodistischen oder aggregativen Aufsammelns der Kategorien mit dem Weg ihrer systematischen Begründung: Es könne „einem Philosophen nicht[s] erwünschter sein, als wenn er das Mannigfaltige der Begriffe und Grundsätze, die sich ihm vorher durch den Gebrauch, den er von ihnen in concreto gemacht hatte, zerstreut dargestellt hatten, aus einem Prinzip a priori abzuleiten, und alles auf solche Weise in eine Er­ kenntnis vereinigen kann. Vorher glaubte er nur, daß, was ihm nach einer gewissen Abstraktion übrig blieb, und, durch Vergleichung unter einander, eine besondere Art von Erkenntnissen auszumachen schien, vollständig gesammelt sei, aber es war nur ein Aggregat, jetzt weiß er, daß gerade nur so viel, nicht mehr, nicht weniger, die Erkennt­ nisart ausmachen können, und sahe die Notwendigkeit seiner Einteilung ein, welches ein Begreifen ist, und nun hat er allererst ein System“ [117 f.]. Es war das Prinzip des

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in empirischem Verständnis: Auflösung der Erkenntnis in die a priori im Verstand liegenden Begriffe - eine Wissenschaft, die der „Grammatik“ ähnelt, welche „die Auflösung einer Sprachform in ihre Elementarregeln“ ist, oder auch der „Logik“, wel­ che „eine solche [Auflösung] von der Denkform ist“ [PS, A 11; Z.v.V.]. Was man in Aristotelischer Nachfolge in der Onto­ logie dann noch unternahm, betraf nun nicht etwa eine klare Bestimmung der „Grenzen“ dieser Wissenschaft [vgl. KrV, B 870ff.]. Denn man hatte, so Kant, „die ganz eigentümliche Natur“ der reinen Begriffe a priori „nicht begriffen“ [KrV, B 870], d. h. war sich nicht im klaren darüber, daß sie einen gänz­ lich anderen Ursprung haben als Erfahrungsbegriffe. Vielmehr sollten sich die reinen von den empirischen lediglich durch den höheren Grad der Allgemeinheit unterscheiden [vgl. KrV, 871 f.]. (Deshalb waren denn auch in der traditionellen Kate­ gorienlehre beide Arten der Begriffe miteinander vermischt.) Indes würdigt Kant doch den schließlich von Locke unternom­ menen Versuch einer Begründung der Ontologie, d. h. einer „Deduktion“ der Verstandesbegriffe (im Sinne einer „Ablei­ tung“ und zwar aus der Erfahrung) als einen „Weg“ in der Philo­ sophie [vgl. KrV, B 118f.], der in die richtige Richtung geht. Es war diesbezüglich aber kritisch festzuhalten, daß auf empiri­ schem Wege selbst nur den „Gelegenheitsursachen“ der Erzeu­ gung der reinen Begriffe a priori in der Erfahrung nachgespürt und so allenfalls gezeigt werden kann, unter welchen Bedingun­ gen wir in ihren „Besitz“ gelangen (falls, wie jedoch erst in der Kritischen Philosophie, ein Kriterium vorhanden ist, sie von em­ pirischen Begriffen zu unterscheiden). So eröffnet sich in Kantischer Perspektive mit Lockes „versuchte[r] physiologische[r] Ableitung“ der Kategorien aus der Erfahrung [KrV, B 119] zwar ein Lorschungsprogramm, das eine quaestionem facti betrifft: die Lrage nach dem „Laktum, wodurch der Besitz entsprungen“ [KrV, B 117]. Nicht aber war damit auch schon eine „Deduk­ tion“ vorbereitet worden, die Antwort auf die Lrage nach dem rechtmäßigen Gebrauch dieser Begriffe - nämlich auf welche Gegenstände (sensible oder intelligible?) - gibt34. ,Urteilens‘ (als einer „Verstandeshandlung“), das Kant für den Gebrauch des Verstan­ des in dessen (ihn jeweils modifizierenden) „Funktionen“ (Kategorien) ausfindig machte [ebda, 119]. 34 Die bei Kant stets wirksame praktische Perspektive auf das Vernunft gebrauchende

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Für die Annahme, daß es letztlich unausweichlich war, die quaestionem juris zu stellen und eine „Deduktion“ der Verstan­ desbegriffe in diesem Sinn zu unternehmen, führt Kant nun einen Grund ins Feld, von dem her auch die eigentümlich Pointe verständlich wird, die sich mit seiner Sichtweise auf die im Em­ pirismus geleisteten ,,mühsame[n] Bearbeitungen]“ der Onto­ logie verbindet [PS, A 11]: Denn tatsächlich hätte man all dieser Bemühungen, so die Pointe, völlig überhoben sein können, wenn man mit dieser Wissenschaft nur im Sinn gehabt hätte, die „Re­ geln des richtigen Gebrauchs“

der Verstandesbegriffe und

Grundsätze „zum Behuf der Erfahrungserkenntnis“ aufzuklären [ebda]. Eine solche Aufklärung wäre nicht nötig gewesen, weil konkrete Erfahrung stets selbst den Vernunftgebrauch bestäti­ gen oder berichtigen würde [ebda]. Daß man gleichwohl die On­ tologie immer wieder neu in Angriff genommen hat, obwohl der „Stoff“ des intendierten Systems schon längst als erschöpft galt, ist Kant zufolge darin begründet, daß „die Metaphysik [...] zum eigentlichen Zwecke ihrer Nachforschungen nur drei Ideen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“ hat und alles, womit sie sich „sonst beschäftigt, [...] ihr [...] zum Mittel [dient], um zu diesen Ideen und zu ihrer Realität zu gelangen“. Die Ontologie hat also fundamentale Bedeutung in bezug auf die „erhabensten Fra­ gen“, die zu beantworten Zweck der Metaphysik ist: die Fragen, ob Gott existiert, die Seele unsterblich und der Wille frei ist. In ihr entscheidet sich, ob und auf welche Weise man etwas in die­ ser Rücksicht ausrichten kann. Nun versteht sich der Rationalis­ mus

als

Sachwalter

bezeichneter

Fragen.

Programmatisch

bekennt man sich hier ausdrücklich dazu, daß man vom „Sinnli­ chen zum Übersinnlichen“ fortschreiten will [vgl. PS, A 12]. Aber auch Aristoteles und Locke sind mit ihren „Schlüssen“, wie Kant kritisch anmerkt, noch „über die Grenze der Erfah­ rung hinaus“-gegangen [KrV, B 882] (was der „Maxime“ empiristischer „Denkungsart“ eigentlich widerspricht, wie gleich noch auszuführen sein wird); ja, letzterer habe sogar (am Ende einer langen Tradition) die Spezialdisziplinen der Metaphysik noch aus dem „Pöbel der gemeinen Erfahrung“ herzuleiten versucht

Subjekt, im gegebenen Fall die Perspektive des Rechts (die hier einen begründeten Vernunftgebrauch betrifft), ist im folgenden nur mitthematisch. Vgl. dann Abschnitt 1.7.

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[vgl. KrV, AIX; B 882]. Doch wie immer man zu diesem Versuch und zum Fortschreiten „vom Sinnlichen zum Übersinnlichen“ im allgemeinen zunächst auch stehen mag, feststeht, daß in sol­ chem Überschritt konkrete Erfahrung als Korrektiv des Ge­ brauchs der Verstandesbegriffe ausfällt. Ist dies aber der Fall, dann muß eine „Ausmessung des Verstandesvermögens und sei­ ner Prinzipien mit Ausführlichkeit und Sorgfalt [...]“ unternom­ men werden, „um zu wissen, von wo an die Vernunft, und mit welchem Stecken und Stabe von den Erfahrungsgegenständen zu denen, die es nicht sind, ihren Überschritt wagen könne“ [PS, A 12]. Dieses Unterfangen initiiert zu haben, ist nach Kant das Verdienst von Wolff, der das Erkenntnisvermögen selbst zergliedert [ebda] und auf diese Weise eine neue Begründung der (allerdings selbst im Rationalismus lediglich tradierten Ari­ stotelischen)

Kategorien zu geben versucht hat, welche in die­

ser Philosophietradition zudem von Anbeginn an nicht als aus der Erfahrung ableitbar galten. Die „Klarheit und Bestimmt­ heit“, in der Wolff diese Analysis unternahm, d. h. die „dogma­ tische Methode“, ist für Kant eine weitere, unhintergehbare Er­ rungenschaft in der Philosophie35. Und doch war festzuhalten, daß, wie Locke, so auch Wolff, aufgrund einer unvermittelten Entscheidung zu einem einseitigen Philosophiekonzept vor einer Infragestellung der traditionellen Kategorienlehre selbst (dem Inhalt nach) ebenso halt gemacht hat wie vor einer Erwä­ 35 So müssen z.B. auch noch „wir in der Ausführung [...] des Plans, den die Kritik vorschreibt, d.i. im künftigen System der Metaphysik, [...] dereinst der strengen Me­ thode des berühmten Wolf[f], des größten unter allen dogmatischen Philosophen, folgen, der zuerst das Beispiel gab, (und durch dies Beispiel der Urheber des bisher noch nicht erloschenen Geistes der Gründlichkeit in Deutschland wurde,) wie durch gesetzmäßige Feststellung der Prinzipien, deutliche Bestimmung der Begriffe, ver­ suchte Strenge der Beweise, Verhütung kühner Sprünge in Folgerungen der sichere Gang einer Wissenschaft zu nehmen sei“ [KrV, B XXXVI]. Das kritische System ist also „nicht dem dogmatischen Verfahren der Vernunft in ihrem reinen Erkenntnis als Wissenschaft entgegengesetzt, (denn diese muß jederzeit dogmatisch, d.i. strenge be­ weisend sein,) sondern dem Dogmatismus“ [KrV, B XXXV]. Dogmatismus aber ist „das dogmatische Verfahren der reinen Vernunft, ohne vorangehende Kritik ihres eigenen Vermögens“ [ebda] und also eine „thetisch[e]“ Fundierung des Systems [KrV, B 448]. Gleichwohl schließt auch die Kritische Philosophie einen Dogmatismus ein, zwar nicht den spekulativen, so aber doch ein „praktisch-dogmatische[s] Erkennt­ nis“ [PS, A 110], worauf zurückzukommen sein wird. Dem dogmatischen Verfahren entgegengesetzt ist das skeptische Verfahren. Daß die Kritische Philosophie auch die skeptische Methode in sich schließt sowie einen wohlverstandenen Skeptizismus, vgl. dazu unten Abschnitt 1.6.

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gung, wann der Gebrauch der Prädikamente begründet (recht­ mäßig) war. War im Empirismus nicht begriffen, daß die Kate­ gorien nur im Verstand ihren Ursprung haben können, so hier vor allem nicht, daß ein gerechtfertigter Gebrauch auf den Kon­ text der Erfahrung beschränkt bleibt, da über ihn hinaus ein Er­ kenntnisgegenstand nie gegeben werden kann. Von zentraler Bedeutung in Kants (vielfach kritischer) Per­ spektive auf die zwei genannten alten, traditionsbildenden „Ar­ ten zu philosophieren“, ist, jedenfalls was das Thema ,Philosophiegeschichtsschreibung‘ betrifft, der Punkt, in dem sie (als un­ oder vorkritische) Übereinkommen: Man beschreitet den glei­ chen Weg, wenn auch auf verschiedenen Territorien und im Rahmen reiner Vernunftphilosophie eingestandenermaßen und notwendig, im Empirismus dagegen (paradigmatisch bei Aristoteles und Locke) eher zufällig (wobei diese Zufälligkeit in der Sphäre der Empirie selbst aber kein Zufall ist). Man fängt bei „Grundsätzen an, deren Gebrauch im Laufe der Erfahrung unvermeidlich und durch diese hinreichend bewährt“ ist; geht dann aber „in einem reinen Gebrauche“ der Vernunft über die Grenzen von Sinnlichkeit und Verstand „zu den äußersten Grenzen aller Erkenntnis“ [vgl. KrV, B 825] hinaus und in einen Bereich hinein, in dem man „nicht durch Tatsachen der Natur widerlegt werden“ kann [KrV, B 497]. Das Beschreiten dieses Weges ist nach Kant nicht menschlicher Willkür geschuldet. Auch folgt man nicht nur einer einfachen Logik des Weiterfra­ gens vom Bedingten zu „entfernteren Bedingungen“, mit dem man nur dann zu Ende kommt, wenn man schließlich „zu Grundsätzen [...] Zuflucht“ nimmt, „die allen möglichen Erfah­ rungsgebrauch überschreiten“

[KrV, A VII]. Daß man bei

Grundsätzen anfängt, „deren Gebrauch im Laufe der Erfahrung unvermeidlich“ ist, und mit Grundsätzen endet, „die allen mög­ lichen Erfahrungsgebrauch überschreiten“ (den Grundsätzen ,Gott existiert, die Seele ist unsterblich und der Wille frei‘), ist vielmehr, so Kants Interpretation36, einem „Hang“ [KrV, B 825] geschuldet, der der „Natur“ der menschlichen Vernunft

36 Kant hat diese Interpretation als solche reflektiert. Vgl. unten, insbes. Abschnitt 1.7.

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- der „denkenden Vernunft“ [vgl. KU, B 397] - unverbrüchlich anhaftet37. In der Tat entspricht es nach Kant so sehr der „Natur der menschlichen Vernunft“ [vgl. LB, 341] (oder auch der „Natur des menschlichen Erkenntnisvermögens“ [PS, A 21] oder auch der „Natur in unserer eigenen Vernunft“ [KU, B 274]), zu letzten Grundsätzen weiterzugehen, und wird im allgemeinen, zumal in vorkritischer Zeit, so naturwüchsig („natürlich“, d. h. „gewöhnli­ chermaßen“ [KrV, B 8]) unternommen, daß nicht nur Empiriker wie „Aristoteles und Locke, (vornehmlich aber der letztere)“ [KrV, B 882] am Ende noch über die Grenze der Erfahrung hin­ ausgegangen sind, sondern Metaphysik (i. e. S.) in allen Men­ schen, jedenfalls der „Idee“ nach, „subjective (und zwar notwen­ diger Weise) wirklich“ ist [Prol., A 126 Anm.]38. Denn: „Welche Vernunft spekuliert nicht, es mag nun auf scholastische, oder populäre Art geschehen?“ [KrV, B 870]. Gegenüber der populä­ ren zeichnet sich die „scholastische“ Art zu spekulieren dadurch aus, daß die Ideen von Freiheit, Unsterblichkeit und Gott nun zu Gegenständen einer über ihnen ernsthaft „brütenden“ Vernunft gemacht werden, wobei die reinen Vernunftphilosophen den Be­ weis, daß der Wille frei und die Seele unsterblich ist und Gott existiert, ,aus bloßen Begriffen4 (die den Status von vernunftautochthonen „Ideen“ haben) führen: Zu beweisen gesucht wird hier die „Fortdauer unserer Seele nach dem Tode aus der Ein­ fachheit der Substanz“, die „Freiheit des Willens gegen den all­ gemeinen Mechanismus“ der Natur aus dem Begriff des Willens und die Existenz Gottes aus dem „Begriffe eines allerrealsten Wesens“ [KrV, B XXXII]. Könnte dies nun, zumal auf diesem Wege, tatsächlich bewiesen werden, so hätte die Philosophie freilich Lehrsätze (Dogmen) mit Prinzipienstatus zur Verfü­ gung39, die es erlaubten, in Rücksicht auf die Dinge in der Welt 37 Die Vernunft, so Kant, „fängt von Grundsätzen an, deren Gebrauch im Laufe der Erfahrung unvermeidlich und zugleich durch diese hinreichend bewährt ist. Mit diesen steigt sie (wie es auch ihre Natur mit sich bringt) immer höher, zu entfernteren Bedin­ gungen. Da sie aber gewahr wird, daß auf diese Art ihr Geschäft jederzeit unvollendet bleiben müsse, weil die Fragen niemals aufhören, sieht sie sich genötigt, zu Grund­ sätzen [...] Zuflucht zu nehmen, die allen möglichen Erfahrungsgebrauch überschrei­ ten“ [KrV, AVIIf.; H.v. V.]. 38 Deshalb sei es nur die Frage, wie sie „objective“ (also für jedermann und zu jeder Zeit) möglich sei [ebda]. Zur Metaphysik als „Naturanlage“ vgl. auch KrV, B 22. 39 Zur Terminologie: Kant unterteilt alle „direkt“ synthetischen Sätze a priori in

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(das Bedingte) „die ganze Kette der Bedingungen völlig a prio­ ri“ zu fassen „und die Ableitung des Bedingten“ zu „begreifen“ [KrV, B 495]. Es entstünde ein spekulatives System, das nicht nur wissenschaftlichen Ansprüchen in höchstem Maße genügt, nämlich dem Anspruch „systematischer Einheit des Wissens“ [vgl. KrV, B 867], sondern auch der Sache nach das endgültige wäre. Philosophie wäre lehr- und lernbar geworden, und es gäbe in ihr nicht mehr zu tun, als es vielleicht noch zu einer „logischen Vollkommenheit der Erkenntnis“ zu bringen, wie sie Menschen nur irgend möglich sein kann [vgl. KrV, B 867], d. h. die dogma­ tische Methode zu perfektionieren. Doch auch ohne solche Per­ ,Dogmata“ und „Mathemata“. Mathemata sind die „intuitiven Grundsätze“ [KrV, B 761] der Mathematik (als dem „intuitiven“ Gebrauch der Vernunft durch Konstruk­ tion von Begriffen). Aufgrund des in der Mathematik (Geometrie) angewandten Ver­ fahrens einer Konstruktion von (konstruierbaren) Begriffen (wie dem eines „Trian­ gels“) in der reinen Anschauung, in der ein dem Begriff entsprechender Gegenstand durch „gleichförmige Synthesis“ in der Einbildung ,geschaffen‘ wird [KrV, B 751; auch B 742], kann Mathematik die Erkenntnis vom Gegenstand „a priori und unmittelbar“ erweitern, d. h. „die Prädikate des Gegenstandes a priori und unmittelbar verknüpfen“ [KrV, B 760], und somit synthetische Sätze aus Begriffen („Axiome“) aufstellen, die unmittelbar gewiß („evident“) sind [vgl. KrV, B 760f.]. Der Ausdruck „Dogma“ steht kritisch für das problematische Resultat des Ver­ suchs, auch in der Philosophie Gegenstandserkenntnis a priori und unmittelbar inhalt­ lich zu erweitern, wobei dies im Rahmen des „diskursiven Vernunftgebrauch[s] nach Begriffen“ [KrV, B 747] eben nur vermittels Begriffen geleistet werden könnte [KrV, B 764]. Freilich ist die Philosophie nach Kant durchaus fähig, „sichere Grundsätze“ aus Begriffen [KrV, B 764f.] mit objektiver Gültigkeit aufzustellen oder m. a.W. „Prin­ zipien“ zu formulieren - denn „synthetische Erkenntnisse aus Begriffen [...] sind es eigentlich, welche ich schlechthin Prinzipien nenne; indessen, daß alle allgemeinen Gesetze überhaupt komparative Prinzipien heißen können“ [KrV, B 357 f.]. Sie errich­ tet sie aus den Kategorien. Aber wie die Kategorien nur die Bedeutung von allgemei­ nen „Regeln“ der „Synthesis desjenigen“ haben, „was die Wahrnehmung a posteriori geben mag“ [KrV, B 748], haben diese Grundsätze die Funktion von (weitergehenden) Regeln im Kontext der Erfahrung. Sie geben an, wie „eine gewisse synthetische Ein­ heit [...] der Wahrnehmungen empirisch gesucht werden soll“ [KrV, B748]. Diese Grundsätze lassen sich nun a priori zwar rechtfertigen („deduzieren“), nicht aber be­ weisen, d. h., kein einziger ihrer Begriffe kann a priori dargestellt werden [ebda], weil keiner etwas Anschaubares (vielmehr nur die Synthesis von Anschauungen) bezeich­ net. Bewiesen werden kann der Grundsatz nur a posteriori, „im einzigen Felde seines möglichen Gebrauchs, d. i. der Erfahrung“ [KrV, B 765], die zugleich auch „nach jenen synthetischen Grundsätzen allererst möglich wird“ [KrV, B 748; vgl. auch B 765]. Nun sind über die Ebene des Verstandes (der Ontologie und Transzendentalphilosophie i. e. S.) hinaus „gar keine[] synthetischen Urteile, die objektive Gültigkeit hätten“ mög­ lich [KrV, B 765], weil sich mit Bezug auf Übersinnliches nichts wahrnehmen läßt. Und so bleibt denn „Dogma“ („Lehrspruch“ oder „Lehrsatz“ im Gegensatz zu „Grund­ satz“ [KrV, B764f.]) bei Kant ein in theoretischem Kontext ausnahmslos kritisch verwendeter Terminus.

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fektionierung wäre in ihm aller Wissensdrang zur „Ruhe“ ge­ langt. Denn

„die Vernunft wird durch einen Hang ihrer Natur getrieben, über den Erfahrungsgebrauch [...] hinauszugehen, sich in einem reinen Gebrau­ che und vermittels bloßer Ideen zu den äußersten Grenzen aller Er­ kenntnis hinaus zu wagen, und nur allererst in der Vollendung ihres Kreises, in einem für sich bestehenden systematischen Ganzen, Ruhe zu finden“ [KrV, B 825]. Nun hätte die Vernunft in einem solchen System schon sehr bald (bei Platon) ihre letzte Ruhestätte finden können - wären da nicht immer auch noch die Empiristen gewesen. Dem Empiri­ sten ist es nämlich - der ursprünglichen „Maxime“ seiner „Denkungsart“ nach - nicht erlaubt, „die Kette der Naturord­ nung“ (also die Ebenen von Sinnlichkeit und Verstand) zu ver­ lassen, um sich (auf der Ebene der Vernunft i. e. S.) „an Ideen zu hängen, deren Gegenstände er nicht kennt, weil sie [...] niemals gegeben werden können“ [KrV, B 497]. Auch wenn es bei Aristoteles und Locke faktisch geschieht40, so ist es dem Em­ piristen doch nicht gestattet,

„unter dem Vorwande, es sei nunmehr zu Ende gebracht, in das Gebiet der idealisierenden Vernunft und zu transzendenten Begriffen überzu­ gehen, wo er nicht weiter nötig hat zu beobachten und [.] zu forschen, sondern nur zu denken und zu dichten, sicher daß er nicht durch Tat­ sachen der Natur widerlegt werden könne, weil er an ihr Zeugnis eben nicht gebunden ist, sondern sie vorbeigehen, oder sie sogar selbst einem höheren Ansehen, nämlich dem der reinen Vernunft unterordnen darf“ [KrV, B 497]. Der reine Empirist versteigt sich nicht in diese Sphäre41. Und nun könnte „sein Grundsatz“ (d. h. die „Maxime“ seiner „Denk­ ungsart“) dafür einstehen, daß man durch Ideen „eigentlich nur erkennt, daß man nichts wisse“ [KrV, B 499], weil man über die Grenzen der Erfahrung hinaus einen Gegenstand für Begriffe nicht finden kann. Und zugleich könnte dieser Grundsatz damit auch, relativ zum rationalistischen Grundsatz, die Bedeutung 40 Für Kant übertrifft Epikurs konsequente Denkhaltung diejenige eines Aristo­ teles und vor allem eines Locke bei weitem: vgl. KrV, B 882, zur Kritik an Locke in dieser Hinsicht auch KrV, A IX f. 41 Daher liegt dem reinen Empirismus, anders als dem „Dogmatismus der reinen Ver­ nunft“, eine „vollkommene Gleichförmigkeit der Denkungsart und völlige Einheit der Maxime“ zugrunde [KrV, B 493].

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,,eine[r] Maxime der Mäßigung in Ansprüchen der Bescheiden­ heit in Behauptungen und zugleich der größt möglichen Erwei­ terung unseres Verstandes, durch [...] Erfahrung“ besitzen [ebda]42 - wäre nicht selbst der reine Empirist noch dogmatisch. Selbst er ist „in Ansehung der Ideen [...] dogmatisch“, weil er „dasjenige dreist verneint, was über der Sphäre seiner anschau­ enden Erkenntnisse ist“ [KrV, B 499]. Denn es läßt sich ja nicht nur fragen, „wo [.] die Vernunft den objektiven Grund zu solch synthetischen Behauptungen hernehmen“ will [KrV, B 769], die, wie die Aussagen ,Gott existiert, der Wille ist frei und die Seele unsterblich4, alleine eine für geschlossene Systembildungen not­ wendige kardinale Grundsatzfunktion übernehmen können. Es läßt sich in gleichem Maße fragen: wo die Vernunft eigentlich die objektiven Gründe für die Gegenbehauptungen hernehmen will (daß Gott nicht existiert, etc.). So rufen Rationalismus, der in seiner Ursprungsgestalt „Platonism“ ist [vgl. KrV, B 493f.], und Empirismus, der in der Ur­ sprungsgestalt „Epikureism“ ist [KrV, B 499], den Skeptizismus auf den Plan, eine Position, in der das Philosophieren ebenfalls „zur Ruhe“ käme, wäre über sie hinaus anderes nicht denkbar. Zur Ruhe käme das Philosophieren allerdings nicht in einem System. Vielmehr stürbe es nach einem letzten Aufleben, das dem Zweck dient, die „Grundlagen aller Erkenntnis“ zu unter­ graben, einfach ab: Der Skeptizismus (die skeptizistische „Indif­ ferenz“) kann „allenfalls noch die Euthanasie der reinen Ver­ nunft genannt werden“ [KrV, B 434].

b) Der „Mechanismus in den menschlichen Neigungen“43 (Beschreibung) Ein „Dogmatismus der reinen Vernunft“, ein nicht minder dog­ matischer Empirismus und ein „Skeptizismus“ - dies sind die alten „Arten zu philosophieren“. Es sind nach Kant spezifische

42 Der Verstand läßt sich durch Erfahrung erweitern, wenn den Ideen (bzw. deren .Schemata1, als ob es „wirkliche Wesen“ wären [vgl. KrV, B 711 f.]) die Funktion von „regulativen Prinzipien“ zugestanden wird, die es erlauben, z. B. nach einem teleologi­ schen und nicht nur nach einem „mechanischen“ Zusammenhang der Dinge in der Welt zu suchen: vgl. KrV, B 714ff., schon 697ff. Auf diesen Aspekt wird mehrfach zu­ rückzukommen sein. 43 So genannt im Anschluß an KU, B 367 f.

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„Denkungsarten“, Weisen auf nicht-populäre Art zu philoso­ phieren, d.h. Vernunft kunstgerecht, „methodisch“ (mithin „scholastisch“) „diskursiv“ („nur nach Begriffen“) und reflexiv zu gebrauchen - in einem Kontext, in dem es um die letzten Prinzipien menschlicher Erkenntnis und um „erhabene“ Gegen­ stände geht, die neben der Theologie nur Metaphysik themati­ sieren kann. Das sich in drei „Denkungsarten“ zersplitternde vorkritische Projekt oder „Geschäft“, „diskursiv nachzudenken“ [KrV, B 746] oder auch „a priori zu urteilen, aber nur [...] nach Begrif­ fen“ [KrV, B, 748] (im Unterschied vor allem zum intuitiven Ver­ nunftgebrauch „durch Konstruktion der Begriffe“ in der Mathe­ matik [KrV, B 747]), wird also von Kant, wie der Ausdruck „Denkungsart“ anzeigt, grundlegend von Maximen her gedacht, die sich insgesamt als material und a posteriori erweisen. D. h., sie beziehen sich auf ein bestimmtes „Bedürfnis“ und einen dadurch bestimmten Zweck, der durch spezifisches Nachdenken und ein darauf folgendes Handeln (das dem ,Bau‘ von Systemen gilt) verwirklicht werden soll44. Dabei resultiert die Materie dieser Maximen aus jener „Natur“, die Kant der spekulativen Ver­ nunft zugedacht hat - eine ganz und gar ambivalente Natur, eine Natur, die (wie die KrV zeigte) einerseits lucide „Formen“ in sich birgt: Formen der Sinnlichkeit (Raum und Zeit), des Verstandes (Kategorien), der Vernunft (Ideen); in der es andererseits aber auch gleichsam etwas Materielles, Stoffliches gibt, eine bewe­ gende und drängende Kraft, die, wie Kant gelegentlich hervor­ hebt, Ausdruck ist für ein gewisses „Bedürfnis“ der Vernunft, das vom Vernunft gebrauchenden Subjekt ,erfühlt‘ wird und es antreibt, über die Sphäre der Erfahrungserkenntnis hinaus- und in das „Gebiet der idealisierenden Vernunft und zu transzenden­ ten Begriffen überzugehen“45. Die vorkritischen Maximen tra­ 44 Vgl. dazu im allgemeinen H. J. Paton, Der Kategorische Imperativ. Eine Untersu­ chung über Kants Moralphilosophie, Berlin 1962, 56ff., insbes. 60f. 45 Vgl. zum gefühlten „Bedürfnis“ der Vernunft, ins Übersinnliche weiterzuschreiten, LB, 340; vgl. dazu, daß die Kritische Philosophie das „Recht des Bedürfnisses der Vernunft“ - der theoretischen Vernunft - „als eines subjektiven Grundes“ wahrt, sich „im unermeßlichen und für uns mit dicker Nacht erfüllten Raume des Übersinnli­ chen“, wenigstens „im Denken, d. i. logisch“, zu orientieren und sich dabei „etwas vor­ auszusetzen und anzunehmen, was sie durch objektive Gründe zu wissen sich nicht anmaßen darf“: Was heißt: sich im Denken orientieren?, insbes. 309ff., und auch noch unten Abschnitt 1.8. Vgl. zum „Bedürfnis der Vernunft“ auch: LB, 340 und f. Daß es

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gen (wenn auch auf jeweils andere Art) diesem gefühlten Be­ dürfnis Rechnung. In praktischer Rücksicht zeugen alle, insbe­ sondere aber die rationalistische, von einer „Heteronomie der Vernunft“, d.h. davon46, daß das nachdenkende Subjekt in vor­ kritischer Zeit durch starke „Neigung“ [vgl. Prol., A 192], durch einen „Hang“, gar „Drang“ bestimmt war, „sich des Vermögens der Vernunft zum Vernünfteln zu bedienen“, und zwar „metho­ disch, [...] bloß durch Begriffe zu vernünfteln, d.i. zu philoso­ phieren“ [Trakt., A 487]. Daß Kant der Vernunft eine „Natur“ und dieser eine naturale Komponente zugesprochen hat, ist nun von herausragender Bedeutung

für

das

Kritische

Konzept

von

Philosophiege­

schichtsschreibung überhaupt. Denn dadurch war es möglich, die zurückliegende Philosophiegeschichte selbst als eine (vom Menschen entfaltete) Natur und die Philosophiegeschichts­ schreibung überhaupt als gegenstandsbezogene „Wissenschaft“ (als theoretische Natur-Wissenschaft, die ihrerseits als reine und empirische möglich ist) auffassen. Der naturwissenschaftliche Blick auf die Philosophiegeschichte - er wird im nächsten Ab­ schnitt unter Bezugnahme auf Kants Einteilung der theoreti­ schen Naturwissenschaften näher differenziert werden - bringt sich in vielen Texten Kants zur Geltung und läßt sich wie folgt umschreiben: Kant hat den Raum vergangener Philosophiege­ schichte in verschiedene Räume, ihren Zeitlauf in verschiedene Zeitabschnitte und die ganze vergangene Geschichte schließlich in verschiedene ,Zeit-Räume‘ (Epochen oder „Stadien“) unter­ teilt, die materialiter erfüllt sind mit bewegenden Kräften, in welche sich sozusagen der allgemeine motus vitalis vorkritischen Philosophierens (gemäß der ursprünglichen Maximen) einteilen läßt. Diese Kräfte hat er, was ihre „wechselseitige Wirkung und Gegenwirkung“ betrifft, im „Gleichgewicht“ sein lassen, „damit sie einander nicht zerstören“, wie man formulieren kann [nach Idee, A 402]47. Die bewegende Kraft, die im Falle reiner Ver­ nunftphilosophie - als einer sich von Platon bis Wolff unter

aber nicht nur ein solch theoretisches „Bedürfnis“ nach Orientierung gibt, sondern in diesem Bedürfnis noch ein fundamental „praktisches“ Bedürfnis steckt, das letztlich religiös motiviert ist, dazu vgl. unten Abschnitt 1.7. Zu Kants Erwägung eines prakti­ schen Bedürfnisses vgl. LB, 340. 46 Vgl. KU, B 158. 47 Hegel wird später die „beliebte Reflexionsform [.] der Kräfte und Vermögen der

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Raum-Zeit-Bedingungen ausbildenden Position - vorgestellt wird, ist dieser naturwüchsige Drang, den „Kreis“ der Vernunft rein begrifflich zu realisieren. Ihr setzt der auf Anschauung set­ zende Empirismus von Epikur bis Locke (insbesondere aber Epikur) stets einen Widerstand entgegen. Beide Prinzipien wer­ den schließlich begrenzt von dem des Skeptizismus, das eben­ falls versehen ist mit einer auf methodische Vervollkommnung angelegten Bildungsprogression (im Sinne einer Radikalisierung skeptizistischer „Indifferenz“). Das skeptizistische Prinzip trägt der Kantischen Konstruktion zufolge dafür Sorge, daß in der Zeit ablaufende Bildungsprozesse in den beiden anderen Sphä­ ren gleichmäßig unterbrochen werden, um nach „Revolutionen“ [KrV, B 881] auf höherem Niveau wieder beginnen zu können. Dieses Prinzip ermöglicht also „Rückschritte]“ [vgl. PS, A 17] und ein über Rückschritte laufendes Fortschreiten. Auf diese Weise werden die besonderen Systemsphären in allen isolierten Traditionslinien „mit der Zeit vollständig [aus]gebildet“ [KrV, B 863; Z.v. V.], was für den Empirismus aber mit der Inkonse­ quenz verbunden ist, daß er seinen Grundsatz immer wieder ver­ läßt. Mit dieser Konstruktion nun wird für die vergangene Ge­ schichte kein wesentlicher Fortschritt behauptet. Erreicht wor­ den ist, so Kants These, lediglich die Vervollständigung der Sy­ steme und eine Perfektionierung der Methode (insbesondere bei Wolff), nicht aber das sich von Natur aus an Metaphysik bin­ dende Ziel, Erkenntnis des Übersinnlichen zu erlangen. Damit ist aber die „Definition“ von Metaphysik fraglich geworden, die­ jenige Wissenschaft zu sein, in der „von der Erkenntnis des Sinn­ lichen zu der des Übersinnlichen durch die Vernunft“ fortge­ schritten wird [PS, A12]. Diese Definition trägt zwar der Vernunftnatur Rechnung und sagt, daß man - und zwar im Ra­ tionalismus - zum Übersinnlichen fortschreiten will [ebda]. Aber sie läßt offen, ob man es auf dem Feld48 des theoretischen Ver­ nunftgebrauchs überhaupt kann, und auch, ob man es denn soll [vgl. ebda]. Doch in dem Maße, in dem das Ziel nicht erreicht

Seele, der Intelligenz oder des Geistes“ kritisieren, vgl. Enzyklopädie (1830), §445 Anm. 48 Der Ausdruck „Feld“ wird hier nicht (und im folgenden nicht immer) in dem von Kant in KU, B XVI f. präzisierten Sinne verwendet.

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worden ist, hat es auch keine „Vereinigung“ der Positionen ge­ geben. Ingredienz der Kantischen Philosophiegeschichts­ schreibung ist diese „Kritik der Geschichte“, die schon in deren Beschreibung zum Ausdruck kommt: Philosophiegeschichte ist ein Prozeß, der bislang, anstatt zur Vereinigung der Positionen, gerade umgekehrt nur zur Radikalisierung der „Entzweiung“ durch vollständige Ausbildung der isolierten Systemsphären ge­ führt hat und zuletzt in einen Radikalskeptizismus eingemündet ist - in einen „gänzliche[n] Indifferentismus“ [vgl. KrV, A X], d. h. eine Gleichgültigkeit der Philosophie als Wissenschaft, mit­ hin auch einer Wahrheit gegenüber, die über formallogische Wi­ derspruchsfreiheit hinausgeht. Doch hält Kant auch im Grund­ sätzlichen an der Unvereinbarkeit sowie Erfolglosigkeit der Versuche fest, nur rationalistisch oder nur empiristisch Philoso­ phie als allgemein akzeptable Wissenschaft zustandezubringen. Dies zeigt er in der KrV dadurch an, daß er die Traditionslinien von Rationalismus und Empirismus in ihren ursprünglichen Ge­ stalten, also Platonismus und Epikureismus, an dem Punkt, wo beide „dogmatisch“ sind, d.h. auf dem „Boden“ der Metaphysik im engeren Sinne, in Form einer Antithetik zusammenführt und in eben diesem Zusammenführen eine Situation entstehen läßt, die indifferent und die Situation eines Stillstands aller Bewegung auf philosophischem Terrain ist: den Zustand des Skeptizismus. Entsprechend hat Kant in der sogenannten Preisschrift von zwei „Stadien“ des Philosophierens gesprochen: Vorkritisches Philosophieren zerfällt in das Stadium des „Dogmatism“ (Ratio­ nalismus und Empirismus), auf das stets das Stadium des „Skeptizism“ folgt [PS, A21]. Stadien sind „Epochen“, die von ver­ schiedenen „Zuständen“ der Metaphysik zeugen [vgl. Prol., A 191 f.], die nach einer bestimmten Gesetzmäßigkeit nicht nur überhaupt immer wiederkehren, so daß „der Zustand der Meta­ physik viele Zeitalter hindurch schwankend sein [kann], vom un­ begrenzten Vertrauen der Vernunft auf sich selbst zum grenzen­ losen Mißtrauen, und wiederum von diesem zu jenem“ [PS, A 21], sondern in verschärfter Form wiederkehren. Bereits in den Prolegomena wird dies wie folgt formuliert: „Alle falsche Kunst“, so heißt es dort, „alle eitle Weisheit49 dauert ihre Zeit; denn endlich zerstört sie sich selbst und die höchste Kultur der­

49 Vgl. dazu auch noch unten Abschnitt 1.8.

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selben ist zugleich der Zeitpunkt ihres Untergangs“ [Prol., A 191]. Dieser Untergang führe in den „Zustand der Gleichgül­ tigkeit“, der allerdings zunächst nur wiederum der „Übergang von einer Neigung zu der ihr entgegengesetzten“ sei [Prol., A 192]. Irgendwann mündet dieser Zyklus in die Situation oder den Zustand eines Radikalskeptizismus: Am Ende herrscht „Überdruß und gänzlicher Indifferentismus, die Mutter des Chaos und der Nacht“ [KrV, A X]. Kant sah diese Situation als gegeben an. Es herrsche jetzt Überdruß und gänzlicher Indiffe­ rentismus, „weil alle Wege (wie man sich überredet) vergeblich versucht sind“ [KrV, A IX]. Weil aber für Kant ein „Zustand der Gleichgültigkeit“ nur wiederum ein „Übergang“ ist, so gilt dies selbst noch für die derart zugespitzte Situation. Diese kann aber nicht mehr lediglich ein „Übergang von einer Neigung zu der ihr entgegengesetzten“ sein, sondern muß „den Ursprung, wenigstens das Vorspiel einer nahen Umschaffung und Aufklä­ rung“ aller Wissenschaften in sich enthalten [KrV, A X]: durch endlich gelingende Fundierung einer Metaphysik, die für jeder­ mann sollte akzeptabel sein.

1.2 Der erste Schritt: Philosophiegeschichtsphilosophie als rationale Naturmetaphysik Kants Konzeption der zurückliegenden Philosophiegeschichte als eines gleichsam mechanisch bewegten, raumzeitlichen Gan­ zen unterliegt, angefangen von der KrV bis hin zur Preisschrift und den sogenannten Losen Blättern, keinen wesentlichen Ver­ änderungen. Von Anfang an wird behauptet, Dogmatismus füh­ re in den Skeptizismus. Wenn man nun versucht, die eben umrissene Perspektive auf die vergangene Geschichte einzuordnen, wobei als Ordnungsrahmen Historie, Empirie und (reine) Philo­ sophie in Frage kommen, so müßte man im Sinne Kants wie folgt differenzieren: Wenn man nur beschreibt („erzählt“), „wie man und in welcher Ordnung bisher philosophi[e]rt hat“ [LB, 340], bewegt man sich im Rahmen der Empirie, d. h. im allgemei­ nen: im Kontext „einer Erkenntnis der Dinge[,] wie sie sind“ [vgl. LB, 340], und im speziellen Fall im Kontext einer „histori­ schen Vorstellung von Philosophie“, die über eine rein als „hi­ storisch“ zu bezeichnende Kenntnis einzelner „Systeme“ schon weit hinausgeht. Die „Geschichtserzählung“ [LB, 341], wie

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Kant sie versteht, zielt also bereits auf eine Ordnung, die zwi­ schen „Epochen“ (tatsächlich) besteht [vgl. LB, 342]. Nun läßt sich aus einer solch hochgradig allgemeinen Erzählung, folgt man Kant weiter, noch „zum Behuf einer Theorie“ - und zwar einer empirischen Theorie zunächst - etwas machen [Teleol., A 40] und muß nach (später noch näher zu bezeichnenden) „For­ derungen der Vernunft“ auch gemacht werden [vgl. Met. Anf., A VI]50. In den oben gegebenen Beschreibungen ist diese Theorie ebenfalls schon erkennbar: (materiale) Prinzipien der Bewegung werden spezifiziert und Epochen mit diesen Prinzipien erfüllt, so daß schließlich ein Zyklus erkennbar wird, der die ganze Ge­ schichte bestimmt. Mit diesem Zyklus ist gewissermaßen ein Er­ fahrungsgesetz und mit ihm der Begriff einer bestimmten „Na­ tur“ gefunden, denn es sind nicht zuletzt Erfahrungsgesetze, „welche [...] dem Begriffe der Natur überhaupt [...] anhängen“, wie man sagen kann [nach Met. Anf., A XII]. Dieses Gesetz be­ zieht sich im gegebenen Fall auf einen „Mechanismus in den menschlichen Neigungen“. Gefunden ist der Begriff einer Natur, die durch denkende Wesen in einem neigungsbestimmten Ge­ brauch des theoretischen Erkenntnisvermögens (nur „nach Be­ griffen“) im Gegeneinander verschiedener „Schulen“ raumzeit­ lich so entfaltet wird, daß sich schließlich jener „Mechanismus“ als Gelegenheitsursache des Philosophierens entbirgt. Er macht auf eine naturale Komponente in der „Natur der reinen Ver­ nunft“ [vgl. KrV, B 880] aufmerksam. Die Möglichkeit, auf der Basis einer Erzählung, die aufzeigt, „wie man und in welcher Ordnung bisher philosophi[e]rt hat“, eine empirische Zyklentheorie der Philosophiegeschichte zu for­ mulieren und damit bestimmte Fakta zu erklären, nämlich die (rein historisch, anhand von Büchern) nachweisbaren, in concre­ to mannigfaltigen Systembildungsversuche, hat nun in der Tat einige Ähnlichkeit mit dem, was Kepler tat, „der die exzen­ trischen Bahnen der Planeten auf eine unerwartete Weise bestimmten Gesetzen unterwarf“ [vgl. Idee, A388]. Keplers Leistung auf dem Gebiet der Astronomie war für Kant im Zu­ sammenhang der Geschichtsschreibung im allgemeinen von pa­ radigmatischer Bedeutung [vgl. ebda]. Es galt, auf diesem Ge­

50 Vgl. näherhin unten, 2. Hauptabschnitt.

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biet etwas zu tun, das dem Vorgehen Keplers vergleichbar wä­ re. Allerdings sollte es in dieser Rücksicht bei Kepler nicht blei­ ben. Kant erschien es als möglich und sinnvoll, den Schritt, den die Naturwissenschaft über „Beobachtung“ (Historie) und empirische Theoriebildung („Kepler“) hinaus mittlerweile zu einer rationalen Physik Newtonscher Provenienz getan hatte, insbesondere auf dem Gebiet der Philosophiegeschichtsschrei­ bung nachzuvollziehen und also etwas Ähnliches zu leisten wie Newton, der die von Kepler gefundenen Gesetze „aus einer allgemeinen Naturursache erklärte“ [ebda]. Im Fall der Philoso­ phiegeschichtsschreibung besteht der erste Schritt auf dem Weg dorthin in der Aufstufung der Empirie zu einer rein-rationalen, mithin philosophischen (Natur-)Wissenschaft: Die Philosophie­ geschichtsschreibung sollte mehr sein (und mehr sein können) als nur eine empirisch-rationale Wissenschaft, d. h. ein nach le­ diglich empirischen Prinzipien geordnetes, systematisches Gan­ zes von Erkenntnissen, in dem auch die Gesetze, aus denen Fak­ ten erklärt werden, nur empirischer Herkunft sind („zufällige Gesetze, die bloß Erfahrung gelehrt hat“ [Met. Anf., A VI]). Denn bliebe es in der Philosophiegeschichtsschreibung nur bei der Empirie, so müßte man annehmen, daß der bezeichnete Zy­ klus auf infinite Weise immer wiederkehrte. Dadurch erschiene Metaphysik als ein letztlich sinnloses Unternehmen und deren Geschichte wäre mit Recht als eine Geschichte „zufällig“ auf­ steigender Meinungen zur Geltung gebracht [vgl. LB, 343]. Über das Empirische hinaus, aber im Anschluß daran, sollte die Philo­ sophiegeschichtsschreibung daher als eine (rein) „rational[e,] d.i. a priori[sche]“ [LB, 341; Z.v.V.] Wissenschaft begründet werden, welche die philosophiegeschichtlichen Dinge nach „ihrer Nothwendigkeit vor[stellt]“ [vgl. LB, 340] und also zeigt, „wie der Dogmatism“ und „aus ihm der Skepticism“ hat „entste­ hen müssen“ [LB, 342]. Und wenn Kant nun den von ihm inten­ dierten philosophischen Blick auf die ganze vorausgegangene Philosophiegeschichte nie mehr als nur „flüchtig“ unternommen [vgl. KrV, B 880] und auch nie mehr als nur flüchtig reflektiert hat, so hat er allerdings keinen Zweifel daran gelassen, daß es im ersten Schritt ein naturphilosophischer Blick rein-rationaler Pro­ venienz sein sollte, der allerdings nur durch Einbeziehung eines philosophiefremden Verfahrens getan werden kann, nämlich des mathematischen Verfahrens der Konstruktion von Begriffen in

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der reinen Anschauung: Die Geschichte sollte „mathematisch“ abgefaßt werden [LB, 342]51. Diese Programmatik einer im ersten Schritt rein-rationalen und mathematisch vorgehenden Philosophie der Geschichte der Philosophie erschließt sich von der Programmatik rein ratio­ naler Naturphilosophie überhaupt her, wie sie in der KrV, vor allem aber in der Vorrede der Metaphysische[n] Anfangsgründe der Naturwissenschaft umrissen worden ist.

a) Rationale Naturmetaphysik im allgemeinen Insbesondere die von Kant in den Losen Blättern gegebenen Bestimmungen weisen darauf hin, daß er die „philosophische Geschichte der Philosophie“, zumindest dem ersten Ansatz nach, auf der Ebene der besonderen Naturmetaphysiken begrün­ den wollte, die in der KrV (in einer ersten, grundlegenden Ein­ teilung) fundiert und im Hinblick auf ihre Einlösbarkeit über­ prüft worden sind. Ausdrücklich begründet (und von Kant ausgeführt) wurde eine „Metaphysik der körperlichen Natur“ (rationale Physik), wohingegen sich eine projektierte „Meta­ physik der denkenden Natur“ (rationale Psychologie) aus ver­ schiedenen (später noch näher zu bezeichnenden) Gründen als unausführbar erwies. Daß zunächst diese beiden Naturphiloso­ phien in Angriff genommen worden sind52, resultiert aus einer Grunddisjunktion aller Gegenstände, „deren Erscheinung uns“ (vermittels empirischer Anschauung) „gegeben ist“ [Met. Anf., A XIX, Anm.]. Und diese teilen sich, nach Maßgabe der beiden Formen der Anschauung, Raum und Zeit, in „Phänomene“ des „äußeren Sinns“ (Raum) und in Phänomene des „inneren Sinns“ (Zeit) [vgl. Met. Anf., A III]. Die beiden genannten Naturphilosophien enthalten nun, der Programmatik nach, die „metaphysischen Anfangsgründe“ der angewandten Naturwissenschaften (die einerseits den Bereich der Physik i.w.S., andererseits den der Psychologie i. w. S. kon­

51 Kant selbst formuliert dies, wie im Grunde alle Erwägungen zu einer „philosophie­ renden Geschichte der Philosophie“ in den Losen Blättern, problemorientiert, in Form einer Frage: „Ob eine Geschichte der Philosophie mathematisch abgefaßt werden könne“ [LB, 342]. In der Preisschrift zeigt er in der Ausführung, daß dies möglich ist, und im folgenden soll nun kurz verdeutlicht werden, wie dies möglich ist. 52 Vgl. dazu auch Met. Anf., AVIII und X.

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stituieren). Zugleich beziehen sie sich auf eine allgemeine Meta­ physik der Natur zurück, welche „eigentlich d[ie] Transzenden­ talphilosophie“ ist [Met. Anf., XXIII] - oder auch die oben bezeichnete Ontologie, die in der KrV unter allen philosophischen Wissenschaften zuerst und kritisch als eine die Grenzen der Sinnlichkeit wahrende Metaphysik der Natur neu fundiert wor­ den ist. An deren Programm ist kurz zu erinnern: Die als „reine Philosophie der Natur überhaupt“ [Met. Anf., A X] neubegründete Transzendentalphilosophie oder Ontologie thematisiert die „reinen Handlungen des Denkens“ bzw. die Verstandesbegriffe (Kategorien), die (als „Modi“ der auf sinnli­ che Dinge bezogenen „Verstandeshandlungen“) „das Mannig­ faltige“ gehaltvoller, „empirische[r] Vorstellungen allererst in die gesetzmäßige Verbindung“ bringen, durch die sich „empirische[] Erkenntnis, d. i. Erfahrung“ von bloßer Wahrnehmung unterscheidet [vgl. Met. Anf., A XIII]. Der Sache nach stehen die Verstandesbegriffe für diejenigen „Gesetze, d.i. Prinzipien der Notwendigkeit dessen, was zum Dasein eines Dings gehört“ [Met. Anf., AVIII], das ein Naturding ist, also in Raum und Zeit angetroffen werden kann. Aufgabe einer solch allgemeinen Me­ taphysik ist es nun, „alles, was da ist (ein Ding in Raum und Zeit)“ [KrV, B 752] unter dem Gesichtspunkt a priori zu „erwä­ gen“, unter welchen Bedingungen die Wahrnehmung zu einer allgemeingültigen Erfahrung gehören kann [KrV, B 747]. „Alles, was da ist (ein Ding in Raum und Zeit)“ wird durch den apriori­ schen („nicht empirischen“ [ebda]) „Begriff eines Dings über­ haupt“ bezeichnet [KrV, B 748], welcher, der „Materie (dem Physischen) oder [...] Gehalt“ nach, „ein Etwas bedeutet, das im Raum und der Zeit angetroffen wird, mithin ein Dasein ent­ hält und der Empfindung korrespondiert“ [KrV, B 751]. Da nun der Gehalt eines solchen Begriffs „[...] niemals anders auf be­ stimmte Art, als empirisch gegeben werden kann“ und „wir a priori nichts anderes haben können, als unbestimmte Begriffe der Synthesis möglicher Empfindungen“ [ebda] (d. h. die „reinen Verstandesbegriffe von Objekten“), kann es in der Transzenden­ talphilosophie nur darum gehen, „Erscheinungen“ überhaupt, aber ohne Objekte anzunehmen, die (in einer Mannigfaltigkeit von Erfahrungswissenschaften auf bestimmte Art) gegeben wä­ ren [vgl. KrV, B 873], also „ohne Beziehung auf irgend ein be­ stimmtes Erfahrungsobjekt“ [Met. Anf., AVIII], unter diese Be­

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griffe zu bringen (gemäß deren vier Abteilungen: Quantität, Qualität, Relation und Modalität), „welche darauf nicht anders als empirisch, d. i. a posteriori, (aber jenen Begriffen als Regeln [...] gemäß,) können bestimmt werden“ [KrV, B 751]53. In diesem Sinne realisiert sich die allgemeine Metaphysik der Natur oder die Transzendentalphilosophie (im eigentlichen Sinn) als eine auf Wahrnehmbares eingeschränkte Ontologie, in der man zugleich um deren Status als einer „bloßen Gedanken­ form“ weiß [Met. Anf., A XXII]: Sie ist eine „bloße Gedanken­ form“ in dem Maße, in dem die „Kategorien oder wie sie sonst heißen, Prädikamente [.] nur Denkformen sind für den Begriff von einem Gegenstande der Anschauung überhaupt“ [PS, A 41], die von der Anschauung nicht „abhängig“ sind [ebda] und ganz außerhalb ihrer liegen [PS, A 47], die darum aber auch ganz „sinnleer“ sind [Met. Anf., A XXIII]. Denn erst durch Anschau­ ungen bekommt das Denken „Sinn und Bedeutung“ (Extension und Intension) [vgl. KrV, B 300f.; Met. Anf., A XXIII]. Damit nun die Transzendentalphilosophie nicht „unter lauter sinnleeren Begriffen unstet und schwankend herumtappe[]“ [Met. Anf., A XXIII], bedarf sie der „Beispiele (Anschauun­ gen)“ [Met. Anf., A XXII]. Und diese bekommt sie (der Pro­ grammatik nach) von den besonderen Naturphilosophien: Diese tun ihr also „vortreffliche und unentbehrliche Dienste“ in Rich­ tung auf eine sinn- und bedeutungsvolle ,Realisierung‘ ihrer „Begriffe und Lehrsätze“ [vgl. Met. Anf., A XXIII], welche den Bereich der Philosophie nicht verläßt. Sie schaffen „Beispiele (Fälle in concreto) herbei[]“, mit denen „einer bloßen Gedan­ kenform Sinn und Bedeutung unter[]leg[t]“ wird [ebda]. Diese Beispiele (bzw. ein diese Beispiele verbindendes ,Schema a prio­ ri‘) werden nun auf folgendem Weg gewonnen: Anders als die transzendentale Naturphilosophie, die bloß in­ teressiert ist an einem Etwas als Gegenstand möglicher Erfah­ 53 Zu erwägen (oder a priori zu beurteilen) ist „alles, was da ist (ein Ding in Raum und Zeit)“, dahingehend, „ob und wiefern es ein Quantum ist oder nicht, [ob und inwie­ fern] ein Dasein in demselben oder Mangel vorgestellt werden müsse, wie fern dieses Etwas (welches Raum und Zeit erfüllt) ein erstes Substratum, oder bloße Bestimmung sei, eine Beziehung seines Daseins, auf etwas anderes, als Ursache oder Wirkung habe, und endlich isoliert oder in wechselseitiger Abhängigkeit mit anderen in Ansehung des Daseins stehe“; und schließlich sind „die Möglichkeit dieses Daseins, die Wirklich­ keit und Notwendigkeit, oder die Gegenteile derselben zu erwägen“ [KrV, B 752; Z.v.V.].

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rung überhaupt (am „Physischen“ überhaupt), bezieht sich das Interesse in den rationalen Naturphilosophien auf ,,diese[] oder jene[] Art Dinge“ (in der Sinnenwelt) und auf deren „besondere[] Natur“ (Beschaffenheit) [Met. Anf., AVIII], Es gibt, gemäß oben bezeichneter Grundeinteilung, zwei Arten von Dingen: Phänomene des äußeren und inneren Sinns. Kommt ferner die allgemeine Naturmetaphysik zustande, „ohne Objekte anzuneh­ men, die gegeben wären“ [KrV, B 873], so leisten die besonderen Naturphilosophien demgegenüber eine „Erkenntnis a priori, mithin Metaphysik, von Gegenständen [...], sofern sie unseren Sinnen, mithin a posteriori gegeben sind“ [KrV, B 875 f.] (an­ dernfalls man von „dieser oder jener Art Dinge“ nichts wüßte). Näherhin muß von den in Frage stehenden Dingarten (als hin­ länglich allgemeiner „Arten“) ein „empirischer“ Grundbegriff gegeben sein [vgl. Met. Anf., AVIII] - ein Begriff, im Hinblick auf den „aus der Erfahrung“ indes jeweils nur so viel genommen ist, als „was nötig ist, uns ein Objekt, teils des äußeren [...] Sin­ nes“ (Raum), „teils des inneren Sinnes“ (Zeit) „zu geben“ [KrV, B 876] (genauer müßte man formulieren: was notwendig jeweils von diesem Objekt selbst her angenommen oder ,supponiert‘ werden muß, damit es uns gegeben sein kann54). Die intendierte „Erkenntnis a priori [...] von Gegenständen [...], sofern sie a posteriori gegeben sind“, setzen bei einem solch empirischen Grundbegriff an. So legen die von Kant ausdrücklich in Be­ tracht gezogenen besonderen Naturphilosophien, Körper- und Seelenlehre, einerseits den „empirischen Begriff“ der „Materie“ im Sinne „undurchdringliche[r] leblose[r] Ausdehnung“ zugrun­ de, andererseits den „Begriff eines denkenden Wesens (in der empirischen inneren Vorstellung: Ich denke)“ [KrV, B 876] (das „Ich denke“ also als einen „empirische[n] Satz“ [KrV, B 422 Anm.]). Darüber hinaus aber wird in der intendierten „Erkennt­ nis a priori“ über die im gegebenen Begriff liegenden empiri­ schen Prinzipien (Grundbestimmungen und Gesetze) hinaus „kein anderes empirisches Prinzip“ mehr gebraucht [Met. Anf., AVIII]55. An die Stelle möglicher weiterer empirischer Prinzi­ 54 So mußte z. B. „die Grundbestimmung eines Etwas, das ein Gegenstand der äuße­ ren Sinne sein soll, [.] Bewegung sein; denn dadurch allein können die Sinne affiziert werden“ [Met. Anf., A XX]. Daß es sich bei dieser Annahme um eine bloße „Supposition“ handelt, geht aus Fakult., A 120 hervor. 55 Vgl. auch KrV, B875f.

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pien treten die Kategorien, die in den besonderen Naturphiloso­ phien auf die genannten „Arten“ der „Gegenstände unserer Sin­ ne angewandt“ werden [ebda], so daß also die Gegenstandsarten nur so betrachtet werden, „wie [... sie] nach den allgemeinen Gesetzen des Denkens vorgestellt werden“ müssen [Met. Anf., A XIVf.; Z. v. V.]. Nun könnte allerdings aus „bloßen“ Begriffen, aus den reinen sowohl als dem zugrundeliegenden empirischen Begriff, lediglich ein widerspruchsfreier „Gedanke“ der bezeichneten Naturdinge (oder auch Naturbereiche als Bereiche mögli­ cher Erfahrung) gebildet werden, nicht aber wäre Erkenntnis eines „Objekts, als Naturding[]“ möglich, „welches außer dem Gedanken (als existierend) gegeben werden kann“ [Met. Anf., A IX]56. Um eine solche Erkenntnis zu leisten, dazu wird nun nach Kant „noch erfo[r]dert, daß die dem Begriff korrespondie­ rende Anschauung [...] gegeben werde“ [ebda]. Im philosophi­ schen Zusammenhang kann diese Anschauung aber nur reine (empirisch unerfüllte) Anschauung („Anschauung a priori“ in den Formen Raum und Zeit) sein. Wenn also „noch erfo[r]dert [wird], daß die dem Begriff korrespondierende Anschauung [.] gegeben werde“, dann kann dies Kant zufolge auch so übersetzt werden: Es ist erforderlich, „daß der Begriff konstruiert werde“ [Met. Anf., A IX]. Das bedeutet: „Eine reine Naturlehre über bestimmte Naturdinge [...] ist nur vermittelst der Mathematik“ [Met. Anf., A X] oder, m.a. W., nur dadurch möglich, daß das Verfahren einer Konstruktion (oder „Darstellung a priori“) von Begriffen in der reinen Anschauung angewendet wird. In der Tat nun stehen die besonderen Naturmetaphysiken für einen Be­ reich in der Philosophie, in dem sich „zwei ganz verschiedene Dinge“, nämlich „Meßkunst und Philosophie“, intuitiver Ver­ nunftgebrauch „durch Konstruktion von Begriffen“ und diskur­ siver Vernunftgebrauch nach bloßen Begriffen, „einander die Hand bieten“ [vgl. KrV, B 754]. Diese Hand können sie hier ein­

56 Kant formuliert: „Die Möglichkeit bestimmter Naturdinge kann aber nicht aus ihren bloßen Begriffen erkannt werden; denn aus diesen kann zwar die Möglichkeit des Gedankens (daß er sich nicht widerspreche), aber nicht des Objekts, als Natur­ dinges erkannt werden, welches außer dem Gedanken (als existierend) gegeben wer­ den kann“ [Met. Anf., AIX]. Abgezielt ist in dieser Formulierung auf den Unterschied zwischen wirklicher Möglichkeit eines Gegenstands im Gegensatz zur logischen Mög­ lichkeit eines Gegenstandsbegriffs, welche nur die Widerspruchsfreiheit seiner Prädi­ kate betrifft.

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ander deshalb bieten, weil der empirische Begriff, der in einer besonderen Naturphilosophie zugrundegelegt wird, in der Tat konstruierbar ist. Denn als empirischer enthält er schon „reine Anschauung“ in sich [vgl. KrV, B 747]. Dabei bleibt es allerdings ein „Geschäfte der [...] Philosophie“, durch vollständige Zer­ gliederung des Begriffs der Konstruktion die materialen Prinzi­ pien vorzugeben [vgl. Met. Anf., A XII]. Daraus ergibt sich nun als Programmatik einer besonderen Naturmetaphysik: Sie betrachtet einen Gegenstand von jeweils bestimmter Art (als „Naturding“) - im Ausgang von einem em­ pirischen Grundbegriff, aber „nur nach Bedingungen a priori“, unter denen es „uns überhaupt gegeben werden kann“ [KrV, B 874]. Diese Bedingungen setzten sich aus zwei Stücken zusam­ men: erstens aus dem „System“ der Kategorien, das zugleich die „absolute“ [Met. Anf., A XIV] „Vollständigkeit eines metaphy­ sischen Systems“ garantiert [Met. Anf., A XV]; dabei werden diese „transzendentalen Prinzipien“ so auf die verschiedenen „Arten“ der „Gegenstände unserer Sinne“ angewandt, daß der jeweils zugrundegelegte und bis auf eine Grundbestimmung (z.B. auf „Bewegung“, so in der Körperlehre) hin zergliederte Begriff durch deren vier Abteilungen „durchgeführt“ wird, wo­ bei er jeweils „eine neue Bestimmung“ erhält [Met. Anf., A XX]57. Das zweite Stück ist Mathematik: das Verfahren einer „Darstellung“ dessen, was vom Gegenstand „a priori gedacht“ wird [vgl. Met. Anf., A XVIII], „in der reinen Anschauung“ [Met. Anf., A X]. In diesem Sinne suchen die besonderen Natur­ metaphysiken, „den Umfang der Erkenntnis, deren die Vernunft über diese Gegenstände a priori fähig ist“ [Met. Anf., AVIII], zu bestimmen. Und tun dies in kritischer Absicht: Der sich zunächst in der Transzendentalphilosophie bloß im Modus einer Gedan­ kenform artikulierende „Verstand“ wird nun durch „Beispiele (Anschauungen)“ „belehr[t]“, „welches die Bedingungen sind“, unter denen seine Begriffe „allein objektive Realität, d.i. Be­ deutung und Wahrheit haben können“ [vgl. Met. Anf., XXIII]. Und Wahrheit - objektiv-materiale Wahrheit, d. h. Wahrheit, die über die bloß formallogische Widerspruchsfreiheit hinausgeht -

57 Kants Körperlehre teilt sich gemäß den vier Abteilungen der Kategorientafel in „Phoronomie“, „Dynamik“, „Mechanik“ und „Phänomenologie“, vgl. Met. Anf., insbes. AXXf.

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können diese Begriffe nur haben, so heißt dies im allgemeinen, wenn deren Gebrauch auf den (differenzierbaren) Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren eingeschränkt bleibt.

b) Philosophiegeschichtsphilosophie als „philosophische Archäologie“ Auch die Philosophiegeschichtsphilosophie ist von Kant als eine solch (rein) rationale, ,,d. i. apriori möglich[e]“ und zugleich „mathematisch“ vorgehende Naturwissenschaft begründet wor­ den, sofern das „Ganze“ vormaliger Philosophie thematisch ist, wie es in Raum und Zeit Gestalt angenommen hat. Mit einer solchen Begründung ist nun in erster Linie gesagt, daß sich die Philosophiegeschichtsphilosophie in keinem Falle auf transzen­ dente oder intelligible Gegenstände bezieht - auf ein bloß „tran­ szendentales Objekt, von dem man im übrigen nichts weiß“ [KrV, B 593], weil es niemals Gegenstand möglicher Erfahrung sein kann. Sie bezieht sich mithin auch nicht auf irgendeine Ver­ nunft in der Geschichte, welche unabhängig von Erfahrung an­ zunehmen wäre. Bezugspunkt sind vielmehr Gegenstände von einer bestimmten Art, von denen sich ein empirischer Begriff geben läßt und im oben bezeichneten Zusammenhang der „Ge­ schichtserzählung“ auch schon gegeben ist. Bei dem Begriff, den die Philosophiegeschichtsphilosophie zugrundelegt, kann es sich freilich nicht um „den empirischen Begriff einer Materie“ über­ haupt [Met. Anf., A VIII] handeln, noch nur um den „Begriff eines denkenden Wesens (in der empirischen inneren Vorstel­ lung: Ich denke)“, sei es im allgemeinen oder im speziellen, die Philosophie betreffenden Sinn eines begrifflich-diskursiv den­ kenden Wesens. Es kann sich überhaupt nicht nur um den „Be­ griff eines denkenden Wesens“ handeln, weil Mathematik auf Phänomene nur „des inneren Sinns [...] und deren Gesetze nicht anwendbar [ist]“ [Met. Anf., A X]58. Wenn in der „philosophie­

58 Der Grund ist die Zeit, die eine anschauliche Darstellung, wie sie im dreidimensio­ nalen Raum möglich ist, nicht erlaubt: „Die Zeit hat nur eine Dimension“ [Met. Anf., A XI], und d.h. zugleich: sie hat „nichts Bleibendes [...]“, sie gibt „nur den Wechsel von Bestimmungen, nicht aber den bestimmbaren Gegenstand zu erkennen“ [KrV, A 381]. Wollte man nun aber in der „Seelenlehre“ (Psychologie) Mathematik in An­ schlag bringen, so würde sich dies „ohngefähr so verhalten [...], wie die Lehre von den Eigenschaften der geraden Linien zur ganzen Geometrie“ [ebda]. Psychologie kann

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renden Geschichte der Philosophie“ das mathematische Verfah­ ren zur Anwendung kommen können sollte - und es wird gleich deutlich werden, daß eine Geschichtsphilosophie ohne Mathe­ matik nicht möglich ist -, dann muß ihr Grundbegriff der empi­ rische Begriff einer „Materie (undurchdringliche leblose Aus­ dehnung)“ sein, die unverbrüchlich an ein spezifisch denkendes Wesen gebunden ist, das sie durch Handeln (dokumentarisch nachweisbare Systembildung) raumzeitlich hat manifest werden lassen (wobei das spezifische „Ich denke“ jedoch noch immer als ein „empirischer Satz“ zu verstehen ist59). Nun betrachten rationale Naturlehren ihren Gegenstand nur, wie er „nach den allgemeinen Gesetzen des Denkens“ und zu­ gleich „in Beziehung auf die reinen Anschauungen im Raum und der Zeit“, also unter Anwendung von Mathematik, vorgestellt werden muß. Im gegebenen Fall erlaubt es erstens das „System“ der Kategorien, die Geschichte der Philosophie, wie sie zunächst empirisch und als „empirisches“ Geschehen [vgl. LB, 340] abge­ faßt wird, als einen (von Naturnotwendigkeit zeugenden [vgl. ebda]) Zusammenhang zur Geltung zu bringen, in dem das „Zufällige[] aus einem Princip“ ableitbar und einteilbar [vgl. LB, 342] und aus apodiktisch-gewissen Gesetzen erklärbar geworden ist. Zweitens aber ist es der Anwendung des mathematischen Verfahrens zu verdanken, daß die Philosophiegeschichtsphiloso­ phie die für Geschichtsbetrachtungen überhaupt unausweichli­ che Beziehung auf Raum und Zeit besitzt (allerdings auf ab­ strakten Raum und abstrakte Zeit, auf Raum und Zeit überhaupt). Die „philosophierende Geschichte der Philosophie“ ist mehr als eine bloße ,Gedankenform‘. Sie enthält nicht ledig­ lich Begriffe und „trockene Formeln“ [vgl. KrV, B 491]. Sie ent­ hält (Raum und Zeit erfüllende) „Fakta“ oder „Tatsachen“ (res facti), d.h. „Gegenstände für Begriffe“60. Diese aber werden insofern niemals rein „rationale Seelenlehre“, ja sie kann Kant zufolge noch nicht einmal empirisch-rationale oder Experimentalwissenschaft sein, sondern ist sogar nur als „historische [...] Naturlehre des inneren Sinns“ einlösbar. Vgl. dazu näher unten 2. Hauptabschnitt. 59 Aber grundsätzlich gilt: Der Mensch ist eine „Intelligenz“, die sich in theoretischer Hinsicht zwar der Spontaneität ihres Denkens bewußt sein kann [vgl. KrV, B 158 f.] und doch ihr „Dasein [...] immer nur sinnlich, d.i. als das Dasein einer Erscheinung bestimmen kann“ [ebda, B 158 Anm.]. Denn „das Bewußtsein seiner selbst ist noch lange nicht ein Erkenntnis seiner selbst“ [KrV, B 158]. 60 Unterschieden von „Sachen der Meinung (opinabile)“ und „Glaubenssachen (mere

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nicht der „Geschichtserzählung“ „entlehnt“, sondern von der Philosophiegeschichtsphilosophie selbst „auf[ge]stellt“, wie Kant es nennt [LB, 341]. Was diese Wissenschaft „aufstellt“, sind „Facta der Vernunft“ [ebda]61, auf die sich die alten „Arten zu philosophieren“ reduzieren lassen. Über den Modus dieses Aufstellens führt Kant aus: „Eine philosophische Geschichte der Philosophie [... stellt] Facta der Vernunft auf[]“, indem „sie [...] sie aus der Natur der menschlichen Vernunft [zieht]“ [ebda]. Dieses „Herausziehen“ schließt ein, daß die Philosophiege­ schichtsphilosophie die (per definitionem Raum und Zeit erfül­ lenden) Fakta selbst der „Zeitordnung“ nach, in der sie auftreten {und die beim Thema ,Geschichte‘ eine herausragende Rolle spielt), noch in der „Natur des menschlichen Erkenntnisvermö­ gens gegründet“ sein läßt [PS, A21]. So ist Philosophiege­ schichtsphilosophie „philosophische Archäologie“ [LB, 341]62. Indes: Zwar werden die „Fakta der Vernunft“ nicht der Erfah­ rung „entlehnt“, aber sie können und müssen durch Erfahrung, d. h. durch die „Geschichtserzählung“ und die hier zugleich statt­ habende Beziehung auf einzelne und sozusagen ,historische‘ Fakta, also durch „vorhandene[] Nachrichten“63, belegt und kon­ kretisiert werden. Zumal die Behauptungen vorkritischen Philosophierens {insbesondere die problematischen, Gott, Freiheit und Unsterblichkeit betreffenden Behauptungen) ja auch nur in Verbindung mit dem Empirischen ihre ganze „Pracht“ entfalten [KrV, B 491]. Denn die Philosophiegeschichtsphilosophie liefert nur einen abstrakten Entwurf der zurückliegenden Geschichte, der zudem das Wissen über den in Frage stehenden Gegen­ standsbereich in inhaltlicher Hinsicht nicht erweitert. In der Tat credibile)“ [KU, B 454] sind „Tatsachen (scibile)“ oder „res facti“ nach einer allgemei­ nen Bestimmung „Gegenstände für Begriffe, deren objektive Realität (es sei durch reine Vernunft oder durch Erfahrung, und im ersteren Falle, aus theoretischen oder praktischen Datis derselben, in allen Fällen aber vermittels einer ihnen korrespondie­ renden Anschauung) bewiesen werden kann [...]“ [KU, B 456f.]. Einer solchen Dar­ stellung „in der Anschauung, mithin auch []eines theoretischen Beweises ihrer Mög­ lichkeit“ unfähig sind Vernunftideen, obgleich sich unter ihnen eine findet, die eine „Tatsache“ ist: nämlich die „Idee der Freiheit“: „Deren Realität [läßt] sich durch prak­ tische Gesetze der reinen Vernunft, und, diesen gemäß, in wirklichen Handlungen, mithin in der Erfahrung dartun [...]“ [KU, B 457]. 61 Vgl. zu den „Fakta der Vernunft“ auch KrV, B 789. 62 Vgl. zu einer „Archäologie der Natur, die sich auf reine Phänomene des äußeren Sinns bezieht: KU, B 368. 63 Übernommen aus: Mutmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte, A 2.

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hat bei Kant die Anwendung von Mathematik in der Ge­ schichtsschreibung im allgemeinen nicht die Funktion, Erkennt­ nis zu erweitern. Mathematik erlaubt es nur, „die Menge der Bücher“ (gemeint sind im Fall allgemeiner Geschichtsschrei­ bung historische Geschichtsdarstellungen) „entbehrlich [zu] ma­ chen“, „das Alte [zu] verkürzen“, „den Umfang kleiner [zu] ma­ chen, ohne im Inhalt was zu vermindern; bloß die Schlacken fallen vom Metalle weg oder das unedlere Vehikel oder [die] Hülle, welche so lange nötig war“64. Entsprechend kann man sagen, daß in der Philosophiegeschichtsschreibung die Anwen­ dung von Mathematik und das dadurch zustande kommende „Schema zu der Geschichte der Philosophie a priori“, das dar­ stellt, „wie der Dogmatism“ und aus ihm zunächst „der Skepticism [...] habe entstehen müssen“ [LB, 342], die Funktion be­ sitzt, den Inhalt der bereits entstandenen und zur Philosophie gehörenden „Bücher“ in einer ihn auf das Wesentliche verkür­ zenden Weise (damit freilich kritisch-interpretativ) wiederzuge­ ben. Dieses Schema ersetzt daher nicht die Empirie, die alleine die Erkenntnis erweitern kann, sondern befördert sie, indem es ihr einen Leitfaden an die Hand gibt, der es ihr ermöglicht, et­ was anderes zu bieten als nur eine Geschichte zufällig aufstei­ gender Meinungen. Doch hat dieses Schema mindestens noch eine andere Funk­ tion: Unzweifelhaft tut es auch der KrV „vortreffliche und un­ entbehrliche Dienste“: Denn in der Tat wäre die in ihr geleistete Voraufklärung

vorkritischen

Philosophierens

in

begrifflich-

„trockenen Formeln“ überhaupt nicht verständlich, d.h., man wüßte nicht worum es geht, wenn sich nicht immer auch noch (hinlänglich allgemeine) „Beispiele (Fälle in concreto)“ für das

64 Nachlaßreflexion 1998; Z. v. V. So bestimmt Kant die Funktion der Anwendung von Mathematik in der Geschichte überhaupt: „Mit der Erweiterung der Mathematik“, so lautet die Passage ausführlich, „werden neue Methoden erfunden werden, die das Alte verkürzen und die Menge der Bücher entbehrlich machen. Uns [...] drückt nicht die Last, sondern uns verengt das Volumen den Raum vor unsere Erkenntnisse, Kritik der Vernunft, der Geschichte und historischen Schriften, ein allgemeiner Geist, der [...] auf das menschliche Erkenntnis en gros und nicht en detail geht, werden immer den Umfang kleiner machen, ohne im Inhalt was zu vermindern; bloß die Schlacken fallen vom Metalle weg oder das unedlere Vehikel oder Hülle, welche so lange nötig war“. Das bedeutet: Die in den Geschichtswissenschaften (auch der Philosophiegeschichts­ philosophie) angewandte Mathematik erlaubt als solche zwar nicht, neue Erkenntnisse zu gewinnen, aber doch, Erkenntnisse (zumal verkürzt) darzustellen.

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Gesagte anführen ließen (wie Kant es denn stets auch unter­ nimmt). Erst diese geben den „Formeln“ „Sinn und Bedeutung“ und zugleich einen Bezug auf konkrete Erfahrung. Mit diesem Schema, das in der skizzierten Weise allerdings noch unvollständig entfaltet ist, ist nun nicht nur beansprucht, daß mit ihm „die Epochen [und] die Meynungen der Philoso­ phen aus den vorhandenen Nachrichten so zusammentreffen[,] als ob sie dieses Schema selbst vor Augen gehabt und darnach in der Ken[n]tnis de[s]selben fortgeschritten wären“ [ebda]. Mit ihm wird auch eine Erklärung des Umstands angeboten, daß uns, vergangenheitsbezogen, eine so große Mannigfaltigkeit von Systemen gegeben ist (oder gegeben werden kann). Dieser Umstand - der freilich für jeden Denker dramatisch sein muß, der, wie Kant, der Auffassung ist, es könne nicht viele Philoso­ phien geben, Philosophie sei vielmehr das Explikationsmedium der Einen Vernunft - dieser Umstand wird für eben diesen Den­ ker im gegebenen Falle erklärbar dann, wenn sich das vormalige Philosophieren als eine komplexe Naturbegebenheit zur Gel­ tung bringen läßt: als ein raumzeitliches Geschehen, das dafür steht, daß das Philosophieren zunächst „eben so wohl als jede andere Naturbegebenheit nach allgemeinen Naturgesetzen“ (insbesondere dem der Kausalität) „bestimmt“ war, wie man sa­ gen kann [nach Idee, A 385]65, so daß jede zu einem bestimmten Zeitpunkt erfolgende Handlung materialiter durch Geschehnis­ se oder Handlungen in vorhergegangener („vergangener“) Zeit und, im ganzen gesehen, durch „bestimmende Gründe“ determi­ niert war, die man nicht in seiner „Gewalt“ hatte [vgl. KpV, A 170ff.].

65 In der Kantischen Philosophiegeschichtskonzeption werden die sinnlichen und diskursiven Elemente, mit deren Hilfe die Geschichte ausgelegt wird, dem Gegen­ standsbereich zugeschlagen: Gleichsam „ganz notwendig“ müssen „wir“ sie „als Ei­ genschaften der Dinge, die wir in Betracht ziehen, [...] behandeln“, wie Kant im Kon­ text seiner Metaphysischen Anfangsgründe [Met. Anf., A 9] reflektiert hat. An dieser Stelle liegt ein nicht unerhebliches Problem der Kantischen Philosophiegeschichts­ philosophie: Denn für nichtkritisch eingestellte Leser, die die Bestimmungen für Be­ stimmungen der Dinge (an sich) halten würden, wären in der Darstellung wohl immer wieder kritische „Abschweifungen“ vom aktuellen „Geschäft“ nötig geworden [ebda], wie sie z. B. in den Metaphysischen Anfangsgründen nötig geworden sind.

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1.3 Ausgang aus der Naturmetaphysik a)

„Geschichte [...] der sich aus Begriffen entwickelnden Vernunft“

Das bezeichnete Schema bindet sich an eine Philosophiege­ schichtsschreibung, in der man vergangenheitsbezogen nicht länger nur kennen will, „was man vernünftelt“ hat; man will wis­ sen, „was man durch Vernünftelen durch bloße Begriffe ausge­ richtet hat“ [LB, 343]. Und was man ausgerichtet hat, und zwar im Nachgeben des „Hangs“ oder „Drangs“, sich des Vermögens der Vernunft nur „zum Vernünfteln zu bedienen“, wird gezeigt indem gezeigt wird, wie daraus der Dogmatismus und im Gegen­ einander von Rationalismus und Empirismus immer wieder (und auf verschärfte Weise) der Skeptizismus hat hervorgehen müssen. Nun kann Kants „philosophierende Geschichte der Philosophie“ freilich nicht nur eine solch besondere Naturmeta­ physik sein. Ginge sie nämlich darin auf, so könnte das vorkriti­ sche Philosophieren nicht anders denn nur als blindes Gesche­ hen aufgefaßt werden und bliebe darüber hinaus auch offen, ob und wie die verschiedenen Denkungsarten, Zustände oder Stadien

vormaligen

Philosophierens

eigentlich

miteinander

zusammenhängen. Denn das Schema läßt sie zwar selbst ihrer zeitlichen Abfolge nach, in der „Natur des menschlichen Er­ kenntnisvermögens gegründet“ sein, hält sie aber gleichsam aus­ einander und erweist die ganze vorausliegende Geschichte nur als den diskontinuierlichen Prozeß sprunghaften Wechsels von einer Neigung zur anderen ohne tieferen (strukturellen) Zusam­ menhang und Kontinuität in diesem Sinn. Wäre Kants Philo­ sophiegeschichtsphilosophie nur eine besondere Naturmetaphy­ sik, so bliebe aber auch noch offen, wie die vormaligen „Arten zu philosophieren“ eigentlich mit derjenigen Philosophie zusam­ menhängen könnten, von der bislang mit Blick auf die Philoso­ phiegeschichte noch nicht die Rede war: mit der Kritischen Phi­ losophie, die nicht wieder für den „Übergang von einer Neigung zu der ihr entgegengesetzten“ steht. Auch sie wird von Kant im bezeichneten Schema thematisch, demzufolge, der Vollständig­ keit nach, gezeigt werden sollte, wie zunächst „der Dogmatism[,] aus ihm der Skepticism[,] aus beyden zusammen der Criticism habe entstehen müssen“ [LB, 342]. Nun werden alle Weisen zu

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philosophieren von Kant nicht in der Terminologie einer Be­ wußtseinsphilosophie beschrieben, welche es (etwa im Sinne der in dieser Arbeit zuvor behandelten Theorien) erlaubte, ver­ schiedene Standpunkte als einander jeweils präzise ablösende, hierarchisch angeordnete Momente in einem Prozeß praktisch relevanter „Entwicklung“ und Bewußtwerdung einer „Subjekt“-Vernunft verständlich zu machen, der „auf logische Weise von einer zu anderen Philosophie“ übergehen würde66. Und sie werden auch nicht so beschrieben, als liefe die „alte“ Philoso­ phie auf die neue so hinaus, daß diese dann endlich eine „höhere Metaphysik“ [PS, A 19] bieten würde, welche in den für das Phi­ losophieren bedeutsamsten Fragen nach dem Übersinnlichen „das Gegenteil jener Meinungen“ von Dogmatismus und Skep­ tizismus lehrte [ebda]. Der Kritizismus steht nicht für eine Epo­ che, die wie bei Hegel, „Kairos der Wahrheit“ wäre, sondern nur (wenn auch immerhin schon) für aufgeklärte Vernunft: Man weiß jetzt (oder kann es wissen), daß „in unserer Vernunft Prinzipien liegen, welche jedem erweiterten Satz“ über intelligible Gegenstände „einen, dem Ansehen nach, ebenso gründlichen Gegensatz entgegen stellen, und die Vernunft ihre Versuche selbst zernichtet“ [PS, A20]. Wenn Kant also behauptet, daß dem „Kritizismus der reinen Vernunft“ nach dem „unwidersteh­ lichen Gesetz der Notwendigkeit“ [Prol., A 192] die Zukunft ge­ hören werde, dann wird dies zunächst lediglich mit einem Argu­ ment der Alternativlosigkeit begründet, das die Folgerung aus zwei negativen Sätzen ist: Wenn a) der „Geist des Menschen“, seiner Vernunftnatur gemäß, „metaphysische Untersuchungen“ nicht aufgeben kann (ebensowenig wie „das Atemholen“ [ebda]), aber b) dem spekulativen Bedürfnis der Vernunft auf dogmati­ sche Weise nicht Genüge getan werden kann (wie schon der Skep­ tizismus zeigte), dann bleibt c) nur der „kritische Weg“, auf dem das theoretische Problem mit negativem Resultat aufgelöst wird, - ein Weg, den jetzt (im „Zeitalter der Kritik“ überhaupt [KrV, A XI]) ein „Denker unter den Menschen“ gebahnt hat67.

66 So deutet es allerdings Lucien Braun (Geschichte der Philosophiegeschichte, a. a. O., 230; H. v. V.), der leider im Grundsatz darauf verzichtet, die Texte dem .Buch­ staben1 nach aufzunehmen. 67 Für Kant war die „Zeit des Verfalls aller dogmatischen Metaphysik ungezweifelt da“, aber es fehlte ihm „noch manches daran, um sagen zu können, daß die Zeit ihrer Wiedergeburt vermittels einer gründlichen und vollendeten Kritik der Vernunft [...]

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Nun ist man sich auf dem kritischen Weg freilich in erster Li­ nie dessen bewußt, daß die Metaphysik, wo sie „bloße Spekula­ tion“ ist, „mehr dazu dient, Irrtümer abzuhalten als Erkenntnis zu erweitern“ [KrV, B 879], vor allem den Irrtum, man könne in spekulativem „Zurückgehen zu Prinzipien“ der „ersten Gründe der Dinge“ habhaft werden [vgl. Met. Anf„ A 158]. Gerade die erste

Begründung

der

Philosophiegeschichtsphilosophie

als

einer empirisch ansetzenden, rein-rationalen Naturwissenschaft trägt der kritisch errungenen Einsicht Rechnung, „daß der ganze spekulative Gebrauch unserer Vernunft niemals weiter als auf bloße Gegenstände möglicher Erfahrung reiche“ [vgl. Met. Anf., XVIII, Anm.]. Diese Einsicht wird vor allem dem „Dog­ matismus der reinen Vernunft“ vor Augen gehalten, für den es charakteristisch ist, am Leitfaden „bloßer Begriffe“ (näherhin gerade an dem der allgemeinen Logik, wie sich zeigen wird) „in das Gebiet der idealisierenden Vernunft“ „und zu transzenden­ ten Begriffen überzugehen“, denen sich die objektive Realität nicht sichern und wo sich vortrefflich „denken und [...] dichten“ läßt [KrV, B 497]. Kants Philosophiegeschichtsphilosophie kri­ tisiert diesen Dogmatismus nicht nur der Sache nach, insofern in ihr gezeigt wird, daß er in den Verhältnissen, in denen er existier­ te, im Verhältnis zu Empirismus und Skeptizismus, immer wie­ der auf die Ebene der „Tatsachen“ („der Natur“ [ebda]), d. h. des Verstandes und der Ontologie zurückgeholt wurde (die er allerdings immer wieder neu als Sprungbrett benutzte, um auf den „unsicheren Boden reiner [...] Begriffe“ zu gelangen, „wo der Grund [...] weder zu stehen, noch zu schwimmen erlaubt“ [KrV, B753f.]). Kritisiert wird dieser Dogmatismus bereits durch die Tat: durch die Begründung einer Philosophiege­ schichtsphilosophie, in der die vergangene Philosophiegeschich­ te unter dem Titel „Geschichte [...] der sich aus Begriffen ent­ wickelnden Vernunft“

[LB, 343] gerade nicht „aus bloßen

Begriffen“, sondern unter Anwendung eines Verfahrens be­ trachtet wird, von dem eine Philosophie, die ihre Grenzen, ja die „Grenzen der menschlichen Vernunft“ überhaupt [Teleol.,

schon erschienen sei“ [Prol., A 191 f.]. Er war sich aber sicher, daß der von ihm eben vermittels einer Kritik gebahnte Fußsteig schon in wenigen Jahren die „Heeresstraße“ der Philosophen sein würde [vgl. u.v. a. KrV, B 884].

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A 130] kennt, weiß, daß es von einer anderen Wissenschaft, der Mathematik, erborgt ist. Dies alles heißt nun aber, daß Kants späte Umschreibung, die Geschichte der Philosophie sei die „Geschichte [...] der sich aus Begriffen entwickelnden Vernunft“, mit Sicherheit nicht mehr als Titel für eine Programmatik aufgefaßt werden kann, derzufolge es darum gegangen wäre, diese Geschichte zu „begreifen“ - wenn man unter Begreifen versteht, auf erste Gründe der Din­ ge zurückzugehen, und nicht nur dies: nach gewissen (subjektiv erzeugten) Begriffen die (systembegründende)

„Notwendig­

keit“ einer Einteilung einzusehen, „welches ein Begreifen ist“ [vgl. Prol., A 119]. Wenn somit behauptet wird, die Geschichte der Philosophie sei „Geschichte [...] der sich aus Begriffen entwickelnden Ver­ nunft“ oder auch „Geschichte der reinen Vernunft“

[KrV,

B 880], so handelt es sich dabei in erster Linie um Grenzbegriffe. Sie zeigen an, daß die Philosophiegeschichte nicht lediglich hi­ storisch-empirisch als „Geschichte der Meynungen“ abgefaßt werden sollte, daß aber auch nicht Geschichten der Logik, der Mathematik oder der empirischen Naturwissenschaften, sei es philosophisch oder historisch-empirisch, zur Debatte standen, sondern in der reinen Philosophie die Geschichte der reinen Phi­ losophie. In zweiter Linie sind es allerdings auch Terme der wertenden Herabstufung, im normativen Sinne kritische Begriffe in dem Maße, in dem man in einer „philosophierenden Geschichte der Philosophie“ danach fragt, „was man [...] durch Vernünftelen durch bloße Begriffe ausgerichtet hat“, und auf diese Frage nichts Positives antworten kann: Kant behauptet nicht, die ver­ gangene Geschichte der Philosophie sei in sich ,vernünftig‘ ge­ wesen. Denn darauf deutet zunächst ja gar nichts hin. Nichts in dieser Geschichte deutet auf Vernunft, insofern man mehr als eine Mannigfaltigkeit verstreuter „Gebäude“ (Systeme), die sich als gegeneinander isolierte „Ruinen“ darstellen, nicht zustande gebracht hat [vgl. KrV, B 880]. Wäre man ,vernünftig‘ gewesen, so hätte man gerade dies vermeiden können. Dann hätte man dem Bau von Systemen eine kritische Prüfung des menschlichen Erkenntnisvermögens vorangehen lassen, und es hätte Sicher­ heit darin bestanden, was man hätte leisten können, aber auch was hätte geleistet werden sollen. „Denn eben darin besteht Ver­

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nunft“ (wenigstens auch), „daß wir von allen unseren Begriffen, Meinungen und Behauptungen, sei es aus objektiven oder, wenn sie bloßer Schein sind, aus subjektiven Gründen Rechenschaft geben können“ [KrV, B 642], Nun ist die Kantische Philosophiegeschichtsphilosophie frei­ lich nicht nur eine negativ-kritische Konzeption. Kant hat die alte Philosophie immer auch affirmiert und behauptet, daß es „verschiedene Arten zu philosophieren und zu den ersten Ver­ nunftprinzipien zurückzugehen, um darauf, mit mehr oder weni­ ger Glück, ein System zu gründen, [...] nicht allein gegeben [hat], sondern [...] viele Versuche dieser Art, deren jeder auch um die gegenwärtige sein Verdienst hat, geben [mußte]“ [MS, AVI]. Solche Formulierungen weisen nun noch auf eine andere Dimension der Philosophiegeschichtsphilosophie hin, in der sich das Philosophieren auch allererst als eine „allmälige Entwicke­ lung der menschlichen Vernunft“ [LB, 340] darstellen kann.

b) „Geistesschwung“ zu Ideen Diese Dimension ist die der reflektierenden Urteilskraft. In deren Rahmen werden die vormaligen „Arten zu philosophieren“, die insgesamt nur vom Gebrauch des theoretischen Erkenntnisver­ mögens Zeugnis geben, als auch die Kritische Philosophie, inso­ fern auch sie sich auf dieses Vermögen noch bezieht, in einem zweiten Schritt unterlaufen und final aufeinander und auf die „Grundidee“ einer „Philosophie der spekulativen Vernunft“ bezogen, die Kant wie einen „Keim“ (Naturzweck) in der nun­ mehr

organologisch gedachten

„Natur“

dieses Erkenntnis­

vermögens angelegt sieht. Doch in dem Maße, in dem alle denk­ baren Weisen zu philosophieren für einen Gebrauch dieses Vermögens nach unterschiedlichen Maximen stehen, der zu­ gleich in „Mitteilungen“ an andere Menschen („öffentlich“) Ausdruck findet, werden sie in einem dritten Schritt noch teleo­ logisch auf eine Idee bezogen, die im theoretischen Erkenntnis­ vermögen nicht angelegt sein kann: auf die genuin praktische Idee von Philosophie, mit welcher der „a priori durch reine prak­ tische Vernunft bestimmt gegebene Zweck“ [Teleol., A 36] - die Idee des „höchste[n] durch Freiheit zu bewirkenden Gut[s] in der Welt“ [KU, B 457] - seine philosophiespezifische Formulie­ rung erhält.

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Teleologische Zusammenhänge werden also gestiftet im Lich­ te von „Ideen“, d. h. von „Begriffe[n]“, von denen man kritisch weiß, daß man ihnen „die objektive Realität theoretisch nicht sichern kann“ [KU, B 459]. Genauer: Sie werden gestiftet im Lichte von Ideen als Finalgründen, als „Zwecken“ [vgl. KrV, B 375], über die, wenn sie, wie im Falle der Philosophiegeschich­ te, als zu entfaltende „Naturanlagen“ im Menschen in Betracht kommen, nur „Mutmaßungen“ angestellt werden können68. Doch steht die Möglichkeit einer Beurteilung (von Erfahrungs­ gegenständen und -gegenstandsbereichen) nach „Zwecken, d.i. Ideen“ [ebda], bei Kant im allgemeinen dafür, daß der Kritische Philosoph die Möglichkeit zu einem - zweistufigen - „Geistes­ schwung“ hat, der ihm erstmals von „Plato“ eröffnet worden sei: So habe Platon zum einen - und zwar „mit Recht“ - bereits „in Ansehung der Natur selbst“ „Beweise“ eines „Ursprungs aus Ideen“ gesehen: „Ein Gewächs, ein Tier, die regelmäßige An­ ordnung des Weltbaues (vermutlich also auch die ganze Natur­ ordnung) zeigen deutlich, daß sie nur nach Ideen möglich sind“ [KrV, B 374]. Zum anderen habe es für ihn diese Beweise auch und vor allem „im Sittlichen“ und damit in einem Bereich gege­ ben, in dem die „menschliche Vernunft“ nach Kant selbst derart „wahrhafte Kausalität“ zeigen kann, daß „Ideen“ (wie der „tran­ szendente Begriff der Freiheit“ [KpV, A 169]) ebenso „wirkende Ursachen“ von „Handlungen und ihre[n] Gegenstände[n]“ wer­ den [KrV, B 374], wie sie damit zugleich auch die „Erfahrung (des Guten) allererst möglich machen“ [KrV, B 375]. Im Geiste Platons, dessen „Bemühung“ noch immer „Achtung und Nach­ folge“ verdiene (wie Kant vor allem Brückers vorschneller Ab­ lehnung der Platonischen Philosophie entgegenhält [vgl. KrV,

68 Es ist alles „Mutmaßung“, „was die ersten Zwecke der Natur betrifft“ [Prol., A 184]. Im gegebenen Falle gehören sie in den Bereich der Anthropologie, der Empi­ rie im praktischem Bereich [Prol., A 183; GMS, B IIIff.]. Auf die Anthropologie bleibt die Philosophiegeschichtsphilosophie allerdings bezogen, ohne freilich ihr zuzugehö­ ren. Dies gilt im übrigen auch für Kants Geschichtsphilosophie im allgemeinen, die keineswegs zu diesem „empirischen Teil der Moralphilosophie“ gehört, wie Manfred Riedel einmal interpretiert hat (vgl. Riedels Einleitung in die von ihm seinerzeit hrsg. Schriften zur Geschichtsphilosophie Kants, Stuttgart 1974,11). Vielmehr hat die Kantische Geschichtsphilosophie „gewissermaßen einen Leitfaden a priori“ [Idee, A 410], wie sich noch zeigen wird, und gehört insofern zur reinen Philosophie, die eben „lediglich aus Prinzipien a priori ihre Lehre vorträgt“ [GMS, B V]. Sie bleibt dabei mit der Empirie, die sie zugleich voraussetzt, aber verbunden.

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B 372]), geht der Philosoph auch in der Kritischen Philosophie über die theoretische Ebene einer ,,cop[ie]lichen Betrachtung des Physischen der Weltordnung“ [KrV, B 375] hinaus und schwingt sich auf zu einer Beurteilung dieser Natur als einem Ganzen, in dem sich die Erfahrungsgegenstände „architektonisch[] [...] nach Zwecken, d.i. Ideen“ verknüpfen [KrV, B 375]. Allerdings ist dieser Aufschwung jetzt ohne alle spekula­ tive Kraft [vgl. KrV, B 374]. Ja, er dient gerade dazu, die dies­ bezüglich „unzulängliche“ Theorie zu „ergänzen“ [vgl. Teleol., A 37]. Ergänzt wird die Theorie in zwei Schritten: zuerst durch Rekurs auf Ideen, welche den Status von Naturzwecken besit­ zen, deren Annahme „[...] auf Beweisgründen der Erfahrung beruht“69; dann durch Rekurs auf den a priori durch reine prak­ tische Vernunft bestimmt gegebenen Zweck, d.h. das höchste durch Freiheit zu bewirkende Gut in der Welt [Teleol., A 36]70. Letzterer „Begriff“ setzt Erfahrung nicht voraus, läßt sich aber seiner „objektiven Realität nach“ durchaus im Kontext des Sitt­ lichen, d. h. „in wirklichen Handlungen, mithin in der Erfahrung dartun“ [KU, B 457]. (Dabei bedürfen die Wissenschaften, die sich, wie die Philosophiegeschichtsphilosophie, auf ihn beziehen, nicht nur in dieser Hinsicht auch einer gewissen Erfahrungssätti­ gung, worauf zurückzukommen sein wird, sondern sind auch da­ rauf angelegt, daß das Behauptete in der Erfahrung noch darge­ tan wird.) Die Philosophiegeschichtsphilosophie partizipiert an diesem in der Philosophie zu praktizierenden „Geistesschwung“, dessen „gehörige Ausführung in der Tat die eigentümliche Würde der Philosophie ausmacht“ [KrV, B 375] und dessen bedeutsamste Funktion in ihrem Falle darin liegt, daß das in ihrem Zusam­ menhang thematisierte Philosophieren jetzt erst Beziehung bekommt auf den Menschen als ein nach „Maximen“ frei­ denkendes und -handelndes Wesen. Tritt die Philosophiege69 Formuliert im Anschluß an Teleol., A 36. Vgl. noch die Ausführungen zu Kants teleologischer Neubegründung der „rationalen Kosmologie“ („Physiologie der gesam­ ten Natur“ oder „transzendentalen Welterkenntnis“) unten in Abschnitt 1.8. 70 Vgl. zum „teleologischen Weg“ in letzterer Bedeutung, der den „theoretischen Na­ tur-Wege“ vor allem „in Ansehung der Erkenntnis Gottes“ ergänzt und „den Mangel“ der gerade diesbezüglich „unzulänglichen Theorie“ ausgleicht: Teleol. A 37 f.; die Be­ gründung in KrV, B 697 ff., oder unten die Ausführungen zu Kants teleologischer Neubegründung der „rationalen Theologie“ (oder „transzendentalen Gotteserkennt­ nis“) in Abschnitt 1.8; sowie schon Abschnitt 1.7.

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Schichtsphilosophie zuerst nur als eine Naturmetaphysik auf, in der die Materie dieser Maximen im Vordergrund steht und der Mensch als ein Wesen der Freiheit in dem Maße ausblendet bleibt, wie diese Ausblendung aus Kantischer Sicht ein bedeut­ sames Merkmal der „alten Philosophie“ selbst gewesen ist [vgl. Fakult., A 115], so bringt sie den vorkritisch Philosophierenden nun, als teleologische Naturlehre, unter Gewichtung der Form der alten Maximen (als praktischer Grundsätze) als ein „Wesen der Willkür“ (arbitrium liberum [KrV, B 830]) in den Blick, das nach selbstgemachten, partikularen, mithin „willkürlichen Ent­ würfen“ (handelnd) ein System erbaut (oder ein schon erbautes untergräbt) und dabei, im ganzen gesehen, doch nach einem Plan verfährt, den es nicht selbst gemacht hat: nach Plan der Natur seines theoretischen Erkenntnisvermögens. Dieser zweite Schritt in der Kantischen Philosophiege­ schichtsphilosophie, in dem sowohl die alten „Arten zu philoso­ phieren“ mit der Kritischen Philosophie als auch theoretisches und praktisches Erkenntnisvermögen in eine erste Beziehung zueinander gesetzt werden [vgl. KrV, B 843f.], ist im folgenden zu skizzieren. Kant hat ihn in der Methodenlehre der KrV fun­ diert.

1.4 Der zweite Schritt: Steigerung der Philosophiegeschichtsphilosophie zur teleologischen Naturlehre Im Verständnis Kants ist das jetzige Zeitalter das Zeitalter „gereifter Urteilskraft, die sich nicht länger durch Scheinwissen hinhalten läßt“ [KrV, A XI]. Die „gereifte und männliche Ur­ teilskraft“ [KrV, B 789] ist nach dem Dogmatismus, dem „Kin­ desalter in Sachen der reinen Vernunft“, und dem Skeptizismus, welcher von der „Vorsichtigkeit“ einer „durch Erfahrung gewitz­ ten Urteilskraft“ zeugt, der „dritte Schritt“ [ebda]71. Nun ver­ dankt sich dem für die Kritische Philosophie basalen Medium

71 Odo Marquard hat deutlich gemacht, welcher Unterschied zwischen der Kanti­ schen Philosophie-Typologie - Dogmatismus, Skeptizismus und Kritizismus - und der sich dann im 19. Jahrhundert z. B. bei Dilthey findenden Typologie auch dahingehend besteht, daß erst später solche Denkarten als gleichwertige Möglichkeiten verstanden werden: Vgl. Weltanschauungstypologie, a. a. O.

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der Urteilskraft, daß das theoretische Erkenntnisvermögen von Anfang an wie ein organisches Ganzes beurteilt wird, wie eine

„für sich bestehende Einheit, in welcher ein jedes Glied“ - und Glieder sind die „Erkenntnisprinzipien“ - „wie in einem organisierten Körper, um aller anderen und alle um eines willen da sind, und kein Prinzip mit Sicherheit in einer Beziehung genommen werden kann, ohne es zu­ gleich in der durchgängigen Beziehung zum ganzen reinen Vernunftge­ brauch untersucht zu haben“ [KrV, B XXIII]. Es ist die Urteilskraft, die es Kant ferner zugleich als möglich erscheinen läßt, in bezug auf die im theoretischen Erkenntnis­ vermögen verwurzelten Positionen vorkritischer Philosophie einen „Versuch der Vereinigung“ ihrer bedeutsamsten Behaup­ tungen zu wagen [vgl. KrV, B 453] und in bezug auf Rationalis­ mus und Empirismus z. B. die Frage zu beantworten, was die menschliche Vernunft „für sich zu leisten vermag, und wo ihr Vermögen anhebt, der Beihülfe der Erfahrungsprinzipien nötig zu haben“ [Met. Anf., A VII]. Denn die alten „Arten zu philoso­ phieren“ lassen sich nun als Teilsphären eines (im Sinne der Na­ turzweckmäßigkeit) gegliederten („architektonischen“) Ganzen [vgl. KrV B, 860ff.] menschlichen Wissens auffassen, zu dem auch alle philosophieexternen Wissenschaften (Logik, Mathe­ matik und empirische Naturwissenschaften) noch hinzugehören. Die Gliederung all dieser Sphären menschlichen Wissens und Wissenserwerbs bestimmt sich nach (besonderen) „Ideen“, wel­ che Teile einer in der Vernunft liegenden Idee menschlichen Wissens im ganzen sind. Ideen bedingen mithin auch, daß die durch menschlichen Vernunftgebrauch evozierte Entfaltung und Realisierung der Sphären und des Wissensgefüges im gan­ zen Ordnung und Zusammenhang hat, d. h., daß es so etwas wie Geschichte gibt [vgl. KrV, B VIIff.]. Es gibt sektorial begrenzte Geschichten, die sich im Falle des philosophieexternen Wissens gliedern in den Weg zur Wissenschaft (es ist ein Weg individuel­ len „Herumtappens“) und den „Heeresweg“, den die dann fest institutionalisierte Wissenschaft selbst nimmt. Alle besonderen Geschichten sind aber nur Momente in einem dynamischen Ge­ samtzusammenhang, den Kant mit dem Ausdruck ,Auswicklung‘ des theoretischen Erkenntnisvermögens beschreibt: Die Wissenschaften (die „Systeme“)

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„scheinen, wie Gewürme, durch eine generatio aequivoca, aus dem blo­ ßen Zusammenfluß von aufgesammelten Begriffen, anfangs verstüm­ melt, mit der Zeit vollständiger gebildet worden zu sein, ob sie gleich alle insgesamt ihr Schema, als den ursprünglichen Keim in der sich bloß auswickelnden Vernunft hatten, und darum, nicht allein ein jedes für sich nach einer Idee gegliedert, sondern noch dazu alle untereinander in einem System menschlicher Erkenntnis wiederum als Glieder eines Ganzen zweckmäßig vereinigt sind“ [KrV, B 863]. Die Annahme einer „Idee“, die wie ein „Keim“ im Erkenntnis­ vermögen angelegt ist (in welchem zuerst „alle Teile noch sehr eingewickelt und kaum der mikroskopischen Beobachtung kennbar, verborgen liegen“ [KrV, B 862]) hat nun in erster Linie die Funktion, die Entstehung der Wissenschaften mit den menschlichen Aktivitäten in Verbindung zu bringen und zu­ gleich (final) zu erklären, weshalb das, was Menschen auf den verschiedensten Wissensfeldern, aber auch, wie im Falle der Phi­ losophie, auf einem einzigen Feld in Richtung der Etablierung von Wissen als Wissenschaft unabhängig voneinander getan ha­ ben, nicht zu einer chaotischen Situation geführt hat. Denn Wis­ senschaften entstehen nicht ohne menschliche Aktivitäten, sind aber im ganzen nicht Resultat einer Erfindung einzelner oder isolierter Gruppen. Weil sich Menschen weder als Wesen verste­ hen können, „die in ihren Bestrebungen [...] instinktmäßig wie Tiere“ vorgehen, noch als Wesen, die von Anfang an „durch anerschaffene Kenntnis“ so wohl „unterrichtet und versorgt“ gewesen wären [Idee, A 390], daß sie, „wie vernünftige Welt­ bürger“, immer schon „nach einem verabredeten Plan [...] ver­ fahren“ wären [Idee, A 387]72, ermöglicht erst die Annahme einer wie ein „Keim“ in der Vernunft liegenden „Idee“ eine Sinnperspektive auf das Ganze des vom Menschen entfalteten und (mit Ausnahme der Philosophie) schon in geregelte Bahnen gelenkten Wissens, die dieses Ganze als eine Welt, einen Kosmos erscheinen läßt, in dem sich die Menschen immer schon vorfin­ den: Die Wissenschaften entstehen „nach Anweisung“ einer „in uns versteckt liegenden Idee“ [KrV, B 863]. Der Vorgang war darum kein ,zweckloses Spieß [vgl. Idee, A388], sondern hatte einen zweckmäßig zusammenstimmenden „Flor“

[vgl. KrV,

72 Weil vor allem ersteres nicht der Fall ist, scheint denn wenigstens zunächst „keine planmäßige Geschichte (wie etwa von den Bienen oder den Bibern) von ihnen mög­ lich zu sein“ [ebda].

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A X] von theoretischen Wissenschaften zur Folge, der mittler­ weile so gut ausgebildet ist, daß er eine „Architektonik alles menschlichen Wissens erlauben würde“ [KrV, B 863]73.

a) Vernunftnatur und „Vernunftkunst“ Der Rekurs auf den Menschen, der nach vielen selbstgemachten Plänen und dabei doch „einstimmig“ [KrV, A IX], ja nach „An­ weisung“ verfährt, wird bei Kant thematisch unter dem Titel „Vernunftkunst“ (oder „systematische Kunst“74) versus „Natur in unserer eigenen Vernunft“ (welche zugleich mit der „Natur außer uns“ zweckmäßig zusammenstimmt [vgl. KU, B 274]). „Vernunftkunst“ resultiert im allgemeinen aus dem Vermögen des Menschen, etwas gemäß einer Idee hervorzubringen, d. h. den Willen durch den Verstand zu bestimmen. Ähnlich wie der Bau eines Hauses einen Entwurf voraussetzt, dem entsprechend man dann das „Bauzeug“ organisiert und nach Regeln der Zweck-Mittel-Rationalität (der „Geschicklichkeit“) „technisch“ zusammensetzt [vgl. KU, B 290], versucht es niemand, „eine Wissenschaft zustande zu bringen, ohne daß ihm eine Idee“ wenigstens im Sinne eines Vernunftbegriffs von der „Form eines Ganzen“ [KrV, B 860; H.v.V.] - „zum Grunde liege“ [vgl. KrV, B 862], durch die sowohl der „Zweck“ des Projekts als auch der „Umfang“ des herbeizuschaffenden Materials sowie dessen Stel­ le (der „Teile“) „untereinander, a priori bestimmt wird“ [KrV, B 860]75. Wenn nun nur ein solch formaler Vernunftbegriff zu­ grundeliegt und möglicherweise auch bloß zugrundeliegen kann, 73 Die teleologische Naturlehre hat einen empirischen Ansatzpunkt: Die Natur muß von sich her zweckmäßige Einheit zeigen, andernfalls hätten wir „keine Kultur durch Gegenstände, welche den Stoff zu solchen Begriffen darböten“, und „sogar selbst kei­ ne Vernunft, weil wir keine Schule für dieselbe haben würden“ [KrV, B 845]. Dies gilt auch (auf eine für die philosophische Wissenschafts- und Philosophiegeschichtsschrei­ bung relevante Weise) für die Ausbildung der Wissenschaften: Deutet sich doch von ihrem Ausgebildetsein her ebenso an, daß das Erkenntnisvermögen ein organisches Ganzes ist, wie dies in „jetziger Zeit“ den Entwurf einer „Architektonik alles mensch­ lichen Wissens“ überhaupt und „aller Erkenntnis aus reiner Vernunft“ insbesondere erlaubt [vgl. KrV, B 863]. 74 Met. Anf.,AV. 75 Dabei werden allerdings nicht „Glieder“ „äußerlich (per appositionem)“ hinzuge­ setzt, vielmehr wird das Ganze, „(per intus susceptionem)“, „ohne Veränderung der Proportion“ nur „stärker und tüchtiger“ [KrV, B 861]; das Ganze ist also „gegliedert (articulatio) und nicht gehäuft (coacervatio)“ [KrV, B 860f.].

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wie es (auf gleich näher zu bezeichnende Weise) bei den philoso­ phieexternen Wissenschaften (Logik, Mathematik und den Na­ turwissenschaften) der Fall ist, dann bildet die etablierte Wissen­ schaft den Rahmen für ein kunstvolles Vorgehen, bei dem der Mensch lediglich als eine „vernünftige Ursache“ fungiert, „de­ ren Kausalität (in Herbeischaffung und Verbindung der Teile) durch ihre Idee von einem dadurch möglichen Ganzen [...] be­ stimmt wird“ [vgl. KU, B 290], Solche Wissenschaft ist „Ver­ nunftkunst“, und der Mensch tritt als ein „Vernunftkünstler“ auf [KrV, B 867]. Nun besteht das Ziel freilich darin, jene in der Vernunft wie ein Keim liegende Idee zum Bestimmungsgrund zu gewinnen. Gelingt dies, so braucht das Material nicht mehr von außen auf­ genommen zu werden. Denn diese Idee ist materialiter erfüllt: Inhalt sind die „ersten Prinzipien der menschlichen Erkenntnis“. Zugleich geht der Mensch darüber hinaus, nur eine aus Zusam­ menhängen herausgelöste „vernünftige Ursache“ und ein homo faber zu sein. Er taucht gleichsam in die Natur seines Erkennt­ nisvermögens ein und bringt (denkend) aus sich eine Wissen­ schaft hervor, die „ebenso alt [ist], als spekulative Menschenver­ nunft“ und auch „so lange und so sehr die menschliche Vernunft beschäftigt“ hat [KrV, B 871]: die „Metaphysik der spekulativen Vernunft“ [KrV, B 870] als die „Wissenschaft von den ersten Prinzipien der menschlichen Erkenntnis“ [KrV, B 871]. So ist auf theoretischem Feld einzig die Philosophie einer sy­ stematischen Vollendung fähig. Sie allein kann „das ganze Feld der für sie gehörigen Erkenntnisse völlig befassen und [...] ihr Werk vollenden und für die Nachwelt, als einen nie zu vermeh­ renden Hauptstuhl, zum Gebrauche niederlegen“ [KrV, B XXIV]. Demgegenüber verbleiben die anderen Wissenschaften im Status bloßer Vernunftkünste: Der „Mathematiker, der Naturkündiger, der Logiker“, mag der erste auch „vortrefflich [...] im Vernunfterkenntnisse“ überhaupt, „die zweiten besonders im philosophischen Erkenntnisse Fortgang haben“, sie sind und bleiben „doch nur Vernunftkünstler“ [KrV, B 867]. Mathematik und historisch-empirische Naturkunde bleiben Vernunftkünste, weil sie das systematische Ganze ihrer jeweiligen Sphäre materialiter nicht zu realisieren vermögen. Sie erweitern das Wissen unablässig, schreiten also in den Grenzen ihrer nur formal um­ grenzbaren Sphären „ohne Ende immer fort“ (weshalb sie denn

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auch

„fragmentarisch

abgehandelt

werden“

können)

[PS,

A 8f.]76. Demgegenüber kann die allgemeine Logik - die „allge­ meine Propädeutik allen Vernunftgebrauchs überhaupt“ [Logik, A 5] - zwar ihre Sphäre vollständig realisieren. Aber auch sie bleibt nur systematische Kunst, da in ihr lediglich die Form des Denkens überhaupt (oder die „Form des Verstandes“ [vgl. KrV, B 84f.]) thematisch ist, unabhängig davon, auf welche Gegen­ stände sich das Denken bezieht. Nun gehen Wissenschaften, die nie mehr sein können als nur Vernunftkünste und d. h. zugleich: nie mehr als nur Teilsysteme in einem durch die spekulative „Metaphysik“ prinzipientheore­ tisch repräsentierten Ganzen menschlichen Wissens, den „Hee­ resweg“ einer Wissenschaft, wenn Individuen in diesen Sektoren nach einem bestimmten „Plan“ zu besonderen Gruppen zu ver­ binden sind, d. h., wenn man sich der (besonderen) Idee hat bemächtigen können [vgl. KrV, B 863], nach der die jeweilige Wissenssphäre formaliter gegliedert ist, sich mithin über Gegen­ stand und Zweck des Projekts einig wird und Regeln (der Geschicklichkeit) existieren, nach denen ein jeweils gegebenes Material „technisch“ zusammengesetzt werden kann. Der Insti­ tutionalisierung solcher Wissenschaften aber geht ein auf einzel­ ne Personen beschränktes „Herumtappen“, gehen Trial and Er­ ror voraus. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, daß für Kant das, was mit der Etablierung von Wissen als Wissen­ schaft zu tun hat, immer auch von praktischer Relevanz ist. Des­ halb setzt die KrV in der zweiten ihrer Vorreden mit Kurzdar­ stellungen der Geschichten der besonderen und mittlerweile gut etablierten Wissenschaften (Logik, Mathematik, empirische Na­ turwissenschaften) ein, die (philosophisch) als Emanzipations­ und Revolutionsgeschichten konzipiert sind: Am Anfang der Wissenschaften, insbesondere der gegenstandsbezogenen (Ma­ thematik und empirische Naturwissenschaft), steht in philoso­ phischer Perspektive eine „Revolution der Denkungsart“, d. h. der Augenblick, in dem jemandem plötzlich das Licht aufgeht, 76 Der Grund dafür ist, daß in diesen Wissenschaften die Gegenstände betrachtet werden, wie sie „nach Datis der Anschauung (der reinen sowohl, als der empirischen) vorgestellt werden“; Mathematik und empirische Naturlehre bieten also „eine unend­ liche Mannigfaltigkeit von Anschauungen (reinen oder empirischen), mithin Objekte des Denkens“ dar, so daß sie „niemals zur absoluten Vollständigkeit gelangen, son­ dern ins Unendliche erweitert werden können“ [Met. Anf., A XV].

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daß Wissen und möglicher Wissenserwerb nur dann in geregel­ ten Bahnen verlaufen können, wenn man aufhört, sich passiv zu verhalten - wie ein „Schüler“, der meint, er müsse den Dingen etwas „ablernen“. Soll also Wissen als Wissenschaft etabliert werden, dann verlangt dies nach Kant aufgeklärte Denkungsart, derzufolge man den „obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft)“ und nicht bei den Din­ gen oder anderen Personen sucht77. Das Subjekt der Wissen­ schaft, insbesondere der objektbezogenen Wissenschaft, ist so­ mit

der

mündig

gewordene

Mensch,

der

sich

von

aller

Vormundschaft befreit hat - nicht zuletzt von der Vormund­ schaft der Natur in seiner eigenen Vernunft, die ihn nur nach „Anweisung“ agieren läßt.78 77 Nach: Was heißt: sich im Denken orientieren?, A 329 Anm. Zu dieser „Maxime der Aufklärung“ überhaupt vgl. näherhin unten Abschnitt 1.5. 78 Vgl. die als Revolutionsgeschichten konzipierten Beschreibungen der Wege, die Kant zufolge Logik, Mathematik und empirische Naturwissenschaften im Gegensatz zur Philosophie schon genommen haben. Das philosophische Interesse gilt hier dem Zeitpunkt, an dem in diesen Sphären menschlichen Wissens und Handelns das „Her­ umtappen“ beendet und die jeweilige Wissenschaft im Hinblick auf Gegenstand, Quelle sowie Methode der Erkenntnis so sicher institutionalisiert worden ist, daß der in ihr einzuschlagende Weg zum Ziel führt: 1. Folgt man Kant, so ist zwar die Metaphysik die älteste und fundamentalste aller Wissenschaften, und doch ist es die Logik gewesen, die „schon von den ältesten Zeiten her“ - „seit dem Aristoteles“ [KrV, B VIII] - den „sicheren Gang einer Wissen­ schaft“ gegangen ist [KrV, B VII]. Denn sie, die „als Propädeutik gleichsam nur den Vorhof“ aller Wissenschaften ausmacht [KrV, B IX], besitzt den „Vorteil“, daß man in ihr von allem Inhalt der Erkenntnis abstrahiert. Ihr „Geschäft“ ist das der ausführli­ chen Darlegung und des „strengen“ Beweises [KrV, B VIII] der formalen Regeln des Denkens überhaupt. „Das Geschäft, die bloße Form der Erkenntnis in Begriffen, Ur­ teilen und Schlüssen analytisch auseinander zu setzen, und dadurch formale Regeln alles Verstandesgebrauchs zustande zu bringen“ [KrV, B 171 f.], betrifft einen „richti­ gen“, mit sich selbst übereinstimmenden Gebrauch, der jederzeit „gelehrt“ werden muß. Denn „wie wir denken“, ist nicht identisch damit, „wie wir denken sollen“ [Lo­ gik, A 6]. „Die Regeln der Logik müssen daher nicht vom zufälligen, sondern vom notwendigen Verstandesgebrauche hergenommen sein, den man ohne alle Psycholo­ gie bei sich findet. Wir wollen in der Logik nicht wissen: wie der Verstand ist und denkt und wie er bisher im Denken verfahren ist, sondern wie er im Denken verfahren soll­ te [...]“ [ebda]. 2. Fast ebenso früh wie die (formale) Logik betritt nach Kant auch die Mathematik den Weg der Wissenschaft. Aber man dürfe „nicht denken, daß es ihr so leicht gewor­ den, wie in der Logik, wo es die Vernunft nur mit sich selbst zu tun hat“ [KrV, B X], gehört doch die Mathematik zu denjenigen „Vernunftwissenschaften“, die es mit Ob­ jekten zu tun haben. In gegenstandsbezogenen Wissenschaften kann nun das Einschla­ gen des „sicheren“, „königlichen“ oder auch „Heereswegs“ der Wissenschaft nur durch die Annahme einer „Revolution der Denkungsart“ ,erklärt‘ werden, welche

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b) Die Ausbildung von Philosophie als Vernunftkunst Im Falle der Etablierung der theoretischen Metaphysik (als der „Grundwissenschaft“ [KrV, B XXIV]) ist dies - im Prinzip nicht anders. Und doch erfolgt Kants Einschätzung vor­ kritischer „Versuche“, Philosophie als Wissenschaft zustandezu­ bringen, unter etwas veränderten Prämissen. In der vorwissen­ schaftlichen Phase - im Zustand „grundlosen Tappen[s] und leichtsinnigen Herumstreifen[s]“ [vgl. KrV, B XXX], das in der Philosophie, und das nun sei allerdings „das Schlimmste“, ein „Herumtappen [...] unter bloßen Begriffen“ ist [KrV, B XIV] agieren nicht einzelne Individuen, sondern ganze Gruppen oder „Schulen“, und zwar gegeneinander - Schulen, in deren Rahmen mehrere Menschen im „Parteigeist“ verbunden sind. Der Sinn einer solchen Konstruktion liegt zunächst darin, daß jetzt unmit-* 3 die Menschen gleichsam aus dem Schlummer jener Passivität aufweckt, die sie, wie „Schüler“, zunächst davon ausgehen läßt, daß es den Dingen etwas „abzulernen“ gilt. So habe die Mathematik den sicheren Weg einer Wissenschaft erst eingeschlagen, als einem „einzigen Mann“ - wiederum in dem „bewunderungswürdigen Volke der Grie­ chen“, „(er mag nun Thales oder wie man will geheißen haben)“ - nach einem ver­ mutungsweise langen „Herumtappen“ „unter den Ägyptern“ einfiel, die (der Struktur nach „sinnlichen reinen“) Begriffe der Mathematik einmal anschaulich zu konstruie­ ren [KrV, B XIf.]. Da eben sei ihm das „Licht“ aufgegangen, daß man die Eigenschaf­ ten geometrischer oder arithmetischer Gebilde weder von gegebenen Begriffen noch von einer gegebenen empirischen Anschauung (durch Analysis) einfach „ablernen“ könne, daß Erkenntnis in der Mathematik vielmehr nur aus der konstruktiven Dar­ stellung der Begriffe in der reinen Anschauung resultieren kann. Die „Geschichte“ der dadurch ausgelösten „Revolution der Denkungsart“ unter den Mathematikern nun sei zwar nicht dokumentiert worden. Aber die Tatsache, daß es eine von Dioge­ nes Laertius überlieferte „Sage“ über den „Erfinder“ gebe, weise darauf hin, daß das „Andenken der Veränderung, die durch die erste Spur der Entdeckung dieses neuen Wegs bewirkt wurde, den Mathematikern äußerst wichtig geschienen haben müsse und dadurch unvergeßlich geworden sei“ [KrV, B XI]. 3. Auch mit Bezug auf „Physik“, d.h. die empirischen Naturwissenschaften, muß eine „Revolution der Denkungsart“ vor „anderthalb Jahrhunderten“ angenommen werden, die sie auf den sicheren Weg - einer Experimentalwissenschaft - gebracht hat. Von Bacon teils veranlaßt, teils in ihrer Richtung bestärkt, entschlossen sich die Naturforscher dazu, sich nicht länger von der Natur „wie am Leitbande gängeln zu lassen“, sondern ebenso, wie ein „bestallte[r] Richter[], der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt“, auch die Natur zu nötigen begannen, auf ihre Fragen zu antworten. Weil die Vernunft nur das einsehe, was sie selbst hervor­ bringe, gehe seither „die Vernunft [...] mit ihren Prinzipien (hier den empirisch ge­ wonnenen Gesetzen) [...] in der einen Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur [...], zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will“ [KrV, B XIII].

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telbar von „Vernunftkunst“ gesprochen werden kann [vgl. KrV, B 867]: In der vorwissenschaftlichen Phase (die erst in zeitgenös­ sischer Gegenwart beendet zu werden verspricht) waren Men­ schen schon nach verschiedenen, partikularen, mithin „willkür­ lichen Entwürfen“ verbunden [vgl. KrV, B 872]. Nun ist der für den vorwissenschaftlichen Zustand charakteristische Status der Philosophie, nur „Vernunftkunst“ zu sein, gleichfalls dadurch bestimmt, daß man sich im Versuch, sie als Wissenschaft zu in­ stallieren, nur an einem formalen Entwurf, an einem Vernunft­ begriff von der bloßen „Form eines Ganzen“ orientiert. Maß­ geblich ist ein „Urbild“ von Philosophie, demzufolge sie nur als „System aller philosophischen Erkenntnis“ intendiert ist, „ohne etwas mehr als die systematische Einheit dieses Wissens, mithin die logische Vollkommenheit der Erkenntnis zum Zweck zu ha­ ben“ [vgl. KrV, B 866]. Die Orientierung an der Systematizität der Erkenntnisse ist freilich der erste Weg zur Wissenschaft, in der Philosophie nicht anders als in allen anderen Sphären menschlichen Wissens. Denn „die systematische Einheit [ist] dasjenige [...], was gemeine Erkenntnis allererst zur Wissen­ schaft, d.i. aus einem bloßen Aggregat derselben ein System macht“ [KrV, B 860]. Deshalb handelt es sich bei diesem „szientifischen“ Vernunftbegriff von Philosophie - wie er allerdings „nur ein Schulbegriff“ ist [KrV, B 866] und d.h. zugleich: wie er allen bezeichneten philosophischen Schulen gemeinsam ist auch um ein „Urbild“ der menschlichen Vernunft (ein der menschlichen Willkür entzogenes „objektiv[es] Urbild“ zumal [KrV, B 866]), das ebenso dazu dient, „alle Versuche zu philoso­ phieren“ (Philosophie im „subjektiven“ Verständnis) zu beurtei­ len, wie man sich aber ihm auch, so Kant in platonischem Sprachduktus, „zu nähern sucht, so lange, bis der einzige [...] Fußsteig“, der „sehr durch Sinnlichkeit verwachsen[]“ ist, „ent­ deckt wird, und das bisher verfehlte Nachbild, so weit als es Menschen vergönnt ist, dem Urbilde gleich zu machen gelingt“ [ebda, H. v.V.]. Aber dieses Urbild erschöpft nicht die „echte Idee“ von Philosophie,

sondern

betrifft

nur

deren

Form

und

den

Wissenschaftscharakter der Philosophie überhaupt: das metho­ dische Vorgehen im allgemeinen und die Kohärenz und Wider­ spruchsfreiheit von Erkenntnissen in einem System. Orientiert man sich nur an ihm, wie er zwar eine notwendige Bedingung

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für Philosophie als Wissenschaft überhaupt, nicht aber eine hin­ reichende Bedingung für Philosophie als einer speziellen Wis­ senschaft ist, so zieht dies aus Kantischer Perspektive wenig­ stens drei Probleme nach sich: Erstens bleibt offen, zu welchen Erkenntnissen die Philosophie eigentlich fähig ist, d. h. auf wel­ che Gegenstände sie sich bezieht (ob auf intelligible oder sensib­ le oder auf Gegenstände beiderlei Typs), aus welchen Quellen ihre Erkenntnisse entspringen (ob aus Vernunft oder Erfahrung oder ob sie aus beiderlei Quellen entspringen können) und wel­ che spezifische Methode (über das kohärente Vorgehen hinaus) in der Philosophie anzuwenden ist (ob das dogmatische oder skeptische oder ein Verfahren noch fundamentaleren Typs). Dies ist es, was Kant mit Bezug auf vorkritisches Philosophieren gerade im „Geschichte der Vernunft“ betitelten Schlußabschnitt der KrV kritisch thematisiert. Zweitens muß der Inhalt des pro­ jektierten Systems (das „Bauzeug“) auf eine für Vernunftkünste überhaupt typische Weise „[...] rhapsodistisch“ aus bereits vor­ handenen Systemen genommen und kann immer nur „tech­ nisch“ zusammengesetzt werden, was denn auch „gar lange Zei­ ten“ der Fall war [vgl. KrV, B 863] (auf diesen Punkt wird gleich noch einmal zurückzukommen sein). Und drittens - und dies ist entscheidend - ist das Resultat, der Geltung nach, nie Philoso­ phie, sondern immer nur „Philodoxie“ [vgl. KrV, B XXXVII; Logik, A 24], d.h. es läßt sich nicht anders als nur als Ausdruck einer Liebe zur Meinung bewerten. Diese Liebe gilt nun Kant zufolge zwar nicht reinen Meinungen („rein-eigentümlichen An­ sichten“, wie Hegel sie nannte, welche der Sache nach gar kei­ nen Bezug auf Wahrheit haben79 und nach Kant ganz „zufällig“ hier und dort ,aufsteigen‘). Sie gilt (gegenstandsbezogenen) Be­ hauptungen, die durchaus wahr sind, aber nur im formallogi­ schen Sinn, d. h. lediglich „Gesetzen“ der allgemeinen Logik ge­ mäß [KrV, B 84], die bloß das „Verhältnis der Erkenntnisse aufeinander“ betreffen [KrV, B 80], d.h. deren widerspruchs­ freie Vereinigung in einem System, aber unangesehen der „Ob­ jekte (als der Materie des Denkens)“ [Logik, A 5]. Erkenntnisse jedoch, die in diesem Sinne wahr sind, können, so Kant, „noch immer dem Gegenstand widersprechen“ [KrV, B 84], der im

79 Reine Meinung ist der Geltung nach ein „mit Bewußtsein sowohl objektiv wie sub­ jektiv unzureichendes Fürwahrhalten“ [KrV, B 850].

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Kontext des Denkens „doch nicht gegeben“ ist und vielleicht als Erkenntnisgegenstand auch „auf keinerlei Weise gegeben wer­ den“ kann [KrV, B 88] (wie es bei denjenigen Gegenständen der Fall ist, die durch Ideenbegriffe bezeichnet werden). Im lo­ gischen Sinne wahre Urteile sind also nicht schon Urteile, die auch in einem „materiellen (objektiven)“ Sinne wahr sein wür­ den [vgl. KrV, B 85]. Es ist diese Einsicht, zu der man Kant zu­ folge in der alten Philosophie nicht gelangt war. Man gebrauchte die allgemeine Logik nicht so, wie sie kritisch gesehen nur ver­ wendet werden kann: als ein „Kanon“ zur „Beurteilung und Be­ richtigung unseres Erkenntnisses“ [KrV, B 85]. Vielmehr war man (insbesondere in der rationalistischen Schule) der Auffas­ sung, sie ließe sich auch noch als „Anweisung“ gebrauchen, „wie ein gewisses Erkenntnis zu Stande gebracht werden kann“ [Logik, A5]: „gleichsam wie ein Organon zur wirklichen Her­ vorbringung [...] von objektiven Behauptungen“ [KrV, B 85]. Die allgemeine Logik so zu gebrauchen aber heißt, aus ihr eine „Logik des Scheins“ [KrV, B 85] oder „Dialektik“ [KrV, B 86]80 zu machen - wobei man dem „wirklichen Gebrauche“, den „die Alten“ von ihr machten, auch „sicher abnehmen“ könne, „daß sie bei ihnen nichts anderes war, als die Logik des Scheins“ [KrV, B 85 f.]. Nun waren freilich die vorkritischen Versuche, Philosophie als systematische Wissenschaft zustandezubringen, für Kant nicht ohne allen positiven Effekt. Sie begründeten immerhin die „Kul­ tur“ der „reinen Vernunft“ (im Kontext der „Kultur der mensch­ lichen Vernunft“ überhaupt, d. h. des Wissenschaftsgefüges im ganzen [vgl. KrV, B 850]): einen dynamischen Zusammenhang von „Bearbeitungen“ der „Natur der reinen Vernunft“ mit Hilfe „künstlicher Mittel“, so daß es nicht bei unkultivierter Natur, bei „gemeiner“, vermeintlich „gesunder“ Vernunft geblieben ist [KrV, B 880]. Und wenn nun auch in diesem Kulturzusammen­ hang (in dieser „Geschichte der reinen Vernunft“) allenthalben die „traurige Erfahrung[]“81 zu machen war, daß man mit Sy­ stemen, die nur kunstvoll errichtet sind, stets scheitert, so war 80 Diesem kritischen Gebrauch des Ausdrucks „Dialektik“ korrespondiert in der KrV die selbstkritische Verwendung für eine „Kritik des dialektischen Scheins“, vgl. KrV, B 86. 81 Vgl. zum Thema der Negativerfahrung im allgemeinen: Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Siebenter Satz, A 398 ff.

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das Bemühen um wahre Philosophie aber doch unerläßlich: nicht nur für die Ausbildung des Talents zu philosophieren oder für den (wenn auch nur „rhapsodistischen“) Erwerb von Ein­ sichten und Kenntnissen, die zum Philosophieren unerläßlich sind [vgl. Logik, A 26]. Unerläßlich war es auch und vor allem dafür, daß sich die „echte Idee“ der Metaphysik am Ende in ,hellerem Licht‘ zeigen konnte. Dies geschieht mit dem Entste­ hen der Systeme von Wolff und Locke (nimmt man sie als Glie­ der eines architektonischen Ganzen), von denen ausgehend sie jetzt vollständig und kritisch hat ausgearbeitet (und z.B. „von allem Fremdartigen“ befreit [KrV, B 870]) werden können - in einer KrV, die allerdings aufgeklärter Denkungsart Ausdruck verleiht: Man sucht den „Probierstein der Wahrheit“ freilich nicht in den vorhandenen Systemen, sondern nur „in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft)“. Enthält die KrV damit aber, zukunftsbezogen, „den ganzen Vorriß zu einem System der Me­ taphysik“ [KrV, B XXIII], das für alle sollte akzeptabel sein, dann macht sie zugleich auch, vergangenheitsbezogen, denjeni­ gen Plan transparent, nach dessen „Anweisung“ Menschen bis­ her in den verschiedensten theoretischen Bereichen Wissen als Wissenschaft mehr oder weniger erfolgreich etablierten. 1.5 Ausgang aus der Naturteleologie a)

Der moralisch-praktische Zweck

An ein spekulatives System der Metaphysik läßt sich die Frage stellen, wozu es eigentlich gut sein soll, zumal sich nach einge­ hender Prüfung des theoretischen Erkenntnisvermögens zeigte, daß man in ihm über die Erfahrungsgrenze nicht hinausgelangen kann (jedenfalls nicht begründetermaßen) und also nicht er­ reicht, was man in der Metaphysik aber doch immer erreichen wollte. Die Metaphysik hat immerhin

„so viel Köpfe nicht darum beschäftigt“ und wird sie auch „ferner“ nicht darum beschäftigen, „um Naturerkenntnis dadurch zu erweitern (welches viel sicherer durch Beobachtung, Experiment und Anwen­ dung der Mathematik auf äußere Erscheinungen geschieht), sondern um zur Erkenntnis dessen, was gänzlich über alle Grenzen der Erfah­ rung hinausliegt, von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zu gelangen“ [Met. Anf., A XXII]. Allerdings frage man, so Kant, „immer am Ende, wozu dient

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das Philosophieren und der Endzweck desselben [...] ?“ [Logik, A 23]. Auf diese Frage kann weder im Feld theoretischer Ver­ nunft noch in der Perspektive einer Urteilskraft eine Antwort gegeben werden, die auf dieses Feld reflektiert: lediglich im Lichte von Ideen, die zu ihm gehören. In einer derart angeleite­ ten Sinnperspektive auf das Ganze läßt sich zwar alles so beur­ teilen, als sei es zweckmäßig gestaltet. Nichts aber hat Zweck in sich selbst, alles ist gut für anderes. Die Zweck-Mittel-Rationalität, die die Ebene der Vernunftkünste charakterisiert, bliebe die alle Praxis beherrschende Form, „Regeln der Geschicklichkeit“, aber auch (wie Kant später ausführlicher thematisiert) „Rat­ schläge der Klugheit“ in Hinsicht auf den von jedem Menschen als Natur- und Sinnenwesen naturwüchsig verfolgten Zweck der Glückseligkeit82 bestimmten alleine den Vernunftgebrauch, lie­ ße sich nicht ein vernunftautochthoner Endzweck benennen, durch den aller Gebrauch der Vernunft, mithin auch das Philo­ sophieren allererst eine bestimmte, unveränderliche Richtung bekommt. So ist eine philosophische Position, die die Frage nach dem Endzweck offenläßt, Kant zufolge noch immer nur „Philodoxie“ und die sie bestimmende Auffassung von Philosophie noch immer nur ein „Schulbegriff“, beides nun aber in einem in praktischer Hinsicht kritischen Sinn. Philosophie ist „Philodoxie“ in praktisch relevanter Hinsicht, wenn man unter Philo­ sophie vor allem nur „eine von den Geschicklichkeiten zu gewis­ sen beliebigen Zwecken“ versteht [KrV, B 867 Anm.]. Einen Endzweck allen Vernunftgebrauchs kann indes nur praktische Vernunft zu erkennen geben. Eine entsprechende praktische Idee von Philosophie zu formulieren, ist mithin auch insofern notwendig, wenn alle Wissenschaften, mithin auch ein spekulati­ ves System der Metaphysik nicht für beliebige „äußere Zwecke“ verwendbar sein sollen [vgl. KrV, B 867]. Deshalb hat Kant das „Urbild“ von einem „System aller phi­ losophischen Erkenntnisse“ bereits in der KrV durch ein zweites „Urbild“ von genuin praktischer Dignität ergänzt. In ihm ist nicht nur die Selbstzwecklichkeit des Menschen überhaupt, son­ dern vor allem der besondere Anspruch festgehalten, unter dem in praktischer Hinsicht gerade die „Denker unter den Men­ schen“ stehen. Denn dieses Urbild verweist darauf, daß das Wort 82 Vgl. GMS, B 43 ff.

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„Philosophie“ immer auch mit dem „Ideale des Philosophen“ in Verbindung gebracht wurde [KrV, B 866], mit dem eines „Wei­ sen“ (z. B. bei den Stoikern) [KrV, B 597]. Bei diesem Ideal han­ delt es sich um eine Personifizierung derjenigen (von Kant dann in der Kritik der praktischen Vernunft präzisierten) „Gesetzge­ bung“, die „allenthalben in jeder Menschenvernunft anzutreffen ist“ [vgl. KrV, B 867]: der Gesetzgebung aus reiner praktischer Vernunft, die ein System der Zwecke gründet. So ist Philosophie in erster Linie Liebe zur Weisheit, was ihr ja auch den Namen („Philosophie“) gegeben, d.h. „dieser Benennung jederzeit zum Grunde gelegen“ hat [KrV, B 866f.]. Weisheit wird bestimmt: theoretisch als Erkenntnis dessen, was als schlechthin gut bezeichnet werden kann, sowie praktisch als Angemessenheit des Willens zum „höchsten Gut“ [KpV, A 235] und als Würdigkeit, glücklich zu sein. Das „höchste Gut“ ist der „a priori durch reine praktische Vernunft bestimmt gegebene Zweck“, der auch als „Endzweck der Schöpfung“ ge­ dacht werden muß. Es ist derjenige „Gegenstand“, den meine praktische Vernunft durch ihr moralisches Gesetz „mir zum letz­ ten Gegenstand alles Verhaltens zu machen gebietet“ [KpV, A 233]. Die praktische Vernunft gebietet hervorzubringen: welt­ umspannende Sittlichkeit (Autokratie) oder Tugend im Sinne einer praktischen Vollkommenheit, wie sie bei „Geschöpfen“ nur irgend möglich sein kann, und zwar soweit deren mittelbare Wirkung in der Sinnenwelt zugleich Glückseligkeit (ein nach Wunsch gelingendes Leben) sein würde [KpV, A 206 f.] - Glück­ seligkeit „in dem genauen Ebenmaße mit der Sittlichkeit“ [KrV, B 842; vgl. auch KpV, A 234]83. Jedermann soll den „Weg zur Weisheit“ gehen [KpV, A292]. Aber dem Philosophen kommt dabei eine Vorreiterrolle zu. Denn er soll anderen auf diesem Weg durch Beispiel und Lehre vorangehen, um ihn „gut und kenntlich zu bahnen“ und andere „vor Irrwegen zu sichern“ [eb­ da]. Dabei möchte,

„ein Weisheitslehrer zu sein [...] wohl etwas mehr als einen Schüler be­ 83 „Sittlichkeit“ ist derjenige Bestandteil des höchsten, in der Welt möglichen Guts, „sofern es allein durch Freiheit möglich ist“; eine in Proportion zur Sittlichkeit „aus­ geteilte“ „größte Glückseligkeit“ derjenige Bestandteil, im Hinblick auf den es „nicht bloß auf menschliche Freiheit, sondern auch auf die Natur ankommt“: Was heißt: sich im Denken orientieren?, A315f. Glückseligkeit bedingt nicht zuletzt auch, daß die Philosophiegeschichtsphilosophie zur Physikotheologie weiterschreitet.

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deuten, der noch immer nicht weit genug gekommen ist, um sich selbst, viel weniger um andere mit sicherer Erwartung eines so hohen Zwecks zu leiten; es würde einen Meister in Kenntnis der Weisheit bedeuten“ [KpV, A 195], Insofern wird Philosophie in ihrer Bestimmung als Weisheitsleh­ re (wie die Idee der Weisheit selbst) zwar

„objektiv in der Vernunft allein vollständig vorgestellt [...], subjektiv aber, für die Person, [ist sie] nur das Ziel seiner unaufhörlichen Bestre­ bung [...], [...] in dessen Besitz unter dem angemaßten Namen eines Philosophen zu sein, nur der vorzugeben berechtigt ist, der auch die un­ fehlbare Wirkung derselben (in Beherrschung seiner selbst und dem ungezweifelten Interesse, das er vorzüglich am allgemeinen Guten nimmt) an seiner Person als Beispiele aufstellen kann [...]“ [KpV, A195f,], Durch diese Strebensrichtung aber wird aus „Philodoxie“ aller­ erst Philosophie: eine Wissenschaft, in der Liebe zur Weisheit fundamentale Bedeutung hat,

b) „Selbstdenken“: Die philosophiespezifische „Revolution der Denkungsart“ So ist denn „Weisheit, aber durch den Weg der Wissenschaft“ [KrV, B 878]84 von Anfang an die Programmformel der Kantischen

Philosophie gewesen, In ihr wird ein komplexes Wechsel­

verhältnis zwischen der Idee einer „Philosophie der spekulati­ ven Vernunft“, die nur als Metaphysik der Natur akzeptabel sein kann, und der „Idee vom gesetzmäßig vollkommenen prak­ tischen Gebrauch der Vernunft“85, d, h, der Weisheit behauptet, die primär im Tun und Lassen, also in der Praxis besteht, aber ebenso einer Wissenschaft bedarf [vgl, GMS, B 22f,] - einer Me­ taphysik der Sitten, Dabei wäre eine Metaphysik der Sitten (als eine Lehre, „wie wir der Glückseligkeit würdig werden sollen“ [KpV, A 234]) eigentlich nicht nötig, Denn „das menschliche Gemüt nimmt (so wie ich glaube, daß es bei jedem vernünftigen

84 Vgl, auch KpV, A 194f, Vgl, zu Kants Umdeutung des klassischen „amor sapientiae“ in eine „audacia sapientiae“: Odo Marquard, Art, Philosophie (1781-1900), in: Hist, Wörterb, der Philosophie, Bd, 7, Sp, 714-731, insbes, 714 f,; Ders,, Drei Betrach­ tungen zum Thema Philosophie und Weisheit', in: Willi Oelmüller (Hrsg,), Philoso­ phie und Weisheit, Paderborn 1989, 275-287, 85 Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, A 122,

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Wesen notwendig geschieht), ein natürliches Interesse an der Moralität“ [KrV, B 858]. Nötig wird sie, weil es „sehr schlimm“ ist, daß sich die (moralische) „Unschuld“, die an sich selbst eine „herrliche Sache“ sei, „nicht wohl bewahren läßt und leicht ver­ führt wird. Deswegen bedarf selbst die Weisheit - die sonst wohl mehr im Tun und Lassen, als im Wissen besteht - doch auch der Wissenschaft, nicht um von ihr zu lernen, sondern ihrer Vor­ schrift Eingang und Dauerhaftigkeit zu verschaffen“ [GMS, B 22f.]. Denn „Weisheit ohne Wissenschaft“ - „Wissenschaft“ jetzt in einem Sinn, der eine kritische Metaphysik der Natur wie eine Metaphysik der Sitten umfaßt86 - ist für Menschen „nur ein Schattenriß von einer Vollkommenheit, zu der wir nie gelangen werden“ [Logik, A 27]. „Weisheit, d. i. praktische Ver­ nunft in der Angemessenheit ihrer dem Endzweck aller Dinge, dem höchsten Gut [...] wohnt allein bei Gott“, während „menschliche Weisheit“ ist, „ihrer Idee nur nicht sichtbarlich entgegen zu handeln“87. Und dazu dient die Wissenschaft. Nun kann die „Weisheit, als die Idee vom gesetzmäßig voll­ kommenen praktischen Gebrauch der Vernunft“, dem Men­ schen „auch selbst dem mindesten Grade nach“ ein „anderer [...] nicht eingießen“, er muß sie aus „sich selbst heraus­ bringen“88. Notwendige Bedingung dafür ist überhaupt: das „Selbstdenken“. Auch der Philosoph muß ein „Selbstdenker“ sein, d.h. jemand, der „einen freien und selbsteigenen, keinen sklavisch nachahmenden Gebrauch von seiner Vernunft“ macht [Logik, A 27]. Diese Bestimmung kann als ein bedeutsames sy­ stematisches Gelenk auch im Rahmen der Kantischen Philoso­ phiegeschichtskonzeption betrachtet werden. Denn mit ihr ist für den Philosophierenden eine neue Position (und vor allem ein Anspruch) festgelegt, mit der sich die Kritische Philosophie am nachdrücklichsten von den vormaligen „Arten zu philoso­ phieren“ absetzt: Ein Selbstdenker gibt nicht mehr einfach dem „Hang“ und „Drang“ nach, sich des Vermögens der Vernunft nur „zum Vernünfteln zu bedienen“. Mag dabei auch immer Phi­ losophie wenigstens in dem Sinne entstanden sein, daß Erkennt­ nisse „aus Vernunft“ als einem „erzeugenden“ Vermögen ent-

86 Vgl. KrV, B XXIVf. oder unten Anm. 93. 87 Das Ende aller Dinge, A 514. 88 Anthropologie, A 122.

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Sprüngen sind [KrV, B 864], so war und ist doch grundsätzlich derjenige noch kein „Selbstdenker“, der dabei „sklavisch“ ver­ fährt und einer „passiven“ und „heteronomen“ Vernunft an­ hängt [vgl. KU, B 158]. Jemand, der wirklich selbst denkt, hat sich vielmehr von der Vormundschaft seiner eigenen Vernunft­ natur so weit befreit, daß er fähig ist, „frei (Prinzipien des Den­ kens überhaupt gemäß) zu urteilen“ [Fakult., A 25]. So steht das „Selbstdenken“ für Emanzipationsleistung, die im Zeitalter „ge­ reifter Urteilskraft“ gerade vom Philosophen gefordert ist. Der Ausdruck „Selbstdenken“ bezieht sich zunächst (in einer weiteren Bedeutung) auf die „Maxime der Aufklärung“ über­ haupt, derzufolge es im allgemeinen gilt, den „obersten Probier­ stein der Wahrheit in sich selbst (d.i. in seiner eigenen Ver­ nunft)“ zu suchen89. Diese Maxime gliedert sich nun dynamisch in drei besondere Maximen, die in der Kritischen Philosophie an die Stelle der praktischen Grundsätze treten, durch welche die drei vorkritischen Denkungsarten charakterisiert sind: Die Ma­ ximenfolge setzt ein mit dem „Selbstdenken“ in einer engeren Bedeutung - mit der „Maxime der vorurteilsfreien Denkungs­ art“, die sich auf den Erkenntniskontext bezieht: Wem es gelingt, sich im Denken jederzeit nach dieser Maxime zu bestimmen, der verzichtet darauf, „das, was über seinen Verstand ist“, noch län­ ger „wissen“ (erkennen) zu wollen. Es folgt die „Maxime der erweiterten Denkungsart“, die dem Kontext der Urteilskraft im engeren Sinne zugehört: Wer sich diese Maxime zum beharr­ lichen Grundsatz zu machen vermag, der kann sich jederzeit insbesondere in der öffentlichen „Mitteilung mit Menschen“ „an die Stelle des anderen denken“ (oder „versetzen“) und auf einem insofern „allgemeinen Standpunkte“ über sein eigenes Urteil reflektieren. Die Maximenfolge schließt mit der „Maxime der konsequenten Denkungsart“, die der Vernunft im eigent­ lichen, nämlich praktischen Sinne zugehört: Wer sich im Denken jederzeit nach ihr bestimmen kann, der denkt „jederzeit mit sich selbst einstimmig“90. Anders als die vorkritischen Maximen sind

89 Vgl. Was heißt: sich im Denken orientieren?, A 329 Anm. 90 In der Anthropologie (a. a. O.) wird die genannte Maximenfolge in ihrer Bedeutung für die „Weisheit“ thematisiert: „Weisheit, als die Idee vom gesetzmäßig vollkomme­ nen praktischen Gebrauch der Vernunft, ist wohl zu viel von Menschen gefordert; aber auch selbst dem mindesten Grade nach kann sie ein anderer ihm nicht eingießen, sondern er muß sie aus sich selbst herausbringen. Die Vorschrift, dazu zu gelangen,

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diese drei formal und a priori: Sie sind nur Voraussetzungen da­ für, daß Moralität in die Denkungsart eingehen kann, und ste­ hen lediglich dafür, daß jemand ,seine Pflicht tun will, was seine Pflicht auch sein mag‘91. Derart „echte Grundsätze“ sollten nun in die philosophische „Denkungsart“ Eingang finden [vgl. KrV, B 776 f.], womit in der Philosophie jene „Revolution der Denkungsart“ nachholt wer­

enthält drei dahin führende Maximen: 1) Selbstdenken, 2) sich (in der Mitteilung mit Menschen) an die Stelle des anderen zu denken, 3) jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken“. Schon in der KU war das so bestimmte Selbstdenken als die erste von drei „Maximen des gemeinen Menschenverstandes“ zur Geltung gekommen, nämlich den „Maximen der vorurteilsfreien, der erweiterten, [...] der konsequenten Denk­ ungsart“: Die erste Maxime (das Selbstdenken) „ist die Maxime einer niemals passiven Ver­ nunft“, d.h. einer Vernunft, die sich selbst gesetzgebend ist. Diese Maxime ist dem „Hang“ zur passiven Vernunft, d. h. „zur Heteronomie der Vernunft“ oder dem „Vor­ urteil“ entgegengesetzt, wobei das größte Vorurteil dies sei, sich vorzustellen, die Na­ tur (mithin auch man selbst als Naturwesen) sei nicht jenen „Naturregeln“ unterwor­ fen, die „der Verstand“ ihr (als Gesetz) zugrunde legt: „d. i. der Aberglaube“ [KU, B 158]. Gerade dieser Aberglaube mache blind und führe zum Bedürfnis, von anderen geleitet zu werden. Es ist die Maxime der Aufklärung im engeren Sinne, die „in thesi“ für denjenigen etwas Leichtes sei, der nur seinem wesentlichen praktischen Zweck angemessen sein will „und das, was über seinen Verstand ist, nicht zu wissen verlangt“; „in hypothesi“ jedoch sei „Aufklärung“ das Negative, das die Wißbegierde im Zaum hält: „eine schwere und langsam auszuführende Sache“ [KU, B 158 Anm.]. Was die zweite Maxime betrifft, so zeige es „einen Mann von erweiterter Denkungs­ art an [...], wenn er [...] aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann, daß er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urteilreflektiert“. Die dritte Maxime „ist am schwersten zu erreichen, und kann auch nur durch die Verbindung beider ersten, und nach einer zur Fertigkeit gewordenen öfteren Befolgung derselben erreicht werden. Man kann sagen: die erste dieser Maximen ist die Maxime des Verstandes, die zweite der Urteilskraft, die dritte der Vernunft“ [KU, B 159 f.]. So ist in der von Kant angedeuteten „Maximenfolge [...] die Maxime der Aufklä­ rung“ - das Selbstdenken - „[...] eingebettet in einen Zusammenhang, der sich über das Selbstdenken als ihrem ersten Schritt realisierenden Vernunft, die ihrerseits in der Bestimmung des Anderen auf das Faktum des Sittengesetzes bezogen ist, welch letzeres auch ihren Ideen praktische Realität verleiht. Deshalb führt Aufklärung nicht da­ zu, Beliebiges nach Gusto zu denken; sie erweist sich vielmehr als der notwendige, aber nur erste Schritt der Vernunft auf dem Wege zu sich selbst, zur Erkenntnis ihres eigenen Wesens“: Hans Michael Baumgartner, „Aufklärung“ - ein Wesensmoment der Philosophie?, in: Walter Kern (Hrsg.), Aufklärung und Gottesglaube, Düsseldorf 1981, 25-50, 45. 91 H. J. Paton, Der Kategorische Imperativ, a. a. O., 61.

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den würde, die innerhalb der gegenstandsbezogenen philoso­ phieexternen Wissenschaften bereits stattgefunden hat. Es sind nicht diese Grundsätze selbst, die die Spezifik der philosophi­ schen Revolution ausmachen. Spezifisch ist die Dringlichkeit, mit der diese in einer geteilten Wissenschaftssphäre gefordert ist: Die Philosophie ist in theoretischer Hinsicht darauf angelegt, die „Grundwissenschaft“ zu sein, die dem ganzen Wissenschafts­ gefüge beständige „Ordnung und Zusammenhang“ gibt [vgl. Logik, A 28]. Und das eben setzt voraus, daß man in der Philo­ sophie selbst zusammenkommt.

c) Das Schema der Philosophiegeschichtsphilosophie als ,Idee zu einer ganz besonderen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht Sich an den bezeichneten Grundsätzen orientieren zu können, ist, zukunftsbezogen, die grundlegende Voraussetzung dafür, um die Philosophie für die Weisheit zu öffnen. Vergangenheits­ bezogen steht es für den Ausgang des Menschen aus einer Un­ mündigkeit, die er, wenigstens als endliches Vernunftwesen, nicht selbst verschuldet hat. Die Menschen gehen heraus aus den Schulen, in denen ihnen doch wenigstens dies gemeinsam war, daß sie erstens immer nur „nach Anweisung“ verfuhren, zweitens sich gleichsam über „subjektive Privatmeinungen“ [vgl. KU, B 159] nicht hinwegsetzen konnten und drittens, anstatt gemeinsam und konsequent zu verfahren, nur zweckblind ,herumtappten‘. Am Ende der vergangenen Geschichte der Philoso­ phie steht eine „Revolution der Denkungsart“ durch den mün­ dig gewordenen Menschen. Nach der Schule kommt, folgt man Kant, die „Welt“, die zu­ nächst diese „Erdenwelt“ ist, welche man vermittels einer Revo­ lution zum Horizont gewinnt. Damit kommt aber auch das Er­ fordernis, sich als ein Wesen anzuerkennen, das nicht nur in Schulen, sondern schon immer auf der Erde existiert hat. Der Mensch in der Welt aber existiert in Verhältnissen: sowohl im Verhältnis „zu den Außendingen“ (denn „was ist aber Leben? Physisches Anerkennen seiner Existenz in der Welt, und seines Verhältnisses zu den Außendingen“) [Fakult., A 119], als auch im Verhältnis zu Anderen. Derjenige aber, der sich in dem Sinne als einen „Weltbürger“ versteht - als ein Wesen, das Welt „hat“

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und nicht nur „kennt“92 der muß auch anerkennen, daß er bis­ lang nur ein „Spiel mit[ge]spielt“ hat - ein Spiel, das endliche Wesen, die durch Erfahrung lernen, in dieser Welt erst einmal zu spielen gezwungen sind93. Die philosophische Version dieses Spiels skizziert Kants Philosophiegeschichtsphilosophie in ihrem ersten (theoretischen) Schritt. Im zweiten (naturteleologi­ schen) Schritt verdeutlicht sie, daß dieses Spiel kein reines Spiel, daß, es zu spielen, vielmehr zweckmäßig war. Zweckmäßigkeit ist aber nicht genug. Es gilt, dem Philosophieren überhaupt einen auf den Menschen in der Welt bezogenen Sinn abzugewin­ nen, der ihn in seiner grundlegend praktischen Bestimmung trifft. Dies nun führt zum dritten und letzten Schritt in der Kantischen

Philosophiegeschichtsphilosophie - zu einer Dimension

der Beurteilung der ganzen, Vergangenheit, Gegenwart und alle irdische Zukunft umfassenden Philosophiegeschichte, in deren Effekt der Philosophierende davon ausgehen kann, daß er, mag er auch nicht erkennen können, was jenseits dieser Erdenwelt liegt, dafür aber immerhin von zweierlei sichtbar Zeugnis geben kann: erstens davon, daß der Mensch aufgrund seines Verstandes dazu geschaffen ist, ein Gesetzgeber der Natur‘ zu sein; und

zweitens davon, daß er auch noch ein „intelligibles Vermögen“ zu einer Kausalität aus Freiheit (in der Sinnenwelt) besitzt und im Grunde für eine „andere Welt“ geschaffen ist - für ein „Reich der Sitten“. Die Kritische Philosophie ist, anstatt der Schule, der Welt in diesem zweifachen Sinne, genauer dem Menschen als Bürger zweier Welten verpflichtet. Sie ist Philosophie nicht nach dem „Schulbegriff“, sondern nach dem „Weltbegriff (conceptus cosmicus)“ [KrV, B 867] - eine Philosophie, die zum Thema macht, was „jedermann notwendig interessiert“ [ebda]. In diesem er­ weiterten und gleichsam populären Kontext erhält nun das

92 So kann man es im Anschluß an eine Notiz in der Vorrede zur Anthropologie, A VII, formulieren: „Welt haben“ wird hier dem „Welt kennen“ entgegengesetzt. Man besitzt Weltkenntnis, wenn man die „Sachen in der Welt, z.B. Tiere, Pflanzen und Mineralien in verschiedenen Ländern und Klimaten“ kennt [AVI]. Demgegenüber „hat“ der Mensch, als Weltbürger, Welt. „Noch sind die Ausdrücke: die Welt kennen und Welt haben in ihrer Bedeutung ziemlich weit auseinander; indem der eine nur das Spiel versteht, dem er zugesehen hat, der andere aber mitgespielt hat“ [AVII]. 93 Vgl. Anthropologie, ebda.

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„Schema zu der Geschichte der Philosophie a priori“ - „wie der Dogmatism aus ihm der Skepticism aus beyden zusammen der Criticism habe entstehen müssen“ - den Sinn gleichsam einer ,Idee zu einer ganz besonderen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht‘, die mit Kants ,Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht‘, d.h. mit der Geschichtsphiloso­ phie, eng zusammenhängt. Um dies zu zeigen, ist es allerdings erforderlich, zuvor das Konzept einer Philosophie nach dem „Weltbegriff“ und die für sie maßgebliche Programmatik „Weisheit, aber durch den Weg der Wissenschaft“ noch etwas stärker zu umreißen.

1.6 Zwischenüberlegung: Relevante Aspekte der philosophischen Grundprogrammatik „Weisheit, aber durch den Weg der Wissenschaft“ Im Medium der Urteilskraft und im Lichte der Grundprogram­ matik „Weisheit, aber durch den Weg der Wissenschaft“ behaup­ tet Kants Philosophiegeschichtsphilosophie auf der einen Seite für zurückliegende Aktivitäten, die mit der Etablierung von Wissen als Wissenschaft überhaupt zu tun hatten, eine „Aus­ wicklung“ des wie ein Organismus beurteilten theoretischen Erkenntnisvermögens nach „Anweisung“ jener in ihm keimhaft angelegten „Idee einer Philosophie der reinen spekulativen Ver­ nunft“ (als Naturzweck). Auf der anderen Seite sieht sie diese Aktivitäten auf einen Zweck bezogen, den nur praktische Ver­ nunft zu erkennen geben kann: die Weisheit. Die Spannung zwi­ schen den beiden Polen eines Naturzwecks, dessen Realisierung die Bemühungen der Menschen in objektiver Hinsicht gegolten haben (theoretisches Erkenntnisvermögen), und eines Zwecks, dem die menschlichen Bemühungen in subjektiver Hinsicht in erster Linie gelten sollen (praktisches Erkenntnisvermögen), also eines bipolaren Keims der Vernunft im ganzen, hat Kant im Ausdruck „teleologia rationis humanae“ festgehalten. Die be­ deutsamsten Einschnitte dieser Teleologie sind (auf der Ebene der KrV) durch die drei berühmten Fragen markiert: „Was kann ich wissen?“, „Was soll ich tun?“, „Was darf ich hoffen?“ („wenn ich nun tue, was ich soll [...]“) [KrV, B 833]. In der Beantwor­ tung dieser Fragen ist der Philosophierende der „Depositär einer dem Publikum [...] nützlichen Wissenschaft“ [vgl. KrV,

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B XXXIV], der sich selbst als unter dem Anspruch stehend er­ kennt, das Vernunftwesen zu sein, das der Mensch sein kann: einerseits ein Gesetzgeber der Natur vermittels des Verstandes, dokumentiert in einer „Metaphysik der Natur“, vor allem aber ein Gesetzgeber auf dem Grund der praktischen Vernunft gemaß einer „Metaphysik der Sitten“. Deshalb war aus der Kritik der reinen Vernunft (im umfassen­ den, alle Vermögen betreffenden Sinn) zu ,lernen‘ (so betonte Kant spater), „daß die Philosophie nicht etwa eine Wissenschaft der Vorstellungen, Begriffe und Ideen, oder eine Wissenschaft aller Wissenschaften, oder sonst etwas Ähnliches sei; sondern eine Wissenschaft des Menschen, seines Vorstellens, Denkens und Handelns“; daß sie den Menschen „nach allen seinen Be­ standteilen darstellen“ sollte, „wie er ist und sein soll, d. h. so­ wohl nach seinen Naturbestimmungen, als auch nach seinem Moralitäts- und Freiheitsverständnis“ [Fakult., A 116]. Als sie dies tat, brachte sie ihn in beiden Hinsichten als eine „durchaus aktive Existenz“ zur Geltung [ebda]: a) als jemanden, der „ur­ sprünglich Schöpfer aller seiner Vorstellungen und Begriffe“ ist (vermittels seines Verstandes, der „ein gänzlich aktives Vermö­ gen des Menschen ist“, das aber auf Außendinge nur reagiert [Fakult., A 118]94); und b) als jemanden, der „einziger Urheber aller seiner Handlungen“ [Fakult., A 116 ], d.h. dessen „Aktion nicht bloß Reaktion sein soll“ [Fakult., A 121]. „Jenes ,ist‘, und dieses ,soll‘, führt auf zwei ganz verschiedene Bestimmungen des Menschen“, so daß

„wir daher auch im Menschen zweierlei ganz verschiedenartige Teile [bemerken], nämlich auf der einen Seite Sinnlichkeit und Verstand, und auf der andern Vernunft und freien Willen, die sich sehr wesentlich voneinander unterscheiden. In der Natur ist alles; es ist von keinem Soll in ihr die Rede; Sinnlichkeit und Verstand gehen aber immer nur darauf aus, zu bestimmen, was, und wie es ist; sie müssen also für die Natur, für diese Erdenwelt bestimmt sein, und mithin zu ihr gehören. Die Ver­ nunft will beständig ins Übersinnliche, wie es wohl über die sinnliche Natur beschaffen sein möchte: [...] der freie Wille aber besteht ja in 94 Daß die „Außendinge“ („wirkliche Dinge“) „Gelegenheitsursachen der Wirkung des Verstandes“ sind, was ihn zur „Aktion“ und zur Produktion von Vorstellungen und Begriffen reizt (andernfalls der Verstand „tot“ wäre, wie der Körper des Men­ schen tot wäre, würde er nicht auf Außendinge reagieren), hat nur den Status einer „Supposition“: Fakult., A 120.

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einer Unabhängigkeit von den Außendingen [...]. [...] Der Mensch muß für zwei ganz verschiedene Welten bestimmt sein, einmal für das Reich der Sinne und des Verstandes, also für diese Erdenwelt; dann aber auch noch für eine andere Welt, die wir nicht kennen, für ein Reich der Sitten“ [Fakult., A 116f.]. War aus der Kritik der reinen Vernunft zu lernen, daß die Philo­ sophie den Menschen darstellen sollte, so war aus ihr allerdings auch noch zu lernen, daß es dem Philosophierenden zukommt, den Menschen als eine derart aktive Existenz und mithin die zweifache „Gesetzgebung der menschlichen Vernunft (Philoso­ phie)“ [KrV, B 868] zu exemplifizieren. Der Philosoph steht da­ bei primär unter dem Anspruch der praktischen Vernunft. In Erfüllung dieses Anspruchs wäre er schließlich jemand, der alle diejenigen Wissenschaften, die in der Tat nur Vernunftkünste sind, „als Werkzeuge“ nutzt, um eben die „wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft“ und vor allem deren Endzweck, die Weisheit, umfassend zu befördern [ebda]. So hat Kant auf teleo­ logischer Basis ein philosophisches Wissenschaftsgefüge begrün­ det, das mit den Grunddisziplinen einer Metaphysik der Natur (mit den Teilen einer allgemeinen oder transzendentalen Meta­ physik der Natur und den besonderen Naturmetaphysiken, ins­ besondere körperlicher Natur) im mittlerweile gut ausgebilde­ ten „Flor“ der Wissenschaften ansetzt und, in Entsprechung zur

teleologia rationis humanae, in vertikaler Aufstufung ins Tran­ szendente geht: über eine Metaphysik der Sitten (mit den Teilen einer Rechts- und einer Tugendlehre) zu einer Religionsphiloso­ phie. Dabei dient die Metaphysik der Sitten auch dem Philoso­ phen nur dazu, der „Weisheit“ bzw. „ihrer Vorschrift Eingang und Dauerhaftigkeit zu verschaffen“, und ist zugleich der weite­ ste Horizont seiner Bestimmung (wie der Bestimmung jedes Menschen). Die höchste Bestimmung des „Philosophen“ erfolgt vor dem Hintergrund der sittlichen Ordnung, wie sie aus einem rein durch die Form eines Gesetzes bestimmten Willen resultieren und ausdrücklich eine „systematische Einheit der Zwecke“ („Weisheit“ [KrV, B 385]) gründen würde. D. h., der weiteste Kontext der Bestimmung von Philosophie ist die „intelligible, moralische Welt“ [KrV, B 839], in der jedermann täte, was er soll, mithin alle Handlungen vernünftiger Wesen so geschähen, „als ob sie aus einem obersten Willen [...] entsprängen“ [KrV,

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B 838]. Als zu einer solchen Welt gehörig müssen wir uns durch die Vernunft notwendigerweise vorstellen, „obgleich die Sinne uns nichts als eine Welt von Erscheinungen darstellen“ [KrV, B 839]. Diese andere Welt, die es aus Vernunft hervorzubringen gilt, war für Kant zugleich die endgültige Zukunft: „Zukunft“ im Sinne einer „Idee“, die für diese „andere Welt“ steht, die „bloß durch moralische Gründe nicht objectiv theoretische son­ dern blos praktische Realität“ hat, „so zu handeln als ob eine andere Welt wäre“ [LB, 341]. Es galt, mit Hilfe von Wissenschaft (Philosophie) die Heraufkunft der endgültigen „Zukunft“ zu be­ fördern. In philosophiegeschichtlicher Hinsicht von Bedeutung ist nun, daß Kant die Themen, die vormals als Gegenstände der Speku­ lation von den Schulen ,monopolisiert‘ waren, an die praktische Metaphysik bzw. an die Voraussetzung einer moralischen Den­ kungsart bindet. So ist nicht mehr die als Metaphysik der Natur reformulierte Transzendentalphilosophie das „Mittel“, um über die „Erdenwelt“ in Bereiche des Nichterfahrbaren hinaus- und in die Disziplinen der Psychologie, Kosmologie und Theologie hineinzukommen. Zwar markieren die Fragen, die sich an diese Disziplinen knüpfen (ob die Seele unsterblich ist, Gott existiert und der Wille frei ist), Aufgaben, die schon im spekulativen Kon­ text „jedermann vorgelegt sind“ und also aufgelöst werden müs­ sen. Aber damit ist noch keineswegs gesagt, diese Auflösung könne und müsse auch hier erfolgen. Vielmehr zeigte sich in der KrV, daß diese Ideen auf diesem Feld nur auf intelligible Gegenstände referieren, die keinen anderen Status haben als den bloßer Gedankendinge [KrV, B 593]. Im Kontext der Mora­ lität aber ist bereits das „moralische Gesetz“ ratio cognoscendi von Freiheit (als praktischer Freiheit), während zugleich not­ wendig angenommen werden muß, daß Gott existiert und die „Seele“ unsterblich ist. Letztere sind „Postulate“ der prakti­ schen Vernunft. Denn das Gebot des „moralischen Gesetzes“, „das höchste mögliche Gut in einer Welt mir zum letzten Gegen­ stande alles Verhaltens zu machen“, kann nicht anders zu „be­ wirken“ gehofft werden, als nur unter der Bedingung, daß die „Seele“ unsterblich ist und Gott existiert. Die „Unsterblichkeit der Seele“ ist ein Postulat der praktischen Vernunft, weil, so Kant schon in der KrV, „die jedem Menschen bemerkliche An­ lage seiner Natur, durch das Zeitliche [...] nie zufriedengestellt

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werden zu können“ [KrV, B XXXIII], einen ins Unendliche ge­ henden Fortschritt denknotwendig macht, um die vom Sittenge­ setz geforderte völlige Angemessenheit des Willens an das Sit­ tengesetz zustandezubringen. Das „Dasein Gottes“ (als einer von der Natur unterschiedenen intelligiblen Weltursache) ist ein Postulat, da andernfalls eine (notwendige) Verbindung der heterogenen Elemente Sittlichkeit (als einer den Menschen als Noumenon betreffenden Ursache) und Glück (als einer den Menschen als Phänomenon betreffenden Wirkung) in prakti­ scher Hinsicht nicht für möglich gehalten werden könnte [vgl. KpV, A207]. Moralität begründet ein praktisch notwendiges und subjektiv zureichendes Fürwahrhalten [vgl. KrV, B 850f.], d. h. einen Vernunftglauben an ein künftiges Leben und die Exi­ stenz Gottes. Denn nur dann, wenn zur Moral „Religion dazu kommt, tritt auch die Hoffnung ein, der Glückseligkeit dereinst in dem Maße teilhaftig zu werden, als wir darauf bedacht ge­ wesen, ihrer nicht unwürdig zu sein“ [KpV, A 234; H.v. V.]. Im Wissenschaftszusammenhang mündet Philosophie in eine Mo­ raltheologie [vgl. KrV, B 735], in der alle aus Vernunft entsprin­ genden „Pflichten als göttliche Gebote“ anerkannt werden: „nicht als Sanktionen, d. i. willkürlicher, für sich selbst zufälliger Verordnungen eines fremden Willens, sondern als wesentlicher Gesetze eines jeden freien Willens für sich selbst, die aber den­ noch als Gebote des höchsten Wesens angesehen werden müs­ sen, weil wir nur von einem moralisch vollkommenen [...] Wil­ len“ und nur „durch Übereinstimmung“ unseres Willens „mit diesem Willen“ das höchste Gut in der Welt „zu bewirken hof­ fen“ können [vgl. KpV, A 233].95

95 In der zweiten Handschrift der Preisschrift werden die Stadien der Fortschritte der Metaphysik wie folgt eingeteilt: Das erste, das dogmatische, läuft innerhalb der Gren­ zen der Transzendentalphilosophie oder Ontologie (auf der Ebene des Verstandes also), das zweite Stadium liegt innerhalb der „Kosmologie“ (davon wird unten noch die Rede sein) und ist theoretisch-dogmatisch; das dritte Stadium ist das auf einer praktisch-dogmatischen Erkenntnis (der Idee der Freiheit) aufruhende Stadium der Theologie: vgl. PS, A 67 und 110.

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1.7 Der dritte Schritt: Steigerung der Philosophie­ geschichtsphilosophie zur Physikotheologie Der „apriori durch reine praktische Vernunft bestimmt gegebe­ ne Zweck“ (die Idee des höchsten Guts) ist für die Kantische Philosophiegeschichtsphilosophie, aber auch für seine Weltge­ schichtskonzeption von großer Bedeutung. Denn er fundiert ein quasi-theoretisches Pendant zum praktischen Vernunftglauben: eine transzendentale „Theologie der Natur (Physikotheologie)“ [vgl. KrV, B 855; B 844], die einen „doktrinalen Glauben“ an die Existenz Gottes als eines weisen Welturhebers sowie an ein „künftiges Leben der menschlichen Seele“ bewirkt [KrV, B 855] und eine praktische Beurteilung, eine „Auslegung“ oder „Interpretation“ der Welt als ein „Werk Gottes“ ermöglicht: nicht aber aus einer „vernünftelnden (spekulativen), sondern einer machthabenden praktischen Vernunft“ heraus, welche als die „unmittelbare [...] Stimme Gottes“ angesehen werden kann. Interpretiert wird die Welt, als habe Gott dem „Buchstaben sei­ ner Schöpfung“ selbst einen auf die Entfaltung von Moralität abzweckenden „Sinn“ gegeben96. Im ersten Schritt ist dieser doktrinale Glaube Ausdruck einer Affirmation des vom Men­

96 Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee, A 213. Der Glaube also ist doktrinal, nicht jedoch diese sich auf ihn gründende „Auslegung“ als „Theodizee“. (Dabei soll „alle Theodizee [...] eigentlich Auslegung der Natur sein, sofern Gott durch dieselbe die Absicht seines Willens kund macht“ [A212].) Eine solche Auslegung kann deshalb nicht doktrinal genannt werden, weil sie „nicht Ausle­ gung einer vernünftelnden spekulativen, sondern einer machthabenden praktischen Vernunft [ist], die, so wie sie ohne weitere Gründe im Gesetzgeben schlechthin gebie­ tend ist, als die unmittelbare Erklärung und Stimme Gottes angesehen werden kann, durch die er dem Buchstaben seiner Schöpfung Sinn gibt“ [A 213]. Eine solche Ausle­ gung, die Kant in einem alten „heiligen Buche“, nämlich Hiob, „allegorisch ausge­ drückt“ findet, ist vielmehr, anstatt doktrinal, „authentisch“ [ebda]. Sie heißt so, weil sie nicht mit dem Geltungsanspruch der Wahrheit, sondern mit dem der „Wahrhaftig­ keit“ oder (formalen) „Gewissenhaftigkeit“ verknüpft ist. D. h., Aussagen werden hier nicht „mit dem Objekt im logischen Urteile (durch den Verstand)“ verglichen, son­ dern, unter Voraussetzung des als Glauben qualifizierten „Fürwahrhaltens“, mit dem Subjekt „vor dem Gewissen“ [A 219]. Ihre Sätze sind also nicht bestimmende Urteile des Verstandes, der „allein (wahr und falsch) objektiv beurteilt“ [ebda], sondern Sätze, die gewissermaßen gerade das Eingeständnis (spekulativen) Nichtwissens vorausset­ zen: „Aufrichtigkeit des Herzens“ (anstatt „Vorzug der Einsicht“), „Redlichkeit, seine Zweifel unverhohlen zu gestehen“, vornehmlich vor Gott (anstatt „Überzeugung zu heucheln, wo man sie doch nicht fühlt“) [A 217]. Nicht zuletzt diese Redlichkeit zeich­ net Kant zufolge Hiob aus. „So hat es die Theodizee [...] nicht so wohl mit einer Aufgabe zum Vorteil der Wissenschaft, als vielmehr mit einer Glaubenssache zu tun“

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sehen nicht selbst Gemachten als etwas von Gott Geschaffenen: Was der Mensch nicht selbst gemacht hat, ist Natur, aber nicht Natur nur im Sinne mechanischer Wirksamkeit, auch nicht nur im teleologischen Sinne einer sich selbst zwecklos bloß auswikkelnden Natur, sondern Natur, die, als Schöpfung Gottes97, rela­ tiv zum Menschen in seiner praktischen Bestimmung die Züge der Weisheit trägt. In dieser Hinsicht zeigt sich eine „vortreffli­ che Ausstattung der menschlichen Natur“, vor allem der „Natur der denkenden Vernunft“98, zu deren Entfaltung die „Kürze des Lebens“ „so schlecht angemessen[]“ ist, daß dies bereits „genugsamer Grund zu einem doktrinalen Glauben des künftigen Le­ bens der menschlichen Seele“ sein kann [KrV, B 855]. In dieser Hinsicht auch offenbart sich das, was der Mensch nicht selbst gemacht hat, relativ zu seiner praktischen Bestimmung, in einer „Ordnung, Schönheit und Fürsorge“ [KrV, B XXXIII], die nur die „Anordnung eines weisen Schöpfers“ verraten kann (und „nicht etwa die Hand eines bösartigen Geistes“ [vgl. Idee, A 394]). Und in dieser Hinsicht wird anerkannt, daß „alles, was die Natur selbst anordnet, zu irgendeiner Absicht“ (die mit dem Menschen und seiner praktischen Bestimmung zusammen­ hängt) „gut“ ist [KrV, B 771], und gilt selbst die „Einrichtung unserer Vernunft“ als Zeichen einer „weislich uns versorgen­ de^] Natur“ [KrV, B 829]. Natur in diesem Sinne ist die auf den Menschen in seiner praktischen Bestimmung bezogene „Vorsehung“. Und so bekommt „alle Naturforschung“ schließ­ lich „eine Richtung nach der Form eines Systems der Zwecke, und [ist] in ihrer höchsten Ausbreitung Physikotheologie“ [KrV, B 844] - eine „transzendentale Steigerung unserer Vernunfter­ kenntnis“ in moralisch-praktischer Absicht [vgl. KrV, B 845]. Kants Physikotheologie ist im Menschen als jenem „Wesen der Willkür“ gegründet, dem die Realisierung „praktischer Zweckmäßigkeit“ auferlegt ist [ebda] oder dies: einmal selbst „in das System aller Zwecke“ zu passen [KrV, B 847]. Sie tan­ giert die philosophierende Philosophiegeschichte insofern, als

[A 218]. Vgl. dann aber Hegels Kritik am bloßen „Glauben“ in der Geschichtsphilo­ sophie: Hegel, Philosophie der Geschichte, a. a. O., insbes. 25ff. 97 In Frage steht Gott als eine „Idee, die die Vernunft a priori von sittlicher Vollkom­ menheit entwirft und mit dem Begriff eines freien Willens unzertrennlich verknüpft“: GMS, B 29. 98 Vgl. KU, B 397.

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diese, „ihrer höchsten Ausbreitung“ nach, tatsächlich die Ausle­ gung einer bestimmten Natur ist, sofern Gott (als ein „morali­ sches und weises Wesen“) durch dieselbe - und gerade durch sie - „die Absicht seines Willens kund macht“". In diesem Zusam­ menhang wird nun „Gott durch unsere Vernunft selbst der Aus­ leger seines durch die Schöpfung verkündigten Willens“99 100. In diesem weitesten Horizont einer Naturphilosophie, die zugleich „Theodizee“ ist, wird das der Hervorbringung von Philosophie dienende Geschehen so konzipiert, als habe sich die Natur selbst des zu Anfang skizzierten Naturmechanismus als einer komple­ xen Bewegungsursache bedient, um die philosophischen Aktivi­ täten so voranzutreiben, daß sich der Mensch aus der Natur sei­ nes eigenen Erkenntnisvermögens so weit herausarbeitet, um sich Zwecke zu setzen, die darauf ausgehen, die Natur als Mittel zu gebrauchen101. Der Philosoph ist deshalb zunächst ein Gesetz­ geber der Natur. Doch gegenläufig ist er - als Gesetzgeber bereits in praktische Richtung weitergegangen. Denn die Eta­ blierung von Philosophie als Wissenschaft ist zugleich mit dem Hervorgehen einer sittlichen Ordnung verbunden, die als Sy­ stem äußerer Freiheitsverhältnisse, d.h. als Rechtsordnung be­ stimmt ist. Stehen am Anfang des Philosophierens nur die Will­ kür und der „willkürliche Entwurf“, geht man ferner „nach keinem [...] einstimmigen Plane“ [KrV, A IX] vor (aber doch nach „Anweisung einer versteckt in uns liegenden Idee“), so steht am Ende eine Neuordnung des philosophischen Gemein­ wesens auf der Basis der praktischen Vernunft.

a) Allgemeine Geschichtsphilosophie als Beispiel Ein ausgeführtes Beispiel für eine solche Vernunftentwicklungs­ geschichte, deren Konzeption zugleich eine Theodizee ist, gibt Kants Philosophie der Geschichte im allgemeinen (Weltge­ schichte). So hatte Kant das Weltgeschehen als Prozeß der Ent­ wicklung all jener „Naturanlagen“ im Menschen verständlich zu machen gesucht, die über die „mechanische Anordnung seines tierischen Daseins“ hinausgehen [Idee, A 389f.]. Wie vor allem

99 Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee, A 213. 100 Ebda, A 212. 101 Vgl. dazu im allgemeinen KU, B 390f.

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die programmatische Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschich­

te in weltbürgerlicher Absicht zeigt, wird diese Entwicklung zu­ nächst (nach einem Zweck der Natur) mechanisch vorangetrie­ ben: durch das als antagonistische Bewegursache fungierende Prinzipiengefüge „ungesellige Geselligkeit“ (dem auf noch zu bezeichnende Weise auf philosophischem Terrain die Prinzipien „Dogmatismus“ und „Skeptizismus“ entsprechen). Ein solcher Mechanismus wird als unausweichlich notwendig für das Errei­ chen eines „weltbürgerlichen Ganzen“, d. h. eines Rechtssystems der Staaten erachtet [Idee, A400]. Der weltumspannende Rechtszustand aber ist wiederum nur die Voraussetzung für die Möglichkeit der Realisation eines moralisch begründeten Sy­ stems aller Staaten102, in dem schließlich „alle Keime“, welche die Natur in die Menschheit legte, vor allem die Moralität, „völ­ lig können entwickelt“ und ihre Bestimmung, ein „moralisches Ganzes“ zu sein [Idee, A 392], „hier auf Erden kann erfüllet wer­ den“ [vgl. Idee, A409f.]. Der geschichtsphilosophische Blick eine „tröstende Aussicht“ - ist in die endgültige Zukunft gerich­ tet, in der der Primat der praktischen Vernunft Wirklichkeit wird. So tritt die Kantische Geschichtsphilosophie zunächst als eine „teleologische Naturlehre“ auf [Idee, A 388], in deren Rah­ men - nach dem Vorbild Keplers und Newtons [Idee, A 388] das als Finalursache fungierende ,Naturgesetz‘ (oder jener „Plan der Natur“) aufgedeckt und dann, teleologisch, aus einer „Na­ turursache“ erklärt wird, dem man in einem mechanisch beweg­ ten, vorrechtlichen Naturzustand unterlag. Aus dem Naturzu­ stand geht der weltumspannende Rechtszustand hervor, der die Voraussetzung für die Moralisierung der Menschheit ist103. In ihrer weitesten Ausbreitung ist Kants Geschichtsphilosophie da­ her eine „Rechtfertigung der Natur - oder besser der Vorsehung“ [Idee, A 410]. So bestätigt sich in dieser Wissenschaft, was in der KrV im allgemeinen begründet wurde: daß „alle Naturfor­

102 Vgl. zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie: KU, §§83f. 103 Daß das Rechtssystem bei Kant noch ein „ethischer Naturzustand“ ist und der Mensch die „Pflicht“ hat, aus diesem noch herauszugehen, „um ein ethisches gemeines Wesen zu errichten und Glied desselben zu werden“, hat Hans Michael Baumgart­ ner gezeigt, vgl. Das ethische gemeine Wesen“ und die Kirche in Kants Religions­ schrift“, in: Friedo Ricken/Fran^ois Marty (Hrsg.), Kant über Religion, Stuttgart­ Berlin-Köln 1992,156-167, insbes. 159f.

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schung“ von der Theorie zur Teleologie weiterschreitet und „in ihrer höchsten Ausbreitung Physikotheologie ist“, welche den weitesten Horizont (und den von Anbeginn an wirksamen Rah­ men) zur Beurteilung menschlicher Begebenheiten hergibt: den Horizont einer (sittlichen) Ordnung der Zwecke. Die Philosophiegeschichte ist ein integraler Bestandteil der Weltgeschichte, und sie hat einen Ablauf, der - im Prinzip dem Verlauf der Weltgeschichte entspricht. Sie ist deren Be­ standteil unter dem Gesichtspunkt, daß die Entwicklung jener „Naturanlagen“ des Menschen (nach seinem Gattungsbegriff als „vernünftige Natur“ [Idee, A 393]), welche über die „mecha­ nische Anordnung seines tierischen Daseins“ hinausgehen, Kant zufolge vermittels „Kultivierung“ (der Natur im Men­ schen und außerhalb seiner), also vermittels „Kunst“ (Vernunft­ kunst, Technik) und Wissenschaft erfolgt [vgl. Idee, A402f.]. Die als Wissenschaft etablierte Philosophie steht gar für die „Vollendung aller Kultur der menschlichen Vernunft“ [KrV, B 878 f.] (zu der auch die bloße „Idee der Moralität“ noch gehört [vgl. Idee, A 402 f.]). Dieser Vollendung geht die (durch das Ge­ geneinanderlaufen von Dogmatismus und Skeptizismus voran­ getriebene) nachdrücklichste „Bearbeitung“ der „Natur der reinen Vernunft“ [vgl. KrV, B 880], also eine Kultivierung be­ sonderer Felder voraus. Und an ihrem Ende steht die Neuorga­ nisation des philosophischen Gemeinwesens nach Prinzipien des Rechts, unter dessen Voraussetzung nun alle weiteren „fruchtba­ re^] Bearbeitung[en]“ dem wissenschaftlichen „Gemeinwesen“ selbst gelten können [KrV, B 879]: seiner Umwandlung von einem System äußerer Freiheitsverhältnisse in ein System der Zwecke.

b) Philosophischer Naturzustand Schon in den Vorreden der KrV hat Kant das Geschehen vor­ kritischen Philosophierens, anders als das der besonderen Wis­ senschaften, primär unter genuin praktischen und zunächst rechtsphilosophischen Gesichtspunkten umrissen. Die berühm­ te These lautet: Philosophie sei bisher nur ein „Kampfplatz [...] endlose[r] Streitigkeiten“gewesen [KrV, A VIII]. Die Philoso­ phen waren „unwissend in dem Wege, den sie zu nehmen hätten, und jederzeit streitig über die Entdeckungen, die ein jeder auf

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dem seinigen gemacht haben wollte“ [KrV, B 872]. Und gleich zu Anfang der KrV erzählt Kant die folgende Geschichte:

„Es war eine Zeit, in welcher [... die Metaphysik] die Königin aller Wis­ senschaften genannt wurde, und wenn man den Willen für die Tat nimmt, so verdiente sie wegen der vorzüglichen Wichtigkeit ihres Ge­ genstandes, allerdings diesen Ehrennamen. Jetzt bringt es der Modeton des Zeitalters mit so sich, ihre alle Verachtung zu beweisen und die Ma­ trone klagt [...]. Anfänglich war ihre Herrschaft unter der Verwaltung der Dogmatiker, despotisch. Allein, weil die Gesetzgebung noch die Spure der alten Barbarei an sich hatte, artete sie durch innere Kriege nach und nach in völlige Anarchie aus und die Skeptiker, eine Art von Nomaden, die allen beständigen Anbau des Bodens verabscheuen, zer­ trennten von Zeit zu Zeit die bürgerliche Vereinigung“ und lösten „alle parteilichen Verbindungen gänzlich“ auf. Da letztere der Zahl nach „zum Glück“ aber immer „nur wenige waren, so konnten sie nicht hindern“, daß jene die Vereinigung „immer aufs neue, obgleich nach keinem [...] einstimmigen Plane, wieder anzubauen versuchten [...]“ [KrV, AIX]. In der Vorrede der zweiten Auflage der KrV wird der bisherige Zustand der Philosophie kritisch mit dem beständigen, gleich­ förmigen Fortschreiten verglichen, das Logik, Mathematik und empirische Naturwissenschaften bereits auszeichnet. Diesen Wissenschaften gegenüber erscheint das, was auf dem Feld der Philosophie bislang geschehen ist, als ein bis in die Gegenwart hineinreichendes „Herumtappen“, in dem man trotz „viel ge­ machter Anstalten und Zurüstungen, sobald es zum Zweck“ kam, „in Stecken“ geriet, „öfters wieder zurückgehen und einen anderen Weg einschlagen“ mußte und also „die verschiedenen Mitarbeiter in der Art, wie die gemeinschaftliche Absicht [ver­ folgt werden soll“, nicht „einhellig“ waren [KrV, B VII]. In Kants populärer Schrift Verkündigung des nahen Ab­ schlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie (1796) stehen verallgemeinerte anthropologische Gesichtspunk­ te im Vordergrund: Das Philosophieren habe bislang im Nach­ geben des „Drangs“ bestanden, sich der Vernunft nur „zum Ver­ nünfteln zu bedienen [...]; darauf sich auch polemisch mit seiner Philosophie an anderen zu reiben, d. i. zu disputieren, und, weil das nicht leicht ohne Affekt geschieht, zugunsten seiner Philoso­ phie zu zanken, zuletzt in Masse gegen einander (Schule gegen Schule als Heer gegen Heer) vereinigt offenen Krieg zu führen“ [Traktat, A 487].

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So lenkt Kant in seinen Beschreibungen vorkritischen Philosophierens den Blick von Anfang immer sogleich darauf, wel­ chem Zweck die „Bearbeitungen“ der Vernunftnatur im Grunde immer dienen sollten: der Entfaltung praktischer Vernunft. In deren Licht gesehen, war es „schlimm“, daß man bisher nur nach „Anweisung“, also einem unbekannten „Plan der Natur“ ver­ fuhr. Denn nur nach Anweisung agiert zu haben, war auf diesem ausdrücklich unter den Anspruch der praktischen Vernunft ge­ stellten Gebiet das Gegenteil von gut. Es war nicht bloß ein Übel, sondern etwas Böses: „der Stand der Natur“ als „ein Stand des Unrechts und der Gewalttätigkeit“, den man „notwendig verlassen“ muß [KrV, B779f.]. Es herrschte „Krieg, d.i. Zwie­ tracht aus der Entgegensetzung der Endabsichten in Ansehung des gelehrten Mein und Dein“ [Fakult., A 44]104. Kants Beurtei­ lung dieser Situation ist ambivalent: Unter dem Gesichtspunkt, daß Menschen für ihre Handlungen verantwortlich sind, ist sie zu kritisieren. Zugleich aber muß anerkannt werden, daß end­ liche Vernunftwesen nicht immer schon tun können, was sie tun sollen. Denn die Vernunft ist kein Vermögen, das „instinktmäßig [wirkt], sondern bedarf der Versuche, Übung und des Unter­ richts, um von einer Stufe der Einsicht zur anderen allmählich fortzuschreiten“ [Idee, A 389]. Gerade deshalb wird es erforder­ lich, davon auszugehen, daß „alles, was die Natur selbst anord­ net, zu irgendeiner Absicht gut“ ist, und auf die „Vorsehung“ zu rekurrieren. Nur dann kann angenommen werden, daß ohne das vormalige „Herumtappen“ nicht möglich gewesen wäre, was jetzt möglich ist: die ausdrückliche Verbindung „der Gemüter [...] nach einem [...] Plane“ [Prol., A 192], mithin eine grundle­ gende Veränderung der „Verfassung“ des „wissenschaftlichen Gemeinwesens“ aus einer kritisch errungenen Einsicht heraus,104

104 Krieg ist nicht bloß Streit. Streit kennt und anerkennt Gesetze. Krieg ist demgegen­ über ein „gesetzwidriger Streit“, im gegebenen Falle ein gesetzwidriger „öffentlicher Streit der Meinungen, mithin ein gelehrter Streit“ [Fakult., A 29]. Dieser kann aus zweierlei Gründen gesetzwidrig sein: a) mit Bezug auf die verhandelte „Materie“: „wenn es gar nicht erlaubt wäre, über einen öffentlichen Satz zu streiten, weil es gar nicht erlaubt ist, über ihn und seinen Gegensatz öffentlich zu urteilen“; b) mit Bezug auf die Form: „wenn die Art, wie er geführt wird, nicht in objektiven Gründen, die auf die Vernunft des Gegners gerichtet sind, sondern in subjektiven [...] Bewegursachen besteht“ (durch die „das Urteil durch Neigungen“ bestimmt wird), „um ihn durch List (wozu auch Bestechung gehört) oder Gewalt (Drohung) zur Einwilligung zu bringen“ [ebda].

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daß zur Wissenschaft nicht nur überhaupt der Mensch und Mit­ arbeiter, sondern auch tatsächlich „verschiedene Mitarbeiter“ gehören, deren Eigenständigkeit nicht bestritten werden kann: nicht die Eigenständigkeit einer Erkenntnis aus bloßen Be­ griffen (wofür der Dogmatismus steht), nicht einer Erkenntnis auf der Basis empirischer Prinzipien (Empirismus), nicht einer historischen Erkenntnis aus Daten (Skeptizismus). Aber es galt, die jeweiligen Sphären aufeinander zu beziehen und eine jeweils auf Exklusivität Anspruch machende Willkürfreiheit zum allge­ meinen Besten einzuschränken: um ebenso die „Verwüstungen“ abzuhalten, „welche eine gesetzlose spekulative Vernunft sonst ganz unfehlbar, in Moral sowohl als Religion, anrichten würde“ [KrV, B 876], wie dies, daß man sich noch weiter „von dem Hauptzwecke, der allgemeinen Glückseligkeit“ entfernt [KrV, B 879], als es bisher schon der Fall gewesen ist.

c) Die ,Kritik der reinen Vernunft als „Gerichtshof“ In diesem Sinne sollte die KrV nicht nur ein Gefüge miteinander und mit externen Wissenschaften zweckmäßig zusammenstim­ mender theoretischer Disziplinen begründen, das in der Abgren­ zung von und Verbindung mit praktischen Disziplinen dazu diente, der „Weisheit“ Eingang zu verschaffen. Es galt, das phi­ losophische Terrain durch Einrichtung einer Rechtsinstitution zu befrieden: Auf Dauer sollte die KrV als ein „Gerichtshof“ fungieren, der die Vernunft „bei ihren gerechten Ansprüchen sichere, dagegen aber alle grundlosen Anmaßungen, nicht durch Machtsprüche, sondern nach ihren ewigen und unwandelbaren Gesetzen, abfertigen könne“ [KrV, A XII]. Ohne Kritik aber

„ist die Vernunft gleichsam im Stande der Natur, und kann ihre Be­ hauptungen und Ansprüche nicht anders geltend machen, oder sichern, als durch Krieg. Die Kritik dagegen, welche alle Entscheidungen aus den Grundregeln ihrer ersten Einsetzung hernimmt, deren Ansehen keiner bezweifeln kann, verschafft uns die Ruhe eines gesetzlichen Zu­ standes, in welchem wir unsere Streitigkeit nicht anders führen sollen, als durch Prozeß. Was die Händel in dem ersten Zustande endigt, ist ein Sieg, dessen sich beide Teile rühmen, auf den mehrenteils ein nur un­ sicherer Friede folgt, den die Obrigkeit stiftet, welche sich ins Mittel legt, im zweiten aber die Sentenz, die weil sie hier die Quelle der Strei­ tigkeiten selbst betrifft, einen ewigen Frieden gewähren muß. Auch nö­

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tigen die endlosen Streitigkeiten einer bloß dogmatischen Vernunft, endlich in irgendeiner Kritik dieser Vernunft selbst, und in einer Ge­ setzgebung, die sich auf sie gründet, Ruhe zu suchen; so wie Hobbes behauptet: der Stand der Natur sei ein Stand des Unrechts und der Ge­ walttätigkeit, und man müsse ihn notwendig verlassen, um sich dem ge­ setzlichen Zwange zu unterwerfen, der allein unsere Freiheit dahin ein­ schränkt, daß sie mit jedes anderen Freiheit und eben dadurch mit dem gemeinen Besten zusammen bestehen könne“ [KrV, B 779f.]. Die einsichtige Unterwerfung unter einen „gesetzlichen Zwang“ schränkt zwar die Willkürfreiheit des bislang im Parteigeist ge­ schehenen Philosophierens ein, ermöglicht aber gerade dadurch, daß jedermann seine Gedanken frei äußern und vor allem auch seine Zweifel in spekulativer Hinsicht bekennen kann:

So gehört „zu dieser Freiheit [...] auch die, seine Gedanken, seine Zwei­ fel, die man sich nicht selbst auflösen kann, öffentlich zur Beurteilung auszustellen, ohne darüber für einen unruhigen und gefährlichen Bür­ ger verschrieen zu werden“ [KrV, B 779 f.]. Auf den Modus des Übergangs vom Natur- zum Rechtszustand wird später noch einmal zurückzukommen sein. Im folgenden Abschnitt soll kurz das Gefüge der philosophischen Wissen­ schaften umrissen werden, das nach Kant die Basis des philoso­ phischen Rechtszustandes bilden sollte - ein Gefüge von prakti­ scher Relevanz: Es fordert einen Selbstdenker, der sich die „Anweisungen]“ seiner eigenen Vernunftnatur zu eigen ge­ macht hat und dadurch schon ein Stück in praktischer Richtung weitergegangen ist.

1.8 Die wissenschaftliche Ordnung im philosophischen Rechtszustand Die im „Zeitalter der Kritik“ geschehende „Revolution der Denkungsart“ läßt an die Stelle „willkürlicher Entwürfe“ die „fleißige und sorgsame Arbeit des Subjekts“ treten, „sein eige­ nes (der Vernunft) Vermögen aufzunehmen und zu würdi­ gen“105. In dieser Arbeit kann man sich nicht nur der wie ein „Keim“ im Erkenntnisvermögen liegenden „Idee im Ganzen be­ mächtigen“. Man kann dabei auch noch eine Entdeckung ma­ chen, die in „Verwunderung setzt“ und „überrascht“: daß näm105 Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, A 422.

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lieh die Schritte, die man auf dem spekulativen Feld tut, mit den­ jenigen Schritten einfach zusammenstimmen, die man dann auf dem praktischen tut106. Überraschend ist aber auch, daß auf dem spekulativen Feld (anders, als auf dem praktischen) „subtil und unnötig scheinende Bemerkungen“ nötig sind [KpV, A 190]: Wenn Gott durch die Natur die Absicht seines Willens kund gibt, dann deutet alles darauf hin, daß die Bestimmung des Menschen nicht darin liegt, nur ein denkendes, erkennendes Wesen zu sein. Denn das spekulative Feld hat Tücken, die in praktische Rich­ tung weiterlenken. Man muß nämlich stets bedacht sein, „Besit­ ze durch reine Vernunft“ [KrV, A XX], die einem aus der Bear­ beitung dieses Feldes zuwachsen, nicht schon für „Rechtsame der Vernunft“ zu halten [KrV, B 780]. Und wenn es mit der Kri­ tischen Philosophie erstmals möglich war, in objektiver Rück­ sicht überhaupt das materiale „Inventarium aller unserer Besit­ ze durch reine Vernunft, systematisch geordnet“ und gereinigt von allem Sinnlichen zu geben [KrV, A XX], dann war es aller­ dings auch noch nötig, dieses Inventarium der theoretischen Ver­ nunftprinzipien mit Regeln zur „Einschränkung ihres Ge­ brauchs“ zu versehen [ebda]. Denn ein unreglementierter

106 Darauf hat Kant in der Kritik der praktischen Vernunft aufmerksam gemacht: „Nur auf eines sei es mir erlaubt bei dieser Gelegenheit noch aufmerksam zu machen, nämlich daß jeder Schritt, den man mit der reinen Vernunft tut, sogar im praktischen Felde, wo man auf subtile Spekulation gar nicht Rücksicht nimmt, dennoch sich so genau und zwar von selbst an alle Momente der Kritik der theoretischen Vernunft anschließe, als ob jeder mit überlegter Vorsicht, bloß um dieser Bestätigung zu ver­ schaffen, ausgedacht wäre. Eine solche auf keinerlei Weise gesuchte, sondern [...] sich von selbst findende genaue Eintreffung der wichtigsten Sätze der praktischen Ver­ nunft mit den oft zu subtil und unnötig scheinenden Bemerkungen der Kritik der spekulativen überrascht und setzt in Verwunderung, und bestärkt die schon von an­ deren erkannte und gepriesene Maxime, in jeder wissenschaftlichen Untersuchung mit aller möglichen Genauigkeit und Offenheit seinen Gang ungestört fortzusetzen, ohne sich an das zu kehren, wowider sie außer ihrem Felde etwa verstoßen möchte [...]. Öftere Beobachtung hat mich überzeugt, daß, wenn man dieses Geschäft zu Ende gebracht hat, das, was in der Hälfte desselben in Betracht anderer Lehren außerhalb mir bisweilen sehr bedenklich erschien, wenn ich diese Bedenklichkeit nur so lange aus den Augen ließ und bloß auf mein Geschäft acht hatte, bis es vollendet sei, endlich auf unerwartete Weise mit demjenigen vollkommen zusammenstimmte, was sich ohne die mindeste Rücksicht auf jene Lehren, ohne Parteilichkeit und Vorliebe für diesel­ ben von selbst gefunden hätte. Schriftsteller würden sich manche Irrtümer, manche verlorne Mühe (weil sie auf Blendwerk gestellt war) ersparen, wenn sie sich nur ent­ schließen könnten, mit etwas mehr Offenheit zu Werke zu gehen“ [KpV, A 190f.].

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spekulativer Vernunftgebrauch drohte den praktischen Ge­ brauch der Vernunft zu verdrängen [KrV, B XXIV]107. Bei seinem Versuch, das philosophische Terrain zu befrieden, setzt Kant voraus, daß alle Denker unbewußt zur Entwicklung einer „Philosophie der reinen Vernunft“ beigetragen haben, die (final) darauf angelegt war, folgende Ebenen und Glieder zu enthalten: Erstens eine „Propädeutik oder Vorübung“, in der das „Vermögen der Vernunft“ daraufhin untersucht wird, „was jemals a priori erkannt werden kann“ [KrV, B 869]. Sie „heißt Kritik“ [ebda]. Die Kritik die im Resultat der Entwicklung an die Stelle der vormals nur willkürlichen Entwürfe tritt, enthält den „Plan“, der es erlaubt, zweitens das „System der reinen Ver­ nunft (Wissenschaft)“ auszuführen bzw. dasjenige, was ein „Sy­ stem reiner philosophischer Erkenntnisse ausmacht“, ,darzustellen‘ [KrV, B 869]. Dieses System gliedert sich, rekurriert man zunächst nur darauf, wo die menschliche Vernunft gesetzgebend sein kann, in die „Metaphysik des [...] praktischen Gebrauchs der reinen Vernunft“ (Metaphysik der Sitten) einerseits, die die „Prinzipien“ enthält, „welche das Tun und Lassen a priori be­ stimmen“, sowie in die Metaphysik des spekulativen Gebrauchs der reinen Vernunft (Metaphysik der Natur), die alle „reinen Vernunftprinzipien aus bloßen Begriffen (mithin mit Ausschlie­ ßung der Mathematik) von dem theoretischen Erkenntnisse aller

Dinge“

enthält

[ebda].

Die

Eigentümlichkeit

dieses

Systems besteht darin, daß es auf spekulativer Seite Glieder ent­ hält, die keine Erkenntnis bieten und doch nicht einfach fallen gelassen werden dürfen - es umfaßt die „ganze (wahre sowohl als scheinbare) philosophische Erkenntnis aus reiner Vernunft im systematischen Zusammenhang“ [KrV, B 869]. „Die ur­ sprüngliche

Idee

einer

Philosophie

der

reinen

Vernunft“

schreibt diese Glieder vor, sie gehören daher dem System „un­

107 Vgl. KrV, B XXIV f.: Eine durch Kritik in die Grenzen der Erfahrung eingeschlos­ sene Metaphysik ist, gerade auch für die „Nachkommenschaft“, „in der Tat von posi­ tivem und sehr wichtigem Nutzen, sobald man davon überzeugt wird, daß es einen schlechterdings notwendigen praktischen Gebrauch der reinen Vernunft (den morali­ schen) gebe, in welchem sie sich unvermeidlich über die Grenzen der Sinnlichkeit er­ weitert, dazu sie zwar von der spekulativen keiner Beihilfe bedarf, dennoch aber wider ihre Gegenwirkung gesichert sein muß“.

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wandelbar und legislatorisch“ zu [KrV, B 875] und werden nun in kritischer Absicht als offene Systemstellen beibehalten. Die­ ser Aspekt ist zu skizzieren. Kant hat das in vorkritischer Zeit auf der Basis willkürlicher Entwürfe ausgebildete spekulative „System der reinen Vernunft“ so umrissen, als sei das empiristische System (Locke) gleichsam das sinnliche Schema des rationalistischen Systems (Wolfe). Un­ ter dieser Perspektive besteht das System der theoretischen Ver­ nunft im ganzen aus folgenden Teilen in folgender Ordnung: 1) aus einer (rationalistischen) Transzendentalphilosophie oder „Ontologia“, die problematischerweise „Verstand und Vernunft selbst in einem System aller Begriffe und Grundsätze [betrach­ tet], die sich auf Gegenstände beziehen, ohne Objekte anzuneh­ men, die gegeben wären“ [KrV, B 873]; 2) aus einer zunächst nicht minder problematischen (empiristischen)

„Physiologie

der reinen Vernunft“, die sich in „immanente“ und „transzen­ dente“ Physiologie gliedert: Die immanente Physiologie be­ trachtet „Natur als den Inbegriff aller Gegenstände der Sinne [...] nach Bedingungen a priori, unter denen sie uns überhaupt gegeben werden kann“ [KrV, B 874], und teilt sich, gemäß der Unterscheidung von Natur als Gegenstand der „äußeren Sinne“ sowie als Gegenstand des „inneren Sinns“, in eine Metaphysik körperlicher Natur (physica rationalis) und eine Metaphysik denkender Natur (psychologia rationalis). Demgegenüber zielt die transzendente Physiologie auf die „Verknüpfung der Gegen­ stände der Erfahrung, welche alle Erfahrung übersteigt“ [KrV, B 873], ihr Gegenstand ist also die „gesamte Natur“ oder auch die „Welt (als eigentlich so genannte Natur) mit ihrer obersten Ursache zusammengenommen“ [vgl. Teleol., A36]. Diese wie­ derum gliedert sich dynamisch in eine „rationale Kosmologie“ (auch: „Physiologie der gesamten Natur“ oder „transzendentale Welterkenntnis“), die auf die „innere Verknüpfung“ der Gegen­ stände der Erfahrung ausgeht, und in eine „rationale Theologie“ (auch: „transzendentale Gotteserkenntnis“), deren Gegenstand die äußere Verknüpfung der Erfahrungsgegenstände oder der „Zusammenhang^ der gesamten Natur mit einem Wesen über der Natur“ ist [KrV, B 873f.].

„Die ursprüngliche Idee einer Philosophie der reinen Vernunft schreibt diese Abteilung selbst vor; sie ist also architektonisch, ihren wesentli­ chen Zwecken gemäß, und nicht bloß technisch, nach zufällig wahrge­

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nommenen Verwandtschaften und gleichsam auf gut Glück angestellt, eben darum aber unwandelbar und legislatorisch“ [KrV, B 875]. Der Unterschied zwischen vorkritischer und Kritischer Philoso­ phie besteht in der Urteilskraft und der dadurch gewährten Di­ stanz dem System gegenüber: Ad 1) Rationalistische Systeme gehen aus von einer Transzen­ dentalphilosophie oder Ontologie, in deren Rahmen man die „Zeichen“ schon für die „Sachen“ selbst halten muß108. Man be­ wegt sich im System der Begriffe und Ideen und kommt nicht umhin, dem Verstand selbst die Möglichkeit zu einer nichtsinn­ lichen Anschauung und dessen Begriffen (Kategorien) „mysti­ sche“ Realität zuschreiben [vgl. KrV, B 882]. Hier ist der „tran­ szendentale Gegenstand“ nicht nur „der gänzlich unbestimmte Gedanke von Etwas überhaupt“ [KrV, A 253]109, welcher Sinn und Bedeutung (Referenz) nur dann und insoweit hat, als er auf vom Verstand unabhängige sinnliche (reine oder empirische) Anschauungen bezogen werden kann. Demgegenüber basiert Kritische Metaphysik der Natur in ihrem allgemeinen, transzen­ dentalen Teil auf einer „Analytik des Verstandes“ (in der KrV) [KrV, B 303]110, die nicht weniger unabhängig davon zustande­ kommt, ob ein Objekt gegeben ist oder nicht. Aber in ihr sind erkennbare Objekte als Objekte möglicher und wirklicher Er­ fahrung gewußt. Kritische Transzendentalphilosophie verwech­ selt mithin die Zeichen nicht mit den Sachen und hält den tran­ szendentalen Gegenstand nicht schon für das Ding an sich selbst (für ein „Noumenon“), weiß man doch, „was die Dinge an sich sein mögen“, aus reinen Begriffen nicht, und braucht es auch „nicht zu wissen [...], weil mir doch niemals ein Ding anders, als in der Erscheinung“, mithin in der „Vorstellung vorkommen

108 Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, A 109. 109 „Wenn wir also sagen: die Sinne stellen uns die Gegenstände vor, wie sie uns er­ scheinen, der Verstand aber, wie sie sind, so ist das letztere nicht in transzendentaler, sondern bloß empirischer Bedeutung zu nehmen, nämlich wie sie als Gegenstände der Erfahrung im durchgängigen Zusammenhang der Erscheinungen müssen vorgestellt werden [...]“ [KrV, B 313]. 110 Was den transzendentalen Teil der Naturmetaphysik betrifft, so bietet die KrV die wesentlichen Elemente dieser Disziplin, aber sie ist noch kein „vollständiges System“, müßte sie doch, „um ein vollständiges System zu sein, auch eine ausführliche Analysis der ganzen menschlichen Erkenntnis a priori enthalten“ [KrV, B 27], d.h. alle Stamm­ begriffe der „gedachten reinen Erkenntnis“ sowie die daraus abgeleiteten (Prädikabilien), was sie nicht tut.

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kann“ [KrV, B 332 f.]. Enthält der transzendentale Teil der Na­ turmetaphysik auf der einen Seite daher nur im oben skizzierten Sinn „die reinen Handlungen des Denkens, mithin die Begriffe und Grundsätze a priori, welche das Mannigfaltige empirischer

Vorstellungen allererst in die gesetzmäßige Verbindung bringt, dadurch es empirisches Erkenntnis, d.i. Erfahrung genannt wer­ den kann“ [Met. Anf., XIII], so weiß man auf der anderen Seite auch um den Status dieser Metaphysik als einer „bloße[n] Ge­ dankenform“, welche anderer Wissenschaften bedarf, die ihre „Begriffe und Lehrsätze [...] zu realisieren, d. i. einer bloßen Ge­ dankenform Sinn und Bedeutung unterzulegen“ vermöchten [Met. Anf., A XXIII]. Weil sich aus ihr „ein reales Objekt“ nicht „herausklauben“ läßt111 und sie zugleich etwas anderes ist als bloß formale Logik, so muß im Rahmen der Philosophie selbst zu den besonderen Naturmetaphysiken weitergegangen werden. Nun kann die allgemeine Naturmetaphysik diese Beispiele nicht aus einer „allgemeinen Seelenlehre“ hernehmen, weil sich Ma­ thematik auf Erscheinungen des inneren Sinns nicht anwenden läßt. Wenn daher die Psychologie „von jeher ihren Platz in der Metaphysik behauptet“ hat [KrV, B 876], so kann sie doch nach Kant nicht Metaphysik (rein rationale Wissenschaft), ja noch nicht einmal eine „psychologische Experimentallehre“ (empi­

risch rationale Wissenschaft) sein, sondern bleibt auf der Stufe historischer Naturlehren stehen: Psychologie ist nur als eine „historische [.] Naturlehre des inneren Sinnes, d. i. eine Natur­ beschreibung der Seele“ einlösbar [Met. Anf., A XI]. Darauf wird noch einmal zurückzukommen sein. Bedarf nun jedoch die transzendentale Naturmetaphysik der Beispiele, die ihr Sinn und Bedeutung geben, so ist sie auf die „Form und [...] Prinzipien der äußeren Anschauung“ [Met. Anf., A XXII] und zunächst auf die „allgemeine Körperlehre“

(physica pura) angewiesen, obgleich diese Funktion z.B. auch jene sozusagen ganz besondere Körperlehre übernehmen kann, die zugleich eine spezielle Metaphysik der denkenden Natur ist: die „philosophierende Geschichte der Philosophie“. Sie indes schreitet in dieser Hinsicht dann weiter: von der empirischen 111 Formuliert nach: Kants Erklärung in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre, a. a. O., 370. Hegel kritisiert diese Erklärung unter dem Stichwort, „daß sich das Da­ sein nicht aus dem Begriffe herausklauben lasse“, in: Wissenschaft der Logik II, 402 undf.

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Vorstellung „Ich denke“ zum „Übersinnlichen in uns“ (prakti­ sche Freiheit), „über uns“ (Gott) und „nach uns“ (Unsterblich­ keit) [vgl. PS, A 106f.], also von der Theorie zu einer Teleologie, welche ausgreift auf den „a priori durch reine praktische Ver­ nunft bestimmt gegebenen Zweck (in der Idee des höchsten Guts)“112. Ad 2) Der Empirismus, dessen Programmatik einer Erkennt­ nis aus Erfahrung verpflichtet ist, ist nun andererseits eine Posi­ tion, für den ausschließlich die Gegenstände der Sinne Erkennt­ nis ermöglichen, wobei den Verstandesbegriffen nur logische Realität eingeräumt wird [KrV, B 882], Locke allerdings daran gegangen war, diese Begriffe „physiologisch“ aus der Erfahrung abzuleiten [vgl. z.B. KrV, B 118f.]. So siedelt sich der Empiris­ mus nach Kant eigentlich auf jener Ebene an, der die besonde­ ren, empirisch ansetzenden Naturmetaphysiken zugehören: auf der Ebene einer „Physiologie der reinen Vernunft“. Denn für ihn geht es im Grunde immer schon um „Natur“ im Sinne eines „Inbegriff[s] gegebener Gegenstände“ [KrV, B 873] (in bezug auf die in kritischer Einstellung indes noch abzuklären war, ob diese Gegenstände „den Sinnen oder einer anderen Art von An­ schauung gegeben“ sind [vgl. ebda]). Dem Empirismus gegen­ über hält die Kritische Philosophie fest, daß Metaphysik im er­ sten Schritt aus dem „Denkungsvermögen“ genommen wird, darum aber nicht „erdichtet“ und grundsätzlich nicht schon des­ halb erdichtet ist, nur „weil sie nicht von der Erfahrung ent­ lehnt“ ist [Met. Anf., A XIII]. Denn sie bleibt auf die Naturwis­ senschaften bezogen, mit diesen „verbunden“ (anstatt, wie im Empirismus, „vermischt“) [vgl. KrV, B 876]. Die Verbindung, die die transzendentale Metaphysik der Natur im Gefüge der Wissenschaften mit den empirischer Naturwissenschaften, ins­ besondere denjenigen unterhält, die sich auf die äußere Natur beziehen, läuft über den Weg der „allgemeinen Körperlehre“. In ihr suchte Kant diejenigen Sätze, die sich „im Anfange der eigentlichen (empirischen) Physik“ finden, „als eigene Wissen­ schaft [...] in ihrem ganzen Umfange, abgesondert“ aufzustellen. Denn er war der Ansicht, daß diese Sätze (wie die Trägheitsge­ setze, die Gesetze über die Beschaffenheit der Materie etc.) eine

112 Vgl. dazu insbesondere die Schrift Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie, a. a. O.

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„physicam puram (oder rationalem)“ ausmachen [KrV, B 20 Anm.]. Die synthetischen Sätze, die die Körperlehre enthält, sind insofern Grundsätze, die „in der Erfahrung (in concreto) [...] angewandt werden“ können [KrV, B 873] und speziell in der empirischen Physik bereits angewendet werden. Ad 3) Was nun die weiteren zwei Systemteile einer „transzen­ dentalen Welterkenntnis“ und einer „transzendentalen Gottes­ erkenntnis“ betrifft, in denen jeweils eine „Verknüpfung der Ge­ genstände der Erfahrung“ thematisch ist, die über mögliche Erfahrung hinausgeht, so zeigen diese „Sprößlinge“, die (natur­ wüchsig) aus der „Wurzel“ der allgemeinen Metaphysik ,sprossen‘ [Met. Anf., A XXII], einen „hyperphysischen“ Vernunftge­ brauch an [KrV, B 873]. Da es aber eine „höhere“ spekulative

Metaphysik nicht geben kann, die in Rücksicht auf den inneren Zusammenhang der gesamten Natur (Welt) sowie den Zusam­ menhang der Welt mit einem „Wesen über der Natur“ etwas aus­ zurichten vermöchte, waren diese Systemteile, als dem „regel­ mäßigen Wuchse“ der Metaphysik „nur hinderlich“, von dieser zu „befreien“ und „besonders“ zu pflanzen [Met. Anf., A XXII], nämlich, wie gezeigt, ins Medium der Beurteilung der Dinge in dieser Welt. Dabei war insbesondere in bezug auf eine mögliche „transzendentale Gotteserkenntnis“ festzuhalten:

„Wenn man unter Natur den Inbegriff von allem versteht, was nach Ge­ setzen bestimmt existiert, die Welt (als eigentlich so genannte Natur) mit ihrer obersten Ursache zusammengenommen, so kann es die Natur­ forschung [...] auf zweierlei Wegen versuchen, entweder auf dem bloß theoretischen oder auf dem teleologischen Wege“, wobei sie „auf dem theoretischen Natur-Wege (in Ansehung der Erkenntnis Gottes) ihre ganze Absicht nicht nach Wunsch erreichen könne, und ihr also nur noch der teleologische übrig sei; so doch, daß nicht Naturzwecke, die nur auf Beweisgründen der Erfahrung beruhen, sondern ein a priori durch reine praktische Vernunft bestimmt gegebener Zweck (in der Idee des höchsten Guts) den Mangel der unzulänglichen Theorie ergän­ zen müsse“ [Teleol., A 36 f.]. Gleichwohl wurde in der Kritischen Philosophie weder die „Ab­ stammung“ „transzendentaler Welt-“ und „Gotteserkenntnis“ aus der theoretischen Metaphysik ,verkannt‘, noch dieses „Ge­ wächs aus dem System der allgemeinen Metaphysik“ weggelas­ sen [Met. Anf., A XXII]. Denn „die ursprüngliche Idee einer Philosophie der reinen Vernunft“ schreibt diese Abteilungen zu­

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allererst auf theoretischem Feld vor. Hier allerdings bleiben sie nun als offene Systemstellen stehen, die gleichsam kritisch daran erinnern, daß in bezug auf Transzendentes weder bejahende noch verneinende gegenstandsbezogene Urteile möglich sind und es dennoch ein unbestreitbares „Recht“ der Vernunft (ge­ nauer: ein „Recht des Bedürfnisses der Vernunft, als eines sub­ jektiven Grundes“) gibt, sich „im unermeßlichen und für uns mit dicker Nacht erfüllten Raume des Übersinnlichen“ wenigstens „im Denken, d. i. logisch“, zu orientieren, und es nichts gibt, das es einem verwehren könnte, dabei „etwas vorauszusetzen und anzunehmen“, das man allerdings „durch objektive Gründe zu wissen sich nicht anmaßen darf“113. Entsprechend nimmt der Kritische Philosoph den Punkt, wo man auf theoretischem Feld vom immanenten Gebrauch der Vernunft nur noch zum tran­ szendenten (hyperphysischen) übergehen kann, zum „Ruhe­ platz“, um sich erst einmal einen „Entwurf von der Gegend“ zu machen, wo man „sich befindet“, damit der „Weg fernerhin mit mehr Sicherheit“ gewählt werden kann [vgl. KrV, B 780], so daß die Kritische Philosophie nicht nur die skeptische Methode, sondern auch einen wohlverstandenen „Skeptizismus“

ein-

schließt114. Daß dieser Weg der Sache nach aber nur ins prakti­ sche Feld führen kann und ein teleologischer ist, wird nun gera­ de in den philosophischen Geschichtsdisziplinen (insbesondere in der „philosophischen Geschichte der Philosophie“) thema­ tisch. In diesem Sinne werden nun also die Gegenstände der klassi-

113 Was heißt: sich im Denken orientieren?, A 309 ff. 114 Die „skeptische Methode“, wie sie nicht dem „Skeptizismus“ eigen ist (welcher „die Grundlagen aller Erkenntnis untergräbt, um wo möglich, überall keine Zuverläs­ sigkeit und Sicherheit derselben übrig zu lassen“ [KrV, B 451]), sondern „nur der Tran­ szendentalphilosophie“, bezieht sich darauf, daß man „in einem [...] redlich gemein­ ten [...] Streite den Punkt des Mißverständnisses zu entdecken sucht, um wie weise Gesetzgeber tun, aus der Verlegenheit der Richter bei Rechtshändeln für sich selbst Belehrung [...] zu ziehen“ [ebda]. Aber die Transzendentalphilosophie schließt auch einen gleichsam vernünftigen „Skeptizismus“ ein - einen Skeptizismus, der kein „Wohnplatz zum beständigen Aufenthalte“ ist („denn dieser kann nur in einer völligen Gewißheit angetroffen werden, es sei nun der Erkenntnis der Gegenstände selbst, oder der Grenzen, innerhalb denen alle unsere Erkenntnis von Gegenständen einge­ schlossen ist“), sondern bloß ein „Ruheplatz für die menschliche Vernunft, da sie sich über ihre dogmatische Wanderung besinnen und den Entwurf von der Gegend ma­ chen kann, wo sie sich befindet, um ihren Weg fernerhin mit mehr Sicherheit wählen zu können“ [KrV, B 789f.].

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sehen Metaphysik (im engeren Sinne), Gott, Unsterblichkeit, Freiheit, dem spekulativen „Monopol der Schulen“ entzogen und an den moralisch-praktischen Vernunftgebraueh, mithin an die menschliche Existenz zurüekgebunden. Denn:

„Ich frage den unbiegsamsten Dogmatiker, ob der Beweis von der Fort­ dauer unserer Seele nach dem Tode aus der Einfachheit der Substanz, ob der von der Freiheit des Willens gegen den allgemeinen Mechanis­ mus durch die subtilen, obzwar ohnmächtigen Unterscheidungen sub­ jektiver und objektiver praktischer Notwendigkeit, oder ob der vom Dasein Gottes aus dem Begriffe eines allerrealsten Wesens, (der Zufäl­ ligkeit des veränderlichen, und der Notwendigkeit eines ersten Bewe­ gers,) nachdem sie von den Schulen ausgingen, jemals haben bis zum Publikum gelangen und auf dessen Überzeugung den mindesten Ein­ fluß haben können?“ [KrV, B XXXII], Das Hauptgewicht in dieser Argumentation liegt auf der Annah­ me, daß eine „Einsicht“ in die Realität von „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“ fatale Konsequenzen für den praktischen Ver­ nunftgebrauch haben würde, Wäre es nämlich möglich, die Exi­ stenz Gottes, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit des Willens zu beweisen, dann geschähen Handlungen nicht aus blo­ ßer Achtung für das Sittengesetz, sondern aus anderen Beweg­ gründen: Das „Verhalten der Menschen“ würde „in einen bloßen Mechanismus verwandelt werden, wo im Marionettenspiel alles gut gestikulieren, aber in den Figuren doch kein Leben anzutref­ fen sein würde“ [KpV, A 265], Denn zwar würde „die Übertre­ tung“ des Gesetzes der praktischen Vernunft - vielleicht aus „Furcht“ oder vielleicht auch aus „Hoffnung“ - „vermieden [und] das Gebotene getan werden; weil aber die Gesinnung, aus welcher die Handlungen geschehen sollen, durch kein Gebot mit eingeflößt werden kann [...], so würde gar keine [scil, Handlung, Z, v, V,] aus Pflicht geschehen, ein moralischer Wert der Hand­ lungen aber, worauf doch allein der Wert der Person und selbst der Welt in den Augen der höchsten Weisheit ankommt, würde gar nicht existieren“ [ebda], Nicht anders nun wäre es jedoch, behielte der Empirismus das letzte Wort: Könnte bewiesen wer­ den, daß es „nichts als das Teilbare und Vergängliche“ gäbe, daß ich wie alle anderen Wesen nur „an dem Faden der Natur und des Schicksals geleitet“ wäre oder daß „die Naturdinge und de­ ren Ordnung den letzten Gegenstand ausmachen, bei dem wir in allen unseren Betrachtungen stehenbleiben müssen“ [KrV,

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B 491 f.], - auch dann könnte sich der Mensch nur als eine ,Marionette‘ verstehen, die in diesem Falle abhängig wäre vom Me­ chanismus der Natur. So eben hatte aber die „alte Philosophie“ nach Kant „dem Menschen einen ganz unrichtigen Standpunkt in der Welt“ angewiesen, „indem sie ihn in dieser zu einer Ma­ schine machte, die, als solche, gänzlich von der Welt, oder von den Außendingen und Umständen, abhängig sein mußte“, die „also den Menschen zu einem beinahe passiven Teil der Welt“ machte [Fakult., A 116]. Kants Kritik an allen theoretisch eindeutigen, sei es (rationa­ listisch) bejahenden oder (empiristisch) verneinenden, Urteilen im Hinblick auf das Transzendente sowie seine Intention, eine Antwort auf die vordringlichsten menschlichen Fragen an die Voraussetzung von Moralität und mithin an praktische Freiheit zu binden, tangiert nur das „Monopol der Schulen“ [KrV, B XXXII], Einsichten für sich reklamiert zu haben, welche ganz „allgemeine, menschliche Angelegenheit“ betreffen, zu der aber das „Publikum“, „die große (für uns achtungswürdigste) Men­ ge“, keinen Zugang haben sollte [KrV, B XXXIV]. Kritische Philosophie tritt vor allem im Namen der praktischen Freiheit gegen die Schulen auf und etabliert sich, anstatt als „Grund­ feste“ der Religion (wie es im Dogmatismus sein sollte), als „Schutzwehr“ einer vernunftbestimmten Moralität ebenso wie einer vernunftbestimmten Religiosität [vgl. KrV, B 877]. Die komplexe Ordnung, die Kant in der Welt der philosophi­ schen Wissenschaften zu stiften suchte, sieht also vor: daß jetzt die „bloße Spekulation mehr dazu dient, Irrtümer abzuhalten, als Erkenntnis zu erweitern“; dies aber tue, so Kant,

„ihrem Wert keinen Abbruch, sondern gibt ihr vielmehr Würde und Ansehen durch das Zensoramt, welches die allgemeine Ordnung und Eintracht, ja den Wohlstand des wissenschaftlichen gemeinen Wesens sichert, und dessen mutige und fruchtbare Bearbeitung abhält, sich nicht von dem Hauptzwecke, der allgemeinen Glückseligkeit, zu entfer­ nen“ [KrV, B 879]. Die kritisch begründete Metaphysik ist als Metaphysik der Na­ tur die „Grundwissenschaft“, die den „wissenschaftlichen Zir­ kel“ schließt. Erst jetzt bekommen die Wissenschaften „Ord­ nung und Zusammenhang“ [Logik, A 28]. Darüber hinaus sind sie auf der Basis einer Metaphysik der Sitten in einem prakti-

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sehen Zweckzusammenhang gesehen, der sie auf die Weisheit hin orientiert.

1.9 Vom philosophischen Naturzustand zum Rechtszustand oder: von der kriegerischen zur streitbaren Verfassung der Philosophie Auf der Basis des Ausgeführten läßt sieh nun gut beschreiben, wie Kant die basal als Zustand eines bestimmten Gemeinwe­ sens verstandene vorkritisehe Philosophie als Teil einer Vergan­ genheit, Gegenwart und alle Zukunft umfassenden Gesehiehte der Philosophie und diese als eine Abfolge von freiheitliehen Organisationen dieses Gemeinwesens zur Geltung zu bringen suchte, in welchen sieh der „intelligible Charakter“ des in die­ sem Falle Wissenschaft betreibenden Menschen offenbart; wie er also in diesem praktischen Sinne das Philosophieren als eine „allmälige Entwickelung der menschlichen Vernunft“ verstand. Die teleologische Grundperspektive der Kantischen Ge­ schichtsphilosophie bedingt, daß der Naturzustand als ein (dynamisches) Ganzes mit zweckmäßig zusammenspielenden Komponenten aufgefaßt werden kann. Die theologische Grund­ orientierung dieser Teleologie fordert darüber hinaus, diesen Zustand als etwas vom Menschen nicht allein zu Verantworten­ des zu affirmieren: Er war eine „wohltätige und weise Veranstal­ tung [...] der Natur“ [Traktat, A 487]. Kants Konzeption des Naturzustands in seiner Dynamik lebt von der Annahme, daß es die „Vorsehung“ gerade dort, wo es letztlich um Moralität geht, nicht auf das menschliche „Wohlbe­ finden“ angelegt hat. So geht es in der Philosophie nicht um das Wohlbefinden, das ein „dogmatischer Schlummer“ in einem weltabgewandten System aus lauter Begriffen für sich selbst ge­ währen würde, - und der „Dogmatism (z.B. der Wolffischen Schule) ist ein Polster zum Einschlafen“ [Traktat, A490]. Es geht in ihr auch nicht um das Wohlbefinden, das im Empirismus läge, der das Übersinnliche ursprünglich so „dreist verneint“, daß man sich, setzte er sich durch, um die Realisierung des prak­ tischen „Urbilds“ von Philosophie nicht mehr bemühen würde. Aber auch dasjenige Wohlbefinden ist nicht gefragt, das der Skeptizismus bieten würde, wäre die mit ihm verbundene „Eu­ thanasie“ der reinen Vernunft das letzte Wort. Weil es in der

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Philosophie nicht um Wohlbefinden geht, deshalb legte die Na­ tur, der Kantischen Sinnstiftung zufolge, alles erst einmal auf Entzweiung (Dogmatismus/Empirismus) und darauf immer wie­ der folgende Stadien der Indifferenz hin an. So hat sie auf eine Radikalisierung der Entzweiung bis zum schließlichen Über­ druß gesetzt: Anstatt eines gemächlichen Fortschreitens direkt einem Ziele zu, beförderte sie die Vervollständigung der Sy­ steme und die Radikalisierung des Zweifels an Metaphysik. Dies alles macht eine antagonistische Bewegursache aus: Ohne die Geselligkeit, die für dogmatischen „Parteigeist“ typisch ist, ohne aber auch die Ungeselligkeit jener skeptischen Nomaden wäre das Philosophieren sehr schnell schon im Sande verlaufen: Es wäre im dogmatischen Schlummer einer bloß eingebildeten Überzeugung verharrt115. Der die KrV beschließende Abschnitt „Geschichte der reinen Vernunft“ thematisiert nicht nur die komplexe Bewegursache, deren sich die Vernunftnatur bedient, um das Philosophieren voranzutreiben. Dieser Abschnitt macht auch klar, daß es in der Geschichte der Philosophie letztlich um Entwicklung von Frei­ heit ging. Denn Kant läßt die Philosophie in Gestalt von Meta­ physik aus einer Absetzungsbewegung gegen eine Theologie entspringen, die sich ihrerseits absetzte von unaufgeklärter Mo­ ral und Religion.

„Es ist merkwürdig genug, ob es gleich natürlicherweise nicht anders zugehen konnte, daß die Menschen im Kindesalter der Philosophie da­ von anfingen, wo wir jetzt lieber endigen möchten, nämlich zuerst die Erkenntnis Gottes, und die Hoffnung oder gar wohl die Beschaffenheit 115 Das Prinzipiengefüge Dogmatismus/Empirismus und Skeptizismus entspricht dem Prinzipiengefüge („Antagonismus“) des Naturzustands der Universalgeschichte: der „ungeselligen Geselligkeit“. Die „ungesellige Geselligkeit“ steht für den antagonisti­ schen Hang (die Neigung) des Menschen einerseits nach einem „arkadischen Schäfer­ leben bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe“ [Idee, A 393]; dem entspricht im Rahmen der Philosophie der „natürliche Hang“ [vgl. KrV, B 670] nach einem letztbegründeten System als einem „Polster zum Einschlafen“ [Traktat, A 490]. Andererseits hat der Mensch aber den ebenso „großen Hang“, „sich zu ver­ einzeln (isolieren): weil er in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen“ [Idee, A 392]; dem entspricht der Skepti­ zismus: Skeptiker sind „eine Art von Nomaden, die allen beständigen Anbau des Bo­ dens verabscheuen“ und „von Zeit zu Zeit die bürgerliche Vereinigung“ zertrennen. Dieser Antagonismus ist die ursprüngliche Bewegursache, die Menschen dazu bringt, „das Leere der Schöpfung in Ansehung ihres Zwecks, als vernünftige Natur“ auszu­ füllen [Idee, A 393] - auch in der Philosophie.

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einer anderen Welt zu studieren. Was auch die alten Gebräuche, die noch von dem rohen Zustande der Völker übrig waren, für grobe Reli­ gionsbegriffe eingeführt haben mochten, so hinderte dieses doch nicht den aufklärten Teil, sich freien Nachforschungen über diesen Gegen­ stand zu widmen“ [KrV, B 880]. Freie Nachforschungen fundierten zunächst die Theologie, de­ ren lebensweltlich bedeutsame Behauptung darin bestand, es gä­ be „keine [...] zuverlässigere Art [...], der unsichtbaren Macht, die die Welt regiert, zu gefallen, um wenigstens in einer anderen Welt glücklich zu sein, als den guten Lebenswandel“ [ebda]. Zu­ nächst war also die Theologie die Grundfeste von Moral und Religion. Dieser aber wurde schließlich die Metaphysik vorge­ schaltet:

„Daher waren Theologie und Moral die zwei Triebfedern, oder besser Beziehungspunkte zu allen abgezogenen Vernunftforschungen, denen man sich nachher jederzeit gewidmet hat. Der erstere war indessen ei­ gentlich das, was die bloß spekulative Vernunft nach und nach in das Geschäft zog, welches in der Folge unter dem Namen der Metaphysik so berühmt geworden“ [KrV, B 881]. Metaphysik ist Bestandteil eines Säkularisierungsprozesses. Sie tritt zunächst auf als ein spekulatives, wenn auch nicht unstritti­ ges Projekt ohne Moral, auch wenn die Menschen an Moralität ein natürliches Interesse nehmen. Aber dieses Interesse ist eben nicht immer schon „ungeteilt und praktisch überwiegend“ [KrV, B 857f. Anm.]. Es waren die reinen Dogmatiker, die „anfänglich“ die „Herr­ schaft“ der Metaphysik („despotisch“) verwaltet haben [KrV, A IX]. Ihnen setzten sich die Empiristen entgegen. Nun läßt Kant beide Schulen auf dem „Boden“ nur einer der metaphysischen Spezialdisziplinen aufeinandertreffen: nicht auf dem der philo­ sophischen Psychologie und nicht auf dem philosophischer Theologie. (Die philosophische Disziplinen der Psychologie und Theologie erzeugen nur einen auf den Rationalismus be­ schränkten „einseitigen Schein“ [KrV, B 434].) Rationalismus und Empirismus treffen, gemäß der Kantischen Programmatik einer Philosophie nach dem „Weltbegriff“, pointierterweise le­ diglich auf dem Boden der Kosmologie aufeinander116. Hier fin­

116 Vgl. zum Zeitalter der Kosmologie: PS, A 110.

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det eine „natürliche Antithetik“ statt [KrV, B 434], wenn man in der Philosophie ohne Kritik des menschlichen Vernunftvermö­ gens voranzukommen sucht. Jedenfalls konfrontiert Kant hier den „Platonismus“ mit dem „Epikureismus“ und läßt letzteren das „Zutrauen“ oder, kritischer, die „Anmaßung“ des ersteren erschüttern, „mit einer reinen Erkenntnis aus Begriffen [...], ohne Erkundigung [...] des Rechts, womit [... er] dazu gelangt ist, allein fortzukommen“ [vgl. KrV, B XXXV; Z.v. V.]. Dabei zeichnet sich die Kosmologie dadurch aus, daß in ihr alle meta­ physischen Fragen thematisch sind. Man fragt hier also,

„ob die Welt einen [zeitlichen] Anfang und irgendeine Grenze ihrer Ausdehnung im Raume habe“ oder nicht; „ob es irgendwo und viel­ leicht in meinem denkenden Selbst eine unteilbare und unzerstörliche Einheit, oder nichts als das Teilbare und Vergängliche gebe, ob ich in meinen Handlungen frei, oder wie andere Wesen, an dem Faden der Natur und des Schicksals geleitet sei; ob es endlich eine oberste Weltur­ sache gebe, oder die Naturdinge und deren Ordnung den letzten Ge­ genstand ausmachen, bei dem wir in allen unseren Betrachtungen ste­ henbleiben müssen: das sind Fragen, um deren Auflösung der Mathematiker gerne seine ganze Wissenschaft dahingäbe; denn diese kann ihm doch in Ansehung der höchsten und angelegentlichsten Zwecke der Menschheit keine Befriedigung verschaffen“ [KrV, B 491f.; Z.v. V.]. So zeigt sich im Rahmen der Kosmologie, daß Ideenbegriffe in theoretischer Hinsicht offen sind für Behauptungen und Gegen­ behauptungen, die die Form einer „Antinomie“, einer Entge­ gensetzung von widerstreitenden Sätzen annehmen können, die beide wahr sein können, so daß der Sache nach - „kat‘ aletheian“ [KrV, B 772] - mit Gründen letztlich nicht entschieden werden kann. Kann nun die Sache nicht streitig sein, so muß es „kat‘ anthropon“ - der „Ton“ sein [KrV, B 772], der zum Streit, genauer: zum Krieg führt und geführt hat - ein Ton, in welchem, im Vorbeigehen am Postulat der Wahrhaftigkeit, grundlosen Be­ hauptungen grundlose werden.

Gegenbehauptungen

entgegengesetzt

Wenn die Rede davon ist, daß in vorkritischer Zeit die „Ver­ nunft mit ihr selbst“ im „Widerspruch“ war, so betrifft dieser Sachverhalt freilich nicht die Vernunft selbst, sondern lediglich den Vernunftgebrauch, der in die Verantwortung des Menschen gestellt ist. Der Widerspruch ist darum allemal ein „schein­

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barer“117. Von Bedeutung ist, daß Kant den sprachlichen Äußerungsaspekt des Philosophierens, also sprachpragmatische Gesichtspunkte und damit verbindbare anthropologische Er­ fahrungssachverhalte in die Betrachtung miteinbezieht118: Be­ hauptungen sind Handlungen, die sich unter genuin praktischen Gesichtspunkten beurteilen lassen, unter Gesichtspunkten also, die das Verhältnis zwischen Personen betreffen. So herrschte ar­ gumentativer Kriegszustand. Auf thetische Behauptungen (Dogmata im Dogmatismus) antwortet der „dogmatische Ein­ wurf“ (im Empirismus), der als solcher „wider einen Satz“ ge­ richtet und deshalb selbst dogmatisch ist. Denn wie beim Dog­ ma, so bedarf es auch hier „einer Einsicht in die Natur des Gegenstandes, um das Gegenteil von demjenigen behaupten zu können, was der Satz von diesem Gegenstande vorgibt“ [KrV, A 388f.]. Man muß also vorgeben, „die Beschaffenheit, von der die Rede ist, besser zu kennen“ [ebda], als es in der gegenteiligen Behauptung der Fall ist. Obwohl man „die Beschaffenheit, von der die Rede ist“, überhaupt nicht kennen kann, zeigt man „dog­ matischen Trotz“, der „den Kopf steif auf gewisse Behauptungen [...] setzen“ läßt [KrV, B 434], ohne daß dem Gegner überhaupt Gehör geschenkt wird [KrV, B433f.]. Ein solcher Trotz zeugt von einer „gewissen Unlauterkeit in der menschlichen Natur“, nämlich davon: „Zweifel, die wir wider unsere eigenen Behaup­ tungen fühlen, zu verhehlen, oder Beweisgründen, die uns selbst nicht genugtun, einen Anstrich von Evidenz zu geben“ [KrV, B 777], und dies auch noch auf einem Terrain, wo wir „weit we­ niger Hindernisse und gar keinen Vorteil haben“, wie dies im Leben sonst der Fall sein mag [KrV, B 776]. Im Gegenteil: „Denn was kann den Einsichten nachteiliger sein, als sogar blo­ ße Gedanken verfälscht einander mitzuteilen [...] ?“ [KrV, B 777]. Nun aber möchte „alles, was von der Natur kommt, eine An­ lage zu guten Zwecken enthalten“. Also kann angenommen wer­ den, daß sich „die Menschen durch diesen Hang, sowohl sich zu verhehlen, als auch einen ihnen vorteilhaften Schein anzuneh­ men, [...] nicht bloß zivilisiert, sondern nach und nach, in gewis­

117 Brief an Garve, vom 21. September 1798, AA XII, 256-258. 118 So bleibt die Philosophie auch in dieser Hinsicht an die Empirie (im gegebenen Fall an die Anthropologie) angebunden.

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se[m] Maße, moralisiert [haben]“ [KrV, B 776], wenn auch nur erst „provisorisch“, nämlich durch bloße „Manier des Guten“, sich „besser zu stellen als man ist“; und kann ferner auch diese „provisorische“ Moral, die den philosophierenden Menschen aus seiner „Rohigkeit“ brachte, als zweckdienlich dafür angese­ hen werden, daß allmählich „echte Grundsätze“ in die Den­ kungsart übergehen [KrV, B 776f.]. In jedem Falle aber ist es der „natürlichen Antithetik“ bereits zu danken, daß sie „vor [... dem] Schlummer einer eingebildeten Überzeugung [...] ver­ wahrt“ hat [vgl. KrV, B 434; Z.v. V.], wenn auch bislang auf den „dogmatischen Schlummer“ nur die „skeptische Hoffnungslo­ sigkeit“ folgte [vgl. KrV, B 434]. Der skeptische „Einwurf“ gilt der methodischen Destruktion der menschlichen Erkenntnis überhaupt. Denn Skeptiker ist eben, wer dem „Grundsatz einer kunstmäßigen und szientifischen Unwissenheit“ verpflichtet ist, „welcher die Grundlagen aller Erkenntnis“ in einem „zum Scheine“ zunächst selbst „dogmatischen“ Verfahren untergräbt. In diesem Verfahren nämlich werden sowohl „Satz“ als auch „Gegensatz“ als „Einwürfe von gleicher Erheblichkeit“ behan­ delt, wechselweise als Dogma und Einwurf gegeneinanderge­ stellt, mit dem Ziel, schließlich „alles Urteil über den Gegen­ stand gänzlich zu vernichten“ [KrV, A 388f.]. Nun sah sich, wie weiland der Skeptiker, so auch Kant nach eigenem Bekunden durch die natürliche Antithetik aus dem „dogmatischen Schlummer“ aufgeweckt: „Nicht die Untersu­ chung vom Dasein Gottes, der Unsterblichkeit etc. ist der Punkt gewesen, von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r[einen] V[ernunft] [...]; diese war es, welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Kritik der Vernunft selbst hintrieb, um das Skandal des scheinbaren Wider­ spruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben“119. 120 Im Zeichen „gereifter Urteilskraft“ wird das Verfahren einer supensio iudicii sceptica, in der man auf Urteilsverzicht zielt, durch das Verfah­ ren einer vorläufigen Urteilssuspension zu Forschungszwecken ersetzt (suspensio iudicii indagatoria)120. Man dringt auf Begrün­ 119 Brief an Garve, a.a.O.; Z.v. V. 120 „Die Zurückhaltung des Urteils kann in zweifacher Absicht geschehen; entweder, um die Gründe des bestimmenden Urteils aufzusuchen; oder um niemals zu urteilen. Im ersteren Falle heißt die Aufschiebung des Urteils eine kritische (suspensio iudicii indagatoria), im letzteren eine skeptische (suspensio iudicii sceptica)“ [Logik, A 114].

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düng und löst die „skeptische Art“, „eines großen dogmatischen Wustes mit wenig Aufwand überhoben zu sein“, durch eine „nüchterne Kritik“ ab121. Der kritische „Einwurf“ läßt grund­ sätzlich einen „Satz in seinem Werte oder Unwerte unangeta­ stet“ [KrV, A388]. Er bedarf es also nicht, „den Gegenstand besser zu kennen, oder sich einer besseren Kenntnis desselben anzumaßen; er zeigt nur, daß die Behauptung grundlos, nicht, daß sie unrichtig sei“ [ebda]. In eben diesem Sinne kann man eben „die Kritik der reinen Vernunft“ als den „wahren Gerichts­ hof für alle Streitigkeiten derselben ansehen; denn sie ist in die letzteren, die auf Objekte unmittelbar gehen, nicht mit verwikkelt, sondern [...] dazu gesetzt, die Rechtsame der Vernunft überhaupt nach den Grundsätzen ihrer ersten Institution zu be­ stimmen und zu beurteilen“ [KrV, B 779]. Kant ging davon aus, daß die eröffnete Möglichkeit, Streitig­ keiten von nun an durch „Prozeß“ zu entscheiden, einen „in alle Zukunft“ [Traktat, A 416] gesicherten, also „ewigen Frieden“ [KrV, B 779] gewähren müsse. Dieser Friede setzt freilich keine friedliche Gesinnung voraus, sondern sucht sie a la longue erst zu bewirken. Denn die Möglichkeit, den Weg der Vernunftkritik zu beschreiten, befreit geradezu zum Streit und gewährt dabei Gelassenheit, da aus dem Prozeß, der solche Streitigkeiten zu entscheiden erlaubt, keine Sieger hervorgehen können, die wie Richter aus Machtbefugnis über andere ein Urteil fällen könn­ ten. Aus Streitigkeiten gehen nicht Richter hervor, sondern nur „Gesetzgeber“, die wenigstens insofern schon „weise“ sind, als sie „aus der Verlegenheit“, in der sich gerade Richter bei ihren „Rechtshändeln“ befinden, nur „für sich selbst Belehrung [...] ziehen“ [vgl. KrV, B 451 f.]. Deshalb ist Kants „ewiger Friede“ auch nicht als Idylle vor­ gesehen. Es ist kein „gemächlich ruhender Friede“ [Traktat, A 494], würde ein solcher doch „die Kräfte nur erschlaffen, und den Zweck der Natur in Absicht der Philosophie, als fortwähren­ den Belebungsmittels zum Endzweck der Menschheit, nur ver­ eiteln“ [ebda]. So hat die Philosophie im Friedenszustand eine „streitbare Verfassung“ (vor allem gegen „die, welche verkehr­ Bereits in der vorkritischen „Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen [. wird (im pädagogischen Kontext) die „eigentümliche Methode des Unterrichts“ als „zetetisch, [...] d.i. forschend bestimmt“ [Logik, A 7]. 121 KrV, B513f.

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terweise Erscheinungen mit Sachen an sich selbst verwech­ seln“). Eine streitbare Verfassung aber ist „noch kein Krieg“, sondern hält jenen gerade zurück: „durch ein entschiedenes Übergewicht der praktischen Gründe über die Gegengründe“ [ebda]. Nun verdient ein „ewiger Friede“ diesen Titel nur dann, wenn sich nachweisen läßt, daß er nicht auf einen menschlichen (willkürlichen) Einfall gegründet ist. Kant stützt sich auf ein Hobbessches Theorem: Der „ewige Friede“ steht gleichsam für eine „pathologisch abgedrungene Zusammenstimmung“ der Philosophen [vgl. Idee, A 393]; er ist ein Ausweg, den man wählt, um größeres Übel und weiteres Unrecht zu vermeiden. Was man zu vermeiden sucht, ist die für den „Stand der Natur“ typische Progression von Übel und Unrecht auf einem beschränkten Ter­ ritorium, an dessen Ende „Überdruß und gänzlicher Indifferen­ tismus“ stehen. Ist „durch gänzliche Trennung vormaliger Ver­ bindungen der Parteigeist erloschen“, so liegt darin die größte Chance. Denn dann - jetzt - seien die „Gemüter in der besten Verfassung, [...] allmählich Vorschläge zur Verbindung nach einem anderen Plane anzuhören“ [Prol., A 192]. Deshalb eben ist der die Gegenwart prägende „Indifferentismus“ nur „das Vorspiel einer nahen Umschaffung und Aufklärung“ aller Wis­ senschaften durch die Befriedung des philosophischen Gebiets und Begründung

einer

Metaphysik,

die

die

Grenzen

der

menschlichen Vernunft kennt. „Wahre Metaphysik kennt die Grenzen der menschlichen Vernunft“ [Teleol., A 130].

1.10 Resümee zur Kantischen Philosophiegeschichts­ philosophie

a)

Der Geltungsanspruch

Nach Kant war die Philosophiegeschichte nach einer „natürli­ chen Gedankenfolge“ abzufassen, „wie sie sich nach und nach aus der menschlichen Vernunft hat entwickeln müssen, so wie die Elemente derselben in der Kritik der reinen Vernunft auf­ gestellt werden“122. Mit der KrV wurde daher zugleich eine „phi­ losophierende Geschichte der Philosophie“ begründet, die im 122 Brief an K. Morgenstern, a. a. O.

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Gefüge aller philosophischen Wissenschaften das engste Ver­ hältnis zur KrV unterhält. In Variation einer das Verhältnis von allgemeiner und spezieller Naturmetaphysik betreffenden For­ mulierung Kants könnte man sagen: Es ist die Philosophiege­ schichtsphilosophie, die der KrV im ganzen „vortreffliche und unentbehrliche Dienste“ tut, weil sie ihr „Beispiele (Fälle in concreto)“ gibt, die „einer bloßen Gedankenform Sinn und Be­ deutung“ unterlegen [Met. Anf., A XXIII]. Weil die philoso­ phierende Philosophiegeschichte dies am umfassendsten und nachdrücklichsten vermag, deshalb setzt die KrV, so soll hier behauptet werden, nicht nur mit einer philosophierenden Kurz­ geschichte der Philosophie ein; deshalb endet sie auch mit dem Entwurf einer „Geschichte der reinen Vernunft“. Deshalb aber ist die „Geschichte der Philosophie“ auch eine Geschichte „von so besondrer Art“, d. h. sie unterscheidet sich auch noch einmal von der Geschichtsphilosophie im allgemeinen und von den Dis­ ziplinen, die philosophisch mit der Geschichte der besonderen Wissenschaften befaßt sind. Der Geschichtsphilosophie gegen­ über zeichnet sie sich dadurch aus, daß in ihr „nichts von dem erzählt werden kann was geschehen ist ohne zu wissen was hätte geschehen sollen mithin auch was geschehen kann“ [LB, 343]. Denn das Philosophieren ist in die Verantwortung des Menschen gestellt, und es ist nicht eben schwer, sich über die hier zu unter­ nehmenden Schritte aufzuklären, so daß sich kritisch danach fra­ gen läßt, ob das, was getan wurde, „vorher untersucht worden sey oder ob man aufs Gerathewohl vernünftelt habe“ [LB, 343]. Das Philosophieren geht nicht in blindem, naturwüchsigem Geschehen, in bloßer Geschichte auf. Und doch hat das Philo­ sophieren seine Geschichte, weil Menschen als endliche Ver­ nunftwesen nicht immer schon tun können, was vernünftig wäre. Deshalb war in der „philosophischen Geschichte der Phi­ losophie“, deren Ausführung Kant im übrigen Karl Morgen­ stern123 überlassen wollte, etwas Ähnliches zu leisten wie das, was einst Kepler („der die exzentrischen Bahnen der Planeten auf eine unerwartete Weise bestimmten Gesetzen unterwarf“) und Newton („der diese Gesetze aus einer allgemeinen Natur­ ursache erklärte“) taten: Es galt, die exzentrischen Bahnen, in denen das Philosophieren bislang um die sich dadurch auswik-123 123 Vgl. den genannten MoRGENSTERN-Brief, a. a. O.

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kelnde Vernunft gekreist ist und auch ferner noch um sie kreisen wird, bestimmten „Gesetzen“ (Natur- und Sittengesetz) zu un­ terwerfen und diese Gesetze aus einer allgemeinen Naturursa­ che (aus Ideen als Naturanlagen) in gewissem Sinne zu erklären. Da nun im Gegenstandsbereich ,Philosophiegeschichte‘ der wei­ testen Ausdehnung nach mit freien Handlungen gerechnet wer­ den muß, die sich nicht erklären und somit auch nicht vorhersa­ gen lassen, kann in der Philosophiegeschichtsschreibung ein spekulativer transmundaner Standpunkt - ein Standpunkt wie in der „Kopernikanischen Hypothese“, d.h. ein „Standpunkt von der Sonne aus“, der hier der Standpunkt von der bezeichneten „anderen Welt“ aus wäre - prinzipiell nicht eingenommen werden124. 125 An die Stelle der Voraussage tritt die praktische Ab­ sicht, ausdrücklich mit Geschichtsschreibung zu befördern, was praktische Vernunft immer schon zu befördern gebot. In diesem Sinne nun war für Kant, anders als z. B. für Hegel, die Totalität der Philosophiegeschichte nicht gegeben, sondern dem Menschen zur Vollendung aufgegeben: Vor allem in prakti­ scher Hinsicht war das Philosophieren einem „Urbild“ noch an­ zunähern. Doch die Geschichte hätte den sie aufhebenden End­ zustand erreicht, könnte man sagen, auch in theoretischer Hinsicht fiele die Differenz von Abbild und Urbild hinweg. So hat Kant die Philosophiegeschichte grundsätzlich als ein irdi­ sches Geschehen bestimmt und die ihr geltende „Wissenschaft“ an „vorhandene Nachrichten“ gebunden: Der Erfahrungssätti­ gung bedarf sie nicht nur in ihrer theoretischen und natur­ teleologischen Dimension. Auch mit Bezug auf den in ihr be­ haupteten moralisch-praktischen Fortschritt der Denker „zum Besseren“ wird sie sich wohl, folgt man jedenfalls Kants Programmatik von Geschichtsschreibung überhaupt, auf ein „Geschichtszeichen (signum rememorativum, demonstrativum, prognosticon)“1125 stützen müssen, das die Annahme einer Ent­ 124 Fakult., A 139. Vgl. ebda, 139 f.: „Die Planeten, von der Erde aus gesehen, sind bald rückgängig, bald stillstehend, bald fortgängig. Den Standpunkt aber von der Sonne aus genommen, welches nur die Vernunft tun kann, gehen sie nach der Kopernikani­ schen Hypothese beständig ihren regelmäßigen Gang fort. [...] Aber das ist eben das Unglück, daß wir uns in diesen Standpunkt, wenn es die Vorhersagung freier Hand­ lungen angeht, zu versetzen nicht vermögend sind. Denn das wäre der Standpunkt der Vorsehung, der über alle menschliche Weisheit hinausliegt.“ 125 Vgl. im allgemeinen: Fakult., A 142.

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wicklung praktischer Vernunft zumindest plausibel macht. An­ ders als im Falle der Anteilnahme an der Französischen Revolu­ tion, die Kant im Kontext der Weltgeschichte als ein derartiges Geschichtszeichen wertete126, ließ sich ein solches für die Philo­ sophiegeschichte - zumindest was die Aufnahme der KrV betraf - zu Lebzeiten Kants nicht recht erkennen. Deshalb konnte er auch 1797 einen vertraglich besiegelten Friedensschluß, also einen „Traktat zum ewigen Frieden in der Philosophie“, noch immer nur in nahe und „frohe Aussicht“ stellen.

b) Die Sinnstiftung Kants Philosophiegeschichtsphilosophie umreißt den Prozeß der Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung des Men­ schen, der sich dem Nachdenken verschrieben hat. Vergan­ genheitsbezogen behauptet sie, daß das Philosophieren zunächst unter Bedingungen der Natur, insbesondere eines „Stands der Natur“ und des Unrechts geschah, weil aufgrund einer primär theoretischen Orientierung der Philosophie der Mensch in sei­ ner praktischen Bestimmung nicht beachtet war. Beispielhaft wird gezeigt, wie das, was aus dieser Ansicht resultierte, nur wie eine Maschine funktionierte und sich, gleichsam in „traurigen Erfahrung[en]“ des Scheiterns, den Absichten der Parteien, und d. h. der Willensbestimmung nur durch den Verstand entgegen auswirkte. Die Kritische Philosophie setzt sich selbst diese trau­ rigen Erfahrungen voraus und zeigt damit an, daß auch ihr Sub­ jekt nur ein endliches Vernunftwesen ist. Macht nun das erste Stadium vorkritischer Philosophie, theoretisch betrachtet, kei­ nen Sinn, so stiftet die Philosophiegeschichtsphilosophie diesbe­ züglich Sinn: Der Widersinn der philosophischen Positionen hat nicht nur eine als Metaphysik der Natur in einen beharrlichen Zustand gebrachte Spekulation, sondern vor allem ein freiheit­ liches System menschlichen Miteinanders zur Folge, das einen ewigen Frieden (im juridischen Sinn) zu gewähren verspricht. Der von Kant für die nahe Zukunft erwartete Rechtszustand, zeugt von einer Vernunft, die sich (im Medium „gereifter Ur­ teilskraft“) „auf eigene[] Flügel[]“ gewagt hat [KrV, B 878]. War das Philosophieren bislang unterworfen den Gesetzen der 126 Vgl. zu dieser sich „öffentlich“ verratenden „Denkungsart“: Fakult., A 141 ff.

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äußeren Natur, so sind die Denker nun „Gesetzgeber der Na­ tur“. Aber der so bestimmte Aufenthalt in dieser Welt dient nur einem höheren Zweck: der Konzentration der Kräfte und der Rüstung „für eine andere Welt, die wir nicht kennen“. Mit der Behauptung des philosophischen Rechtszustands hat nun die Philosophie freilich ihren eigenen „Chiliasmus“. Wenn Kant zu­ folge die Philosophie überhaupt einen „Chiliasmus haben“ kann, nämlich in der allgemeinen Geschichtsphilosophie und in bezug auf einen weltweiten Rechtszustand - einen Chiliasmus, der nicht „schwärmerisch“ ist, weil „zu dessen Herbeiführung“ die „Idee“ von ihm „selbst beförderlich werden kann“ [vgl. Idee, A 404] -, so gibt es in der Philosophie allerdings auch noch einen „Chiliasmus“, der sie selbst betrifft und zu dem ihre ,Idee‘ von ihm selbst beförderlich werden kann.

c) Geschichtsphilosophie anstatt rationale Theologie So ist Kants Philosophiegeschichtsphilosophie letztlich ein eschatologisches Konzept, das Ausblick gibt auf eine durch Wahrheit und Freiheit erfüllte Zeit. Sie zeigt an, daß in der Kri­ tischen Philosophie an die Stelle der vormaligen Versuche, „aus bloßen Begriffen“ zu einer Erkenntnis Gottes zu gelangen, er­ neut das heilsgeschichtliche (allerdings säkularisierte) Motiv eines Weges zu Gott getreten ist, den der Mensch gehen soll und den mit ihm die ganze Schöpfung geht. Anstelle rationaler Theologie gibt es also nun die Geschichts- und insbesondere die Philosophiegeschichtsphilosophie. Denn gerade in ihr wird eine „Schöpfung“ thematisch, in der sich die göttliche Heilsabsicht am nachdrücklichsten offenbart. Keine andere Sphäre ist Gott so nahe, wie in der Geschichte der Philosophie, in keiner ande­ ren hat Gott dem Menschen die Heils-„Absicht seines Willens“ deutlicher kund gemacht. Wenn Hegel später - freilich in Rück­ kehr zum Primat spekulativer Vernunft und in der Absicht, Gott selbst in der Geschichte zu erkennen - in seinem System keine andere ,Natur‘ so nachdrücklich Manifestation des göttlichen Logos selbst sein ließ, wie die Geschichte der Philosophie, so stand er vielleicht in der Nachfolge Kantischer Programmatik. Aber möglicherweise philosophierte er auch nur im selben Zei­ chen der Zeit.

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d) Der Ort der Geschichte: das „Leere und eben darum Unbegreifliche“ Der Rekurs auf die „Natur des Denkens, der Vernunft“, um He­ gels Terminus zu benutzen, wie ihn allerdings Kant versteht, vermag keine spekulative Metaphysik der Geschichte zu fundie­

ren, in der man Einsicht in deren Wesen nehmen könnte. Bei Kant ist Geschichte nicht, wie Lucien Braun es deutete, meta­ physisch von „innen“ her aufschließbar und somit nichts, was „begreifbar“ wäre. Vielmehr kann der Mensch in die Vernunft­ natur, die er nicht selbst erschaffen hat, spekulativ nicht eindrin­ gen. An die Stelle der Wesenserkenntnis tritt die Anerkennung des nicht vom Menschen Gemachten als etwas von Gott Ge­ schaffenen, das auf die praktische Bestimmung des Menschen hingeordnet ist. Wenn also in der Philosophiegeschichtsphiloso­ phie auf Vernunft rekurriert wird, dann niemals auf ein selbst­ tätig agierendes und geschichtsmächtiges „Subjekt“, sondern auf ein „Subjekt“ lediglich im Sinne eines sich in der Zeit durchhal­ tenden Substrats geschichtlicher Veränderung. Dieses ist das

Objekt einer (logisch nicht zu unterlaufenden) „Auswicklung“ oder Entwicklung, die in Gang gebracht wird von ganz besonde­ ren Tieren, die Vernunft in dem (allgemeinen) Sinne haben, daß sie „die Regeln und Absichten des Gebrauchs aller ihrer Kräfte weit über den Naturinstinkt zu erweitern“ vermögen [Idee, A388f.]. Nun ist dieses allgemein so charakterisierbare Ver­ nunftvermögen zwar ein Geschichtssubstrat, aber nicht das grundlegende. Dies zeigt sich, wenn man Kants Philosophiege­ schichtsphilosophie aus der externen Perspektive der Weltge­ schichtsbetrachtung in den Blick nimmt. Überzeitliches Substrat ist die „Klasse vernünftiger Wesen, die insgesamt sterben, deren Gattung aber“ - und man hört noch die spätere Variation He­ gels heraus - „unsterblich ist“ [Idee, A 391 f.]127. Die Annahme der Unsterblichkeit ist eine dem praktischen Kontext zugehörige

127 In diesem Sinne zeigt sich bei Kant, wie „an die Stelle der theologischen bestimm­ ten Universal-G[eschichte] [...] die G[eschichte] der Menschheit als Zivilisationspro­ zeß und universale Kulturentwicklung [tritt]“ (G. Scholtz, Art. Geschichte, in: Hist. Wörterb. der Philosophie, a. a. O., Sp. 357). Zielt der Kollektivsingular „nun auf die Kohärenz der berichteten Ereignisse und auf die Einheit des Geschichtssubjekts“ [eb­ da., Sp. 358], so ist in der Tat dieses Subjekt zunächst noch nicht, wie dann im Deut­ schen Idealismus, eine selbsttätig wirkende Vernunft, sondern nur erst „die Mensch­ heit“ [ebda].

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Folgerung aus der Annahme eines „intelligiblen Charakters“ des Menschen, d. h. seiner Möglichkeit zu einer Kausalität aus Frei­ heit, welche „der Zeitform, und mithin auch den Bedingungen der Zeitfolge, nicht unterworfen sein“ kann [KrV, B 579; vgl. ff.]. Soll reine praktische Vernunft (als „die beharrliche Bedingung aller willkürlichen Handlungen, unter denen der Mensch er­ scheint“) in der Welt zu realisieren möglich sein, so kann die Menschheit nicht als etwas betrachtet werden, das eine solche Realisierung von vornherein ausschlösse. D. h., es muß gedacht werden, daß sie selbst, darüber hinaus aber auch der gesamte Kosmos letztlich „der Zeitform, und mithin auch den Bedingun­ gen der Zeitfolge“ nicht unterworfen ist. Nun ist allerdings die Menschheit (nach ihrem Gattungsbe­ griff als „vernünftige Natur“ [Idee, A 393; auch GMS, B 69]) zwar der letzte Grund von Geschichte überhaupt. Aber sie ist nicht der letzte Grund aller Dinge. Da nun die Vernunft auch insofern „keine Grenze ihrer Entwürfe“ kennt [Idee, A 389], als sie nach diesen letzten Gründen theoretisch weiter fragt, so läuft sie in eine Dimension hinein, die, kritisch gesehen, die des „Leere[n] und eben darum Unbegreifliche[n]“ ist [Met. Anf., A 158]. Das „Leere“ ist in der Kantischen Philosophie ein bedeutsa­ mer metaphysikkritischer Grenzbegriff. Im Rahmen theoreti­ scher Vernunft steht er dafür, daß alle „Versuche der Vernunft“ im „Leeren und eben darum Unbegreiflichen“ enden müssen, wenn sie „im Zurückgehen zu Prinzipien den ersten Gründen der Dinge nachstrebt“ [ebda]. Daß sie auf diesem Feld im Lee­ ren endet (was relativ zum Dogmatismus auch am Skeptizismus deutlich wird), zwingt sie am Ende der vorkritischen Philosophie schließlich zur Umkehr, d. h. dazu, „von den Gegenständen auf sich selbst zurückzukehren, um, anstatt der letzten Grenzen der Dinge, die letzte Grenze ihres eigenen sich selbst überlassenen Vermögens zu erforschen und zu bestimmen“128. Auch in ge­ schichtsphilosophischen Kontexten (also auf basal praktischem Gebiet) endet die Vernunft im Leeren, hier aber im „Leeren der Schöpfung“ [Idee, A393]. Diese „Leere“ anzunehmen ist not­

128 Met. Anf., A 158: „Und so endigt sich die metaphysische Körperlehre mit dem Leeren und eben darum Unbegreiflichen, worin sie einerlei Schicksal mit allen übri­ gen Versuchen der Vernunft hat, wenn sie im Zurückgehen zu Prinzipien den ersten Gründen der Dinge nachstrebt [...]“.

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wendig, wenn die Menschheit vor ihren eigenen Leistungen, die z. T. ein trauriges Schauspiel bieten, soll Achtung haben können. Der Mensch als „das einzige vernünftige Geschöpf auf Erden“ ist in das „Leere der Schöpfung“ gestellt [Idee, A 388]. Dorthin ist er gestellt, nicht nur damit überhaupt „alles, was über die mechanische Anordnung“ eines „tierischen Daseins“ hinausgeht [Idee, A390f.] und auf den „Gebrauch“ der Vernunft „abge­ zielt“ ist, „ausgewickelt“ wird [Idee, A 388], sondern damit es auch auf einem bestimmten Weg ausgewickelt wird: damit er es „gänzlich aus sich selbst herausbringe und keiner anderen Glückseligkeit oder Vollkommenheit teilhaftig werde, als die er sich selbst frei von Instinkt, durch eigene Vernunft, verschafft hat“ [Idee, A 390]. Als habe die „Natur“ („Vorsehung“) gewollt: „der Mensch sollte, wenn er sich aus der größten Rohigkeit der­ einst zur größten Geschicklichkeit, innerer Vollkommenheit der Denkungsart und (so viel es auf Erden möglich ist) dadurch zur Glückseligkeit empor gearbeitet haben würde; hiervon das Ver­ dienst ganz alleine haben [...]; gleich als habe sie es mehr auf seine Selbstschätzung, als auf ein Wohlbefinden angelegt“ [Idee, A 390f.]. Kants philosophierende Geschichten haben an der Würde der Person - der „Selbstschätzung“ - ihren Maßstab. Diese „Selbstschätzung“, so wird man aus kritischer Distanz heraus sa­ gen dürfen, ist aber vielleicht doch etwas schwärmerisch: Denn sie zielt auf den Menschen als ein Wesen, das letztlich nicht von dieser „Erdenwelt“ ist. Wenn sich daher die Kantische Philoso­ phiegeschichtsphilosophie durch den Aspekt der Selbstschät­ zung und der Würde der Person auch von allen anderen im Rah­ men dieser Arbeit behandelten Entwürfen unterscheidet, so hat sie mit ihnen jedoch die platonisch inspirierte Forderung ge­ mein, daß es den Blick nicht allzu intensiv auf Innerweltliches zu richten gilt. Aber auch: daß zu denjenigen Dingen, die auf dieser Erdenwelt jemals von größerem Interesse sein könnten, das nur „historisch“ zur Kenntnis zu nehmende Singuläre ganz sicher nicht gehört.

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2. Philosophiegeschichtsphilosophie versus Historie der Philosophie 2.1 Die Grunddisjunktion national versus historisch‘ Kant hat sein Konzept von Philosophiegeschichtsphilosophie von einer genuin als historisch zu bezeichnenden Kenntnis ein­ zelner Systeme sowie einer „historischen Vorstellung von Philo­ sophie“, der Empirie („Geschichtserzählung“), abgegrenzt. Was Kant in beiden Fällen unter „historisch“ näherhin verstanden hat, ist im folgenden kurz zu charakterisieren. Im Mittelpunkt der Bestimmung der Historie steht wiederum der Mensch als eine „durchaus aktive Existenz“, die er immer auch im Sinne eines lernenden Wesens ist, das vermögend ist, auf selbstbestimmte Weise zu lernen. Der Mensch muß sich nicht alles vorsagen lassen, was ein Lehrer will, vor allem nicht in der Philosophie, wo das Lehren und „Lernen“ bedeuten kann, nach „fremder Vernunft“ bestimmt zu werden129. Der „wahre Philosoph“ ist ein „Selbstdenker“ und damit allemal jemand, der von seiner Vernunft einen „freien und selbsteigenen, keinen sklavisch nachahmenden Gebrauch“ macht [Logik, A 27]. D. h., das Philosophieren ist keine Tätigkeit, aus der ein sich selbst genügendes System resultieren könnte, das, einmal zustandege­ bracht, für andere nur noch das Objekt „historischer“ Kenntnis sein könnte. Wenn Kant in der KrV - auf vorkritische, zumal aus dem Lehrkontext stammende Überlegungen zurückgreifend130 - die Unterscheidung zwischen „historischen“ und „rationalen Er­ kenntnissen“ macht, dann verbindet sich damit wiederum vor allem eine Kritik an der „Schule“, insbesondere Wolffscher Provenienz, in der, kritisch gesehen, das Philosophieren in einem System seine Ruhe hätte finden sollen, um sich von da an auf einen Gegenstand der „Gelehrsamkeit“ zu reduzieren:

„Wenn ich von allem Inhalt der Erkenntnis, objektiv betrachtet, abstra­ hiere“, schreibt Kant, „so ist alles Erkenntnis, subjektiv, entweder hi­

129 „Belehrung geschieht durch Mitteilung von Regeln“: Anthropologie in pragmati­ scher Hinsicht, A 119. 130 Vgl. Kants Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalb­ jahre von 1765-1766, A 5 ff.

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storisch oder rational. Die historische Erkenntnis ist cognitio ex datis, die rationale aber cognitio ex principiis“ [KrV, B 863 f.]. Bedeutsam an Kants Bestimmung von „historischer Erkennt­ nis“ ist der folgende Aspekt:

„Eine Erkenntnis mag ursprünglich gegeben sein, woher sie wolle, so ist sie doch bei dem, der sie besitzt, historisch, wenn er nur in dem Grade und so viel erkennt, als ihm anderwärts gegeben worden, es mag dieses ihm nun durch unmittelbare Erfahrung oder Erzählung, oder auch Be­ lehrung (allgemeiner Erkenntnisse) gegeben sein“ [KrV, B 864]. In diesem Sinne dürfen

„Vernunfterkenntnisse, die es objektiv sind (d.i. anfangs nur aus der ei­ genen Vernunft des Menschen entspringen können,) [...] dann allein auch subjektiv diesen Namen führen, wenn sie aus allgemeinen Quellen der Vernunft, woraus auch die Kritik, ja selbst die Verwerfung des Ge­ lernten entspringen kann, d. i. aus Prinzipien geschöpft werden“ [KrV, B 864 f.]. Die Unterscheidung zwischen „historisch“ und „rational“ ist eine basal praktisch konnotierte Unterscheidung, die die in theoretischer Hinsicht bedeutsame Unterscheidung zwischen „rational“ und „empirisch“ ergänzt [vgl. Logik, A 20]. Im Ge­ gensatzpaar national versus empirisch‘ wird vom Erkenntnis ge­ winnenden Subjekt abstrahiert und werden, wertneutral, nur die „Quellen“ betrachtet, „woraus eine Erkenntnis allein möglich“ ist [ebda]. Im Begriffspaar ,rational versus historisch dagegen wird von jenen „Quellen“ abstrahiert und nur das erkennende Subjekt in Betracht gezogen. „Historische“ und „empirische“ Erkenntnisse lassen sich selbst unter den beiden genannten Ge­ sichtspunkten - der Frage nach den „Quellen“ einerseits, nach dem Subjekt andererseits - miteinander vergleichen: In einer Perspektive, in der die Quellen oder auch der Inhalt der so zu bezeichnenden Erkenntnisse im Vordergrund steht, zeigt sich, daß der Ausdruck „historisch“ von weiterem Umfang ist als der des Empirischen, da sowohl unmittelbar Erfahrenes, als auch von anderen Erzähltes, als auch philosophische (allgemeine, be­ griffliche) Erkenntnisse Gegenstand historischer Kenntnis sein können. Vergleicht man historische und empirische Erkenntnis dagegen in der Perspektive miteinander, in der das erkennende Subjekt im Vordergrund steht, dann wird deutlich, daß der Aus­ druck „empirisch“ wertneutral, der Ausdruck „historisch“ dage­

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gen negativ bewertet ist: Historische Erkenntnisse sind empiri­ sche Erkenntnisse, sofern man „nur in dem Grade und so viel erkennt“, als einem „anderwärts“ gegeben worden ist.

2.2 Rationale versus historische Wissenschaften Die beim Ausdruck „historisch“ zu denkende distanzlose Hinga­ be des erkennenden Subjekts an das Gegebene wird im Titel „Gelehrsamkeit“ angezeigt, unter den Kant die historischen Wissenschaften rubriziert. Gelehrsamkeit, so definiert er, ist der (nur noch sachlich differenzierbare) „Inbegriff“ derjenigen Quasi-Wissenschaften („Lehren“), „die jederzeit nur dasjenige [enthalten], welches durchaus gelernt werden muß, und was man also nicht von selbst durch Vernunft erfinden kann“ [KpV, A 249 Anm.; Z.v. V.]. Weil man nun freilich nicht alles durch Vernunft erfinden kann, deshalb gibt es „Sprachkunde“, „positi­ ves Recht“, „eigentliche Geschichte“ (nichtphilosophische Ge­ schichtsschreibung), Offenbarungstheologie (die Theologie also als „positive Wissenschaft“) [ebda], Humanistik [Fakult., A 26], „historische Naturlehre[n]“ im noch näher zu bezeichnenden Umfeld der Wissenschaften äußerer Natur sowie die „empiri­ sche Psychologie“ als eine historische Naturlehre, die sich auf die innere („denkende“) Natur bezieht. Dabei besteht jedoch bereits von seiten theoretischer Ver­ nunft grundsätzlich die Forderung, daß eine „Lehre“ in Wissen­ schaft übergehen muß. „Jede Naturlehre [muß] zuletzt auf Na­ turwissenschaft hinausgehen und darin sich endigen [...], weil [...] dem Begriff der Natur“ der Aspekt der „Notwendigkeit der Gesetze [...] unzertrennlich anhängt“ [Met. Anf., AVII]. Im Falle nun solcher Naturlehren, die sich mit Phänomenen des „äußeren Sinns“ beschäftigen, ist eine Aufstufung zur Naturwis­ senschaft und ein sich darin „Endigen“ möglich. Dieser Bereich gliedert sich Kant zufolge hierarchisch in historische Lehren (an unterster Stelle), empirisch-rationale Wissenschaften (Experi­ mentalwissenschaften, wie paradigmatisch die Chemie) und eine

rein-rationale Naturwissenschaft, die physica pura (metaphysi­ sche Körperlehre). Letztere ist „eigentliche“ Wissenschaft, weil ein Wissen, das im „strengen Sinne den Namen einer Wissen­ schaft“ verdient, auf a priori einsehbaren, mithin „apodiktisch­ gewissen“ Prinzipien (den Kategorien) basiert [Met. Anf., A V].

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Demgegenüber können die Experimentalwissenschaften nur „uneigentlich“ Wissenschaft genannt werden, denn der Zusam­ menhang von Erkenntnissen wird hier durch Prinzipien gestiftet, die „doch zuletzt bloß empirisch“ [Met. Anf., AV], mithin „zu­ fällig“ aufgefunden sind. Im Bereich der mit Phänomenen des „inneren Sinns“ befaß­ ten Naturwissenschaften, d.h. der Psychologie i.w.S., ist eine derartige Aufstufung (von einfacher Lehre über empirisch-ratio­ nale oder angewandte zu rein-rationaler Naturwissenschaft oder besonderer Naturmetaphysik) nicht möglich. Zwar hat man mittlerweile schon längst „die Hoffnung“ aufgegeben, in ihr „et­ was Taugliches a priori auszurichten“, aber wenigstens die „em­ pirische Psychologie“ hat „von jeher ihren Platz in der Metaphy­ sik behauptet [...]“, und zugleich hat man gerade „in unseren Zeiten so große Dinge zur Aufklärung derselben erwartet” [KrV, B 876]. Die philosophische Aufklärung derselben in der KrV zeigte nun aber, daß die Psychologie niemals mehr sein kann als nur eine „historische und, als solche, so viel möglich systematische Naturlehre des inneren Sinnes, d. i. eine Naturbe­ schreibung der Seele“ [Met. Anf., A XI], mithin eine bloße Leh­ re. Philosophische Wissenschaft (die in der KrV kritisch in Be­ tracht gezogene „Metaphysik der denkenden Natur“) kann sie nicht sein, weil, wie bereits erwähnt, Mathematik auf die Phäno­ mene des inneren Sinns nicht anwendbar ist. Daß sie aber noch nicht einmal als eine empirische Wissenschaft auftreten kann als eine „psychologische Experimentallehre“ (etwa in Korres­ pondenz zur „Chymie“ auf der Seite der Wissenschaften der äu­ ßeren Natur) -, ist darin begründet, daß sich erstens „ein anderes denkendes Subjekt [...] unseren Versuchen“ letztlich nicht „un­ terwerfen“ läßt und zweitens „selbst die Beobachtung an sich schon den Zustand des beobachteten Gegenstandes alteriert und verstellt“ [Met. Anf., A XI]. So ist die Psychologie im Zu­ sammenhang mit der reinen Philosophie „also bloß ein so lange aufgenommener Fremdling, dem man auf einige Zeit einen Auf­ enthalt vergönnt, bis er als Historie in einer ausführlichen An­ thropologie“ - der „empirischen Philosophie“ auf praktischem Feld - „seine eigene Behausung wird beziehen können“ [KrV, B 877]. Nun sind Historien freilich nicht lediglich Gestaltungen aggregativer „gemeiner Erkenntnis“ [KrV, B 860]. Sie bieten ihre Er­

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kenntnisse bereits in einem rudimentär systematischen Zusam­ menhang dar131. Maßgeblich sind in dieser Hinsicht aus Erfah­ rung (i. w. S.) resultierende Prinzipien, die schon die Suche nach Fakten heuristisch anleiten müssen, da andernfalls nur ein „em­ pirisches Herumtappen“, aber keine methodisch angestellte „Beobachtung“ stattfinden könnte, „daraus die Vernunft etwas zum Behuf einer Theorie machen soll“ [Teleol., A 40]. So pole­ misiert Kant - in Rahmen von Überlegungen zu einer „histori­ schen Naturlehre“ auf dem Feld der Erkenntnis äußerer Natur gegen den „bloß empirisch Reisenden und seine Erzählung“, der ohne Leitfaden nichts bemerke und der, frage man ihn nach sei­ ner Reise etwas, gemeinhin antworte: „Ich hätte das wohl be­ merken können, wenn ich gewußt hätte, daß man darnach fragen würde“ [ebda]. Im Falle dieser „historische[n] Naturlehre, wel­ che nichts als systematisch geordnete Facta der Naturdinge ent­ hält“, sind Leitprinzipien auf zwei verschiedenen Ebenen nötig. Denn diese Lehre entfaltet sich nach Kants programmatischem Vorschlag dynamisch in zwei Abteilungen: erstens als eine „Naturbeschreibung, als einem Klassensystem [... von Fakta der Naturdinge] nach Ähnlichkeiten“, und zweitens als eine „Natur­

geschichte, als einer systematischen Darstellung derselben in ver­ schiedenen Zeiten und Örtern“ [Met. Anf., A VIf.; Z.v.V.]132. Hat im Bereich der Naturbeschreibung nach Ansicht Kants das „Linneische Prinzip“ [Teleol., A 40] schon eine leitende Funktion in der Klassifikation der Fakten übernommen, so hätte die „historische Naturgeschichte“ die gegenwärtige Beschaffen­ heit von Naturdingen nach Maßgabe von „Wirkungsgesetzen“, die aus den „Kräften“ der sich jetzt darbietenden „Natur“ ab­ geleitet werden, „mit ihren Ursachen in der älteren Zeit“ zu verknüpfen133. Die historischen Lehren sind im Hinblick auf ein detailliertes 131 Hegel bewertete die Historien als Ausdruck eines „schwachsinnigen Ergehens des Vorstellens“ und stellte sie der .gemeinen Erkenntnis1 an die Seite - in dem Maße allerdings, in dem jede Wissensgestalt, die nicht wie die von ihm angezielte Philoso­ phie strikt systematisch ist, die Ebene des Vorstellens und Erzählens nicht verläßt, was Hegel zufolge auch für die Kritische Philosophie im ganzen gilt. 132 Im Rahmen dieser Neubegründung der historischen Naturlehre bringt Kant als Name „für die Naturbeschreibung das Wort Physiographie, für die Naturgeschichte [...] Physiognomie in Vorschlag“: Teleol., A 44 Anm. 133 Vgl. Teleol., A 41 f.; auch KrV, B 523. „Das Wort Geschichte“ ist hier „einerlei mit dem griechischen Historia (Erzählung, Beschreibung)“; und dieses hat nach Kant im

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Weltwissen für Menschen notwendig. Aber der Gesamttitel „Gelehrsamkeit“ verrät die Abwertung. Und ihre Definition, nur das zu enthalten, „was man [...] nicht von selbst durch Ver­ nunft erfinden kann“, weist darauf hin, daß sie unter diesem Ge­ sichtspunkt (wie später noch bei Hegel) das andere Extrem zur Philosophie darstellen. Das vor allem praktisch bestimmte Span­ nungsverhältnis zwischen philosophischer Wissenschaft und Hi­ storie bringt sich eben deshalb auch dort am prägnantesten zum Ausdruck, wo Philosophie Gegenstand der Historie ist. Bei Kant kann dies in zwei verschiedenen Dispositionen philoso­ phiehistorischen Wissens der Fall sein.

2.3 Zwei Dispositionen nichtphilosophischer Philosophie­ geschichtsschreibung Da gibt es erstens die Empirie: „Vorhandene Systeme“ können Gegenstand „historischer Vorstellung“ sein, in deren Effekt eine ,erzählende‘ Darstellung von bisher Geschehenem geboten wird (nach der Zeitfolge der Bücher und im oben bereits angedeute­ ten Sinn). Stellt die „Geschichtserzählung“ nun auch eine für die „philosophierende Geschichte der Philosophie“ bedeutsame Voraussetzung dar, so stünde es aber nach sowohl theoretischen wie praktischen Gesichtspunkten unter Kritik, ginge man nicht zur „philosophierenden Geschichte der Philosophie“ weiter: Von theoretischer Seite her wäre kritisch festzuhalten, daß nur „Meynungen“ zur Kenntnis gebracht werden können, „die zu­ fällig hier oder da aufsteigen“. Eine Geschichte der Meinungen aber ist keine Geschichte der Philosophie, die nur dann zu kon­ zipieren möglich ist, wenn man Gesagtes von „Ideen“ her auf­ zuschließen und in ein Ganzes einzubetten vermag. Wer die (zweifache) Idee von Philosophie nicht kennt, schreibt nicht Ge­ schichte der Philosophie, zumal gilt: daß „man [...] nicht eine Geschichte vom Dinge schreiben [kann,] das nicht geschehen ist und wozu immer nichts als Vorbereitung und Materialien herbeygeschafft worden“ [LB, 342f.] - jedenfalls bis in die zeit­ genössische Gegenwart hinein. Von praktischer Seite her aber wäre festzuhalten, daß Empiriker Nicht-Philosophen sind. Der­

Grundsatz die Bedeutung, daß es die „Naturforschung des Ursprungs“, d.h. der Her­ kunft der Beschaffenheit bestimmter Naturdinge, bezeichnet: Teleol., A 43.

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artige Gelehrte, so Kants klares Diktum, besitzen weder Sach­ verstand (könne ihnen doch „nichts gesagt werden, was ihrer Meinung nach nicht schon sonst gesagt worden ist“ [Prol., A 3f.]134) noch kritische (durch die KrV gewährte) Urteilskraft. Es sind „unbefugte Geschichtsschreiber“, die „grundlose Be­ hauptungen anderer“ durch eigene beurteilen, „die ebenso grundlos sind“ [KrV, B 27]. Da gibt es zweitens die bloße Historie der Philosophie, die genuin als historisch zu bezeichnende distanzlose Kenntnis ein­ zelner philosophischer Systeme. Für Kant ist es völlig indiskuta­ bel, kommt man über sie nicht hinaus. Zwar werden Menschen, ihrem Bildungsgang nach, auf dem Wege einer solchen Kenntnis mit Philosophie bekannt. Bleibt man aber bei ihr stehen, dann bedeutet dies, sich nur nach „fremder Vernunft“ zu bilden [KrV, B 864] und nichts als nur gelehrsam zu sein. Der Gelehrsame aber ist nur der „Gipsabdruck von einem lebenden Menschen“: Denn er hat zwar immer gut „gefaßt und behalten, d. i. gelernt“, aber er weiß und urteilt immer nur so viel, „als ihm gegeben war. [...]. Er bildete sich nach fremder Vernunft“ [KrV, B 864]. Sich nach „fremder Vernunft“ zu bilden, ist aber nicht nur das radi­ kale Gegenteil von Philosophie. Vielmehr würde derjenige, „welcher ein System der Philosophie, z.B. das Wolf[f]ische, eigentlich gelernt hat“ - und durch ihre Systematizität eignet sich die Wolffsche Philosophie besonders gut zu einem solchen Lernen -, noch nicht einmal das Philosophieren gelernt haben: Er hätte „keine andere als vollständige historische Erkenntnis der Wolf[f]ischen Philosophie“ [KrV, B 864]. Will man das Philosophieren lernen, d.h. „das Talent der Vernunft in der Be­ folgung ihrer allgemeinen Prinzipien an gewissen vorhandenen Versuchen üben, doch immer mit dem Vorbehalt des Rechts der Vernunft, jene selbst in ihren Quellen zu untersuchen und zu bestätigen, oder zu verwerfen“ [KrV, B 866], dann muß man sich bereits an einem Grundsatz (einer Maxime) orientieren. Dieser besagt, daß man „alle Systeme der Philosophie“ „nur als Ge­ 134 „[...] und in der Tat mag dies auch als eine untrügliche Voraussagung vor alles Zukünftige gelten; denn da der menschliche Verstand über unzählige Gegenstände viele Jahrhunderte hindurch auf mancherlei Weise geschwärmt hat, so kann es nicht leicht fehlen, daß nicht zu jedem Neuen etwas Altes gefunden werden sollte, was da­ mit einige Ähnlichkeit hätte“ [Prol., A 4]. Es ist dies eine Kritik an der Gelehrsamkeit, die bereits Descartes vorbrachte.

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schichte des Gebrauchs der Vernunft ansehen [darf] und als Ob­ jekte der Übung seines philosophischen Talents“ [Logik, A 27]. (Auch eine vorhandene Kritik muß zunächst als eine „Geschich­ te des Gebrauchs der Vernunft“, d.h. als etwas Geschehenes, aufgenommen werden: Auch wenn man nicht den Zweck ver­ folgt, anhand ihrer nur das Philosophieren zu lernen, so muß sie jedoch in jedem Fall erst „untersucht und in allgemeine Prüfung gezogen werden“ [Prol., A 193].)

2.4 Kurzes Resümee zum Kantischen Verständnis von Historie der Philosophie So stehen Philosophie und Historie sowie Empirie nach Kant in einem spannungsgeladenen Verhältnis, das sich am nachdrück­ lichsten dort zeigt, wo philosophische Systeme historisch-empi­ rische Gegenstände sind. Festzuhalten bleibt, daß niemals die Philosophie Gegenstand von Historie und Empirie sein kann. Denn Philosophie ist eine (bipolare) Idee der menschlichen Ver­ nunft, der man immer nur „Nachbilder“ zu verschaffen vermag [vgl. KrV, B 866]135. Aber selbst die Nachbilder sind nicht darauf angelegt, nur historisch aufgenommen - sei es nur gelernt oder dann auch noch in eine Geschichte der Meinungen eingebettet zu werden. Und keinesfalls ist es dem Menschen angemessen, die Systeme nur historisch zu kennen. Philosophie kann selbst dann nicht einfach ,gelernt‘ werden, wenn sie, so Kant 1781, wenigstens als Wissenschaft „in kurzer Zeit, und mit nur weniger, aber vereinter Bemühung“ vollendet darliegen wird, „so daß nichts für die Nachkommenschaft übrig bleibt, als in der didak­ tischen Manier alles nach ihren Absichten einzurichten, ohne darum den Inhalt im mindesten vermehren zu können“ [KrV, A XX]. Denn keiner, der jemals Philosophie zu lernen suchte, „würde [...] von sich sagen können, daß er ein Philosoph sei; denn seine Kenntnis davon wäre doch immer nur subjektiv­ historisch“ [Logik, A 27]. Und doch ist die historische Kenntnis von Systemen nicht ohne alle Funktion: Hält man zu den Dingen Distanz und also an Grundsätzen fest, so kann man in ihrem 135 Vgl. die Notiz: „Welche Fortschritte auch die [P]hilosophie gemacht haben möge[,] so ist doch die Geschichte derselben von der [P]hilosophie selbst unterschieden oder diese muß ein bloßes Ideal sein von einer in der Menschenvernunft liegenden Quelle der [P]hilosophie der reinen Vernunft [...]“ [LB, 343].

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Zusammenhang das Philosophieren erlernen oder auch dasjeni­ ge Bildungswissen erwerben, das zum Philosophieren unerläß­ lich ist. Ohne Historie entbehrte aber auch die „philosophische Geschichte der Philosophie“ jener Belege („Nachrichten“), die ihren abstrakten Geschichtsentwurf allererst zu konkretisieren vermögen.

3. Einwände gegen die Kantische Programmatik von Philosophiegeschichtsschreibung überhaupt Es wurde gezeigt, wie in Kants „Philosophiegeschichtsphiloso­ phie“ Einschränkungen, die eine theoretische Bestimmung des Gegenstandsbereichs betreffen, durch praktische Orientierun­ gen wettgemacht werden. Damit wurde auch deutlich gemacht, daß spekulative Philosophiegeschichtsphilosophien, die in ihr eine Vorläuferin zu erkennen vermeinen, ins „Leere“ laufen, d. h. eine solche Vorläuferin in ihr nicht finden können. Freilich: Sie würden sie nicht finden können, würden sie nicht so verfah­ ren, daß alte Texte sinnproduktiv derart verwandelt werden, daß sie sich in das jeweilige Philosophiegeschichtskonzept zwanglos einpassen. Es stellt sich daher die Frage, weshalb es Kant nicht gelungen ist, spekulative Konzepte, Konzepte in deren Mittelpunkt wie­ derum das logische System stand, und damit auch spekulative Interpretationen seines Ansatzes abzuwenden und seine in alle Zukunft weisende Programmatik von Philosophie und philoso­ phischer Philosophiegeschichtsschreibung wenigstens in die nä­ here Zukunft hinein zu retten. Kant hat noch bemerken kön­ nen, daß seine „Ideen“ nicht bleiben sollten und die nähere Zukunft erneut einer primär theoretischen Vernunft gehörte, etwa bei Fichte, der (wie schon angedeutet) davon ausging, Kant habe nur die „Propädeutik zur Transcendental-Philosophie, nicht das System dieser Philosophie selbst liefern wollen“136. Kant hat freilich das System seiner Transzenden­ talphilosophie sehr wohl geliefert, und er war der Ansicht, daß im Rahmen dieser Programmatik nur noch unwesentliche Ar­ beit zu leisten war. Was aber später nicht mehr verstanden oder136 136 Kants Erklärung in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre, a. a. O., 370f.

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akzeptiert wurde, war, daß sich mit dem Ausdruck „Philosophie“ mehr verbinden sollte als nur die Vorstellung von einem logisch vollkommenen System, und daß auch der Ausdruck „Propädeu­ tik“ etwas anderes bedeuten sollte als nur den Einstieg in ein philosophisches System137. Weil die Philosophie auf den Men­ schen bezogen worden war, war ja alles dies erst nötig geworden: der Rekurs auf die „Natur der menschlichen Vernunft“, auf ihren Mechanismus, ihre Zweckmäßigkeit und die in ihr noch zu entdeckende göttliche Weisheit, der Aufstieg also zu Gott, dessen Existenz zu beweisen, zur Erkenntnis von Innerwelt­ lichem nicht nötig ist, an dessen Existenz aber auf gut begründe­ te Weise glauben zu können, menschlichem Handeln und dem Handlungszusammenhang, der den Titel „Geschichte“ trägt, allererst Sinn und Bedeutung gibt. Drei Problemkreise lassen sich nennen, wenn es um die Frage geht, weshalb es Kant nicht gelungen ist, das Philosophieren zu­ kunftsbezogen in die Richtung zu lenken, in die er es lenken wollte: a) die Ersetzung des spekulativen Dogmatismus durch ein „praktisch-dogmatische[s] Erkenntnis“ in der Kritischen Philosophie überhaupt, b) das Problem der (nun praktisch) ge­ schlossenen Zukunft und c) Kants Verständnis von histori­ schem Wissen.

a) Praktischer Dogmatismus Probleme bereitet die Kantische Philosophiegeschichtsphiloso­ phie aufgrund ihrer hohen Komplexität, die sie ihrem vielschich­ tigen Leitfaden, der Kritik der reinen Vernunft verdankt, zumal

137 Kant erklärte allerdings in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre (a. a. O.) „hiermit“ unmißverständlich, „daß ich Fichtes Wissenschaftslehre für ein gänzlich unhaltbares System halte. Denn reine Wissenschaftslehre ist nicht mehr oder weniger als bloße Logik, welche mit ihren Principien sich nicht zum Materialen des Erkennt­ nisses versteigt, sondern vom Inhalte derselben als reine Logik abstrahiert, aus wel­ cher ein reales Objekt herauszuklauben vergebliche [...] Arbeit ist, sondern wo, wenn es um die Transszendental-Philosophie gilt, allererst zur Metaphysik übergeschritten werden muß“ [370]. „Aber demungeachtet muß die Kritische Philosophie sich durch ihre unaufhaltsame Tendenz zur Befriedigung der Vernunft in theoretischer sowohl als moralisch praktischer Absicht überzeugt fühlen, daß ihr kein Wechsel der Meynungen, keine Nachbesserungen, sondern das System der Kritik auf einer völlig gesicher­ ten Grundlage ruhend, auf immer befestigt, und auch für alle zukünftigen Zeitalter zu den höchsten Zwecken der Menschheit unentbehrlich sey“ [371].

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es Kant aufgrund seines fortgeschrittenen Alters nicht mehr möglich war, das Konzept noch deutlicher zu artikulieren. Man könnte sich aber fragen, ob es überhaupt nötig gewesen wäre, die „philosophierende Geschichte der Philosophie“ auf der Ba­ sis von Texten noch auszuführen, da über die empirische Kon­ kretion hinaus im wesentlichen nicht wohl mehr geboten worden wäre als schon in der KrV. Größere Schwierigkeiten macht die Konzeption jedoch in zwei anderen Hinsichten. Erstens ist Kant in gewissem Sinne ein Erkenntnisrealist, wenn es um Geschichte geht: Denn der Ausdruck steht nie nur für die Leistung eines erkennenden oder urteilenden Subjekts, sondern immer auch noch für das, worauf dieses sich bezieht: das „Sittliche“ als ein ihm wie eine Natur vorgegebener Gegenstandsbereich, als eine vom Menschen er­ zeugte Realität. In bezug auf sie ist sich das erkennende Subjekt dessen gewiß, daß es das, was zu verschiedenen Zeiten geschah (und noch geschehen wird), eindeutig als Bestandteil einer intelligiblen Ordnung zur Geltung bringen kann: zwar überwiegend nur im unspekulativen Medium der Urteilskraft, aber doch ein­ deutig in dieser und keiner anderen Ordnung. Daß man post Kant sehr bald schon wieder von einer ganz anderen Geschichte und d. h. von einer anderen intelligiblen Ordnung ausgegangen ist, hat es freilich fraglich werden lassen, ob eine eindeutige Aus­ legung von dokumentierten Geschehnissen - und d. h. im Falle der Philosophiegeschichtsschreibung vor allem: von Texten möglich ist, selbst wenn sie keinen spekulativen Status hat. Offensichtlich geben die Texte von sich her nur wenige Anhalts­ punkte für eine klare Entscheidung ab, welche Ordnung es denn nun eigentlich unter ihnen und damit in der sittlichen Welt der Philosophen gibt oder geben kann. Daß man Kants Geschichtsphilosophie und Philosophiege­ schichtsphilosophie zu späteren Zeitpunkten preisgab - freilich nicht die Programmatik, sondern das, was für Kant in diesem Zusammenhang das Wesentliche war -, könnte in einem zweiten problematischen Aspekt der Kritischen Philosophie überhaupt begründet sein: Denn was man zu späterer Zeit offensichtlich nicht mehr akzeptierte, war das dogmatische Fundament, auf dem die Kritische Philosophie selbst aufruht. Zwar ist dieses Fundament nicht spekulativ-dogmatisch, aber es ist doch dog­ matisch. Denn Kant hat den spekulativen Dogmatismus durch

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eine ,,praktisch-dogmatische[] Erkenntnis“ ersetzt [PS, A 110]. Spätere Reaktionen auf diesen Dogmatismus, der nicht zuletzt in dem zum Grundsatz gemachten Verdacht zum Ausdruck kommt, alle Positionen, die nicht die Kritische Philosophie sind, könnten spekulativer Dogmatismus sein - etwa Hegels Versuch schon in der Differenzschrift, die Spekulation von diesem Ver­ dacht zu befreien -, sind verständlich. Nicht aber, weil sie weni­ ger dogmatisch gewesen wären, sondern weil Kant selbst dog­ matisch war und nicht zuletzt darum wiederum schulbildend gewirkt hat. Neu an der Kritischen Philosophie war nämlich nicht bloß die Kritik an allen in ihrem Sinne nichtkritischen Positionen. Ande­ rem Denken gegenüber grundsätzlich kritisch eingestellt zu sein, kennzeichnet, soweit man sehen kann, das abendländische Phi­ losophieren von Anbeginn an. Neu an ihr war der prinzipien­ theoretische Status, den diese Kritik nun gewinnt - gerade in und mit der Philosophiegeschichtsphilosophie. Seither besitzt die Philosophie in dieser Disziplin ein probates Mittel zur schnellen Neutralisation konkurrierender Ansätze - anstatt durch dezidierte Argumentation durch prinzipientheoretische Einordnung. Seither ist es festgeschriebener Teil der Philoso­ phie, andere „Bücher und Systeme“ im Lichte von Rationalitäts­ standards und Idealnormen zu beurteilen, von denen man im vorhinein schon weiß, daß sie nicht die Standards und Normen der beurteilten Bücher und Texte selbst sein können. Allerdings steht bei Kant noch das in Texten selbst Gesagte zur Debatte und interessieren die für das Gesagte gelieferten Begründungen. Der Rahmen ist zwar bestimmt kritisch, aber noch nicht derart bestimmend kritisch, daß vorhandene Texte im Verfahren umbildender Aneignung in Texte umgewandelt würden, die dem umwandelnden Konzept dann schlechthin un­ gefährlich sind. Aber Kant wurde das Opfer dieser seiner Erfin­ dung. Daß man später auf die Weise umbildender Aneignung über die Kritische Philosophie hinweggegangen ist, bestätigte, was Kant behauptet hat: daß ein Dogmatismus in der Philoso­ phie nichts ist, was jemals anerkannt werden würde. Man geht über ihn hinweg und benutzt das Konzept, das ihn zum Ausdruck bringt, als Bauzeug für andere „Systeme“. Daß man die Kritische Philosophie später im Lichte eines „schlechthin vorausgesetzten Sollens“ (Hegel) beurteilt hat,

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ließ nun allerdings vergessen, wieviel man ihr verdankte: z. B. die Naturalisierung4 der Vernunft, ohne die Philosophiegeschichts­ schreibung überhaupt nicht als die gegenstandsbezogene Na­ turwissenschaft - als die Wissenschaft einer zweiten oder drit­ ten Natur - auftritt, als die sie bis heute, trotz der modernen Debatte um „Verstehen“ und „Erklären“, auftritt (darauf wird im letzten Teil der Arbeit noch einmal zurückzukommen sein).

b) Praktisch geschlossene Zukunft Hermann Lübbe war der Auffassung, daß Kant einer der „er­ sten Philosophiegeschichtsphilosophen im strengen Sinn derer [ist], die [...] die Philosophiegeschichte zum Range, selbst Philo­ sophie zu sein, erheben möchten“, und daß sich deshalb bei ihm deren „Funktion und ihre elementare Struktur um so reiner er­ kennen“ lassen138. In der Tat, erstmals bei Kant zeigt sich als Struktur und Funktion der Philosophiegeschichtsphilosophie die folgende: Philosophiegeschichtsphilosophen sind, so könnte man es umschreiben, Systemdenker, für die es nur Eine Philoso­ phie gibt und die dabei zugleich der Ansicht sind, daß, weil Phi­ losophie keine empirische, mit kontingenten Sachverhalten be­ faßte wissenschaft ist, sie deshalb auch selbst kein kontingentes Phänomen sein könne, sondern eine unvergängliche (auf „Ent­ wicklung“ hin angelegte) „Idee“ sein müsse. Für solche Denker nun muß es freilich als problematisch erscheinen, daß man bis­ lang im Philosophieren einer einheitlichen Programmatik aus­ drücklich nicht gefolgt ist. Denn auf anderes deuten „Nachrich­ ten“ nicht hin. Deshalb nimmt man an, man sei der ,echten Idee‘ von Philosophie erst jetzt habhaft geworden, aber immer schon habe das Philosophieren (implizit) ihrer Realisierung gegolten. Im zeitlichen Nachhinein ist es freilich leicht, zu behaupten, man sei auch in der Vergangenheit bereits einer bestimmten Idee ge­ folgt. Die Schwierigkeit dieser Behauptung, die sich durch das in Büchern ausdrücklich Gesagte nicht (oder nur unzureichend) stützen läßt, liegt darin, daß ihr wahrheitsanspruch davon ab­ hängt, ob auch Spätere an der Idee, die man für die Vergangen­ heit als Ordnungsprinzip namhaft macht, noch festhalten. Ge­ ben spätere Denker diese Idee preis, so gibt es nicht, was es 138 Hermann Lübbe, Philosophiegeschichte als Philosophie, a. a. O., 210f.

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zum

früheren

Zeitpunkt

philosophiegeschichtsphilosophisch

aber geben soll: Ordnung und Zusammenhang, die Geschichte der Philosophie, wie immer man sie bestimmt: als alle Vergan­ genheit, Gegenwart und irdische Zukunft umfassende Totalität, wie Kant; als eine der Vergangenheit angehörende Gestalt der Philosophie selbst, wie Hegel; oder als Totalitätshorizont einer Philosophie, die in unserer Gegenwart im Prinzip ihre Vollen­ dung erreicht, wie in den genannten Geschichtlichkeitstheorien. D.h., von der zu einem Philosophiegeschichtskonzept relativen Zukunft hängt es ab, ob die in ihm aufgestellte Behauptung, auch in der (zu ihm relativen) Vergangenheit sei man im Philosophie­ ren schon einer bestimmten Idee gefolgt, wahr ist. Doch Kant gelang es ebensowenig wie später Hegel, seine „Ideen“ wenig­ stens in die nächste, bis heute bekannte Zukunft hinein zu ret­ ten. Und dafür lassen sich über die genannten Gründe hinaus noch die folgenden nennen: Noch einmal kann auf Odo Marquards Typologie des Zufäl­ ligen zurückgegriffen werden: Da gibt es erstens das „Beliebig­ keitszufällige“, dasjenige also, das auch anders sein könnte und durch uns änderbar ist, und zweitens das „Schicksalszufällige“, an dessen Stelle man sich ebenso anderes vorstellen könnte, das aber durch uns nicht änderbar ist. Kant hat die Kritische Philo­ sophie gegen die „willkürlichen Entwürfe“ ins Feld geführt, nach denen in vorkritischer Zeit Systeme errichtet wurden. Ansatz­ punkt für die Annahme, daß nicht der Willkür oder der Beliebig­ keit die Zukunft gehört, bietet für Kant die Moralität. Und schon der in jeder materialen Geschichtsphilosophie notwendi­ ge Rekurs auf ein überzeitliches Substrat - hier auf die Mensch­ heit als die Gattung, die nicht stirbt - ist bei Kant eine Konse­ quenz aus dem Bewußtsein des Anspruchs der praktischen Vernunft und nicht Resultat spekulativer Erkenntnis. Dasselbe gilt für die Annahme, daß der Mensch einen den Zeitbedingun­ gen nicht unterworfenen „intelligiblen Charakter“ besitzt. Da­ mit aber wurde die Frage, ob man diejenigen philosophischen Wissenschaften, die, wie die Geschichtsphilosophien, ausdrück­ lich von dieser Annahme Gebrauch machen, ja ob man die Kri­ tische Philosophie im ganzen, deren Teile diese Wissenschaften sind, letztlich akzeptieren kann oder nicht, von der „Vorausset­ zung moralischer Gesinnungen“ abhängig gemacht [vgl. KrV, B 857]. Nun nimmt das „menschliche Gemüt [...]“ wohl zwar

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„ein natürliches Interesse an der Moralität“

[KrV, B 857 f.

Anm.]. Aber Kant hat auch gesehen, daß dieses Interesse nicht immer schon „ungeteilt und praktisch überwiegend ist“ [KrV, B 858]. Deshalb kommt es darauf an: „Befestigt und vergrößert dieses Interesse, und ihr werdet die Vernunft sehr gelehrig und selbst aufgeklärter finden, um mit dem praktischen auch das spe­ kulative Interesse zu vereinigen“ [ebda]. Die Vergrößerung eines solchen Interesses ist von der Kritischen Philosophie nicht abhängig, diese vielmehr von jenem, d.h. davon, „daß [...] vor­ her, wenigstens auf dem halben Wege“, Menschen zu „guten Menschen“ herangezogen werden [vgl. ebda]139. So also wußte sich die Kritische Philosophie, was ihre Akzeptanz betrifft, als abhängig von Umständen, die Menschen nicht in der Hand ha­ ben - vom Schicksal. Kant rechnete mit dem Schicksal. Aber er tat dies nur im großen. Er blendete aus, daß Menschen hier und jetzt leben und hier und jetzt philosophieren - unter Bedingun­ gen eines Schicksals in kleinerem Maßstab, dessen Einfluß auf das Philosophieren man nicht einfach übergehen kann. Schicksal ist, daß Menschen überhaupt und in bestimmten Lebenslagen und Lebenswelten geboren werden und daß sie, jeder für sich, letztlich sterben müssen (Odo Marquard). Kant hat den Schicksalszufall im kleineren Maßstab gekannt. Aber wenn Hegel später mit Philosophie aus der Philosophie nur noch das „Beliebigkeitszufällige“ zu entfernen suchte, so ist die Kantische

Philosophie der Versuch, dies auch noch in bezug auf

Schicksalszufälle der kleineren Art und dies vor allem in und mit der Geschichtsphilosophie zu tun. So wird gerade in dieser „Wissenschaft“ aus dem Objektbereich „das Individuum“ ausge­ blendet, das nicht „unmäßig lange lebt“, und der Blick sogleich darauf gelenkt, daß sich beim Menschen „diejenigen Naturanla­ gen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in 139 Kants Anmerkung im dritten Abschnitt („Vom Meinen, Wissen und Glauben“) des Zweiten Hauptstücks der transzendentalen Methodenlehre der KrV („Der Kanon der reinen Vernunft“) lautet im Zusammenhang wie folgt: „Das menschliche Gemüt nimmt (so wie ich glaube, daß es bei jedem vernünftigen Wesen notwendig geschieht) ein natürliches Interesse an der Moralität, ob es gleich nicht ungeteilt und praktisch überwiegend ist. Befestigt und vergrößert dieses Interesse, und ihr werdet die Ver­ nunft sehr gelehrig und selbst aufgeklärter finden, um mit dem praktischen auch das spekulative Interesse zu vereinigen. Sorget ihr aber nicht dafür, daß ihr vorher, wenig­ stens auf dem halben Wege, gute Menschen macht, so werdet ihr auch niemals aus ihnen aufrichtiggläubige Menschen machen“ [KrV, B 857 f.].

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der Gattung [...] vollständig entwickeln“ sollten [Idee, A 388f.]. Auch in subjektiver Hinsicht hat der Sachverhalt, daß die Be­ trachtung von Geschichte der Philosophie übertragen und damit bloßer „Gelehrsamkeit“ entzogen wird, immer auch die Funk­ tion, den einzelnen Menschen in seiner schicksalszufälligen End­ lichkeit zu entlasten und ihn auf einen Standpunkt zu erheben, auf dem er sich um diese Form der Endlichkeit nicht weiter zu bekümmern braucht. So begründet vor allem der späte Kant die Ablehnung der ,,zyklopische[n] Gelehrsamkeit“, der das „Auge der Philosophie“ fehlt [Logik, A 62], auch damit, daß das histo­ rische Wissen für den Menschen mit der Zeit zu einer immer schwerer wiegenden „Last“ wird:

„Die Historiker nach 1000 Jahren können nicht so viel wissen, als wir jetzt, und das noch oben ein, was in den 1000 Jahren geschehen. Der Naturbeobachter vielleicht auch. Der Mathematiker wird vielleicht nicht alle schon vorhandenen Erfindungen in einem Kopf fassen kön­ nen und also nichts erfinden können, wovon er sicher wüßte, es sei nicht schon vorher erfunden gewesen. Allein da wird alles auf Erfindung der Methoden (in Naturgeschichte) und Prinzipien beruhen, dadurch wir, ohne das Gedächtnis zu belästigen, alles nach Belieben selbst finden können. Daher macht sich der um die Geschichte wie ein Genie ver­ dient, der sie unter Ideen faßt, die immer bleiben können. Sonst wenn eben so viel vergessen werden muß, als hinzukommt, wird die Erkennt­ nis nicht mehr wachsen, oder wohl gar aus Mangel an Aufmunterung zu neuen Erkenntnissen abnehmen“ [Nachlaßreflexion 1997]. Die Philosophie wird zu einer Instanz, die es ermöglicht, Dinge auch vergessen sein zu lassen, weil Menschen aufgrund der be­ schränkten Kapazität ihres Gedächtnisses, aber auch ihrer Le­ benskürze, nicht in der Lage sind, alles zur Kenntnis zu nehmen, was zur Kenntnis genommen werden kann. Dieser Entlastungs­ versuch erfolgt im Lichte einer praktisch begründeten Herabstu­ fung der mit Details befaßten historischen Wissenschaften. Das Detail wird für unwichtig erklärt. Unwichtig ist damit auch der Mensch als ein individuell existierendes Wesen. Man wird nicht bestreiten können, daß Geschichtsschreibung von der Selektion lebt (obwohl man bezweifeln könnte, der Kantischen Philosophiegeschichtsphilosophie sei es gelungen, weniger komplex zu sein als eine historische Geschichte der Bü­ cher und Systeme). Aber man kann die Abwertung des Indivi­ duellen und Kontingenten bestreiten, und auch: daß von der Phi­

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losophiehistorie zu einer philosophischen Geschichtsdarstellung weitergeschritten werden muß, die dogmatische Züge hat.

c) Historie der Philosophie: „unbefugte“ Geschichtsschreibung? Kant hat die Philosophie und mit ihr die „philosophierende Ge­ schichte der Philosophie“ nicht nur unter systematischen Ge­ sichtspunkten scharf abgegrenzt von einer historischen Ge­ schichte der Philosophie, sondern Wissenschaften, wie diese, unter praktischen Gesichtspunkten hierarchisch auf Philosophie bezogen. Damit wird im Geiste Platons suggeriert, Historiker der Philosophie und Philosophen lebten in völlig verschiedenen Welten: in der Welt des sinnlich Wahrnehmbaren die einen, in der Welt der Begriffe und Ideen die anderen. Eine solche Ab­ trennung leuchtet jedoch nicht ein. Es ist nicht auf Anhieb plau­ sibel, weshalb denjenigen, die nicht aus Vernunft, sondern aus Daten schöpfen, auch schon ein Mangel an Sachverständnis und Urteilskompetenz unterstellt werden muß, wenn sie sich mit Philosophie befassen. Daß Gelehrten „nichts gesagt wer­ den“ kann, „was ihrer Meinung nach nicht schon sonst gesagt worden ist“, mag eine vielfältig belegbare Erfahrung sein, die wohl Kant (wie schon Descartes) hatte machen müssen. Wird Historie jedoch in Verlängerung dieser Erfahrung als eine Kenntnis verstanden, der sich der Gegenstand „Philosophie“ entzieht, dann heißt dies zugleich, Anforderungen auszublen­ den, die philosophische Konzepte von sich her an denjenigen stellen, der sie erst einmal zur Kenntnis nehmen muß und dann als etwas zur Kenntnis nimmt, das weder bloß aus einer diskur­ siven Vernunft entspringt noch frei ist von Elementen jeweils zeitgenössischer Bildung. Wie jede Philosophie, so zeugt auch die Kantische davon, daß Philosophien einen spezifischen Sinnhintergrund besitzen, der die Interpretation der Welt be­ stimmt. So zeigt sich in der einen Hinsicht klar, welche Bildung der Denker Kant besaß, welche Texte er kannte: z.B. diejenigen Platons, Descartes’, Hobbes’, Wolfes, Bacons oder Mills. In der anderen Hinsicht verweist die Kantische Philosophie mit ihrer agrarischen Metaphorik darauf, daß das Philosophie­ ren in einer Welt geschieht, die immer schon (in bestimmter Wei­

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se) „kulturell gestaltet“ ist (Hans Michael Baumgartner). Und mit der Präferenz (nicht Begründung) der Moralität be­ zeugt sie darüber hinaus auch, daß der Bildungs- und Sinnhinter­ grund philosophischer Konzepte sehr individuelle Züge trägt, daß also das Philosophieren immer auch auf einer „persönlich existentiellen Weltsicht“ aufruht (Baumgartner). Ein Sinnverstehen von Texten läßt die erstmals von Kant er­ hobene Forderung nach - wenn möglich: apriorischen - Leit­ prinzipien in der Geschichte jedoch nicht zu. Die (bis Lucien Braun tradierte) Forderung, man müsse (und zwar möglichst aus Vernunft heraus) bereits darüber informiert sein, was man an Fakten wird finden können, ist eine künstliche Forderung. Denn bevor man daran geht, Leitprinzipien zu formulieren, hat man nicht nur schon Bücher gefunden und deshalb bereits ein rudimentäres Wissen darüber, was man wird finden können. Darüber hinaus hat sich auch noch mit Bezug auf die Welt, in der man lebt und philosophiert, gleichsam der menschliche ,Sinn für Sinn‘ längst zur Geltung gebracht. Er wird nicht im Philoso­ phieren gestiftet, sondern liegt ihm voraus. So fand Kant die Platonische, Cartesische, Wolffsche oder Hobbessche Philosophie auch ohne Leitprinzip, einfach durch Bildung. Und so interpretierte er - und gerade er - diese Philosophien auf eine Weise, die Aufschluß darüber gibt, zu wel­ chen Sinnstiftungsleistungen Menschen in ihren individuellen Schicksalslagen fähig sind. Von daher wird man mit Kant sagen dürfen: Philosophie ist Bestandteil dieser Welt. Aber sie ist dies auf eine individuellere Weise, als er einzugestehen bereit war. Deshalb sind philosophi­ sche Texte nie nur eine Herausforderung an die „denkende Ver­ nunft“, sondern immer auch eine Herausforderung an Vernunft im Sinne der menschlichen Fähigkeit, etwas zu verstehen, das mit dem Menschen in seiner schicksalszufälligen Endlichkeit zu­ sammenhängt.

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V. Plädoyer für die „bloße“ Philosophiehistorie Ein Ausblick 1. Gesamtresümee Drei Typen konzeptuell gestützter, d. h. philosophischer Philoso­ phiegeschichtsschreibung, sind behandelt worden: a) Zunächst drei jüngere Konzeptionen (von Hermann Lüb­ be,

Lucien Braun, Jürgen Mittelstrass), in denen angenom­

men wird, die Philosophie konstituiere sich heute - vor allem im akademischen Bereich - als ihre „eigene“ Historie. Aus diesem Zustand erhebt sich die Philosophie wesentlich als bewußtma­ chende Rekonstruktion derjenigen raumzeitlichen Vernunftent­ wicklung (Geschichte), als deren Resultat dieser Zustand zu ver­ stehen ist. Diesen Konzepten liegt Hegels Geschichtsbegriff zugrunde: Philosophiegeschichte ist ein Gegenstandsbereich mit einer sinnlichen Oberfläche und einer intelligiblen logischen Struktur, die durch die Ausdrücke „Vernunft“, „Diskurs“ oder „Rationalität“ bezeichnet und einem intelligenten Lebewesen zugeschrieben wird: z.B. dem „Geist“ des „Menschen“ (Braun), der sich nach Maßgabe dieser Struktur hervorbringt, am Ende seiner selbst bewußt wird und sich von aller naturwüchsig-ge­ schichtlichen Bestimmtheit befreit. Von Bedeutung ist, daß sol­ che Vernunft unverbrüchlich in das raumzeitliche Medium der Geschichte, insbesondere der Philosophiegeschichte, gehört, d. h. geschichtlich ist. Die von den Autoren intendierte philoso­ phische Rekonstruktion der Vernunftentwicklung siedelt sich an in der „Mitte“ zwischen zwei als unangemessen geltenden Ge­ staltungen des Wissens von Geschichte, in deren Rahmen man sich dieser Geschichte nicht zugehörig glaubt: zwischen systema­ tischem Geschichtsdenken deduktiver Art (Braun) einerseits, reiner Historie der Philosophie andererseits, einer Form von „Literaturhistorie“ (Lübbe), in der man nur „aggregativ“ an der Gesamtheit der (chronologisch angeordneten) philosophi-

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sehen Texte entlanggehen (Braun) und im höchsten Fall (idealiter) die vollständige „Kenntnis“ vom „faktischen Verlauf“ bis­ herigen Philosophierens besitzen kann (Mittelstrass). Die „Mitte“ ist versöhnend: In ihr sind beide Gestaltungsweisen des Wissens zu einer komplexen Einheit verbunden. b) Für Hegel ist Vernunft so eng mit „Geschichte“ nicht ver­ knüpft. Zwar ist Vernunft auch in der Philosophiegeschichte, diese aber nur ein (wenn auch normativ etwas herausgehobener) Gegenstandsbereich unter anderen. Auf ihn bezieht sich eine Philosophie, die sich über das ewig gegenwärtige „Logische“ de­ finiert und als Philosophiegeschichtsphilosophie von der Philo­ sophie in der Geschichte die Geschichte zu „entfernen“ sucht: das Zufällige, Unwahre, Geschichtliche, um damit zugleich aus dem Vorstellungsganzen „Geschichte der Philosophie“ das „Lo­ gische“

,auszuziehen‘, das „Gesetz“, nach dem das Leben

desjenigen Wesens sich ,gemacht‘ hat, das Hegel in dieser Ge­ schichte wirksam wähnt: das Leben des absoluten („göttlichen“) Geistes. Diese Programmatik unterscheidet die Philosophiege­ schichtsphilosophie von einer bloß gelehrten Kenntnis einzelner Meinungen (Philosophiehistorie) sowie einer Empirie, die sich nur auf das Äußere dieser Geschichte („äußerliche Geschichte“) beziehen kann, d. h. auf die geschichtlichen Nebenumstände der Manifestationen der reinen logischen Idee. c) Als Voraussetzung für diese insgesamt subjektivitätsontolo­ gisch fundierten Philosophiegeschichtskonzepte kann die von Kant vorgenommene Naturalisierung der Vernunft betrachtet werden: Die „Natur“, die Kant der Vernunft vindiziert hat, hat eine „philosophierende Geschichte der Philosophie“ allererst möglich gemacht. Auch bei Kant setzt sich diese ab von einer rein „historischen“ Kenntnis einzelner Systeme (als „Meinun­ gen“) und von der „Geschichtserzählung“ (Empirie), die das jeweils bisher Geschehene nur als Geschichte zufällig auf­ steigender Meinungen zur Geltung bringen kann. Und doch ist das Kritische Konzept philosophischer Philosophiegeschichts­ schreibung auf die zuvor genannten Theorien nur unter abstrak­ ten Gesichtspunkten beziehbar: Anders als diese geht die Kriti­ sche Philosophiegeschichtsphilosophie von einem empirischen Grundbegriff aus und besitzt einen nichtmonistischen Aufbau. Letzteres schließt ein, daß die Vernunftentwicklung, die dem (empirisch darstellbaren) Geschichtsverlauf im Medium der Ur­

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teilskraft unterstellt wird, nicht per se schon als normative Ent­ wicklung im Sinne eines Zuwachses an Vernünftigkeit bei den „Denkern unter den Menschen“ bewertet werden kann. Ver­ nunft, primär praktische Vernunft, war in der Geschichte aller­ erst noch zu realisieren. Die Konzepte sind jedoch strukturähnlich. Es handelt sich um im weitesten Sinne teleologische Konzeptionen, die vor allem auch in einer praktischen Grundintention übereinkommen, derzufolge es allen vormaligen Positionen zum Vorwurf wird, ent­ weder noch nicht auf Freiheit hin orientiert zu sein (Kant und, trotz spekulativer Grundlagen, auch Mittelstrass) oder noch nicht Realisat der Freiheit selbst gewesen zu sein (Hegel, Braun, implizit Lübbe). So verbindet sich mit Philosophiege­ schichtsphilosophie kein Interesse an Erkenntniserweiterung. Man will nicht wissen, was in den Texten eigentlich steht, auf die man sich bezieht. Das Interesse gilt überhaupt nicht den Tex­ ten. Auch gilt es nicht der Geschichte. Es gilt der Vernunft in der Geschichte: den Ideen von Wahrheit und Freiheit. Und in der Tat wäre zu einer Kenntnis nur von Texten, um eine Kantische Überlegung aufzugreifen, eine Philosophiegeschichtsphiloso­ phie auch gar nicht nötig. Nun kommen die Konzepte darüber hinaus auch in der Auf­ fassung überein, daß die Philosophiegeschichte ein der Erkennt­ nis vorgegebener Gegenstandsbereich ist. Insbesondere in den spekulativen (subjektzentrierten, monistischen) Konzepten wird vorausgesetzt, „daß es Ordnung gibt“ (Foucault), intelligible Ordnung unter den Texten, mithin: daß es die Philosophiege­ schichte gibt. Aber es konnte gezeigt werden, daß es Ordnung nicht einfach gibt, sondern nur gemäß bestimmter Auffassungen, die man von Geschichte und ihrem einheits- oder kontinuitäts­ stiftenden Grund, der Vernunft, haben kann. Unter sich weisen diese Auffassungen keinen Zusammenhang auf. Sie besitzen kein gemeinsames konzeptuelles Fundament. Es handelt sich um ein „Stimmengewirr der Legenden“ (Ulrich Johannes Schneider), das in eine umfassendere Geschichts-Legende nicht integriert werden kann. Keine der Konzeptionen ist mithin die Philosophie der Philosophiegeschichte, keine aber auch nur der potentielle Teil einer solchen Philosophie. So behält denn Kant mit seiner Annahme recht, daß die Einheit oder Kontinui­ tät der Philosophiegeschichte nicht gegeben ist. Man wird ihm

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aber nicht darin zustimmen können, daß sich die Philosophiege­ schichtsschreibung auf eine klar umreißbare Idee (von Vernunft, Philosophie, Wahrheit oder Freiheit) stützen könnte. Denn be­ reits faktisch geht die Richtung selbst dort auf unterschiedlich beschriebene Ideen, wo man im selben Paradigma philosophiert, also in den Theorieentwürfen, die im zweiten Teil der Arbeit behandelt worden sind. Die spekulativen Konzepte zeichnen sich ferner dadurch aus, daß sie in bezug auf herangezogenes Textmaterial das Verfahren einer ,umbildenden Aneignung4 (Hegel) oder einer Produk­ tion4 von Sinn (Lucien Braun)1 anwenden, der das Gesagte in aller Wahrheit treffen soll. Am Beispiel der unterschiedlichen Deutungen der Kantischen Philosophie konnte gezeigt wer­ den, was im Rahmen solch umbildender Aneignungen oder Sinnproduktionen allerdings geschieht: Terme der Kantischen Philosophie (wie z. B. „Entwickelung der menschlichen Ver­ nunft“) erhalten den Sinn und die Bedeutung, den sie im Kon­ zept des Interpreten (nicht aber im Kontext der Kantischen Philosophie) besitzen. Auf diese Weise werden materialiter neue Texte konstituiert, die in die jeweilige Geschichtslegende hinein­ passen. Man kann deshalb feststellen, daß der Sinn- und Argumenta­ tionsduktus der Texte, die als Bestandteile von Geschichte be­ handelt werden, nicht nur unterschieden ist vom Sinn- und Ar­ gumentationsduktus der Texte selbst, sondern darüber hinaus auch noch einmal im „Stimmengewirr der Legenden“ variiert. So kann Kant bei Hegel ein Historiker sein, während er, auf der Basis desselben „Corpus“ von Texten, auch ein Vernunftphi­ losoph Hegelscher Provenienz sein kann; oder so kann Hegel sich selbst als einen Philosophen verstanden haben, für den die Philosophie nur eine Geschichte „hat“, während er später zu jemandem wird, für den die Philosophie ihre Geschichte „ist“. Nun lassen alle behandelten Philosophiegeschichtsphiloso­ phien selbst die Möglichkeit offen, solche Bedeutungsverschie­ bungen festzustellen. Denn sie besitzen eine Schwachstelle, die von großer Sprengkraft ist: Es ist ihnen nicht möglich zu verhin­ dern, daß Texte auch außerhalb des jeweils vorgeschlagenen Rahmens gelesen werden, der bei Kant als unabdingbare Beur­ 1 Vgl. Lucien Braun, Geschichte der Philosophiegeschichte, a. a. O., 1.

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teilungsvoraussetzung, bei Hegel und in den jüngeren Theorien als unabdingbare Erkenntnisvoraussetzung von Geschichte an­ genommen ist. Und wenn nun auch die Texte der Philosophiege­ schichtsphilosophie durchaus beim Interpreten die Einstellung fordern, sie zu nehmen wie sie sind, so wird versucht, diese Ein­ stellung anderen Texten gegenüber nicht zuzulassen: Es wird be­ hauptet, man rekurriere dann ,historisch‘ nur auf einzelne Bü­ cher, reise empirisch herum (Kant) oder ergehe sich in „schwachsinnigem“ Vorstellen (Hegel). In jedem Falle häufe man vereinzelte Kenntnisse von ebenso Vereinzeltem an, von Systemen, deren Aussagewert sich auf bloße Meinungen redu­ ziert (Kant bis Mittelstrass), betreibe „stückweise Lektüre“ (Braun) oder interpretiere vernunftlos nur Literatur (Lübbe, Mittelstrass). Das Resultat ist also keine Geschichtsdarstel­ lung, die Zusammenhang aufwiese, und sei es nur im Sinne einer (empirischen) Geschichte zufällig aufsteigender Meinungen, für die wenigstens aus Erfahrung bekannte „Zwecke“ anzugeben wären (Hegel). Aber Forderungen der auf Systematizität und auf praktische Orientierungen dringenden Vernunft wird man auch dadurch noch nicht gerecht. Die Philosophiegeschichts­ schreibung muß sich auf Ideen stützen, auf Leitfäden a priori (der Urteilskraft bei Kant, der Begriffslogik bei Hegel, Lübbe, Mittelstrass und Braun), die von überzeitlicher Geltung sind und „immer“ bleiben können (Kant). Die Konzeptionen kommen, trotz Bedeutungsnuancen, in einer solchen Auffassung von Historie der Philosophie überein. Schon die bloße Kenntnisnahme von Texten, die man nicht selbst verfaßt hat, gehört zur Historie und ist als möglicher Fall einer rein historischen Bezugnahme auf die Geschichte der Phi­ losophie in jedem Falle zunächst suspekt. Kritisch betrachtet, ist ein solches Verständnis von Philosophiehistorie freilich sonder­ bar, weil mit ihm zum Ausdruck gebracht wird, daß es Philoso­ phen eigentlich nicht angemessen ist, ein Interesse am Gehalt von Texten zu entwickeln, die sie nicht selbst, die vielmehr an­ dere zu früheren Zeitpunkten verfaßt haben. Eigentümlich ist dieses Verständnis jedoch vor allem, weil es überhaupt nur vor dem Hintergrund einer Metaphysik einleuchtet, von der bereits mehrfach die Rede war: der Platonischen. Ausdrücklich zu Platon bekennen sich Kant und Hegel. Aber auch für die späteren Theoretiker teilt sich die Welt der

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Wissenschaften hierarchisch in zwei besondere Welten: Da gibt es, an unterer Stelle, die Welt derjenigen, die nur aus sinnlichen Daten schöpfen, sich also mit wahrnehmbaren, anschaubaren oder vorstellbaren individuellen Sachverhalten in dieser Sinnen­ welt befassen, die Welt also der Historiker und Empiriker. Und da gibt es die Welt derjenigen, die aus Vernunft zu schöpfen und sich auf Ideen zu stützen in der Lage sind, die Welt der Philoso­ phen.

Entsprechend gliedert

sich auch

die Philosophiege­

schichtsschreibung in zwei Welten, welche die monistischen Denker (Hegel bis Mittelstrass) als unterschiedliche Gestal­ tungen der Philosophie selbst ansehen: Während Kant noch an einer grundlegenden Differenz zwischen „reiner“ und „empiri­ scher Philosophie“ (historisch-empirischer Wissenschaft) fest­ hält, besteht nach Hegel und im Anschluß an ihn stets die Ge­ fahr, daß sich die Philosophie selbst auf bloße Historie - auf ihre eigene Historie - reduziert. Unabhängig aber von diesen konzeptuellen Unterschieden, unabhängig auch von der platonisch inspirierten Differenzie­ rung der einen Welt des Wissens in zwei Welten ist die von allen in dieser Arbeit genannten Autoren geteilte Auffassung, daß die Texte, auf die man sich, sei es historisch, sei es empirisch, sei es philosophiegeschichtsphilosophisch, bezieht, bloße Fakta sind und also Gegebenheiten darstellen, wie es auch bei den Dingen der äußeren (physischen) Natur der Fall ist. Zwar faßt keiner die Texte so auf, als handele es sich lediglich um Bücher, die in Re­ galen stehen und wie alle anderen Objekte äußerer Anschauung auch der Erkenntnis experimenteller Naturwissenschaften un­ terworfen werden können. Texte sind nicht bloß Bücher. Und doch ist der Unterschied zwischen Texten (also dem, was in Bü­ chern gesagt ist) und Büchern in den behandelten Konzepten keineswegs klar. Denn Texte werden angesehen wie Bücher, d. h. als bloße Fakta in Raum und Zeit. Gesagtes gilt als reines Daß, als fixe Entität, als ein Zusammenhang von Aussagen, dem man entweder - in historisch-empirischer Einstellung - etwas entnehmen oder zu dem man - philosophisch - diejenigen inter­ nen und externen intelligiblen Bezüge finden kann, in die das Ganze (ein Text) selbst noch einmal gehört: die Philosophiege­ schichte als diejenige Totalität, deren Teile die Texte sind. Von ihr wird jeweils angenommen, sie resultiere aus einer einzigen (diskursiven) Vernunft.

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Welcher Geltungsanspruch aber auch immer mit dem Projekt der Philosophiegeschichtsphilosophie verbunden worden ist - es ist einer Programmatik verpflichtet, die fordert, zu Gesagtem die intelligiblen Bezüge zu finden. Wenn dies gelingt, lassen sich bloß raumzeitliche Fakta in „Fakta der Vernunft“ verwandeln (Kant, terminologisch ähnlich auch Braun2). In der Bezugnah­ me auf einen Gegenstandsbereich nun, der auf jeder seiner Ebe­ nen aus Fakta besteht, kann man freilich etwas ,anschauen‘ oder ,vorstellen‘. Und so ist das auffälligste Merkmal der Philosophie­ geschichtsphilosophie, daß in ihrem Zusammenhang niemand davon ausgeht, Bücher seien auf Lesen hin angelegt und Gesag­ tes sei erst noch zu verstehen23. 4 Stattdessen werden mit Augen „Gebäude“ (Kant) betrachtet, ja wird die ganze Geschichte „beobachtet“ (Hegel) und schließlich selbst der „Akt der Lek­ türe“ noch zum Gegenstand einer anschaulichen Darstellung ge­ macht (Lucien Braun)4. So gibt es auf keiner Ebene der Ge­ schichtsbetrachtung etwas, das etwas anderes wäre als ein prinzipiell präsentes Ding. Sollten aber präsente Texte bzw. die in ihnen manifest gewordenen geistigen „Handlungen“ nicht in der „Sinnfülle ihrer Gegenwart“ geblieben sein, dann ist Sinn nur „partiell“ abhanden gekommen, was in jeweiliger Gegen­ wart durch Produktion aktuellen Sinns kompensatorisch leicht aufgefangen werden kann (Braun). Weil man es in der Philosophiegeschichtsschreibung somit im Prinzip nur mit Gegenwärtigem zu tun bekommt, tritt sie als eine Art der Naturforschung auf. In allen behandelten Konzep­ tionen werden ihre Varianten - „bloße“ Philosophiehistorie (der seither das Etikett bloßen Positivismus anhaftet), Empirie und Philosophie - als Weisen der Beziehung auf eine Natur aufge­ faßt, deren intelligible Vernunftstruktur sie zugleich am näch­ sten sein läßt zu Gott: So weist bei Kant die Philosophiege­ schichte am nachdrücklichsten auf einen weisen Welturheber 2 Vgl. Geschichte der Philosophiegeschichte, a. a. O., 362 ff. 3 In der Philosophie verhält es sich deshalb gelegentlich so, wie Robert Musil es einmal formuliert hat: „Sie wollen wissen, wieso ich jedes Buch kenne? Das kann ich Ihnen nun allerdings sagen: Weil ich keines lese! [...] Es ist das Geheimnis aller guten Bibliothekare, daß sie von der ihnen anvertrauten Literatur niemals mehr als nur die Büchertitel und das Inhaltsverzeichnis lesen. ,Wer sich auf den Inhalt einläßt, ist als Bibliothekar verloren!1 [...] Er wird niemals einen Überblick gewinnen“: Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 1990, 462. 4 Vgl. Braun, Geschichte der Philosophiegeschichte, a. a. O., 386.

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hin. So gibt es bei Hegel keine andere Natur, in der sich der göttliche Logos transparenter manifestierte, als in der Philoso­ phiegeschichte. Und so ist auch für die späteren Theoretiker kei­ ne andere Wirklichkeit so sehr Lebensprozeß eines höheren in­ telligenten Wesens, wie die Geschichte der Philosophie. Da es nun nur der Philosophie selbst gelingen kann, diese Art Natur von Grund auf zu erschließen, ist z. B. die empirische Ver­ sion von Philosophiegeschichtsschreibung lediglich eine Varian­ te von empirischer Naturwissenschaft überhaupt. Selbst HansGeorg Gadamer ging noch davon aus, es sei möglich, daß Texte „einer wissenschaftlichen Erkenntnis so unterworfen werden [können], wie alle sonstigen Erfahrungsgegenstände“ auch5. 6 War bei ihm dies noch negativ bewertet, so gibt es inzwischen Konzepte, in denen in Umwertung vor allem von Prämissen der Geschichtsphilosophie Hegels das, was dieser als „äußerliche Geschichte“ bezeichnet hat, positiv in den Vordergrund rückt: Es gibt Vorschläge zu einer empirischen Theorie der Philo­ sophiegeschichte, in der die Verschiedenheit der zu unter­ schiedlichen Zeitpunkten entstandenen Philosophien von philosophieexternen (sozialen, kulturellen, religiösen) Faktoren, also

von

„historischen

Voraussetzungsstrukturen“

(Walter

Jaeschke) oder „geschichtlichen Rahmenbedingungen“ (Kurt Flasch)6 her zu erklären versucht wird. Eine Philosophie gilt dann „als Antwort auf eine geschichtliche Situation“ - als eine Antwort möglicherweise, die „ihrerseits die Situation mitbe­ stimmte und Strukturen für die Folgezeit schuf“7. Charakteri­ stisch ist jedoch auch hier noch, daß die Texte, ganz nach Art naturwissenschaftlicher Theoriebildung, als ein „reines Daß“8 aufgefaßt werden und sich die Betrachtung auf eine präsente Welt bezieht, in der sich Sensibles mit Intelligiblem verbindet. Die Schwierigkeit, die eine solche Vorstellung von Philoso­ phiegeschichtsschreibung und zwar mit Bezug auf alle gedachten Formen (also Historie, Empirie, Philosophie) macht, liegt darin,

5 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, a. a. O., 1. 6 Kurt Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, Stuttgart 1986,15 f. 7 Ebda, 14. 8 Vgl. zum Unterschied zwischen Theorien in der Geschichte und in den Naturwissen­ schaften: Hans Michael Baumgartner, Erzählung und Theorie in der Geschichte, a. a. O., insbes. 282.

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daß Bücher nun aber keineswegs nur eine Deutung haben (Odo Marquard) und überhaupt keine Fakta sind, die naturwissen­ schaftlicher Erkenntnis unterworfen werden könnten. Oder, an­ ders formuliert: Bücher haben nur dann lediglich eine Deutung und sind nur dann Fakta, wenn man sie nicht liest. Werden Bü­ cher aber gelesen oder zumindest als etwas Lesbares verstanden, dann sind sie keine Fakta und haben nicht nur eine Deutung9. Denn wenn Bücher gelesen werden, dann unter einschränken­ den Bedingungen: z. B. zu einem bestimmten Zeitpunkt und un­ ter bestimmten Themenstellungen und so, daß, jedenfalls für Menschen, die Zeit gewissermaßen immer zu kurz ist: Niemals können sie alle Bücher lesen, die gelesen werden könnten; nie­ mals aber stehen auch nur alle bis zu einem bestimmten Zeit­ punkt publizierten Bücher zur Disposition, die sich begrifflich eindeutig einem bestimmten Sachbereich zuordnen ließen; nie­ mals nur Bücher, die unter allen Gesichtspunkten die bedeut­ samsten wären; niemals innerhalb eines Buches zur gleichen Zeit alles oder auch nur solches, das in diesem Buch unter allen Umständen das Wesentlichste sein würde; niemals steht aber auch nur ein Buch unter allen möglichen (denkbaren oder vor­ stellbaren) Gesichtspunkten zur Debatte. Werden Bücher gele­ sen oder wenigstens als etwas verstanden, das gelesen werden kann und muß, wenn man wissen will, was in ihnen steht, dann ist klar, daß nur zur Diskussion stehen können: a) bis zu einem bestimmten Zeitpunkt publizierte Bücher, b) in einer thematisch bestimmten Auswahl und c) unter Gesichtspunkten und Frage­ stellungen, die sich aus dem Projekt ergeben, das der Interpret in der Interpretation selbst verfolgt. Es sind diese Themen, Ge­ sichtspunkte und Fragestellungen, die in philosophiegeschichts­ philosophischen Zusammenhängen den problematischen Status fixierter Auffassungen von Philosophie, Geschichte und Ver­ nunft annehmen, wie sie ein anerkannter Philosoph vertritt, viel­

9 Auch Kurt Flasch, dessen beeindruckende Geschichten zur Mittelalterlichen Phi­ losophie erzählenden Charakter besitzen - so wird z. B. geschildert, wie „mit dem Zu­ sammenbruch des römischen Reiches und dem Untergang seiner Beamtenschaft [...] auch die Wissenschaft1 ihre Funktion [verlor]“ (Dasphilosophische Denken im Mittel­ alter, a. a. O., 127) -, verwendet einleitungsweise die Terminologie, die eher für Natur­ erkenntnis angebracht ist: daß „historische Erkenntnis“ von einem „Betrachter“ voll­ zogen wird: „Historische Erkenntnis hängt immer auch ab von dem Betrachter, der sie vollzieht“ [19].

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leicht zu bestimmten Zeiten einige vertreten und anderen durch Publikation mitzuteilen für sinnvoll halten. Über solche Auffas­ sungen kann diskutiert werden. Unhintergehbar sind sie nicht. Daß sie nicht unhintergehbar sind, dafür eben steht die Viel­ heit der philosophischen Geschichtslegenden. Sie weist darauf hin, daß die Verhältnisse, die innerhalb der Philosophiege­ schichtsphilosophie herrschen, nicht verschieden sind von denje­ nigen, die außerhalb herrschen. Es sind dieselben Verhältnisse: Verhältnisse, die Einschränkungen im Zusammenhang mit der Kenntnis und dem Verständnis des Gesagten betreffen. Wenn nun aber die Verhältnisse nicht verschieden sind, dann können allerdings Bewußtsein und Gestus verschieden sein. Nach jünge­ ren Normierungsvorschlägen handelt es sich dort, wo den ein­ schränkenden Bedingungen der Auseinandersetzung mit Texten ausdrücklich Rechnung getragen wird, um „literarische Texte“, die von „literarischen Lesern“ gelesen und interpretiert werden. Odo Marquard hat den „literarischen Text“ und den „literari­ schen Leser“ gegen den „absoluten Leser“ und seinen Versuch einer „eindeutigen Auslegung des absoluten Textes“ zu verteidi­ gen und zu rehabilitieren gesucht10. Daß es gälte, den „literari­ schen Text“ und den „literarischen Leser“ speziell im Falle der Philosophiegeschichtsschreibung zu rehabilitieren, dies soll im folgenden in groben Zügen dargelegt werden. Dabei wird jedoch vorgeschlagen, nicht jede Deutung von Büchern (Texten), die keine eindeutige - philosophische oder wenigstens theoretisch angeleitete - ist, schon als eine historische Deutung zu bezeich­ nen. Nicht philosophisch fundierte oder theoretisch angeleitete Interpretationen können als literarische Interpretationen be­

10 Odo Marquard, Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, a. a. O., 130ff. Vgl. auch: Ders., Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften, a.a.O., insbes. 108ff. Marquards Plädoyer gilt den interpretierenden Geisteswissen­ schaften und deren „Wende zur Vieldeutigkeit“, insofern sie Errungenschaften sind, die hervorgingen aus der „Tödlichkeitserfahrung der konfessionellen Bürgerkriege, die hermeneutische Bürgerkriege waren, weil man sich dort totschlug um das eindeu­ tig richtige Verständnis eines Buches: nämlich der Heiligen Schrift, der Bibel“ (Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften, a. a. O., 108). Die Antwort auf diese Erfahrung kam spät: „denn sie wurde unausweichlich erst durch die Tödlichkeitserfah­ rung der neukonfessionellen Bürgerkriege“, als die „die modernen Revolutionen seit 1789“ zu deuten sind: Auch diese Revolutionen waren „hermeneutische Bürgerkriege [...], weil man sich dort totschlug und totschlägt um das eindeutig richtige Verständnis der einen einzigen eindeutigen Weltgeschichte“ [ebda].

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zeichnet werden. Aber nicht jede literarische ist schon eine historische Interpretation. Die im folgenden zu begründende These lautet: Historische Deutungen sind ganz spezielle literarische Deutungen - Deu­ tungen, in denen man sich, im Bemühen darum, eine Antwort auf eine (thematisch) bestimmte Frage zu finden, was in der Ver­ gangenheit geschah, in retrospektiver Einstellung auf mehrere Texte bezieht und dabei primär dem Zeitpunkt ihrer Entstehung Rechnung trägt. Diese These impliziert eine kritische Replik auf das Unternehmen der Philosophiegeschichtsphilosophie: Die Philosophiegeschichtsphilosophie, so soll behauptet werden, ist keinesfalls das Vernunft-, geist-, sinn- oder bedeutungsvolle Ge­ genprojekt gegen eine im Extrem buchstabengetreue literar­

historische Wiederholung von Gesagtem, sondern ein Unterfan­ gen, in dem eine bestimmte Ebene des Textbezugs einfach ausgeblendet bleibt: die Ebene der kontingenten Bedingungen, unter denen Textinterpretationen und -rezeptionen grundsätz­ lich stehen. Es wird im folgenden - unter Rückgriff auf das in den kriti­ schen Passagen der Arbeit Angemerkte - noch einmal zu ver­ deutlichen sein, daß sich unter diesen einschränkenden Bedin­ gungen die Zeit als der bedeutsamste Faktor erweist: die Zeit, die Menschen nicht haben und auf keine Weise so haben, daß sie Aussagen zu machen in der Lage wären, die nicht danach beur­ teilt werden könnten, zu welchem Zeitpunkt sie formuliert sind. So mögen z. B. Aussagen in der Philosophie, Aussagen also mit Prinzipienstatus, dem Anspruch nach Raum und Zeit transzen­ dieren, aber sie sind deshalb nicht außer der Zeit, sondern ha­ ben, und dies vor allem trifft kritisch die Geschichtsphilosophie, an der Zeit ihre Grenze. Geschichtsphilosophien werden selbst zu bestimmten Zeitpunkten formuliert, und sie werden im Lich­ te einer Kenntnis von bereits Gesagtem formuliert. Auch letzte­ res ist in philosophiegeschichtstheoretischer Hinsicht relevant: Denn wenn angenommen werden kann, daß dem Philosophie­ ren (und also auch der Philosophiegeschichtsphilosophie) Text­ lektüren vorausgehen (und sei es nur durch Studium) und Texte aufgrund von ,schicksalszufälligen‘ Bedingungen, die Menschen zu ändern nicht in der Lage sind, auch in der Philosophie nicht anders gelesen werden können als nur selektiv, dann kann nicht davon gesprochen werden, daß es die Philosophen sind, die

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kontinuierlich Geschichte machten. Dann können es, wenn überhaupt, nur die Historiker sein, die Philosophiegeschichte machen11, indem sie, gestützt auf Texte (als Quellen), aus der Retrospektive Zusammenhänge

stiften:

zwischen Früherem

und Späterem, welches zum früheren Zeitpunkt nicht vorausseh­ bar war. Die folgenden Überlegungen gelten einem veränderten Ver­ ständnis von philosophiehistorischem Wissen. Wenn dabei mehrere Aufgaben festgehalten werden, die nicht von Philoso­ phen übernommen werden können, wenn und soweit Philoso­ phie (jedenfalls nach klassischem Verständnis) etwas anderes ist als eine historisch-empirische Disziplin, dann soll damit nicht die extreme Behauptung aufgestellt werden, Philosophiehistorie gehöre in das Fächerspektrum der Geschichtswissenschaften. Philosophiehistorie gehört zum Philosophieren - und zwar, so die These, unverbrüchlich - hinzu12. Aber sie gehört doch in die Hände von historisch kompetenten Philosophen (oder philoso­ phisch kompetenten Historikern), die, idealtypisch formuliert, die Einheit der Philosophiegeschichte, die Vernunft bzw. Ideen, weder als gegeben annehmen noch in Texten nach ihnen suchen. Denn die Texte, die es zu verstehen gilt, zeigen an, daß Philoso­ phen das, was sie sind oder werden, (in Variation wiederum einer Formulierung Odo Marquards) weit mehr durch ihre Schick­ sale sind oder werden, als durch ihre Vernunft13. Sie sind, was sie jeweils sind, nicht zuletzt durch Interpretationsschicksale - gele­ gentlich durch Schicksale „aneignender“ Rezeption. Gerade diesen Rezeptionsschicksalen könnte Philosophiehistorie ein Korrektiv entgegensetzen. Folgender Weg wird eingeschlagen: In einem ersten Schritt soll begründet werden, daß Texte tatsächlich keine Gegebenheiten darstellen, wenn sie gelesen werden oder man auch nur der Auf­ fassung ist, daß Aussagen über und Beurteilungen der Textinhal­ te voraussetzen, daß man die Texte liest. Texte, die in diesem Sinn als ein Stück Literatur, als „literarische Texte“ aufgefaßt sind (anstatt z.B. als „Gebäude“, Systeme, Werke), haben den Status von „Ereignissen“: D.h., sie selbst oder etwas in ihnen ist 11 Nach Arthur C. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, a. a. O., 465. 12 Vgl. Hans Michael Baumgartner, Anspruch und Einlösbarkeit, a. a. O., 51. 13 „Wir Menschen sind stets mehr unsere Traditionen als unsere Experimente“: Odo Marquard, Über die Unvermeidlichlichkeit der Geisteswissenschaften, a. a. O., 103.

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von einem oder vielen Interpreten als ein „Ereignis“ bewertet. Ein Ereignis ist ein Text (oder etwas in ihm) relativ zu dem Pro­ jekt, das der Interpret in der Lektüre verfolgt. Ereignisse, die Texte sind, besitzen nun zugleich die Eigentümlichkeit, daß sie als Quellen benutzt werden: Die Texte oder etwas in ihnen, das in bestimmten Hinsichten als herausragendes Ereignis gilt, ste­ hen verschiedenen Projekten als Quellen zur Disposition. Es gibt genuin philosophische Projekte, in denen der Textbezug eine Rolle spielt, und genuin historische Projekte - Projekte, die dem Zweck dienen, eine Geschichte zu schreiben. Indes wer­ den in einem zweiten Schritt im zusammenfassenden Rückgriff auf das, was im Laufe dieser Arbeit in den kritischen Passagen angedeutet worden ist, zunächst noch einmal die Anforderungen spezifiziert, die philosophische Texte grundsätzlich an den Inter­ preten stellen, in welchem Projektzusammenhang auch immer er sie zur Kenntnis nimmt. Dabei soll verdeutlicht werden, daß es nur dann möglich ist, Texte nicht als „literarische Texte“ zu behandeln, wenn eine ganze Dimension des Philosophierens ausblendet bleibt: die vorrationale Evidenz- und Sinndimension. In einem dritten Schritt wird dann die spezifische (Verstandes-) Leistung umschrieben, aus der resultiert, was man als ein Ge­ schichtswerk bezeichnen kann, in einem vierten schließlich ge­ zeigt, daß die Philosophiehistorie noch weitere eigenständige (Vernunft-)Funktionen oder Zwecke besitzt, die ohne Not nicht preisgegeben werden können. In vielfacher Hinsicht sind diese Überlegungen Kant ver­ pflichtet: seiner Ansicht, daß das Subjekt von Philosophie der Mensch in der Welt ist. Aber es soll hier zu einem Subjekt wei­ tergegangen werden, das in philosophischen Kontexten bislang stets unter Vorbehalt stand: auf den Menschen als ein auf der Erde unter kontingenten Bedingungen existierendes, auf das Machen von (praktisch relevanten) Erfahrungen angewiesenes, individuelles und zugleich sterbliches Vernunftwesen. Es könnte die Hauptaufgabe der Philosophiehistorie sein, an eben diesen Menschen im Philosophen zu erinnern.

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2. Literarische Texte als Quellen Bücher haben nicht nur eine Deutung, jedenfalls diejenigen nicht, von denen man annimmt, man müsse sie lesen, wenn man über ihren Inhalt urteilen will. Wird nicht nur über das Lesen von Büchern nachgedacht, sondern werden sie gelesen (womit bereits ein interpretativer Akt vollzogen wird), dann handelt es sich um ausgewählte Bücher, die innerhalb von Projekten, z.B. sachbezogenen philosophischen Projekten, nach bestimmten Themen- und Fragestellungen zur Disposition stehen. In diesen Themen spiegeln sich die Interessen wider, die in einer Gemein­ schaft zu einer bestimmten Zeit dominant sind. Aber deren Auf­ nahme ist individuell gebrochen: Es spielt eine Rolle, welchen Bildungshintergrund derjenige besitzt, der unter Bezugnahme auf Texte anderer (eigenständig) philosophiert, durch welch überzeugenden „Lehrer“ er geprägt wurde, aber auch, wie er bisher die Welt erfahren hat, insbesondere die Welt, in der er zumeist lebt: die Welt der philosophischen Projekte oder auch „Geschäfte“14. Wird im Zusammenhang von philosophischen Projekten explizit auf bereits geschriebene Bücher zurückgegrif­ fen, dann auf Bücher, die in bestimmten Hinsichten und unter ganz bestimmten Gesichtspunkten als herausragende Ereignisse15 gelten. Welche Bücher aber und welcher „Gedanke“, wel-

14 Mit Johann Gustav Droysen ließe sich dann fragen: „Wie wird nun aus Geschäf­ ten Geschichte?“ (in: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, im Auftrag der Preussischen Akademie der Wissenschaften, hrsg.v. Rudolf Hübner, München/Berlin (1936) 21943, 28). Allerdings verband sich mit Droysens Fragestellung selbst ein (vernunft- oder geist-)ontologisches Geschichts­ konzept. Die Frage bezog sich darauf, daß einige der „menschlichen Dinge“ nicht mehr der Gegenwart angehören, sondern der „Geschichte“: Gegenwärtige Dinge, menschliche Geschäfte, vergehen und existieren als vergangene nicht mehr, „wenig­ stens nicht mehr in äußerlicher, empirischer, für uns unmittelbarer Weise“. Vielmehr ist die „Fülle menschlicher Dinge mit ihren Bedingungen, Wirkungen, Zwecken, [...] vergangen [...]“; doch ist vieles auch in die Erinnerung aufgenommen und damit zu­ gleich „aus seiner Äußerlichkeit in den wissenden Geist [...] verlegt [...]“ worden. Wie aus Geschäften Geschichte wird, findet dann die Antwort: daß der (menschliche) Geist „an die Stelle der äußerlichen Realitäten Namen und Begriffe, Urteile und Ge­ danken [setzt]“, wobei „nur so umgearbeitet [...] das äußerlich Seiende erinnert, Er­ innerung werden [kann]“(zitiert nach: Droysens Historik in der kritischen Textaus­ gabe von P. Ley, Stuttgart/Bad Cannstatt 1977, 8). Dieses Geschichtskonzept wäre freilich kritisch dahingehend zu befragen, was dies für ein „Geist“ ist, in den etwas „aus seiner Äußerlichkeit [...] verlegt“ wird. 15 In geschichtstheoretischen Zusammenhängen hat Hans Michael Baumgartner

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eher „Begriff“, welches „Problem“, welche „Überlegung“ oder welches „Motiv“ darin als Ereignis angesproehen und wie es angesproehen (beschrieben und bewertet) wird, das hängt ab von den Projekten, die die Philosophierenden verfolgen. Bücher, von denen man - wenigstens durch Ausbildung schon eine rudimentäre Kenntnis hat und die in bestimmten Hinsichten und Zusammenhängen als bedeutsame Bücher, als Ereignisse in diesem Sinne gelten, haben zugleich die Funktion von Quellen. D.h., es ist normalerweise nicht der Fall, daß Bü­ cher um ihrer selbst willen gelesen werden16. Sie werden zu be­ stimmten Zwecken im Rahmen bestimmter Projekte gelesen, und sie werden selektiv gelesen. Dabei steht das Gesagte den vielfältigsten Bezügen offen, kann in die unterschiedlichsten

philosophischen Entwürfe eingebettet und darin auf Früheres oder Späteres bezogen werden. Es gibt unausdenkbare Mög­ lichkeiten, dies zu tun. So können Interpretationen z. B. im Zusammenhang damit erfolgen, daß im Lichte neuerer natur­ wissenschaftlicher Theorien eine Reformulierung der Naturphi­ losophie intendiert ist, in deren Rahmen es wiederum sinnvoll sein kann, z.B.

die Aristotelische,

Kantische oder die

Hegelsche Auffassung von Natur in die Diskussion mit einzu­ darauf hingewiesen, daß es „keine apriori auszumachenden positiven Bestimmungen dafür gibt, was überhaupt spezifisch als ein Ereignis anzusprechen ist. Ereignis kann mithin alles sein, sofern es sich nur um ein in Raum und Zeit datierbares Vorkommnis handelt, das mit einem nicht eliminierbaren Namen gekennzeichnet und in einer be­ stimmten Weise beschrieben sein muß“ (Erzählung und Theorie in der Geschichte, a. a. O., 270). Vor allem dann, wenn man den Wertaspekt von „Ereignis“ in Betracht zieht, ist es also möglich, von Ereignissen auch im Zusammenhang mit Philosophie und Philosophiegeschichtsschreibung zu sprechen. Dabei müßte man jedoch zwischen historischen Ereignissen und solchen, die in Sachkontexten lokalisiert sind, unter­ scheiden. 16 Das Lesen eines Buches um seiner selbst willen könnte als das Phänomen einer bestimmten Form von Epigonalität bezeichnet werden. Helmut Holzhey (Philoso­ phische Epigonalität, a. a. O.) berichtet, daß der alte Hermann Cohen in Marburg „in seinem Seminar wieder die ,Kritik der reinen Vernunft1 durchgenommen und zwar so durchgenommen habe, daß er aus dem Buche vorlas, unregelmäßig betonend, stokkend, zischend, donnernd vorlas und auf diese Art im Zitat - offenbar eindrücklich den Gehalt des Werkes seinen Hörern näherbrachte“ [29]. Dies ist die Form einer, wie Holzhey es nennt, „Traditionsbeziehung“, in der Texte für sich selbst stehen. Diese Form ist für Holzhey allerdings nur eine von mehreren: Es gibt auch das Nachlesen und Zitieren, das Nachdenken und Nachvollziehen sowie das Nachdenken zum Zweck des Fortsetzens und Weiterschreibens. Allerdings wäre diese interessante Typologie durch Angabe von Zusammenhängen zu konkretisieren, in deren Rahmen jeweils zitiert, nachgedacht und etwas weitergedacht wird.

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beziehen. Es könnten aber Bücher zum Thema Ethik projektiert sein, in denen auf Herausforderungen neuer medizinischer Tech­ nologien geantwortet werden soll und vorgeschlagen wird, auf ältere ethische Ansätze zurückzugehen, weil neuere vernunft­ moralphilosophische Konzepte als unzureichend erscheinen. Nicht jeder Entwurf, in dem auf das Denken anderer Bezug genommen wird, ist daher schon ein historischer Entwurf. Dabei entstehen selbst heute, wo man sich im Rahmen universitärer Lehre und Forschung in großem Umfang mit Texten anderer auseinandersetzt, nur sehr selten Werke, von denen man sagen könnte, es handele sich um ein genuines Stück ,Geschichte der Philosophie4. Ein Philosophiegeschichtswerk wäre ein Werk, in dem schon nach klassischer Minimaldefinition in erster Linie ge­ sagt würde, was in der Vergangenheit geschah. Solche Werke entstehen, aktuellen Publikationsverzeichnissen zufolge, zu­ meist nicht: Geschichtliche Gesamtdarstellungen, d. h. umfas­ sende „Weltgeschichte(n)“ der Philosophie (die nach den unter­ schiedlichsten, aprioi nicht festlegbaren Leitfäden abgefaßt17 und daher nie mehr als nur „partikulare[] Einheiten]“18 sein können), sind ebenso die seltene Ausnahme wie Geschichten zum Wandel nur der Logik, Erkenntnistheorie, Naturphiloso­ phie oder Ethik oder (thematisch noch eingeschränktere) Ge­ schichten zum Wandel ethischer Prinzipien oder Glücksvorstellungen19.

Nur

selten

entstehen

Geschichten

zum

Thema

„Vernunft“, in denen dem Sachverhalt Rechnung getragen wür­ de, daß „Vernunft“ einem Interpreten nur in der Brechung einer Vielfalt menschlicher Selbst- und Weltverständnisweisen gege­ ben ist, „Vernunft“ in Interpretationskontexten mithin weder

17 So hat Hans Joachim Störig seine Kleine Weltgeschichte der Philosophie (Stutt­ gart/Berlin/Köln, 15., überarbeitete und erweiterte Aufl. 1990) an den drei Fragen Kants orientiert: „Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Was dürfen wir glau­ ben?“ (a.a.O., 28). 18 Darauf hat Karl Jaspers aufmerksam gemacht, vgl. Geschichte der Philosophie, a. a. O., 105. Jaspers’ eigene Weltgeschichte der Philosophie ist allerdings trotz der Ein­ sicht in den partikularen Charakter globaler Geschichtskonzeptionen eine Metaphy­ sik der Philosophiegeschichte in der Nachfolge Hegels: Denn noch immer gilt hier die Philosophiegeschichte noch als „vergängliches Erscheinen eines Ewigen“: vgl. Weltgeschichte der Philosophie. Einleitung. Aus dem Nachlaß hrsg. von Hans Saner, München/Zürich 1982, 20. 19 Vgl. dazu jetzt Hans Michael Baumgartner, Anspruch und Einlösbarkeit, a. a. O., insbes. 57 f.

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bloß als ein „Allgemeinbegriff“ noch gar als „Eigenname“ für ein „historisch singuläres Referenzobjekt einer großen Er­ zählung“ in Frage kommt20. Es entstehen aber auch nur selten philosophierende,

sich

selbst

thematisierende

„Ultrakurz­

geschichten“21, in denen „erzählt“ und die mögliche Kritik in Kauf genommen wird, daß, „wer erzählt, [...] das wissenschaft­ liche Soll an Eindeutigkeit [unterbietet]“22. Alles dies entsteht zumeist nicht. Und so ist Philosophiege­ schichtsschreibung nichts, was gerade für gegenwärtige Philoso­ phie charakteristisch wäre. Denn hinter der Interpretation, die Philosophie konstituiere sich heute nur noch als ihre eigene Hi­ storie, steckt, wie im zweiten Teil der Arbeit verdeutlicht werden konnte, oft nur ein starkes menschliches Bedürfnis nach voll­ kommener Ordnung wenigstens in der Philosophie, das durch Etablierung

eines

philosophiegeschichtsphilosophischen

Sy­

stems befriedigt werden kann. Die skizzierten Ansätze zu einer Theorie geschichtlicher Vernunft lassen sich jedenfalls als erneu­ te Versuche auffassen, „alle [...] Formen der Wirklichkeit“ noch einmal in ein System zu integrieren, das allerdings jetzt nicht mehr ganz so umfassend ist, wie das Hegelsche, in dem alles, „vom Glimmerschiefer bis hin zu den logischen Schlußfiguren“, dem Anspruch verfiel, „als Ausdruck des [...] Begriffs angese­ hen zu werden“23. Vor allem diesen Philosophiegeschichtskonzepten gegenüber kann die Philosophiehistorie als ein spezifisches Unternehmen zur Geltung gebracht werden, das nicht dann schon vorliegt, wenn man Texte liest, die man nicht selbst verfaßt hat, in dem Texte vielmehr nur als Quellen für Geschichten fungieren. Liegt aber Philosophiehistorie mit einer Bezugnahme auf Texte nicht schon vor - und tatsächlich schließt eine Identifikation von Hi­ storie und Textbezug, wie ebenfalls skizziert wurde, eine Unter­ bestimmung von Historie, aber eine zu starke Bestimmung von Geschichte ein, auf die sich die unterbestimmte Historie bezie­ hen soll -, dann ist es allerdings eine noch offene Frage, wann die Texte die Funktion besitzen, Quellen für Geschichten zu sein, 20 Vgl. aber Herbert Schnädelbach, ,Etwas Verstehen heißt Verstehen, wie es gewor­ den ist“, a. a. O., 144. 21 Odo Marquard, Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften, a. a. O., 107. 22 Ebda, 108. 23 Rolf-Peter Horstmann, Wahrheit aus dem Begriff, a. a. O., 10.

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und was getan wird, wenn es darum geht, eine Geschichte zu schreiben.

3. Sinn- und Argumentationsdimension philosophischer Texte Eine zureichende Antwort auf diese Frage wäre es nicht, wenn man nur sagte, es gälte, philosophische Texte lediglich zu verste­ hen. Ein Verständnis von Texten ist in jedem Falle nötig, in wel­ chem Zusammenhang man sie auch zur Kenntnis nimmt. Mit der spezifischen Sinndimension, welche Texten oder Textkomplexen („Werken“ also, die auf einen einzigen Verfasser verweisen) einen holistischen Charakter verleiht, appellieren Texte an das Verstehen. Nun könnte man allerdings der Ansicht sein, daß es nach klassischer Bestimmung von Philosophie nicht Aufgabe von Philosophen ist, sich auf diese Sinndimension ausdrücklich einzulassen, die immer sehr individuelle Züge trägt. Und tat­ sächlich könnte im Erschließen dieses individuellen Sinnmo­ ments eine Aufgabe der Philosophiehistorie liegen. Um aus der Arbeit noch einmal zwei Beispiele für dieses Moment aufzugrei­ fen, das philosophisch zumeist nicht von Interesse ist: Kants Präferenz der Moralität oder Hegels Auszeichnung „absoluter Zucht des Bewußtseins“ verweisen auf vorrationale „begriffs­ und zeichenlose Einsichten]“, die zwar „Begriff, Zeichen, Spra­ che als Explikationsbedingungen ihrer selbst ernötigjen]“24, nicht aber daraus entspringen. Diese Präferenzen wurzeln viel­ mehr in einer „prädiskursiven Bekanntheit“ des Menschen mit sich selbst, der in der Welt im Verhältnis zur Natur und zum Mit­ menschen konkret existiert25. Im Hintergrund von Philosophie stehen „Gedankenmotive“ und „grundlegende Intuitionen“26, 24 Hans Michael Baumgartner, Replik, in: P. Kolmer/H. Korten, Grenzbestim­ mungen der Vernunft, a. a. O., 469-493,477. Vgl. dazu auch: Josef Simon, Das Subjekt und ,seine‘ Vernunft, in: ebda, 51-75. 25 Vgl. Baumgartner ebda; auch: ders., Anspruch und Einlösbarkeit, a. a. O., 55. 26 In diesem Sinne stehen auch im Hintergrund der Theorie des kommunikativen Han­ delns „ein Gedankenmotiv und eine grundlegende Intuition“: Diese Intuition „geht [...] auf religiöse Traditionen, etwa der protestantischen oder der jüdischen Mystiker zurück, auch auf Schelling“. Diesem Hintergrund verdanken „theoretische Wahr­ heiten“, daß es sie „tatsächlich nur noch in der Form von Plausibilitäten“ geben kann: Jürgen Habermas, Dialektik der Rationalisierung, in: Ders., Neue Unübersicht­

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die individuelle Züge tragen. Sie sind es, die, unausdrücklich bleibend, das Philosophieren (und die darin geschehenen Be­ stimmungen von „Philosophie“, „Vernunft“ oder „Philosophie­ geschichte“) in eine jeweils spezifische Richtung lenken, die nicht für jedermann auf Anhieb verständlich oder akzeptabel ist. Sie stehen für das „Wesentliche im Vorhergehenden“, das von späteren ,Denkern‘ „oft verlassen, vielleicht nicht einmal mehr verstanden“ wird27. Sie sind es, die alsbald preisgegeben bzw. im Lichte anderer Intuitionen und Motive unbeachtet blei­ ben. So wurde z.B. von Hegel die Kantische Philosophie ohne das Motiv rezipiert, einen „ewigen Frieden“ in der Philosophie zu stiften, und so bezog man sich später auf die Hegelsche Phi­ losophie unter Preisgabe derjenigen Wissenschaft, deren Sinn es letztlich war, die reinste „Darstellung Gottes“ zu sein, die Logik. In den sachbezogenen Argumentationszusammenhängen der Philosophie sind solche Motive und Intuitionen nicht von her­ ausragendem Interesse, weshalb es denn im philosophiehistori­ schen Kontext anders sein könnte. In der Philosophie ist mithin auch der individuell philosophierende Mensch nicht von ent­ scheidender Bedeutung, weshalb denn auch dies in der Philoso­ phiehistorie anders sein könnte. Eine Philosophiehistorie, die dem konkret existierenden Menschen verpflichtet ist, könnte eine Philosophie flankieren, in der der Mensch, wie z. B. bei Kant, nur nach Begriffen thematisch wird. Sie könnte aber auch einer Philosophie entgegengesetzt werden, in der er, wie bei Hegel, aus der Philosophie ganz ausgeblendet wird. Tatsächlich ist seit Hegel an die Stelle des Menschen oft die selbstreflexive Struktur getreten: der „Geist“, „die philosophische Rede“, „Rationalität“ oder der „Diskurs“. Mit Emphase betrachtete Michel Foucault das Verschwinden des Menschen als einen Gewinn:

„Seltsamerweise ist der Mensch“ - so Foucault in einer berühmt ge­ wordenen Passage -, „dessen Erkenntnis in naiven Augen als die älteste Frage seit Sokrates gilt, wahrscheinlich nichts anderes als ein bestimm­ ter Riß“ in der durch den Diskurs gestifteten „Ordnung der Dinge, eine lichkeit. Kleine politische Schriften V, Frankfurt/M. 1985, 167-208, 202 und 206f. Habermas hat jedoch dem individuellen Sinn- und Plausibilitätsmoment zwar in exo­ terischen Zusammenhängen (in Interviews), nicht jedoch in bezug auf seinen eigenen Theorie-Vorschlag Rechnung getragen. 27 Karl Jaspers, Geschichte der Philosophie, a. a. O., 107.

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Konfiguration auf jeden Fall“, welche in einer sehr jungen „Dispositi­ on“ des Diskurses gezeichnet wurde. Aus dieser Disposition „stammen alle Schimären neuer Humanismen, alle Leichtigkeiten einer Anthro­ pologie [...]. Indessen gibt es eine Stärkung und tiefe Beruhigung, wenn man bedenkt, daß der Mensch lediglich eine junge Erfindung ist, eine Gestalt, die noch nicht zwei Jahrhunderte zählt, eine einfache Falte in unserem Wissen, und daß er verschwinden wird, sobald unser Wissen eine neue Form gefunden haben wird“28. Freilich ist der „Mensch“ als Thema philosophischer Diskurse, so zeigt sich etwa bei Kant, „eine junge Erfindung [...], eine Gestalt, die noch nicht zwei Jahrhunderte zählt“. Aber daß der „Mensch“ nur eine „einfache Falte in unserem Wissen“ wäre „und daß er verschwinden wird, sobald unser Wissen eine neue Form gefunden haben wird“, ist ein rationalistischer Glaube (wie Foucault später selbst gesehen hat). Er wird erschüttert, wenn man sich näher auf die Texte einläßt, in denen „unser Wis­ sen“ seine Formen fand. Gelesene Texte weisen darauf hin, daß „Mensch“ nicht nur eines ihrer Themen ist. Sie weisen auf kon­ kret existierende Vernunftwesen, auf bestimmte Menschen, auf Individuen als ihre Urheber hin. Gleichwohl wird selbst dort, wo man mit dem individuell existierenden Menschen rechnet, wie z. B. bei Kurt Flasch, das „Verhältnis von Denkinhalt und In­ dividualität“ als „problematisch bis zur Paradoxie“ empfunden, weil, „wenn gedacht wird, [...] das Gedachte nicht nur einem Individuum angehört“29. Die Dinge so zu sehen, heißt aber noch einmal -, sie platonisch zu sehen. Nicht platonisch gesehen, gehört das Denken nur dann nicht nur einem Individuum an, wenn es von ihm selbst oder autorisierten Personen der Öffent­ lichkeit zugänglich gemacht worden ist. Nicht platonisch ge­ sehen, kann ferner das individuelle Sinnmoment im Philoso­ phieren selbst als Ausdruck gemachter und auf höchstem Reflexionsniveau verarbeiteter lebensweltlicher Erfahrungen angesehen und insofern als etwas verstanden werden, das zu kennen ein Gewinn sein kann.

28 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, a. a. O., 27. 29 Kurt Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter, a. a. O., 15.

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Philosophie kann mit ihrem jeweils individuellen Sinn- und Evidenzhintergrund durchaus als Reflex auf Erfahrungen ver­ standen werden, die in einer „kulturell gestalteten Welt“ zu ma­ chen sind und eine „persönlich existentielle Weltsicht“ zur Folge haben (Hans Michael Baumgartner): vor allem Erfahrungen in „Grenzsituationen“ (Karl Jaspers), in denen zu Bewußtsein kommen kann, daß für Menschen nicht alles machbar, be­ herrschbar oder änderbar ist, und vor allem das nicht geändert werden kann: daß Menschen sterben müssen. Philosophische Texte lassen sich von solchen Grunderfahrungen her aufschlie­ ßen. So wurde in dieser Arbeit deutlich zu machen versucht, daß sich Kants und Hegels Philosophiegeschichtsphilosophien als Antworten auf das Problem der Sterblichkeit auffassen lassen. Die Antworten fallen hier, wenn auch unterschiedlich radikal, so aus, daß gerade gegen das Bewußtsein, sterben zu müssen, kompensatorisch Philosophie aufzubieten gesucht wird. Zu­ gleich sind es Versuche, das damit zusammenhängende Problem zu bewältigen, daß für Menschen die Zeit zu kurz ist, als daß sie sich mit Innerweltlichem, z.B. mit Texten, die sie nicht selbst verfaßt haben, allzu lange aufhalten könnten. So kann die Ge­ schichtsphilosophie der Philosophie als eine Form der Bewälti­ gung des sterblichkeitsbedingten Problems verstanden werden, mit allen Texten, die man nicht selbst verfaßt hat, grundsätzlich schon fertig zu sein, noch bevor man sie gelesen hat. Mit einer individuellen Evidenz- und Sinndimension philoso­ phischer Konzepte zu rechnen, berührt nicht deren argumenta­ tiven Kern und bedeutet nicht, daß nicht immer auch noch die (Kantische) Frage zu stellen wäre, wie (gut) begründet das ist, was eine Philosophie in einer bestimmten Sinnperspektive über die Welt im ganzen sagt. Und es schließt auch nicht aus, daß gemessen an Prinzipien der Würde der Person und der Humani­ tät (wie auch immer diese Prinzipien begrifflich expliziert wer­ den mögen) nicht gleichsam in Form eines Russellschen Ge­ dankenexperiments immer wieder neu zu erproben wäre, welche ethischen Konsequenzen es hätte, wäre die Welt so, wie sie nach Auffassung eines Philosophen beschaffen sein müßte. Und wenn es dem Philosophen im Philosophiehistoriker zukommt, solche Fragen zu stellen, so könnte es dem Philosophiehistoriker im Philosophen zukommen, erst einmal die Sinndimension philoso­ phischer Konzepte zu öffnen, und das heißt: in hermeneutischer

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„Kunst, aus einem Text“ in dieser Hinsicht „herauszukriegen, was nicht drinsteht“30. Diese Kunst, Texte ihrem Eigensinn nach aufzuschließen, bildete dann die Basis für moderate philosophische Beurteilun­ gen des Gelesenen, in denen diesem ein Veto gegen philosophi­ sche Sinnproduktionen eingeräumt bleibt, die über die Texte nur „oberflächlich“ hinweggleiten31. Zugleich gäbe sie Argumenta­ tionen Raum, in denen das Gelesene als eine „Meinung“ akzep­ tiert werden kann - in modernerer Formulierung: als etwas, das ,in der performativen Einstellung der ersten Person‘ (Jürgen Habermas) in die Diskussion gebracht worden ist. Der Aus­ druck „Meinung“ bezeichnete dann nicht mehr eine, sei es undurchschaute oder wirkliche, Entität in einem Gegenstandsbe­ reich.

Er hätte nur noch metatheoretischen Status:

Seine

Verwendung zeigte an, daß der Interpret in begründungsorien­ tierter Einstellung Urteile vorläufig suspendiert hat, aber auch, daß seine Urteilssuspensionen nicht in definite Urteile über das Gelesene einmünden werden, in den richterliche Vernunft- und Machtbefugnis in Anspruch genommen ist. Denn auf der einen Seite ist es unmöglich, die Gründe zu eruieren, die jemanden tatsächlich bewogen haben zu sagen, was er gesagt hat. Auf der anderen Seite stehen Auseinandersetzungen mit Texten unter einschränkenden Bedingungen, die extreme Urteile illegitim machen. Ein extremes Urteil wäre es, wollte man z. B. behaup­ ten, die Hegelsche Philosophie habe nichts (mehr) zu sagen oder nie etwas zu sagen gehabt, ebenso extrem aber auch, würde man diese Philosophie in allen Hinsichten zur „wahren Philoso­ phie“ erklären. Nicht minder extrem ist es aber auch, wenn man, wie Lucien Braun, den Mittelweg einschlägt und im Vorhinein entscheidet, daß „wir“ (wer auch immer dieses „wir“ dann reprä­ sentieren mag) heute „Abstand“ hauptsächlich zum Hegelschen

Denken gewonnen haben, so daß Hegel „uns“ gleich­

wohl noch immer bestimmt. Solchen Globalurteilen gegenüber sollte grundsätzlich offen bleiben, ob der Inhalt von Büchern nicht in bestimmten Hinsichten und Zusammenhängen aus gu­

30 Odo Marquard, Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, a.a.O.,117. 31 Karl Jaspers, Geschichte der Philosophie, a. a. O., 105.

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ten (und noch immer guten) Gründen schon Zeitgenossen zum Abstandnehmen Anlaß gegeben hat (das weiß man dann historisch), während umgekehrt zugleich auch offen gehalten werden sollte, ob Texte nicht ein Potential an Argumenten, Ein­ sichten, Überlegungen enthalten, das noch immer bedenkens­ wert ist.

4. Die Kenntnis von Texten im Nachhinein und in zeitlichen Zusammenhängen Texte fordern dazu heraus, daß man sich auf die unterscheidba­ ren Textdimensionen des Sinns und der Argumentation einläßt. Doch sie stellen noch in einer anderen Hinsicht Anforderungen an den Interpreten. Wenn man davon ausgehen kann, daß es selbst im Philosophieren eine große Rolle spielt, daß man nicht nur ein Buch, sondern viele Bücher kennt (darauf haben gerade die Theorien geschichtlicher Vernunft noch einmal aufmerksam gemacht), so kann auch angenommen werden, daß Texte auch in philosophischen Zusammenhängen immer noch in einer zeitli­ chen Perspektive gelesen werden: Man bezieht im Nachhinein Früheres auf Späteres oder Späteres auf Früheres zurück. In phi­ losophischen Texten können selbst schon solche Beziehungen hergestellt sein. Und zumeist ist es der Fall, daß auf das Denken anderer (verstorbener oder noch lebender) Personen Bezug ge­ nommen ist: In Abhängigkeit vom jeweils verfolgten Projekt sind bestimmte Texte ausgewählt und interpretiert und ausge­ wählte Aussagen, die als besonders bedeutsam bewertet wurden, in einen neuen Kontext eingebettet worden. Wenn dies nun auch den Interpreten nicht davon entlastet zu vergleichen, wie sich z.B. Kants Deutung der Humeschen Philosophie oder Hegels Deutung der Kantischen Philosophie zu dem verhält, was man unabhängig von solchen Deutungsrahmen über Hume oder Kant sagen könnte, so ist aber doch festzuhalten, daß es einen Typus von Aussagen gibt, den philosophische Konzepte niemals enthalten können: Feststellungen über Geschehnisse, die, relativ zum vorgelegten Konzept, erst später eingetreten sind, Aussagen also darüber, was tatsächlich noch geschehen wird. Freilich ist nun wiederum die Philosophiegeschichtsphiloso­ phie der - allerdings vergebliche - Versuch, vorauszusagen, was

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„alle Zukunft“32 mit sich bringt. Es wurde gezeigt, wie Kant, Hegel oder Braun in der Annahme, man sei philosophisch nun der Wahrheit ansichtig geworden - der Wahrheit, um die es einzig gehen kann -, philosophiegeschichtsphilosophisch daran gingen, das bis dato auf philosophischem Terrain Geschehene so auszulegen, als sei es seinem letzten Sinn nach bereits jetzt er­ kennbar und also das Ende aller Zeit, die endgültige Zukunft schon herbeigekommen. Nun ist es, wiederum nach klassischem Verständnis, nicht Aufgabe der Philosophie zu untersuchen, was aus solchen Konzeptionen jeweils später geworden ist: wie lange und in welchen Zusammenhängen und unter welchen Gesichts­ punkten sie bislang rezipiert worden sind. Denn mögen manche Philosophen konzeptuell auch durchaus mit der „trivialen Mög­ lichkeit“ rechnen können, daß die „Wahrheitsansprüche“, die sich an ihre Ansätze binden - es handelt sich um (philosophi­ sche) Ansprüche von „universaler“ Reichweite, die als solche „Raum und Zeit transzendieren“ - „morgen oder an einem anderen Orte“ „revidiert“ werden33. Keiner kann mit der Mög­ lichkeit rechnen, daß man morgen oder an einem anderen Ort diesen Wahrheitsanspruch, anstatt ihn (argumentativ) zu revi­ dieren, gar nicht weiter zur Kenntnis nimmt, weil auch Spätere vielleicht noch tun, was derjenige schon getan hat, der ihn zur Diskussion gestellt hat: nämlich aus vorliegenden und als be­ deutsam geltenden Konzepten einzelne Gedanken, Überlegun­ gen, Grundbegriffe zu übernehmen unter Preisgabe dessen, was anderem Denken dabei gerade das Wesentliche war34.

32 Einen erneuten Ausgriff in „alle Zukunft“ wagt Ulrich Johannes Schneider. Seine Diskursanalyse mündet in der These, daß „für alle Zukunft“ das historische Wissen (der „Diskurs“) neben den „selbständigen Formen seiner Artikulation in der Erzählung und in der historischen Erörterung immer auch spezifische Erscheinungs­ formen im wissenschaftstheoretischen und im philosophischen Denken“ hat. Vgl. Die Vergangenheit des Geistes, a. a. O., 321. Ob dies tatsächlich der Fall ist, dies wird sich, so müßte man wohl hinzufügen, aber auch erst in aller Zukunft zeigen. 33 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1988, 247 Anm. 34 Vgl. z.B. Habermas selbst: „Auch wenn ich viel zitiere und andere Terminologien übernehme“, so schreibt er, „weiß ich genau, daß mein Gebrauch mit dem, was die Autoren gemeint haben, manchmal wenig zu tun hat. Was aber ist das merkwürdigste Vergnügen, das man dabei hat? Obwohl ich schwitze über meiner Arbeit, dafür auch viel an Lebensgeschichte verbrauche, macht es mir schon Spaß, wenn ich den Ein­ druck habe, da hast du etwas gesehen, das kannst du argumentativ weiter verarbei­ ten“: Jürgen Habermas, Dialektik der Rationalisierung, a. a. O., 206 f.

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Preiszugeben, was anderem Denken das Wesentliche war, ist, so soll hier behauptet werden, nicht der menschlichen Willkür geschuldet. Es hat etwas mit den nicht zu ändernden Bedingun­ gen zu tun, unter denen das Philosophieren erfolgt: Philosophen verfolgen Projekte und haben, „schicksalszufällig“, nicht genug Zeit, die Texte anderer so zu lesen, wie sie gelesen werden könn­ ten, ja müßten, damit sich ihr Sinn- und Argumentationshinter­ grund erhellt35. Aus der Philosophie (aber auch Philosophiehi­ storie) läßt sich dieser Zufall nicht entfernen. Um noch einmal an Odo Marquard anzuschließen: Wollte man aus der Philoso­ phie vor allem diesen Zufall entfernen, so „hieße [das], zum Bei­ spiel, aus der Philosophie die Philosophen entfernen“ (und aus der Philosophiehistorie den Philosophiehistoriker), aus den Phi­ losophen und Philosophiehistorikern „den Menschen“ und aus dem Menschen schließlich auch das „Allzumenschliche“36. Es gibt aber „keine Philosophie ohne Philosophen“37 (und keine Philosophiehistorie ohne Philosophiehistoriker) und folglich Philosophie (und Philosophiehistorie) nicht ohne den Menschen und das Allzumenschliche. Und das vor allem ist: die Kürze der Lebenszeit und das sich einstellende Bewußtsein davon. Es ist dieses erfahrungsbelehrte Bewußtsein, das auch im Philosophie­ ren letztlich nicht darüber hinwegtäuschen kann, daß die philo­ sophische Zukunft faktisch offen ist. Wenn aber kein Philosoph voraussehen kann, was in Zukunft geschehen wird, ob überhaupt, ob im ganzen oder nur in Teilen, in welchen Kontexten und Hinsichten aufgenommen wird, was er oder andere gesagt und der Öffentlichkeit zugänglich ge­ macht haben, so verhält sich das philosophiehistorische Wissen umgekehrt proportional zu eben diesem in der Philosophie dra­

35 Seit der Erfindung des Buchdrucks wird Literatur als bedrückendes Problem emp­ funden. So klagt bereits 1621 der Oxforder Geistliche Robert Burton: „Es ist wahr, vielen juckt ihr literarisches Fell, und das Bücherschreiben nimmt kein Ende, beson­ ders in unseren Kritzelzeiten, in denen die Druckerzeugnisse Legion sind, sich die Pressen im Belagerungszustand befinden und es jeden gelüstet, sich als Autor einen Namen zu machen. [...]“: Robert Burton, Anatomie der Melancholie. Über die All­ gegenwart der Schwermut, ihre Ursachen und Symptome sowie die Kunst, es mit ihr auszuhalten, aus dem Englischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Ulrich Horstmann, Zürich/München 1988, 24. 36 Odo Marquard, Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Men­ schen, a.a.O., 117. 37 Ebda.

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matischen Sachverhalt, daß Zukünftiges nicht vorausgesehen werden kann, obgleich Ansprüche erhoben werden, die in „alle Zukunft“ ausgreifen. Doch „Wahrheit“ ist nicht per se schon atemporal. Es gibt Aussagen, die in ihrem Wahrheitswert abhän­ gig sind von dem Zeitpunkt, an dem sie geäußert werden38 - ein Sachverhalt, der gerade materiale Geschichtsphilosophien kri­ tisch trifft. Arthur C. Danto hat den privilegierten Standpunkt des Historikers mit großer Plausibilität wie folgt umschrieben:

„Historiker sind im Besitz eines Vorteils, den der Handelnde und des­ sen Zeitgenossen prinzipiell nicht gehabt haben können. Historiker besitzen das einzigartige Privileg, Handlungen in einer zeitlichen Per­ spektive betrachten zu können“39. Insofern bestehe „der Sinn der Ge­ schichtsschreibung“ nicht „darin, von Handlungen solche Kenntnis zu haben, wie sie unmittelbaren Zeugen möglich ist, sondern sie [...] im Zusammenhang mit späteren Ereignissen und als Teilstücke zeitlicher Ganzheiten zu kennen. Sich diesen einzigartigen Vorteil hinwegzu­ wünschen, wäre allerdings töricht [...]. Es wäre dies, in Analogie zu Platons Gleichnis, der Wunsch, in die Höhle zurückzusteigen, von der aus gesehen die Zukunft noch immer opak und undurchdringlich ist. Die Menschen würden viel darum geben, wären sie imstande, ihre Handlungen mit den Augen künftiger Historiker zu sehen“40. In diesem Sinne bekäme Gelesenes erst dann, wenn es im zeit­ lichen Nachhinein in den thematisch bestimmten Entwurf eines zeitlichen Ganzen („temporal whole“) eingebettet werden kann, „die zusätzliche Qualität geschichtlicher Gegenständlichkeit“41 - einer nicht sensualistisch definierbaren Gegenständlichkeit, einer Gegenständlichkeit vielmehr, mit der sich eine spezifische Verständnis-„Dimension“42 eröffnet: Was jetzt gelesen werden kann, erhält in temporalen Geschichtsentwürfen eine seine Prä­ senz hier und jetzt transzendierende „historische Bedeutung“ (für zeitlich Späteres). Diese Bedeutung, die bestimmten „Ereig­ nissen“ relativ zu anderen zugesprochen wird, ist freilich nicht definit: Ein und dasselbe Ereignis kann in eine unübersehbare 38 Vgl. dazu Arthur C. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, a. a. O., 63 ff. 39 Ebda, 294. 40 Ebda. 41 Hans Michael Baumgartner, Narrative Struktur und historische Objektivität. Wahrheitskriterien im historischen Wissen, in: J. Rüsen, Historische Objektivität. Aufsätze zur Geschichtstheorie, Göttingen 1975, 48-67, 55. 42 Ebda.

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Mannigfaltigkeit thematisch bestimmter Entwürfe zeitlicher Ganzheiten (nach den unterschiedlichsten inhaltlichen Gesichts­ punkten und Leitfäden) eingebettet und auf spätere Texte bezo­ gen werden43. Und d. h., die Vergangenheit liegt keineswegs fest. Nicht nur ist im Grundsatz offen, was die Zukunft (an philo­ sophischen Projekten) bringen wird. Offen ist auch die Vergan­ genheit, insofern sich ein Geschehnis in unabsehbar viele Ge­ schichten einbetten läßt. Doch in allen erscheint es in einer Perspektive, in der es Zeitzeugen niemals erscheinen kann. So ist es z. B. der Rahmen einer erzählbaren Geschichte, in der das, was Kant tat, als er der Vernunft eine entwicklungsfähige „Na­ tur“ vindiziert hat, in seiner großen (historischen) Bedeutung für Späteres zur Geltung kommt: Daß Kants Überzeugung von einer Vernunftnatur in der Folgezeit immer wieder variiert wer­ den und z.B. in Hegels Annahme einer „trieb“-haften Wirk­ samkeit des seiner selbst noch unbewußten „Begriffs“ ebenso fortleben sollte wie in der für neuere Theorien charakteristi­ schen Vorstellung von der vormals nur naturwüchsigen Genesis in Geschichte eingebetteter Vernunft, dies weiß man nur im Nachhinein und im Zusammenhang eines sich in Geschichten artikulierenden historischen Wissens. Das philosophiehistorische Wissen läßt sich als Resultat einer retrospektiven, der Materie nach auf mehrere Texte (als Quel­ len) bezogenen, spezifischen Konstitutionsleistung ausweisen. Nun geht es jedoch nicht immer schon ausdrücklich darum, Ge­ schichten zu schreiben, wenn man Texte liest, die man nicht selbst verfaßt hat. Ausdrücke wie ,Philosophie‘, ,Vernunft‘ oder ,Vernunftentwicklung‘, aber auch ,Kantische‘,

,Hegelsche

Philosophie4 oder ,Deutscher Idealismus4, können, wenn inter­ pretiert wird, für Entwürfe temporaler Einheiten (Geschichten) stehen, die nur in einer Erzählung ihren Ausdruck finden kön­ nen, in der geschildert wird, was in der Vergangenheit tatsäch­ lich geschah. Aber sie können auch für atemporale Interpreta­ tionsentwürfe stehen, die in sach- oder problemorientierte Analysen eingebunden sind. Gilt aber das erstere, dann handelt sich um „Narreme“, d. h. um Terme in „narrativer Supposi-

43 Vgl. Hans Michael Baumgartner, Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft, Frankfurt/M. 1972, insbes. 275 ff.

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tion“44, durch die angezeigt ist, daß es darum geht, im zeitlichen Nachhinein in thematisch bestimmter Hinsicht und unter Bezug­ nahme auf mehrere, zu verschiedenen Zeitpunkten entstandene (also datierbare) Texte Veränderungen festzuhalten, die nicht vorhersehbar waren. Wenn Geschichten erzählt werden sollen, dann bestehen an­ dere Forderungen und ist vom Gelesenen anderes relevant oder signifikant45, als im Rahmen von Interpretationsentwürfen, die nicht ausdrücklich zeitbezogen sind. Nun bedürfte es freilich einer ausführlichen Erwägung dieses Typus von Konstitution gleichsam neuer Texte, die Geschichtsdarstellungen wären, in welchen zugleich der individuellen Sinndimension der Texte Rechnung getragen und ihrer spezifischen Argumentations­ dimension ein Vetorecht eingeräumt bleibt. Es bedürfte einer Historik der Philosophiegeschichtsschreibung - jedenfalls dann, wenn man nicht davon ausgeht, Philosophiehistorie läge schon dann vor, wenn man nicht nur denkt, sondern sich mit Philoso­ phie und also Texten beschäftigt, die man nicht selbst verfaßt hat. Wenn in den neueren Philosophiegeschichtstheorien aber wenigstens darauf hingewiesen wurde, daß selbst zur Philoso­ phie der Bezug auf das Denken anderer hinzugehört, so wäre dem einerseits hinzuzufügen, daß man Gehörtes oder Gelesenes auch in sachorientierten Zusammenhängen nicht richtig verste­ hen könnte, wäre man historisch völlig „illiterat“, wie Danto es nennt46, d.h. nicht in der Lage, es in zeitliche Zusammenhänge einzuordnen und eine Geschichte zu erzählen. Andererseits wäre aber auch festzuhalten, daß Philosophiehistorie nur dort vor­ liegt, wo Terme wie ,Hegelsche Philosophie4, ,Kantische Phi­ losophie4, Vernunft4 oder Vernunftentwicklung4 primär für Ent­ würfe zeitlicher Ganzheiten oder für erzählbare Geschichten stehen sollen, d. h. wo der Entschluß vorhanden ist, Philosophie­ geschichte zu betreiben. Beides wäre in einer Historik näher auszuführen. In ihr ließen sich zugleich Kriterien nennen, die es erlaubten, ein Werk differenzierter als ein genuines Philosophie­ geschichtswerk, oder das, was man selbst zu unternehmen ver­ 44 Hans Michael Baumgartner, Thesen zur Grundlegung einer transzendentalen Historik, in: H. M. Baumgartner/J. Rüsen (Hrsg.), Seminar: Geschichte und Theorie. Umrisse einer Historik, Frankfurt/M. 1976, 274-302, insbes. 295. 45 Arthur C. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, a. a. O., 215. 46 Ebda, 151.

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sucht, als Philosophiehistorie zu beurteilen. Solche Kriterien könnten freilich nur formale und nur negative sein, da für die Philosophiegeschichtsschreibung im hier vorgeschlagenen Ver­ ständnis weder Themen noch Zwecksetzungen noch Leitfäden apriori ausfindig gemacht werden können. Neben dem funda­ mentalen formalen Aspekt des zeitbezogenen Erzählentwurfes könnten zwei der bedeutsamsten negativen Kriterien noch sein: a) daß auf „Eindeutigkeit“47 verzichtet wird, wie sie durch Typo­ logien philosophischer Grundpositionen, sei es im Sinne Kants oder idealistischer Philosophie, erreicht werden sollte; b) daß von intentionalen Prädikaten überwiegend kein Gebrauch ge­ macht wird48, da jeweils frühere Ereignisse zu späteren in Bezie­ hung gesetzt werden, in bezug auf deren Eintreten die Akteure selbst - die dem ersten Kriterium gemäß keine diskursiven Ma­ krosubjekte einer substantialistisch verstandenen Geschichte sind - keinen Einfluß hatten49. Eine Philosophiegeschichts47 Odo Marquard, Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften, a. a. O., 108. 48 Danto unterscheidet Handlungsbeschreibungen von historischen Beschreibungen eingetretener Geschehnisse: Beschreibungen von (zielgerichteten) Handlungen, wie etwa in der Aussage ,X schreibt ein Buch‘, greifen in die Zukunft aus, setzen aber logisch nicht voraus, daß das Ziel auch erreicht wird, das Buch also fertiggestellt wird, damit der bezeichnete Satz wahr ist. Demgegenüber fordern Erzählungen das tatsäch­ liche Eingetretensein der Ereignisse, die aufeinander bezogen werden. Vgl. dazu Ana­ lytische Philosophie der Geschichte, a. a. O., 232 ff. 49 Die Ergebnisse Dantos sind freilich nicht identisch mit der Deutung dieser „Er­ gebnisse“ etwa bei Jürgen Habermas. In Habermas’ Rezeption der „Ergebnisse ana­ lytischer Geschichtstheorie“ wird die Historie auf handelnde Personen bezogen: Diese sind Ursprung einer „Geschichte“, die sich demzufolge „auf Interaktionen auf[baut]“; d. h., Geschichte wird dadurch definiert, daß sie „von mindestens einer handelnden Person getragen und zugleich ertragen [wird] - der Handelnde ist als Autor einer Ge­ schichte zugleich ,in diese verstrickt“1 (Jürgen Habermas, Geschichte und Evolution, a. a. O., 205). Habermas’ subjekt- und substanzphilosophisches Verständnis von Ge­ schichte liegt auch in der Theorie des kommunikativen Handelns noch vor: Der Erzäh­ ler, so Habermas hier, werde bereits durch die „Form der narrativen Darstellung grammatisch dazu angehalten, an der Identität der handelnden Personen wie auch an der Integrität ihres Lebenszusammenhanges ein Interesse zu nehmen. Wenn wir Ge­ schichten erzählen, können wir nicht umhin, indirekt auch zu sagen, wie es den Sub­ jekten, die in sie verwickelt sind, ,ergeht‘, und welches Schicksal die Kollektive, denen sie angehören, ,erfahren‘“ (Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Han­ delns, Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt/M. 1981, 207 f.). Nun bezieht auch Danto erzählbare Geschichten auf ein „Subjekt der Veränderung“, d. h. auf ein ontologisches Substrat, damit nicht aber schon - und gerade nicht - auf den Interaktions- bzw. Lebenszusammenhang nur von Personen: Vgl. Analytische Phi­ losophie der Geschichte, Kapitel XI, 371 ff.

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Schreibung, die diesen Kriterien genügte, würde dem Sachver­ halt gerecht, daß das Unbedingte in der Philosophiegeschichte nicht gegeben und somit deren „Einheit nicht Tatbestand ist“50. Die Einheit der Philosophiegeschichte ist nur eine „Idee“51 nicht im Sinne einer Idee von der Vernunft oder auch der Philo­ sophie in einer wie Natur gegebenen Geschichte, sondern im Sinne eines materialiter nicht näher bestimmbaren Inbegriffs al­ ler erzählbaren Geschichten im Zusammenhang mit Philoso­ phie, wie er am Ende der Zeit, in „aller Zukunft“, eingelöst sein würde. Für eine so verstandene Philosophiegeschichtsschreibung gibt es keinen Ersatz. Über die (Verstandes-)Funktion hinaus, eine Antwort auf eine jeweils thematische bestimmte Frage zu geben, was in der Vergangenheit geschah, lassen sich noch drei speziel­ lere (Vernunft-)Funktionen nennen, die ihr zugesprochen wer­ den können.

5. Wozu Philosophiehistorie? 5.1 Orientierungsfunktion Vergangenes im Lichte von unvorhersehbar Zukünftigem ken­ nen zu können, könnte sich als der einzige Vorteil erweisen, den die Lebenden, die an Philosophie ein Interesse haben, den nicht mehr Lebenden gegenüber, die ein gleiches Interesse hatten, be­ sitzen. Denn es ist fraglich, ob sich die Nachgeborenen nur auf­ grund einer anderen philosophischen Programmatik schon ein höheres Maß an Rationalität oder Vernünftigkeit und Bewußt­ heit zuschreiben können. Vergangenes im Lichte einer nicht vor­ aussehbaren Zukunft kennen zu können, ist jedenfalls ein siche­ rer Vorteil. Deshalb wird man nicht sagen können, es könnte vom historischen Wissen ( „historischer Bildung“ nach Jürgen Mittelstrass) jemals zu viel geben. Aber es kann von ihm zu wenig geben, und es gibt von ihm deutlich dann zu wenig, wenn an die Stelle des Erzählens von Geschichten die philosophische „Betrachtung“ von Geschichte tritt. So mögen denn vor allem die spekulativen Legenden der Philosophiegeschichte gut erfun­

50 Karl Jaspers, Geschichte der Philosophie, a. a. O., 105. 51 Ebda.

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dene, spannende und gelegentlich vielleicht sogar heuristisch wertvolle Geschichten sein. Aber sie lassen Menschen in reiner Gegenwart orientierungslos zurück: Kant ist als spekulativer Philosophiegeschichtsphilosoph präsent, kann aber auch als Hi­ storiker präsent sein, während Hegel präsent ist als Denker der Geschichtlichkeit. So bewirken die Legenden - spekulative frei­ lich mehr als kritische -, was Hegel wie folgt formuliert, aller­ dings auch affirmiert hat: Sie versetzen das Bewußtsein „in die reine Region der Begriffe“, so daß es nicht mehr weiß, „wo es in der Welt ist“52. Der Mensch lebt aber in der Welt und, wie man im Lesen philosophischer Texte erfahren kann, ausgesprochen individuell in ihr. Soll Orientierung in dieser Welt gelingen, auch in der Welt der philosophischen Projekte oder „Geschäfte“, dann bedarf es so etwas wie historischer Urteilskraft, die durch „historische Bildung“ befördert wird: D. h. man muß mit Bezug auf das, was jetzt und hier gegeben bzw. gelesen werden kann, die in temporaler Hinsicht richtigen Unterscheidungen treffen und gegebenenfalls eine Geschichte erzählen können. In und mit der Historie der Philosophie könnte sich zugleich wenn auch immer nur im Nachhinein - der Wunsch derjenigen erfüllen, die, im Anschluß an Platon formuliert, nicht in der Höhle der zeitlichen Gegenwart eingeschlossen sein wollen, „von der aus gesehen die Zukunft noch immer opak und un­ durchdringlich ist“ (Danto). Aber mehr noch als nur dies: In der Historie der Philosophie könnte sich der Wunsch all derer erfüllen, die nicht in Platons Höhle selbst gefangen sein wollen: in einer intelligiblen Welt mit ewiger Gegenwart, von der aus gesehen die Philosophie selbst weder eine offene Zukunft, noch eine offene Vergangenheit hat. Sollte sich die Philosophie daher heute tatsächlich durch ein zuvor nie dagewesenes textorientier­ tes Selbstverständnis auszeichnen, zu dem ein „historisches Be­ wußtsein“ im angedeuteten Sinn hinzugehört, dann vielleicht ge­ rade aus dem Grunde, weil man versucht, der ewigen Gegenwart einer intelligiblen Welt idealistischer Provenienz, d. h. dem Deutschen Idealismus, zu entrinnen.

52 Vgl. die Einleitung zu dieser Arbeit.

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5.2 Korrektivfunktion Aus Texten - im Einrechnen sowohl einer jeweils individuellen Evidenz- und Sinndimension als auch einer spezifischen Argu­ mentationsdimension - im Nachhinein und in zeitlichen Zusam­ menhängen „herauszukriegen, was nicht drinsteht“, könnte die Philosophiehistorie auch dazu qualifizieren, eine Korrektivfunk­ tion im Rahmen der Philosophie selbst zu übernehmen. Die von ihr in Forschungszusammenhängen geleistete Arbeit an den Quellen könnte eine Lesbarkeit von Texten (vor allem älterer Texte) sichern, die für jedermann akzeptabel wäre, unangesehen dessen, was er unter Vernunft, Philosophie oder Geschichte ver­ steht. Damit könnte die Philosophiehistorie zugleich, um ein Kantisches, aber auch Marquardsches Bild aufzugreifen, einen (unentscheidbaren) „Krieg“ auf philosophischem Terrain vermeiden helfen: nämlich den „Bürgerkrieg“ zwischen denjeni­ gen, die auf „eindeutige Auslegung des absoluten Textes“ durch den „absoluten Leser“ dringen (zumal im Stimmengewirr der spekulativen Geschichtslegenden), und denjenigen, die derarti­ gen Versuchen einfach entgegensetzen, die Geschichte der Phi­ losophie dürfe „nicht als eine Sammlung von Wahrheiten hinge­ stellt werden, denn es gibt mehr Irrtümer als Weisheit in der traditionellen Philosophie“53. Bekanntlich hat sich für den Neo­ positivismus die gesamte „traditionelle Philosophie“ so darge­ 53 Hans Reichenbach, Die alte und die neue Philosophie: Ein Vergleich. Aus: Ders., Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie, Braunschweig (1953) 21968,339-365. Reichenbachs Neopositivismus wollte nicht den Wert der Philosophiegeschichts­ schreibung herabsetzen. Aber er mahnte doch an, daß Philosophiegeschichtsschrei­ bung „nicht Philosophie ist. Wie alle historische Forschung sollte sie mit Hilfe wissen­ schaftlicher Methoden und psychologischer und soziologischer Erklärungen getrieben werden. Aber die Geschichte der Philosophie darf nicht als eine Sammlung von Wahr­ heiten hingestellt werden, denn es gibt mehr Irrtümer als Weisheit in der traditionel­ len Philosophie“. Die Orientierung der Philosophiegeschichtsschreibung am naturwis­ senschaftlichen Erkenntnisideal ist das Resultat einer Absage an die „traditionelle Philosophie“, die sich nach neopositivistischer Lesart auf eine ,metaempirische‘ Wirklichkeit bezog und philosophische Probleme zugleich in „unbestimmter und phantasievoller Sprache“ behandelte. Der traditionellen wird eine „neue“, „wissen­ schaftliche“ Philosophie entgegengesetzt, die sich in allen Bereichen auf einzelwissen­ schaftliche Erkenntnisse stützt, die Verbindlichkeit naturwissenschaftlicher Verfah­ rensweisen, jedenfalls nach Reichenbach, auch für sich selbst anerkennt und zugleich auf eine kritische Überprüfung des Sinns der Fragen der traditionellen Philo­ sophie dringt (der Fragen nach dem „Wesen“ von Substanz und Materie, dem „Wesen“ von Logik und Ethik oder der „Existenz der Außenwelt und des menschlichen Gei­ stes“). Der Neopositivismus ist in dem antiideologischen Impetus, der ihn kennzeich­

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stellt. So hat sich in dieser Konstellation auf dem Gebiet der Philosophiegeschichtsschreibung gewissermaßen die von Kant beschriebene Konfrontation eines dogmatischen Rationalismus mit einem Empirismus wiederholt, der nicht minder dogmatisch ist, weil er, wie Kant formulierte, alles, was über seinem „Ver­ stand“ liegt, einfach „dreist verneint“. Mit Gründen läßt sich zwischen diesen Standpunkten nicht entscheiden. Daher könnte eine von beiden unabhängige Philosophiehistorie der Ort sein, an dem allgemein akzeptable Geschichten formuliert werden, aber auch das mögliche „Potential an Kritik“54 in philosophi­ schen Texten herausgestellt und gegen philosophisch-dogmati­ sche (seien es rationalistische, seien es empiristische) Text-Deu­ tungen festgehalten wird, für die es charakteristisch ist, daß sie nach einer Formulierung von Karl Jaspers - in den Texten für einfach „nicht vorhanden“ erklären, was ihnen „tödlich“ wäre55. Nun ist Vergangenes zwar insofern „tot“, als es „die Lebenden und Denkenden“ sind, „die das Vergangene zum Leben erwekken und lebendig erhalten“56. Aber das Vergangene ist niemals so tot57, daß man nicht immer noch herausbekommen könnte, wann Interpretationen über Texte oberflächlich hinweggleiten und nur gute Geschichten erfunden werden. Die Korrektivfunktion, die die Philosophiegeschichtsschrei­ bung übernehmen kann, schließt allerdings einen Streit um an­ gemessene (adäquate) Geschichten der Philosophie keineswegs aus. Aufgrund der für Geschichtsschreibung vorauszusetzenden thematisch bestimmten Auswahl des Quellenmaterials gemäß besonderen Interessen und Signifikanzvorstellungen von Histo­ rikern ist keine Geschichte „adäquat“, d.h. im Hinblick auf Be­ stimmungen und Perspektiven vollständig58. Daher setzt sich die Philosophiegeschichtsschreibung dem Streit gerade aus. Streit aber ist, so schon Kant, nicht Krieg, wobei sich gerade das Zuund Geltenlassen von Streitigkeiten auf Dauer als das wirksam­

net, beachtenswert. Aber diese Position steht immer auch noch für eine bequeme Art, mit der „traditionellen“ Philosophie schnell fertig zu sein. 54 Hans Michael Baumgartner, Anspruch und Einlösbarkeit, a. a. O., 61. 55 Vgl. Die HEGEL-Kritik von Karl Jaspers in: Geschichte der Philosophie, a. a. O., 106. 56 Hans Michael Baumgartner, Anspruch und Einlösbarkeit, a. a. O., 44. 57 Vgl. ebda. 58 Ebda, 58.

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ste Mittel zur Neutralisation unentscheidbarer Kriege erweisen könnte. Streitigkeiten deuten in jedem Falle darauf hin, daß eine für jedermann akzeptable Lesbarkeit von Texten immer wieder neu errungen werden muß und durchaus fehlgehen kann. Philosophiegeschichtsschreibung ist letztlich ein „mühsames Geschäft“59.

5.3 Erinnerungsfunktion Vor allem jedoch hätte die Philosophiegeschichtsschreibung der Erinnerung zu dienen: Im Schicksalszufällen unterlegenen phi­ losophischen Leben geht es nicht immer gerecht zu. Denker wer­ den vergessen, gelegentlich auch mit Machtansprüchen zum Schweigen gebracht. Das philosophische Leben ist allzu mensch­ lich. Manche kommen dabei zu kurz. Die Philosophiegeschichts­ schreibung könnte der Bewahrung und der Erinnerung dienen. Dabei haben die in dieser Arbeit behandelten Entwürfe deutlich gemacht, daß Geschichte nicht ohne sittlich-praktische Bewer­ tung konzipiert werden kann. Es bedürfte also eines praktischen Leitprinzips, in dem die „Selbstzwecklichkeit und Nichtinstrumentalisierbarkeit“ des Menschen60 festgehalten wird, in das aber auch die Verletzlichkeit und das Ausgesetztsein der Men­ schen in der Welt als sterblicher Wesen eingetragen werden müßte. Menschen sind nicht nur denkende und auf Kritik hin angelegte Wesen. Und wenn es den Philosophen zukommt zu kritisieren, dann könnte es den Philosophiehistorikern zukom­ men, dies nicht in jedem Fall und unter allen Bedingungen zu tun. Dieses als „Idee der Humanität“ (Hans Michael Baum­ gartner)

bezeichenbare Prinzip kann unterschiedlich expliziert

werden61, nur nicht als das zu realisierende Telos einer wie Natur bereits gegebenen Geschichte. Denn Geschichte in diesem Sin­ ne teleologisch zu konzipieren, das hieße, sie im Widerspruch zum Sinn dieser Idee dogmatisch zu konzipieren. Der genuine Ort dieser Idee ist nur die Philosophiegeschichtsschreibung -

59 Ebda, 61. 60 Ebda, 56. 61 Ebda.

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eine Philosophiegeschichtsschreibung, in der es im letzten um Erinnerung geht. In der Orientierung an eben dieser Idee könnte es nun - alles in allem - gelingen, die Vielfalt des Überlieferten in seinem un­ schätzbaren Wert für den philosophierenden Menschen zur Gel­ tung zu bringen. Es könnte gelingen, was Hans Michael Baum­ einmal so formuliert hat: Das Überlieferte könnte „in seiner Kostbarkeit als flüchtige

gartner

Versuche der Welt- und Selbsterkenntnis des Menschen“ sicht­ bar gemacht und so tradiert werden, daß sich dabei dem „je ein­ zelnen Denkenden und Philosophierenden die Chance“ bietet, „im Schicksal vergangenen Denkens seiner selbst gewahr zu werden: seiner eigenen Versuche und Irrtümer, seiner philoso­ phischen Hoffnungen und Enttäuschungen, seiner eigenen End­ lichkeit, die angesichts der Geschichte des Denkens das letzte, aber für ihn selbst als Vernunftwesen vielleicht doch nicht das allerletzte Wort ist“62.

62 Ebda, 61.

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Personenregister

Adorno, Th. W. 33 Angehrn, E. 152, 211 Aristoteles 35, 107-109, 115, 126, 149, 168,178, 264, 266-272, 275, 308 Ast, F. 88 Augustinus 192-193 Bacon, F. 309, 377 Baumanns, P. 268 Baumgarten, A. G. 33 Baumgartner, H. M. 54-55, 66, 79, 229, 243, 319, 330, 378, 386, 390, 392-394, 396, 399, 404-406, 411-413 Bien, G. 28-29 Blumenberg, H. 229 Braun, L. 29, 30, 32-33, 36, 38, 42-48, 67-69, 71, 76, 80, 84-112, 116, 120, 124, 132, 152, 182, 230, 232 250, 252-253, 263, 296, 358, 378, 379-385, 400, 402 Brucker, J. 88, 300 Burton, R. 403

Foucault, M. 86, 101, 381, 397-398 Fulda, H. F. 139, 146-147, 186, 188, 201, 212, 215, 218, 221, 231 Gadamer, H.-G. 28, 31-32,116,123,130, 386 Garve, Chr. 350,351 Geldsetzer, L. 28, 29-30, 32, 47-48 Grotius, H. 144

Epikur 264-266, 275, 279, 349 Erdmann, J. E. 73 Erhardt, W. E. 30, 34, 44

Habermas, J. 33, 35-36, 109, 396-397, 400, 402, 407 Hartmann, N. 30-31, 36, 41-42 Hegel, G. W. F. 21, 25, 27, 31, 33-34, 36, 40-44, 46-50, 53, 59, 64, 66-69, 73-74, 80, 85-86, 88-91, 94-96, 100, 106, 108­ 109, 112, 116, 119, 123, 125, 130, 133, 135-244, 245-247, 249-253, 257, 262­ 264, 268, 278, 296, 311, 328, 340, 355, 357, 365, 372, 375, 379-380, 382-386, 395-397, 400-402, 405, 409, 411 Heidegger, M. 27, 33, 71, 94, 152-153 Henrich, D. 158, 169 Heraklit 148, 221 Herbart, J. F. 115 Herder, J. G. 219 Herodot 206 Heumann, Chr. A. 88 Hiob 327 Hobbes, Th 335, 353, 377, 378 Höffe, O. 257 Hoffmeister, J. 144,194, 225 Hölderlin, F. 71 Holzhey, H. 30, 393 Horstmann, R.-P. 68, 150-151, 395 Hösle, V. 240 Hume, D. 265, 267, 401

Fichte, J. G. 27, 36, 151, 250-252, 340, 369-370 Fischer, K. 73,147 Flasch, K. 386-387, 398

Jaeschke, W. 150, 162-163, 220-222, 241­ 242, 386 Jaspers, K. 53-55, 66, 229, 264, 394, 397, 399-400, 408, 411

Cohen, H. 393 Danto, A. C. 52, 58, 65-66,111,127-128, 231-232, 238-239, 390, 404, 406-407, 409 Descartes, R. 109,115-116,123-125,130, 224, 367, 377, 378 Dilthey, W. 37, 38,152, 302 Diogenes Laertius 87, 309 Droysen, J. G. 24, 234, 238, 392 Düsing, K. 221

422 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

Kant, I. 21-27, 30-32, 34, 36-50, 53-55, 59, 62, 64,67,70,73-76, 80,82-84,100, 107, 109-110, 112, 115, 119, 123-124, 130, 133, 135-137, 139, 149-151, 153, 162, 170, 177-180, 190, 196, 200, 212, 223, 244, 245-378, 380-385, 391, 396­ 399, 401, 405, 407, 409-411 Kepler, J. 136, 196, 245, 282-283, 330, Konfuzius 126 [354 Kopernikus, N. 355 Koselleck, R. 65 Kroner, R. 36 Laotse 126 Leibniz, G. W. 190,266 Linne, C. von 365 Livius 205 Locke, J. 265, 267,269-273, 275,279,313, 338, 341 Löwith, K. 193 Lübbe, H. 24, 28-29, 32, 37, 42, 46-49, 67-70, 70-84, 84-85, 91, 102, 106, 109­ 113, 116, 120, 132, 253, 373, 379, 381, 383 Luther, M. 143 Lyotard, F. 116 Majetschak, St. 62, 231-238 Marcuse, H. 211 Marquard, O. 5l, 56, 61-62, 66, 81, 133, 226, 265, 302, 316, 374-375, 387-388, 390, 395, 400, 403, 407, 410 Marx, K. 33 Mayer, C. 192 Mill, St. 377 Mittelstraß, J. 29, 31, 33-34, 39, 42, 44, 46-49, 67-68, 71, 76, 112-132, 132-133, 229, 235, 253, 380-384, 408 Montesquieu, Ch. de S. 206-207 Morgenstern, K. 22, 24, 247-248, 259, 353-354 Musil, R. 385 Newton, I. 144, 283, 330, 354 Nietzsche, F. 28 Otto, St. 228 Pascal, B. 71 Paton, H. J. 277,319 Platon 22, 42-44, 80, 126, 144, 227, 241,

244, 264, 266, 275, 300, 349, 377, 378, 383, 404, 409 Popper, R. 232, 239 Puntel, L. B. 142, 181, 185 Racine, J. 71 Ranke, L. von 171 Reichenbach, H. 410-411 Reinhold, K. L. 155, 157, 160, 162, 251Renthe-Fink, L. 151-152 [252 Rickert, H. 234-235 Riedel, M. 300 Rilke, R. M. 71 Rousseau, J. J. 33 Russell, B. 399 Sass, H.-M. 28 Schelling, F. W. J. 26-27, 33, 36, 54, 71, 151, 159, 215, 218, 241, 251-252 Schleiermacher, F. E. D. 116 Schmidt, G. 180 Schnädelbach, H. 29, 33, 35, 104-105, 116, 177-178, 395 Schneider, U. J. 29, 36, 42, 381 Scholtz, G. 25, 50, 54, 135, 167, 358 Scott, W. 171 Simon, J. 396 Specht, R. 54, 125 Spinoza, B. de 220 Stanley, Th. 87 Störig, H. J. 394 Tacitus 206 Tennemann, W. G. 88 Thales 214, 309 Thiel, D. 52 Thukydides 206 Tiedemann, D. 88 Valery, P 116 Vanini, L. 170 Vico, G. B. 33 Weber, M. 35 Welsch, W. 33-34, 36 Windelband, W 28, 31, 69, 71, 74-75, 91, 115, 147, 222 Wolff, Chr. 249, 264, 267, 271, 279, 313, 338, 346, 361, 367, 377, 378 Zimmerli, W. Chr. 29,163

423 https://doi.org/10.5771/9783495997642 .

Petra Kolmer und Harald Korten (Hg.)

Grenzbestimmungen der Vernunft Philosophische Beiträge zur Rationalitätsdebatte 1994. 508 Seiten. Gebunden. ISBN 3-495-47756-X

Das Buch bietet ein lebendiges Spiegelbild gegenwärtiger Be­ stimmungen des Begriffs der Vernunft. Die vorwiegend syste­ matisch,

aber

auch historisch

orientierten Untersuchungen

fokussieren die neuere Diskussion über Struktur und Aufgabe, Reichweite und Grenzen des klassischen wie des „nachmeta­ physischen“ Vernunftbegriffs bis hin zu internen Problemen gegenwärtiger Rationalitätskonzeptionen. Mit Beiträgen von: Karl-Otto Apel, Hans Michael Baumgartner, Manfred Frank, Reinhard Heckmann,

Otfried Höffe,

Ludger Honnefelder,

Wilhelm G. Jacobs, Klaus Konhardt, Hermann Krings, Hans Lenk, Odo Marquard, Annemarie Pieper, Herbert Schnädelbach, Gerhard Schönrich, Josef Simon, Wolfgang Welsch und Thomas Zwenger.

Verlag Karl Alber Freiburg/München https://doi.org/10.5771/9783495997642 .