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German Pages 278 Year 2014
Gaby Temme, Christine Künzel (Hg.) Hat Strafrecht ein Geschlecht?
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Editorial Die weltweiten Transformationen der Geschlechterverhältnisse und Bedeutungszuschreibungen an »Geschlecht« zeigen widersprüchliche Entwicklungen, Kontinuitäten und Wandlungen. Die Veränderung alter und die Konturierung neuer Segmentationslinien stehen in einem komplexen Spannungsverhältnis zueinander. Die Reihe Studien interdisziplinäre Geschlechterforschung stellt regelmäßig neuere Untersuchungen in diesem Themenbereich vor. Dabei wird der Breite möglicher Zugangsweisen Rechnung getragen: Natur-, technik-, sozial- und kulturwissenschaftliche Sichtweisen werden miteinander verknüpft und die Ansätze verbinden die strukturierende Bedeutung der Kategorie »Geschlecht« systematisch mit der Wirkung anderer sozialer Differenzlinien wie »Klasse«, »Ethnizität«, »Rasse« und »Generation«. Die Schriftenreihe gibt Perspektiven Raum, in denen die radikale Infragestellung der heterosexuellen und auf Zweigeschlechtlichkeit basierenden gesellschaftlichen Ordnung im Zentrum steht und zugrunde liegende Machtverhältnisse reflektiert werden. Ziel der Reihe ist es, wissenschaftliche Beiträge zu publizieren, die Fragen nach Geschlechterkonstruktionen und Geschlechterverhältnissen in Kultur, Gesellschaft und Wissenschaft aufgreifen und Impulse für weitere Auseinandersetzungen geben. Angesprochen werden sollen alle an Themen der Frauen- und Geschlechterforschung Interessierten aus dem universitären und weiteren wissenschaftlichen Umfeld – Studierende, Lehrende und Forschende. Zugleich sind die Publikationen auch für jene Praxiskontexte interessant, die sich kritisch mit der geschlechterbezogenen Verfasstheit von Kultur, Technik, Wissenschaft und Gesellschaft auseinandersetzen. Die Reihe wird herausgegeben von den Forschungseinrichtungen »Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung« der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg (ZFG) und »Zentrum Gender Studies« der Universität Bremen (ZGS).
Gaby Temme, Christine Künzel (Hg.)
Hat Strafrecht ein Geschlecht? Zur Deutung und Bedeutung der Kategorie Geschlecht in strafrechtlichen Diskursen vom 18. Jahrhundert bis heute
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INHALT
Einleitung GABY TEMME UND CHRISTINE KÜNZEL Welchen Sinn hat die Frage nach dem ›Geschlecht‹ des Strafrechts? GERLINDA SMAUS
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KINDSMORD UND ABTREIBUNG
»Schröcklich pocht schon des Gerichtes Bote«. Zur Medialität des Strafrechts – Kommunikation und Infantizid in literarischen 59 und juridischen Diskursen des 18. Jahrhunderts ANNIKA LINGNER »Hat die Schreckenstat ein Gesicht?«: Das Bild der ›ostdeutschen Mutter‹ DAVID JAMES PRICKETT
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SEXUALSTRAFRECHT Sexualstrafrecht und Geschlechterordnung im frühneuzeitlichen Österreich SUSANNE HEHENBERGER »Unwiderstehliche Gewalt«, »ernsthafter Widerstand« und »minder schwerer Fall« als Schlüsselwörter der Geschichte des Vergewaltigungstatbestands ISABEL KRATZER
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STRAFVOLLZUG
Das Buch in der Zelle – Geschlechterpädagogik im Strafvollzug am Beispiel des Bücherverzeichnis für Frauen der Bücherei der Vereinigten Gefangenenanstalten zu Waldheim (1928) 141 TORSTEN SANDER Auch Frauen schreiben dem Strafvollzugsarchiv: Eine quantitative und qualitative Auswertung JOHANNES FEEST
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GESCHLECHT UND STRAFRECHT IM NS-STAAT »Als völlig unpolitisch eingestellte Frau war ihr [...] die Organisation selbst recht gleichgültig« – die Urteilspraxis des Volksgerichtshofs in geschlechtergeschichtlicher Perspektive KAREN HOLTMANN Frauen vor Gericht. Geschlechtsspezifische Zuschreibungspraktiken in der nationalsozialistischen Strafrechtsprechung im Krieg MICHAEL LÖFFELSENDER
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STRAFRECHT, KRIMINALITÄT UND GESELLSCHAFT »Sein Hang zu einem liederlichen Lebenswandel«. Geschlecht und Sexualität bei der Sanktionierung von jugendlicher männlicher und weiblicher Prostitution in der Weimarer Republik MARTIN LÜCKE Lesarten: Kriminalität, Geschlecht und amtliche Statistiken DAGMAR OBERLIES UND JUTTA ELZ
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Intersektionalität. Ein neues Paradigma zur Erfassung sozialer Ungleichheit im Strafrecht? MARTINA ALTHOFF
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Autorinnen und Autoren
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Einleitung
Recht ist kein geschlechtsneutraler Diskurs. Diese Einsicht hat sich inzwischen – Dank der zahlreichen Studien und Forschungsansätze im Bereich der Geschlechterstudien – auch in den Rechtswissenschaften etablieren können (vgl. Baer 2000). Die Konfrontation mit der Geschlechterfrage bedeutete für die Jurisprudenz insofern eine besonders große Herausforderung, als diese, in höherem Maße als viele andere Disziplinen, Neutralität und Objektivität für sich beansprucht (vgl. ebd.: 155). Die Annahme, dass das Recht keineswegs geschlechtsneutral agiert, d. h. Männer und Frauen zuweilen unterschiedlich behandelt, steht in deutlichem Widerspruch zum allgemeinen Geltungsanspruch juristischer Normen. So haben sich feministische und gendertheoretische Ansätze hier wesentlich später etablieren können als in anderen Bereichen. Im Kontext der Gender-Studies waren es zunächst feministische Ansätze der Rechtskritik, die die Geschlechterfrage in Bezug auf verschiedene Aspekte des Rechts gestellt haben. Entstanden ist daraus inzwischen ein eigener gendertheoretisch ausgerichteter Bereich der Rechtswissenschaften, die so genannten Legal Gender Studies (vgl. Holzleithner 2002). Recht ist – so Susanne Baer (1999, vgl. auch 2009) – nicht nur eine wesentliche Ressource, die zur Konstruktion von Geschlechterverhältnissen dient, sondern Recht kann wiederum zur Dekonstruktion der Geschlechterverhältnisse genutzt werden. Ein Blick auf die metaphorischen Subtexte lässt erkennen, dass das Weibliche aus dem Recht als einem der zentralen sozialen Diskurse der Moderne am stärksten ausgeschlossen ist.1 Jedoch findet sich das Geschlecht in der Form des Weiblichen
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Noch stärker gilt dies für als nicht ›männlich‹ oder ›weiblich‹ zuzuordnende Geschlechtskategorien (vgl. Holzleithner 2009). 7
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als Metapher in Texten und Verfahren wieder und steht in diesem Sinne als »Analogie für die gefürchtete Kontamination des Rechts durch das, was es ausschließen soll« (Geyer-Ryan 1995: 253): nämlich für Unrecht, Schwäche, Zweideutigkeit, Gewalt. Aussagen, die für das Recht bzw. den Rechtsdiskurs allgemein gelten, müssten auch oder gerade im Hinblick auf das Strafrecht Relevanz entfalten. Wenn die Frau bzw. das Weibliche kulturell als die Abweichung von der Norm, als das Andere des Rechts konzipiert wird, so könnte man in Anlehnung an diese Traditionslinie annehmen, dass insbesondere abweichendes, kriminelles Verhalten weiblich konnotiert ist. Dies würde die Tatsache erklären, warum sich die meisten Studien und Sammelbände zum Thema ›Strafrecht und Geschlecht‹ mit Konstruktionen von Weiblichkeit und der Behandlung von Frauen als Täterinnen und/oder Opfer von Straftaten beschäftigen – und das, obwohl rein statistisch betrachtet Männer (sowohl als Täter als auch als Opfer) in wesentlich höherem Maße mit dem Strafrecht und seinen Institutionen konfrontiert wurden bzw. werden als Frauen. Wenn von Strafrecht und Geschlecht die Rede ist, dann ist es nach wie vor so, dass zumeist von weiblicher Delinquenz die Rede ist. Wer heute gender sage, heißt es in einer Rezension zu Judith Butlers Buch Die Macht der Geschlechternormen (2009), meine meistens Frauen. Es sind reißerische Titel, wie etwa der von Stephan Harborts Buch Wenn Frauen morden: Spektakuläre Fälle – vom Gattenmord bis zur Serientötung (2008), die (immer noch) suggerieren, dass es einen Unterschied mache, ob eine Frau einen Mord begehe oder ein Mann. Eine Veröffentlichung mit dem Titel ›Wenn Männer morden‹ wäre wohl kaum vorstellbar. Im Klappentext zum Buch heißt es entsprechend: »Ein männlicher Mörder taugt oft nur zur Fußnote im Polizeibericht, eine vermeintlich kaltblütig tötende Frau wird zum Monster, das es locker auf die Titelseite des Boulevards schafft.« Bei der Wahl des Titels »Hat Strafrecht ein Geschlecht?« zu der dem Band vorausgegangenen gleichnamigen Tagung waren wir tatsächlich davon ausgegangen, dass wir etwa eine gleichgroße Menge an Beiträgen zu ›weiblichen‹ und ›männlichen‹ Aspekten bekommen würden. Wir hatten erwartet, dass es insbesondere auch Beiträge zu spezifisch männlichen Delikten (wie etwa dem Amoklauf oder anderen) bzw. zur männlichen Konnotation des Strafrechts und seinen Institutionen selbst geben würde – zumal aus dem Bereich der inzwischen etablierten ›MännerStudien‹. Die Fülle der Vorschläge für Beiträge, die sich explizit mit der Kriminalität von Frauen beschäftigen, scheint allerdings die oben genannte These zu stützen, dass man bei dem Begriff gender bzw. Ge-
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EINLEITUNG
schlecht bis heute in erster Linie an die Abweichung denkt, eben an Aspekte von Weiblichkeit, nicht an die weiße, heterosexuelle Männlichkeit, die die Norm repräsentiert. Bei einer näheren Betrachtung ergeben sich hinsichtlich des Zusammenhanges zwischen Strafrecht und Geschlecht verschiedene Probleme. Mädchen und Frauen treten als Tatverdächtige, Angeklagte und Verurteilte in der Strafjustiz (Hellfeld) rein zahlenmäßig betrachtet in einem wesentlich geringeren Maße in Erscheinung als Jungen und Männer (Bundeskriminalamt 2009: 103 f.; Statistisches Bundesamt 2009c: 11; 2009b: 5 ff.; 2009d). Auch die Kriminalitätsbelastung von Mädchen und Frauen im Dunkelfeld ist niedriger als die der Jungen und Männer (Bundesministerium des Inneren/Bundesministerium der Justiz 2006: 32 f.; vgl. insgesamt zum Hell- und Dunkelfeld: Schmölzer 2009). Männer sind in der Strafjustiz auf allen Ebenen überproportional vertreten: als handelnde Justizpersonen, z. B. als Richter, Staatsanwälte, Strafverteidiger (Statistisches Bundesamt 2009a: 15, 19, 31; Bundesrechtsanwaltskammer 2009). Vor dem Hintergrund dieser Konstellation stellen sich mehrere Fragen: Werden nur solche Handlungen durch das Strafrecht erfasst, die mehr von Männern ausgeführt werden als von Frauen? Werden Frauen in einem Strafverfahren anders behandelt als Männer? Inwiefern haben bestimmte Geschlechterstereotypen in einem Strafprozess Auswirkungen auf den Ausgang eines Verfahrens, sprich: auf Verurteilung und Strafmaß? Zementiert das Strafrecht die traditionellen Geschlechterrollen oder setzt es sich zuweilen auch über diese hinweg? Der Begriff des Strafrechts wird hier in einem eher weiten Sinne verstanden. Es handelt sich nicht nur um eine Auseinandersetzung mit dem materiellen Strafrecht. Ebenso sollen das Strafprozessrecht und die mit dem Strafrecht verbundenen Institutionen betrachtet werden. Ausgangspunkt ist die These, dass – sollte dem Strafrecht ein bestimmtes ›Geschlecht‹ zugeschrieben werden können – sich dieses Geschlecht auf der Ebene des materiellen, prozessualen Rechts und zugleich auf der Ebene seiner Institutionen manifestiert. Insofern spielen auch Sprache, Kommunikation und Interaktion eine entscheidende Rolle innerhalb dieser Konstruktionsprozesse im Strafrechtsdiskurs. Im englischsprachigen Raum gibt es seit den 1980er Jahren Arbeiten, die sich speziell mit dem Thema Geschlecht bzw. Frauen und Kriminalität auseinandersetzen. So die Studien von Feinman: Women in the Criminal Justice System (1994) und Ollus: Women in the Criminal Justice System: international examples & national responses (2001). Als eine der neuesten Untersuchungen ist für Großbritannien auf die Studie
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von Nicolson und Bibbings: Feminist perspectives on criminal law (2000) zu verweisen, die zwischen drei Aspekten unterscheidet: 1. dem unterschiedlichen strafrechtlichen Schutz von Frauen und Männern, 2. der Diskriminierung durch das Strafrechtssystem anhand des Faktors Geschlecht und 3. der Konstruktion von Geschlecht über das Strafrechtssystem. Dies wird auf unterschiedlichen Ebenen des britischen Strafrechtssystems aufgezeigt. Für die USA liegen u. a. Untersuchungen von Martin und Jurik: Doing justice, doing gender: women in legal and criminal justice occupations (2007), von Siemsen: Emotional trials: the moral dilemmas of women criminal defense attorneys (2004) und Forell und Matthews: A law of her own: the reasonable woman as a measure of man (2001) vor, die sich mit verschiedenen Facetten des Strafrechtssystems der USA im Zusammenhang mit der Gender-Frage auseinandersetzen. Inzwischen liegen auch im deutschsprachigen Raum zahlreiche Studien zum Themenkomplex ›Recht und Geschlecht‹ vor. Zu nennen sind insbesondere der Sammelband von Rudolf: Geschlecht im Recht (2009) und die Monographie Recht Macht Geschlecht (Holzleithner 2002). Dies ist nicht zuletzt dem Einfluss der Legal Gender Studies zuzuschreiben. Zwar gibt es darüber hinaus auch die eine oder andere kulturwissenschaftliche Studie, die sich mit der Geschlechtsspezifik bestimmter Delikte auseinandersetzt, wie z. B. Siebenpfeiffer: Böse Lust. Gewaltverbrechen in Diskursen der Weimarer Republik (2005) oder Uhl: Das ›verbrecherische Weib‹: Geschlecht, Verbrechen und Strafen im kriminologischen Diskurs 1800-1945 (2003). Doch speziell zum Zusammenhang zwischen Strafrecht und Geschlecht existieren bisher kaum umfangreichere Studien oder Sammelbände, die der Komplexität des Themenfeldes Rechnung tragen. Die vorhandenen Untersuchungen beziehen sich eher auf Einzelaspekte und finden sich zumeist als ein Teilaspekt in Sammelbänden zur generellen Betrachtung des Komplexes ›Recht und Geschlecht‹ oder ›Kriminalität und Geschlecht‹. Exemplarisch seien zu den bereits oben genannten Bänden die Veröffentlichung von Kreuzer zu Frauen im Recht – Entwicklung und Perspektiven (2001), von Lamnek und Boatca zu Geschlecht – Gewalt – Gesellschaft (2003), aus soziologischer Perspektive von Oberwittler und Karstedt zur Soziologie der Kriminalität (2004), aus historischer Perspektive von Gerhard zu »Frauen in der Geschichte des Rechts« (1997) und aus kriminologischer Perspektive u. a. zwei Beihefte des Kriminologischen Journals (Löschper/ Smaus 1999; Althoff/Kappel 1995) genannt. Die Frage nach ›Kriminalität und Geschlecht‹ wird teilweise auf die Täterinnen- und Opfereigen-
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EINLEITUNG
schaft bzw. die dazugehörigen Zuschreibungsprozesse zentriert (Elz 2009; Künzel/Temme 2007). Die bisherigen Analysen, die die Fragestellung ›Hat Strafrecht ein Geschlecht?‹ berühren, differenzierten nach zwei Aspekten: erstens dem unterschiedlichen Schutz von weiblichen und männlichen Opfern durch das Strafrecht2 und zweitens der geschlechtsbezogenen Selektion im Hinblick auf die Täter- bzw. Täterinneneigenschaft. Beide Aspekte können sowohl auf der Gesetzgebungsebene als auch auf der Anwendungsebene betrachtet werden. In den letzten Jahren ist der Opferschutz durch das Strafrecht im Hinblick auf beide Geschlechter verbessert worden. Neue Straftatbestände, die insbesondere dem strafrechtlichen Schutz von Frauen dienen können, sind der 2007 eingeführte § 238 Strafgesetzbuch (StGB) (»Nachstellung«)3 und der Straftatbestand des § 4 Gewaltschutzgesetz (GewSchG), der im Jahr 2002 in Kraft gesetzt wurde, um Opfern von häuslicher Gewalt einen besseren Schutz zur Seite zu stellen. Weitreichende Veränderungen hatte es bereits zuvor auf dem Gebiet des Sexualstrafrechts, insbesondere durch die Gesetzesänderungen 1997/1998, gegeben. Das »Zweite Opferrechtsreformgesetz«, das seit dem 01. 10.2009 in Kraft getreten ist, hat weitere Verbesserungen im Strafprozessrecht manifestiert (vgl. Schroth 2009). Die Aufnahme bestimmter Fälle des § 238 StGB (»Nachstellung«) in die Kostenregelung des § 397a StPO (Kostenübernahme für den/die Nebenkläger/in bei Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes im Strafverfahren) hat zu einem optimierten Schutz insbesondere von Frauen geführt, wenn davon ausgegangen wird, dass beim klassischen Stalking4 häufiger Frauen die Opfer sind (Wondrak 2008: 17 ff.). Harzer (2009b) sieht auch die strafprozessuale Einführung des Täter-Opfer-Ausgleiches als bessere Chance für Frauen an, als Opfer wahrgenommen zu werden. Insgesamt haben die Erkenntnisse der Viktimologie (vgl. Hagemann/Schäfer/Schmidt 2009; Schnei-
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Sofern die Schutzfunktion des Strafrechts entsprechend seiner Eigendefinition im Sinne der General- und Spezialprävention verstanden wird. Zur kritischen Hinterfragung dieses Themenkomplexes vor dem Hintergrund des Feminismus und angenommener zumindest symbolischer Wirkung des Strafrechts vgl. van Swaaningen (1989) und Smaus (1989). Jedoch erfasst § 238 StGB nicht diejenigen Opfer, bei denen es an einer Einschüchterung fehlt (Müller 2008: 9 m.w.N.). Dies deutet wiederum auf eine Manifestierung eines bestimmten Frauenbildes hin. Kritisch zu der teilweise fehlenden Ernsthaftigkeit der Diskussion um § 238 StGB äußert sich zudem Harzer (2009a: 78 f.). Insofern ist zu beachten, dass § 238 StGB nicht vollständig deckungsgleich mit dem Begriff des Stalking ist. 11
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der 2006) dazu geführt, dass auf allen Ebenen des Strafrechts und seiner Anwendung ein Umdenken im Hinblick auf den Umgang mit Opfern stattgefunden hat, so dass einerseits die Normen, andererseits aber auch die praktische Anwendung des Strafrechts nicht mehr die generelle Gefahr der sekundären Viktimisierung in sich tragen, wie dies noch vor Jahrzehnten der Fall war (vgl. für die polizeiliche Vernehmung bei sexueller Gewalt, Steffen 1989; Greuel 1993)5. Die Täter/inneneigenschaft hat sich im Laufe der Jahre – zumindest im Gesetzeswortlaut – fast vollständig neutralisiert. Einziges Relikt ist der § 183 StGB (»Exhibitionistische Handlungen«). Der Gesetzestext formuliert hier die Tätereigenschaft abhängig vom Geschlecht: »Ein Mann, der eine andere Person durch eine exhibitionistische Handlung belästigt […]« (vgl. Sick 1991: 83 ff.). Normen, die zwar geschlechtsneutral formuliert sind, aber aufgrund der derzeitigen tatsächlichen Betroffenheit durch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen die Geschlechterstruktur manifestieren bzw. hauptsächlich nur Frauen oder Männer betreffen, sind § 109 StGB (»Wehrpflichtentziehung durch Verstümmelung«), § 109a StGB (»Wehrpflichtentziehung durch Täuschung«) (vgl. Hilgendorf 2001: 117), § 170 StGB (»Verletzung der Unterhaltspflicht«)6 und § 218 StGB (»Schwangerschaftsabbruch«)7 sowie das Mordmerkmal der Heimtücke (§ 211 StGB) (vgl. Harzer 2009b: 136). Der Privilegierungstatbestand des § 217 StGB (»Kindstötung«) – mildere Bestrafung bei Kindstötungen durch die Mutter – wurde demgegenüber 1998 abgeschafft (vgl. Harzer 2009a: 74 ff.). Insgesamt sind die Relationen und das In-Bezug-Setzen zur gesellschaftlichen Situation, anderen Straftatbeständen und Hell- sowie Dunkelfeldbetrachtungen notwendig (vgl. Frommel/Jacobsen 2009). Es gibt keine generellen frauentypischen Deliktmuster (vgl. Heinz 2001). Im Hinblick auf geschlechtsdifferenzierende Anwendungen durch die Strafrechtsinstitutionen (Polizei8, Staatsanwaltschaft, Gericht, Vollzug) und sich dadurch manifestierende Geschlechterverhältnisse zeigen bisherige Forschungen, 5
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Dass eine strafprozessual korrekte und opfergerechte Vernehmung immer auch abhängig vom Selbstverständnis des jeweiligen Personals des Strafrechtssystems ist, zeigt sich exemplarisch an den Ausführungen von Legnaro und Aengenheister zu richterlichen Vernehmungen (1999a: 99 f.). Ein Vergleich zu § 171 StGB (»Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht«) trägt unter Einbeziehung der Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung gemäß §§ 223 ff. StGB (»Körperverletzungsdelikte«) nicht. Insofern kann bei § 171 StGB nach Ansicht von Frommel und Jacobsen nicht von Frauenkriminalität gesprochen werden (2009: 162 ff.). Kritisch zu letzterem Frommel/Jacobsen (2009: 170). Im Sinne von Ermittlungsbeamten der Staatsanwaltschaft.
EINLEITUNG
dass Geschlecht zumeist keine direkte Rolle spielt, sondern eine indirekte im Sinne von geschlechtsspezifischen Statuslagen und Verhaltenserwartungen. Bei Strafzumessungserwägungen sind es die kontextuellen Betrachtungen im Rahmen der Gesamtbetrachtung, die das Geschlecht mittelbar zu einem relevanten Faktor werden lassen können (vgl. insgesamt zur Thematik für unterschiedliche Teilaspekte: Legnaro/Aengenheister 1999b m.w.N.; Oberlies 1995; Körner 1992; Streng 1984; Blankenburg/Sessar/Steffen 1978).9 Bezogen auf die Gewalt im gesamtgesellschaftlichen Rahmen und die Relevanz des Geschlechts teilweise unter Einbeziehung des Strafrechts finden sich unterschiedliche Fokussierungen im Band von Lamnek und Boatca (2003). Insbesondere mit der Selektivität strafrechtlicher Sozialkontrolle beschäftigt sich dabei Mansel (2003). Inwiefern soziale Kontrollmechanismen auf Mädchen und Jungen, Frauen und Männer seit der frühesten Kindheit wirken und letztendlich zu einem unterschiedlichen Erscheinungsbild der Kriminalität im Rahmen der Strafrechtsinstanzen führen, haben Seus und Prein im Rahmen der Bremer Lebenslaufforschung gezeigt (2004). Zentrale Aspekte sind: die unterschiedliche informelle soziale Kontrolle von Mädchen und Jungen in der Kindheit, die einhergeht mit Prägungen im Hinblick auf ›weibliche‹ und ›männliche‹ Eigenschaften; geringere Freiheiten für Mädchen in der Adoleszenz sowie bei geringer Schulbildung gegenüber Jungen die minimierten Chancen der Berufswahl auf dem Arbeitsmarkt, die zu einem Zurückkehren zu weiblichen Rollenmustern führen; eine unterschiedliche Bedeutung der peer group, Mädchen verlassen diese und binden sich an eine beste Freundin oder den Freund; die Relevanz des Doppellebens bei Jungen, sofern die Arbeitsmoral stimmt, werden Strafrechtsverstöße sowohl von den Arbeitgebern als auch von den Strafrechtsinstanzen nicht kriminalisiert. Demgegenüber führen Mädchen kein Doppelleben: Wenn sie in ihrer Freizeit Devianz zeigen, wird diese bei Kriminalisierungsentscheidungen mit einbezogen (allerdings war für eine Stützung dieser pauschalierenden Aussage die Fallzahl der devianten Mädchen zu gering).10 Auch in der Geschichtswissenschaft und den Literatur- und Kulturwissenschaften hat in den letzten zwanzig Jahren eine intensive Ausei9
Der Forschungsstand zur Fragestellung »Hat Strafrecht eine Geschlecht?« unter besonderer Berücksichtigung von Geschlechtertheorien, Strafrecht und Kriminologie wird in dem nachfolgenden einführenden Beitrag von Smaus in diesem Band dargestellt, deshalb wird hier auf eine weitergehende Darstellung verzichtet. 10 Zur Relevanz von Männlichkeitsnormen für die Delinquenz von Jungen sowie die Bedeutung von anderen Faktoren in diesem Zusammenhang vgl. exemplarisch Enzmann/Brettfeld/Wetzels (2004) und Kersten (2002). 13
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nandersetzung mit unterschiedlichen Formen von Gewalt stattgefunden – immer auch mit Blick auf die Kategorie Geschlecht (einen Überblick über die Forschung bietet Künzel 2009). Ein besonderes Interesse galt hier bisher den Themen sexuelle Gewalt, Inzest und dem so genannten ›Lustmord‹, in dem (sexuelles) Begehren und Gewalt zusammenfallen (vgl. Künzel 2003; 2009: 144 ff.). Zwischen der germanistischen Literaturwissenschaft, den Strafrechtswissenschaften und der Kriminologie besteht seit langer Zeit ein reger interdisziplinärer Austausch, aus dem bereits zahlreiche Publikationen hervorgegangen sind (vgl. u. a. Schönert 1991). Ziel des vorliegenden Bandes ist es, die Tatsache, dass in der Auseinandersetzung mit Recht in der Geschlechterperspektive immer schon kultur- und sozialwissenschaftlich geprägte Perspektiven auf Geschlechterverhältnisse zusammenfließen (vgl. Baer 2000: 159), entsprechend ernst zu nehmen und einen multiperspektivisch-interdisziplinären Blick auf das Thema ›Geschlecht und Strafrecht‹ zu eröffnen. Zu diesem Zweck haben wir hier Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den verschiedensten Disziplinen versammelt. Es handelt sich dabei um Vertreterinnen und Vertreter der Bereiche Rechtswissenschaft und Rechtsgeschichte, der Kriminologie, Soziologie, Geschichtswissenschaft, der Literatur- und Kulturwissenschaften. Der Band kann selbstverständlich keine umfassende und erschöpfende Auseinandersetzung mit dem Thema Strafrecht und Geschlecht bieten, er soll vielmehr als eine Ergänzung und Weiterführung der oben bereits aufgeführten Studien verstanden werden. Die Herausgeberinnen haben sich bemüht, die Beiträge sowohl thematisch als auch historisch zu bündeln – so weit dies aufgrund des großen Spektrums an Themen und historischen Kontexten möglich war. Eine umfassende Betrachtung des Themas ›Strafrecht und Geschlecht‹ im interdisziplinären Forschungszusammenhang zwischen kultur- und sozialwissenschaftlichen Geschlechtertheorien, Strafrechtswissenschaft und Kriminologie bietet der einführende Beitrag von Gerlinda Smaus. Es folgen fünf Themenfelder, die als Leitfaden zur Orientierung in der Frage nach der Bedeutung der Kategorie Geschlecht auf den unterschiedlichsten Ebenen des Strafrechtsdiskurses dienen sollen. Die erste Sektion widmet sich dem bis heute weiblich konnotierten Delikt par excellence, dem Kindsmord – und damit im Zusammenhang stehend der Abtreibung. In der historischen Distanz, die zwischen den Beiträgen liegt, lassen sich Brüche und Kontinuitäten im Diskurs um den Kindsmord vom 18. bis zum 20. Jahrhundert feststellen. In der zweiten Sektion geht es um Fragen, die das Sexualstrafrecht in unterschiedlicher Per-
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EINLEITUNG
spektive betreffen: zum einen in einer historischen Studie österreichischer Quellen aus der Frühen Neuzeit und zum anderen im Hinblick auf die Entwicklung des § 177 StGB in der Bundesrepublik Deutschland – mit Blick auf die Reformen und die nunmehr geschlechtsneutralen Formulierungen im Gesetzestext. Es folgt, eine Sektion zum Thema Strafvollzug, die sich mit besonderen Bedingungen für weibliche Gefangene befasst. Die vierte Sektion beschäftigt sich mit dem Thema Geschlecht und Strafrecht im NS-Staat, um mögliche Besonderheiten der geschlechtsspezifischen Zuschreibungen durch die Strafrechtsinstitutionen der NS-Diktatur herauszuarbeiten. Die fünfte Sektion widmet sich dann allgemeinen inhaltlichen und methodischen Fragestellungen mit Blick auf den Zusammenhang von Strafrecht, Kriminalität und Geschlecht. Von der ersten bis zur fünften Sektion spannen die Vorträge einen Bogen von der Frühen Neuzeit bis in das 21. Jahrhundert. Gerlinda Smaus hat sich als Kriminologin, und nicht zuletzt als Mitbegründerin der Sektion »Feministische Kriminologie« in der Gesellschaft für interdisziplinäre wissenschaftliche Kriminologie (GiwK), von Beginn an mit Gender-Fragen in Strafrecht und Kriminologie auseinandergesetzt – immer wieder aus einem anderen Blickwinkel und immer wieder die eigenen Ergebnisse und Standpunkte kritisch überprüfend (vgl. Smaus 1989; 1990; 1991; 1993; 1995; 1997; 1998). Sie engagiert sich bis heute dafür, die Erkenntnisse der sozial- und kulturwissenschaftlichen Gender-Studies für die Kriminologie nutzbar zu machen, so etwa den wissenschaftstheoretischen Ansatz von Sandra Harding oder die dekonstruktivistische Herangehensweise von Judith Butler. In ihrem Beitrag mit dem programmatischen Titel »Welchen Sinn hat die Frage nach dem ›Geschlecht‹ des Strafrechts?« zieht Smaus hier noch einmal Bilanz ihrer bisherigen kriminologischen Forschung und reflektiert das Thema des vorliegenden Bandes, ob die Frage nach dem ›Geschlecht des Strafrechts‹ heute noch sinnvoll sei bzw. sein könnte, in einem umfassenderen Sinne. Die beiden Aufsätze in der ersten Abteilung widmen sich dem weiblichen Delikt par excellence: dem Kindsmord. Annika Lingner versucht in ihrem Beitrag zu »Kommunikation und Infantizid in literarischen und juridischen Diskursen des 18. Jahrhunderts«, dem Phänomen der medialen Popularität der Kindsmörderin im literarischen Diskurs des 18. Jahrhunderts auf die Spur zu kommen. Anhand von prominenten Beispielen aus der Literatur der Aufklärung (Goethe, Schiller, Bürger, Wagner) arbeitet sie nicht nur die zentralen Aspekte des Diskurses um Kindsmord heraus, sondern diskutiert auch die Strategien der Täterinnen im Umgang mit den strafrechtlichen Institutionen. Mit dem Beitrag »›Hat die
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Schreckenstat ein Gesicht?‹: Das Bild der ›ostdeutschen Mutter‹« von David James Prickett erfolgt ein Sprung ins 20. Jahrhundert. Am Beispiel der Berichterstattung zu den Kindsmorden, die sich nach der Wende im Osten Deutschlands in den 1990er Jahren ereigneten, untersucht Prickett die Stereotypen, mit denen die jungen – zumeist alleinerziehenden – Mütter als Täterinnen konfrontiert wurden bzw. werden. Das Bild der ›ostdeutschen Rabenmutter‹ fungiere – so die These des Verfassers – im Sinne eines ›Sündenbocks‹, um die eigentlichen Probleme, so auch die Auseinandersetzung mit divergierenden Konzepten von Mutterschaft, zu umgehen. In der Zusammenschau der beiden Aufsätze lassen sich durchaus Brüche und Kontinuitäten in der (medialen) Darstellung und Beurteilung der Kindermörderin feststellen: so z. B. die Tatsache, dass Kindsmord bis heute als eine der grausamsten Straftaten – als »Greueltat par excellence« (Ulbricht 1997: 235) – wahrgenommen wird. In der zweiten Sektion erfolgt eine Betrachtung des Themenfeldes ›Sexualstrafrecht‹ aus historischer und rechtswissenschaftlicher Sicht. Begonnen wird aus der Perspektive der Frühen Neuzeit in Österreich, bevor der heutige Straftatbestand der Vergewaltigung im deutschen Strafrecht und in der bundesdeutschen Rechtsprechung vor dem Hintergrund seiner historischen Entwicklung in den Blick genommen wird. Susanne Hehenberger untersucht in ihrem Beitrag »Sexualstrafrecht und Geschlechterordnung im frühneuzeitlichen Österreich« aus historischer Sicht die Tatbestände und Strafdrohungen für vor- und außereheliche heterosexuelle Beziehungen, Ehebruch, Bigamie, Inzest, Notzucht und Sodomie im Hinblick auf Geschlechterdifferenzen. Dabei arbeitet sie auch die Relevanz anderer Kategorien wie zum Beispiel die Standesoder Religionszugehörigkeit heraus. Im Rahmen ihres Beitrages zeigt sie, dass sowohl kulturelle Normen (wie etwa die sexuelle Treue) als auch Vorstellungen über Sexualität im Sinne der Penetration und Ejakulation als Subtexte in das Strafrecht eingeschrieben waren. Mit einem Sprung von der Frühen Neuzeit in die Moderne schließen die Ausführungen von Isabel Kratzer zum deutschen Strafrecht mit dem Titel »›Unwiderstehliche Gewalt‹, ›ernsthafter Widerstand‹ und ›minder schwerer Fall‹ als Schlüsselwörter der Geschichte des Vergewaltigungstatbestands« an die Diskussion des Sexualstrafrechts an. Es erfolgt eine Betrachtung im Kontext des strafrechtlichen Diskurses vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Fokussiert auf die Konstellation ›männlicher Täter – weibliches Opfer‹ wird dargestellt, dass das Geschlecht für die Täterund Opfereigenschaft sowie für Strafzumessungen im Rahmen des Tatbestandes mitbestimmend war und teilweise noch ist. Die Autorin konstatiert eine Konservierung von vergewaltigungsspezifischen Deutungs-
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EINLEITUNG
traditionen und fordert ein reflektierteres, geschlechtersensibles Geschichts- und Rechtsbewusstsein bei der Anwendung des heutigen Straftatbestandes durch die Strafrechtsinstitutionen. In der dritten Sektion zum Thema ›Strafvollzug‹ wird aus literaturwissenschaftlich-historischer und juristisch-soziologischer Perspektive die Institution des Frauenstrafvollzuges um die Jahrhundertwenden 1900 und 2000 in den Blick genommen. Torsten Sander untersucht in seinem Beitrag »Das Buch in der Zelle – Geschlechterpädagogik im Strafvollzug am Beispiel des ›Bücherverzeichnis für Frauen‹ der Bücherei der Vereinigten Gefangenenanstalten zu Waldheim (1928)« besagtes Verzeichnis mit seinen sechs Abteilungen: Liebe und Ehe im Leben der Frau – Heim und Familie – Die Aufgaben der Frau – Heimat, Volk und Vaterland – Die weite Welt – Bücher zur Erbauung und inneren Aufrichtung. Im Vergleich mit dem allgemeinen Verzeichnis »Erlebnis und Dichtung (1931)«, das für Männer und Frauen in den Vollzugsanstalten galt, kann der Autor nachweisen, dass insbesondere Frauen bestimmte Rollenbilder der Frau und des Mannes im Strafvollzug für ihre Erziehung nahe gebracht werden sollten. Ob sich dies auch faktisch durch die Ausleihpraxis der Frauen bestätigen lässt, ist allerdings kaum überprüfbar. Eine nähere Untersuchung der tatsächlichen Praxis im Hinblick auf relevante rechtliche Probleme im Frauenvollzug aus der Sicht der einsitzenden Frauen nimmt Johannes Feest mit seinem Beitrag vor. Der Titel – »Auch Frauen schreiben dem Strafvollzugsarchiv. Eine quantitative und qualitative Auswertung« – verdeutlicht bereits, dass das in Bremen ansässige Strafvollzugsarchiv im Hinblick auf rechtsuchende Gefangene hauptsächlich von Männern in Anspruch genommnen wird. Für die letzten 11 Jahre (1999-2009) wird aufgezeigt, inwieweit sich die Korrespondenz mit weiblichen und männlichen Gefangenen quantitativ und qualitativ unterscheidet und welche Schlussfolgerungen daraus für die geschlechtsspezifischen Fragestellungen in Bezug auf das Strafrecht gezogen werden können. In der vierten Sektion zum Themenkomplex ›Geschlecht und Strafrecht im NS-Staat‹ wird die nationalsozialistische Strafrechtsprechung aus historischer Perspektive behandelt. Karen Holtmann zeigt in ihrem Beitrag zur »Urteilspraxis des Volksgerichtshofs in geschlechtergeschichtlicher Perspektive« am Beispiel der Saefkow-Jacob-BästleinGruppe auf, welche Bedeutung das Geschlecht der Angeklagten bei der Deutung und Sanktionierung von oppositionellem Verhalten hatte. Michael Löffelsender untersucht Gerichtsakten des Oberlandesgerichtsbezirks Köln zur Thematik »Frauen vor Gericht. Geschlechtsspezifische Zuschreibungspraktiken in der nationalsozialistischen Strafrechtsprech-
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ung im Krieg«. Er analysiert, inwieweit nicht-normativ verankerte Bewertungskriterien bei der Urteilsfindung eine Rolle spielen. Insgesamt stellt er fest, dass es in der Zeit zwischen 1933 und 1945 keine Besonderheiten gegenüber der Zeit vor 1933 und nach 1945 gegeben habe, aber die Feststellung eines mit den Geschlechterstereotypen nicht konformen Verhaltens für die Frauen weit reichende Konsequenzen haben konnte. In der fünften und abschließenden Sektion erfolgt eine Auseinandersetzung mit inhaltlichen und methodischen Fragestellungen im Hinblick auf die Zusammenhänge zwischen Strafrecht, Kriminalität und Gesellschaft aus historischer, juristischer und soziologischer Perspektive. Martin Lücke beschäftigt sich unter dem Titel »›Sein Hang zu einem liederlichen Lebenswandel‹ Geschlecht und Sexualität bei der Sanktionierung von jugendlicher männlicher und weiblicher Prostitution in der Weimarer Republik« mit der Reglementierung des jugendlichen männlichen Verhaltens durch das Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt. Damit öffnet er den Blick für versteckte Sanktionierungen außerhalb des Strafrechts. Im Zentrum des Interesses steht die Betrachtung der Sozialkontrolle von männlichen Jugendlichen. Dagmar Oberlies und Jutta Elz haben es sich in ihrem Beitrag »Lesarten: Kriminalität, Geschlecht und amtliche Statistiken« zur Aufgabe gemacht, das Bild des Zusammenhangs zwischen Geschlecht und Kriminalität in amtlichen Statistiken kritisch zu reflektieren. Sie gehen davon aus, dass die Frage nach dem Geschlecht des Strafrechts über die Lesarten von amtlichen Kriminalstatistiken bestimmt wird. Die Schwerpunkte ihrer Untersuchung bilden die drei Bereiche: Kriminalität und Kriminalitätsentwicklung, Selektion und Sanktion, Opferrisiko und Kriminalitätsfurcht. Die Autorinnen kommen zu dem Schluss, dass das Geschlecht – entgegen des ersten Anscheins – bei einer differenzierteren Betrachtung der Statistiken keine relevante Rolle spielt. Abschließend stellt Martina Althoff in ihrem Beitrag aus kriminologisch-soziologischer Sicht die Frage: »Intersektionalität. Ein neues Paradigma zur Erfassung sozialer Ungleichheit im Strafrecht?«. Anhand des bisherigen kriminologischen Forschungsstandes und des Ansatzes der Intersektionalität zeigt die Autorin auf, dass die Frage nach dem Geschlecht des Strafrechts aus theoretischer Perspektive nicht ausreichend ist, um die Diskriminierung im Strafrecht zu klären. Alle vorliegenden Beiträge und auch bisherigen Forschungen zur Thematik ›Strafrecht und Geschlecht‹ zeigen, dass Fokussierungen, die allein auf die Kategorie des Geschlechts bzw. lediglich auf die Betrachtung einer Ebene des Strafrechtssystems (Legislative, Judikative, Exekutive) ausgerichtet sind, zu kurz greifen. Insofern wäre eine auf das ge-
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EINLEITUNG
samte Strafverfahren ausgelegte Forschung unter Berücksichtung des Ansatzes der Intersektionalität notwendig, um die Frage nach der Bedeutung der Kategorie ›Geschlecht‹ im Hinblick auf das Strafrecht umfassender untersuchen und möglicherweise auch differenzierter beantworten zu können. Ob die Operationalisierung im Rahmen des Forschungsdesigns entlang des von Winker und Degele (2009) präsentierten methodischen Entwurfes geschehen sollte, wäre zu prüfen. Der Vorteil bestände darin, die Konstruktionen der Handelnden (Opfer, Täter11, Zeugen, Polizeibeamte, Staatsanwälte, Richter, Strafvollzugsbeamte, Bewährungshelfer, Gerichtsdiener etc.) mit den Repräsentationen (Normen, Werte, Ideologien) und Strukturdaten (in Gesetzen, Verordnungen, Institutionen, materialisierte Praxen) sowie deren jeweiligen Wechselwirkungen zu vergleichen. Die grundsätzlich an dem Ansatz geübte Kritik, dass die Einbeziehung einer historischen Perspektive über Interviews schwer möglich sei (vgl. Stieglitz 2009) träfe auch hier zu. Insofern müsste eine ergänzende Perspektive in das Forschungsdesign aufgenommen werden.12 Die vorliegenden Beiträge zeigen ergänzend zur bisherigen Forschungslage im deutschsprachigen Raum auch, dass eine umfassende Forschung zur Frage nach der Bedeutung der Kategorie Geschlecht im Strafrecht noch aussteht. Diese müsste nicht allein historische, juristische, kulturwissenschaftliche, soziologische, literaturwissenschaftliche, medienwissenschaftliche und kriminologische Perspektiven, sondern auch umfassende Forschungen zu einschlägigen Themenkomplexen miteinander zu einer Gesamtheit interdisziplinär verschränken. Die Untersuchung müsste auf der Mikro-, Meso- und Makroebene gleichzeitig ansetzen. Das würde bedeuten, das gesamte Strafrechtssystem (vgl. Temme 2006) und seine Rezeption in Alltagspraxen und Medien zu analysieren. Es ginge darum, auf der Mikroebene die beteiligten Produzenten wie Täter, Opfer, Polizeibeamte, Staatsanwälte, Richter, Bewährungshelfer, Gerichtsdiener und weitere unterstützende Kräfte in den Blick zu nehmen. Auf der Mesoebene müssten Inszenierungsräume – Tatort, Polizeistation, Vernehmungszimmer, Gerichtssäle, Gefängnisse – und Kommunikationsstrukturen wie Unterhaltungen über Opfer, Täter, Zeugen innerhalb der strafrechtlichen Institutionen, Vernehmungen, mündliche Verhandlungen, Deals (telefonisch, in Gerichtskantinen, auf 11 Für die bessere Lesbarkeit wird bei Aufzählungen auf die Nennung der weiblichen und männlichen Form verzichtet, mit der männlichen ist gleichzeitig die weibliche Form gemeint. 12 Zu weiterer Kritik an dem Ansatz von Winker und Degele (2009) vgl. Ellmeier (2009). 19
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Toiletten etc.) in den Blick genommen werden. Gleiches gilt für Textproduktionen durch bzw. für das Strafrecht selbst. Diese liegen vor in der Form von Gesetzestexten – hier bestände wiederum ein Bezug zu Inszenierungsräumen und Kommunikationsstrukturen auf parlamentarischer Ebene13 –, Vernehmungsprotokollen, Urteilen, Beschlüssen, Bescheiden im Vollzug und durch die Vollstreckungskammer zum Beispiel bei vorzeitigen Haftentlassungen sowie Reaktionen auf Gnadengesuche. Relevant wäre auf der Makroebene auch die Betrachtung der Kommunikation über das Strafrecht unter Bezugnahme auf die Referenzkategorie Geschlecht. Insofern müssten Alltagsgespräche, Mediendarstellungen, die Darstellung in der Literatur und das Erstellen von Kriminalstatistiken sowie deren Nutzung als Referenz berücksichtigt werden. Eine Erfassung der Gegenwart wäre wahrscheinlich nur in der Form eines aufwendigen Forschungsdesigns möglich. Schwierig ist die Erfassung der Zeitdimension. Jedoch sollte diese nicht außer Acht gelassen werden. Allein die historische Analyse ist geeignet, Kontinuitäten und Veränderungen von relevanten Kategorien aufzuzeigen und damit gleichzeitig einen Ausblick in die Zukunft und die Entwicklung der Thematik zu geben. Eine solche differenzierte Erforschung des Gesamtkontextes zur Beantwortung der Frage ›Hat Strafrecht ein Geschlecht?‹ steht noch aus. Dass ein solcher Fokus lohnenswert wäre, haben die Beiträge des vorliegenden Bandes zumindest in Ansätzen gezeigt. Wir danken dem Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung (ZFG) der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg – und hier insbesondere Frau Dr. Jutta Jacob und Frau Karola Gebauer – für die engagierte Unterstützung. Gleiches gilt für das Zentrum für Gender Studies (ZGS) der Universität Bremen. Ebenfalls gilt unser Dank der Gesellschaft für interdisziplinäre wissenschaftliche Kriminologie (GiwK) und Dr. Ellen Weihe – insbesondere für das Erstellen der Druckvorlage – sowie den Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmern für anregende Diskussionen. Gaby Temme und Christine Künzel Bremen und Hamburg im März 2010
13 Gemeint sind Interaktionsprozesse, die aufgrund von Machtstrukturen, Eigeninteressen etc. dazu führen, dass die Interessen bestimmter Gruppen stärker verfolgt werden. Hierbei können auch Kommunikationsmuster und andere Aspekte eine Rolle spielen. 20
EINLEITUNG
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Welchen Sinn hat die Frage nach dem ›Geschlecht‹ des Strafrechts? GERLINDA SMAUS
I.
Einführung: Feministische Epistemologie und das Geschlecht des Wissens
Im Jahre 1997 fand ich es sehr interessant, auf das ›männliche‹ Geschlecht des Strafrechts hinzuweisen. Nach jahrelanger Beschäftigung mit der Gender-Problematik bin ich nun zu der Auffassung gelangt, dass die Zeit reif geworden ist für eine nüchterne Abwägung der Bedeutung der Variable Geschlecht. Zur Erinnerung an den damaligen Stand des Wissens möchte ich etwas ausführlicher auf die früheren Texte eingehen. Hatte ich in den ersten Beiträgen zum Thema Frauenkriminalität, zu der Differenzierung der sozialen Kontrolle und über die Kriminologie von Frauen (Smaus 1990; 1991) festgestellt, dass das Strafrecht ein Instrument ist, das nicht nur eine schichtspezifische, sondern auch eine geschlechtsspezifische Orientierung aufweist, so haben die Überlegungen über das Verhältnis der strafrechtlichen sozialen Kontrolle zu der medizinischen, besonders der psychiatrischen Kontrolle, zu der Feststellung geführt, dass die Kontrollsysteme selbst ein bestimmtes Geschlecht haben, bzw. einem Geschlecht zugeordnet werden können (Smaus 1993; 1997). Diese Gedanken wurden durch die Anwendung der Kriterien der
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GERLINDA SMAUS
feministischen Erkenntnistheorie,1 insbesondere von Sandra Harding (1990; 1994), auf kriminologische Beiträge von Frauen zugleich ermöglicht und erhärtet (Smaus 1995), weshalb wir sie hier vorab rekapitulieren möchten.
1.
Das geschlechtsspezifische Universum
Nach Harding (1990) haben gesellschaftliche Institutionen ein symbolisches Geschlecht. Wir leben in einem geschlechtsspezifischen Universum, das heißt, dass alle Worte unserer Sprache mit dualen Bewertungskategorien ›männlich‹ bzw. ›weiblich‹ verbunden sind: Leistung vs. gefühlsmäßige Zuwendung, hart vs. weich, Regeln folgend vs. flexibel, Wandel vs. Immanenz, Rationalität vs. Emotionalität, Hochschulprofessor vs. Kindergärtnerin, Strafe vs. Behandlung werden als ›männliche‹ bzw. ›weibliche‹ Attribute verstanden, wobei dem Männlichen ein höherer Status zugesprochen wird. Auf der höchsten Abstraktionsebene stehen sich – etwas hierarchisch verschoben – Kultur und Natur gegenüber. Es handelt sich ausschließlich um sprachliche Koordinaten, die auf keine ›natürlichen‹ Vorlagen zurückgreifen können. Vielmehr werden die ›natürlichen‹ männlichen und weiblichen Körpermerkmale in einer schon immer ›vergeschlechtlichten‹ (gendered) Sprache beschrieben.2 Individuen kommen zu ihrer Geschlechtsbestimmung bei der Geburt, wenn sie gemäß ihrer körperlichen Ausstattung einer amtlich verbindlichen Kategorie als Mann bzw. Frau zugeordnet werden. Dieses fortan verbindliche
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2
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Der Unterschied der feministischen Erkenntnistheorien zu ›männlichen‹ Wissenssoziologien besteht darin, dass während die letzteren die jeweilige Bedingtheit der Erkenntnis herausstellten, die gesamte Wissenschaft aber als eine Akkumulierung der Wahrheiten, in der sich die partiellen Verzerrungen aufheben, für ›objektiv‹ halten, die feministische Epistemologie die durchgängige geschlechtsspezifische Abhängigkeit des gesamten Projekts ›Wissenschaft‹ betont. Ein Blick in die Geschichte der Biologie zeigt, dass selbst der ›biologische Geschlechtsunterschied‹ noch konstruiert wird (Harding 1990: 135), indem die Unterschiede überbetont, das Gemeinsame dagegen unterdrückt wird. Biologie gehört zu den wichtigsten Gebieten der feministischen Forschung. Abgesehen von Versuchen, feministische Evolutionstheorien aufzustellen, welche plausibler als die der normal science wären, kann zumindest festgestellt werden, dass alle bisherigen Forschungen nicht bloß vom Anthropomorphismus, sondern vom Androzentrismus verzerrt waren. Sogar in das Verhalten von Affen wird hineininterpretiert, was der Herr gerne möchte (vgl. Harding 1990: 85). Vgl. auch den radikalen Dekonstruktivismus bei Judith Butler (1990).
WELCHEN SINN HAT DIE FRAGE NACH DEM ›GESCHLECHT‹ DES STRAFRECHTS?
Attribut bezeichnen West/Zimmerman (1987)3 als ›Sexkategorie‹. Die meisten Gesellschaftsmitglieder bringen ihre Sexkategorie, die sie im Sozialisationsprozess erlernt haben, in einer immerwährenden konstruktiven Tätigkeit hervor. Die Zuschreibung von männlichen und weiblichen (Gender-)4 Rollen bedeutet jedoch keineswegs, dass konkrete Menschen in diesen Rollen auch aufgingen, dass sie stets nur ›ihre‹ Rollen und nicht auch die des anderen Geschlechts ›spielten‹. Eine Frau (Sexkategorie) kann durchaus Pilot (gender männlich) spielen, und umgekehrt, ein Mann (Sexkategorie) Kindergärtnerin (gender weiblich). Alle Menschen sind im Stande, je nach dem normativen Gender-Kontext beide Geschlechterrollen hervorzubringen und dabei, wie Hirschauer meint, das Geschlecht, bei uns die Sexkategorie, in Interaktionen lediglich formelhaft »mitlaufen zu lassen« (vgl. Hirschauer 1994: 678). Das abwechselnde Geschlechter-Spielen ist durch die Tatsache begründet, dass Menschen notwendigerweise Positionen in der vertikalen (Schicht-) Struktur der Gesellschaft, in ihrer Altersstruktur und weiteren kulturellen Kontexten einnehmen. Dies wird in der gegenwärtigen feministischen Theorie als Intersektionalität bezeichnet.5 Es ist jedoch zu beobachten, dass sich selbst das Spielen der eigenen Sexkategorie nicht 3
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Diese Autoren rücken ab von der sonst üblichen Unterscheidung gender (soziale Geschlechterrollen) und sex, weil selbst sex – die ›natürliche‹ Ausstattung mit Geschlechtsorganen (der im Zweifelsfall von ärztlicher Seite zur Eindeutigkeit verholfen wird) sozial, in diesem Falle amtlich, gedeutet und zugewiesen werden muss. Gesellschaftsmitglieder reagieren in Interaktionen ›normalerweise‹ nur auf die Sexkategorie ihres Gegenüber, nicht auf seine verdeckten Reproduktionsorgane. Vgl. West/Zimmerman (1987: 131 ff.). Gender in Klammern bezieht sich auf die von der Sexkategorie eines Individuums unabhängigen Normen, Situationen, Handlungen, usw. Der Begriff intersectionality sollte zunächst auf die Überschneidung von Unterdrückungsstrukturen in der Konstellation ›frau‹, ›schwarz‹ und ›arm‹ aufmerksam machen (vgl. Collins 1990). Eigentlich hätte aber schon immer berücksichtigt werden müssen, dass Soziologie nicht den Menschen, sondern das Gesellschaftsmitglied (besser noch in der Mehrzahl: Gesellschaftsmitglieder) behandelt, welches bestimmte Positionen in der Gesellschaft einnimmt und entsprechende Rollen spielt, wie Dahrendorf im homo sociologicus schon 1959 einsichtig formulierte. Die Individualität eines Menschen ist in soziologischer Sicht durch das je besondere Rollenbündel bestimmt und erschöpft sich daher keineswegs in seiner GenderIdentität. Die ist immer schon ›intersektionell‹ kontaminiert, und die Frage, wie und wo gender hervorgebracht wird, ist eine theoretische Herausforderung. Vgl. Šmausová (2002). Es ist sinnvoll, die Gender-Ungleichheit unter der ceteris paribus-Formel zu betrachten: Wenn alle anderen Bedingungen (Herkunft, Bildung) gleich sind, sind Frauen (Sexkategorie) sozial (Ressourcen, Macht) unterprivilegiert. 29
GERLINDA SMAUS
länger an normativen Gender-Rollen orientiert. Stattdessen stellen sich Gesellschaftsmitglieder aus den zur Verfügung stehenden, bisher gendered Eigenschaften ihren eigenen Mix zusammen,6 eine Tatsache, die Beck im Jahre 1986 als Bestandteil der Individualisierungsprozesse bezeichnet.7 Die kritische Einsicht in das Wesen von gender, das kein Wesen hat, hat sich jedoch weder in der Wissenschaft, geschweige denn in der Praxis durchgesetzt, so dass die Erforschung der Welt mit der ›Gender-Lupe‹ (Bem 1993) nach wie vor – mit später zu diskutierenden Einschränkungen – berechtigt ist. Entsprechend der modernen Differenzierung in so genannte öffentliche und private Bereiche werden Eigenschaften, die als funktional für die Aufgaben des öffentlichen Bereichs betrachtet werden, als ›männlich‹ bezeichnet. Als ›weiblich‹ werden hingegen Eigenschaften bezeichnet, die mit dem so genannten privaten Bereich, hauptsächlich der Familie und den Anforderungen des Arbeitsmarkts mit vergleichbaren familiären Aufgaben kommensurabel sind. Nach Harding und anderen wird jedoch bei dieser Differenzierung (und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung) die Variable Geschlecht nicht funktional nach Leistung, sondern zum Vorteil der so genannten Männerherrschaft beurteilt und zugeschrieben. Die Quelle der ständigen Reproduktion der androzentrischen Geschlechterordnung ist der Arbeitsmarkt, weil hier ›echte‹ Konflikte um den Zugang zu begehrten Positionen ausgetragen werden. Die ›männlichen‹ Eigenschaften von Institutionen des öffentlichen Bereichs einschließlich des Arbeitsmarktes werden ›automatisch‹ von Subjekten reproduziert, die von vornherein entsprechend sozialisiert wurden, nämlich von Angehörigen der männlichen Sexkategorie. Gemäß der Annahme eines symbolischen Geschlechteruniversums ist es möglich, vom ›Geschlecht des Strafrechts‹ zu sprechen,8 anstatt es als eine ge-
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Wir könnten diese Identitäten als ›androgyne‹ bezeichnen, unter der Voraussetzung, dass die Verteilung von Eigenschaften auf gender überhaupt noch Sinn macht, bzw. dass der Gender-Dualismus aufrechtzuerhalten ist. Außerdem können (nach Hirschauer 2001: 217 f.) angelaufene Interaktionsskripte, die das Geschlecht relevant setzen, leer laufen und Anschlusspunkte vermieden werden. ›Geschlecht des Strafrechts‹ in Analogie zu Hardings ›Geschlecht des Wissens‹ (1990). Nach Olsen (1990) wird das Recht als männlich, androgyn, patriarchalisch u. a. bezeichnet. Vgl. auch MacKinnon (1979), Atkins/Hoggett (1984), O’Donovan (1985), Messerschmidt (1988), Lautmann (1990) u. a.
WELCHEN SINN HAT DIE FRAGE NACH DEM ›GESCHLECHT‹ DES STRAFRECHTS?
schlechtsneutrale Institution zu begreifen, bei der die Variable Geschlecht (ähnlich wie Schicht) lediglich eine ›Schräglage‹ verursacht.9
2.
Feministische Erkenntnistheorie im Sinne Sandra Hardings
Bei der Analyse des Geschlechts des Strafrechts können wir uns weitere Einsichten der feministischen Erkenntnistheorie von Sandra Harding zunutze machen. Innerhalb der feministischen bzw. Frauenforschung identifiziert sie drei unterscheidbare Zugangsweisen: Feministischer Empirismus sei dadurch gekennzeichnet, dass er Sexismus und Androzentrismus in der Forschung als gesellschaftlich bedingte Verzerrungen begreift, die durch strikte Anwendung der bereits existierenden methodologischen Normen der Wissenschaft korrigiert werden können (Harding 1990: 145 ff.). Wir können festhalten, dass es hierbei vornehmlich darum geht, die weißen Flecken der Wissenschaft – hic sunt feminae – aufzufüllen, ohne dass sich dabei im Großen und Ganzen an der Landkarte selbst etwas verändern würde. Die meisten Beiträge von Frauen über Frauenfragen in der Kriminologie und zum Strafrecht – und möglicherweise auch der eine oder andere Beitrag in diesem Band – können dieser Richtung zugerechnet werden.10 Problematisch an diesem Zugang ist, dass er wesenhafte Sexkategorien, Männer und Frauen, voraussetzt (z. B. dass sie unterschiedliche Neigungen zur Begehung von kriminellen Handlungen haben), ganz gleich, ob sie sich bei den Unterschieden auf biologische Ausstattung oder auf Sozialisationsprozesse berufen. Die feministische Standpunkttheorie habe ihren Ursprung in der Hegelschen Herr-Knecht-Dialektik. Die Unterdrückten – besonders wenn sie sich zu sozialen Befreiungsbewegungen zusammenschließen – seien imstande, die Welt aus einer umfassenderen Perspektive zu erfassen, weil sie die der Erkenntnis und Beobachtung hinderlichen Scheuklappen und Tarnungen beseitigten (Harding 1990: 13). Diese Dialektik lasse 9
Vgl. Tove Stang Dahl über das ›Recht‹: »The modern gender-neutral legal machinery meets the gender-specific reality – or let me rather phrase the controverse: the often gender-relative reality meets the unisex law« (1986: 361). Dieser Täuschung unterliegen auch die meisten feministischen Analysen der weiblichen Kriminalität, die die Ursachen für den geringen Anteil von Frauen an der Kriminalität durch ihre Andersartigkeit und nicht durch die Geschlechtsspezifität des Strafrechts erklären (vgl. Smaus 1990). 10 Vgl. z. B. Simon (1975), Adler (1978), Gipser (1975), Bröckling (1980), Funken (1989). 31
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sich auch auf das Geschlechterverhältnis anwenden. Die gesellschaftliche Vorherrschaft der Männer habe partielle und pervertierte Auffassungen und Vorstellungen zur Folge. Die androzentrische Forschung unterdrücke dasjenige Wissen, welches das Patriarchat im Allgemeinen in Frage stellen würde.11 Feminismus und Frauenbewegung stellten politische und motivationale Begründungen für einen ›Standpunkt‹ dar, der gleichsam eine moralisch und wissenschaftlich akzeptable Grundlage für feministische Interpretationen natürlicher und gesellschaftlicher Phänomene enthalte. Zu der Richtung des ›Standpunktfeminismus‹ können all diejenigen Forschungen gezählt werden, zu denen Frauen deshalb befähigt sind, weil sie sowohl in der Erziehung (gender weiblich) als auch in der Produktion (gender männlich) tätig sind und sie deshalb eine ›doppelte‹ Vergesellschaftung erfahren würden (vgl. Rose 1983; Hartsock 1983). Im Bereich des Strafrechts finden wir einen solchen StandpunktZugang bei Forschungen von ›Betroffenen‹ der männlichen Gewalt wieder, in denen Gewalt nicht als individuelle pathologische Erscheinung (wie im Empirismus), sondern als strukturelle Vorgabe für Frauen interpretiert wird.12 Der Standpunkt-Zugang ist in eine Metaphysik eines gender an sich und Reifizierung der Differenz (Weiblichkeit/Männlichkeit) und zudem in eigene epistemologische Widersprüche hinsichtlich des Wahrheitsbegriffes verstrickt. Er führt zu einer zunehmenden Politisierung der Fragestellung und dadurch zur einer Abkehr von der Wissenschaft. Feministischer Postmodernismus versuche, im Unterschied zum tief greifenden Skeptizismus und nicht verorteten ›männlichen‹ Postmodernismus eines Derrida, Foucault, Lacan u. a., der Wissen in nicht zusammenhängende Bruchstücke zersetze,13 Bausteine für eine neue, umfassendere und objektivere Wissenschaft vom universellen Standpunkt der Unterdrückten zu finden. Die feministische postmoderne Kritik der Wissenschaft betreffe die Tatsache, dass keine der bisherigen – ihrem Anspruch nach umfassenden – Theorien auf die tatsächlichen und hierarchischen Unterdrückungsstrukturen eingegangen seien. Selbst emanzipatorische Theorien seien, wenn sie nur den Aspekt der ›Klasse‹ thematisierten, unangemessen, weil sie die ethnische und die Geschlechterstruktur außer Acht lassen.14 Im Sinne einer radikalen konstruktivistischen Gender-Theorie müssen wir mit Verwunderung feststellen, dass selbst Harding, der wir die Einsicht verdanken, dass ein Geschlechteruniver11 12 13 14 32
Zum Begriff Patriarchat vgl. Schüssler-Fiorenza (1988: 15 ff.). Vgl. die systematische Übersicht in Smaus (1994). Vgl. auch Lyotard (1988), Baudrillard (1988). Für die Kriminologie vgl. Smart (1990: 78 ff.).
WELCHEN SINN HAT DIE FRAGE NACH DEM ›GESCHLECHT‹ DES STRAFRECHTS?
sum existiert, in dem das biologische Geschlecht keine bestimmende Rolle spielt, am Ende nicht ohne die Annahme von wesenhaften Männern und Frauen auskommt. Zudem erfordert der postmoderne Zugang gleichsam ein Mega-Narrativ, zu einer Zeit, in der der theoretische Wert eines jeden großen Interpretationsrahmens der ›Gesellschaft‹ und der ›Geschichte‹ bezweifelt wird. Die Berücksichtigung von Schicht und Ethnie führte daher im theoretisch günstigen Falle zu einer Segmentierung der Theorie im Begriff der Intersektionalität (siehe oben; vgl. auch den Beitrag von Althoff in diesem Band), im ungünstigen Falle zu einer tendenziellen Aufhebung dessen, was ›Frauen‹ als serielles Kollektiv gemeinsam haben (Young 1994). Die von Harding beschriebenen feministischen Zugänge ermöglichen eine Zuordnung kriminologischer Beiträge gemäß dem Stand der Gender-Theorien, denen sie allesamt ›hinterherhinken‹. Es wird aber auch deutlich, dass sich die in der Wissenschaft plausibelste Theorie über nicht-wesenhafte, nicht-stabile, nicht-durchgängige GenderIdentität, positiv ausgedrückt über die Notwendigkeit, die Identität immerwährend hervorzubringen und dabei kontextabhängig die eine oder die andere Gender-Rolle zu spielen, im Widerspruch zur Praxis befindet. Die meisten Institutionen, der common sense und schließlich Gesellschaftsmitglieder selbst kennen nur ganzheitliche Frauen und Männer, bei denen sie allenfalls die Stimmigkeit mit Rollenbildern prüfen, diese jedoch nicht in ihre Fragmente/Variablen zerlegen. Im Bereich der Kriminologie und des Strafrechts sowie der sozialen Kontrolle treffen Sanktionen konkrete, verbindlich geschlechtlich eingeordnete Menschen, unabhängig von der Errungenschaft einer konstruktivistischen Theorie. Dies alleine verführt Forscherinnen häufig dazu, eine wissenschaftlich überholte ›essentialistische‹ Perspektive einzunehmen, die, so vermutet man, relevant für die Praxis sei. Es ist allerdings fraglich, ob sich eine praktische Relevanz auf überholte Theorien stützen kann. Umgekehrt kann man an dieser Stelle bereits die Frage aufwerfen, wie nützlich denn die Annahme des Geschlechts von Institutionen ist?
II.
Homologie von Wissenschaft und Strafrecht
Meine einstige Befassung mit der Selektivität des Strafrechts, das vornehmlich arme, junge Männer kriminalisiert (Smaus 1988), hat bereits neben seiner Schicht- auch seine Gender-Lastigkeit enthüllt. Deshalb war mir Hardings Auffassung, dass auch Institutionen, bei ihr vornehmlich die Wissenschaft (vgl. Geschlecht des Wissens, 1994), ein Ge-
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schlecht haben, unmittelbar einsichtig. Die Ergebnisse der feministischen Erkenntnistheorie in Bezug auf die Eigenschaften der Wissenschaft lassen sich ebenso gut auf das Strafrecht übertragen, wie folgende Erläuterung Hardings zeigt: Die Wissenschaft als eine besondere selektive Konstruktion der Welt ist durch die soziale Stellung und die Interessen derjenigen geprägt, die an ihr mitgewirkt haben: der Gemeinschaft von weißen, westlichen, ökonomisch besser gestellten Männern. Die männlich (gender) in Sozialisationsprozessen geprägten Männer (Sexkategorie) schreiben in ihrer Tätigkeit als Wissenschaftler (gender) in die Wissenschaft diejenigen Eigenschaften ein und fort, die sie selbst für sich in Anspruch nehmen: Universalismus, Rationalität, Wertfreiheit, Unparteilichkeit, Interessenund Leidenschaftslosigkeit, Objektivität, Befasstheit mit abstrakten Regeln, Bevorzugung von harten Daten und durchdringenden Technologien, Vernunft, Geist, Kultur (vgl. Harding 1990: 127 ff.) – alles verbunden mit einem als unabhängig gedachten archimedischen Standpunkt. Die Wissenschaft gefällt sich darin – selbstreferentiell, wie man mit Luhmann (1990) sagen würde –, dass sie sich ausschließlich der Suche nach Klarheit, Wahrheit und Gewissheit verschreibt. Durch das Hochhalten dieser Werte werden die jeweils binären Kategorien wie Nähe, Wertung und Engagement, Empathie, Relativismus je nach Interessen (als verpönter Partikularismus), Emotionalität (als verpönte Irrationalität), sanfte, nicht penetrierende Methoden, Orientierung an der Anwendung und bewusst standpunktabhängiges Hervorbringen von Wissen, die als ›weibliche‹ Attribute gelten, nicht als komplementäre, sondern als hierarchisch untergeordnete Kategorien bewertet: Das fortschrittliche Männliche müsse über das natürliche Weibliche Herrschaft erlangen (vgl. Harding 1990: 159). Es war die Aufklärung (Hume, Kant), die diese Dichotomisierungen durchgesetzt hat. Der moderne Wissenschaftsbetrieb trennt darüber hinaus zwischen 1) dem Entdeckungskontext und 2) dem Rechtfertigungskontext des Wissens.15 Die Erkenntnis wird auch 3) von ihrer gesellschaftlichen Verwendung abgespalten und der Wissenschaftler von der Verantwortung für seine Entdeckungen entbunden. Damit hängt die Trennung von Denken und Fühlen zusammen, welche deshalb so problematisch ist, weil sie als Vorbild für andere Bereiche der gesellschaftli15 Im wissenschaftlichen Entdeckungskontext wird die Auswahl und Definition der Forschungsprobleme festgelegt; Rechtfertigungs- bzw. Begründungskontext bezieht sich auf eine angeblich rigorose Beweisführung, die – nach Harding – das Wissen lediglich legitimiert (vgl. Harding 1990: 113 f.). 34
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chen Praxis (z. B. im Schulwesen, in der Medizin, im Strafrecht u. a.) durchgesetzt wird. Die modernen Institutionen – und wir stellen im Folgenden auf das Strafrecht um – verschleiern ihre Beziehung zur Macht, obwohl sie sich die Anliegen der Herrschenden zu Eigen machen (vgl. Harding 1990: 130 ff.). Diese Eigenschaften weist das gegenwärtige Strafrecht auch dann auf, wenn in ihm nicht nur Männer (Sexkategorie), sondern auch Frauen (Sexkategorie) in männlichen Gender-Rollen tätig sind. Das Strafrecht geht von der Existenz einer einheitlichen Gesellschaft für Männer und Frauen (Sexkategorien) aus, obwohl praktisch jede Erscheinung mit einer geschlechtsspezifischen (gendered) Bedeutung belegt ist. Das Ignorieren des Geschlechterbegriffs verbirgt jedoch, dass das moderne Strafrecht die Bedeutungszuschreibungen der strafrechtlichen Zwecke für männliche (Sexkategorie) Interessen ausnützt (bezüglich der Wissenschaft vgl. Harding 1990: 159). Es konzentriert sich vornehmlich auf den Schutz prestigeträchtiger Bereiche des öffentlichen Lebens und vernachlässigt Situationen, die als ›inoffizielle‹, ›private‹ Bereiche bezeichnet werden. Wie zufällig sind dies den Frauen zugewiesene Lebensbereiche. Das moderne Strafrecht begreift ›Rationalität‹ als eine formale Eigenschaft, die keinen Aufschluss über Inhalte enthält und die lediglich die logische Stichhaltigkeit der Argumentationsketten zu überprüfen erlaubt. Hingegen kommt die feministische inhaltliche Deutung des Begriffes ›Rationalität‹ zu der Erkenntnis, dass dieser durchaus einen Nützlichkeitsaspekt im Sinne einer Kosten-Nutzen-Berechnung enthält: Der Männerherrschaft mag es ›rational‹ erscheinen, wenn nur Männer die wichtigen, für sie ertragreichen, ›rational organisierten Bereiche‹ verwalten, während Frauen der unberechenbare, aber auch lebendige ›Rest‹ überlassen wird. Den widerspenstigen Gegenstand von Gesellschaftswissenschaften und des Strafrechts – die Gesellschaftsmitglieder – versucht das Strafrecht dadurch unter Kontrolle zu bringen, dass das naturwissenschaftliche kausale Wissenschaftsmodell auch für die Erklärung von sozialen Tatsachen und strafrechtlichen Tatbeständen angenommen wird. Es geht von präexistenten Ursachen bzw. Motiven als Antrieben/Motoren für bestimmte Handlungen aus. Trotzdem unterstellt es in widersprüchlicher Weise, dass diese im Menschen wirkenden ›natürlichen‹ Kräfte wie die Natur selbst beherrschbar sind. In diesem Sinne können die allgemeinen Charakterisierungen des Strafrechts, die sein Selbstverständnis ausdrücken, noch um folgende Beschreibungen ergänzt werden: Es orientiert sich an Wahrheitsfindung (Deskription) als der Grundlage einer abstrakten, kontextunabhängigen
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Gerechtigkeit (Wertung, Askription) und nicht an einer Behebung von problematischen Beziehungen und Situationen. Die Vorliebe für dichotome Kategorien setzt es fort, indem es von Recht und Unrecht, von Tätern und Opfern spricht. Das Strafrecht zerstört Zusammenhänge, in die es interveniert, es trennt das ›befallene Glied vom Körper ab‹, indem es den Straftäter aus der Gesellschaft ausschließt. Es vertritt ein mechanisches Gleichgewichts- bzw. Vertragsmodell, in dem Schuld durch Strafe aufgewogen wird und berücksichtigt nicht, dass für Erziehung und Behandlung nicht-reziproke Formen der Zuwendung typisch sind (vgl. van Swaaningen 1989: 167).
III. G e s c h l e c h t e r s y m b o l i s m u s i m S t r a f r e c h t Die allgemeine geschlechtsspezifische Ausrichtung des Strafrechts drückt sich in allen seinen Bestandteilen aus, wie im Folgenden noch einmal in Analogie zum Wissenschaftsbetrieb, beispielhaft dargelegt wird.
1.
Primäre Konstruktionen des Strafrechts – Geschlechtsspezifität seiner Tatbestände (Der Entdeckungskontext)
Das Strafrecht ist zwar als ein gleiches Recht par excellence verfasst, hat aber je spezifische Adressaten. Das heißt, dass nur Gesellschaftsmitglieder in ganz spezifischen Situationen und Positionen bestimmte Tatbestände verletzen können. Die Aufnahme von Strafandrohungen für bestimmte Handlungen wird als primäre Kriminalisierung bezeichnet und wir können diesen Vorgang analog zur Wissenschaft als den ›Entdeckungszusammenhang‹ des Strafrechts betrachten, von dem wir wissen, dass er sich um seine Anwendung nicht schert. Schon in den 1930er Jahren wiesen Strafrechtswissenschaftler und Kriminologen (Hall 1947; Sutherland 1939) darauf hin, dass eine genaue Kenntnis des Strafrechts von vornherein zu bestimmen erlaubt, welche Mitglieder welcher Gesellschaftsgruppen zu Tätern werden, welche Motive für ihre Taten angenommen und welche ›Ursachen‹ der Straftaten in Frage kommen werden. Dies liegt daran, dass sich die Entscheidungen, bestimmte Handlungen ins Strafrecht aufzunehmen, nicht im luftleeren Raum abspielen, sondern auf einer Beobachtung und Bearbeitung von konkreten, kontextabhängigen Handlungen von Gesellschaftsmitgliedern beruhen. Bei der abstrakten Formulierung von strafrechtlichen Tatbeständen wird der
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soziale Kontext, in dem die Unerwünschtheit des Verhaltens und die Gründe, warum Menschen in bestimmten Positionen dieses Verhalten wählen, nicht mehr erwähnt. Das Strafrecht richtet sich dann scheinbar an ›alle, die ...‹, in Wirklichkeit jedoch nur an ›die, die im Stande sind, bestimmte Handlungen auszuführen, bzw. die, die zu bestimmten Begehungsweisen überhaupt Zugang haben‹. Auf diese Weise kann man bei gleichzeitiger Kenntnis der gesellschaftlichen Struktur und der Organisation der Geschlechter voraussagen, bei welchen Delikten vornehmlich Männer (gender) und bei welchen hingegen Frauen (gender) in Frage kommen. Wenn wir nicht schon wüssten, dass Frauen (Sexkategorie) nur solche Positionen in der Gesellschaft innehaben, die ihnen keinen Zugang zu gewichtigen Straftaten gewähren, die mit hohen Positionen verbunden sind, wir könnten darauf aus den Verletzungen, die sie begehen, schließen (vgl. Smaus 1990). Dies heißt im Umkehrschluss, dass Frauen solche Positionen in der Gesellschaft zugewiesen werden, für die sich das Strafrecht nicht besonders interessiert. Das wird häufig als Schutz der Privatsphäre vor strafrechtlichen Eingriffen beschönigend missverstanden. Die Privatsphäre stellt nämlich keinen nach Abzug von allem Öffentlichen verbliebenen Raum, sondern eine eigenständige rechtliche Konstruktion dar, die es den einstigen Patriarchen ermöglichen sollte, sich nach der Gründung von modernen Staaten einen Rest an Machtbefugnis wenigstens in ›ihren‹ Häusern und gegenüber ihren Familienmitgliedern zu erhalten (vgl. O’Donovan 1985: 56 f.; Pateman 1988; Dimoulis 1999: 15). In der Tat hat sich das Strafrecht historisch gesehen zunächst zum Schutze der maiestatis und später immer stärker zum Schutze der sich entfaltenden Produktion und des Handels entwickelt. Dies lässt sich an der Ausdifferenzierung der Tatbestände zum Schutz von verschiedenen Formen des Eigentums und der verschiedenen Formen, wie es verletzt werden kann, deutlich ablesen (vgl. Hall 1935; Lüdtke 1982; Hess 1986). Zwar schützt das Strafrecht auch ›Leben‹ und körperliche Unversehrtheit, doch bemisst sich der Wert beider abstrakter Kategorien an den Funktionen, die sie in verschiedenen Systemkontexten haben. Die maiestatis bildet heute der Staat mit seinen Institutionen. Beide ›öffentlichen‹ Systeme, die Staatsverwaltung und die freie Marktwirtschaft, nehmen für sich in Anspruch, nach Kriterien organisiert zu sein, die wir oben als die Selbstbeschreibung der Wissenschaft und des Strafrechts identifiziert haben. In beiden Systemen haben Frauen (Sexkategorie) nur untergeordnete Positionen, so dass man sagen kann, dass das Strafrecht hauptsächlich männliche (Sexkategorie) Adressaten hat, die in männlich (gender) organisierten Systemen tätig sind. Der strafrechtliche Begriff
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der Verantwortung setzt sogar explizit einen Menschen voraus, der in die Gesellschaft mit vollen Rechten und Pflichten integriert ist und der auch imstande ist, diese wahrzunehmen – also den vernünftigen Menschen (reasonable man), ein bona fide Mitglied der Gesellschaft, dem die Ehre gebührt, dass seine Strafverletzungen öffentlich, vor einem aus Ehrenmännern bestehenden Gericht, mit großem Aufwand behandelt werden.16 Frauen werden offenbar ausreichend innerhalb der so genannten informellen sozialen Kontrolle überwacht (vgl. Smaus 1993). Die Annahme des geschlechtsspezifischen Charakters des Strafrechts erklärt den geringen Anteil von Frauen an der Kriminalität viel zuverlässiger als ätiologische Theorien. Frauen verhalten sich nicht deswegen weniger kriminell, weil sie ein ›besseres Wesen‹ hätten und auch nicht deshalb, weil sie die ›weiche‹ weibliche Rolle zu einer Verletzung des Strafrechts unfähig machte, sondern deshalb, weil das Strafrecht nicht eine geschlechtsneutrale Zusammenfassung allmenschlicher Moral und schützenswerter Güter darstellt.17 Als ausdrückliche Adressatinnen des Strafrechts kommen Frauen im Zusammenhang mit ihrer reproduktiven Funktion und der Organisation des sexuellen Triebes vor (vgl. Bröckling 1980). Dies deutet prima facie auf eine hohe Bewertung der reproduktiven Leistung hin. Wie jedoch die ›flexible‹ Handhabung des § 218 Strafgesetzbuch (StGB) zeigt, geht es hierbei nicht um den Schutz des ungeborenen Lebens oder eine tatsächliche Kontrolle der natürlichen Reproduktion, sondern um Versuche, Frauen moralisch zu degradieren, um sie auf dem ihnen zugewiesenen ›Platz‹ festzuhalten. Mitunter bleiben Frauen (Sexkategorie) auch wegen anderer Tatbestände im strafrechtlichen Netz hängen. Seine implizite Geschlechtsspezifität zeigt sich dann darin, dass den scheinbar gleichen Handlungen, wie z. B. Diebstählen, bei Frauen ein anderer ›Sinn‹ als bei Männern zugeschrieben wird. Die moderne Bedeutung von Diebstahl impliziert nämlich nicht bloß, dass sich jemand etwas ohne Gegenleistung aneignet, sondern gleichzeitig, dass er dies tut, statt seinen Unterhalt auf lega16 Die ›armen‹ armen Kriminellen und deshalb behandlungsbedürftigen Menschen hat nicht das Strafrecht, sondern erst später die Kriminologie hervorgebracht (vgl. Foucault 1976). 17 Eine solche Unterstellung liegt z. B. der Frage von Cain zugrunde, warum die Konstruktion der männlichen Geschlechter-Rolle so abgrundtief kriminogen sei (vgl. Cain 1990: 12). Die Antwort darauf wäre: Weil Männer im Besitze der (Straf-)Macht ihren (armen und machtlosen) Geschlechtsgenossen bestimmte Zugänge zu Ressourcen verbieten. Dass das Strafrecht geschlechtsspezifisch verzerrt wird, hat Bertrand bereits 1967 beobachtet. Das Strafrecht verbietet – zumal bestimmte – Zugänge, das Zivilrecht verwehrt Zugang, denke ich. 38
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lem Wege – und sei es in Form eines Lohnsurrogats wie z. B. der Sozialhilfe – zu bestreiten. Das Diebstahlsverbot ist also mit einer Erwartung an das ›richtige‹ Verhalten des Mannes als des Ernährers der Familie (legale Konstruktion) in der Arbeitswelt verknüpft. Versagen Männer in dieser Rolle und stehlen ihre Frauen ›deshalb‹ Lebensmittel oder anderen Haushaltsbedarf, um die Kinder durchzubringen, bzw. begehen sie betrügerische Handlungen, um Kinder an höheren Schulen halten zu können (vgl. Funken 1989), handeln sie konform mit ihrer weiblichen Rolle und verletzen das Strafrecht nur ›nebenbei‹, nämlich an ihrer Männer Statt. Frauen handeln dann ›unter Druck‹, in Ausnahmesituationen, die keine legalen Alternativen enthalten. Das sind exkulpierende Momente und Frauen werden deshalb häufiger zu milderen Strafen verurteilt. Die unterschiedliche rollenbezogene Bedeutung von Diebstahl zeigt sich auch darin, dass Frauen eher auf den Gebrauchswert der gestohlenen Ware für die natürliche Reproduktion, Männer hingegen häufiger auf ihren Tauschwert im Bereich der materiellen Reproduktion abstellen, was sich im höheren Strafmaß ausdrückt. Die ›Milde‹ der Richter, die ihnen als ›Ritterlichkeit‹ ausgelegt wird, geht, wie wir angedeutet haben, nicht auf eine unspezifische ›Attraktivität‹ von Frauen (Sexkategorie) zurück (vgl. Oberlies 1995), sondern ist ein Zeichen einer adäquaten Anwendung des Strafrechts dort, wo der Buchstabe des Gesetzes zu einer inadäquaten Lösung führen würde.18 Eine Frau wegzusperren, ist etwas anderes, als einen Mann, der schon vorab aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen wurde, in Haft zu nehmen, denn eine Reservearmee von Müttern und Hausfrauen gibt es nicht.19 Allerdings schützen Richter mit der unterschiedlichen Tatbewertung nicht die Frauen selbst, sondern ihre traditionelle familiäre Rollenzuweisung, konkret die Kinderaufzucht und die häusliche Pflege des ›Familienernährers‹.
18 Die im Strafrecht mögliche Flexibilität verrät, dass auch hier – wie in der Wissenschaft – verdrängte, als weiblich (gender) bezeichnete Eigenschaften ›versteckt‹ sind (vgl. Hanmer/Stanko 1985). Richter nutzen mitunter den Entscheidungsspielraum ›flexibel‹ aus, sie gehen mit dem ihnen anvertrauten Instrument ›weich‹ und nicht wie vorgesehen ›hart‹ um. 19 Vgl. Kips (1991). Edwards (1989: 175) meint, gezeigt zu haben, dass sich das Personal rechtlicher Institutionen nicht vom weiblichen Geschlecht per se, sondern von der Wahrnehmung und Bewertung von mit dem sozialen Geschlecht verbundenen Eigenschaften beeindrucken lässt. Das Geschlecht per se gibt es aber ohne zugeschriebene Eigenschaften nicht, so dass es stets die weibliche Rolle ist, auf die in Gerichtsverhandlungen implizit Bezug genommen wird und die dadurch wiederum reproduziert wird. 39
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2.
Die Geschlechtsspezifität der Rechtsprechung – selektiver Schutz der Opfer (Der Rechtfertigungskontext)
Sehr viel detaillierter als die Geschlechtsspezifizität der Tatbestände ist bisher die der Rechtsprechung untersucht worden. Dass Frauen als Sexkategorie nicht generell mit Erleichterungen rechnen können, zeigt sich, wenn sie bei der Strafrechtsverletzung eine männliche Gender-Rolle spielten. Besonders heftige Reaktionen der Richter erfolgen, wenn angeklagte Frauen die weibliche Rolle nicht etwa unterschreiten (schlechte Mütter), sondern sie aufheben (gar keine Mutter), sich wie Männer verhalten und z. B. Gewalt mit Waffen anwenden, Waren um des Profits willen stehlen usw. (vgl. Scutt 1979; Hancock 1980). Das bestätigt, dass Männer und Frauen nicht als natürliche Wesen vor Gericht stehen, sondern als Träger von sozialem Geschlecht, welches sich in Rollen thematisiert. Rollen selber sind in und durch die vergeschlechtlichte Arbeitsteilung begründet, mithin wird der Bezug der nach Sexkategorie eingeordneten Person eben zu dieser Struktur beurteilt. 20 Weit auffallender als die selektive Behandlung der geringen Anzahl von weiblichen Angeklagten – mal Sexkategorie, mal gender21 – ist die Selektivität des strafrechtlichen Schutzes im Hinblick auf das Geschlecht des Opfers. Besonders bei Gewaltanwendungen gegenüber Frauen (und Kindern) ist eine weitgehende Immunisierung der männlichen Täter vor adäquaten Strafen zu beobachten. Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass in den wenigen Fällen, in denen Kontrollorganen sexuelle Misshandlungen von Kindern bekannt werden, Angeklagte häufig mit Begründungen entlastet werden, dass sich die Taten schwer nachweisen ließen, zumal Kinder unglaubwürdige Opfer-Zeugen seien (Fegert 1991: 67 f.). Besonders unsensibel ist die ›harmlose‹ Einstufung eines Missbrauchs ohne Gewaltanwendung, die die Abhängigkeit des 20 So wird z. B. beobachtet, dass arme, schwarze Frauen vor Gericht so streng wie Männer behandelt werden (vgl. Rice 1990: 57 ff.). Dies wird als die Wirkung der Variablen ›Ethnie‹ interpretiert, was freilich keine Erklärung, sondern die Verdoppelung der Beobachtung ist. Eine Erklärung könnte vielmehr darin bestehen, dass schwarze Frauen wie Männer behandelt werden, weil sie (wie sonst weiße Männer) Oberhäupter und Ernährer ihrer Familien sind und sie deshalb auch der gleichen Erwartung unterliegen, ihren Unterhalt auf dem Arbeitsmarkt zu verdienen. 21 In der konstruktivistischen Perspektive wollen wir schon hier berücksichtigen, dass die Sexkategorie seitens der Richter unter Umständen gemäß dem gender der tatsächlich eingenommenen Rolle umdefiniert wird. Schlechte Mutter – Sexkategorie weiblich, Terroristin mit Waffe – gender männlich. 40
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Kindes von den jeweiligen Erwachsenen verkennt (vgl. Remmschmid u. a. 1990: 233). Eine demütigende Behandlung seitens der Organe sozialer Kontrolle – der Ärzte, der Polizei, der Staatsanwälte und der Richter – erfahren vor allem vergewaltigte Frauen. Ihre Situationsdeutung wird nicht ernst genommen, oder als nicht glaubwürdig bzw. als übertrieben bezeichnet. Frauen werden kognitive Fähigkeiten abgesprochen und ihre Anzeigen wegen ihrer ›bloßen‹ Emotionalität zurückgewiesen (vgl. Janshen 1991: 379 ff.). Vertreter der sozialen Kontrolle füllen die leeren Buchstaben des Gesetzes mit männlichen Alltagstheorien: Zu einer normalen Sexualität gehöre es, dass sich Männer mehr aktiv, Frauen dagegen eher passiv verhalten; Männer seien sexuell triebhafter als Frauen; die vergewaltigte Frau habe sicherlich dem Täter vorher Hoffnungen gemacht; der Täter wurde von Liebe übermannt; das Opfer nehme es auch sonst mit der Treue zu einem Partner nicht so genau usw. Nach Meinung der Richter gibt es nur ganz wenige ›echte‹, dafür aber viele ›unechte‹ Opfer von Vergewaltigungen. Das Verhalten und der Ruf der ›unechten‹ Opfer werden dann oftmals zur Entschuldigung der Täter eingesetzt (vgl. Abel 1988: 69 ff. und auch den Beitrag von Isabel Kratzer in diesem Band). Das Desinteresse des Strafrechts an den ›nicht-prestigeträchtigen‹ Bereichen kommt besonders deutlich im Umgang mit Misshandlungen von Frauen seitens ihrer Ehemänner, Verlobten, Freunde in der ›privaten Sphäre‹ zum Ausdruck (vgl. Stanko 1985: 70). Für die ›private‹ Gewalt, zu der körperliche Misshandlungen und ›Erzwingung des Beischlafs in der Ehe‹ zählen, ist offenbar niemand offiziell zuständig. Die Polizei als die ›erste Instanz‹, die dem Strafrecht zuarbeitet, betrachtet die von Frauen erlittenen Körperverletzungen als zufällige Folgen ›familiärer Auseinandersetzungen‹, bei denen sie nicht eingreifen muss. Auf Hilfe suchende misshandelte Frauen reagieren sie häufig mit Missachtung. Frauen seien selbst Schuld, wenn sich der Beamte am liebsten mit dem Ehemann identifizieren möchte (vgl. Hagemann-White u. a. 1981: 113 ff.). Im Gesetz und in der Rechtsprechung herrsche noch immer die Meinung vor, dass Geschlechtsverkehr zu den im Ehevertrag festgelegten Pflichten gehöre und dass frau mit ihrer Weigerung eine Unterlassung begehe (vgl. Paetow 1987: 141 ff.). Als besonders sexistisch erweisen sich Begründungen bei Tötungshandlungen von Männern an ihren Partnerinnen, wie sie Dagmar Oberlies (1995) untersucht hat. Bei ihrer Analyse von Gerichtsakten stellte sie fest, dass trotz des Abscheus, der gegenüber solchen Taten (und dem ›Milieu‹) auch bei Richtern besteht, überwiegend ›Verständnis‹ im Sinne von Entschuldigung der Täter in die Urteile einfließt. Es
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werden überwiegend Motive mit entlastenden Mustern angeführt, wie z. B. dass der Täter unter ›Gruppendruck‹ handelte, statt dieses nicht zu rechtfertigende männerbündische Ritual negativ zu beurteilen. Ebenso wenig wird eine gewalttätige Dynamik verurteilt. Tötungen werden als Verdeckungstaten angesehen, ohne dass schon die vorangegangene sexuelle Gewalt als Auslöser selbst in Frage gestellt würde. Vielmehr sei das Opfer nach der Vergewaltigung nicht mehr ›arglos‹. Diese Argumentation erspart dem Täter den Vorwurf des heimtückischen Mordes. Die Gerichte unterstellen, dass der Sexualtrieb des Mannes seine Steuerungsfähigkeit, seine Fähigkeit zu denken, außer Kraft setze, wobei ihm ein uneingeschränktes Recht auf Befriedigung zustehe.22 In dieser Hinsicht ist besonders die Gleichsetzung der Einheit einer strafbaren Handlung mit der steigenden Erregung des Täters bis zum Samenerguss verräterisch. Frauen sollen dem Partner jederzeit zur Verfügung stehen und all seine Wünsche erfüllen, wobei dieser Besitzanspruch von Männern über Frauen nicht selbst schon als eine Form der Gewalt, sondern als deren Anlass bewertet wird. Wenn sich Frauen von ihren misshandelnden Männern lösen, zeigen Richter für die tödliche Eskalation der männlichen Reaktion viel Verständnis. Die weitgehende Immunisierung von gewalttätigen Männern ist so auffallend, dass sie zu dem Schluss berechtigt, dass physische Gewalt nur scheinbar vom Staate monopolisiert wurde, dass sie vielmehr dort, wo es um ›Behandlung‹ von Frauen und Kindern in (aber nicht nur) ›privaten‹ Bereichen geht, als eine quasi-legale zugelassen wird (vgl. Smaus 1993). Dies kann weiterhin im Sinne des oben erwähnten Zusammenhangs zwischen androzentrischen Institutionen und männlichen Interessen auch als eine implizite Komplizenschaft von Männern in hegemonialen Positionen, konkret im Strafrecht, mit untergeordneten Männern auf Kosten des weiblichen Geschlechts (und der Kinder) interpretiert werden.23
22 Dies liest sich so: »Zugunsten des Angeklagten war zu berücksichtigen, dass er sich möglicherweise aufgrund der Schwangerschaft seiner Ehefrau in einem sexuellen Spannungszustand befunden hatte [...] Allerdings muss sich der Angeklagte insoweit entgegenhalten lassen, dass er andere Möglichkeiten hätte finden können, um diesen Zustand abzubauen« (Oberlies 1995: 75). 23 Eine Frau aus der Frauenbewegung, die an einer Umerziehung inhaftierter sexueller Gewalttäter beteiligt war, musste erkennen, dass sie sich von ›normalen‹ Männern nur durch die angezeigte Vergewaltigung unterscheiden (vgl. Tügel/Heilemann 1987: 97). 42
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3.
›Männliche‹ Behandlungsmethoden des Strafrechts (Der Anwendungskontext)
Wie Wissenschaftler sind auch Strafrichter ausdrücklich von einer Verantwortung für die sozialen Folgen ihrer Entscheidungen entbunden. Dass das Strafrecht nicht zu einer Behebung der problematischen Situationen, die Gesellschaftsmitglieder mitunter mit strafrechtlich verbotenen Mitteln zu lösen versuchen, beiträgt, sondern sie sekundär noch verschlechtert, ist in der kritischen Kriminologie, der abolitionistischen Perspektive und in Beiträgen zu der Geschlechtsspezifität des Netzes der sozialen Kontrolle zur Genüge dargelegt worden.24 Alle bislang vorgeschlagenen Alternativen zur strafrechtlichen Reaktion ließen sich mühelos den als weiblich bezeichneten Eigenschaften zuordnen: In der abolitionistischen Perspektive eines Nils Christie (1982) erscheint Devianz nicht als eine klare Übertretung von eindeutig formulierten Normen, sondern als eine Imponderabilie des Lebens, die Frauen aus der Erziehung von Kindern nur allzu gut bekannt ist. Alle negativen Sanktionen im Nahraum, und nur dort sind sie gleichermaßen sinnvoll wie legitim, bezwecken die Wiederherstellung eines friedlichen Zustandes und nicht die Zerstörung der Gruppe/Gemeinschaft durch den Ausschluss des ›Abweichenden‹. Einen Dualismus von Tätern und Opfern gibt es schon deshalb nicht, weil am Problem wahrscheinlich immer schon mehrere Personen mit gleichermaßen berechtigten Interessen und Leidenschaften beteiligt sind, und im Übrigen die Rollen der Beurteilten und der Beurteilenden in der Gruppe im Laufe der Zeit ständigem Wechsel unterliegen. Das Losungswort heißt nicht ›Leid zufügen‹, sondern Fürsorglichkeit für die Betroffenen, Erhalt der Gruppe/Gemeinschaft (vgl. Christie 1982). Eine ausgleichende Gerechtigkeit ist nämlich in keiner Weise auf das Sanktionensystem des Strafrechts beschränkt – im ›Leben‹ stellt sie sich häufig selbst her.25 Nichtsdestotrotz bleibt das Strafrecht seiner männlichen (gender) Logik verhaftet. Bei der seit langem hohen Arbeitslosenrate bei Männern (Sexkategorie) geht es darum, den Konnex ›legales Einkommen – 24 Vgl. Sack (1968), Hulsmann (1986), Smaus (1993). 25 Auf viele dieser Aspekte wies van Swaaningen schon 1989 hin, nur schränkte er seine Bezeichnung des Strafrechts auf ›männliches Denken über Frauen‹ ein. Eigentlich aber haben Männer mehr als Frauen Grund dafür, sich statt einer ›harten‹, uneinsichtigen Behandlung von Männern (Sexkategorie) im Besitze der Macht, eine sensible, die Vielfalt berücksichtigende Behandlung nach dem Persephone-Modell (gender weiblich) zu verlangen, denn sie sind es, die dem strafrechtlichen Zugriff in 80 Prozent aller Fälle ausgesetzt sind. 43
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Konsum‹ zu erhalten, während Frauen weiterhin nur vermittelten Zugang zu Ressourcen haben sollen. Zu diesem Schluss berechtigten die besonderen Eigenschaften der Frauengefängnisse. Wir sagten schon, dass vor allem solche Frauen mit Freiheitsstrafe belangt werden, die die Rollendifferenzierung als solche verletzten, d. h. die sich in irgendeiner Weise ›männlich‹ verhielten. Statt ihnen zu gestatten, einen männlichen Habitus (gender) weiter zu entwickeln und legale männliche Rollen zu übernehmen, trägt die gesamte Anlage der Frauengefängnisse dazu bei, das alte Rollenstereotyp mit Gewalt durchzusetzen.26 Eingeschlossene Frauen können in der Regel nur ›weibliche‹ Berufe wie Köchin oder Näherin erlernen, die sie in Freiheit nicht werden ernähren können und die sie deshalb wahrscheinlich wieder in Abhängigkeit von einem ›Ernährer‹ bringen, ein Zustand, gegen den sie mit strafrechtlich verbotenen Handlungen aufbegehrten. Sie erhalten keine Gelegenheit, ›männliche‹ Berufe mit Aussicht auf Beschäftigung auf dem öffentlichen Arbeitsmarkt zu erlernen, sie werden lediglich zu ›zuverlässigen Ehefrauen von zuverlässigen Proletariern‹ abgerichtet.
4.
›Männlich‹ in Inhalt und Form
Das ›Geschlecht‹ des Strafrechts drückt sich nicht nur in seinen Inhalten, sondern wie eingangs dargelegt, bereits in seiner Form aus. Was Max Weber (1956) als die Entwicklung des Rechts im Allgemeinen beschreibt, gilt auch für das Strafrecht: Die Entwicklung des modernen, formal rationalen Rechts setzte zunächst die Generalisierung voraus. Sie besteht in der Reduktion der für die Entscheidung des Einzelfalles maßgebenden Gründe auf ein oder mehrere Prinzipien, die fortan in Rechtssätzen festgehalten werden. Daran knüpft die synthetische Arbeit der juristischen Konstruktion von Rechtsverhältnissen und Rechtsinstitutionen an. Sie besteht in der Erfassung der rechtlichen Relevanz der in typischer Art und Weise verlaufenden Handlungsweisen und der Bestimmung der Art und Weise, wie diese relevanten Bestandteile in sich logisch widerspruchslos als rechtlich geordnet zu denken seien. Der letzte Schritt besteht in der Systematisierung, d. h. in der In-BeziehungSetzung aller Rechtssätze, damit sie ein logisch klares, in sich widerspruchloses, und vor allem prinzipiell lückenloses System von Regeln bilden (Weber 1956: 123 ff.). Zusammen mit der Unterstellung, dass das, was sich juristisch nicht konstruieren lasse, rechtlich nicht relevant
26 Für das Gefängnis vgl. Smaus (1991); andere Institutionen sozialer Kontrolle vgl. Kersten (1986), Lees (1986). 44
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sei, und dass das Gemeinschaftshandeln von Menschen durchweg als Anwendung oder Ausführung bzw. als Verstoß gegen Rechtssätze gedeutet werden müsse (ebd.: 126), bilden sie die Grundlagen des gegenwärtigen positiven, formal rationalen Rechts. Dies ist eine durchaus positive Beschreibung des Rechts, das, wenn es unter dem Genderaspekt betrachtet wird, dem ›männlichen Teil des Universums‹ zugeordnet werden kann.
IV. D a s S t r a f r e c h t : ›männlich‹ oder ungerecht und repressiv? Nun müssen wir uns abschließend fragen, welcher Gewinn mit der Identifizierung des ›männlichen‹ Geschlechts des Strafrechts als einer herrschenden, öffentlichen Institution mit hoch angesehenen Werten, erzielt wurde. Der Diskurs um den Androzentrismus der Wissenschaft in tschechischen feministischen Kreisen hat mich erkennen lassen, dass eine generelle Bestimmung einer Erscheinung als ›männlich‹ leicht in Ideologisierungen abgleitet, die, statt feministische Aufklärung zu leisten, den Dualismus von ›männlich‹ und ›weiblich‹ fortschreibt. Würde die Wissenschaft ihrem Sinne nach objektiver bzw. das Strafrecht irgendwie gerechter werden, wenn sie bzw. es ›weibliche‹ Eigenschaften integrieren würde? Wenn einmal eingeführte Spezifizierungen von Bereichen wieder rückgängig gemacht würden? Diese Unterstellung enthüllt, dass der Gender-Diskurs in die ›postmoderne‹ Auseinandersetzung um die Moderne geraten ist. Hierin geht es je nach ideologischem Standpunkt auf der einen Seite darum, in der modernen gesellschaftlichen Differenzierung nicht intendierte ›Fehlentwicklungen‹ zu korrigieren, bzw. um eine Dialektik der Aufklärung, wie es Horkheimer und Adorno (1979) ausgedrückt haben. In ihrem Duktus wird die Kritik der modernen Differenzierung als der Prozess einer sich selbst reflektierenden Moderne beschrieben (vgl. Beck 1994; Giddens 2008). Auf der anderen Seite wird gemäß einer konservativen Meinung eine Rücknahme moderner Ergebnisse und Rückkehr zu vergangenen Gesellschaftsregimen gefordert. In diesem Richtungsstreit mache ich mir Habermas’ (1985) Meinung zu Eigen (entgegen dem auch von Harding erwähnten Skeptizismus von Foucault und Derrida), dass die Selbstbegründung der Moderne aus Vernunft immer noch möglich und wünschenswert ist, wenn der Vernunftbegriff selbst einer Revision unterzogen wird. Die feministische Wissenschaft ist wie keine andere dazu geeignet, die mögliche hegemoniale Beschränkung des Vernunftbegriffs aufzudecken und ihn zu korri-
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gieren, bzw. ihn um die vergessene Logik der so genannten ›natürlichen‹ Reproduktion anzureichern. Keineswegs ist es aber ratsam, sich den Begriff Vernunft kampflos als männliches Attribut enteignen zu lassen und sich im gleichen Zuge mit den hegemonial zugeschriebenen weiblichen Eigenschaften restlos zu identifizieren. Eine unvermittelte Einführung des als ›weiblich‹ gedachten Gegensatzes ›Gefühl‹ in formale Institutionen hätte eine post- bzw. gegenmoderne Entdifferenzierung von gesellschaftlichen Bereichen zur Folge. Dies hieße im Falle der Wissenschaft ein Verwischen der Grenzen zwischen (streng) formal definiertem Wissen und anderen ›weichen‹ Wissenssystemen, im Falle des Strafrechts z. B. die Einführung von situationsabhängigen Zweckgedanken, die es von vornherein (nicht erst in der Selektivität seiner Anwendungen) als ein ungleiches Recht erscheinen ließen. In diesem Sinne finde ich die Vorstellung, Feministinnen möchten das Rad der Geschichte herumreißen und auf die Errungenschaften des modernen, universalen, formalen Rechts verzichten, schauderhaft. Kann man (sich) die Gender-Frage trotzdem sinnvoll stellen? Erstens sollten wir die hier erfolgte Zuordnung von Eigenschaften zu Geschlechterkategorien als das begreifen, was sie wirklich sind – nämlich bequeme duale Kategorien zur schnellen stereotypischen kognitiven und emotionalen Orientierung im common sense. Die Wissenschaft vom Strafrecht hat sich jedoch theoretisch der Dekonstruktion und dem empirischen Nachweis von Thesen verschrieben. Die Zuordnung stützte sich ›nur‹ auf stereotype Annahmen über Geschlechterattribute ohne empirischen Gehalt, in der Unterstellung, Männern (Sexkategorie) wären diese tatsächlich eigen. Wir wissen aber schon, dass es eindeutige und einheitliche Identitäten nicht gibt und dass alle Menschen alle Eigenschaften (im unterschiedlichen Maße) besitzen und tendenziell alle möglichen Rollen ausführen. Die De-Reifizierung von gender auf der individuellen Ebene muss unbedingt auf den beiden höheren Abstraktionsebenen des Arbeitsmarktes27 und der Institutionen fortgesetzt werden. Es kann doch nicht sein, dass in der Rede vom ›Geschlecht‹ des Strafrechts das Strafrecht selbst als ein Wesen mit reproduktiven Organen erscheint, in einer 27 Bezüglich des Arbeitsmarktes muss richtig gestellt werden, dass es keine ›natürliche‹ Arbeitsteilung gibt, sondern stets wandelbare hegemoniale Bestimmungen – sowohl im Hinblick auf die fachliche, horizontale als auch die hierarchische Struktur. Hegemoniale Männer (gender) bestimmen, welchen ungleichen Nutzen davon konkrete Männer und Frauen als Sexkategorien haben sollen. Im Sinne einer Dekonstruktion von Geschlecht sind vor allem die zahlreichen Fälle von Bedeutung, wenn Frauen (Sexkategorie) die hegemoniale ›männliche‹ Rolle spielen, und umgekehrt. 46
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extremen Verdinglichung eines Katalogs, der auf der Ebene von Individuen keine zutreffende Beschreibung liefert. Im Anschluss an die Textanalyse des Strafrechts müssten wir prüfen, ob sich die Zuordnungen empirisch nachweisen lassen – und dies spezifiziert nach Kontexten und Situationen. Hierbei ist zu erwarten, dass auch im Strafrecht, ähnlich wie in der Wissenschaft, fürsorgliche (und andere) Momente untergebracht sind, in einer Weise freilich, die seine/ihre formal eindeutige ›männliche‹ Ästhetik nicht stört. Auf die symbolische Zuordnung ›männlich – weiblich‹ könnten wir dann verzichten, denn formal und repressiv, informal und fürsorglich würde das Gemeinte in deskriptiver Weise ausreichend zum Ausdruck bringen. Im Sinne der »Dialektik der Aufklärung« müssten wir uns weiter (oder vorab) die Frage stellen, ob das Männliche (gender) für Gesellschaftsmitglieder und in welcher Weise tatsächlich abträglich ist, statt es von vornherein mit einem Unwerturteil zu belegen. Das klingt im Falle des Strafrechts, besonders für Abolitionisten, ziemlich repressiv, aber nur, wenn für kurze Zeit die gegenüber dem vormodernen Strafrecht fortschrittlichen Seiten außer Acht gelassen werden. In der Wissenschaft wird schneller als im repressiven Strafrecht einsichtig, dass nicht so sehr ihre eigenen Prinzipien, als vielmehr ihre hegemonialen Verzerrungen kritikwürdig sind.28 Die beständige hegemoniale Tätigkeit von einigen Männern (gender, weil auch die Sexkategorie Frau in hegemonialen Positionen agieren kann) zusammen mit der Trägheit von Institutionen (gender), die zu Ungunsten von nicht hegemonialen Männern und Frauen (Sexkategorien) wirken,29 ist ja nur möglich aufgrund von gleichzeitig erbrachten positiven Leistungen. Mit anderen Worten: Der Gebrauch der als männlich beschriebenen Werte muss von ihrem Missbrauch durch hegemoniale Männer (gender) getrennt werden. Es ist Harding (1990) zuzustimmen, dass (fast) alle Leistungen bzw. Eigenschaften für die Reproduktion der Gesellschaft notwendig sind, gleich, wem sie zu28 In dem Versuch, den feministischen Standpunkt-Zugang anzuwenden, zeigten sich die Aporien seiner Selbstdefinition: explizite Parteilichkeit für Frauen – alle Frauen? Welche Frauen? Wesenhafte Frauen? Betroffenheit der Forscherinnen: Sind Forscher grundsätzlich nicht betroffen? Stichwort ›Selbstreflektion‹: Eine aufklärende Selbstreflektion ist nur intersubjektiv möglich. Wissen sei situationsgebunden. Gilt dasselbe für seine Überwindung? Wenn man auf ›große‹ Theorien verzichtet, was tritt dann an deren Stelle? Zum Stichwort: ›unsensible‹ Methoden der normal science. Lässt sich ein intersubjektiver Ansatz in den Ergebnissen der ›sensiblen‹ Forschung nachweisen? 29 In der konstruktivistischen Perspektive würden beide – nicht hegemoniale Männer und Frauen als Sexkategorien aufgrund des gemeinsamen Merkmals Macht-Subordination – unter gender weiblich subsumiert werden. 47
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geordnet werden. Deshalb kann es in der feministischen Sicht nicht darum gehen, generell alle ›männlichen‹ Orientierungen zurückzuweisen, sondern zunächst um ihre kritische Würdigung und anschließend z. B. um eine Kritik ihrer Ungleichverteilung. Wieso sollen nur Männer Recht auf anspruchsvolle Kultur und Vernunft haben, während sich Frauen mit den weniger prestigeträchtigen Kategorien Natur und Gefühl begnügen sollen? Frauen (Sexkategorie) haben einen Anspruch darauf, die positiven ›männlichen‹ Attribute nicht nur faktisch zu besitzen (das beweisen ihre Leistungen auf dem Arbeitsmarkt), sondern auch darauf, dies ebenso offen wie Männer herauszustellen. Frauen (Sexkategorie) müssen sich in öffentlichen Bereichen (z. B. in der Wissenschaft und im Recht), die zur abstrakten Formation ›Gesellschaft‹ gehören, gemäß den dort geltenden ›männlichen‹ Regeln verhalten, wie Männer umgekehrt im privaten ›Gemeinschaftsbereich‹ nach den so genannten ›weiblichen‹. Es wäre dann allerdings überflüssig, die normativen Regeln öffentlicher und formaler bzw. privater und informaler Bereiche überhaupt in GenderKategorien zu fassen, zumal sich in ihrem Inneren die Differenzierung z. B. nach Leistung und Zuneigung, nach Strenge und Toleranz usw. wiederholt.30 Wir könnten den Gender-Dualismus mit seinen asymmetrisch verteilten Werten (die keinen ›natürlichen‹ Vorlagen folgen) verlassen und notwendige reproduktive Leistungen ohne diese Symbolik beschreiben. Ein weiteres Problem der Anwendung der Gender-Metaphern auf Institutionen ist die Einschätzung ihrer eigentlichen Funktion, die nicht immer vordergründig auf die Reproduktion von gender zielt. Durch die feministische ›Lupe‹ ›sieht man‹ die (stereotypische) Selektivität des Strafrechts im Hinblick auf das Geschlecht, bleibt jedoch blind dafür, dass es seine repressive Wirkung hauptsächlich gegen Männer der Unterschicht, zumal solcher mit dunkler Hautfarbe bzw. mit ›Migrationshintergrund‹ entfaltet. Das Strafrecht ist ein ›Staatsapparat‹, dessen Funktion vor allem in der Reproduktion des Bodens der vertikalen Struktur von Gesellschaften besteht, und dabei im Sinne von Überschneidungen von Schicht und gender bzw. von Schicht, gender und Ethnie auch diese hierarchischen bzw. Unterdrückungsstrukturen mit einbezieht. Eine die Unterschicht erhaltende Funktion des Strafrechts vollzieht sich vornehmlich über den Eigentumsschutz, und wir können die Hypothese wagen, dass auch seine Gender-Selektivität in starkem 30 Im Gefängnis werden die so genannten ›männlichen‹ Dienste vom Wachpersonal geleistet, die ›weiblichen‹ Dienste von Sozialarbeitern, Psychologen, Anstaltsgeistlichen usw., ganz gleich, welcher Sexkategorie die Bediensteten angehören. 48
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Maße mit niedrigen Positionen von (armen) Frauen ›kovariiert‹. Besser gestellte Frauen müssten demgemäß vom Strafrecht ebenso privilegiert behandelt werden wie prominente Männer. Mit anderen Worten: Es muss die Frage gestellt werden, ob bei der Verteilung der Repression das Strafrecht stärker von class bias als vom gender bias gekennzeichnet ist, wobei sich in dieser Formulierung das Attribut gender von der Ebene der Selbstdefinition der Institution auf die Sexkategorien seiner Adressaten verlagert. Die selektive Wirkungsweise des Strafrechts im Hinblick auf die Sexkategorien der Täter und Opfer ist hinreichend dokumentiert worden, und die Analyse scheint auch sinnvoll zu sein, denn sie betrifft konkrete Gesellschaftsmitglieder, die sich als Männer bzw. Frauen ausweisen müssen. In diesem Punkte kommen wir auf die anfangs erwähnte Aporie der feministischen Forschung zurück. Sie erscheint sinnvoll im gesellschaftspolitischen Sinne, weil sie mit amtlich verbindlichen Konstruktionen von ›Männern‹ und ›Frauen‹ arbeitet. Sie ist allerdings problematisch, wenn sie vom Standpunkt der Gender-Theorie beurteilt wird, da diese keine substantiellen Gender-Identitäten von Menschen kennt, sondern je individuelle (androgyne) homini sociologici. Die emanzipatorische Zielsetzung ›Befreiung von Frauen (Sexkategorie) von einer nicht notwenigen Repression‹ gerät in Widerspruch mit einer dekonstruktivistischen Perspektive. Das nötigt uns möglicherweise zu einer Aufspaltung des feministischen Zugangs in einen gesellschaftspolitischen und wissenschaftlichen. Wenn sich vom gesellschaftspolitischen Standpunkt die Gleichheitsfrage als eine formale stellt, ist das Strafrecht ungleich, weil es vornehmlich ein Disziplinierungsmechanismus von hegemonialen Männern (gender) gegenüber Männern (Sexkategorie) darstellt. Als Feministinnen könnten wir dazu Kopf nickend sagen: gut so, wobei wir verlangen könnten, dass es folgerichtig ebenso streng in Bezug auf weibliche Opfer angewandt wird. Mit dieser Haltung würden wir uns – im Widerspruch zu den Bestrebungen der Moderne um Gleichheit – zu impliziten Komplizen der besser gestellten Gesellschaftsmitglieder machen, für deren Schutz das Strafrecht einst eingerichtet wurde. Dass es um der formalen Gleichheit Willen seine Aufmerksamkeit auf so genannte private Bereiche (mitunter auf Frauen) ausweiten sollte, widerspricht, außer der feministischen Parteinahme für Frauen, der modernen Tendenz, gesellschaftliche Repression überhaupt zurückzudrängen. Deshalb wäre es eher ratsam, sich der abolitionistischen Bewegung zur Zurückdrängung des Strafrechts ohne Wenn und Aber anzuschließen, und dabei ihr bislang blindes Gender-Auge zu öffnen (vgl. van Swaaningen 1989; Smaus
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1989). Das Strafrecht ist abschaffungswürdig, weil es repressiv ist und gesellschaftliche Ungleichheit reproduziert, nicht weil es ›männlichen‹ Geschlechts ist. Der Hinweis auf Übereinstimmung des ›Geschlechts‹ des Strafrechts mit dem ›Geschlecht‹ der HERRschaft hat der Selektivität des Strafrechts einen frischen Ausdruck verliehen, es handelt sich jedoch um ein ›Geschlecht‹ im metaphorischen Sinne, welches für die ungleiche Verteilung von Macht steht, und zwar bei beiden Sexkategorien. Weil der Bruch zwischen machtvoll und machtlos nicht entlang der Trennlinie zwischen den Sexkategorien verläuft, könnte – vom Standpunkt der Theorie – das feministische Interesse am Geschlechterausgleich nicht länger an ›Frauen‹ mit reifizierten Geschlechtercharakteren (vorwiegend in der Opferrolle) und entsprechend an essentiellen ›Männern‹ als Tätern festhalten. Vielmehr rücken Gesellschaftsmitglieder in benachteiligten Positionen in den Vordergrund. Das stellt freilich nicht zufällig die wichtigste soziale Eigenschaft von Frauen (Sexkategorie) dar. In der Gemengelage der Auflösung von Gender- und Sexkategorien, in der Zuweisung eines sozialen Geschlechts nicht nach reproduktiven Organen, sondern gemäß der Schnittmenge von Positionen im Begriff der Intersektionalität, befinden wir uns auf der Seite des postmodernen Diskurses, der die Fesseln des Geschlechts (gender) und seiner Metaphorik sprengt – und zwar in der Praxis und wegen ihrer Anliegen. Die wissenschaftliche Gender-Analyse des Strafrechts findet ihre Berechtigung nicht im Bezug auf ›Menschen‹ – wo sie in zunächst überzeugender Weise, aber schließlich nur scheinbar31 seine Selektivität enthüllt –, sondern im Bezug auf die Reproduktion von gender selbst. Man kann sich sinnvoll fragen, auf welche Weise das Strafrecht die vergeschlechtlichte Struktur ›der Welt/des Universums‹, die gesellschaftliche Arbeitsteilung und den Schein von Gender-Identitäten bzw. der Sexkategorien reproduziert. Diese Problematik wurde in der Tat in den empirischen Analysen häufig mitbehandelt, jedoch nur selten in dem von Harding (1990) und anderen (z. B. Fraser 1994) entworfenen Spektrum. Dabei ist es wichtig, in der Rede vom Geschlecht eine gleichsam mimetische Reproduktion der Genderstruktur zu vermeiden, indem man mit denselben Begriffen wie das Strafrecht operiert – Männer als Täter, Frauen als Opfer. In der wissenschaftlichen Betrachtung müssen wir radikal jegliche Argumentation mit Merkmalen, die sich als angeblich ›natürliche‹ (ascriptive) in die Moderne gerettet haben – sei es Alter, Hautfarbe (Ethnie) oder Geschlecht –, zurückweisen. Mit der Charakterisie31 Scheinbar, weil es ihre amtliche Sexkategorie meistens als gegeben (granted) übernimmt, ohne nach dem aktuellen Gender-Rollen-Spiel zu fragen. 50
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rung der ›natürlichen‹ Attribute wird ihre gesellschaftliche Bedeutung festgelegt, und zwar gerade nicht ›natürlich‹, sondern hegemonial. Das heißt im Endeffekt, auf die mächtige Ordnungskategorie Geschlecht überhaupt zu verzichten, was fast unmöglich erscheint. Jedoch zeigte sich schon bei der kurzen Analyse von gesellschaftspolitischen Bemühungen, dass nicht ganzheitliche, stereotype Hinweise auf Frauen und ihre Situation genügen, sondern dass die sozial wirksamen Variablen benannt werden müssen – ihre jeweilige (ceteris paribus) Unterprivilegierung im Hinblick auf Ressourcen und Macht. Gender-Rollen haben, abgesehen von der Ausprägung auf der Verhaltensebene (wo zudem alle fast alles spielen können), eben diese Bedeutung, und sollten als Masken der Macht erkannt werden. Analysieren wir daher abermals Mechanismen der Ungleichverteilung. Das Strafrecht hat ohnehin kein ›Geschlecht‹ gehabt, nur eine Ansammlung von hochgeschätzten ›modernen‹ Eigenschaften, die einige Gesellschaftsmitglieder als ihr Verdienst in Anspruch nehmen wollen. Seine nicht erwünschte Auswirkung, besonders die Selektivität im Hinblick auf Schicht, Ethnie und Geschlecht, kann nur durch konsequente Verwirklichung seiner Ansprüche, vor allem ein ›gleiches Recht par excellence‹ zu sein, korrigiert werden. In der feministischen Wissenschaft vom Strafrecht ist die Auflösung der diskontinuierlichen/polarisierten Gender-Kategorie Notwendigkeit, wodurch sich allerdings auch der Forschungsgegenstand verflüchtigt (vgl. Althoff 2007). Das Geschlecht löst sich unter der ›Gender-Lupe‹ in etwas anderes, in Macht- und soziale Verhältnisse auf, ganz gleich, ob wir uns dem Gegenstand in praktischer oder wissenschaftlicher Absicht genähert haben. Eine Aufspaltung der Zugänge ist nicht gerechtfertigt, denn das Leben selbst hat den Schein von nur zwei Geschlechtern (gender) aufgelöst, und in dieser postmodernen Errungenschaft liegt die Chance für die Fortsetzung der modernen Bemühungen um die Gleichheit von Gesellschaftsmitgliedern.
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GERLINDA SMAUS
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K INDSMORD UND A BTREIBUNG
»Schröcklich pocht schon des Gerichtes Bote«. Zur Medialität des Strafrechts – Kommunikation und Infantizid in literarischen und juridischen Diskursen des 18. Jahrhunderts ANNIKA LINGNER
I.
Einleitung
Unter dem Einfluss der Säkularisierung und im Prozess der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft im 18. Jahrhundert unterläuft auch das System Recht einen allmählichen Wandel. Die Prinzipien des jus talionis entwickeln sich hin zu einer utilitaristisch ausgerichteten Rechtsprechung. Die spezifische Medialität des Strafrechts, die institutionalisierten Kanäle und signifikanten Medien, sind zugleich Voraussetzung und Ergebnis dieses Wandels. Im kommunikationshistorischen Spannungsfeld von Oralität und Literalität, dem Zusammenspiel von Menschmedien1 und funktionalisierten Schriftmedien, gestalten ausschließlich Männer die Kommunikation im und um das Strafrecht. Männliche Rechtsgelehrte sind Verfasser der Constitutio Carolina Criminalis und des Preußischen Allgemeinen Landrechts. Auf der Handlungsebene treten Anwälte, Fiskale, Fausthämmer, Blutschreyer und Gerichtsboten hinzu. Ebenso sind es Männer 1
Werner Faulstich unterscheidet in der bürgerlichen Mediengesellschaft des 18. Jahrhunderts zwischen Druck- und Menschmedien (Faulstich 2002: 256). 59
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– Geistliche, Mediziner, Politiker, Philosophen, die Funktionselite des Bürgertums – die die Diskurse der im Habermasschen Sinne öffentlichen Sphäre formen.2 Diese werden thematisch dominiert durch die Diskussion um die Todesstrafe und das Schlüsseldelikt des Jahrhunderts: dem Kindsmord. Anschlussfähig wird diese Thematik jedoch erst durch das Wirken der Schriftsteller, die die Literatur zum Austragungsort der gesellschaftlichen und anthropologischen Fragestellungen machen. Es ist der literarische Diskurs, der die Gesellschaft für die soziale Realität sensibilisiert und das öffentliche Bewusstsein über die Situation der betroffenen Frauen schärft. Wie werden Recht und Rechtsprechung im Umfeld des Deliktes Kindsmord in Prosa, Lyrik, Dramatik, aber auch in der nichtfiktionalen Literatur des 18. Jahrhunderts dargestellt und kommuniziert? Wer nimmt an dieser Form der Kommunikation teil, wer nicht und aus welchem Grund? Und welche spezifisch weiblichen Formen von Performativität, welche Ausprägungen des Auftretens, Handelns und Sprechens sind beobachtbar, wenn Gretchen, Evchen oder des Pfarrers Tochter vom Taubenhain3 sich im System Recht und dessen medialer Umgebung bewegen? Die Beantwortung dieser Fragen ermöglicht nicht nur eine neue Lesart zentraler Werke der Aufklärung und des Sturm und Drang, sondern erlaubt es zugleich auch, den historischen Stand von Literatur und Recht zu erhellen und ihre Kommunikationsstrukturen nach zu zeichnen, in denen sich auch Gesellschaft und Mensch des 18. Jahrhunderts neu konstituieren. 1755 thematisiert Lessing in seinem bürgerlichen Trauerspiel Miß Sara Sampson den direkten Gift- und den indirekten Kindsmord, den Marwood an ihrer Kontrahentin Sara und dem ungeborenen Kind begeht, noch kaum als strafrechtlich relevantes Delikt oder gar als gesellschaftliches Epiphänomen mit kritischem Impetus. Dabei könnte die Marwood nach Artikel 130 der seit 1532 geltenden Constitutio Carolina Criminalis bzw. später durch Paragraf 826 des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten für ihre Tat zum Tode durch Ertrinken verurteilt werden. Sara jedoch zerreißt das beweiskräftige Schriftstück, den Brief, der das Schuldeingeständnis der Täterin enthält, in der Überzeu2 3
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»Bürgerliche Öffentlichkeit lässt sich vorerst als die Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute begreifen.« (Habermas 1990: 86). Gretchen ist die weibliche Hauptfigur in Johann Wolfgang Goethes Stück Faust. Evchen ist die Protagonistin in Heinrich Leopold Wagners Die Kindermörderin und Rosette ist der Name der Pfarrerstochter vom Taubenhain in Gottlieb August Bürgers gleichnamiger Ballade. Alle drei Figuren töten ihr Kind nach der Geburt.
KOMMUNIKATION UND INFANTIZID IN DER LITERATUR IM 18. JAHRHUNDERT
gung, dass die Giftmischerin »ihrem Schicksale nicht entgehen [wird]« (Lessing 2003: 103). Sara vertraut der Unfehlbarkeit des Gottesurteils weit mehr als der Gültigkeit des positiven Rechts und seiner Institutionen und Organe. Miß Sampson verortet sich und alle anderen, fern von den Kultureffekten einer mediatisierten Gesellschaft und deren Urteilsvermögen, noch vollkommen im System Religion. Das stellt mit seinen einheitsstiftenden Werten und Normen die Theodizee als eine Art symbolisch generalisiertem Medium nicht in Frage. 1784 wird die mögliche Wirkung des Kindsmordes als literarischem Motiv bereits ganz anders bewertet. »Wenn keine Moral mehr gelehrt wird, keine Religion mehr Glauben findet, wenn kein Gesetz mehr vorhanden ist, wird uns Medea noch anschauern.« (Schiller 2004: 823) So äußert sich Friedrich Schiller in einer Vorlesung über die Zeitlosigkeit des Motivs Kindsmord für die Literatur und gibt zugleich einen Hinweis auf das weitere diskursive Potenzial dieses Delikts. Diese beiden kurzen Beispiele veranschaulichen ausschnitthaft die Stationen, die die »Medea-Frau«4 auf ihrem literatur- und kulturgeschichtlichen Weg von der Königstochter zur Dienstmagd, von der Antike zum Sturm und Drang, zurücklegt.5 Zugleich werden auch die Stadien der Medialisierung deutlich, die die damit verbundenen Vorstellungen von Weiblichkeit durchlaufen.6 Dieser Prozess steht stets im unmittelbaren Zusammenhang mit der strafrechtlichen Einordnung des Infantizids. Die Furie aus den Tragödien Senecas und Euripidesތ, die ihre Kinder aus Rache, Stolz oder Eifersucht tötet, wird in den mittelalterlichen Balladen und Schauermärchen zur berechnenden Rabenmutter, die – ganz im Sinne der Erfüllung des ordo – vom Teufel heimgesucht wird.7 Die Figur der Medea im späten 18. Jahrhunderts läutet einen Paradigmenwechsel ein. An dessen Ende steht die Kindermörderin als Opfer, 4
5
6
7
Luserke-Jaqui verwendet bewusst den Begriff der Medea-Frau, um zu verdeutlichen, dass »Medea keine geschichtliche Figur [ist], sondern ein Kollektivsingular, der >...@ für Fehlverhalten des Individuums und >...@ der Gesellschaft steht« (Luserke-Jaqui 2002: 5). Die Königstochter Medea ist als Enkelin des Sonnengottes Helios eine zauberkundige Frauengestalt der griechischen Mythologie. Sie hilft dem Griechen Iason das goldene Vlies zu stehlen und flieht mit ihm nach Korinth. Als Iason ihr untreu wird, tötet sie aus Rache die gemeinsamen Kinder, um sich an ihm zu rächen. Medialisierung meint hier »die unterschiedlichen Prozesse des Übergangs von Formen direkter Kommunikation in Formen indirekter Kommunikation über Medien« (Schanze 2002: 199). Eine ausführliche Behandlung der Rabenmutter-Ballade findet sich bei Leopold Kretzenbacher (1980: 107). 61
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das an den unsozialen Bedingungen der Gesellschaft des Jahrhunderts scheitert. Allein in den Jahren 1772 bis 1791 finden sich rund zwanzig Werke, die sich mit der Darstellung dieses geschlechtsspezifisch konnotierten Delikts beschäftigen (vgl. Peters 2001). »Die Beliebtheit dieses Themas ist keineswegs zufällig [...]« bestätigt deshalb auch Lukács in seinen Faust-Studien und sieht in der »Tragödie des verführten Bürgermädchens nur ein[en] Fall unter den vielen Übergriffen des Feudalismus [...]« (Lukács 1971: 179-180). Glaubt man allerdings van Dülmen, ist »[d]iese These [...], nach der Kindsmörderinnen Opfer einer geschlechtlichen Ausbeutung bzw. Verführung durch Angehörige der Oberschicht wurden« (van Dülmen 1991: 84) hinfällig. »Ein bürgerliches Trauerspiel fand nicht statt [...]« (ebd.: 84), glaubt van Dülmen und stellt die ästhetische Umsetzung des Motivs des Kindsmordes in kritischen Zusammenhang mit den realhistorischen Gegebenheiten des Jahrhunderts. Der durch die Diskrepanz von empirischer Beweislage und poetischer Ausgestaltung entstandene Raum füllt sich allerdings mit den Überlegungen anderer Diskurse, die das ins Wanken gebrachte Bild von der sittsamen Frau und liebenden Mutter thematisieren.
II.
Bilder von der ›Natur‹ der Frau und des Mannes
Die bürgerliche Frau des 18. Jahrhunderts definiert sich über ihre Rolle als Gattin, Hausfrau und Mutter im Rahmen der Kleinfamilie. Ein Rollenbild, das durch die Dominanz der moralischen Wochenzeitschriften im Lektürekorpus der Gesellschaft noch verstärkt wird. In diesem Medium wird, unter anderem, auch das grundsätzliche aufklärerische Interesse am Individuum laut. Die damit einhergehenden Forderungen nach persönlichen Rechten und Gleichstellungen der Menschen gelten für Frauen jedoch in einem wesentlich begrenzteren Rahmen. Ihre Kommunikations- und damit Handlungsfähigkeit bleibt weiterhin beschränkt. Im Gegensatz dazu ist der Mann, nach Knigge, »von der Natur und bürgerlichen Verfassung bestimmt [...], das Haupt, der Regent der Familie zu sein« (Knigge 1977: 163). Der Funktionsverlust der sich auflösenden Familie soll mittels der Etablierung dieses restaurativen Familienbegriffs kompensiert werden. Letzterer geht einher mit dem Versuch, die durch die naturrechtliche Idee von der Ehe als Vertrag in Bedrängnis gebrachten geschlechtlichen und ehelichen Herrschaftsverhältnisse zu retten.
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KOMMUNIKATION UND INFANTIZID IN DER LITERATUR IM 18. JAHRHUNDERT
In der Folge der strukturellen Veränderungsprozesse im Bereich von Ehe und Familie kommen auch Fragen nach der geeigneten Begründung normativer Positionsbestimmungen der Geschlechter im sozialen Leben auf. Natur und Wesen von Mann und Frau sollen erfasst und die Geschlechterrollen neu bestimmt werden. Der Geschlechtscharakter wird als Synthese von Determination und Biologie aus der Natur hergeleitet und seine Wesensmerkmale dadurch in das Innere des Menschen verlegt. »Die Natur hat zu allen Nationen gesprochen [...]. Da sie beiden Seiten Begierden eingepflanzt hat, hat sie der einen Seite Kühnheit mitgegeben, der anderen Scheu« (Montesquieu 1994: 276), argumentiert der französische Staatsphilosoph Montesquieu und verweist auf die so genannten »naturbestimmten Eigenschaften« des weiblichen Geschlechts: Keuschheit, Sittsamkeit und Schamhaftigkeit. »Die Unkeuschheit der Frauen verdient Verachtung [...]. Mithin ist es nicht wahr, daß die Unkeuschheit das Gesetz der Natur befolgt: sie verstößt vielmehr dagegen« (ebd.), beharrt Montesquieu und lässt Frauen auf diese Weise entgegen ihrer geschlechtsspezifischen Merkmale und somit zugleich ›unnatürlich‹ agieren. ›Unnatürlich‹ erscheint vor diesem Hintergrund auch der Kindsmord, als unmittelbare Folge der begangenen Unzucht als »das [...], was die Natur ganz verdreht« (Müller 1982: 56). Denn, so fragt Walter in Maler Müllers Nuß-Kernen von 1775 weiter: »Wie in aller Welt wär’s denn sonst möglich? Wo kann eine Mutter sein, die ihr Erzeugtes nicht liebet? Es müßte Gott, der alles so vollkommen gemacht, einen Fehlgriff in die Schöpfung getan haben und sein Meisterwerk hier unvollkommen sein.« (Ebd.)
Knigge gesteht immerhin ein, dass »es doch [...] gewaltig hart [ist], daß wir Männer uns so leicht alle Arten von Ausschweifungen erlauben, den Weibern aber [...] keinen Fehltritt verzeihn wollen« (Knigge 1977: 200 f.). Ähnliches gibt auch Eisenhardt in Lenz ތStück Die Soldaten zu bedenken: »Der Trieb ist in allen Menschen, aber jedes Frauenzimmer weiß, daß sie dem Triebe ihre ganze künftige Glückseligkeit zu danken hat, und wird sie die aufopfern, wenn man sie nicht drum betrügt?« (Lenz 1992: 183). Hier werden zwar Zugeständnisse an eine möglicherweise naturgegebene Triebstruktur der Frau gemacht und zudem das gebrochene Heiratsversprechen als Ausgangspunkt vorehelich praktizierter Sexualität benannt, trotzdem bleibt die alleinige Kontrolle über die Körperlichkeit der Frau unabdingbare Voraussetzung der gesicherten sozialen Strukturen des 18. Jahrhunderts. »[D]ie größre Strenge gegen das
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schwächere Geschlecht« erweist sich in den Augen der Männer als »heilsam [...] für die bürgerliche Verfassung« (Knigge 1977: 201). Das Kind, als Resultat der sexuellen Aktivität, fällt zwar in dieses Kontrollregister, seine Bedeutung als Mensch ist jedoch zumeist sekundär und fließt nur selten in die unterschiedlichen Diskurse ein.8 Wichtig bleibt vor allem zu verhindern, dass – so drückt es Zedlers Universallexicon aus – »jemand mit einer Weibesperson der Vertraulichkeit eines Ehemannes pfleget, ohne daß er sie ihm ehelich [hat] antrauen lassen« (Zedler 1737, Bd. 49: 1209). Haben solche Vertraulichkeiten trotzdem stattgefunden, erfahren die Frauen gesellschaftliche Ächtung und öffentliche Diskriminierung. Ihnen droht neben körperlicher Züchtigung und existenzieller Not auch der Ausschluss von kulturellen Ritualen wie dem Abendmahl oder den Segensgottesdiensten.9 Sie werden im doppelten Sinne medial gebrandmarkt: im Medium der mündlichen Kommunikation, sprich dem örtlichen Klatsch und in dem der Schrift. In den meisten Gemeinden werden die Namen der Mutter und des Kindes mit dem Ausdruck spuriy10 im Kirchenregister versehen, als fixierter und stets wieder abrufbarer Beweis ihrer Schande. Die Identität der in diesen Schriftstücken gemeinhin als ›Huren‹11 bezeichneten Frauen wird zumeist öffentlich bekannt gegeben. Der Pfarrer verliest sie von der Kanzel herab. In Anbetracht dieser Straf- und Diffamierungsoptionen scheint es nicht verwunderlich, dass unter den registrierten Straftaten des Jahrhunderts so viele auf eine Kindstötung hinweisen.12
8
Ein Neugeborenes hat im kollektiven gesellschaftlichen Bewusstsein noch keinen tatsächlichen Zugang zum Leben, es steht unter dem Verfügungsrecht der Eltern (jus vitae ac necis) und wird nicht als individuelle Person wahrgenommen. 9 So dürfen die Frauen in den Städten des 18. Jahrhunderts bei einer späteren kirchlichen Trauung keinen Brautkranz tragen und müssen bei der Kindstaufe erhöhte Gebühren zahlen (vgl. Michalik 1995: 95). 10 Unehelich. 11 Der Begriff Huren wird in diesem Kontext zumeist synonym mit gefallene Frauen verwendet. 12 Zur Problematik der kriminalstatistischen Erhebung in Bezug auf das Delikt Kindsmord im 18. Jahrhundert vgl. Michalik (1995: 48-54). 64
KOMMUNIKATION UND INFANTIZID IN DER LITERATUR IM 18. JAHRHUNDERT
III. T ö t u n g s a r t e n u n d d i e B e d e u t u n g des Weibergeschwätzes als Kontrolle »Wenn du dein Kindlein zur Welt gebierst, ins Wasser wollen wirs tragen« (Brentano 1975: 47), schlägt die Mutter ihrer von einem Ritter geschwängerten Tochter vor. Diese Zeile aus einer Volksliedsammlung bezeugt die Existenz von demotischem Wissen über das Beseitigen der Babyleichen und unauffällige Tötungsarten. Dazu zählen das Gebären über Wasserstellen oder den Abtritten, das Eindrücken der Fontanelle oder das Einführen von Nadeln in Gehirn- oder Rückenmark. In Des Knaben Wunderhorn weist die Herzogin von Orlamünde ihren Freier, der ihre Kinder töten soll, darauf hin, »daß die Wunden niemals sprechen, must du in das Hirn sie stechen« (Brentano 1975: 231). Und auch Des Pfarrers Tochter vom Taubenhain in Bürgers gleichnamiger Ballade reißt sich »die silberne Nadel vom Haar, und [stößt] sie dem Knaben ins Herze« (Bürger 2007a: 59). Einer Regieanweisung in Heinrich Leopold Wagners Stück Die Kindermörderin lässt sich entnehmen, dass auch Evchen Humbrecht zur Mörderin wird, indem sie ihr Kind durch einen Stecknadelstich in die Schläfe tötet: »(nimmt eine Stecknadel, und drückt sie dem Kind in Schlaf)« (Wagner 1969: 80, H. i. O.). Die Entstehung und Verbreitung dieser Kenntnisse haben einen natürlichen Ursprung. Obwohl die öffentliche Kommunikation und alle damit verbundenen Diskurse durch Männer dominiert werden, formt das von eben jenen als belanglos bezeichnete Weibergeschwätz eine eigene dichte Sphäre der genuin weiblichen Kommunikation. Diesem Gerede kommt, laut Barbara Krug-Richter, »in den kleinräumig-lokalen Kontexten der Frühen Neuzeit eine zentrale Funktion zu: Es dient dem Austausch von Informationen und der Meinungsbildung« (Krug-Richter 2003: 303). Krug-Richter verweist aber auch auf die Funktion des Geredes als »Instrument sozialer Kontrolle« (ebd.), eine Funktion, die sich die Justiz zu Nutzen machen will. Bereits 1723 ergeht unter Friedrich I. ein allgemeines Edikt, das die Pflicht zur Anzeige von Unzucht, heimlicher Schwangerschaft und Geburt einführt. Der Staat erhofft sich, nicht nur durch spezifizierte Fahndungsapparate, sondern vor allem durch die verstärkte Knüpfung sozialer Netze sowie der Einbeziehung von Dienstherren, Familie und Nachbarschaft als Kontrollinstanzen, eine bessere Überwachung sexueller Aktivitäten lediger Frauen.13 Es steckt allerdings mehr hinter diesen differenzierten Kontrollbemühungen. 13 Der wohl bekannteste Fall einer verurteilten Kindsmörderin, nämlich Susanna Margaretha Brandts, wird auch erst durch die Anzeige ihrer Schwester in Gang gesetzt (vgl. Habermas 1999). 65
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IV. R e a k t i o n e n d e s S t a a t e s – S t r a f t h e o r i e n Mit Beginn der Aufklärung erfolgt auch eine generelle Hinterfragung des geltenden positiven Rechts, erscheint doch die Carolina vor der Folie des erleuchteten Zeitalters unzeitgemäß und inhuman. Zu deutlich trägt sie noch die Züge einer theokratisch begründeten Staatstheorie, die ein Verbrechen als Sünde gegen Gott einordnet und im Sinne des jus talionis straft. Im Zuge der Ablösung dieser eher metaphysischen Begründung des Strafrechts durch die rein weltliche und rationalistische Fundierung des Staates im Gesellschaftsvertrag wird auch das Strafrecht auf eine neue Grundlage gestellt. Der Staat hat das Recht zu strafen und der Strafzweck zielt nicht mehr auf die Vergeltung des Verbrechens als Sünde gegen Gott, sondern allein auf den Schutz und die Sicherheit der Gesellschaft ab. Als Folge dessen differenzieren sich die Funktionen des Rechtssystems aus. Es kommt zu einer Trennung von moralischer und rechtlicher Zurechnung, die das Verbrechen von der Sünde unterscheidet (vgl. Willems 2004: 19 f.). Indem das Verbrechen zu einer bloßen äußeren Handlung gemacht wird, verstößt es nicht mehr gegen göttliche Gebote, sondern schadet der Gesellschaft. So fragt auch der Sozialreformer und Pädagoge Pestalozzi in seiner Abhandlung Über Gesetzgebung und Kindermord: »[W]as thut das Mädchen am End gegen den Staat, wenn es sein Kind mordet?« (Pestalozzi 2007: 62) Er fasst damit den Ansatz der modernen naturrechtlich orientierten Strafrechtstheorien zusammen, nach dem das Strafmaß auf der Grundlage der Schädigung des Gemeinwohles festgelegt wird. Einen wesentlichen Anstoß zur Humanisierung des Strafrechts gibt 1748, trotz seiner restriktiven Einstellung gegenüber der Sexualität der Frau, Montesquieus Schrift De l’esprit des Lois. Er fordert hier eine Verhältnismäßigkeit von Verbrechen und Strafe, mit der Verbrechensprophylaxe als Prämisse. Kant hingegen argumentiert, dass Recht nicht auf die Natur, sondern allein auf die reine und deshalb allgemeine und universale Vernunft des Menschen zu gründen sei. In dieser Abkehr von den utilitaristischen Strafvorstellungen plädiert er für die absolute Strafrechtstheorie mit dem Strafgesetz als kategorischem Imperativ.14 »Hat er 14 Für Kant ist Freiheit die Selbstbindung an das Gesetz der Vernunft. Der Staat darf nur insofern Zwang ausüben, als die Willkür an der Idee der Freiheit ohnehin ihre Schranken findet. Mithin ist es nicht die Aufgabe des Staates, sittlichen Einfluss auf die Bürger zu nehmen, Täter sollen weder durch Spezialprävention moralisch erzogen, noch durch Generalprävention abgeschreckt werden. Somit positioniert er sich gegen die Einstellung Montesquieus, der dem Delinquenten durch die Strafe die Gelegenheit geben möchte, seine Schuld an der Gesellschaft abzutragen. 66
KOMMUNIKATION UND INFANTIZID IN DER LITERATUR IM 18. JAHRHUNDERT
[...] gemordet, so muß er sterben«, postuliert Kant eindeutig. Er gibt aber zu bedenken, dass durchaus »todeswürdige Verbrechen« (Kant 2004: 194) vorkommen, deren Motivation – das Ehrgefühl bzw. die Geschlechterehre – Zweifel bezüglich der Angemessenheit der Todesstrafe laut werden lässt. Kant, als einer der wenigen, erwähnt das Vorhandensein des Kindes, allerdings nur, um zu exemplifizieren, dass »[d]as unehelich auf die Welt gekommene Kind [...] außer dem Gesetz [...] mithin auch außer dem Schutze desselben geboren [ist]« (ebd.: 197-198). Mehr noch: Das Kind hat sich »in das gemeine Wesen gleichsam eingeschlichen (wie verbotene Ware), so daß dieses seine Existenz, mithin auch seine Vernichtung ignorieren kann« (ebd.: 198). Gegen Kants grundsätzliche Befürwortung der Todesstrafe spricht sich der italienische Jurist Beccaria aus: »Mit welchem Recht maßen es sich die Menschen an, ihresgleichen zu töten?« (Beccaria 1998: 125), fragt er und beruft sich auf den Gesellschaftsvertrag, der dem Staat kein Recht zur Tötung eines Bürgers einräumt. Doch Strafrechtstheoretiker wie Beccaria oder Kant, aber auch Sozialreformer wie Pestalozzi kommen zumindest überein, dass »der Staat der Keuschheit der Nation nicht durch Büßung der Huren [...], und dem Kindermord nicht durch die Enthauptung der Verzweifelten hüten« kann (Pestalozzi 2007: 62). Kant glaubt sogar: »Die Gesetzgebung selber aber [ist] noch [...] barbarisch und unausgebildet« und deshalb daran schuld, dass »die öffentliche, vom Staat ausgehende Gerechtigkeit in Ansehung der aus dem Volk eine Ungerechtigkeit wird« (Kant 2004: 199). Der Staat mit seiner Gesetzgebung und der damit erzeugten Diskrepanz zu sozialen Realitäten scheint demnach verantwortlich dafür, dass die unehelich Geschwängerte kriminalisiert, an den Rand der Gesellschaft gedrängt und somit zum Begehen des Verbrechens verleitet wird. Dieser Ansatz eröffnet die Diskussion auf staatstheoretischer Ebene. Schließlich ist es Preußen, das unter der Regentschaft Friedrich II. als erster Staat diese theoretischen Überlegungen in strafrechtliche Praxis überführt. »Alle, ausser der Ehe, geschwaengerten Personen bleiben wegen ihrer Schwaengerung, von aller Strafe und Vorwurf frey« (Wächtershäuser 1973: 66) heißt es im ersten Artikel der Summaria des entsprechenden Edikts. Auch in Wagners Stück Die Kindermörderin folgt man den Anordnungen des Edikts, die eine regelmäßige Verlesung der Summaria vorsehen. So wird »[n]ach der Predigt [...] alle Quartal die Verordnungen von der Kanzel gelesen, die [...] [die] Könige wegen [...] dem Kindermord gemacht haben« (Wagner 1969: 57). Dieser Beschluss wird allerdings in vielen Gemeinden, aufgrund moralischer Bedenken, nicht ein-
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ANNIKA LINGNER
gehalten. Stattdessen wird das Edikt oft nur von den Küstern an der Kirchentür verlesen oder grob in Erinnerung gerufen. Doch trotz des progressiven Ansatzes, den das Edikt 1765 in der Strafrechtsreform vertritt, gilt auch hier noch: »Vorsätzliche KinderMoerderinnen werden mit dem Schwerdt bestraft« (Wächtershäuser 1973: 167). Vorsätzlichkeit wird dann unterstellt, wenn die Angeklagte in den Verhören ein gewisses Maß an Boshaftigkeit erkennen lässt. Den besten Schutz vor dieser Anschuldigung bieten Naivität, Lebensunerfahrenheit oder schlichte Dummheit. Selbst wenn diese Eigenschaften nur vorgetäuscht sind, treffen trotz der strafrechtsreformerischen Bestrebungen des späten 18. Jahrhunderts unabänderlich unterschiedliche Schichten und Geschlechter im Gerichtssaal aufeinander. Die Folge ist eine Situation der prinzipiellen Ungleichheit, auch bedingt durch die asymmetrische Kommunikation.
V.
Asymmetrische Kommunikationen
Obwohl gerade in ländlichen Gegenden die gerichtsführende Obrigkeit, wie der Amtmann oder Amtsvogt, nicht aus Akademikern besteht, sondern ihr ortsansässiges Personal aus der Mittelschicht rekrutiert, verfügt sie doch über große Vorteile gegenüber den zum großen Teil nicht alphabetisierten weiblichen Angeklagten. Die prozessualen Bestimmungen des Jahrhunderts sehen es nicht vor, dass Frauen sich selbst verteidigen. Als Folge dessen sind sie in der beweisführenden Darstellung ihrer Unschuld stets auf männliche Unterstützung, wenn nicht gar Führung angewiesen.15 Die Tatsache, dass dem weiblichen Geschlecht im Gerichtssaal ein minderer Rechtsstatus zugesprochen wird, begründet sich in der männlichen Vorstellung ihrer geringeren geistigen Gaben und naturgegebenen Neigung zur Lüge, also der Annahme einer prinzipiell fragwürdigen weiblichen Zeugenschaft.16 Konsequent auf den Bereich des Strafrechts übertragen, würde das bedeuten, dass Frauen grundsätzlich nur über einen eingeschränkten freien Willen verfügen und somit auch nur vermindert schuldfähig sind. Umso interessanter ist es, dass Frauen und Männer
15 Auch eine mögliche der Schwangerschaft voraus gegangene Vergewaltigung kann nur unter der Schirmherrschaft eines Mannes, zumeist eines Verwandten, zur Anklage gebracht werden. Ähnliches gilt für die Einforderung von Alimenten. 16 Christine Künzel weist auf die »kulturell tradierte Skepsis gegenüber der Zeugenaussage einer Frau« hin (Künzel 2003: 205). 68
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in Kriminalprozessen für grundsätzlich gleich verantwortlich gehalten und dementsprechend verurteilt werden. Aber auch wenn kein Schuldgeständnis seitens der Frau vorliegt, kann diese aufgrund entsprechender Indizien oder der Aussagen männlicher Zeugen rechtskräftig verurteilt werden. Als belastend gelten unter anderem die Mitschriften in den so genannten Gebärdenprotokollen, die Teil der Strafprozessordnung der Carolina sind. Während des ersten Verhörs und des Prozesses machen die Gerichtsschreiber Vermerke zur Gestik und Mimik der Frauen.17 So auch Gottlieb August Bürger, Amtmann und Schriftsteller, der in dem wohl bekanntesten Verhör einer Kindsmörderin von 1781 das Weinen, Schluchzen und Seufzen der Angeklagten festhält (Bürger 2007b: 59). Neben ihren verbalen Äußerungen soll vor allem die Körpersprache der Frauen mögliche Hinweise für ihre Schuld geben. In Goethes Gedicht Vor Gericht (Goethe 1996: 85) oder Schillers Die Kindsmörderin (Schiller 1992: 52-56) wird den Frauen zumindest eine subjektive – wenn auch fiktive – Stimme verliehen. Herr Pfarrer und Herr Amtmann Ihr, Ich bitt’, laßt mich in Ruh! Es ist mein Kind und bleibt mein Kind, Ihr gebt mir ja nichts dazu. (Goethe 1996: 85)
Die Aufforderung an Staat und Kirche, jede regulative oder moralische Einmischung zu unterlassen, bleibt zumeist Fiktion. In den realhistorischen Abläufen finden die verbalen Aussagen der Angeklagten vor Gericht selten Gehör. Die für die Aussage relevanten Antworten der Frauen werden nur ausschnitthaft niedergeschrieben und zudem in indirekter Rede. Als zusätzlich verzerrender Faktor tritt hinzu, dass das Protokoll in einer der Angeklagten zumeist fremden (Hoch-)Sprache der Verhörenden abgefasst wird und nicht in ihrem jeweiligen Dialekt. Allerdings wird auch bereits vor der Verhandlung und den ersten Verhören die Dominanz der Männer im System Recht offenbar, eine Dominanz, die sich nicht nur auf den Bereich der Schriftmedien beschränkt. Das so genannte Gezetter mit dem die Blutschreyer18 in ihrer Rolle als Menschmedien die Anklage verkünden, ist bindende Gesetzlichkeit. 17 Die Bedeutsamkeit der Gebärdenprotokolle als Teil des Zeichenprozesses des Rechtssystems betont auch Thomas Weitin (2009: 186). 18 Der Blutschreyer wird im 18. Jahrhundert auch als ›Zeterschreyer‹ bezeichnet und ist »in der Gerichtsverfassung der mittlern Zeiten, derjenige, welcher einen Todtschläger mit einem lauten Geschreye anklagte« (Adelung 1793: 1099). 69
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Die deutliche Asymmetrie der Kommunikationssituation kann allerdings durch einige Vorteile aufseiten der Frau versuchsweise ins Gleichgewicht gebracht werden. Hier kommt erneut das »Weibergeschwätz« ins Spiel. Die Tat, für die die Männer die Angeklagte verurteilen sollen, gehört mit all den ihr vorausgehenden Abläufen in einen ausschließlich weiblichen Handlungsbereich. Das Ausbleiben der Regelblutung, die äußerlichen Anzeichen und Dauer der Schwangerschaft und die physischen Gegebenheiten eines Geburtsvorganges stellen im Alltag eine Tabuzone für das männliche Geschlecht dar.19 Vor ihrer Festnahme bzw. ihrem Gefängnisaufenthalt wird die Täterin zumeist am Tatort, oft dem Elternhaus oder Diensthaushalt, festgesetzt und darf dort noch von Familienmitgliedern besucht werden. In dieser Situation kann es den Frauen möglich sein, mit Hilfe von weiblichen Angehörigen eine erste Strategie für ihr Verhalten vor Gericht zu entwerfen. Die angeklagten Frauen verfügen im Idealfall also durchaus über einen rudimentären Plan zur Verteidigung, mit dem sie zentrale Punkte des Tatbestandes bestreiten können. Kaum eine der angeklagten Frauen kennt die genauen Bestimmungen der Carolina oder die für sie geltenden Landesgesetze, aber sie sind sich des grundsätzlichen Tötungsverbotes durch das fünfte Gebot bewusst. Als wichtigstes Mittel zur Verteidigung dient ihnen das Wissen über ihre Lebenswelt und ihr eigenes Geschlecht. Durch den Umgang mit Geschlechtsgenossinnen, dem Austausch von weiblichem Alltagswissen in den spezifischen Arbeits- und Kommunikationsbereichen der Frauen wie Küche, Garten, Backhaus oder Wäscherei, wissen sie um die Umstände von weiblicher Anatomie, Schwangerschaft und Geburt. Viele Frauen erklären, bis zum Zeitpunkt der Entbindung keine körperlichen Anzeichen wie »das Brüstchen zu voll, das seidene Röckchen zu enge« (Bürger 2007a: 58) wahrgenommen zu haben. Die Beschuldigten geben zu Protokoll, von dem Geburtsvorgang überrascht und vor allem erschreckt worden zu sein und im Wahn gehandelt zu haben. Auch eine übereilte Sturzgeburt zum falschen Geburtszeitpunkt, oft begleitet von übermäßigem Blutverlust, folgender Ohnmacht und dem Versäumnis beim Abbinden der Nabelschnur werden als natürliche oder höchstens fahrlässig bewirkte Todesursachen bei den Neugeborenen genannt. Neben diesem begrenzten autonomen Handlungsraum bleibt den Frauen in Verhör und Prozess eigentlich nur noch eine Möglichkeit zur selbstbestimmten Kommunikation: die Verweigerung eben dieser. Nicht wenige 19 Obgleich anzumerken ist, dass zum Ende des 18. Jahrhunderts eine Verdrängung der Hebammen durch Gynäkologen stattfindet (vgl. Labouvie 1998). 70
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Frauen beharren: »Von wem ich’s habe, das sag’ ich euch nicht, / Das Kind in meinem Leib« (Goethe 1996: 85). Auch außerhalb der fiktiven Literatur und des Rechtswesens entbrennt die Diskussion um den Kindsmord und seine Ursachen. Der öffentliche Diskurs erreicht 1780 seinen Höhepunkt als Regierungsrat Freiherr Ferdinand von Lamezan – anonym – in den Rheinischen Beiträgen zur Gelehrsamkeit die Frage stellt: »Welches sind die besten ausführbaren Mittel, dem Kindermord abzuhelfen, ohne die Unzucht zu begünstigen?« (Lamezan 1780: 84). Die Mehrzahl der männlichen Teilnehmer rekrutiert sich aus dem Bürgertum, vor allem aus dem sich immer stärker herausbildenden Beamtentum in den Bereichen der Verwaltung und Rechtspflege und den sich im Staatsdienst befindlichen Medizinern. Eine kleinere Zahl stellen die Theologen, Geistlichen und Pädagogen. Der Großteil der Einsender befürchtet, dass die friderizianische Politik, wie beispielsweise die Abschaffung der Hurenstrafen und Kirchenbußen, unausweichlich zu wachsender Moral- und Sittenlosigkeit führen würde. Diese Haltung bestimmt auch die Auswahl der preisgekrönten Schriften und die weitere Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Kindsmords in der Folge der Preisfrage. Das abstrakte Ziel des Lebensschutzes ist auch hier nicht Bestandteil der Diskussion. Vielmehr verdeutlicht der Tenor der Mannheimer Preisfrage, dass sich das öffentlichkeitswirksame Thema ›Kindsmord‹ auch für die Propagierung misogyner, restriktiver Sittlichkeits- und Moralvorstellungen nutzen lässt. Viele der Vorschläge zur Schadensverhütung zielen in erster Linie erneut auf die Reglementierung und Normierung der weiblichen Sexualität ab. Der Begriff der ›natürlichen Schande‹ tritt ergänzend neben die problematisierte Formulierung der öffentlichen Schande. Diese wird als Unehre gleichgesetzt mit einer inneren Beschämung. Unehre ist nicht länger ein Konzept, das sich an äußeren Zwängen orientiert, sondern beinhaltet das Prinzip der Selbststeuerung durch Verinnerlichung der als gesellschaftlich verbindlich erachteten Normen. Die Thematik des Kindsmordes gibt den Autoren erneut Anlass, über die Bestimmung der Frau zu räsonieren und die Tat als Folge einer zu späten Schamhaftigkeit und eines falschen Ehrbegriffs zu deuten. Somit ist nicht eine allgemein zunehmende Sittenlosigkeit der Gesellschaft der Kern des Problems, sondern die unkontrollierte Sexualität der Frau. Deviantem Verhalten soll durch ein Verbot geselliger Zusammenkünfte Unverheirateter vorgegriffen werden. Jungen Menschen, insbesondere denen weiblichen Geschlechts, soll stattdessen durch ein ver-
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bessertes Angebot kultureller Institutionen Möglichkeit zur angemessenen Zerstreuung gegeben werden, um Müßiggang und Genusssucht im Keim zu ersticken. Die öffentliche, strafrechtliche und literarische Diskussion der Thematik bewirkt schlussendlich, dass ein schrittweises Umdenken bezüglich der Ursache und Schwere der Tat stattfindet. Gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts enden Kindsmordprozesse, vor allen Dingen in Österreich, Preußen und Bayern, immer seltener mit der Verurteilung der Delinquentin zum Tod (vgl. Michalik 1995: 259). Allerdings ist noch 1801 nach § 274 des Lehrbuchs des gemeinen in Deutschland geltenden Peinlichen Rechts von Paul Johann Anselm von Feuerbach »die Strafe des Verbrechens [...] das Ertränken«. Des Weiteren soll aber in Regionen, »wo [...] der Kindermord [...] überhand nimmt [...], größerer Abschreckung wegen, auch das Pfählen und Lebendigbegraben, oder Schärfung des Ertränkens durch Zangenreißen angewendet werden« (Feuerbach 1996: 213). Erst 1871, mit der Einführung des Reichstrafgesetzbuches, tragen die öffentlichkeitswirksamen Bemühungen der Aufklärung um eine Strafrechts- und Prozessreform, die »Dramatisierung des Rechts« wie Niklas Luhmann (1983: 124) es nennt, tatsächlich Früchte und die Kindstötung wird nicht mehr mit der Todesstrafe geahndet.
VI. Z u s a m m e n f a s s u n g u n d F a z i t Wenn der Gerichtsbote an die fiktiven Türen der Literatur des 18. Jahrhunderts klopft, ist er mehr als eine vereidete Person, die den Willen des Gerichts vertritt (Zedler 1737, Bd. 10: 1113), sowie auch Blutschreyer, Fausthämmer oder Fiskal mehr als nur eine Anklage verkünden. Der Gerichtsbote und seine Zeitgenossen illustrieren die spezifische Medialität des Strafrechts, den Grundgedanken, dass alle Aktivitäten und Erfahrungen geprägt sind von den Unterscheidungsmöglichkeiten, die Medien eröffnen, und den Beschränkungen, die sie dabei auferlegen (vgl. McLuhan 1968: 13). Der Gerichtsbote verweist als Menschmedium in einem zunehmend verschriftlichten System, dem Recht, auf die kommunikative Schwellensituation des 18. Jahrhunderts. Es wird deutlich, dass, wer Medien benutzt und ihre Nutzung dominiert, zugleich auch die Schlüsselposition in der Konstituierung von Sinn und Deutung der Weltverhältnisse einnimmt. Eine Dominanz, die zudem dabei hilft, das – wie Claudia Honegger es formuliert – »vertrackte Problem mit dem Geschlecht« (Ho-
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negger 1991: 6) zu lösen, das auftritt, als der Mensch und mithin das Weib die Bühne des 18. Jahrhunderts erobern. In seiner Funktion als ästhetisches Element, das die räumliche, zeitliche und situative Strukturierung von poetischen Texten beeinflusst, geben der Gerichtsbote bzw. seine Äquivalente Aufschluss über ein – für das 18. Jahrhundert noch bestimmendes – Verflochtensein der Jurisprudenz mit anderen Diskursen wie der Literatur. Oder, wie es Jacob Grimm in seinem Aufsatz »Von der Poesie im Recht« ausdrückt, die Tatsache: »[d]asz recht und poesie aus einem bette aufgestanden waren« (Grimm 1965: 153). Sowohl die strafrechtliche Beurteilung als auch die ästhetisch-fiktive Darstellung des Kindsmordes in der Literatur sind untrennbar verbunden mit der zeitgenössischen Vorstellung der Geschlechterrollen und ihrer medialen Aufbereitung. Dieses semantische und mediale Verflochtensein unterschiedlicher Bereiche der öffentlichen Meinungsbildung und Informationsvermittlung, das klar auf einen Diskussionsbedarf im Umfeld des Infantizids hindeutet, legt die Vermutung nahe, dass der binäre Kode des Strafrechts schuldig/nicht schuldig bzw. Täter/Opfer in Bezug auf diese spezifische Straftat nicht ganz eindeutig ist. Die auf dem Naturrecht basierende Neubestimmung des Weiblichen, mit der wesenseigenen Sittsamkeit und der Kategorie der natürlichen Schande, soll als Rückbestätigung einer eindeutigen Schuld fungieren. Sie gibt dem Delikt des Kindsmordes die Qualität eines widernatürlichen devianten Verbrechens, das eigentlich schon mit der vorehelich praktizierten Sexualität beginnt. Eine Sexualität, die es mit allen medialen Mitteln offenzulegen und zu kontrollieren gilt, denn obwohl vor der Folie des aufgeklärten Zeitalters mit der Vernunft als das dem Menschen inhärente Sittengesetz argumentiert wird, spricht man der Frau eine geringere Befähigung zur Ratio und Kontrolle der Affekte zu. Das Schlaglicht der Aufklärung, die Mündigkeit, die sich nicht zuletzt auch durch Medienkompetenz ausdrückt, ist bei der Frau keine unabdingbare Voraussetzung des ganzheitlichen Menschseins, sondern eher ein Hindernis bezüglich der Erfüllung ihrer Rollenstereotypen. In diesem Sinne ist auch ihre Performanz im Strafprozess weit entfernt von der Prämisse des »sapere aude«.20
20 »Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« (Kant 2002: 9) So formuliert Immanuel Kant den Wahlspruch der Aufklärung in seiner programmatischen Schrift »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung« von 1783. 73
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Zedler, Johann Heinrich (1737): Großes vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste, Halle/Leipzig.
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»Hat die Schreckenstat ein Gesicht?«: Das Bild der ›ostdeutschen Mutter‹ DAVID JAMES PRICKETT
I.
Einleitung
›Mutterschaft‹ wird immer wieder neu definiert. So entstehen verschiedene Mutterschaftsdiskurse, in denen die gesellschaftliche ›Aufgabe‹ einer Frau zum größten Teil nicht nur über ihren Körper bestimmt, sondern ihrem Körper zugeschrieben wird. Im Gegensatz zum Mann wird die gesellschaftliche Leistung einer Frau oft an der Anzahl der Kinder gemessen, die sie geboren hat. Wer diese Aufgabe nicht erfüllt, steht unter einem hohen Rechtfertigungsdruck. Im geteilten Deutschland entwickelten sich parallel zwei unterschiedliche Modelle von Mutterschaft: Während im Westen ein konservativeres Bild der Mutter das Dasein vieler Frauen prägte, hatten Frauen im Osten die Chance, Berufe zu erlernen, die traditionell von Männern ausgeübt wurden. Allerdings forderte der SED-Staat zudem, dass Frauen ihrer ›naturgegebenen‹ Pflicht nachkommen und Kinder gebären sollten. ›Mutterschaft‹, sprich: das Gebären von Kindern, wurde in der DDR genauso hoch angesehen wie in der BRD: Man denke hier nur an die Debatte um Abtreibung und den Mangel an Verhütungsmitteln in der DDR. Zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer sind sinkende Geburtenraten in Deutschland ein Thema, das beunruhigt und polarisiert. Die Kinder von heute sollten die Zukunft – oder im wirtschaftlichen Kontext, die Renten – für die Eltern und Großeltern von heute sichern. Die Figur der (deutschen) ›Kindermörderin‹ lehnt nicht nur ihre Mutterrolle auf brutalste Weise ab: Vielmehr schockiert sie die Gesellschaft, weil sie als 79
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Bedrohung für die Existenz der Gesellschaft wahrgenommen wird. Um besser mit dieser Bedrohung umzugehen, wird diese ›Schreckenstat‹ geografisch verortet und auf die Person der alleinerziehenden Mutter im Osten Deutschlands projiziert. Der folgende Beitrag untersucht das Bild der ›ostdeutschen Rabenmutter‹. Es findet eine Analyse des Hintergrundes, der ›Verortung‹ in den neuen Bundesländern und der damit verbundenen, (un)bewussten geschlechtsspezifischen Zuschreibungen im Hinblick auf Erziehung, Familie und Strafe statt. Medienberichte, Beiträge von den Schriftstellern Christoph Hein und Michael Kumpfmüller sowie ein von dem Verfasser geführtes Interview mit der Filmemacherin Aelrun Goette zeigen, wie und warum die Themen ›Strafrecht‹ und ›Geschlecht‹ über diese Figur verknüpft werden. Darüber hinaus bietet diese Analyse ein fundiertes Bild von deutsch-deutschen Vorurteilen, die auch zwanzig Jahre nach dem Mauerfall noch vorhanden sind und auf Herkunft und Geschlecht basieren.
II.
Stimmen zur ›Besonderheit‹ der Kindstötungen im Osten nach 1989
Seit der deutschen Wiedervereinigung gewinnt das Thema ›Kindstötungen‹ immer mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Prof. Dr. Christian Pfeiffer, Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, berichtet, dass die Anzahl der Fälle in den neuen Bundesländern drei bis vier mal so hoch sei wie die in den alten Bundesländern (vgl. Welt 2008). Er deutet darauf hin, »[...] dass es im Osten mehr junge Mütter gibt, die in sozialer Isolation und Armut aufwachsen und überfordert sind. [...] Wir sind aber noch nicht so weit, diese Ost-WestUnterschiede aufzuklären« (ebd.). Laut Pfeiffer seien die Tötungen auf Isolation und Armut zurückzuführen. Obwohl die Ursachen keine Besonderheit der ›ostdeutschen Rabenmutter‹ sind, kommt diese Situation im Osten häufiger vor. Bereits unmittelbar nach der Wende war der Fall einer Kindstötung in Frankfurt (Oder) bekannt geworden. Im September 1990 wurde die Leiche eines Babys im Müllschacht eines Hochhauses im Pablo-NerudaBlock 3 in Frankfurt (Oder) gefunden. Erst im Oktober 2009 konnte der Fall geklärt werden; die mittlerweile »in einem der alten Bundesländer« wohnende Mutter meldete sich beim Landeskriminalamt (LKA) Brandenburg (vgl. Wittge 2009). Seit der Wende sind drei weitere Fälle (1999, 2005, 2008) in oder in unmittelbarer Nähe von Frankfurt (Oder)
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gemeldet worden. Über plakative Schlagzeilen in Boulevardzeitungen wird Frankfurt (Oder) – und in einem erweiterten Sinne der gesamte Osten Deutschlands – unmittelbar mit Kindstötungen und der Figur der Kindermörderin assoziiert. Dieses Bild wird durch die Aussagen hochrangiger Politiker untermauert. Im Februar 2008 kommentierte Prof. Dr. Wolfgang Böhmer, der heute CDU-Ministerpräsident Sachsen-Anhalts ist und selbst Gynäkologe in der DDR war, acht Tage nach dem von einer Mutter an ihrem Säugling verübten Mord in Frankfurt (Oder) den Vorfall wie folgt: »Es kommt mir so vor, als ob Kindstötungen – die es allerdings immer schon gab – ein Mittel der Familienplanung seien« (Zeit-online 2008). Er fuhr fort, indem er die laut DDR-Gesetz legalen Spätabtreibungen mit Morden gleichsetzte. Somit stellte er einen höchst problematischen Zusammenhang zwischen Abtreibungen in der DDR und Kindstötungen in den neuen Bundesländern nach der Wende her. Böhmers teleologische Argumentation spiegelt eine weit verbreitete Meinung unter Deutschen in den alten Bundesländern wider: Kindstötungen seien ein Phänomen, das den neuen Bundesländern aufgrund der ›Last‹ ihres ›DDR-Erbes‹ zugeordnet werden könne.
III. I n t e r p r e t a t i o n s b i l d e r d e r M u t t e r s c h a f t vor und nach 1989 1.
Mutterschaft in der DDR
Am 30. März 2006 erschien in der Berliner Morgenpost eine Karikatur mit dem Titel »Das Erfolgsrezept« (siehe Abb. 1). Am Schreibtisch ihres Arztes sitzend, sagt eine Frau mit Freude: »Ich meine, gerade auch als Frau kann man erfolgreich sein im Leben!« Während er ihr ein Rezept für die Anti-Baby-Pille verschreibt, antwortet der Arzt mit einem kurzen »Verstehe.« Die Karikatur enthält mehrere Botschaften. Entweder spiegelt die Antwort des Arztes seine eigene patriarchalische Einstellung zum Thema ›Frau und Karriere‹, d. h., eine ›erfolgreiche Frau‹ ist eine kinderlose Frau. Oder der Arzt und die Frau sind der gleichen Meinung, und die Frau bedient sich einer patriarchalischen Sprache, um Verhütungsmittel verschrieben zu bekommen. Letztlich enthüllt die Karikatur den die Gesellschaft prägenden Zusammenhang zwischen dem beruflichen Erfolg einer Frau, ihrem Körper und ihrer Kinderlosigkeit. Anscheinend passen
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Mutterschaft und Emanzipation für Frauen im wiedervereinigten Deutschland nicht zusammen. Abbildung 1: »Das Erfolgsrezept« (Rulle 2006)
In der DDR war das Gegenteil der Fall – zumindest in der Theorie. In seiner Rede im Jahre 1986 auf dem XI. Parteitag der SED kündigte Erich Honecker an: »Gewährleistet sind uns soziale Sicherheit und Geborgenheit, Vollbeschäftigung, gleiche Bildungschancen für alle Kinder des Volkes« (zitiert nach Schmidt 2004: 13 f.). Das Kinderkriegen wurde nicht nur von der Familienpolitik der DDR unterstützt – es wurde zum Konnex der Sozialpolitik der DDR. Um Nachwuchs für die Republik zu sichern, verfolgte ab den 1960er Jahren die DDR eine Familienpolitik, die sowohl von Ost- als auch von Westdeutschen gelobt wurde – nicht zuletzt, weil die DDR die Geburtenraten als wichtigen Faktor für die Rentenversicherung etwa fünfzehn Jahre früher als die BRD festgestellt hatte (vgl. Schmidt 2004: 98). Und die DDR strebte nicht nur nach gesellschaftlicher, sondern auch nach geschlechtlicher Gleichheit. 1962 schrieben Eva Schmidt-Kolmer und Heinz H. Schmidt, dass »eine gute Mutter […] heute eine arbeitende Mutter [ist], die gleichberechtigt und gleichqualifiziert neben dem Vater steht« (zitiert nach Schmidt 2004: 98). In der DDR gestaltete sich der Zusammenhang zwischen Mutterschaft und Berufstätigkeit nicht als eine ›Entweder-Oder-Frage‹: Die ›gute Mutter‹ arbeitete sowohl in der privaten als auch in der öffentlichen Sphäre.
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Die Tätigkeit in zwei Arbeitsbereichen bedeutete aber praktisch auch für die Frauen in der DDR eine ›Doppelbelastung‹. Die von dem Staat gestellte Anforderung, gleichzeitig Mutter und beruflich tätig zu sein, wurde vielen Frauen zu viel und führte zu Unzufriedenheit und sogar zu gesundheitlichen Beschwerden. Katharina von Ankum legt dar, dass die SED eine klare Vorstellung von der ›angeborenen‹ Rolle der Frau als ›arbeitende Mutter‹ in der sozialistischen Gesellschaft hatte. Eine Passage aus dem »Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau vom 27.9.1950« macht deutlich, dass Frauen in der DDR an erster Stelle Mütter sein sollten: »Die Frau will Leben geben, hüten, bewahren. Die Frau ist von der Natur aus dazu ausersehen, Kinder zu gebären, die die Menschheit daran verhindern, auszusterben. In der Mutterschaft mit allen Sorgen und Mühen findet die Frau Erfüllung ihrer höchsten Lebensaufgabe.« (Zitiert nach von Ankum 1993: 132)
Sowohl Frauen als auch Männer bestanden darauf, dass Frauen das Recht auf Abtreibung haben sollten. Diese Debatte fing gleich nach dem Zweiten Weltkrieg an und setzte sich bis in die 1970er Jahre fort. Von Ankum betont, die SED habe allerdings nie ernsthaft in Erwägung gezogen, Frauen das Recht auf Abtreibung zu gewähren (ebd.: 133). Zu wichtig sei die Aufgabe der Frau gewesen, Nachwuchs für die Republik sicherzustellen. 1966 gab der ehemalige Gesundheitsminister Dr. Ludwig Mecklinger folgende Erklärung ab: »Über 2000 Unterbrechungen im Monat können wir uns wegen des erforderlichen biologischen Wachstums nicht leisten. Dabei werden wir bei einer größeren Anzahl von Mädchen und Frauen nicht auf Verständnis stoßen. Darüber sollte man aber ganz offen sprechen.« (Zitiert nach von Ankum 1993: 136)
Mecklingers Aussage macht deutlich, dass der SED die Ansprüche der Frauen durchaus bewusst waren. Die Entscheidung der SED, Abtreibungen in der DDR offiziell zuzulassen, wäre ein Eingeständnis des DDRStaates gewesen, dass sein Modell der »arbeitenden Mutter« gescheitert war (von Ankum 1993: 127). Ferner fehlte es in der DDR an Verhütungsmitteln in Form der Pille: Ovosiston war erst 1965 erhältlich; Nonovosiston, Sequenziston und Tyrikoston folgten ab 1970 (ebd.: 136). Es lässt sich zusammenfassen, dass die ›arbeitende Mutter‹ in ihrer ›Funktion‹ als gebärende Mutter die Innenpolitik der DDR prägte. In Anbetracht dessen wirkt Böhmers Behauptung, Kindstötungen seien eine Form der Familienplanung in den neuen Bundesländern und daher ei83
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ne Folge der Familienpolitik der DDR, wie eine nachträgliche Brandmarkung.
2.
Gegenwärtige Medienberichte von Kindstötungen und die Dämonisierung der ›ostdeutschen Mutter‹
Obwohl die berufstätige Mutter ein fester Bestandteil des sozialen Gefüges der DDR war, wird seit dem Mauerfall das Stereotyp der ›ostdeutschen Rabenmutter‹ durch Pressemitteilungen und politische Aussagen konstruiert. Böhmer war nicht der erste Politiker, der sich des Bildes der ›ostdeutschen Rabenmutter‹ bediente. Nach der im Jahre 2005 entdeckten Kindstötung in Frankfurt (Oder) behauptete Jörg Schönbohm, ehemaliger Innenminister Brandenburgs (CDU): »Die ländlich strukturierten Räume Ostdeutschlands sind stärker verproletarisiert als ein eher städtisch geprägtes Land wie Sachsen, wo ein Teil des Bürgertums die SED-Diktatur überlebt hat. [...] Ich glaube, dass die von der SED erzwungene Proletarisierung eine der wesentlichen Ursachen ist für Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft.« (Zitiert nach Kumpfmüller 2005)
Dieses Zitat bildet den Kern von Michael Kumpfmüllers Artikel »Die Schuldfrage« in der Zeit vom 11. August 2005. Kumpfmüller erhebt Einwände gegen Schönbohms Aussage: Er nennt sie eine »Umkehrung der einst im Ostblock gültigen These, wonach kriminelle Delikte in der sozialistischen Gesellschaft lediglich ein Überbleibsel eines bürgerlichen Daseins waren«. Trotzdem baut dieser Zeitungsbericht auf Schönbohms politische Aussage und ist auf diese Weise beispielhaft dafür, wie das politische Bild der ›ostdeutschen Rabenmutter‹ von den Medien aufgenommen und weiterpropagiert wurde bzw. wird. Wie der Titel bereits andeutet, ist Kumpfmüllers Auseinandersetzung mit dem Fall weniger ein Versuch festzustellen, warum eine Mutter ihr Kind tötet. Vielmehr bestätigt er, dass das Phänomen Kindstötung in der Tat ein Phänomen des Ostens sei. Provokativ stellt er die Frage: »An Frankfurt/Oder wird es wahrscheinlich nicht liegen, aber woran dann?« (Kumpfmüller 2005) Kumpfmüller setzt sich mit dem gleichen medialen Prozess, an dem er selber beteiligt ist, auseinander. Er kritisiert die Boulevardzeitungen, die »in erster Linie moralisch [argumentieren]« und diese Mütter so darstellen, als ob sie »kein Mensch, [...] ›eiskalt‹« seien. Auch die »Qualitätsmedien«, die sich einer »Logik des Verstehens« bedienen, bieten der Leserschaft kein objektives Bild. Trotzdem ist Kumpfmüller der Meinung, das Klischee der ›ostdeutschen Rabenmutter‹ trage dazu bei, dass
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der Osten an seinem »Opferstatus« weiterhin festhalten könne. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe sich die ehemalige DDR als Opfer des »faschistischen« Westens und der UdSSR dargestellt; nach der Wende sei der Osten »Opfer des Marktes, des Grundgesetzes, kurz: des Westens« geworden. Somit fungiert die ›ostdeutsche Rabenmutter‹ bei Kumpfmüller als eine Metapher für die neuen Bundesländer: Sie – und somit der gesamte Osten Deutschlands – werde so zu Unrecht als Opfer betrachtet und behandelt: »Das Opfer verdient zunächst Mitleid, weil es unschuldig ist. [...] Indem man dem Opfer hilft, will man ihm geben, was es nicht hat, aber um den Preis, dass es mittelfristig auf den Status als Opfer verzichtet, also Verantwortung für sein Handeln übernimmt. [...] Der Status als Opfer wird zum Fetisch [...] Und vielleicht ist das ja genau der Kern der Tragödie in Frankfurt/Oder. Ein Opfer, das nicht zum Täter werden will, schlachtet [!] alle paar Jahre ein Kind. Denn wer stellt den eigenen Opferstatus gründlicher infrage als ein gerade geborenes Kind? Das ist die Ausweitung der Kampfzone [!] bis in den Mutterleib. Das neugeborene Kind muss sterben, damit die Mutter weiter Opfer sein kann und ohne Verantwortung, selbst um den Preis des größten Verbrechens, in dem die geschockte Gesellschaft – und das ist nun wirklich der grausame Witz dabei – am Ende wieder nur die Tat eines Opfers erkennen wird.« (Kumpfmüller 2005)
In diesem Auszug verflechten sich Fragen von Schuld, Verantwortung, Opfer- und Täterstatus und Kriminalität in Bezug auf die Ost/WestProblematik und die Geschlechterverhältnisse. Diese Breite an Themen wird wiederum dem Mutterleib – stellvertretend für die ›Lebensaufgabe‹ der Frau – zugeschrieben: Die ›Kindermörderin des Ostens‹ lehne ihre Lebensaufgabe ab. Kumpfmüller greift die »neu[e] alt[e] Linkspartei« an, weil sie »als Nachfolgepartei der SED ihren Herrschaftsanspruch auf die Menschen im Osten nie aufgegeben« habe (Kumpfmüller 2005). Doch scheint Kumpfmüller selbst in den Klischees verfangen zu sein, die er kritisiert, indem er – genau wie die damalige SED – alle Frauen auf die Rolle einer gebärenden Mutter verpflichtet: »Eine Gesellschaft kann es nicht kalt lassen, wenn Kinder getötet werden, sie fühlt sich zu Recht bedroht, werden doch nicht nur Gesetze des Zusammenlebens verletzt, sondern ihr Kern infrage gestellt: die Fähigkeit zur Reproduktion.« (Kumpfmüller 2005) Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Kumpfmüller einen Roman verfasste (Durst, 2003), der auf dem Fall von Daniela Jesse im Jahre 1999 beruht. Wenn Kumpfmüller vom »Fetisch« in seinem Artikel schreibt, lässt sich fragen, für wen der Opferstatus – oder die Figur der 85
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›ostdeutschen Rabenmutter‹ – von Interesse ist. In seiner fiktiven Schilderung des Falls geht es viel weniger um das Leiden der Kinder als um das Sexualleben der Protagonistin »Conny«, die in der »Stadt F.« (Kumpfmüller 2003: 86) lebt und durch ihr Lügen und ihre Promiskuität gekennzeichnet ist. Beim Sex mit einem Freund sagt sie: »Der erste Fick meines Lebens. So musst du mich ficken. [...] Er zerlegte und präparierte sie, er nahm sie völlig auseinander« (ebd.: 38). Sexualität wird als ›gewollte‹ Gewalt seitens der Frau dargestellt, aber Kumpfmüller schreibt seiner Protagonistin – der Kindermörderin – auch eine Opferrolle zu. Indem er die Lebensgeschichte und das Verbrechen der Protagonistin mit Szenen von Sex und Gewalt untermauert, sexualisiert Kumpfmüller sie zugleich. Ansichten wie die vom Schriftsteller Kumpfmüller und den Politikern Schönbohm und Böhmer verunsichern den Autor Christoph Hein. Im Gegensatz zu Kumpfmüller betrachtet Hein Schönbohms Aussage als Ausdruck einer ungelösten deutschen Xenophobie: »Das jahrhundertealte xenophobische Potenzial verlangt offenbar [...] nach einem Sündenbock. Das unglückliche Bewusstsein braucht einen Schuldigen für das eigene Unglück. [...] Um mich als richtigen Deutschen empfinden zu können, benötige ich den verwahrlosten, minderwertigen Deutschen. Ich benötige den Teufel, um meine Gottgefälligkeit erstrahlen zu lassen.« (Hein 2005)
In der Tat fungiert die ›ostdeutsche Rabenmutter‹ als salonfähiger Sündenbock in der heutigen deutschen Gesellschaft auf mehreren Ebenen. Für viele Menschen in den alten Bundesländern symbolisiert sie sowohl das (zumindest gefühlte) Scheitern des ›Aufbau Ost‹-Programms als auch die Zunahme der Kinderarmut in der gesamten Bundesrepublik. Außerdem wird sie für den Verfall der traditionellen Familie und eine belastete, gewaltsame häusliche Sphäre verantwortlich gemacht. Warum eignet sich ausgerechnet die ›ostdeutsche Rabenmutter‹ als Signifikant für die schwierige wirtschaftliche und soziale Lage Deutschlands? Die 1969 in Ost-Berlin geborene Filmemacherin Aelrun Goette bezeichnet Schönbohms Aussage als »ein Beispiel emotionaler Verrohung« (Piepgras 2005). Sie ist selber Mutter und vertritt die Meinung, dass »[...] die Rolle der Frau im Osten eine andere war als im Westen. Eine Mutter, die berufstätig war, war nicht nur mehrfach belastet, sondern stand und steht auch im Gegensatz zum konservativen Frauenbild, das die Bundesrepublik immer wieder neu vermittelt. Zur Dämonisierung des Frauenbildes eignet sich am aller besten die Mutter, die nur an ihr Ego denkt, ihre Kinder vernachläs86
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sigt und am Ende sterben lässt. Was gibt’s Exemplarischeres als das?« (Prickett 2009)
In ihren Analysen von Kindstötungen in den neuen Bundesländern stellen die Autoren Kumpfmüller und Hein und die Regisseurin Goette Parallelen zum Medea-Mythos, Goethes Faust und der berühmten Kindermörderin Margaretha Brandt, deren Gerichtsverfahren Goethe 1772 beiwohnte, her. Goette spürt eine gesellschaftliche Faszination mit der Figur der Kindermörderin: »Dieses Thema ›Mütter, die ihre Kinder töten‹ [ist] ein ganz klassisches Thema [...]. Nicht erst seit Medea – es ist ein tiefstbeängstigendes, aber damit natürlich auch faszinierendes Thema. [...] Also, ich glaube, da ist ein ganz – das meine ich gar nicht negativ – voyeuristisches Interesse.« (Ebd.)
Im Jahre 2009 fanden das zwanzigjährige Jubiläum des Mauerfalls, die Europa-Wahl und die Bundestagswahl statt. Im selben Jahr steht das Thema ›Mutterschaft‹ – stellvertretend sowohl für die Leistungen in der häuslichen Sphäre (Kind, Familie, Heim) als auch für die wirtschaftlichen Leistungen von Frauen (als Haupt- oder Zweitverdienerin) – wieder einmal im Zentrum einer Debatte, die polarisierend wirkt. Diese Polarisierung lässt sich nicht nur an den ›Grenzen‹ gesellschaftlicher Schichten, sondern auch entlang der ehemaligen Ost/West-Grenze spüren. Goette glaubt, dass »[...] die ›sozialistisch geprägte‹ Welt auf eine [...] ›konservative‹ Welt geprallt ist. Und das war natürlich auch eine Provokation für das Frauenbild gleichermaßen für Männer und Frauen im Westen. Und ich glaube, um das eigene Bild und das eigene Modell zu rechtfertigen, muss man ja immer das andere verteufeln.« (Ebd.)
Goettes Bemerkungen erinnern an Heins These, dass die Deutschen in den alten Bundesländern einen Sündenbock benötigen, um sich von ihrer Misere (z. B. aufgrund wachsender prekärer Arbeitsbedingungen und der damit verbundenen Ängste) abzulenken. Diese ›Dämonisierung‹ ist aber auch in den positiven Rezensionen zu Aelrun Goettes Dokumentation DIE KINDER SIND TOT zu finden. Titel wie »Eiskaltes Herz« (Bartels 2004), »Monster sind auch nur Menschen« (Heine 2004) und »Mutter, Monster – Eine Frauensache: Aelrun Goettes Film ›Die Kinder sind tot‹« (Knoben 2004) bilden die Grundlage für Michael Kumpfmüllers Kritik an den Medien, da sie genau das Bild der (ostdeutschen) Kindermörderin transportieren, das Goette in ihrem Film relativieren will. Ei87
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ner weiteren Rezension ist ein Foto hinzugefügt; der Untertitel lautet: »Hat die Schreckenstat ein Gesicht?« (Kilb 2004). Für viele Deutsche verkörpert Daniela Jesse das Monstrum, »das Ungeheuer« (Knoben 2004), den Sündenbock: die ›ostdeutsche Rabenmutter‹ schlechthin.
IV. D a s B i l d d e r › o s t d e u t s c h e n M u t t e r ‹ 1.
Das Beispiel Frankfurt (Oder) – Neuberesinchen
Im Gegensatz zu Medienberichten, die das Bild einer ›ostdeutschen Rabenmutter‹ oft auf unreflektierte Weise in ihre Berichte aufnehmen und wiedergeben, versucht Goette in ihrem Dokumentarfilm DIE KINDER SIND TOT (2003), die Ursachen für solche Fälle zu ermitteln. Dabei identifiziert sie ein kollektives Bedürfnis nach einem Sündenbock als Mittel der Kompensation wirtschaftlicher und gesellschaftlicher ›Fehlschläge‹ in der deutschen Innenpolitik seit der Wende.1 DIE KINDER SIND TOT stellt einen der bekanntesten Fälle von Kindstötung, die in Frankfurt (Oder) ausgeübt wurden, dar. Im Juni 1999 hatte Daniela Jesse ihre Söhne Kevin (3) und Tobias (2) zwei Wochen in ihrer Wohnung alleine gelassen; daraufhin waren beide Jungen verdurstet. Indem der Film sich mit der Doppelbelastung Danielas als alleinerziehende Mutter und mittellose Frau beschäftigt, widersetzt sich DIE KINDER SIND TOT dem gängigen Klischee der ›ostdeutschen Rabenmutter‹, das seit der Wende Verbreitung im zeitgenössischen Mediendiskurs um Mutterschaft und Kindererziehung findet. Interviews mit Daniela Jesse, ihrer Mutter Rosemarie Jesse, Cornelie Scheplitz, Abteilungsleiterin im Amt für Jugend und Soziales im Jugendamt, und Danielas ehemaligen Nachbarn und Freundinnen zeigen, dass sowohl der ›Fall Daniela Jesse‹ als auch ähnliche Fälle von Kindstötungen im Osten Deutschlands keine Folgen einer ›gefühllosen DDR-Gesellschaft‹ sind. Solche Fälle sind vielmehr auf eine wachsende Entfremdung und Überbelastung von mittellosen, alleinerziehenden Müttern zurückzuführen. Als der Film Sozialarbeiter/innen in Problemgebieten in den alten Bundesländern gezeigt wurde, erzählten sie Aelrun Goette, dass solche Fälle dort durchaus auch vorkommen könnten (Prickett 2009). Jedoch spielte der ostdeutsche Tatort eine zentrale Rolle in dem Fall. Anstatt ins 1
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Aelrun Goette hat mehrere Dokumentar- und Spielfilme gedreht. In ihren Filmen beschäftigt sie sich mit diversen Themen, u. a. mit einem Mord, der von einer Jugendlichen begangen wurde (OHNE BEWÄHRUNG, 1997), oder mit Frauen in der Bundeswehr (FELDTAGEBUCH, 2002).
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wiedervereinigte Deutschland eingegliedert zu werden, bleiben Frankfurt (Oder) und dessen Einwohner im figurativen und wörtlichen Sinne am Rande der deutschen Gesellschaft. Nach dem Mauerfall erfolgte eine drastische Abnahme der Einwohnerzahl. Während 1988 die Einwohnerzahl 88.000 betrug, hatte die Stadt trotz der Neugründung der EuropaUniversität Viadrina Frankfurt (Oder) im Jahre 1991 nur noch knapp 60.000 Einwohner (LASA 2008) und eine Arbeitslosenquote von 15,7 Prozent (BfA 2009). Goette erklärt das folgendermaßen: »Die Stadt Frankfurt (Oder) [...] ist ja viel näher zu Polen als zum Westen. [...] Da sind die Menschen aus dem Westen ja viel spärlicher eingetroffen. [...] Meine These ist schon die, dass sich der Osten dort viel länger aufgehalten hat als hier im Westen [in Berlin].« (Prickett 2009)
Nach den ersten Filmszenen wird dem Zuschauer die Vorgeschichte und die Umgebung vorgeführt. Ein Lehrer befragt seine Schüler/innen, ob sie etwas von dem Fall von Kevin und Tobias wissen. Ein Junge antwortet: »Die Nachbarn haben das nicht mitgekriegt.« Ein zweiter Junge fügt hinzu: »Ja, und die konnten die Tür nicht aufmachen, da sie noch so klein waren. Und zu Hilfe haben sie auch geschrien aber keiner hat’s gehört – und wenn sie’s gehört haben, sie dachten sich nichts dabei.« Aber hat die Reaktion der Nachbarn etwas ›Ost-Spezifisches‹, wie Schönbohm behauptet hatte? Dazu sagt Goette: »Ich glaube, dass man die Geschehnisse auf zwei verschiedenen Ebenen betrachten muss. Die eine ist: solche Tragödien haben immer eine individuelle Geschichte. Es sind ganz private Fälle, in denen eine Summe an Dingen schief laufen muss, damit es dazu kommt. [...] Die andere ist: es hat sich im Vergleich zur DDR in Neuberesinchen eine völlig neue Struktur gebildet: Im Osten war das ein sehr begehrter Stadtteil [...] da gab es eine völlig andere Struktur. Es war ein [...] sehr begehrter Stadtteil [...] und die Menschen mischten sich untereinander. Der Arzt hat neben dem Müllarbeiter, neben der Krankenschwester gewohnt, und dadurch war ein ganz anderes soziales Gefüge entstanden. [...] Das ist nach dem Fall der Mauer weggebrochen.« (Prickett 2009)
Während die Stadt Frankfurt (Oder) danach strebt, einen zentraleren Platz im gesamtdeutschen gesellschaftlichen Kontext einzunehmen, sehen sich die Einwohner Neuberesinchens mit ihrem Status als ›Außenseiter‹ innerhalb der Stadt Frankfurt (Oder) konfrontiert. Diese Thematik wird durch Goettes Interview mit dem Bestatter, der sich um die Beerdigung der Jungen kümmerte, betont:
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»Jetzt ist es natürlich so geworden, dass Neuberesinchen eigentlich das Viertel ist für Sozialschwache. So. Und wo eben die Sozialschwachen untereinander wohnen, dann kommen Alkoholprobleme mit zu und so weiter und so fort und leider auch Drogen und was da alles anfällt – und das staut sich ja da oben so in der Gegend. Man kann ja eigentlich sagen, was Frankfurts Nobelviertel war, ist jetzt eigentlich, na, auf Deutsch gesagt, ›Die Slums von Frankfurt‹ schon.«
2.
Die Personifizierung der Schreckenstat: Daniela Jesse
Durch den Fall von Daniela Jesse wurde Neuberesinchen als Stadtteil von Frankfurt (Oder) berühmt und zugleich berüchtigt. »Die Kinder sind tot« beginnt am 5. Januar 2000, am Tag des Gerichtsverfahrens von Daniela Jesse. Ein Polizist steht vor der Tür, während die Presse auf Daniela wartet. Die Tür geht auf, die Kameras blitzen, die Verteidigerin tritt hervor und Daniela Jesse folgt ihr. Ihr Kopf ist von einem schwarzen Tuch bedeckt. Beide gehen in den Gerichtssaal und setzen sich hin. Das Bild wird ausgeblendet; der Zuschauer liest das Urteil: »Daniela Jesse (23), verurteilt zu einer lebenslangen Haftstrafe, wegen zweifachen Mordes an ihren Kindern Kevin (3) und Tobias (2).« Die nächste Szene findet zwei Jahre später im Gefängnis Luckau statt. Daniela spricht mit Goette, die ihr Fragen aus dem Off stellt. Sie ist entspannt und kann sogar lächeln. Als Goette sie fragt, was an dem besagten Tag passiert war, wird Daniela ruhiger und nachdenklich; sie schaut nach unten und sagt: »Da habe ich meine Kinder tot aufgefunden.« In diesem Moment bekommt »die Schreckenstat« ein Gesicht. Man fragt sich, wer dafür verantwortlich ist, dass die Kinder tot sind: die Mutter Daniela, der Staat bzw. das Jugendamt oder die Umgebung und die Nachbarn. Auf diese ›Schuldfrage‹ Bezug nehmend, schreibt Kumpfmüller aus der ›Sicht‹ der tötenden Mutter: »Ich glaube, ich war nicht ganz zurechnungsfähig. Schrecklich war es. Aber jetzt, da es vorbei ist, gibt es mir Anlass für die allerzärtlichsten Empfindungen.« (Kumpfmüller 2005) Es war eben diese Frage nach der ›Schuld‹, die Aelrun Goette damals bewog, diesen Film zu drehen: »Ich habe damals über den Fall in der Zeitung gelesen und das ließ mich nicht mehr los. Ich habe mich gefragt: wie kann sowas sein, dass heute in Deutschland, mitten unter uns, zwei kleine Kinder 14 Tage um ihr Leben kämpfen, mit Löffeln an die Fenster klopfen und dabei gesehen werden, und dass niemand ihnen hilft? Zwei Kinder verdursten und alle schauen weg?« (Prickett 2009)
Dieser passive ›Niemand‹ spielt eine zentrale Rolle – vor und nach dem Fall von Daniela, Kevin und Tobias. Viele Zeitungsartikel weisen auf 90
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eine ›Kultur des Wegschauens‹ hin, die einer ›kalten‹ und ›gefühllosen‹ ostdeutschen Gesellschaft unterstellt wird. Obwohl Goette die Annahme einer spezifisch ›ostdeutschen Kultur des Wegschauens‹ strikt ablehnt, ist sie schon der Meinung, dass Abbildung 2: »Raben-Mutter: Eltern halten sich versteckt«. DIE KINDER SIND TOT (Goette 2003)
»[d]er Druck immer mehr steigt, und je mehr die Menschen versagen, umso mehr versuchen sie nach außen hin das Bild der heilen Welt aufrecht zu erhalten. Sie lassen niemanden mehr in ihre Familie hineingucken. Aber das ist in der Bundesrepublik auch nicht anders.« (Ebd.)
Die Familie Jesse ist ein solcher Fall. Daniela, die 13 Jahre alt war, als die Mauer fiel, hat nie gearbeitet. Sie hatte vier Kinder: Tochter Katharina lebt jetzt bei ihrer Mutter Rosemarie; ihr viertes Kind wurde zur Adoption freigegeben. Daniela sagt, sie sei von ihrem Vater missbraucht worden. Mutter Rosemarie sagt, Daniela lüge. Goette erklärt, dass Rosemarie »[...] ganz oft, wenn Not am Mann war oder wenn Daniela mal wieder abgehauen war, die Kinder zu sich genommen hat« (Prickett 2009). Als Mutter von Daniela habe Rosemarie dies getan, um das nach außen gerichtete Bild einer intakten Familie aufrecht zu erhalten. Dieser Versuch war letztlich ein Trugschluss – nicht nur für die Familie Jesse, sondern auch für das Jugendamt. Cornelie Scheplitz, Abteilungsleiterin im Amt für Jugend und Soziales im Jugendamt, bestätigt im Interview mit Goette, das Jugendamt habe sich um den Fall gekümmert. Als sie bei
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Daniela Jesse war, sei alles in Ordnung gewesen. Von weiteren Problemen sei das Jugendamt aber nicht informiert worden: »Es ist kein Anruf angekommen.« (Goette 2003) Laut Goette sei diese ›Funkstille‹ kein Zeichen eines ›ostdeutschen Wegschauens‹; vielmehr hänge dieses ›Unwissen‹ mit dem Abbau von früheren sozialen Kontakten und finanzieller Sicherheit seit dem Mauerfall zusammen: »Das Jugendamt wird, das ist klassisch, als Feind betrachtet, man ist ja keine Problemfamilie. Wir schaffen das schon. Und deshalb hat die Oma [Rosemarie] sehr Vieles übernommen, was Daniela nicht geschafft hat. Irgendwann war jedoch der Punkt gekommen, an dem Rosemarie gesagt hat: Ich mache das nicht mehr. Du bist die Mutter. Du musst dich kümmern. Und es gibt Vermutungen, die eben nahe liegen, dass [Rosemarie] dann gesagt hat, so, jetzt mache ich’s mal nicht. Jetzt siehst du mal, wo du landest, wenn ich es mal nicht mache. [...] Die Tage vergehen. Und in der Zwischenzeit sind die beiden Kinder da oben allein. Und irgendwann ist wahrscheinlich so ein Punkt eingetreten, wo dann [Daniela und Rosemarie] Angst hatten.« (Prickett 2009)
In dem Film wird deutlich, dass dieser Fall nicht nur der Fall einer Mutter, sondern zweier Mütter ist. Goette betont, dass sowohl Daniela als auch Rosemarie die moralische Verantwortung für den Tod der Kinder tragen: »Am Anfang wurde auch gegen Rosemarie wegen unterlassener Hilfeleistung ermittelt. Ihr wurde vom Gericht angetragen, dass sie von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen kann, dann bestehe jedoch die Möglichkeit einer Verurteilung auch für sie. Daraufhin hat sie sich anwaltlich vertreten lassen und vor Gericht gegen ihre Tochter ausgesagt. Nicht zuletzt wegen ihrer Aussagen wurde die anfängliche Anklage wegen Totschlags gegen Daniela in die Mord-Anklage verändert.« (Ebd.)
Letztlich wurde Rosemarie die Hauptbelastungszeugin gegen ihre Tochter; aufgrund ihrer Aussagen wurde Daniela schließlich wegen Mordes verurteilt. Während Danielas Gerichtsverfahren merkte Goette, dass sich dieser Fall in der Tat auf zwei Ebenen abspielte: auf der Ebene einer Familientragödie und auf der gesellschaftlichen Ebene. Auf beiden Ebenen musste Daniela als Sündenbock herhalten. Stellt der »Fall Daniela Jesse« einen von Kumpfmüller beschriebenen Fall von »Opfer als Fetisch« dar? Goette ist der Meinung, dass – anhand der Aussage ihrer Mutter und der »starken Stimme im Volk« – Daniela in der Tat zu einem
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Opfer gemacht wurde. Goette kommentiert die Stimmung im Gerichtssaal wie folgt: »Ich hatte den Eindruck, dass es im Volk eine ganz starke Stimme gab, Daniela an den Pranger zu stellen. Also auch ›Hängt diese Frau‹, es wurde die Wiedereinführung der Todesstrafe gefordert, ›Kopf ab‹, ›Weg mit der – wie kann man – ‹. Und ich hatte den Eindruck, dass dieser Stimme des Volkes durch das Urteil auch Rechnung getragen wurde. Das Gericht war befangen.« (Ebd.)
Abbildung 3: Daniela Jesse und Rosemarie Jesse. DIE KINDER SIND TOT (Goette 2003)
Diese Reaktionen derjenigen, die dem Gerichtsverfahren beiwohnten, zeigt, dass diese Dämonisierung von ostdeutschen Frauen nicht nur in den alten, sondern auch in den neuen Bundesländern fortgesetzt wird. Ob West- oder Ostdeutsche, reich oder arm, alle sind sich darüber einig, dass Daniela eine ›Rabenmutter‹ sei, gegen die man sich als ›gute Mutter‹ profilieren könne.
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3.
Mutterschaft = ›Frauensache‹: Kindstötung als geschlechtsspezifisches Delikt
Zwischen Aufnahmen von grauen, menschenleeren Höfen in Neuberesinchen konfrontiert Goettes Dokumentation den Zuschauer mit Interviews mit alleinerziehenden Müttern, die sich ähnlichen Herausforderungen wie Daniela stellen müssen. In der Wohnung von »Liane S.: Ex-Freundin von Daniela Jesse« gewinnt der Zuschauer einen Einblick in die Welt dieser Frauen. Es ist laut, Liane brüllt ihre zwei Kinder oft an; die Kinder, Liane und ihr Freund frühstücken vor dem Fernseher. In dem Interview distanziert sich Liane von Daniela: »Entweder hatte sie keine Liebe für ihre Kinder – ihr war nicht bewusst, was sie überhaupt tat – weiß ich nicht. Aber für mich war das keine Mutter.« Kurz darauf bespricht sie ihre eigenen Probleme sowohl mit ihren Kindern als auch mit ihrem ehemaligen Freund, René: »Ich war mit [René] ein dreiviertel Jahr zusammen. Er hat mich verprügelt, der hat sich vor den Kindern – er wollte sich umbringen, hat sich die Pulsader aufgeschnitten.« Der Bestatter, Lianes jetziger Freund und einige Männer, mit denen Goette in der Kneipe spricht, sind die einzigen Männer im Film: Männer sind auffallend abwesend. Laut Kerstin Boltz, Danielas Verteidigerin, wohnten Danielas Gerichtsverfahren hauptsächlich Frauen bei. Als ihre Sekretärin davon erfuhr, dass sie Daniela verteidigen würde, drohte diese zu kündigen: Sie fragte, wie eine Frau, die selbst Mutter ist, »eine solche Frau« verteidigen könne (Goette 2003). Bei der Vorführung von Goettes Film 2004 in Frankfurt (Oder), bei der die Regisseurin auch anwesend war, machten Frauen den Großteil des Publikums aus (Junghänel 2004). Dieses rege Interesse von Frauen könnte zur Frage verleiten, ob Mutterschaft – stellvertretend für Erziehung – auch heute noch als eine reine ›Frauensache‹ betrachtet wird und Väter nach wie vor eine Leerstelle in der frühkindlichen Erziehung darstellen. Es hat den Anschein, dass Abtreibung für viele der sozial benachteiligten werdenden Mütter in Frankfurt (Oder) nicht in Frage kommt. Für Goette ist das Konzept der »alleinerziehenden Mutter«, das im Film vorkommt, in der DDR verwurzelt gewesen: »Zum einen war es im Osten nicht obszön, alleinerziehend zu sein. Es war selbstverständlicher als im Westen. [...] Das Bild der alleinerziehenden Mutter hatte nichts Negatives, so habe ich das erlebt.« (Prickett 2009) Jedoch hat sich nicht nur das soziale Gefüge Neuberesinchens, sondern auch die Lage der alleinerziehenden Mütter in Neuberesinchen und in den neuen Bundesländern insgesamt verändert:
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»Bei jedem Kind, das Daniela bekommen hat, hoffte sie, dass der Erzeuger bei ihr bleibt. Und dann endlich das Bild der ›heilen Familie‹ stimmt. Mit jedem Kind kam die Hoffnung und die Sehnsucht an den Mann.« (Ebd.)
Diese Mütter passen weder zum Bild von Mutterschaft in der ehemaligen DDR mit ›Kinderkrippe und Karriere‹ noch zum Ideal der Mutter im Sinne von ›Kinder, Küche und Kirche‹, welches das Frauenbild in den alten Bundesländern ausmachte. Der Film stellt eine ganz eigene Problematik in Bezug auf ›Mutterschaft‹ dar. Häusliche Gewalt, ein abwesender Vater und Partner und Arbeitslosigkeit ohne Perspektive auf einen Job prägen diese Umgebung. Obwohl Goette der Meinung ist, dass sowohl Daniela als auch ihre Mutter Rosemarie von dem Bild der Mutter in der ehemaligen DDR geprägt sind, erwähnt sie ausdrücklich, dass ein differenzierter Blick in diesem Fall besonders nötig sei: »Bei Daniela ging es nicht um Selbstverwirklichung, sondern um die Sehnsucht nach einer klaren Gestaltung ihres Lebens. Das betrifft viele Frauen.« (Prickett 2009)
V.
Schlussfolgerung
Während es Ansätze gibt, Kindstötungen als ›DDR-Erbe‹ zu erklären, indem man diese in den neuen Bundesländer verortet und über das Bild der ›Rabenmutter‹ als spezifisch ›weibliche‹ Straftaten markiert, gibt es auf der anderen Seite Bemühungen, wie etwa die von Aelrun Goette, deren Anliegen es ist, aufzuzeigen, dass gerade der Abbau des sozialen Systems der DDR, die dort stets hohe Arbeitslosigkeit und der fehlende männliche Elternteil in der Eltern-Kind-Beziehung zu einem Gefühl von Ausweglosigkeit führen. Obwohl der Film einen Zusammenhang zwischen Daniela Jesse und Neuberesinchen aufzeigt, wird nicht versucht, Daniela anhand ihrer Umgebung zu rehabilitieren oder Danielas Verbrechen an den Ort zu binden. Stattdessen erfährt der Zuschauer mehr über das Leben von Frauen, die in das soziale System der DDR hineingeboren waren und die sich zwanzig Jahre nach der Wende in einer schwierigen (Mutter-)Rolle befinden. Kindstötung ist letztlich kein Problem ›ostdeutscher Mütter‹, sondern ein gesellschaftliches Problem.
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Sexualstrafrecht un d Geschlechterordnung im frühneuzeitlichen Österreich SUSANNE HEHENBERGER
1997 stellte die Historikerin Isabel Hull in einem Überblicksartikel fest, »daß die ungleiche Behandlung von Männern und Frauen im Sexualrecht der Frühen Neuzeit in mancher Hinsicht weniger ausgeprägt war als im 19. Jahrhundert« (Hull 1997: 232). Ihre Aussage stützt sie auf frühneuzeitliche Rechtstexte und gerichtliche Quellen aus den deutschen Territorien Baden-Baden, Baden-Durlach und Bayern. Im Bewusstsein, dass der Begriff ›Sexualität‹ als solcher in der Frühen Neuzeit nicht existierte, sondern zeitgenössisch von ›fleischlichen Verbrechen‹ bzw. ›Sünden‹ die Rede war, unterschied Hull drei Kategorien kriminalisierter geschlechtlicher Handlungen: a) heterosexuelle Gewalt, wozu sie z. B. Notzucht und Entführung von Frauen rechnete, b) gewalttätige Handlungen infolge einer Schwangerschaft, wie Abtreibung, Kindsweglegung und Kindstötung, und c) konsensuale sexuelle Handlungen, die gegen religiöse bzw. moralische Werte verstießen, wie Unzucht, Inzest, Ehebruch, Bigamie und Sodomie. Hulls Kategorisierung zieht eine Trennlinie zwischen Gewalttätigkeit und Freiwilligkeit, die mir aus zwei Gründen nicht plausibel erscheint. Zum einen lässt sich diese Grenze weder in den Normen noch in den überlieferten Gerichtsakten so eindeutig feststellen. So konnte hinter dem, was strafrechtlich als ›Inzest‹ definiert und dann gerichtlich verfolgt wurde, sehr Unterschiedliches stecken: eine Liebesbeziehung zwischen zwei miteinander verwandten oder verschwägerten Personen; eine auf ökonomischen und eventuell auch emotionalen Interessen aufbauende Beziehung zu einem nahen Verwandten des verstorbenen Ehemannes 101
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bzw. einer nahen Verwandten der verstorbenen Ehefrau; oder auch innerfamiliäre sexuelle Gewalt (Hehenberger 2003; Jarzebowski 2006). Zum andern trägt der Gewaltbegriff im frühneuzeitlichen Recht zumindest zwei unterschiedliche Bedeutungen: nämlich Gewalt im Sinne von potestas und Gewalt im Sinne von violentia – eine Differenz, die für das Verständnis frühneuzeitlicher Gesellschaften ganz wesentlich ist, wie die Historikerin Michaela Hohkamp (Hohkamp 2002; 2003) wiederholt betonte. Unter potestas wurde nicht nur die dem Herrscher zugeschriebene Gewalt verstanden, sondern auch jene des ›Hausvaters und Ehemanns‹, die neben der Verantwortung für die ihm untergeordneten Personen, auch ein Züchtigungsrecht an Ehefrau, Kindern und Gesinde umfasste. Violentia hingegen war eine angemaßte, unrechtmäßige oder eine ›Maß und Ziel‹ überschreitende Form der Gewaltanwendung. In Zedlers Universallexikon wird violentia u. a. mit Gewaltsamkeit, Tyrannei und Notzwang gleichgesetzt (Zedler 1746: 1674). Im Bereich der Sexualdelikte spielen beide Formen der Gewalt eine Rolle: bei der Konstruktion der Tatbestände geht es insbesondere um violentia, in den Detailbestimmungen wird aber auch potestas sichtbar, wie ich zeigen möchte. Meine kurzen Ausführungen zum frühneuzeitlichen Strafrecht im Erzherzogtum Österreich beschränken sich auf sexuelle Handlungen und Praktiken im engeren Sinne, nicht berücksichtigen kann ich deren kriminalisierte Anbahnung, also z. B. Entführung oder Kuppelei, und auch nicht deren potenzielle Konsequenzen wie Abtreibung, Kindsweglegung oder Kindstötung. Obwohl ich Isabel Hulls Kategorisierung der Sexualdelikte nicht übernehmen werde, teile ich ihre Ansicht, dass das Strafrecht des 19. Jahrhunderts mehr Unterschiede zwischen den Geschlechtern machte als jenes der Frühen Neuzeit. Der Grund dafür liegt, wie auch die österreichische Rechtshistorikerin Ursula Floßmann betonte, nicht etwa in einer Idee der Gleichberechtigung, die dann im 19. Jahrhundert verloren gegangen wäre, sondern vielmehr in der ständischhierarchischen Struktur frühneuzeitlicher Gesellschaften, die das Geschlecht einer Person zu einem von mehreren Differenzierungskriterien machte (Floßmann 1989). Verbotene Handlungen wurden, wie die Historikerin Andrea Griesebner zeigte, personenabhängig und rechtlich legitimiert unterschiedlich beurteilt und zwar nach Stand, Zivilstand, Alter, ethnischer bzw. religiöser Zugehörigkeit, Leumund, Geschlecht oder auch entlang der Kriterien vertraut/fremd, ortsansässig/vagierend (Griesebner 2000). Einige Bevölkerungsgruppen wie Adel und Hofangehörige, Geistlichkeit, Militär und Universitätsmitglieder waren durch ›Criminal-Privilegien‹ eigenen Strafgerichten unterstellt, die übrige,
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SEXUALSTRAFRECHT UND GESCHLECHTERORDNUNG
nicht privilegierte Bevölkerung war der so genannten Landgerichtsbarkeit unterworfen, die im Erzherzogtum Österreich seit dem 16. Jahrhundert in eigenen Landgerichtsordnungen geregelt war. Die Strafrechtscodices des 17. Jahrhunderts, für Österreich unter der Enns: die Ferdinandea von 1656, für Österreich ob der Enns: die Leopoldina von 1675, verfügten im Vergleich zu ihren Vorläuferinnen und auch im Vergleich zur Carolina von 1532 über ein ausdifferenziertes materielles und prozessuales Strafrecht. In die Betrachtung der Normen mit einschließen möchte ich auch die Constitutio Criminalis Theresiana von 1768, welche ab 1770 in den böhmischen und österreichischen Ländern galt. Als Kompilation von Ferdinandea und der in Böhmen, Mähren und Schlesien geltenden Josephina von 1707 war sie in manchen moralischen Belangen noch strenger. In einem ersten Schritt werde ich die Konstruktion der Tatbestände und die Strafdrohungen für vor- und außereheliche heterosexuelle Beziehungen, Ehebruch, Bigamie, Inzest, Notzucht und Sodomie betrachten, in einem zweiten Schritt ein paar Schlaglichter auf die Strafgerichtspraxis im 17. und 18. Jahrhundert werfen, um abschließend die Frage zu diskutieren, ob und wie Geschlechterdifferenzen das frühneuzeitliche Sexualstrafrecht prägten.
I.
Tatbestandkonstruktionen und Strafdrohungen
Das materielle Strafrecht in der Ferdinandea, in der Leopoldina und in der Theresiana ist vergleichbar strukturiert. Die Delikte werden in ähnlicher Weise beschrieben, abgesehen von der unterschiedlichen Länge der Artikel zur Hurerei und dem Sammelartikel zu »Ungläubigen«. Am Beginn eines Artikels steht jeweils die Definition des Tatbestands. Es folgt eine Auflistung spezifischer Verdachtsmomente und Indizien, die wiederum unterteilt sind in jene, die zur weiteren Nachforschung, jene, die zur Inhaftierung und jene, die zur Folter Anlass geben. Daran schließen ein deliktspezifischer Fragenkatalog, meist nach Konstellation differierende Strafdrohungen, sowie spezifische straferschwerende und strafmildernde Umstände an. Neben den deliktspezifischen Strafmilderungs- und Strafverschärfungsgründen werden in den Strafrechtscodices auch allgemeine Bestimmungen zur Herabsetzung oder Anhebung der Strafen angeführt (Ferdinandea, I, Art. 44, 45; Leopoldina, I, Art. 37, 38; Theresiana, I, Art. 11, 12). Diese sind meist geschlechtsneutral formuliert. Alters- und
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geschlechtsspezifische Differenzen zeigen sich in den Bestimmungen zur Anwendung der Tortur: Kinder unter 14 Jahren, alte Männer »von 60 Jahren, und weiter« sowie »schwangere Weibsperson[en], oder Kindbetterin[nen]« dürfen nicht gefoltert werden. Zugleich wurde aber auch festgelegt: »Wenn ein Mann, und ein Weib, oder ein Schwacher, und ein Starker um eines nämlichen Verbrechens willen peinlich zu befragen [d. h. zu foltern] sind, solle man allzeit von dem Weib, oder Schwächeren […] den Anfang machen.« Hinsichtlich des Vollzugs von Todesstrafen verweisen alle drei Landgerichtsordnungen darauf, dass Radbrechen und Hängen für Frauen nicht üblich sei und diese trotz anderer Strafdrohungen enthauptet werden sollen. Bei Sexualdelikten galten die Wiederholung der Tat und das Überschreiten ständisch-hierarchischer Grenzen als strafverschärfende Umstände. Mildernd wurde in der Regel berücksichtigt, wenn keine »fleischliche Vermischung« stattgefunden hatte, egal, ob dies auf Zufall, bewusstem Verzicht oder Unvermögen beruhte. Als weitere Faustregel galt, dass »Ungläubige«, die sich mit Christen/innen vermischten, strenger zu bestrafen waren. Wenn »ein Jud eine christliche, oder Jemand eine geistliche Person schwächete«, wurde in der Theresiana als Strafverschärfung bestimmt, dass »der Thäter nach der Enthauptung auf das Rad geleget werden solle« (Theresiana, II, Art. 76). Im Falle eines Ehebruchs zwischen Personen verschiedenen Glaubens drohte als Strafe die Enthauptung und anschließende Verbrennung der Leichen, wenn entweder die Frau verheiratet war, oder es sich um doppelten Ehebruch handelte (Theresiana, II, Art. 82, § 2, drittens). Die strengen Strafdrohungen für die »Vermischung« mit Andersgläubigen lassen sich darauf zurückführen, dass die im Untersuchungsgebiet vorherrschende katholische Konfession das moralische Referenzsystem schlechthin war und das Sexualstrafrecht in vielen Bereichen ans kanonische Recht anknüpfte.
1.
Hurerei
Unter den verschiedenen Bezeichnungen »unehrn pflegen«, »uneheliche leichtfertige beywohnung vnd vermischung« (NÖPO 1542: 26f.), »Hürerey« (NÖPO 1542: 82) oder »vnzucht« (ONÖPO 1566: 4, 6) wurde der außereheliche Geschlechtsverkehr bereits in den Policeyordnungen des 16. Jahrhunderts als Vergehen definiert. Eine Unterscheidung zwischen stuprum (Unzucht mit Jungfrauen) und fornicatio (Unzucht mit anderen unverheirateten Frauen), wie sie im kanonischen Recht gegeben war, existierte weder in den weltlichen Policey- noch in den Landgerichtsordnungen (Ellrichshausen 1988: 56). Sowohl die
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Ferdinandea als auch die Leopoldina (Ferdinandea, II, Art. 81; Leopoldina, I, Art. 28) sahen in der Unzucht bzw. im Konkubinat zunächst ein Vergehen, das von der niederen Gerichtsbarkeit, also in der Regel der Grundherrschaft, mit einer Geld- oder Leibesstrafe zu ahnden war. Erst bei Wiederholung bzw. Fortsetzung wurde das Landgericht damit befasst. Dieses konnte eine öffentliche Bestrafung mit 15 bis 30 Rutenstreichen verhängen oder eine strengere Strafe, wenn eine Person »über öfftere Bestraffung, von ihrem bösen Leben nicht abstehen wollte«. Der niederösterreichische Regierungsrat Franz Joseph Bratsch schloss 1751 in seinem Handbuch zur Ferdinandea den Tatbestand der Prostitution in die Definition der Hurerei mit ein und verwies darauf, dass sich das Wiener Stadtgericht »[d]ie Ausrottung deren Prostibulorum, und liederlichen Weibs=Bildern« zum Ziel gesetzt habe (Bratsch 1751: 210). An den Männern, die deren Dienste in Anspruch nahmen, bestand schon damals kein Verfolgungsinteresse. Im Unterschied zu ihren Vorgängerinnen differenzierte die Theresiana drei Arten der ›Hurerei‹: den gelegentlichen Geschlechtsverkehr von zwei unverheirateten Personen; die dauerhafte außereheliche Beziehung und schließlich die erwerbsmäßige »Unzucht mit jedermann«, also Prostitution. Die ersten beiden Tatbestände waren zunächst mit einer Abmahnung und einer Geld- oder einer heimlichen Strafe zu ahnden. Bei wiederholtem Rückfall drohten eine öffentliche Bestrafung und eine Landgerichtsverweisung. ›Huren‹ im Sinne von Prostituierten sollten dagegen bereits beim ersten Mal mit Leibesstrafen und Landgerichtsbzw. Landesverweis bestraft werden (Theresiana, II, Art. 81).
2.
Ehebruch
Nach kanonischem Recht galt Ehebruch als vorsätzlicher Geschlechtsverkehr einer verheirateten Person mit einer anderen Person als dem Ehegatten/der Ehegattin (Schwarz 1927: 28). Ehebruch war gemäß dem Decretum Gratiani mit einer siebenjährigen Buße zu belegen, die bei Nichtbefolgung zur Exkommunikation verschärft werden konnte (Decretum Gratiani: c. 8 C. 33, qu. 2.). In den österreichischen Policeyund Landgerichtsordnungen des 16. Jahrhunderts war die Abgrenzung zur Hurerei unscharf. Da verbotene sexuelle Beziehungen in der Regel geheim gehalten wurden, reichten nach den Bestimmungen der Ferdinandea, der Leopoldina und der Theresiana (Ferdinandea, II, Art. 76; Leopoldina, III, Art. 18; Theresiana, II, Art. 77) zur Einleitung eines Gerichtsverfahrens Verdachtsmomente wie glaubwürdige Gerüchte über einen Ehebruch, voreheliche Kontakte der Verdächtigten oder Männer-
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besuche bei einer verheirateten Frau in Abwesenheit des Ehemannes aus. Eine Untersuchung war einzuleiten, wenn sich Verdächtige öffentlich küssten oder »unehrbar« berührten, wenn eine Ehefrau einen fremden Mann finanziell unterstützte, wenn heimliche Treffen beobachtet wurden oder wenn eine verdächtigte Person »üppig, frech, unschambahr in Worten, auch der Trunkenheit ergeben« war. Briefe, in denen der Ehebruch thematisiert wurde, die Beobachtung geheimer Zeichen oder die beobachtete Flucht eines verdächtigen Mannes bei Ankunft des Ehemanns galten als weitere Indizien. Das angedrohte Strafmaß war abhängig von der Standes- und Geschlechtszugehörigkeit sowie vom Familienstand der Beteiligten und der Häufigkeit des Ehebruchs. Unterschieden wurde, ob beide Personen verheiratet (»doppelter Ehebruch«) oder eine/r ledig war (»einfacher Ehebruch«). Beim einfachen Ehebruch differierte das Strafmaß je nachdem, ob der Mann oder die Frau verheiratet war. Am geringsten fiel das Strafmaß bei »einfachen Personen« dann aus, wenn es sich um einen verheirateten Mann und eine ledige Frau handelte. In diesem Fall drohten die Landgerichtsordnungen eine Geldstrafe von höchstens 32 Gulden an, bei Wiederholung eine Haftoder Arbeitsstrafe, bei nochmaliger Wiederholung eine Körperstrafe. Während die Ferdinandea und die Leopoldina vorschrieben, »[…] daß diß Orths die ledige Weibs=Persohnen in der Bestraffung etwas leichter gehalten werden […]« sollten, formulierte die Theresiana geschlechtsneutral, dass »bey dem einfachen Ehebruch die ledige Person in der Bestraffung insgemein etwas leichter […] zu halten seye«. Eine vergleichbare Bestimmung existierte bereits im kanonischen Strafrecht (Decretum Gratiani, c. 4 C. 32, qu. 6.). Bei doppeltem Ehebruch, oder wenn eine verheiratete Frau und ein lediger Mann Ehebruch begingen, drohte zunächst die Züchtigung mit Ruten und Landesverweis, im Wiederholungsfall die Enthauptung. Die Theresiana betonte zudem, dass verheiratete Frauen »[w]egen Ungewißheit der Empfängniß« strenger zu bestrafen seien. Schärfere Strafen drohten auch Personen höheren Standes: Beim ersten Ehebruch sollten sie mit einer Haft- und/oder Geldstrafe belegt, beim zweiten Mal »wol auch gar, nach denen Umständen des Verbrechens, mit dem Todt […] gestrafft werden«. Mit strengeren Strafen zu rechnen hatten auch ältere »Ehebrecher« sowie Männer in Positionen, in denen sie eigentlich moralische Vorbilder sein sollten. Mildernd waren laut Gesetz bereits vorhandene (eheliche) Kinder, die Vergebung seitens der betrogenen Person, Unwissenheit über eine bestehende Ehe zum Zeitpunkt des Ehebruchs, der gute Leumund eines Ehebrechers/einer Ehebrecherin und die langjährige Krankheit des betrogenen Ehegesponses.
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SEXUALSTRAFRECHT UND GESCHLECHTERORDNUNG
Die Bestrafungspraxis bei Ehebruch anbelangend, plädierte Franz Joseph Bratsch 1751 in seinem Handbuch – durchaus im Geiste einer bürgerlichen Geschlechterordnung – für eine Verkürzung der Strafzeit, wenn ein einlangendes Gnadengesuch mit der drohenden Armut der unschuldigen Ehefrau und Kinder wegen des fehlenden Männer-Einkommens argumentierte (Bratsch 1751: 203 f.).
3.
Bigamie
Im kanonischen Recht wurde Bigamie mit der Strafe der Exkommunikation bedroht (Decretum Gratiani, c. 19 C. 24, qu. 3). Nach den Bestimmungen der Leopoldina, Ferdinandea und Theresiana (Ferdinandea, II, Art. 77; Leopoldina, III, Art. 19; Theresiana, II, Art. 78) waren jene Personen der Bigamie verdächtig, über die solche Gerüchte kursierten, außerdem »leichtsinnig streichende [= herumziehende] Person[en]«. Zu verhaften war etwa ein Ehemann, der im Verdacht stand, »dass selbiger anderstwo ein Weib sitzen lassen« habe bzw. eine Ehefrau, die »mit einem andern auff= und darvon gezogen wäre«. Die Fragen für das Verhör waren zwar großteils in der männlichen Form vorgegeben, sollten aber »so wol auf Manns= als Weibspersonen gericht werden«. Als Beweis für die zweifache Ehe galten die Trauscheine oder die Aussage von zwei Zeugen/innen. Als Strafe drohte die Enthauptung, wenn die Tat »boßhafftig, wissendlich und betrüglicher Weiß« vollbracht worden war. Im Wiederholungsfalle oder wenn »ein geringe Standsperson ein vornehmbes Geschlecht überführt hätte« konnte die Todesstrafe auch noch verschärft werden. In seinem Handbuch führte der Jurist Bratsch als Beispiel für eine solche Strafverschärfung an: »[d]aß einer, so vier lebendige Weiber gehabt, erstlich enthauptet, sodann verbrennet worden« sei (Bratsch 1751: 207). Neben der Unwissenheit über eine bereits bestehende Ehe war mildernd zu beurteilen, wenn der Tod des ersten Ehegesponses angenommen worden war.
4.
Inzest
Die strafrechtliche Definition der »Blutschand« entsprach in der Ferdinandea, der Leopoldina und der Theresiana (Ferdinandea, II, 74; Leopoldina, III, Art. 16; Theresiana, II, Art. 75) dem vom kanonischen Recht abgesteckten Rahmen der Heiratsverbote zwischen Verwandten und Verschwägerten. Nicht aufgenommen wurde dagegen die geistige Verwandtschaft, eine spirituelle Verbindung etwa durch Tauf- oder Firmpatenschaft. Sexuelle Beziehungen zwischen Verwandten in auf-
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SUSANNE HEHENBERGER
oder absteigender Linie sollten mit dem Tod durch das Schwert bestraft werden. Ließen sich Verwandte im ersten und zweiten Grad der Seitenlinie oder Verschwägerte im ersten Grad miteinander ein, so drohte ihnen die Züchtigung mit Ruten und der Verweis aus dem Landgerichtsbezirk bzw. der Landesverweis. Sexuelle Beziehungen zwischen Personen, die weitschichtiger miteinander verwandt oder verschwägert waren, wurden mit willkürlichen Strafen bedroht, die jedoch strenger als die Strafen für »Hurerei« sein sollten. Lag zusätzlich Ehebruch vor oder hatte jemand mit mehreren Verwandten geschlafen, konnte die Strafe verschärft werden. Mildernd wirkte hingegen die Unwissenheit über eine bestehende Verwandtschaft oder geschlechtsspezifisch und mit der potestas zusammenhängend: wenn eine Tochter »aus Unverstand, Jugend, oder Einfalt, vermeint, sie müste dem Vatter gehorsamen«. Die Theresiana zog zudem die Verführung einer jungen, einfältigen Person und ein nur einseitiges Geständnis strafmildernd in Betracht.
5.
Notzucht
Notzucht war eines der wenigen explizit geschlechtsspezifisch konzipierten Delikte: Ausschließlich Männer konnten per definitionem Täter sein (Ferdinandea, II, 75; Leopoldina, III, Art. 17; Theresiana, II, Art. 76). Opfer konnten auf der anderen Seite jedoch nur bestimmte Frauen sein, denn sexuelle Gewalt galt in der Ferdinandea, in der Leopoldina und in der Theresiana nur dann als Verbrechen, wenn eine »unverleumbde« Frau, d. h. eine Frau mit einem untadelhaften, ehrbaren Lebenswandel, betroffen war (vgl. auch Reiter 2003). Um den Täter verhaften zu können, musste sich das Gericht nicht nur des guten Rufs der Klägerin versichern, sondern auch, dass »der Bezüchtigte hingegen ein unschambahrer, und solcher Mensch ist, zu deme man sich des Lasters versehen möge«. Die Klägerin musste die Anzeige unmittelbar nach der Gewalttat erstatten und von »verständigen Weibern« bestätigen lassen. Bei einer Überführung drohte dem Täter der Tod durch Enthaupten. Die Todesstrafe konnte verschärft werden, wenn ein nichtgeschlechtsreifes Mädchen oder auch eine Frau, die unter der Verantwortlichkeit des Täters stand (z. B. eine Waise oder Magd), oder eine höher stehende Person (z. B. die Tochter oder Frau des Dienstherrn) »genotzüchtigt« wurde. Mildernd war hingegen, wenn das Mädchen/die Frau entweder gerettet wurde oder sich selbst retten konnte, wenn die »Benöthigte« für den »Nothzüchtiger« bat, oder wenn der Täter das Verbrechen gestand, obwohl das Opfer es leugnete. Bratsch betrachtet es als Teilentschuldi-
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SEXUALSTRAFRECHT UND GESCHLECHTERORDNUNG
gung der sexuellen Gewalt, »[…] wann der Nothzüchtiger die Benothzüchtigte Person ehelichen kan, und will« (Bratsch 1751: 203). Eine Ausdifferenzierung der Bestimmungen und zugleich eine tendenzielle Erschwerung der Anklage erfolgt in der Theresiana, indem zusätzlich gefordert wurde, dass die Anklage durch die »genöthigte Jungfrau, Weib oder Wittib […] glaubwürdig« sein müsse – ohne Kriterien für eine Glaubwürdigkeit zu nennen. Zudem war für den Angeklagten nun mildernd zu berücksichtigen, wenn »die vor nothgezüchtigt sich angebende Person der vorgeschützten Gewalt wohl hätte widerstehen, und nach einer kleinen Gegenwehr die Unzucht mit ihr hat vollbringen lassen«. In diesem Fall war keine Todesstrafe zu verhängen.
6.
Sodomie
Sodomie war in der Ferdinandea und in der Leopoldina (Leopoldina, III, Art. 15; Ferdinandea, II, Art. 74) als Sex mit Tieren (Bestialität) und gleichgeschlechtliche sexuelle Praktiken definiert, die Theresiana (Theresiana, Art. 74) erweiterte den Katalog um Sex mit Toten, nichtgenerative heterosexuelle Praktiken und Masturbation. Die Landgerichtsordnungen postulierten, dass »[d]ises abschewliche Laster« meist »an verborgenen Orthen verüebet« werde und daher kaum Spuren hinterlasse. Nachgeforscht musste werden, wenn eine »verdächtigte Person ins gemain dises Lasters halber beschrayedt« sei und zugleich eine »Persohn wäre, zu der man sich solcher Ubelthat versehen möchte«. Der Aufenthalt einzelner Personen an »verdächtigen Orthen«, besonders zu »nächtlich: vnd finsterer Zeit« machte landgerichtliche Nachforschungen unumgänglich, ebenso wie direkte Spuren, die eine Person »an, bey oder umb sich, oder dem Viech verlassen hette«. Um eine Verhaftung zu rechtfertigen, musste entweder – sofern es sich um gleichgeschlechtliche Sexualität zwischen Männern handle – ein medizinisches Attest durch einen Arzt oder Barbier erstellt, oder der »Thäter [...] in der That betretten« worden sein. Anlass zum Einsatz der Tortur war gegeben, wenn jemand »an Orth vnd Endt gesehen, so hierzue gelegen, auch hierzue beraiter gefunden«, oder wenn ein Knabe, d. h. ein männliches Kind oder ein junger, unverheirateter Mann, solches über jemanden »mit glaublichen vmbständten« aussagte. Wie vor allem an den Strafdrohungen sichtbar wird, konstruierte das Gesetz »den Sodomiten« als einen sexuell aktiven, erwachsenen Mann, dessen als »widernatürlich« beschriebene Lust entweder Tiere oder Knaben betraf. Ein Delinquent »so sich mit ain, oder mehrern vnvernünfftigen Viech vergriffen, vnd die That vollbracht« hatte, sollte gemeinsam mit dem Tier bzw. den Tieren
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lebendig verbrannt werden. Ein »Knabenschänder« sollte zuerst enthauptet und dann verbrannt werden. Eine strengere Strafe drohte, wenn der Sodomit verheiratet, höheren Alters oder höheren Standes war. Verringert werden konnte die Strafe wegen »deß Thäters jugent« oder »Unverstandt«. Der Rechtsgelehrte Franz Joseph Bratsch kommentierte ausschließlich sexuelle Handlungen zwischen Männern und Tieren und empfahl die Einholung eines medizinischen Gutachtens »in etwelchen Fällen«. Die Frage, ob das Delikt »vollendet« worden war (immissio seminis), bekam wegen der Angst vor der Entstehung menschlich-tierischer Mischwesen besondere Relevanz (Bratsch 1751: 195).
7.
Zwischenbilanz
Das Strafrecht im Allgemeinen und die Sexualdelikte im Besonderen waren im Erzherzogtum Österreich während des 17. und 18. Jahrhunderts auf den ersten Blick nur zu einem kleinen Teil geschlechtsspezifisch konstruiert. Während die Tatbestände der Hurerei, der Blutschande, des Ehebruchs, der Bigamie und der Sodomie so konzipiert waren, dass grundsätzlich Männer und Frauen als Täter/innen in Frage kamen, wurde Notzucht geschlechtsspezifisch als sexuelle Gewalttat eines Mannes an einer ehrbaren Frau bzw. an einem ehrbaren Mädchen definiert. Bei näherer Betrachtung der strafrechtlichen Bestimmungen und ihrer Deutungen, wie jener im exemplarisch angeführten Handbuch von Franz Joseph Bratsch, fallen jedoch bestimmte, mit dem Geschlecht einer Person verknüpfte Ungleichgewichtungen und Prädispositionen ins Auge. So galt das Verfolgungsinteresse im Fall der Prostitution den Huren, nicht ihren Kunden. Männer, die sich prostituierten, waren theoretisch dem Tatbestand der Sodomie zuzuordnen (denn Frauen waren als Kundinnen undenkbar!), fanden aber keine Erwähnung in den Landgerichtsordnungen. Ehefrauen sollten hinsichtlich ihrer sexuellen Treue mehr ins Visier der Obrigkeiten genommen werden als Ehemänner. Zudem drohten ehebrecherischen Ehefrauen strengere Strafen. Andererseits hielt das Strafgesetz auch fest, dass eine ledige Frau für den Ehebruch mit einem verheirateten Mann geringer zu bestrafen sei. Im Fall von Inzest zwischen Vater und Tochter wurde eine geschlechtsspezifische Asymmetrie zwischen väterlicher Gewalt (im Sinne von potestas) auf der einen und Gehorsamspflicht der Tochter auf der anderen Seite erwähnt. Sodomie war so konstruiert, dass Frauen zwar theoretisch als Täterinnen in Frage kamen, die strafrechtlichen Ausführungen gehen aber lediglich von Männern aus. Bei Sexualdelikten war der Zusammenhang von Penetra-
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SEXUALSTRAFRECHT UND GESCHLECHTERORDNUNG
tion und Ejakulation entscheidend, um ein Delikt strafrechtlich als »vollbracht« bewerten zu können. Damit standen normativ und theoretisch die Männer im Zentrum des strafrechtlichen Interesses.
II.
Strafpraxis
Bei der Betrachtung der Gerichtspraxis des 17. und 18. Jahrhunderts ist nicht nur interessant, ob die Strafdrohungen in der Praxis angewandt wurden, sondern auch, wie bestimmte Männlichkeits- und Weiblichkeitsvorstellungen in die Ahndung sexueller Delikte einflossen. Zu beachten ist zudem, dass sexuelle Handlungen, besonders die verbotenen, meist im Geheimen stattfanden, also erst einmal entdeckt und zur Anzeige gebracht werden mussten. Wie historische Studien im deutschsprachigen Raum belegen, wurden verbotene vor- und außereheliche Beziehungen meist durch Schwangerschaften sichtbar (Becker 1990; Breit 1991; Gleixner 1994; Ammerer 1994). Für das frühneuzeitliche Erzherzogtum Österreich liegen zur Verfolgungs- und Strafpraxis von vor- und außerehelichen sexuellen Beziehungen nur partielle Erhebungen vor. Dies ist vor allem der schwierigen und unübersichtlichen Quellenlage zuzuschreiben. Fornication, wie das Delikt ›Hurerei‹ in den Quellen meist genannt wurde, konnte wie gezeigt sowohl von den Nieder- als auch den Landgerichten geahndet werden, weshalb die Quellen dementsprechend gestreut sind. In einer 1968 abgeschlossenen Dissertation kam die Historikerin Kristl Leitich am Beispiel der Strafpraxis zweier niederösterreichischer Gerichtsbezirke (Herrschaft Sonnberg und Landgericht Gaming-Scheibbs) zum Ergebnis, dass von den Gerichten danach getrachtet wurde, »wo es nur ging, Geldstrafen zu verhängen«. »Wenn beide unzüchtigen Personen zur selben Herrschaft gehörten«, so Leitich weiter, »geschah es oft, dass der vermögendere Teil, meist – nicht immer! – der Mann, die Strafe für beide erlegte. Knechte machten sich häufig aus dem Staub, wenn es ruchbar zu werden drohte, dass sie eine Magd geschwängert hatten« (Leitich 1968: 131 f.). Auch Gerichtsprotokollbücher aus Österreich ob der Enns belegen, dass die weltlichen Gerichte bei vor- und außerehelichem Geschlechtsverkehr gerne eine Pauschalgeldstrafe von etwa fünf Gulden – den so genannten »fornikationswandl« – kassierten (OÖLA, HA Freistadt, Sch. 20-24; HA Weinberg, Hs. 202-210). Sofern sich die involvierten Männer nicht durch Flucht der gerichtlichen Ahndung entzogen hatten, wurde ihnen im Vergleich zu den schwangeren Frauen meist eine etwas höhere Geldstrafe auferlegt. Diese Praxis scheint mit jener in anderen deutschspra-
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chigen Territorien im 18. Jahrhundert vergleichbar. Stefan Breit stellte für das katholische Kurbayern die Verhängung von geschlechtsspezifischen, einkommensabhängigen Geldstrafen für das Delikt der »Leichtfertigkeit« (voreheliche Sexualität) fest: Männer mussten in der Regel drei Pfund Pfennige, Frauen zwei Pfund Pfennige zahlen, was in etwa dem Monatslohn eines Knechtes bzw. einer Magd entsprach (Breit 1991: 132 f.). Neben Geldstrafen verhängten die Gerichte jedoch auch ehrenrührige Bußen und öffentliche Schandstrafen, von denen fast ausschließlich arme Frauen betroffen waren, wie Gerhard Ammerer am Beispiel des katholischen Territoriums Salzburg zeigte (Ammerer 1994). Ulrike Gleixner verwies in ihrer Studie zu Unzuchtsverfahren in der protestantischen Altmark (Preußen) darüber hinaus auf die unterschiedlichen sozialen Konsequenzen unehelicher Sexualität. Das Delikt Unzucht sei zunehmend geschlechtsspezifisch interpretiert worden: »Für jede Frau war es mit der körperlich-persönlichen Ehre verbunden. Eine nichteheliche Schwangerschaft beeinträchtigte ihre Ehre, während für jeden Mann nichteheliche Schwängerung keinen Ehrverlust bedeutete, sondern den obrigkeitlichen Zwang, dafür finanzielle Verantwortung zu übernehmen« (Gleixner 1994: 218). Um einen Eindruck von der Strafpraxis im Erzherzogtum Österreich während des 16. und 17. Jahrhunderts zu erhalten, können die auf Gerichtsbüchern und -akten basierenden Aufzeichnungen des 1917 verstorbenen Juristen und Historikers Julius Strnadt herangezogen werden. Er dokumentierte am Beispiel des obderennsischen Landgerichts Spital am Pyhrn für den Zeitraum von der Mitte des 16. bis ins letzte Drittel des 17. Jahrhunderts 54 Strafverfahren gegen 65 Personen (10 Frauen, 55 Männer), von denen vier Frauen und 14 Männer wegen Sexualdelikten (Unzucht, Ehebruch, Inzest, Sodomie) vor Gericht zitiert worden waren. Acht der 18 Personen (ausschließlich Männer) wurden zum Tod verurteilt und hingerichtet (Strnadt 1909: 227-233). Tabelle: Kriminalität in Spital am Pyhrn 1547–1684 Personen (M/F) 65 (55/10)
Todesurteile (M/F) 20 (19/1)
Sexualdelikte (M/F) 18 (14/4)
Todesurteile (M/F) 8 (8/–)
Der hohe Anteil an Todesurteilen (44 Prozent bei den Sexualdelikten) lässt sich darauf zurückführen, dass Strnadt für seine Aufzeichnungen nur die landgerichtliche Ebene heranzog, die Ahndung geringerer Vergehen durch die niedere Gerichtsbarkeit jedoch unberücksichtigt blieb. 112
SEXUALSTRAFRECHT UND GESCHLECHTERORDNUNG
Er unterschied nicht zwischen Urteil und tatsächlichem Strafvollzug, ließ etwa die Möglichkeit einer Urteilsmilderung infolge eines eingebrachten Gnadengesuchs oder der Fürsprache von Personen hohen Ranges außer Acht. Aus Strnadts Auflistung geht nicht hervor, ob, in welcher Weise und von wem in den Gerichtsverfahren geschlechtsspezifisch argumentiert wurde. Diese Frage kann nur untersucht werden, wenn auch Prozessakten überliefert sind. Eine dichte Quellenüberlieferung erlaubte es Andrea Griesebner in ihrem Buch Konkurrierende Wahrheiten (2000), einen mikrohistorischen Blick auf die Strafpraxis in einem landesfürstlichen Markt in der Nähe von Wien zu werfen. Mit dieser Arbeit machte sie deutlich, dass qualitative Analysen oft ein differenzierteres Bild der frühneuzeitlichen Strafjustiz erzeugen. Auch bei meiner Untersuchung von Inzestfällen, die im 18. Jahrhundert vor einem obderennsischen Landgericht verhandelt wurden, zeigte sich, dass die Unterschiede, die in den Urteilsvorschlägen der Rechtsgutachter gemacht wurden, nur zum Teil mit dem Geschlecht der Angeklagten zu tun hatten (Hehenberger 1999: 133-149). Zu elf »Inzestverbindungen« liegen Rechtsgutachten vor. In fünf von elf Fällen wurde eine mildere Bestrafung der Frauen gefordert. Für zwei hochschwangere Frauen empfahlen die Gutachter die Aufschiebung des Strafvollzugs bis nach dem Kindbett, verbunden mit einer Abschwächung der Strafe, um dem Kind keine »Nahrung« zu entziehen. Die Mehrzahl der Rechtsgutachter nahm jedoch keine Rücksicht auf Schwangerschaft, Geburt und die anschließende Versorgung von Mutter und Kind. Implizit spielten geschlechtsspezifische Argumente in den Urteilsbegründungen der Rechtsgelehrten jedoch eine Rolle: zum einen in der Verbindung von sexueller Aktivität und Männlichkeit, zum andern im allein für Männer angeführten Milderungsgrund »Betrunkenheit«. Die angeklagten Männer hätten durch »Zureden«, durch Bagatellisierung der Verwandtschaft und nicht zuletzt durch Eheversprechen, die angeklagten Frauen dazu gebracht, sich mit ihnen sexuell »einzulassen«. Die angeklagten Frauen wurden »überredet« und »verführt«. Die sexuelle Initiative und das Wissen um die Verwandtschaft wurde meist den angeklagten Männern zugeschrieben bzw. zur Last gelegt, während das Eheversprechen dann als mildernder Umstand bewertet wurde, wenn eine realistische Chance auf Dispensation vom Ehehindernis der Verwandtschaft bestand. In diesem Fall wollte das Gericht dem künftigen Ehepaar keine öffentlichen und ehrenrührigen Strafen auferlegen. Den Frauen wurde ihre vorgebliche sexuelle Passivität sowohl strafmildernd ausgelegt als auch angelastet: mildernd, da sie »verführt« worden waren, auch aufgrund ihres Geschlechts leichter »verführbar« seien; belastend,
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weil sie der »fleischlichen Vermischung« zugestimmt hatten. Wie ein Vergleich mit den großteils auch überlieferten Verhörprotokollen zeigte, wurde die von den Rechtsgutachtern gemachte Differenzierung zwischen adäquatem männlichen und weiblichen Verhalten von den angeklagten Männern und Frauen selbst mitkonstruiert, indem die Gutachter deren geschlechtsspezifische Argumentationen aufgriffen und verstärkten. Für die Strafbemessung führten die Rechtsgutachter neben den in den Strafgesetzen festgelegten Umständen oft auch Argumente an, die praktische Überlegungen miteinbezogen. Während Armut kein Grund für eine milde Bestrafung war, da in diesem Fall die Chancen auf Erlangung einer Dispens und anschließende Heirat gering waren, wurde der Besitz von Geld als Umstand in Betracht gezogen, der für die bloße Erhebung einer Geldstrafe sprach. Mangelnde seelsorgerische Betreuung und daraus resultierende Unkenntnis bzw. ungenaue Kenntnis des kanonischen Ehehindernisses der Verwandtschaft waren in der juristischen Argumentation ebenso mildernd wie der durch andere Leute bestätigte Glauben, »in die freundschafft«, also innerhalb der Verwandtschaft, heiraten zu können.
III. R e s ü m e e In den frühneuzeitlichen Strafgesetzen des Erzherzogtums Österreich kann Geschlecht als ein Differenzierungskriterium von mehreren festgestellt werden. Geschlechtsneutral ist das Strafrecht deshalb aber nicht. In ständisch-hierarchisch organisierten Gesellschaften spielten eben verschiedene Differenzierungen bei der sozialen, kulturellen und rechtlichen Beurteilung von Verhaltensweisen zusammen. Die Differenzkategorie Geschlecht wurde erst nach der Abschaffung der Patrimonialgerichtsbarkeit zum maßgeblichen Unterscheidungskriterium. Am Beispiel der Sexualdelikte wollte ich zeigen, dass sich sowohl kulturelle Normen – wie sexuelle Treue insbesondere der Ehefrau – als auch eine ganz konkrete Vorstellung von dem, was Sexualität in der zeitgenössischen Auffassung bedeutet – nämlich Penetration und Ejakulation –, sozusagen als Subtexte in das Strafrecht einschrieben. Der kurze, eher ausschnittartige Blick auf die Gerichtspraxis sollte vermitteln, dass quantifizierende Zugänge im Vergleich zur qualitativen Analyse von Gerichtsakten nur unzureichende Erkenntnisse liefern können, insbesondere dann, wenn Geschlecht nicht als starre biologische Kategorie, sondern als etwas von den Akteuren/innen Gestaltetes, Reproduziertes und Inszeniertes verstanden wird.
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SEXUALSTRAFRECHT UND GESCHLECHTERORDNUNG
Literaturverzeichnis 1.
Quellenverzeichnis
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»Unwiderstehliche Gewalt«, »ernsthafter Widerstand« und »minder schwerer Fall« als Schlüsselwörter der Geschichte des Vergewaltigungstatbestands ISABEL KRATZER
I.
Einführung
Der vorliegende Beitrag zeigt auf, welche Deutung und Bedeutung den Schlüsselwörtern »unwiderstehliche Gewalt«, »ernsthafter Widerstand« und »minder schwerer Fall« für den strafrechtlichen Diskurs um den Vergewaltigungsstraftatbestand vom 19. bis zum 21. Jahrhundert zukamen und -kommen. Es wird dargestellt, dass die Relevanz des Geschlechts für die Täter- und Opfereigenschaft sowie für Strafzumessungen im Rahmen der Anwendung dieses Tatbestands mitbestimmend war und teilweise noch ist. Der folgende Beitrag rückt die Konstellation männlicher Täter/weibliches Opfer in den Mittelpunkt. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass Rechtsprechung und Wissenschaft von weiblichen Opferkonstellationen geprägt sind, wobei Männer erst 1997 in den Opferkreis des Vergewaltigungstatbestands, § 177 StGB, miteinbezogen wurden. Es soll keinesfalls bestritten werden, dass Männer sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Der deutsche Vergewaltigungstatbestand findet sich im 13. Abschnitt des Strafgesetzbuchs, der mit »Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung« betitelt ist. Konstitutives Element der »sexuelle[n] Nötigung; Vergewaltigung« des § 177 StGB ist eine Willensbeugung 119
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des Opfers mit Nötigungsmitteln1, die die sexuelle Handlung erzwingt. Die §§ 174 bis 176b, §§ 179 und 182 StGB regeln demgegenüber den sexuellen Missbrauch von Personen, die dem Täter konstitutionell oder situativ unterlegen sind.
II.
Das Strafrecht als Hüter von Moral und Tradition
Bis in die 1970er Jahre wurde Strafrecht klassisch als Mittel verstanden, die patriarchal geprägten sexuellen Moralvorstellungen als sanktionsbewehrte Leitregeln vorzugeben.2 Der 13. Abschnitt war mit »Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit« betitelt. Die geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibungen (vgl. Greif/Schobesberger 2007: 11 f.) waren traditionell zementiert, biologische Unterschiede (vgl. Möbius 1977; Weininger 1920), (christliche) Naturrechtslehren und jahrhundertealte Traditionen dienten hierfür als Argumentationsgrundlage. Das Wesen von Frau und Mann und damit auch deren Lebensgestaltung wurden als biologisch determiniert verstanden. Das vierte Strafrechtsreformgesetz (4. StrRG) von 1973, das allgemein als ein Wendepunkt angesehen wird, weil die Abkehr vom Moralstrafrecht bestätigt wurde, bewirkte insofern zumindest eine strafrechtliche Liberalisierung.3 Ein durchgreifender Wandel der Auffassungen über Sexualität und das Verhältnis der Geschlechter war damit jedoch nicht verbunden, was sich auch an den Reformdiskussionen zeigt. Von Hanack wurde z. B. in seinem als fortschrittlich gelobten Gutachten zwar nachdrücklich eine Revision in Sachen Moralstrafrecht gefordert, hinsichtlich des Vergewaltigungstatbestands war er jedoch in überkommenen Schuldzuschreibungen verhaftet. Er kritisierte die Auffassung, dass »an den Irrtum des Täters über die
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§ 177 I StGB: »Gewalt« gegen eine Person (Nr. 1); »Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben« (Nr. 2); »unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist« (Nr. 3). Bis zum ersten Strafrechtsreformgesetz (1. StrRG) vom 1.9.1969 waren die einfache Homosexualität § 175 alte Fassung (a. F.), der Ehebruch § 172 a. F. und die Sodomie § 175b a. F. strafbar gestellt; die Strafbarkeit der einverständlichen Homosexualität wurde erst 1997 endgültig abgeschafft; der Tatbestand der Kuppelei §§ 180, 181 a. F. wurde 1973 zur »Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger« in § 180 StGB umgestaltet und mit dem so genannten Erzieherprivileg ausgestattet. Vgl. Fn. 2.
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SCHLÜSSELWÖRTER DER GESCHICHTE DES VERGEWALTIGUNGSTATBESTANDS
Gewaltsamkeit des Beischlafs« strenge Anforderungen zu stellen seien,4 weil die Vergewaltigungssituation meistens durch die Frau in »erheblicher Weise provoziert« worden und durch deren sexuelles Entgegenkommen geprägt sei (Hanack 1969: 51 f.). So ist es auch nicht verwunderlich, dass das 4. StrRG den Tatbestand des § 177 StGB nur streifte.5 Zwar wurde das sexuelle Selbstbestimmungsrecht als neues Rechtsgut des 13. Abschnitts implementiert. Diese neue tatbestandliche Schutzrichtung wurde jedoch nicht konsequent umgesetzt: Zum einen war die eheliche Vergewaltigung weiterhin vom Tatbestand des § 177 StGB in der Fassung vom 23.11.1973 (»Vergewaltigung«) ausgenommen,6 wie auch dem Mann seine Opferfähigkeit abgesprochen, und zum anderen wurde strikt zwischen § 177 StGB (»Vergewaltigung«) und § 178 StGB (»sexuelle Nötigung«) differenziert. Durch diese Aufspaltung wurde insistiert, dass die männliche außereheliche Penetration einer Frau im Vergleich zu sonstigen Penetrationen als schwereres Unrecht anzusehen sei, insbesondere auch wegen der damit verbundenen Gefahr einer unerwünschten Schwangerschaft. Erst das 33. Strafrechtsänderungsgesetz (StÄG) von 1997 (Bundesgesetzblatt (BGBl.) I: 1607) und das sechste Strafrechtsreformgesetz (6. StrRG) von 1998 (BGBl. I: 164)7 behoben diese Mängel und führten zu einschneidenden Veränderungen im Tatbestand des § 177 StGB.8 Das Verständnis von einer Vergewaltigungstat hat jedoch keinen grundlegenden Wandel erfahren. § 177 StGB zeichnet sich vielmehr vom 19. bis ins 21. Jahrhundert durch eine große Kontinuität aus und kann sich nur schwer von überkommenen Traditionen und patriarchal geprägten Vorstellungen über das Geschlechterverhältnis lösen. Die dabei erfolgenden Rollenzuschreibungen diskriminieren und ›maßregeln‹ sowohl Frauen als auch Männer. Im Bereich des Sexualstrafrechts bewirken die Zuschreibungen jedoch eine einseitige Privilegierung des männlichen Täters.
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Eine gewissenhafte Prüfung wurde zumindest auf dem Papier vom BGH gefordert; dazu BGH, Urteil vom 14.07.1955 – 1 StR 728/54 m. w. N.; indes scheint diese nur dann eine Rolle zu spielen, wenn das Opfer sich erheblich gewehrt hat; vgl. BGH NJW 1968, S. 1888. Hervorzuheben ist, dass der Begriff der Notzucht durch den der Vergewaltigung ersetzt wurde, womit der Gewaltcharakter des Delikts hervorgehoben werden sollte. Lediglich die §§ 240 StGB (»Nötigung«) und 223 StGB (»Körperverletzung«) konnten hier eingreifen; vertiefend Hanisch (1988). § 177 StGB wurde hauptsächlich durch die Harmonisierung der Strafrahmen mit denen der Eigentumsdelikte betroffen. Hier soll nur das 33. StÄG von Interesse sein, wobei keine umfassende Bewertung der Reform vorgenommen wird. 121
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III. V e r g e w a l t i g u n g s t a u g l i c h e G e w a l t Das Nötigungsmittel der Gewalt war in allen deutschgeschichtlichen Rechtsordnungen das Kernelement des Notzuchtdelikts. Erst im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 (ALR), wurden in § 1051 »gefährliche Bedrohungen des Lebens und der Gesundheit« als ebenfalls tattauglich anerkannt, allerdings mit einem deutlich milderen Strafrahmen versehen. Schon das ALR spricht traditionsgemäß in § 1052 von unwiderstehlicher Gewalt. Diese Anforderung fließt bis heute in die Auslegung des Gewaltbegriffs ein und verfestigte das traditionelle Bild von einer ›Klassischen Vergewaltigung‹ über die Jahrhunderte: Ein fremder9 Täter zwingt sein weibliches Opfer unter Anwendung erheblicher Gewalt unter Überwindung eines ernstlich geleisteten Widerstands zum außerehelichen Geschlechtsverkehr (vgl. zuletzt BGH StV 2008: 81). Die vergewaltigungsspezifische Konstruktion der vis haud ingrata, die schon in der Constitutio Criminalis Carolina von 1592 (CCC) gängig war, muss in diesem Kontext betrachtet werden. Diese durchzieht die Lehrbücher zum Strafrecht bis heute (Heffter 1857: Tit. 8, I § 293 Fn. 5; von Liszt/Schmidt 1927: § 105 S. 35; Mezger 1949: § 24 I; Maurach/Schröder/Maiwald 1988, 2009: § 18 Rn. 17) und findet sich selbst in zeitgenössischer Kommentarliteratur (Lackner/Kühl 2007: Rn. 3). Er bedeutet »nicht unwillkommene Gewalt« und soll gegeben sein, wenn sich die Frau nur aus Scham gegen den Geschlechtsverkehr ziert. Das Sträuben der Frau ist in diesen Fällen nicht ernstlich, so dass der Mann auf gegenteilige Willensäußerungen keine Rücksicht mehr nehmen muss. Ein »Zieren« erschließt sich »hauptsächlich aus der Art und dem Maß des geleisteten Widerstandes« und u. a. »aus der von dem Frauenzimmer selbst dargebotenen, aber nicht vermiedenen verführerischen Gelegenheit, aus dem unterlassenen oder schwachen Hilfsgeschrei, wo Hilfe möglich war« (Heffter 1857: Tit. 8, I § 293 Fn. 5). Insgesamt muss das Tatbild von der Gewalttätigkeit des Täters geprägt sein und nicht von der Nachgiebigkeit der Geschwächten (ebd.). Konsequenz dieser Denkfigur: Sagt die Frau ›nur‹ »Nein« oder wehrt sie sich nicht »ernstlich«, meint sie in Wirklichkeit »Ja« (vgl. BGH GA 1956: 317). Dem Täter wurde dadurch die Schutzbehauptung ermöglicht, dass ein Einverständnis vorgelegen habe – selbst wenn die Tatsituation evident gegen ein Zieren sprach (vgl. BGHSt 22: 155; ebenso LK-Hörnle 2010: Rn. 26). Die Rollenzuschreibungen, die das Wesen der Frau mit den At9
Vergewaltigungen finden zu 2/3 aller Fälle im sozialen Nahbereich statt; dazu Jäger (2000: 87 f. Fn. 202).
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tributen der Passivität in Form von u. a. Ergebung, Schwäche und Hingebung versahen, wurden hierbei außer Kraft gesetzt. Man erwartete, dass eine Frau ihren größten ›Schatz‹, die unbefleckte Geschlechtsehre, unter Einsatz ihres Lebens verteidigt. Mit der Rechtsfigur der vis haud ingrata hängt die Vorstellung vom natürlichen Masochismus der Frau eng zusammen, wobei sich dieser auch auf die sexuelle Interaktion erstrecken soll (vgl. dazu u. a. Deutsch 2000: 218 ff.). Die Rechtsprechung nahm folglich an, dass Gewalt bei Frauen so erotisierend wirke, dass sie schließlich in den Geschlechtsverkehr einwillige (vgl. BGH NJW 1965: 1284; BGH GA 1968: 84). Im Folgenden wird zunächst die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Gewalt des § 177 StGB a. F. näher betrachtet, bevor im Anschluss die seit 1997 geltende Regelung des § 177 I StGB näher analysiert wird.
1.
Die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Gewalt durch die Rechtsprechung in § 177 StGB a. F.
Die Rechtsprechung zum Nötigungsmittel der Gewalt in § 240 StGB (»Nötigung«), und § 177 StGB (»Vergewaltigung«) verliefen im gleichen Zeitraum diametral. Im Rahmen des § 240 StGB wurde von der körperlichen Kraftentfaltung auf Täterseite immer mehr abgegangen und der Schwerpunkt auf den körperlich wirkenden Zwang beim Opfer gelegt. Sogar psychisch vermittelter Zwang genügte (insgesamt dazu Sch/Sch-Eser 2006: Vorbem. §§ 234 ff. Rn. 7). Im Rahmen des § 177 StGB a. F. wurde »Gewalt« dagegen sehr restriktiv ausgelegt (vgl. die Analyse bei Sick 1993: 96 ff.). Als unverzichtbar wurden danach angesehen: Gewalt gegen eine Person, körperliche Kraftentfaltung und die Empfindung körperlichen und nicht nur seelischen Zwangs. Konsequenz waren Strafbarkeitslücken, die insbesondere Konstellationen betrafen, in denen sich das Opfer nicht oder nicht stark wehrte, weil es sich dem ungehemmten Einfluss des Täters preisgegeben sah, aber mit Worten oder konkludent seinen Nicht-Willen bekundete (ebd.). Trotz empirischer Untersuchungen, die zeigten, dass das Opfer sich auf Grund extrem bedrohlicher Situationen in ungefähr 50 Prozent der Fälle dem Täter ohne großen Widerstand beugt (Baurmann 1996: 319), insbesondere weil es vor Schrecken motorisch gelähmt ist, insistierte man, dass das typische Opferverhalten erheblicher Widerstand sei. Dabei wurden regelmäßig Erwägungen hinsichtlich bestehender, aber nicht wahrgenommener Fluchtmöglichkeiten herangezogen, wenn die Frage der körperlichen Zwangswirkung erörtert wurde (u. a. BGH StV 1981: 543). Die
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Kommentierung von Heffter (1857) hatte insoweit an Gültigkeit nicht verloren. Eine körperliche Zwangswirkung wurde letzten Endes häufig verneint, eine psychische als nicht ausreichend angesehen. Der BGH sah auch das Tatbestandsmerkmal der konkludenten Drohung mit Leib- oder Lebensgefahr in diesen Konstellationen nur sehr selten als gegeben an, obwohl sich deren Vorliegen in den meisten Konstellationen geradezu aufdrängte (ebenso MüKo-Renzikowski 2005: Rn. 48).
2.
Ein neues Nötigungsmittel, § 177 I Nr. 3 StGB
Mit dem 33. StÄG von 1997 wurde ein neues Nötigungsmittel, § 177 I Nr. 3 StGB, die »Ausnutzung einer schutzlosen Lage«, geschaffen, das die soeben gerügten Strafbarkeitslücken schließen sollte.10 Damit wurde anerkannt, dass es zahlreiche Opfer gibt, die »vor Schrecken starr oder aus Angst vor der Anwendung von Gewalt durch den Täter dessen sexuelle Handlungen über sich ergehen lassen« (BT-Drs. 13/7324: 6) und sich nicht wehren, diese Situation aber trotzdem als Vergewaltigung zu werten ist. Eine schutzlose Lage liegt regelmäßig vor, wenn das Opfer sich dem überlegenen Täter allein gegenüber sieht und auf fremde Hilfe nicht zählen kann.11 Der Täter muss unter Ausnutzung der hilflosen Lage, das Opfer zur sexuellen Handlung nötigen.12 Es ist irrelevant, wer die hilflose Lage geschaffen hat und worauf sie beruht. Der Wille des Opfers muss aber aus Angst vor Gefahren für Leib oder Leben gebeugt werden (Sch/Sch-Lenckner/Perron/Eisele 2006: § 177 Rn. 9). Diese Nötigungskonstellation entspricht damit quasi einer konkludenten Drohung.
3.
Konservierung oder Aufbruch?
Die Vorstellung, dass eine Vergewaltigung nur unter erheblicher Gewaltanwendung stattfinden kann, ist im Vergewaltigungstatbestand seit
10 Auch die Erweiterung des Schutzes Behinderter war durch § 177 I Nr. 3 StGB intendiert; dadurch trat die problematische Abgrenzungsfrage zu § 179 StGB (»Sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen«) auf; vgl. Oberlies (2002: 131 ff.). 11 Hörnle (LK 2010: Rn. 48 Fn. 133) kritisiert die Lückenhaftigkeit von § 177 I StGB, der nur eingreift, wenn die Schutzlosigkeit auch in objektiver Hinsicht vorliegt. 12 Das Erfordernis einer eigenständigen Nötigungshandlung i. S. d. § 240 StGB wird von der herrschenden Meinung (h. M.) in der Rechtsprechung abgelehnt; diese Auslegung ist verfassungsgemäß (BVerfG NJW 2004: 3768). 124
SCHLÜSSELWÖRTER DER GESCHICHTE DES VERGEWALTIGUNGSTATBESTANDS
Jahrhunderten fest verankert.13 Durch das neue Nötigungsmittel des § 177 I Nr. 3 StGB erfuhr diese Auslegungstradition eine Entschärfung, an der restriktiven Handhabung des Gewaltbegriffs durch den BGH hat sich jedoch nichts geändert (vgl. Fischer 2010: Rn. 5). Diese überdehnt die inhaltlichen Anforderungen an das Tatbestandsmerkmal der Gewalt und wird insbesondere der spezifischen Deliktssituation des § 177 StGB nicht gerecht. Der Charakter der Gewalt musste und muss unstrittig gerade nicht unwiderstehlich sein (vgl. dazu Sch/Sch-Eser 2006: Vorbem. §§ 234 ff. Rn. 24). Unterlassene Hilferufe oder nicht wahrgenommene Fluchtmöglichkeiten vermögen an der Tatsache, dass vergewaltigungstaugliche Gewalt ausgeübt wurde, nichts zu ändern.14 Nicht die sexuelle Handlung muss mittels Gewalt vollzogen, sondern der Wille der/des Genötigten mit Gewalt gebrochen werden, so dass infolgedessen die Vergewaltigung erduldet wird. Den Widerstandshandlungen des Opfers kommt – einzigartig für das StGB15 – eine übergroße Bedeutung zu (zuletzt BGH StV 2008: 81). Hierbei treten die überholte Vorstellung von einer vis haud ingrata und der Anspruch, dass sich eine Frau gegen eine ›echte‹ Vergewaltigung stets unter Einsatz all ihrer Körperkräfte wehrt, zutage. In der strafrechtlichen Kommentarliteratur finden sich dazu unreflektierte und unrichtige Ausführungen, wenn es heißt: »Der Vorsatz [des Täters] muss sich ferner insbesondere darauf erstrecken, dass das Opfer der Tat ernsthaften Widerstand entgegensetzt« (Sch/Sch-Lenckner/Perron/Eisele 2006: § 177 Rn. 13). Widerstand und schon gar nicht »ernsthafter« Widerstand sind jedoch erforderlich, solange der Täter erkennt, dass er sich über den Willen des Opfers hinwegsetzt. Der Täter setzt auch dann (präventiv) Gewalt und Drohungen i. S. d. § 177 I Nr. 1 und 2 ein, wenn sich das Opfer aus psychischen oder physischen Gründen nicht wehrt (ebenso LK-Hörnle 2010: Rn. 119). Besonders hervorhebenswert ist – weil es die konservative und die mittelalterliche Traditionen verfestigende Verhaftung des § 177 StGB verdeutlicht –, dass das sexuelle Selbstbestimmungsrecht in § 177 StGB weiterhin nur dann als schützenswert angesehen wird, wenn die körper-
13 Versinnbildlicht wird diese Vorstellung durch die Gleichnisse »vom Degen und der Scheide« sowie dem »Nähfaden und dem Nadelöhr« (vgl. Henke 1826: 202). 14 Die vis compulsiva (willensbeugende Gewalt) ist neben der vis absoluta (Gewalt, die schon die Willensentschließung und -betätigung hindert) als Gewaltform anerkannt. 15 Im Gegensatz zum Raub, § 249 StGB. 125
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liche Unversehrtheit betroffen ist.16 Psychische Gewalt wird nicht als vergewaltigungstaugliches Nötigungsmittel anerkannt.17 Konsequenz sind Strafbarkeitslücken (ebenso ebd.: Rn. 51 f.)
IV. D i e E r w e i t e r u n g des Vergewaltigungsbegriffs durch das 33. StÄG Im Rahmen des 33. StÄG erfuhr der Vergewaltigungsbegriff die notwendige Ausdehnung, indem neben vaginalen Penetrationen auch anale und orale sowie solche, die mit anderen Gegenständen durchgeführt werden, erfasst wurden. Indes wurde im Gegensatz zu § 176a II Nr. 1 StGB (»schwerer sexueller Missbrauch von Kindern«), die zusätzliche Anforderung einer »besonderen Erniedrigung« in § 177 II Nr. 1 StGB eingefügt.18 Diese soll bei Beischlaf, Anal- und Oralverkehr regelmäßig vorliegen (u. a. BGH NStZ 2000: 255; BGH NStZ 2001: 598). Allerdings kann die Indizwirkung durchbrochen werden. Das erweist sich als problematisch, wenn die Voraussetzung der besonderen Erniedrigung als Einfallstor für diskriminierende Erwägungen genutzt wird. Dies zeigen die folgenden Ausführungen des vierten Strafsenats (BGH NStZ 2001: 369): »Grundsätzlich bedarf es aber jeweils der positiven Feststellung der Umstände des Einzelfalls, die in wertender Betrachtung die Annahme der besonderen Erniedrigung des Tatopfers stützen. Daran fehlt es hier. Die Feststellungen lassen die Möglichkeit offen, dass die vom Angeklagten erzwungenen sexuellen Handlungen einschließlich des Oralverkehrs ihrer Art nach von der getroffenen Verabredung zum entgeltlichen Sexualverkehr umfasst waren. Deshalb ist nach ständiger Rechtsprechung des Senats die grundsätzliche Bereitschaft des Tatopfers zu sexuellen Handlungen regelmäßig ein für die Beurteilung des Schuldgehalts der nach § 177 StGB qualifizierten Tat bestimmender Umstand.« 16 Im common law finden sich Rechtsordnungen, die das Vorgehen gegen den Willen des Opfers für eine Vergewaltigung ausreichen lassen (vgl. England: Sect. 1 bis 4 Sexual Offences Act 2003) oder psychische Gewalt als vergewaltigungstaugliches Nötigungsmittel einstufen: vgl. California Penal Code Section 261. (a) (2), (6), (7) und ausführlich La Fave (2003: 846 ff., 866). 17 Eine umfassende Stellungnahme ist mir hier aus Platzgründen nicht möglich. 18 Dies wird kontrovers diskutiert (MüKo-Renzikowski 2005: Rn. 65 m. w. N.). 126
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V.
Der minder schwere Fall – Plattform antiquierter Schuldzuschreibungen
Eine Verringerung des Strafmaßes für den Täter kann durch die Annahme eines so genannten minder schweren Falles herbeigeführt werden. Ein Drittel aller Verurteilungen zu § 177 StGB a. F. wurden als »minder schwer« eingestuft, so dass von einem Ausnahmestrafrahmen – zumindest vor 1997 – nicht mehr die Rede sein kann (Albrecht 1994: 293). Im Zuge der Reformdiskussionen zum 33. StÄG war das Institut des minder schweren Falls infolgedessen starker Kritik ausgesetzt (Kieler 2003: 77 ff. m. w. N.). Allerdings entschied man sich gegen die generelle Abschaffung.19 Dogmatisch gesehen ist es jedoch inkorrekt, von einem minder schweren Fall einer Vergewaltigung zu sprechen, weil die Vergewaltigung nun ein Regelbeispiel20 darstellt und sich § 177 V Halbsatz 1 StGB auf § 177 I StGB, die sexuelle Nötigung, bezieht. Festzuhalten ist jedoch, dass der BGH von der Möglichkeit, eine Vergewaltigung über Absatz 1 zu einem minder schweren Fall einer sexuellen Nötigung herunterzustufen, durchaus Gebrauch macht (BGH NStZ 2000: 419; BGH NStZ 2001: 366; BGH NStZ 2003: 202; BGH NStZ 2004: 32; BGH StV 2006: 523). Im Rahmen der minder schweren Fälle spielen, wie gleich zu zeigen sein wird, das Urteil der so genannten Bescholtenheit21 (ebenso LKHörnle 2010: Rn. 156) über das weibliche Opfer und die Einstufung der Vergewaltigung als Triebdelikt eine zentrale Rolle. Ursprünglich konnten überhaupt nur unbescholtene Frauen22 Opfer einer Vergewaltigungstat sein (Art. 119 CCC). Erst seit dem ALR war auch die bescholtene Frau in den Tatbestand miteinbezogen, wobei diese Konstellation regelmäßig eine mildere Bestrafung erfuhr (§ 1058). Die Vergewalti19 Vgl. BT-Drs. 13/7324, S. 5 ff.; BT-Drs. 13/9064, S. 12 f. 20 Es handelt sich in der Neufassung nicht mehr um einen für den/die Richter/in zwingend anzuwendenden Tatbestand, wenn eine Penetration stattgefunden hat; der/die Richter/in kann vielmehr in einer Wertung der Gesamtumstände darüber befinden, ob der Täter wegen einer Vergewaltigung, einem besonders schweren Fall einer sexuellen Nötigung, zu verurteilen ist oder nicht; diese Regelbeispielslösung wird kritisch diskutiert (vgl. LK-Hörnle 2010: Rn. 195). 21 Sch/Sch 1969: § 182 Rn. 2: »Bescholten ist regelmäßig ein Mädchen, das vorher freiwillig und bewusst den Beischlaf gestattet hat; darüber hinaus begründet aber auch sonstiges in der sittenlosen Gesinnung des Mädchens wurzelndes unzüchtiges Treiben die Annahme geschlechtlicher Bescholtenheit«. 22 Die Frau musste entweder Jungfrau oder verheiratet bzw. verwitwet und außerehelich unberührt sein. 127
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gungstat ist des Weiteren maßgeblich von der Vorstellung bestimmt, dass es sich um ein Trieb- und Spontandelikt handelt. Diese These wurde jedoch durch psychotherapeutische Untersuchungen widerlegt (vgl. Hauch 2006: 19) und gilt in der kriminologischen Forschung als überholt (Schneider 1998: 847). Die Vergewaltigungstat ist ein sexueller Gewaltakt, der die Unterwerfung und Demütigung des Opfers durch den Täter intendiert, wobei die Intimsphäre und die Menschenwürde des Opfers auf das gröblichste missachtet werden. Nichtsdestotrotz haben die soeben angeführten traditionellen Deutungsmuster ihren Einfluss auf die Rechtsprechung des 21. Jahrhunderts nicht verloren.
1.
Der minder schwere Fall wegen Mitverschuldens
Beim minder schweren Fall des Mitverschuldens wird der Frau vorgeworfen, die Tat provoziert zu haben, »wenn auch ungewollt« (u. a. BGH MDR 1963: 62; LG Saarbrücken NStZ 1981: 222; BGH NStZ 1991: 431). Die Gefahr einer Vergewaltigung wird als alltagstypischer Kausalverlauf dargestellt. Die Rechtsprechung zeigte sich kreativ, wenn es um eine Entschuldigung für das Verhalten des Täters ging. Strafmildernd wirkten sozial adäquate Verhaltensweisen wie u. a. eine bloße Unterhaltung und das anschließende Begleiten eines Mannes in seine Wohnung (BGH StV 1986: 149), das Tanzen in der Wohnung eines langjährigen Bekannten, wobei es noch nie zu sexuellen Kontakten gekommen war (BGH StV 1993: 639), geringes Abwehragieren, weil der Angeklagte »in weitaus stärkerem Umfang mit eigenen moralischen Hemmungen konfrontiert worden wäre, wenn U mehr körperlichen Widerstand gezeigt und geschrien hätte. Dies gilt auch dann, wenn dem sensiblen und zarten und eingeschüchterten Mädchen ein stärkerer körperlicher Widerstand oder wenigstens laute Hilferufe nicht möglich gewesen wären« (BGH NStZ 1982: 26), sowie der Umstand, dass das Opfer sich als Aktmodell Geld verdiente, was als sexuelle Tatprovokation gewertet wurde, so dass »die Hemmschwelle des Täters im sexuellen Bereich herabgesetzt« wurde (BGH NStE 1991 Nr. 23 zu § 177 StGB). Diese Tradition findet seine Fortsetzung. Zuletzt hat der fünfte Strafsenat des BGH in einem Urteil ausgeführt, dass trotz Vorliegen eines Regelbeispiels die Annahme eines minder schweren Falls i. S. d. § 177 V StGB in Betracht komme, wenn im Täter der begründete Eindruck erweckt wurde, dass das Tatopfer (weiteren) sexuellen Handlungen zustimmen würde und damit »nicht unerheblich (wenn auch unbeabsichtigt) zur Entwicklung des Geschehens beigetragen hat«. Daran ändert auch der Umstand, »dass sie ihn zunächst nicht in die Wohnung lassen wollte«,
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nichts. »Angesichts des Gewichts der Milderungsgründe und der Tatsache, dass die Nebenklägerin selbst ihr Verhalten während des Tatgeschehens nachträglich als nicht wehrhaft und energisch genug einschätzt, [...]« (BGH StV 2008: 81). Bei der Auseinandersetzung mit dem zugrundeliegenden Urteil des Landgerichts (LG) fällt auf, dass der BGH den Sachverhalt zu Gunsten des Täters verzerrt. So bleibt die Tatsache, dass der Angeklagte als Trainer von Ringern der zierlichen Geschädigten bei weitem körperlich überlegen war, unerwähnt. Der BGH betont, dass beide in einem Lokal in der Tatnacht Zärtlichkeiten ausgetauscht hätten, ohne zu erwähnen, dass die Geschädigte kein Interesse an einer weiteren Intensivierung hatte. Die Geschädigte ließ den Angeklagten in ihre Wohnung, weil dieser sie erfolgreich bedrängt hatte, dass er die Toilette aufsuchen müsse. Der Annahme, dass »nur sehr geringe Gewalt« (ebd.) ausgeübt wurde, ist auf Grund der Tatsache, dass der Angeklagte die Geschädigte mit seinem Körpergewicht von oben auf die Matratze drückte, entgegenzutreten. Der für Vergewaltigungsopfer typische Selbstvorwurf (vgl. Weis 1982: 81) in einem therapeutischen Gespräch, »sie habe das Gefühl, sie hätte sich bei dem Vorfall stärker wehren müssen, sie sei dazu aber nicht in der Lage gewesen« (Urteil des LG Berlin vom 11.12.2006 – (506) 70 JS 624/06 (21/06)), benutzt der BGH, um dem Opfer implizit vorzuhalten, dass es versäumt habe, der Eskalation der Situation durch energisches Abwehragieren vorzubeugen.
2.
Vorhergehende (länger andauernde) intime Beziehungen
Bestanden zwischen Täter und Opfer vor der Tat intime Beziehungen, wobei egal ist, ob diese im Rahmen einer Ehe oder einer sonstigen Partnerschaft gepflegt wurden, so ist dies nach der Rechtsprechung stets ein Indiz für das Vorliegen eines minder schweren Falls (BGH StV 1998: 76; BGH StV 2000: 557; BGH NStZ-RR 2002: 9; BGH NStZ-RR 2003: 168; BGH NStZ-RR 2006: 6; BGH StraFo 2007: 472).23 Teilweise wird dabei für erheblich gehalten, ob der Täter für die Beziehung ungewöhnliche Sexualpraktiken erzwungen hat (BGH StV 2001: 453).
23 Sch/Sch-Lenckner/Perron/Eisele (2006: § 177 Rn. 33) bezeichnet diese Vorgehensweise als »recht weitgehend«; hat die Tat Bestrafungscharakter, so wird dieses Indiz entkräftet (BGH NStZ 2000: 254). 129
ISABEL KRATZER
3.
Sonstige Strafmilderungsgründe
Als weiterer Strafmilderungsgrund war der »des sexuellen Notstands« bis in die 1990er Jahre explizit anerkannt (Sch/Sch-Lenckner 1997: § 177 Rn. 17). Überdies wirkt sich die Vergewaltigung von Prostituierten bis heute strafmildernd aus, selbst dann, wenn erhebliche Gewalt angewendet wird (BGH-Beschluss, 18.04.1973, 4 StR 135/73; BGH StV 1995: 635; BGH StV 1996: 26; BGH NStZ 2001: 369; bei BGH NStZRR 2006, 301 f. scheint die Opfereigenschaft als Prostituierte ebenfalls eine Rolle zu spielen). Dazu der fünfte Strafsenat (BGH NStZ 2001: 29): »Im kriminologischen Gesamtspektrum der […] Vergewaltigungstaten besteht eine Polarität und ist dementsprechend bei der Strafzumessung eine Differenzierung geboten zwischen Taten gegen Frauen, die sich dem Täter zu – gegebenenfalls entgeltlichen – sexuellen Handlungen anbieten, und Taten gegen Opfer, die dem Täter keinerlei Anlass zu der Annahme geben, sie wären zu sexuellem Kontakt bereit […].« Der zweite und dritte Strafsenat erheben gegen diese Vorgehensweise Bedenken (BGH NStZ-RR 2000: 358 Nr. 36; BGH NStZ 2001: 646). Allerdings stellt der dritte Strafsenat in einer Entscheidung aus dem Jahr 2007 (BGH NStZ-RR 2008: 74) ausdrücklich auf die Besonderheiten des Einzelfalls ab und schränkt damit den strafrechtlichen Schutz Prostituierter vor Vergewaltigungen wieder ein.24
4.
Stellungnahme: Die ›Verantwortungsabgabe‹ als ein zentraler Begriff der Geschichte des § 177 StGB
Im Unterschied zu anderen Interaktionsdelikten des StGB25 – wird im Rahmen des § 177 StGB stets gefragt, ob das Vergewaltigungsopfer an der Verletzung seines sexuellen Selbstbestimmungsrechts Mitverantwortung trägt (ebenso kritisch LK-Hörnle 2010: Rn. 158 f.). Dies zeigt sich nicht zuletzt an der Rechtsprechung zum minder schweren Fall. Hier leben die Mythen von der Frau als Verführerin auf. Die Täter-OpferBekanntschaft stellt weiterhin ein häufig und großzügig angewandtes Element der Abgrenzung des minder schweren vom normalen Fall der Vergewaltigung dar (ebenso ebd.: Rn. 233). Hervorzuheben ist, dass sich dieses Merkmal erstaunlicherweise bei den minder schweren Fällen 24 Hörnle (LK 2010: Rn. 156) lehnt derartige Strafmilderungsgründe ab; auch Fischer (2010: Rn. 70) rügt diese Rechtsprechung des vierten Strafsenats. 25 §§ 263 (»Betrug«), 249 (»Raub«), 253 (»Erpressung«), 255 (»Räuberische Erpressung«) StGB. 130
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des einfachen und schweren Raubes, §§ 249 II StGB und § 250 III StGB, nur sehr selten findet.26 Das Institut eines minder schweren Falls ist grundsätzlich zu begrüßen, weil es die nötige Flexibilität bei der Strafzumessung schafft. Kritisch zu sehen ist jedoch die Praxis, eine Vergewaltigung über Absatz eins (Abs. I) zu einer sexuellen Nötigung und schließlich über Absatz fünf (Abs. V) letztendlich zu einem minder schweren Fall einer sexuellen Nötigung herabzustufen (ebenso ebd.: Rn. 233), und zwar insbesondere, wenn die Begründungsinhalte von außerrechtlichen und irrelevanten Erwägungen getragen werden. Dazu gehört der Strafmilderungsgrund der vorhergehenden (länger andauernden) intimen Beziehungen. Die Vorstellung, dass eine Vergewaltigung, weil sie die in der Beziehung übliche Sexualpraktik darstellt, geringeres Unrecht verwirklicht, geht fehl und ist absurd. Sie verkennt, dass sich das Unrecht einer Vergewaltigung nicht in der Vornahme eines körperlichen Akts erschöpft (vgl. Künzel 2003: 259), der vom Opfer als weniger demütigend empfunden wird, weil ihm dessen Ablauf schon bekannt ist. Das Opfer erfährt vielmehr eine grausame Erniedrigung, gerade weil Täter der ›vertraute‹ Intimpartner ist. Der in diesen Konstellationen regelmäßig erfolgende Vertrauensbruch sollte – wie dies auch sonst im Besonderen Teil des StGB geschieht – strafschärfende Berücksichtigung finden. Hier entfaltet jedoch der uralte Gedanke, dass sich eine Frau mit der Eheschließung zu regelmäßigem ehelichen Geschlechtsverkehr verpflichtet,27 mit der Eingehung einer Ehe demnach automatisch einen Teilbereich ihres sexuellen Selbstbestimmungsrechts an den Ehemann abgibt,28 seine Wirkung. Die eheliche Vergewaltigung wird als eine Art »Selbsthilfe« (Schroeder 1999: 828) bzw. auf Grund des in der Ehe bestehenden »Grundkonsenses« zum regelmäßigen Geschlechtsverkehr als ein das sexuelle Selbstbestimmungsrecht »weniger intensiv« beeinträchtigender Vorgang bewertet (Schünemann 1996: 316). Diese Gedanken werden
26 Schlägt man z. B. Sch/Sch-Lenckner/Perron/Eisele (2006): § 177 Rn. 33 auf, so fällt die fast ganzseitige Kasuistik zum minder schweren Fall der Vergewaltigung (nur zu Abs. I!) auf. Im Gegensatz dazu finden sich bei § 249 Rn. 12 diesbezüglich nur zwei Zeilen; in § 250 Rn. 37 erfolgen längere Ausführungen, die allerdings nur einen einzigen Entscheidungsnachweis zu einer Tatprovokation durch das Opfer (BGH StV 1982: 575) enthalten. 27 In zeitgenössischer Kommentarliteratur wird diese Verpflichtung im Rahmen eines traditionellen Eheverständnisses immer noch betont (vgl. Ermann/Westermann BGB-Gamilscheg 2008: § 1353 Rn. 7; PalandtBrudermüller 2010: § 1353 Rn. 5). 28 Vgl. zur Theorie des Sexual Contract: Dimoulis (1999: 14). 131
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heute auch auf andere Beziehungsformen übertragen, weil die Ehe nicht mehr die Regel und auch nicht mehr die Voraussetzung für Sexualität ist. Es muss nicht betont werden, dass die Rechtsprechung des vierten und fünften Strafsenats des BGH zur Vergewaltigung von Prostituierten unhaltbar ist. Antiquierte Erwägungen zum Zusammenhang zwischen einer Tätigkeit, die der traditionellen sexuellen Moral widerspricht, und einer daraus folgenden ›Minderfähigkeit‹ vergewaltigt zu werden, sind in höchstem Maße diskriminierend und sollten nicht mehr Ausgangspunkt gegenwärtiger juristischer Überlegungen sein. Der geschlechtsspezifischen Situationsverkennung als Strafmilderungsgrund wird zu viel Platz eingeräumt (vgl. Schneider 1998: 866; LK-Hörnle 2010: Rn. 165) bzw. einer falschen Interpretation unterzogen. Ausgangspunkt dieser These von Schorsch ist, dass Frauen und Männer die Wirklichkeit unterschiedlich konstruieren (Schorsch 1971: 214). Laut der empirischen Untersuchung von Jäger zählten zu den häufigsten Faktoren der Tat Formen dieser Situationsverkennung, nämlich u. a. ein »vermeintliches Recht auf Grund eines bestehenden Intimverhältnisses, unvorsichtige oder Hoffnung machende Gesten oder Bemerkungen des Opfers, aufreizende Auffälligkeiten des Opfers« (Jäger 2000: 73). Vorsicht ist jedoch angebracht, weil dem Täter dadurch Schutzbehauptungen ermöglicht werden, die den Rechtsbruch neutralisieren sollen. Androzentrische Sichtweisen und eine selektive Wahrnehmung gestalten eine Vergewaltigungstat so nachträglich in eine ›Verführung‹ um.
VI. F a z i t Erst durch das 33. StÄG von 1997 wurden grundsätzliche Veränderungen am Vergewaltigungstatbestand vorgenommen. Die eheliche Vergewaltigung wurde nach heftigen Kontroversen im Tatbestand des § 177 StGB strafbar gestellt, der Mann erfuhr in der Neufassung des § 177 StGB als Vergewaltigungsopfer Anerkennung und der Vergewaltigungsbegriff wurde erweitert. Es finden sich jedoch weiterhin Relikte überkommener Vergewaltigungsmythen. Vergewaltigungsspezifische Auslegungstraditionen werden konserviert. Der Umgang mit dem Tatbestand der Vergewaltigung erfordert daher ein sensibles und reflektiertes Geschichtsbewusstsein; des Weiteren den Willen und den Mut, den Vorgang einer sexuellen Nötigung/Vergewaltigung einer vorurteilsfreien Revision zu unterziehen.
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BGH (2006): Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20.04.2006, 4 StR 96/06, in: StV, 2006, S. 523. BGH (2006): Bundesgerichtshof, Beschluss vom 29.06.2006, 5 StR 196/06, in: NStZ-RR, 2006, S. 301-302. BGH (2007): Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19.07.2007, 4 StR 262/07, in: Strafforum (StraFo), 2007, S. 472. BGH (2007): Bundesgerichtshof, Beschluss vom 06.11.2007, 3 StR 418/07, in: NStZ-RR, 2008, S. 74. BGH (2007): Bundesgerichtshof, Urteil vom 10.10.2007, 5 StR 249/07, in: StV, 2008, S. 81.
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S TRAFVOLLZUG
Das Buch in der Zelle – Geschlechterpädagogik im Strafvollzug am Beispiel des Bücherverzeichnis für Frauen der Bücherei der Vereinigten Gefangenenanstalten zu Waldheim (1928) TORSTEN SANDER
I.
Einleitung
Gefängnisbibliotheken zählen heute zu den etablierten Einrichtungen in Justizvollzugsanstalten. Doch nur selten tritt die hinter Gittern geleistete bibliothekarische Arbeit ins Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit.1 Auch die Forschung hat diesem als Sonderform der öffentlichen Bücherei eingestuften Bibliothekstyp und dem damit verbundenen Lektüreangebot bislang kaum hinreichende Beachtung geschenkt.2 Erschwerend ist hier freilich, dass Kataloge von Gefängnis- beziehungsweise Gefangenenbibliotheken bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nicht existierten. Erst der seit etwa 1850 im Strafvollzug in den Vordergrund gerückte Erziehungsgedanke und die damit einhergehenden Reformbemühungen 1
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In jüngerer Zeit erlangte lediglich die mit dem Deutschen Bibliothekspreis als »Bibliothek des Jahres 2007« ausgezeichnete Gefängnisbücherei der JVA Münster größere öffentliche Aufmerksamkeit. Bislang überwiegen Fach- und Abschlussarbeiten von Bibliothekaren im Strafvollzug. Einen bis heute maßgeblichen Überblick zur Programmatik und Entwicklungsgeschichte von Gefängnisbibliotheken bietet Gelderblom (1965). Vgl. ferner Peschers (2000) sowie die vom gleichen Autor mitverantwortete Publikation der JVA Münster (2003). 141
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des Strafrechts brachten auch eine stärkere Institutionalisierung von Büchersammlungen in Haftanstalten mit sich: das ›Buch in der Zelle‹ sollte aktiv zur Vermittlung gesellschaftlicher Wertvorstellungen beitragen und den Gefangenen buchstäblich zu neuen ›Lebensinhalten‹ verhelfen (vgl. Gelderblom 1965: 629). Doch zunächst hatten lektüreinteressierte Gefangene nicht die Möglichkeit, selbst aus dem in der Haft zur Verfügung stehenden Buchbestand auszuwählen. Sondern damit »immer das rechte Buch an den rechten Mann komme« (Rommel 1871: 18; vgl. Hindberg 1866: 95-98), wurden die Bücher von den zumeist mit der Bibliotheksleitung betrauten Anstaltsgeistlichen individuell nach Gutdünken ausgeliehen. Gedruckte Bestandskataloge oder thematische Auswahlverzeichnisse, welche den Häftlingen zur Verfügung gestellt wurden, sind erst nach 1920 nachweisbar. Sie sind heute von allergrößter Seltenheit. Denn wohl nur wenige dieser zum Gebrauch vor Ort bestimmten, meist in den anstaltseigenen Druckereien hergestellten Verzeichnisse haben den Weg nach ›draußen‹ und damit etwa auch in den Bestand größerer wissenschaftlicher Bibliotheken gefunden.3 Dabei gewährt gerade dieser Katalogtyp vielschichtige Einblicke in die Sozialgeschichte des Lesens, nicht zuletzt weil der Moment des strafrechtlich festgesetzten Freiheitsentzuges für die Distribution und Rezeption von Lektüre konstitutiv ist. Für die Programmatik einer Gefängnisbibliothek und ihrer Kataloge ist das Motiv der »Leserlenkung« (Langewiesche 1989: 116 ff.) von zentralem Einfluss. Somit spiegelt diese bibliografische Vermittlungsinstanz in besonderer Weise die sozial-pädagogische Dimension einer Bibliothek. Denn angesichts der bereits 1926 von Erich Thier formulierten These, »die Tatsache des Gefangenseins bestimmt die Wahl der Lektüre nicht schlechthin« (Thier 1926: 235), kommt der Literaturversorgung im Gefängnis sowohl bei der Sträflingsfürsorge wie auch der Resozialisierung der Häftlinge nachhaltige Bedeutung zu. Im Vergleich zu öffentlichen Bibliotheken gehorcht die Ausleihe von Büchern in Haftanstalten weitaus komplexeren Anforderungen. Inhalte und Benutzung des Buchbestandes haben einerseits im Einklang mit jeweils geltenden Vollzugsvorschriften zu stehen, andererseits unterstützend auf das Vollzugsziel der künftigen Straffreiheit hinzuwirken. Entscheidend für die adäquate Benutzung des den Häftlingen zur Verfü3
Bibliografisch nachweisbar sind außer den beiden in diesem Beitrag behandelten Waldheimer Verzeichnissen ein Bücher-Verzeichnis der Gefangenen-Bücherei des Thüringischen Landesgefängnisses Ichtershausen, Ichtershausen 1924, 8°, 84 S. (Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, Sign. 8 M 11515) sowie der Katalog der Gefangenenbibliothek. Kantonale Strafanstalt Lenzburg, Lenzburg 1928, 8°, IV, 154 S. (Deutsche Nationalbibliothek Leipzig, Sign. 1930 A 8367).
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gung gestellten medialen Angebots sind letztendlich jedoch individuelle Persönlichkeitsmerkmale. Neben der Lesefähigkeit und dem Bildungsniveau spielen für die rezeptionelle Orientierung unter anderem auch Herkunft, Religionszugehörigkeit sowie Alter und Geschlecht eine Rolle. Für die Lektürepraxis im Gefängnis bildet insbesondere das biologische Geschlecht eine der übergeordneten Schlüsselkategorien: Mit Blick auf die vergleichsweise geringere Anzahl weiblicher Strafgefangener ist es von Interesse, inwieweit diese räumlich von den männlichen Gefängnisinsassen getrennte Minderheit bei der sozialen Bibliotheksarbeit Berücksichtigung findet. Zu fragen ist unter anderem, in welchem Maß die Geschlechterperspektive die Inhalte einer Gefängnisbibliothek mitbestimmt und welche Rückschlüsse das Buchangebot auf eine spezifische Geschlechterpädagogik im Strafvollzug zulässt. Dass die Ordnung der Geschlechter für die Ordnung einer Gefängnisbibliothek relevant zu sein scheint, soll im Folgenden am Beispiel des 1928 gedruckten Bücherverzeichnis für Frauen (BfF) der Bücherei der Vereinigten Gefangenenanstalten zu Waldheim/Sachsen gezeigt werden. Ausgehend von der Entwicklung des deutschen Gefängnisbibliothekswesens bis ins erste Viertel des 20. Jahrhunderts interessieren zunächst die daraus resultierenden institutionellen Ausprägungen der Waldheimer Anstaltsbücherei. Unter Berücksichtigung des ebenfalls aus Waldheim stammenden Bücherverzeichnis Erlebnis und Dichtung (1931) (BEuD) soll im Rahmen einer ausführlicheren Darstellung und Analyse des seltenen bibliografischen Leitfadens deutlich gemacht werden, welche Verknüpfungen die Analysekategorie Gender beispielsweise zu Aspekten des Volksbüchereiwesens, der Kanonbildung sowie der Strafrechtsreform aufweist. In seiner Gesamtheit präsentiert sich das im Bücherverzeichnis für Frauen der Bücherei der Vereinigten Gefangenenanstalten zu Waldheim entworfene Lektüreprogramm schließlich als mehrdimensionale heuristische Schnittstelle einer im Strafvollzug der Weimarer Republik verorteten Geschlechterpädagogik.
II.
Anforderungen an Bücherverzeichnisse in Haftanstalten
Die Justizvollzugsanstalt Waldheim ist eine der ältesten noch existierenden Gefängnisanlagen Europas. Im Jahr 1716 ließ Kurfürst August II. von Sachsen das seit dem Ende des 30-jährigen Krieges weitgehend ungenutzte Waldheimer Schloss zum Zucht-, Waisen- und Armenhaus
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umbauen. Verkehrsgünstig zwischen Dresden, Chemnitz und Leipzig gelegen, diente das Gebäude zunächst sowohl zur Inhaftierung von Straftätern als auch der Unterbringung von Waisenkindern sowie Geisteskranken und verarmten Personen. Mit Sophie Sabine Apitzsch saß ab Juli 1716 auch bald der erste weibliche Häftling in Waldheim ein: Die aus Luzenau stammende Tochter eines Zeugmachers hatte sich im Jahr 1714 als Kurprinz Friedrich August von Sachsen ausgegeben und war dafür zu einer Zuchthausstrafe verurteilt worden.4 Nachdem 1817 eine eigene Waisenkrankenanstalt in Waldheim eröffnet und die Geisteskranken in die Heilanstalten von Colditz und Sonnenstein verlegt worden waren, diente die Waldheimer Anstalt ab 1833 ausschließlich als Zuchthaus (vgl. Büttner 1942: 7). Zwar existierten für die weiblichen und männlichen Sträflinge jeweils eigene Abteilungen, jedoch waren diese lediglich durch eine Mauer voneinander getrennt gewesen (vgl. Röckel 1865: 246). Der Bau eines Frauenzuchthauses erfolgte erst im Jahr 1886 (vgl. Büttner 1942: 8). Während man den Waldheimer Häftlingen im 18. Jahrhundert lediglich eine bescheidene Auswahl geistlicher Bücher, vor allem Katechismen und Gesangbücher, zur Verfügung stellte, ist schließlich ab dem Jahr 1816 eine Bibliothek für Gefangene in Waldheim nachweisbar. Diese blieb zunächst nur gebildeten »Pfleglingen« vorbehalten, bis dann ab 1830 allen Zuchthäuslern an Sonntagen die Lektüre von Büchern der Anstaltsbücherei gestattet wurde. Allerdings nutzten nur wenige Sträflinge dieses Angebot, da die meisten »am Sonntag ihr in der Woche nicht erreichtes Arbeitspensum fertig stellen mußten« (Koppel 1934, zit. in: Büttner 1942: 70). Überhaupt scheint diese frühe Waldheimer Gefängnisbibliothek kaum eine Rolle im Alltag der Häftlinge gespielt zu haben, wie die Schilderungen der in Waldheim inhaftierten Maiaufständischen August Röckel und Theodor Hermann Oelckers nahe legen (vgl. Röckel 1865: 292 ff.; Oelckers 1860: 32). Bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts fanden in Deutschland Überlegungen statt, zur Besserung und Belehrung der Gefangenen stärker als bisher auch Bücher heranzuziehen (vgl. Peschers 2000: 124 f.). Am Beginn dieser schließlich mit erkennbaren Auswirkungen auf die Vollzugspraxis verbundenen Debatte stehen die von Karl Benjamin Preusker wiederholt seit 1840 publizierten Lektüreempfehlungen für Gefangene (vgl. Preusker 1840: 79; Preusker 1844a: 376-379; Preusker 1844b: 3169-3172). Zwar bildeten Bibeln, Gesang-, Gebets- und Erbauungsbücher nach wie vor den Hauptanteil des Buchbestandes, doch 4
Im Oktober 1717 erfolgte die Begnadigung durch den Kurfürsten von Sachsen (vgl. Schnitzer 1998).
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wurden diese nun durch Schul- und Lehrbücher sowie Unterhaltungsliteratur ergänzt. Ausgeschlossen blieben »alle eigentlichen Romane und das Theater« sowie Trivialliteratur und tagespolitische Schriften, aber auch sämtliche Werke der deutschen Klassiker, da man bei den Gefangenen »keine Lesewuth [...] entzünden« (Rommel 1871: 17; vgl. ebd. 12, § 11) wollte. Diese durchdachte, trotz strenger Auswahlkriterien thematisch doch breit angelegte Bestandsentwicklung hatte zur Folge, dass einige Anstaltsbibliotheken im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts über einen mehrere tausend Bände umfassenden Buchbestand verfügten.5 Allerdings bedurfte die damit erlangte institutionelle Stabilität einer weiteren Ausformulierung inhaltlicher Standards, wozu vor allem der Verein der deutschen Strafanstaltsbeamten maßgeblich beitrug. Insbesondere die seit 1864 herausgegebenen Blätter für Gefängniskunde widmeten der Frage nach der Einrichtung und Verwendung von Gefängnisbibliotheken wiederholte Aufmerksamkeit (vgl. Rommel 1871; Bienengräber 1875; Behringer 1926; Arnold 1932). Dazu gehörte bereits frühzeitig die Empfehlung, »für die Weiber-Abteilung eine besondere Bibliothek« anzulegen, jedoch verbunden mit einer spürbaren Einschränkung des literarischen Angebots: »In Bezug auf die beiden Geschlechter der Gefangenen ist vielleicht noch etwas Besonderes zu sagen. Nicht alle Schriften, die sich für Männer eignen, eignen sich auch für eine besondere Sammlung für ein Weibergefängnis. Der Horizont der Weiber ist durchgängig viel enger, auch ihre Schulbildung ist durchschnittlich hinter der der Männer zurück; was man sogar auch beim Unterricht und bei der Predigt beachten muss, wenn man einen abgesonderten Dienst vor Weibern zu verrichten hat. [...] Für die Weiber eignet sich mehr das Einfache, die Schilderung des Stilllebens, Familienbilder, der Jugendkreis, die Erzählform. Dagegen geographische Bücher, Reisebeschreibungen, Bücher zur Belebung des Patriotismus, Welt- und Kirchengeschichte (mit Ausnahme der Legende), selbst nicht einmal vaterländische Geschichte, – dergleichen eignet sich nicht für Weiber.« (Rommel 1871: 14)
Obwohl nach heutigem Verständnis kaum mehr haltbar, verhalfen derart tendenziöse, auf eine vermeintlich unterschiedliche Bildungsfähigkeit von Mann und Frau ausgerichtete Argumentationen der Idee eines über5
Vgl. die 50 Einrichtungen umfassende statistische »Uebersicht der Bibliotheken der Preussischen Straf- und Gefangenen-Anstalten« für die Jahre 1875 und 1876 in Petzholdt (1878). Die Gesamtzahl der in den genannten Anstalten vorhandenen Bücher belief sich 1875 auf 165.618 bzw. 1876 auf 168.045 Stück. 145
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regional normierten Gefängnisbibliothekswesens doch langfristig zum Erfolg. Spätestens mit Carl Krohnes Lehrbuch für Gefängniskunde (Stuttgart 1889) hatte der Diskurs dann auch entgültig Eingang in den praktischen Strafvollzug gefunden (vgl. Krohne 1889: 485-489). Aber erst mit dem im Auftrag des Vereins der deutschen Strafbeamten zusammengestellten Bücherverzeichnis für Gefängnisse, Arbeitshäuser, Korrektionshäuser und ähnliche Anstalten (Heidelberg 1906) lag eine umfangreichere Zusammenstellung mustergültiger Literatur für den Strafvollzug vor. Dieser 75 Druckseiten umfassende, von der Fachwelt als »eine sehr dankenswerte Leistung« begrüßte Leitfaden enthielt neben den traditionell nach Konfessionen getrennten Büchern zur »religiösen Erbauung und Belehrung« auch zahlreiche Lehr- und Lesebücher sowie Zeitschriften zur »allgemeinen Belehrung« beziehungsweise zur »bildenden Unterhaltung« (Klein 1907: 144).6 Auch wurden nach langen Beratungen die Werke der deutschen Klassiker schließlich wieder in den Kanon der Literatur für Gefangene aufgenommen (vgl. Verein der deutschen Strafanstaltsbeamten 1901). Im Wesentlichen orientierte sich die Buchauswahl am Bestand damaliger öffentlicher Bibliotheken, da »die Gefangenenbibliothek in erster Linie die Mittel bieten [sollte], die nächsten Dinge zu begreifen und die nächsten und wichtigsten Beziehungen und Pflichten des Lebens zu übersehen, damit so die Richtung zu einer vertieften und einheitlich gefügten Erkenntnis der Wirklichkeit gewiesen werde.« (Speck 1906/07: 525)
Der daraus resultierende pädagogische Auftrag, zur Bildung und Erziehung der Gefangenen als einem integrativen Bestandteil der Volksgemeinschaft beizutragen, erhielt zwar künftig stärkeres Gewicht im Gefängniswesen, erlangte aber erst in der Weimarer Republik rechtsverbindlichen Charakter. Mit den im Jahr 1923 erlassenen Grundsätzen für den Vollzug von Freiheitsstrafen wurde die Einrichtung einer Gefangenenbücherei vorgeschrieben sowie die damit verbundene Benutzung durch die Häftlinge geregelt. Ziel der auf die arbeitsfreie Zeit beschränkten Lektüre sollte es sein, die »Gefangenen in ihrer beruflichen Fortbildung oder sonst in ihrem späteren Fortkommen zu fördern« (Reichsministerium des Innern 1923: 273, § 107). Damit wurde dem mit der Straf-
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Eine zweite durchgesehene und erweiterte Auflage dieses Bücherverzeichnisses erschien 1914, ebenfalls bei Winter in Heidelberg.
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rechtsreform angestrebten Vollzugsziel der Resozialisierung und Rückfallvermeidung Rechnung getragen.7 Ergebnis dieser Neuregelungen war die Gründung des Arbeitskreises für Gefängnisbüchereiwesen, welcher mit den 1927 erarbeiteten Richtlinien für die Gefängnisbüchereiarbeit erstmals für eine Professionalisierung der bibliothekarischen Arbeit hinter Gittern eintrat. Vorgesehen waren unter anderem der sachgemäße, mit ausreichenden finanziellen Mitteln ausgestattete Bestandsaufbau, die Einstellung eines ausgebildeten Bibliothekars sowie die Ausgabe gedruckter Kataloge an die Gefangenen. Als richtungsweisend erwiesen sich hierbei die Erfahrungen des Volksbüchereiwesens, speziell der von Walter Hofmann ins Leben gerufenen Deutschen Zentralstelle für volkstümliches Büchereiwesen. Hofmanns Engagement für einen allgemeinbildenden, allen Bevölkerungsschichten frei zugänglichen Bibliothekstyp resultierte aus der so genannten Bücherhallenbewegung, fand jedoch bald zu eigenen Lösungsvorschlägen beim Aufbau einer volkstümlichen Bücherei (vgl. Thauer/ Vodosek 1990: 79 ff.). Neben der seit 1920 herausgegebenen Deutschen Volksbibliographie widmete sich vor allem die seit 1926 vom Institut für Leser- und Schrifttumskunde geleistete Grundlagenforschung einer an den Bedürfnissen der Leser ausgerichteten Buchauswahl. Bestimmend für die Bestandsentwicklung sollte neben der »inhaltlichen Werthaftigkeit« die »Erlebensnähe« eines Buches sein. Auf diese Weise sollte die Volksbibliothek die vielfachen, sich überschneidenden Lebens- und Kulturkreise der Bevölkerung spiegeln und die Leserschaft zu einer »Volkskulturgemeinschaft« (Hofmann 1922: 21 ff.) zusammenführen. Hofmanns Konzept einer öffentlichen Bildungsbücherei basierte auf einer Reihe von Leserstudien, mit denen er einheitliche Lektürevorlieben sozialer und biologischer Gruppen beziehungsweise Schichten zu erfassen suchte, um die Gliederung des Buchangebotes entsprechend darauf abstimmen zu können.8 Durch den bereits erwähnten Arbeitskreis für Gefängnisbüchereiwesen, insbesondere der von Erich Thier 1926 herausgegebenen Denkschrift, betreffend die Umgestaltung der Gefängnisbüchereien im Rahmen der allgemeinen Strafvollzugsreform, fanden diese Prinzipien einer an den individuellen Interessen und Weltanschauungen der Leser orien-
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Vgl. Reichsministerium des Innern (1923: 267): »§ 48 Durch den Vollzug der Freiheitsstrafe sollen die Gefangenen, soweit es erforderlich ist, an Ordnung und Arbeit gewöhnt und sittlich so gefestigt werden, daß sie nicht wieder rückfällig werden.« Zum theoretischen und methodologischen Konzept der Leserkunde von Walter Hofmann vgl. Kutsch (2008: 55 ff.). 147
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tierten Buchauswahl unmittelbare Anwendung bei dem nunmehr verstärkt planmäßig zu beobachtenden Aufbau von Gefängnisbüchereien. Zu den programmatischen Neuerungen gehörten unter anderem gedruckte Bücherverzeichnisse, welche den Häftlingen ausgehändigt wurden und die sich eng an den von Walter Hofmann initiierten Auswahlkatalogen der Deutschen Zentralstelle für volkstümliches Büchereiwesen orientierten (vgl. Frede 1928: 303). Als führend auf diesem Gebiet erwiesen sich die sächsischen Haftanstalten, namentlich die Gefangenenanstalt Waldheim.9
III. B ü c h e r v e r z e i c h n i s f ü r F r a u e n ( 1 9 2 8 ) Das Bücherverzeichnis für Frauen der Bücherei der Vereinigten Gefangenenanstalten zu Waldheim ist beispielhaft für den praxiswirksamen Einfluss von Hofmanns Lesertypologie (vgl. Abb. 1). Es bietet auf 158 Seiten eine auf die vermeintlichen Bedürfnisse der weiblichen Gefangenen zugeschnittene, meist kommentierte und nach sechs Sachthemen gegliederte Auswahl aus dem umfangreichen Bestand der Waldheimer Gefängnisbücherei, wobei die Schwerpunkte der Abteilungen wie folgt gewählt wurden: Liebe und Ehe im Leben der Frau – Heim und Familie – Die Aufgaben der Frau – Heimat, Volk und Vaterland – Die weite Welt – Bücher zur Erbauung und inneren Aufrichtung.10 Zuschnitt und Inhalt dieser in weitere Sachgruppen untergliederten Abteilungen weisen deutliche Parallelen zu den von der Deutschen Zentralstelle für volkstümliches Büchereiwesen erarbeiteten Kriterien der Bücherauswahl auf, vor allem zu dem seit 1925 erstellten, allerdings erst 1930 im Druck erschienenen Lebenskreisverzeichnis Frauenbücher sowie der wenig später von Hofmann (1931) veröffentlichten Analyse Die Lektüre der Frau (vgl. Hofmann 1925/26). Gemeinsam ist diesen beiden Veröffentlichungen die anhand von Ausleihstatistiken ermittelte Feststellung, dass unabhängig von sozialen Abstufungen allein die Kategorie des Geschlechts für eine »Übereinstimmung in der Interessenbildung gegenüber dem Buche« ausschlaggebend zu sein scheint, was wiederum »für proletarische und bürgerliche Frauen einheitliche praktische Maß9
Vgl. Starke (1928: 162), Gelderblom (1965: 637): »Als eine der mustergültigen Anstaltsbüchereien in bezug auf die Anschaffung, Kataloge und Leserberatung gilt diejenige der Vereinigten Gefangenenanstalten Waldheim in Sachsen.« 10 Jede Abteilung erhielt einen eigenen, individuell mit einer floralen Schmuckvignette auf der Vorderseite bzw. mit Versen und Sinnsprüchen deutscher Dichter auf der Rückseite gestalteten Zwischentitel. 148
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nahmen der Literaturpflege gestattet« (Hofmann 1931: 108). Es lag nahe, diese vorgefundenen Lektürepräferenzen auch dem geschlechtsspezifischen Auswahlkatalog einer Gefängnisbücherei zu Grunde zu legen. Allerdings überwiegen hier nicht die »phantasiemäßigen Literaturgebiete«, sondern die »praktischen« sowie »theoretisch-belehrenden«. Kennzeichnend für die gesamte Auswahl ist jeweils das »Interesse an Büchern über Frauenschicksal und Frauenaufgaben« (Hofmann 1931: 191, 193). Abbildung 1: Bücherverzeichnis für Frauen 1928 der Bücherei der Vereinigten Gefangenenanstalten zu Waldheim, Umschlag und Titel.
Gerade für diesen letztgenannten Aspekt weist das Waldheimer Verzeichnis von 1928 bemerkenswerte Entsprechungen zu dem erst zwei Jahre später gedruckten Lebenskreisverzeichnis Frauenbücher (1930) auf. Die Untergliederungen der an dritter Stelle des Waldheimer Kataloges aufgeführten Abteilung »Die Aufgaben der Frau« sind nahezu identisch mit den diesbezüglich 1930 formulierten Aufgabenkreisen. Hier wie dort steht mit Elise Kühns Grundzüge[n] der Haushaltungslehre ein weitverbreitetes Koch- und Hauswirtschaftsbuch an erster Stelle (vgl. BfF 1928: 51; Deutsche Zentralstelle für volkstümliches Büchereiwesen 1930: 21). Solche Analogien sind auch für andere Abteilungen des Waldheimer Kataloges festzustellen, wenngleich Auswahl und Anzahl der Titel gegenüber Hofmanns Musterkatalog variieren. Offensichtlich wurde der bereits vorhandene ältere Buchbestand beibehalten und ent-
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sprechend den vom Arbeitskreis für Gefängnisbüchereiwesen erarbeiteten Richtlinien ergänzt. Da die Waldheimer Katalogeinträge lediglich Autor, Titel und Standortsignatur nennen und auf zusätzliche bibliografische Angaben verzichtet wurde, lassen sich im Einzelnen keine Rückschlüsse auf die tatsächlich vorhandenen Auflagen der Bücher ziehen. Diese Beschränkung erlaubte es wiederum, zerlesene oder anderweitig als unbrauchbar erscheinende Exemplare durch eine unter Umständen aktualisierte Neuauflage zu ersetzen, ohne dass der Katalog seine Gültigkeit verlor. Unabhängig von den für die öffentliche Bildungsbücherei erarbeiten Kriterien erfordert freilich die Bestandsentwicklung einer Gefängnisbücherei den Haftumständen angepasste Modifikationen. Unter der Voraussetzung eines progressiv ausgerichteten Strafvollzuges maß etwa Erich Thier dem Buch, welches dem Häftlinge »als Belohnung gegeben« wird, große pädagogische Bedeutung zu. Es erschien ihm gar als »Vertreter einer höheren Lebenssphäre« (Thier 1926: 233). Hier boten Hofmanns Analysen eine hilfreiche empirische Grundlage, um den Buchbestand einer Gefängnisbibliothek den in der Freiheit präferierten Lektüreinteressen dahingehend anzupassen, dass die Befriedigung reiner Leselust gegenüber der literarischen Vermittlung eines Wertesystems in den Hintergrund trat. Bewusst stehen deshalb die »Bücher zur Erbauung und inneren Aufrichtung« (BfF 1928: 134-144) am Ende des Waldheimer Kataloges. Insgesamt entspricht die Katalogredaktion jedoch der von Hofmann für dieses Gruppenverzeichnis aufgezeigten Tendenz, die Buchauswahl auf »die Gebiete der unmittelbaren Lebenspraxis der Hausfrau« zu konzentrieren. Dabei ging es keineswegs allein um die »technische Praxis der Hausfrau«: »Sondern Heim und Familie ist als ›Welt‹, wenn auch als subjektive ›Umwelt‹ der Frau genommen, als Welt, die zwar ihr eigenes Zentrum und ihre eigene Perspektive hat, die aber mit der großen Menschenwelt im Zusammenhang steht, als ›Welt‹, in der sich ein ganzer Mensch, eine ganze Frau bewegen und bewähren kann.« (Hofmann 1931: 204)
Ein derart rollenzentrierter Fokus der Literaturauswahl wurde keineswegs als Zumutung oder Akt patriarchalischer Hegemonie empfunden. Denn einerseits wurde auf diese Weise endlich in praxi das von Hofmann geforderte »Recht der einzelnen Weltanschauungsgruppe auf eine Ordnung des Schrifttums anerkannt, in der sich die Wertordnung der Gruppe ausdrückt« (Hofmann 1931: 207). Andererseits spiegelt sich darin die auf alle sozialen Schichten ausgedehnte Vorstellung von der als
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›natürlich‹ empfundenen, auf Haushalts- und Erziehungsarbeit konzentrierten Bestimmung der Frau (vgl. Schlegel-Matthies 1995: 101 ff.). Abweichungen von diesem Rollenbild, wie sie im Falle straffällig gewordener Frauen anzunehmen waren, galt es also den »Mechanismen des Gesellschaftskörpers« entsprechend zu korrigieren, um hier einen für die »Selbstverständlichkeit des Gefängnisses« in »seiner vorausgesetzten oder geforderten Rolle als Apparat zur Umformung von Individuen« grundlegenden Terminus Michel Foucaults (1977: 297) aufzugreifen. Deshalb wurde im Strafvollzug der Weimarer Republik »insbesondere Wert darauf gelegt, die Frauen mit den Pflichten und Aufgaben der Mutter und den pflegerischen und volkserziehlichen Aufgaben der Familie vertraut zu machen« (Ellering 1928: 360). Neben der Möglichkeit zur Ausbildung, etwa als Plätterin, Näherin oder Schneiderin, beschränkten sich die Tätigkeiten für die weiblichen Gefangenen dann in der Regel vor allem auf »Wäscheflicken, Strümpfestopfen, Hausarbeiten u. dgl.« (ebd.). Solche praktischen Maßnahmen des Erziehungsstrafvollzuges begleitete das Waldheimer Bücherverzeichnis für Frauen mit seiner an den Lebensumständen in Freiheit ausgerichteten Werkauswahl und beförderte somit als ein grundlegendes pädagogisches Instrument die (Re-)Sozialisierung der Straftäterinnen. Doch die dem literarischen Angebot implizierten Wertorientierungen und Handlungsanleitungen trugen nicht nur zur Vermittlung gesellschaftlicher Normvorstellungen bei, sondern zeugen in erster Linie von der ideologischen Verankerung der in Waldheim praktizierten Geschlechterpädagogik. In institutionalisierter Weise übernahm die Gefängnisbibliothek die Aufgabe, im Dienste der Besserung einen Kanon von Texten zu präsentieren, dessen identitätsstiftende Funktion in der Konsolidierung eines weiblich-häuslichen versus männlich-außerhäuslichen Weltbildes beruhte. Bezeichnend für dieses Selbstverständnis ist beispielsweise die Abteilung der »Lebenserinnerungen und Lebensbilder bedeutender Männer und Frauen« (BfF 1928: 131-134). Obwohl es sich hierbei nach Hofmanns Erkenntnissen um »das einzige bei den Frauen dominierende Interessensgebiet« handelt, »mit dem sie [die Frauen; Anm. d. Verf.] an die höchststehenden Gebiete der Männer heranreichen« (Hofmann 1931: 34), sind von den 12 Titeln dieser Rubrik im Waldheimer Katalog lediglich drei Titel Frauen gewidmet worden: Außer den Biografien von Amalie Dietrich und Lilla Gräfin von Rehbinder wurde noch Das Hanneken (1912) von Johanna Wolff, die autobiografische Lebensgeschichte »eines ostpreußischen Mädchens, das zuerst in der Krankenpflege, dann in der Ehe seine Erfüllung findet«, in die ansonsten durch Werke von Bruno Bürgel, Ludwig Richter, Hans Tho-
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ma, Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Hebbel, Friedrich von Bodelschwingh und Gustav Freytag dominierte Auswahl einbezogen.11 Dass es vor allem Männer sind, deren Leben und Wirken den weiblichen Häftlingen Anlass zur Reflexion bieten sollte, macht einmal mehr die dem literarischen Material eingeschriebene Geschlechterhierarchie deutlich. Als Lebensvorbilder spielen selbstständige respektive unverheiratet gebliebene Frauen eine untergeordnete Rolle, oder sie werden, wie es in der Rubrik »Schicksale eheloser Frauen« der Fall ist, entweder auffallend negativ bewertet oder als pflichtbewusste Mutter und Arbeiterin herausgestellt (vgl. BfF 1928: 22-23). (vgl. Abb. 2) Abbildung 2: Bücherverzeichnis für Frauen 1928 der Bücherei der vereinigten Gefangenenanstalten zu Waldheim, Kommentierte Titelaufnahmen mit Bibliothekssignaturen
11 Vgl. Bücherverzeichnis für Frauen (1928: 131-134). 152
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Diese der Frau als naturgegeben abverlangte Identifikation mit ihrer Mutterrolle wurde schließlich auch für die strafrechtliche Behandlung weiblicher Gefangener von Bedeutung. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert widmete die Kriminologie der Frage nach einem Zusammenhang von sexueller und rechtlicher Norm große Aufmerksamkeit. Weibliche Kriminalität wurde dabei als Folge sexueller Anomalie erklärt, die sich in erster Linie aus der Ehelosigkeit sowie der damit verbundenen Verschiebung der geschlechterspezifischen Aufgabenverteilung ergab (vgl. Mischau 1997: 128 ff.; Uhl 2003: 171 ff.). Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen des Ersten Weltkriegs entwickelte sich schließlich ein berufliches und sexuelles Selbstbewusstsein der Frau, welches maßgeblichen Einfluss auf die bestehende Hierarchie der Geschlechter ausübte. Doch die von vielen Frauen nach 1918 gezwungenermaßen übernommene Aufgabe der Alleinverdienerin und der damit einhergehende emanzipierte Lebensstil brachten nicht nur das Frauen- und Mutterideal der wilhelminischen Ära entgültig ins Wanken, sondern stellten auch die Frage nach einer den realen sozialen Verhältnissen angepassten Geburtenregelung verstärkt zur Diskussion. Vor allem der mit dem Reichsstrafgesetzbuch 1871 in den §§ 218-220 festgeschriebene Straftatbestand der Abtreibung bedurfte angesichts der steigenden Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen einer Neuregelung, nicht zuletzt weil der so genannte Klassenparagraf mehrheitlich arme Frauen traf. Ergebnis dieser auf politischer Ebene kontrovers diskutierten Auseinandersetzung war schließlich die am 18. Mai 1926 in Kraft tretende Gesetzesänderung.12 Danach wurde Abtreibung nicht wie bisher mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren beziehungsweise bei mildernden Umständen mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten, sondern nunmehr generell mit Gefängnis bestraft. Damit wurde Abtreibung zwar vom Verbrechen zum Vergehen herabgestuft, wobei das Strafmaß dem richterlichen Ermessen oblag. Jedoch konnten sich weder eine Aufhebung des Abtreibungsverbotes noch eine Fristenlösung durchsetzen, so dass der Straftatbestand grundsätzlich weiterhin aufrechterhalten blieb, womit indirekt auch zu Gunsten traditioneller Rollenvorstellungen argumentiert wurde. Umso bedeutsamer musste es deshalb erscheinen, Frauen, die wegen Abtreibung mit einer Gefängnisstrafe belegt worden und oftmals durch »die Schule der Prostitution gegangen« (Ellering 1928: 359) waren, in geeigneter Form mit den Umständen und Aufgaben der Mütterlichkeit als Beruf und Lebensinhalt der Frau (Gladbach 1915) vertraut zu ma12 1928 waren bereits eine Million Abtreibungen jährlich zu verzeichnen gewesen (vgl. von Behren 2004: 234-325). 153
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chen, um hier den Titel des in der Waldheimer Gefängnisbibliothek eingestellten Buches von Anton Heinen aufzugreifen. Denn »die Erziehung unsrer Töchter zur Mütterlichkeit« wurde offensichtlich nicht nur vom »Verfasser [als] eine der brennendsten Tagesfragen« empfunden, weshalb Heinens Buch Von Mutterleid und Mutterfreud. Zur besinnlichen Lesung für jede, die eine gute Mutter werden will (Günzburg 1918) im Waldheimer Bücherverzeichnis für Frauen sowohl unter der Rubrik »Mutter« als auch unter der Rubrik »Häusliche Erziehung« und nochmals unter den »Bücher[n] der Einkehr und Selbstbesinnung« aufgenommen worden ist. Die Mehrzahl solcher pädagogischen Tendenzliteratur konzentrierte sich jedoch auf die bereits genannte Abteilung »Die Aufgaben der Frau«. Sie beinhaltet unter anderem Bücher zur Säuglings- und Kinderpflege sowie zur Kindererziehung, beispielsweise von Elisabeth Behrend, Antonie Zerwer und Heinrich Schulz, aber auch Karl Baischs Gesundheitslehre für Frauen, mit der die Katalogbearbeiter auf hygienische Aspekte der Mutterrolle abzielten: »Um ihre natürliche Bestimmung erfüllen zu können, muß die Frau gesund sein. Von Jugend auf muß sie ihren Körper bewußt für seine höchsten Aufgaben heranbilden. Dazu gehört ein gewisses Maß von Kenntnissen, das dieses Buch zu vermitteln sich bestrebt.« (BfF 1928: 52)
Vervollständigt wird das aufgezeigte Spektrum der häuslichen Arbeit durch etliche Handarbeitstitel sowie Bücher zur Gestaltung von Wohnung und Garten. Darunter befindet sich neben Paul Bröckers auf die »Bedürfnisse des Arbeiters und Kleinbürgers« zugeschnittenen Darstellung Einfaches Hausgerät. Eine Anleitung zur Möbelwahl (München 1915) bemerkenswerterweise auch Bruno Tauts avantgardistische Konzeption für Die neue Wohnung. Die Frau als Schöpferin (Leipzig 1924). Hinzu kommen acht Titel, welche »Die Stellung der Frau in Wirtschaft und Staat« (BfF 1928: 58-60) zum Thema haben, unter anderem Marie von Bernays’ Die deutsche Frauenbewegung (Leipzig 1920) und Hilde Jende-Radomskis Kompendium der Frauenberufe (3. verb. und erw. Auflage, Dessau 1928), das diverse Berufsarten mit ihren Anforderungen und Ausbildungswegen vorstellt. Oberste Priorität genoss dabei die zweckorientierte Entfaltung individueller Neigungen und Interessen zu Gunsten einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Auch die folgenden Abteilungen des Kataloges mit Werken der Kunst- und Musikgeschichte beziehungsweise Natur- und Heimatkunde verstehen sich als sinnfällige Ergänzung dieser Lebenswelt oder wie Hofmann es aus-
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drückte »als Lebensmächte gleichsam, zu denen von der konkreten Lebenssituation der Frau in Heim und Familie ein unmittelbarer, berechtigter, ja notwendiger Zugang besteht« (Hofmann 1931: 205). In seinen Schwerpunkten liefert das Waldheimer Bücherverzeichnis für Frauen somit das Abbild einer sozialen Ordnung, welche der Frau zwar grundsätzlich das Recht auf Bildung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit, einschließlich der Erwerbstätigkeit zuerkennt, allerdings unter der Voraussetzung, dass die Versorgung von Haus und Familie weiterhin gewährleistet bleibt. In dieser Hinsicht ist die für das Gefängnis Waldheim getroffene Auswahl an Frauenliteratur in erster Linie »Werkzeug-Literatur« (Hofmann 1931: 120). Das heißt, sie bot weniger Gelegenheit zur literarischen Unterhaltung, sondern untermauerte mit ihren auf die Lebenspraxis bezogenen Schwerpunkten den mit dem Strafvollzug verbundenen Bildungs- und Erziehungsanspruch.
IV. B ü c h e r v e r z e i c h n i s E r l e b n i s u n d D i c h t u n g (1931) / Fazit Weitaus weniger gruppen- und geschlechtsspezifisch konzipiert wurde das von der Bücherei der Vereinigten Gefangenenanstalten zu Waldheim 1931 herausgegebene Bücherverzeichnis Erlebnis und Dichtung (vgl. Abb. 3). Es umfasst 144 Seiten und gliedert sich in zwei Teile. Während der zweite Teil die Bücher alphabetisch nach Autoren ordnet, versammelt sie der erste Teil in 13 so genannten Auswahllisten folgender Themen: Liebe und Ehe – Heim und Familie – Der Mensch im Kampf ums Dasein – Entwicklungs- und Weltanschauungsromane – Lebensbeschreibungen und Lebenserinnerungen – Aus der Geschichte – Weltkrieg und Nachkriegszeit – Deutsche Landschaften und Stämme in Wort und Bild – Von fremden Ländern und Menschen – Naturbücher und Tiergeschichten – Märchen, Sagen, Legenden, Volks- und Schwankbücher – Gedichte – Dramatische Dichtungen.13 Zwar stehen auch hier die Bereiche Ehe, Heim und Familie an erster Stelle der Auswahl, beinhalten aber im Wesentlichen andere Titel als noch das drei Jahre zuvor erstellte Gruppenverzeichnis. Auf Fachbücher wurde ebenso verzichtet wie auf die inhaltliche Charakterisierung der Werke. Das von Theodor Fontane über Wilhelm Raabe, Peter Rosegger und Knut Hamsun bis zu Hans Carossa, Leo Tolstoi und Franz Werfel 13 Vgl. BEuD (1931: 99): »Dieses alphabetische Verzeichnis enthält nicht alle im ersten Teil aufgeführten Bücher, nennt aber auch Werke, die in den Auswahllisten nicht verzeichnet sind.« 155
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reichende literarische Spektrum umfasst vor allem Romane und Erzählungen. Auch in den anderen Abteilungen des Kataloges überwiegt diese Art der Literatur, so dass die angeführten Oberbegriffe lediglich eine sachliche Einteilung des Stoffes bieten, ohne dass eine zusätzliche Akzentuierung einzelner Lebensaspekte erfolgte. Eingeführte Rubriken dienen dazu, die Abfolge der Titel nochmals nach geografischen oder chronologischen Gesichtspunkten zu ordnen. Abbildung 3: Bücherverzeichnis Erlebnis und Dichtung 1931 der Bücherei der Vereinigten Gefangenen-Anstalten zu Waldheim, Umschlag und Titel
Insofern erweist sich das Bücherverzeichnis Erlebnis und Dichtung als ein Grundverzeichnis der von Walter Hofmann primär berücksichtigten ›Schönen Literatur‹ (vgl. Hofmann 1922: 32). Überdies enthält es Verweise auf im Waldheimer Gefängnis vorhandene Sonderverzeichnisse zu den Werken von Shakespeare, Lessing, Goethe, Schiller, Heine und Gerhart Hauptmann (vgl. BEuD 1931: 97 f.). Ferner bestand für die Häftlinge die Möglichkeit, »weitere Auswahl-Listen und Büchergruppen [...] auf Wunsch in der Bücherei zusammengestellt« (BEuD 1931: 7) zu bekommen. Demzufolge liegt hier ein bibliografischer Leitfaden vor, der den Gefangenen nach eigenem Belieben Zugriff auf eine Vielzahl weiterer Titel und Sachgruppen ermöglichte. Im Bücherverzeichnis für Frauen unterblieben derartige Hinweise auf den weitaus größeren, über den Auswahlkatalog hinausgehenden
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Buchbestand der Waldheimer Gefängnisbibliothek.14 Es bleibt jedoch fragwürdig, inwieweit den inhaftierten Frauen dieser tatsächlich vorenthalten wurde oder ob ihnen nicht doch noch andere Quellen als das geschlechtsspezifisch angelegte Bücherverzeichnis zur Verfügung standen. In jedem Falle lag die Vergabe solcher Kataloge und Auswahllisten im Ermessen des jeweiligen Bibliothekars, der somit schon im Vorfeld auf die Lektüre der Gefangenen Einfluss nehmen konnte. Seine Person spielte für die Qualität der Ausleihnutzung im Gefängnis die entscheidende Rolle. Obwohl die Anstellung eines ausgebildeten Bibliothekars angestrebt wurde, betreuten die Gefängnisbibliotheken bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts meist die Anstaltsgeistlichen, die Fürsorger oder Lehrer jeweils im Nebenamt (vgl. Arbeitskreis für Gefängnisbüchereiwesen 1927: 158 f.). Die institutionelle Anbindung der Bibliotheksarbeit an diesen pädagogisch erfahrenen Personenkreis beförderte zwar grundsätzlich den Einsatz der Bücher als Bildungs- und Erziehungsinstrument, erforderte aber zugleich eine umfassendere fachliche Schulung. Das »Amt des Buchwartes«, wie Erich Thier (1926: 239) es nannte, orientierte sich an den von Walter Hofmann für das Berufsbild des Volksbibliothekars aufgezeigten Voraussetzungen und Ausbildungswegen (vgl. Hofmann 1927). Im Vordergrund stand die verwaltungstechnische und pädagogische Anleitung der Mitarbeiter, welche in den jährlich von der Deutschen Zentralstelle für volkstümliches Büchereiwesen veranstalteten Kursen für nebenamtliche Bibliothekare erfolgen sollte (vgl. Thier 1926: 239). Auch wenn der Frau im Dienst der volkstümlichen Bücherei zunehmend Beachtung geschenkt wurde, dürfte es sich aber bei den mit der Verwaltung von Gefängnisbibliotheken betrauten Strafanstaltsbeamten in der Regel um Männer gehandelt haben.15 Angesicht der Dominanz männlicher Akteure im Strafvollzug der Weimarer Republik zeugt das nach praktischen Gesichtspunkten der Literaturpflege entworfene Bücherverzeichnis für Frauen von dem ernsthaften Versuch, den emotionalen Bedürfnissen und literarischen Neigungen der sich in der Minderheit befindlichen weiblichen Strafgefangenen zumindest annähernd gerecht zu werden. Allerdings konzentrierte sich die mit dem Lektüreprogramm 14 In Sachsen umfassten die Gefängnisbibliotheken größerer und mittlerer Haftanstalten 1927 durchschnittlich 34.000 Bände (vgl. Starke 1928: 163). 15 Vgl. Hofmann-Bosse (1927), Ellering (1928: 355): »So haben die Anstalten in Berlin, Hamburg und Waldheim weibliche Vorsteher. In Hamburg wird nach der im Augenblick beabsichtigten Einstellung eines weiblichen Arztes ausschließlich weibliches Personal (die Geistliche eingeschlossen) den Dienst an Frauen verrichten.« 157
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angestrebte Erziehung zu eigenverantwortlichem Denken und Handeln auf die Vermittlung rollenstereotyper Geschlechterbilder.
Literaturverzeichnis Arbeitskreis für Gefängnisbüchereiwesen bei der Deutschen Zentralstelle für volkstümliches Bücherwesen (Hg.) (1927): »Richtlinien für die Gefängnisarbeit«, in: Hefte für Büchereiwesen, Jg. 11, H. 3, S. 157-161. Arnold (1932): »Die Bücherei im Strafvollzug«, in: Blätter für Gefängniskunde, Jg. 63, S. 127-152. Behringer, G.* (1926): »Über den Wert der Schule und der Bibliothek für Gefangene«, in: Blätter für Gefängniskunde, Jg. 57, S. 37-55. Bienengräber, Alfred (1875): »Die Wichtigkeit der Bibliothek und deren Handhabungen«, in: Blätter für Gefängniskunde, Jg. 10, H. 5/6, S. 321-337. [Bücherverzeichnis Erlebnis und Dichtung (BEuD), 1931] Bücherei der Vereinigten Gefangenen-Anstalten zu Waldheim (Hg.) (1931): Bücherverzeichnis Erlebnis und Dichtung 1931, Waldheim. [Bücherverzeichnis für Frauen (BfF), 1928] Bücherei der Vereinigten Gefangenenanstalten zu Waldheim (Hg.) (1928): Bücherverzeichnis für Frauen 1928, Waldheim. Büttner, Johannes W. E. (1942): Das Gesundheitswesen und die gesundheitlichen Verhältnisse des Zucht-, Waisen- und Armenhauses und späteren Zucht- und Korrektionshauses in Waldheim (Sachsen) seit seiner Gründung im Jahre 1716 bis 1900, Leipzig. Deutsche Zentralstelle für volkstümliches Büchereiwesen (Hg.) (1930): Frauenbücher. Eine Auswahl unterhaltender, praktischer und belehrender Bücher aus dem Erlebens- und Arbeitsgebiet der Frau. [Bearb. u. a. von Klara Gebert/Elise Hofmann-Bosse], Leipzig (Deutsche Volksbibliographie). Ellering, Elisabeth (1928): »Der Strafvollzug an Frauen«, in: Erwin Bumke (Hg.), Deutsches Gefängniswesen. Ein Handbuch, Berlin, S. 353-362. Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers. von Walter Steiner, Frankfurt/M.
Da es sich um ältere Quellen handelt, ließen sich die Vornamen in einigen Fällen nicht recherchieren.
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Frede, Lothar (1928): »Geistige und seelische Hebung der Gefangenen«, in: Erwin Bumke (Hg.), Deutsches Gefängniswesen. Ein Handbuch, Berlin, S. 294-309. Gelderblom, Gertrud (1965): »Die Gefängnisbücherei«, in: Johannes Langfeldt (Hg.), Handbuch des Büchereiwesens, 2. Halbbd., Wiesbaden, S. 628-652; Deutschland: S. 634-639. Hindberg, Edvard Gudmand August (1866): Berufsthätigkeit des Gefängnißgeistlichen. Ein Handbuch namentlich mit Rücksicht auf die verschiedenen Seelenzustände der Verbrecher, Leipzig. Hofmann, Walter (1922): Der Weg zum Schrifttum. Gedanke, Gestalt, Verwirklichung der deutschen volkstümlichen Bücherei, Berlin (Volk und Geist 2). Hofmann, Walter (1925/26): »Der Katalog der Frau«, in: Hefte für Büchereiwesen, Jg. 10, S. 162-166. Hofmann, Walter (1927): »Die volkstümliche Bücherei. Ihr Sinn, ihr Buch und ihre Bibliothekare«, in: Hans Hofmann (Hg.), Der Volksbibliothekar. Seine Aufgabe, sein Beruf, seine Ausbildung, Leipzig, S. 9-29. Hofmann, Walter (1931): Die Lektüre der Frau. Ein Beitrag zur Leserkunde und zur Leserführung, Leipzig (Leipziger Beiträge zur Grundlegung der praktischen Literaturpflege 1). Hofmann-Bosse, Elise (1927): »Die Frau im Dienst der volkstümlichen Bücherei«, in: Hans Hofmann (Hg.), Der Volksbibliothekar. Seine Aufgabe, sein Beruf, seine Ausbildung, Leipzig, S. 30-51. JVA Münster (2003) (Hg.): Gefangenenbüchereien damals und heute, 1906 und 2003. Sonderausgabe aus Anlass des 150jährigen Bestehens der JVA Münster, Münster. Klein* (1907): »[Rezension zum] Bücherverzeichnis für Gefängnisse, Arbeitshäuser, Korrektionshäuser und ähnliche Anstalten. Heidelberg, Winter, 1906«, in: Der Gerichtssaal, Jg. 70, S. 143-144. Krohne, Karl (1889): Lehrbuch für Gefängniskunde unter Berücksichtigung der Kriminalstatistik und Kriminalpolitik, Stuttgart. Kutsch, Arnulf (2008): Leseinteresse und Lektüre. Die Anfänge der empirischen Lese(r)forschung in Deutschland und den USA am Beginn des 20. Jahrhunderts. Studien zur Frühgeschichte der Bibliothekswissenschaft und der Zeitungskunde, Bremen (Presse und Geschichte – Neue Beiträge 35). Langewiesche, Dieter (1989): »›Volksbildung‹ und ›Leserlenkung‹ in Deutschland von der wilhelminischen Ära bis zur nationalsozialistischen Diktatur«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Deutschen Literatur, Jg. 14, H. 1, S. 108-125.
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Mischau, Anina (1997): Frauenforschung und feministische Ansätze in der Kriminologie. Dargestellt am Beispiel kriminologischer Theorien zur Kriminalität und Kriminalisierung von Frauen, Pfaffenweiler (Frauen im Recht 2). Oelckers, Theodor Hermann (1860): Aus dem Gefängnisleben, Bd. 2, Leipzig. Peschers, Gerhard (2000): »Gefangenenbüchereien als Zeitzeugen. Streifzug durch die Geschichte der Gefangenenbüchereien seit 1850«, in: Maria Perrefort (Hg.), Ketten – Kerker – Knast. Zur Geschichte des Strafvollzugs in Westfalen, Hamm (Notizen zur Stadtgeschichte 5), S. 123-141. Petzholdt, Julius (Hg.) (1878): »Uebersicht der Bibliotheken der Preussischen Straf- und Gefangenen-Anstalten für die Jahre 1875 und 1876«, in: Neuer Anzeiger für Bibliographie und Bibliothekswissenschaft, Jg. 39, H. 10, S. 321-322. Preusker, Karl Benjamin (1840): Ueber öffentliche, Vereins- und PrivatBibliotheken, so wie andere Sammlungen, Lesezirkel und verwandte Gegenstände, Bd. 2, Leipzig. Preusker, Karl Benjamin (1844a): »Gefangenen-Bibliotheken«, in: Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege, Bd. 26 (= Jg. 1844, Bd. 1), S. 376-379. Preusker, Karl Benjamin (1844b): »Büchersammlungen zur Besserung der Gefangenen«, in: Allgemeiner Anzeiger und Nationalzeitung der Deutschen, Sp. 3169-3172. Reichsministerium des Innern (Hg.) (1923): »Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen vom 7. Juni 1923«, in: Reichsgesetzblatt 1923, Tl. 2, Nr. 23, S. 263-282. Röckel, August (1865): Sachsens Erhebung und das Zuchthaus zu Waldheim, Frankfurt. Rommel* (1871): »Von der Einrichtung und Verwendung der Anstaltsbibliotheken«, in: Blätter für Gefängniskunde, Jg. 5, H. 1, S. 1-20. Schlegel-Matthies, Kirsten (1995): ›Im Haus und am Herd‹. Der Wandel des Hausfrauenbildes und der Hausarbeit 1880–1930, Stuttgart (Studien zur Geschichte des Alltags 14). Schnitzer, Claudia (1998): »Prince Liesgen. Eine Hochstaplerin als sächsischer Kurprinz«, in: Bernhard Jahn/Thomas Rahn/Claudia Schnitzer (Hg.), Zeremoniell in der Krise. Störung und Nostalgie, Marburg, S. 17-45. Speck, Wilhelm (1906/07): »Über Gefangenenbibliotheken«, in: Eckart. Ein deutsches Literaturblatt, Jg. 1, H. 8, S. 517-529.
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Starke* (1928), »Die Behandlung der Gefangenen«, in: Erwin Bumke (Hg.), Deutsches Gefängniswesen. Ein Handbuch, Berlin, S. 147177. Thauer, Wolfgang/Vodosek, Peter (Hg.) (1990): Geschichte der öffentlichen Bücherei in Deutschland, 2. erw. Aufl., Wiesbaden. Thier, Erich (1926): »Denkschrift, betreffend die Umgestaltung der Gefängnisbüchereien im Rahmen der allgemeinen Strafvollzugsreform«, in: Hefte für Büchereiwesen, Jg. 10, H. 5, S. 231-245. Uhl, Karsten (2003): Das ›verbrecherische Weib‹. Geschlecht, Verbrechen und Strafen im kriminologischen Diskurs 1800-1945, Münster (Geschlecht – Kultur – Gesellschaft 11). Verein der deutschen Strafanstaltsbeamten (Hg.) (1901): »Gutachten zu der bei der nächsten Vereinsversammlung zur Berathung kommenden Frage: 1. Ist es zulässig, in die Bibliothek für die Gefangenen a) die deutschen Klassiker, b) Romane, eventuell welcher Art, aufzunehmen? 2. Welche Sorte Jugendschriften ist von der Anschaffung für die Gefangenenbibliothek auszuschliessen?«, in: Blätter für Gefängniskunde, Jg. 35, H. 1, S. 74-102. Von Behren, Dirk (2004): Die Geschichte des § 218 StGB, Tübingen (Rothenburger Gespräche zur Strafrechtsgeschichte 4).
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Auch Frauen schreiben dem Strafvollzugsarchiv: Eine quantitative und qualitative Auswertung JOHANNES FEEST
Das Strafvollzugsarchiv ist eine Institution zur Dokumentation von und Aufklärung über Recht und Rechtswirklichkeit in Gefängnissen. Es ist zugleich eine Adresse, an welche Gefangene Fragen, vor allem rechtlicher Natur, richten (vgl. Feest 2005). In dem folgenden Text gehen wir der Frage nach, inwieweit sich die Korrespondenz mit weiblichen Gefangenen quantitativ und qualitativ von der mit männlichen Gefangenen unterscheidet. Grundlage ist eine Durchsicht der Korrespondenz des Strafvollzugsarchivs1 der letzten elf Jahre (1999-2009).
I.
Quantitatives
Eine Auszählung der vollzugsbezogenen2 Briefe an das Strafvollzugsarchiv zeigt, dass nur sehr wenige (3,6 Prozent) von Frauen stammen (Ta 1
2
Unter Mitwirkung von Steffi Ertel, welche das Material für diese Auswertung identifiziert und sortiert hat. Briefe von Gefangenen an das SVA werden überwiegend von Johannes Feest beantwortet. Von Zeit zu Zeit wird er dabei von ehrenamtlichen Helfern unterstützt. Wir vernachlässigen dabei Briefe an das Strafvollzugsarchiv, in denen es um Forschungsarbeiten u. Ä. geht. 163
JOHANNES FEEST
belle 1). Das ist nicht sehr erstaunlich, da Frauen nur zwischen 4 und 5 Prozent aller Gefangenen in Justizvollzugsanstalten (Statistisches Bundesamt 1998: 6; 2008: 5)3 stellen. Tabelle 1: Briefe an das Strafvollzugsarchiv 1999-2009 (nach Geschlecht) Jahr Insgesamt
Insgesamt 4661 (100%)
Von Frauen (%) 169 (3,6 %)
Von weiblichen Gefangenen (%) 70 (1,5 %)
Allerdings kommt mehr als die Hälfte der Briefe an das Strafvollzugsarchiv von nichtinhaftierten Frauen (Tabelle 2). Es handelt sich um Freundinnen oder Vollzugshelferinnen der (meist männlichen) Gefangenen. Umgekehrt kommt es nur äußerst selten vor, dass nichtinhaftierte Männer sich an uns wenden, um Informationen oder Ratschläge für ihre inhaftierten Frauen, Kinder oder Freunde zu erlangen. Tabelle 2: Korrespondentinnen des Strafvollzugsarchivs (1999-2009) Zahl der Briefe Gefangene Angehörige von Gefangenen HelferInnen von Gefangenen Insgesamt
70 66 33 169
Zahl der Schreiberinnen 34 35 22 91
Insgesamt haben wir im Untersuchungszeitraum 70 Briefe von 34 weiblichen Gefangenen erhalten. Häufig ist es bei einer, mehr oder weniger kurzen, Anfrage (und Antwort) geblieben, die zu keiner weiteren Korrespondenz geführt hat. Mit wenigen inhaftierten Frauen haben wir mehr als zwei Briefe gewechselt. Inhaftierte Frauen stellen nur 1,5 Prozent unserer gesamten Korrespondenz. Sie sind damit auch im Vergleich zu ihrem Anteil an der Gefangenenpopulation deutlich unterrepräsentiert. Liegt dies an einem geringeren Bedarf an Rechtsberatung im Frauenvollzug? Haben Frauen andere Möglichkeiten, einen solchen Bedarf zu decken? Oder bevorzugen sie gegenüber der Korrespondenz andere Medien der Kommunikati3
Am 31. März 2008 betrug der Anteil der Frauen 5,3 Prozent, zehn Jahre vorher am 1.1.1998 waren es 4,2 Prozent.
164
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on (etwa das Gespräch)? Soweit es unser Material erlaubt, werden wir im Folgenden diesen Fragen nachgehen. Vorweg noch ein Wort zu den Haftanstalten, aus denen diese Briefe kommen. Es gibt derzeit sechs selbstständige Frauenanstalten (Aichach, Berlin, Frankfurt, Schwäbisch-Gmünd, Vechta, Willich); hinzu kommen etwa 40 Frauenabteilungen innerhalb von Männeranstalten sowie Einrichtungen des Maßregelvollzuges. Post von weiblichen Gefangenen erhalten wir aus vielen, wenn auch keineswegs allen Anstalten (Tabelle 3). Deutlich im Vordergrund stehen zwei der großen selbständigen Frauenanstalten (Aichach und Schwäbisch-Gmünd). Dabei mag es eine Rolle spielen, dass diese Anstalten über eigene Gefangenenzeitungen verfügen, in denen sich gelegentlich Hinweise auf das Strafvollzugsarchiv finden. Allerdings erscheint auch in der Justizvollzugsanstalt für Frauen in Vechta eine solche Zeitschrift, ohne dass dies im Untersuchungszeitraum zu einem entsprechend hohen Briefaufkommen geführt hätte. Tabelle 3: Briefe von weiblichen Gefangenen nach Anstalten (1999-2009) Anstalten JVA Aichach (Bayern) JVA Schwäbisch Gmünd JVA Bremen JVA Gelsenkirchen JVA Willich JVA Dresden JVA Frankfurt JVA Vechta JVA Bielefeld JVA Berlin weitere 3 JVAs 3 Maßregelvollzugskliniken Gesamt
Zahl der Briefe 20
Zahl der Gefangenen 6
12
6
9 6 3 3 2 2 2 1 3
3 1 3 2 1 2 2 1 3
7
4
70
34
Die folgende qualitative Analyse beruht auf einer Durchsicht dieser 70 Briefe.
165
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II.
Qualitatives
Im Strafvollzugsgesetz4 werden Frauen nur in einem einzigen Abschnitt ausdrücklich erwähnt. Dort geht es, unter der Überschrift »Besondere Vorschriften für den Frauenvollzug« ausschließlich um Fragen der Schwanger- und Mutterschaft. Gerade diese Themen kommen in der Korrespondenz mit dem Strafvollzugsarchiv überhaupt nicht vor. Aber natürlich haben Frauen im Vollzug der Freiheitsstrafe auch andere Probleme. In unserer Korrespondenz finden sich Anfragen zu vielen verschiedenen Aspekten des Vollzugsalltags: Arbeit, Behinderung, Disziplinarmaßnahmen, DNA, Entlassungsvorbereitung, Haftraum, Kosmetika, Lockerungen, Pfändung, Stromkosten, Überbrückungsgeld, Urinkontrollen, Wiederaufnahme des Strafverfahrens, Zahnbehandlung. Zum Teil werden auch nur Informationen angefordert. Insoweit unterscheiden sich diese Anfragen nicht von denen männlicher Gefangener. Einige unserer Korrespondentinnen fallen allerdings, auf unterschiedliche Weise, aus dem Rahmen: eine promovierte Psychologin (G1), eine erstinhaftierte 60-Jährige (G2), eine Transsexuelle (G3), eine EU-Ausländerin (G4), eine erstbestrafte und erstinhaftierte Inländerin (Tötungsdelikt) (G5), eine ›lokale Rebellin‹ (G6), eine vierjährig in Untersuchungshaft Einsitzende (G7) und eine hoch Verschuldete (G8). Die promovierte Psychologin schreibt uns in Abständen schon seit 2001, ursprünglich aus dem Strafvollzug, neuerdings aus dem Maßregelvollzug. Zunächst war sie noch in der Lage, ihrer Situation eine intellektuelle Perspektive abzugewinnen: »seit zwei Jahren beobachte und untersuche ich die Gefangenen unter sozialpsychologischen Aspekten«. Neuerdings bittet sie um eine »Beratung über das weitere Vorgehen« bei »Provokationen« durch das psychiatrische Personal (G1). Die erstinhaftierte 60-Jährige schreibt uns erstmals, kurz nach ihrer Verlegung aus der Untersuchungshaft in die Strafhaft. Sie hatte sich schon vorher in der Gefangenenzeitung und als Insassenvertreterin engagiert. In der Untersuchungshaft hatte sie eine Einzelzelle: »nun bin ich gegen meinen Willen in ein anderes Haus in eine Zweibettzelle verlegt worden. […] Das ist mit darauf zurückzuführen, dass ich mich als Insassinnenvertreterin in den letzten Monaten erfolgreich für die Interessen der Gefangenen eingesetzt habe.« (G2)
4
Das gilt auch für die bisher erlassenen Landesgesetze (mit Ausnahme von Hamburg).
166
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Die ›Transfrau‹ ist im nordrhein-westfälischen Männervollzug untergebracht und findet weder beim Arzt, noch beim Pfarrer oder Anstaltsleiter Verständnis für ihren Wunsch nach Geschlechtsumwandlung: »Ich werde hier komplett isoliert und verwahrt. Alle meine Anträge und Einwände scheinen im Papierkorb zu landen« (G3). Die EU-Ausländerin ist seit kurzem Vertreterin der Insassinnen ihrer kleinen Anstalt. Sie ist wegen Drogenhandels verurteilt und fürchtet, abgeschoben zu werden. Primär schreibt sie aber als Insassinnensprecherin: »Mit diesem Schreiben möchte ich Sie bitten, mich in der Ausübung meines Amtes zu unterstützen. Eine große Hilfe wären mir Unterlagen aus dem Strafvollzugsarchiv zum Thema Gefangenenmitverantwortung, aus denen ich etwas zu meinen Aufgaben, Rechten und Pflichten entnehmen kann.« (G4)
Die erstbestrafte, erstinhaftierte Inländerin (Tötungsdelikt) engagiert sich in der Gefangenenzeitung und will sich zur Journalistin weiterbilden. Sie klagt über die Verweigerung von Umschulungsmaßnahmen und kämpft um Lockerungen. Inzwischen ist sie entlassen und arbeitet als freie Journalistin (G5). Die ›lokale Rebellin‹ befindet sich im Gefängnis für zwei Monate wegen Beleidigung. Sie schildert anschaulich, wie sie die ganze Zeit in der Zugangsabteilung verbringen muss, wodurch sie sich härter bestraft sieht als andere: weniger als drei Stunden Aufschluss, ein winziger Hof, keine Teilnahme an Freizeitveranstaltungen, keine Arbeit etc. (G6). Die wegen Mordes angeklagte Frau schreibt uns nach vier Jahren Untersuchungshaft und wünscht sich »aktuelle Gesetzestexte (jünger als 10-15 Jahre alt)«, die sie in der Gefängnisbücherei nicht finden kann. Sie beschreibt sich selbst als »durchsetzungsstark« und als »über eine starke Lobby (Anwälte, Familie)« verfügend. Später gelingt es ihr, von der Mordanklage freigesprochen zu werden (G7). Die Gefangene mit den hohen Schulden bei der Landeskasse will durchsetzen, dass ihre kleineren zweckgebundenen Einzahlungen nicht ständig weggepfändet werden. Inzwischen »bin ich mal wieder zur Insassenvertretung gewählt und kämpfe nun offiziell nicht nur für mich« (G8). Alle diese Frauen zeigen überdurchschnittlich hohe soziale Kompetenz, vielfach auch Engagement für ihre Mitgefangenen. Die Korrespondenz mit dem Strafvollzugsarchiv ist ein Indikator für ihr Interesse an rechtlichen Durchsetzungsmöglichkeiten. Die Bereitschaft, diese zu nutzen, ist jedoch unterschiedlich stark ausgeprägt.
167
JOHANNES FEEST
III. R e c h t s g e b r a u c h o d e r R e c h t s v e r z i c h t In der Literatur (Klein-Schonnefeld 1980: 242) wird darauf hingewiesen, dass Frauen im Umgang mit Recht vielfach aus gutem Grunde Abstinenz, Distanz bzw. Verzicht üben. Kombiniert man diese Dimension mit der oben erwähnten Dimension Kompetenz, dann ergeben sich, stark vereinfacht, vier Grundformen der Reaktion auf (Vollzugs-)Probleme: Tabelle 4: Schaubild: Reaktion auf Vollzugsprobleme
Rechtsabstinenz Rechtsgebrauch
1.
niedrige soziale Kompetenz Hilflosigkeit Querulanz
hohe soziale Kompetenz Verhandlung Rechtsweg
Hilflosigkeit
Aus dem Männer-Strafvollzug erhalten wir nicht selten reine »Jammerbriefe«, die von Resignation und Selbstmitleid geprägt sind. Unter den hier analysierten Briefen von Frauen befindet sich kein einziger solcher »Jammerbrief«. Es spricht jedoch einiges dafür, dass gerade auch in Frauenanstalten ein gerüttelt Maß an Hilflosigkeit und Resignation vorzufinden ist. Das wird unterstrichen durch Äußerungen einiger unserer Korrespondentinnen über ihre Mitgefangenen, z. B.: »Viele Frauen sind unfähig, sich adäquat zur Wehr zu setzen, eine Hilflosigkeit, die oft schamlos ausgenützt wird […] Abgelehnte Anträge werden nicht ausgehändigt um eine Beschwerde auf dem Instanzenzug möglichst zu vermeiden.« (G7) »In dieser Hinsicht gibt es ein gemeinsames Merkmal, insbesondere bei Drogenabhängigen, welchem ich bisher in der Fachliteratur bei der Besprechung der Gefangenenproblematik noch nicht begegnet bin, nämlich das Syndrom der erlernten Hilflosigkeit.« (G1) »In dieser Anstalt gibt es keine Sprechstunde der Leiter. Es ist ein seltenes ›Vergnügen‹, dass ein Gespräch direkt mit der Anstaltsleitung stattfindet. Die Anträge werden von den Frauen oft gestellt, meist vergebens. Viele Frauen können ihre Fragen nicht formulieren, aber sprechen könnten sie.« (G2)
168
AUCH FRAUEN SCHREIBEN DEM STRAFVOLLZUGSARCHIV
2.
Querulanz
Den in der Justizpraxis gängigen Begriff »Querulanz« gebrauchen wir hier, wegen seiner pathologischen Anklänge, zögernd und mit Vorsicht. Wir verstehen darunter den Gebrauch von Beschwerden und Rechtsbehelfen, der zum Selbstzweck zu werden droht und bei dem die rationale Verfolgung von Zielen aus den Augen verloren wird. Das ist im Männervollzug nicht selten der Fall (Feest/Pécic 1985: 46-49). In unserer Korrespondenz mit Frauen haben wir nur wenige Beispiele dafür gefunden. Querulanz muss im Übrigen nicht immer sinnlos sein, vor allem wenn sie strategisch eingesetzt wird. Eine Vielzahl von Beschwerden kann zur Verhandlungsmasse werden, die zur Erreichung von Zielen eingesetzt werden kann. Das erfordert allerdings, dass Prioritäten gesetzt werden.
3.
Verhandlung/Vermittlung
Vermutlich werden gerade im Frauenvollzug viele Probleme informell geregelt. Dies wäre jedenfalls eine Erklärung für die geringe Zahl von Entscheidungen der Strafvollstreckungskammern im Zusammenhang mit weiblichen Gefangenen5 – und auch für die unterdurchschnittliche Häufigkeit der Korrespondenz von weiblichen Gefangenen mit dem Strafvollzugsarchiv. Nur ausnahmsweise und zufällig stoßen wir auf einschlägige Beispiele. So in dem folgenden Fall, in welchem eine Frau nach Rechtskraft ihres Urteils aus der Einzelzelle (Untersuchungshaft) in eine Zweibettzelle (Strafhaft) verlegt wurde. »Ich bin in einer Zweibettzelle untergebracht, die genau so groß und ausgestattet ist wie eine Einzelzelle in diesem Wohnbereich. Zwei Frauen teilen sich nun den Stauraum, der eigentlich für eine Einzelbelegung zur Verfügung steht. Auch die abgetrennte Nasszelle ist für eine Einzelbelegung ausgestattet (Handtuchhaken, Ablagen). Lediglich das Stockbett lässt die Nutzung als Zweierzelle zu. Nun bin ich seit Tagen dem Stress der erzwungenen Gemeinsamkeit mit einer jungen Frau ausgesetzt. Sie ist ca. 30 Jahre alt, ich werde im September 60. Unsere Interessen sind in keinem Bereich deckungsgleich. Was in Anbetracht des Altersunterschiedes logisch ist. Ich habe am nächsten Tag einen Brief an die Anstaltsleitung geschrieben und der Verlegung widersprochen. Nachdem die Anstaltsleitung auf meine Briefe hin nicht reagiert hat, habe ich den für die Anstalt zuständigen Referenten beim JM [Justizministerium] angeschrieben […] Bis heute habe ich auf meine Schreiben keine Reaktion erhal-
5
Vgl. dazu Feest/Lesting/Selling (1997: 47). 169
JOHANNES FEEST
ten. Ich weiß noch nicht einmal, ob die Anstaltsleitung die Schreiben erhalten hat. Können Sie mir mitteilen, was ich tun soll. Ich bin als Redaktionsmitglied unserer Gefangenenzeitung daran interessiert, solche Vorgänge bekannt zu machen und den Frauen zu zeigen, dass nicht alles rechtens ist. Diesmal habe ich den zweifelhaften Vorzug, selbst betroffen zu sein.« (G2)
Die ungewöhnlich gut formulierten und plausibel argumentierenden Briefe waren beigefügt. Wir mussten ihr mitteilen, dass die Zellengröße (9,2 qm Bodenfläche) nach bisheriger Rechtsprechung ein Grenzfall ist und nur ein ungewöhnlich eigenständiger Richter ihr vielleicht Recht geben würde. Die Besonderheiten der Situation müssten allerdings »jeden vernünftigen Anstaltsleiter dazu veranlassen, sich etwas auszudenken«. Normalerweise würden wir in solchen Fällen raten, eine Person des Vertrauens zu bitten, sich beim Anstaltsleiter für eine sinnvolle Lösung einzusetzen. Vielleicht sei ja der von ihr angeschriebene Vertreter der Aufsichtsbehörde die dafür geeignete Person. Nach einem Monat hatte sich immer noch nichts getan: »Der Vertreter der Aufsichtsbehörde hatte nur den Erhalt des Schreibens bestätigt […] und zur Klärung lediglich das Schreiben hierher in die Anstalt geschickt. Mit ihm hatte ich mehrfach als Insassenvertreterin zu tun. Er vermittelt einem das Gefühl seines großen Interesses an den Themen der Gefangenen, allerdings erschöpft sich damit auch sein Wirken. Ich werde trotzdem den Gedanken aufnehmen und ihn bitten, mir als Vertrauensperson beizustehen«.
Zwei weitere Monate später konnte unsere Korrespondentin Erfolg melden; offenbar hatte der freundliche Vertreter der Aufsichtsbehörde erfolgreich interveniert: »Ich freue mich, Ihnen heute in der Situation als Bewohnerin einer Einzelzelle schreiben zu können. Nochmals herzlichen Dank für die immer schnellen Antworten auf meine Schreiben während dieser schrecklichen Wochen der Warterei.«
4.
Rechtsweg
Anfragen zum juristischen Vorgehen stehen im Mittelpunkt der Korrespondenz des Strafvollzugsarchivs. Anträge auf gerichtliche Entscheidung, Rechtsbeschwerden zum Oberlandesgericht (OLG), sogar Verfassungsbeschwerden sind im Männervollzug relativ häufig (Feest/ Lesting/Selling 1997: insbes. 35 ff.). Regelmäßig erhalten wir von Gefangenen positive wie negative Gerichtsentscheidungen zugeschickt. 170
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Im Frauenvollzug ist der formelle Rechtsweg eine Ausnahmeerscheinung. Eine Untersuchung zeigt, dass unter den 195 untersuchten Rechtsbeschwerden von Gefangenen zum OLG, sich keine von einer weiblichen Gefangenen befand (ebd.: 47). Diese Unterrepräsentation von Frauen beim gerichtlichen Rechtsschutz wird auch dadurch bestätigt, dass unter 100 von Gefangenen im Jahre 1988 gegen die Anstalt gewonnenen Gerichtsentscheidungen nur eine einzige von einer Frau erstritten wurde, und auch diese nicht von einer Gefangenen, sondern von einer Vollzugshelferin (ebd.: 46 f.). Die geringe Bedeutung des formellen Rechtswegs kommt in unserer Korrespondenz zum Ausdruck. Nur ein einziges Mal hat eine (anwaltlich vertretene) Gefangene uns eine für sie günstige Entscheidung zugeschickt: »Für mein Wiederaufnahmeverfahren benötigte ich die Unterlagen des Hauspsychiaters. Nachdem mir die Anstalt nur eine Liste der verabreichten Medikamente zur Verfügung stellte und sich hieraus der Verdacht auf grobe Behandlungsfehler ergab, ging ich vor die StVK [Strafvollstreckungskammer]. Diese hat meinen Antrag auf vollständige Einsichtnahme abgelehnt. […] Dem hat nun das OLG München mit Beschluss vom 28.03.01 widersprochen; den entsprechenden Beschluss füge ich Ihnen bei.« (G1)6
Eine andere Gefangene erwägt, nach drei Jahren in Haft, rechtliche Schritte zu unternehmen: »Es ist schlicht erschütternd, was hier unter der Aufsicht der Behörden geschieht. Ich werde das mir zugefügte Unrecht nicht hinnehmen. Es ist mir klar, das ich mich auf einem schwierigen Terrain bewege. Aber es ist mir wichtig, die Tatbestände rechtlich in allen Instanzen klären zu lassen.« (G2)
Der Rechtsweg kann sich manchmal als einzige Möglichkeit darstellen, aus einer anders nicht lösbaren Situation herauszukommen. Das ist etwa bei Transsexuellen (›Transfrauen‹) der Fall, die im Männervollzug wenig Verständnis finden und häufig völlig isoliert werden:7 »Ich wende mich heute an Sie, weil ich sehr verzweifelt bin und es mir nicht gut geht. Ich komme einfach hier in der J.V.A. nicht weiter mit meinem Anliegen auf Behandlung meiner T.S. und auch mein Vollzug ist für mich men6 7
OLG München vom 28.03.2001 – 3 Ws 226/01. Für das Wiederaufnahmeverfahren hat dies allerdings nichts gebracht. Vgl. Transsexuelle im Gefängnis: http://prisonportal.informatik.unibremen.de/knowledge/index.php/Transsexuelle. 171
JOHANNES FEEST
schenunwürdig und deshalb aus meiner Sicht regelwidrig und strafbar. Ich werde hier komplett isoliert und verwahrt. Alle meine Anträge und Einwände scheinen im Papierkorb zu landen. […] Die Anstaltspsychologin sagte zu mir, ich solle mit dem Blödsinn (T.S.) aufhören, die Ordnung der Anstalt würde gestört werden. Ich dachte, ich höre nicht richtig. Herr Professor, ich gebe mich äußerlich als Frau, das heißt, ich bin jeden Tag geschminkt und habe einen künstlichen Busen. Ich bin für Gefangene u. Beamte ein rotes Tuch und werde schikaniert und diskriminiert. […] Ich habe nun lang genug gewartet auf eine Lösung seitens der Anstaltsleitung. Die Regeln des Vollzuges werden in meinem Fall mehrfach missachtet und ich möchte nun selbst rechtliche Schritte einleiten! Es wäre sehr schön, wenn Sie mir die einzelnen Schritte aufzeigen könnten.« (G3)
Anders als bei den Männern, bleibt es jedoch häufig bei diesen Erkundigungen und Ankündigungen. Wir kennen (abgesehen von »politischen Gefangenen«) nur eine einzige Frau, die sich nachhaltig juristisch gegen die Behandlung durch die Anstalt gewehrt hat.8 Sie hatte schon in der Untersuchungshaft eine Vielzahl von Dienstaufsichtsbeschwerden erhoben und war in der Strafhaft zu Anträgen auf gerichtliche Entscheidung übergegangen. Zusätzlich war sie auch an die Öffentlichkeit gegangen und hatte auf ihre zum Teil grotesken Erfahrungen im Strafvollzug hingewiesen. Zweifellos galt sie in der Anstalt und beim Gericht als Querulantin. Allerdings hatte der zuständige Richter ihr letztlich eine vorzeitige Entlassung angeboten, im Gegenzug zur Rücknahme sämtlicher noch laufenden Anträge. Wir haben den Fall in anderem Zusammenhang ausführlich dargestellt (Feest/Lesting/Selling 1997: 170-182).
IV. F a z i t Das in der Vollzugsliteratur übliche Bild, wonach Frauen sich im Vollzug angepasster verhalten als Männer und »um ein gutes Auskommen mit dem Vollzugspersonal« (Haverkamp 2009: 229) bemüht sind, scheint sich in der Unterrepräsentation von Frauen in der Korrespondenz des Strafvollzugsarchivs zu bestätigen.
8
Aufgrund von Veröffentlichungen in der alternativen Knastzeitschrift »Durchblick« war das Strafvollzugsarchiv auf sie aufmerksam geworden und hatte ihr am 29.5.1986 »Musterbegründungen« zum Komplex Briefkontrolle übersandt. Nach ihrer Entlassung überbrachte sie uns einen Ordner mit ihren gesammelten Beschwerden und Anträgen auf gerichtliche Entscheidung.
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Der qualitative Teil unserer kleinen Untersuchung lässt jedoch ahnen, dass dieser erste Eindruck nur einen Teil der Realität des Frauenvollzugs abbildet. Gerade auch dort finden sich Frauen, die aus der traditionellen Rolle fallen und den Konflikt mit der Institution nicht scheuen. Ob das Recht und der gerichtliche Rechtsschutz sich dafür eignen, Schutz vor einer übermächtigen Institution zu bieten, kann allerdings nur im konkreten Einzelfall beurteilt werden. Dementsprechend groß ist gerade auch im Frauenvollzug der Bedarf an Rechtsberatung (Alder/Brandt/Schäfer/Theison 1999).
Literaturverzeichnis Alder, Simone/Brandt, Verena/Schäfer, Manuela/Theison, Gillian (1999): »Rechtsberatung im Frauenstrafvollzug«, in: Verein für Rechtshilfe im Justizvollzug des Landes Bremen e.V. (Hg.), Jahresbericht 1998, Bremen, S. 9-15. Feest, Johannes (2005): »Strafvollzugsarchiv: Rückblick, Einblick, Ausblick«, in: Sven Burkhardt/Christine Graebsch/Helmut Pollähne (Hg.), Korrespondenzen in Sachen: Strafvollzug, Rechtskulturen, Kriminalpolitik, Menschenrechte, Münster, S. 276-286. Feest, Johannes/Lesting, Wolfgang/Selling, Peter (1997): Totale Institution und Rechtsschutz. Eine Untersuchung zum Rechtsschutz im Strafvollzug, Opladen. Feest, Johannes/Pécic, Denis (1985): »Querulanz im Gefängnis«, in: Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerechte und Gesellschaftspolitik, Jg. 24, H. 2, S. 46-49. Haverkamp, Rita (2009): »Geschlechtsspezifische Merkmale und Behandlung von Frauen im Strafvollzug«, in: Forum Strafvollzug. Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe, Jg. 58, H. 5, S. 227230. Klein-Schonnefeld, Sabine (1980): »Recht und Rechtsanwendung«, in: Dietlinde Gipser/Marlene Stein-Hilbers (Hg.), Wenn Frauen aus der Rolle fallen, Weinheim, S. 231-243. Statistisches Bundesamt (1998): Fachserie 10, Reihe 4.2, Wiesbaden. Statistisches Bundesamt (2008): Bestand der Gefangenen und Verwahrten in den deutschen Justizvollzugsanstalten, 31. März 2008, Wiesbaden.
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G ESCHLECHT UND S TRAFRECHT IM NS-S TAAT
»Als völlig unpolitisch eingestellte Frau war ihr [...] die Organisation selbst recht gleichgültig« – die Urteilspraxis des Volksgerichtshofs in geschlechtergeschichtlicher Perspektive KAREN HOLTMANN
I.
Einleitung
Anfang Juli 1944 gelang es der Geheimen Staatspolizei, eine der wichtigsten und größten kommunistischen Widerstandsgruppen im Dritten Reich aufzudecken und zu zerschlagen. In der von Anton Saefkow, Franz Jacob und Bernhard Bästlein geleiteten Organisation hatten sich in Berlin und Brandenburg in den Jahren 1943 und 1944 über 500 Personen gegen das NS-Regime engagiert. Unter den namentlich bekannten 425 Mitgliedern, die Ursel Hochmuth in ihrem Buch zusammengestellt hat, waren 103 Frauen (Hochmuth 1998: 105). Gegen 223 Angehörige (186 Männer und 37 Frauen) der SaefkowJacob-Bästlein-Gruppe erhob die Reichsanwaltschaft Anklage wegen Vorbereitung zum Hochverrat oder wegen Beihilfe zu dieser Straftat. Schließlich mussten sich zwischen September 1944 und Februar 1945 197 Personen vor den Richtern des Volksgerichtshofs verantworten. Betrachtet man die Urteile, fällt das Missverhältnis zwischen Frauen und Männern auf. Obwohl ein Viertel der Angehörigen der Organisation weiblich war, machte der Frauenanteil bei den Anklageerhebungen nur
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KAREN HOLTMANN
ein Sechstel aus. Noch deutlicher wird die ungleiche Verteilung zwischen den Geschlechtern bei den Verurteilungen zum Tode. Dort lag der Frauenanteil bei knapp 4 Prozent (ebd.: 107). Eine Erklärung für dieses Ungleichgewicht scheint auf den ersten Blick offensichtlich: Das Handeln in oder die Unterstützung der Widerstandsgruppe von Frauen wurde von der Justiz als weniger gefährlich für den Staat eingestuft als die Aktivitäten der Männer. So gelangten die Richter in dem Prozess gegen Gertrud Temlitz, für die der Oberreichsanwalt wegen Vorbereitung zum Hochverrat, Feindbegünstigung und Wehrkraftzersetzung die Todesstrafe beantragt hatte, laut Urteil »nicht zu der Überzeugung […], daß sie […] die Tat als eigene gewollt hat«. Die »politisch völlig unerfahrene Angeklagte« habe dem kommunistischen Funktionär Franz Jacob nur aus »Mitleid« Unterkunft gewährt. Außerdem erlaubte sie dessen Widerstandsgruppe nur aus »gutem Glauben« die Aufstellung einer Druckmaschine im Keller ihres Hauses, denn: »Als völlig unpolitisch eingestellte Frau war ihr, wie ihr geglaubt werden kann, die Organisation selbst recht gleichgültig. Zudem handelte sie nicht auf eigenen Entschluß, sondern auf Verlangen des mit ihr befreundeten Funktionärs.« (VGH 1944b: 10 f.)
Aus diesen Gründen hielten es die Richter für ausreichend, die Angeklagte nicht als Täterin zum Tode, sondern ›nur‹ als Gehilfin von Franz Jacob zu sechs Jahren Zuchthaus zu verurteilen. Die Urteile des Volksgerichtshofs scheinen der Meinung des Historikers Ian Kershaw recht zu geben, wonach im Nationalsozialismus »der Dissens der Frauen meistens mit Widerstand oder politischer Opposition wenig zu tun hatte« (Kershaw 1985: 789). Durch die Definition von Widerstand als eine »spezifische Form der Auseinandersetzung innerhalb eines Herrschaftsverhältnisses« (Hüttenberger 1977: 122) ist dieser eng mit dem Bereich des Politischen verbunden. Seit jeher wurden Politik und Öffentlichkeit primär mit Männlichkeit gleichgesetzt, während man(n) Frauen den privaten, unpolitischen Bereich von Haushalt und Familie zuordnete (Hausen 1976: 363 ff.; Frevert 1995: 61 ff.; Appelt 1999). So fanden Frauen, wenn überhaupt, in der Widerstandsforschung nur am Rande als »stille Helferinnen« (Hervé 1997: 81) ihrer Ehemänner, Freunde oder Brüder Erwähnung, die in der Illegalität versorgende und unterstützende Tätigkeiten übernahmen. Als selbstständig politisch Handelnde wurden sie jedoch selten wahrgenommen.
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DIE URTEILSPRAXIS DES VOLKSGERICHTSHOFS
Aber waren die oppositionellen Tätigkeiten der Frauen für das Funktionieren der Widerstandsorganisation wirklich von untergeordneter Bedeutung? Oder spielten, vor allem vor dem Hintergrund traditioneller Geschlechtervorstellungen, bei der Aburteilung von Frauen noch andere Faktoren eine Rolle? Profitierten die weiblichen Angehörigen der Saefkow-Jacob-Bästlein-Gruppe in den gegen sie angestrengten Strafverfahren von dem Geschlechterstereotyp der ›unpolitischen Frau‹ und erhielten sie geringere Strafen, weil sie von der männlichen Richterschaft für ihr oppositionelles Handeln nicht selbst verantwortlich gemacht wurden? Im Folgenden soll anhand der Widerstandsorganisation um Saefkow, Jacob und Bästlein aufgezeigt werden, welchen Einfluss das Geschlecht der Angeklagten bei der Deutung und Sanktionierung von oppositionellem Verhalten durch den Volksgerichtshof hatte.1 Eine Analyse der Hochverratsverfahren gegen diese Gruppe bietet sich zum einen aufgrund des hohen Frauenanteils an und zum anderen aufgrund der Vielzahl verschiedener Quellen, die Auskunft über die Selbst- und Fremdbilder der Gruppenmitglieder geben. Für die vorliegende Studie wurden 36 Verfahrensakten des Volksgerichtshofs aus den über 70 dem Komplex »Saefkow und Andere/KPD Berlin/Nationalkomitee ›Freies Deutschland‹« zugeordneten Prozessen ausgewertet, die von den Vernehmungen durch die Gestapo, den Anklagerhebungen durch die Oberreichsanwaltschaft beim Volksgerichtshof, der Hauptverhandlung vor Gericht samt Urteilssprechung bis hin zum Gnadengesuch das gesamte Strafverfahren dokumentieren. In diesen 36 Hochverratsprozessen wurden 95 Männer und 30 Frauen abgeurteilt. Der Fragestellung der Arbeit entsprechend wurden zunächst die 23 Akten in das Sample aufgenommen, in denen eine oder mehrere der angeklagten Personen eine Frau war. Hinzu kamen 13 Akten, in denen nur 1
Neben dem Geschlecht der Angeklagten spielten weitere Faktoren wie Umfang und Nachweisbarkeit der ›staatsfeindlichen‹ Handlung und die Position der Angeklagten im Organisationsgefüge als Funktionär/in, Mittäter/in oder Sympathisant/in, sowie Vorstrafen, Verhalten vor Gericht und Umfang des Geständnisses eine Rolle. Auch Aspekte wie familiäre Herkunft der Angeklagten, ihre privaten und beruflichen Verhältnisse, allgemeine und lebensgeschichtliche Erfahrungen, politisches Engagement sowie ihre mentale, emotionale und körperliche Verfassung beeinflussten die Strafzumessung. Zudem trafen in den Hauptverhandlungen vor Gericht Personen aus unterschiedlichen sozialen Gruppen aufeinander. Während die Richter in der bürgerlichen Mittelschicht sozialisiert wurden, stammten die Angeklagten vorwiegend aus der Arbeiterschaft und sympathisierten mit dem Kommunismus. Zum kritischen Umgang mit der Quelle ›Hochverratsakte‹ siehe Holtmann (2010: 26 ff.). 179
KAREN HOLTMANN
gegen Männer Anklage erhoben wurde. Auf diese Weise sollte ansatzweise gewährleistet werden, dass der Frauenanteil in den für diese Arbeit ausgewählten Hochverratsprozessen in etwa der Quote an weiblichen Angehörigen in der Saefkow-Jacob-Bästlein-Gruppe entsprach. Um die von Klaus-Michael Mallmann kritisierte »Polizeiperspektive des Hochverrats« (Mallmann 1994: 117), die die Verwendung nationalsozialistischer Gerichtsakten mit sich bringt, aufzubrechen, wurde für die vorliegende Arbeit auch auf autobiografische Zeugnisse, Nachlässe und persönliche Dokumente der Angehörigen der Widerstandsorganisation selbst zurückgegriffen. Diese stammen zum Großteil aus der Sammlung des Zentralen Parteiarchivs (ZPA) des Instituts für MarxismusLeninismus (IML) beim Zentralkomitee der SED, das heute der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin (SAPMO-BArch) zugeordnet ist. Ein Teil der Erinnerungsberichte und persönlichen Dokumente wurde mir freundlicherweise von Frau Ursel Hochmuth, Tochter der Regimegegnerin Katharina Jacob, ehemals Hochmuth, und Stieftochter von Franz Jacob, aus ihrer privaten Sammlung zur Verfügung gestellt. Um herauszuarbeiten, dass oppositionelles Handeln von Frauen und Männern von den Gestapo-Beamten, den Reichsanwälten und Richtern wahrgenommen und gedeutet wurde, auf welche Weise sich diese Zuschreibungen auf die Rechtspraxis auswirkten, und wie sich die Mitglieder der Widerstandsgruppe selbst darstellten, wurden die Quellen mittels eines mikroperspektivischen Ansatzes und eines diskursanalytischen Vorgehens detailliert analysiert. In diesen Dokumenten machten die verschiedenen Akteurinnen und Akteure der Strafverfahren aus unterschiedlichen Perspektiven, Rollen und Handlungsmöglichkeiten heraus Aussagen über die Angehörigen der Widerstandsgruppe, bzw. über sich selbst (Landwehr 2004, Sarasin 2003, Foucault 1991).2 Im Folgenden wird zunächst ein kurzer Überblick über das politische Strafrecht des Nationalsozialismus gegeben, bevor die Rechtsprechung des Volksgerichtshofs und die Verteidigungsstrategien der Angeklagten näher analysiert werden.
2
Vgl. ausführlich Holtmann (2010: 19 ff.).
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DIE URTEILSPRAXIS DES VOLKSGERICHTSHOFS
II.
Das politische Strafrecht des Nationalsozialismus
Die weit gefassten gesetzlichen Vorschriften zu Hoch- und Landesverrat, die die Nationalsozialisten aus der Weimarer Republik übernahmen und gleich nach ihrer Machtübernahme verschärften, ließen fast keine oppositionelle Verhaltensweise straflos. Da Hochverrat von den Gesetzgebern als Kollektivdelikt angesehen wurde, reichte selbst die einmalige Spende eines geringen Geldbetrags aus, um als Förderung kommunistischer Bestrebungen und damit als Beihilfe zur Vorbereitung zum Hochverrat zu gelten. Selbst die Unterlassung einer Anzeige in Hoch- und Landesverratssachen konnte in schweren Fällen mit der Todesstrafe geahndet werden (Wagner 1974; Werle 1989). Spätestens nach Beginn des Zweiten Weltkriegs sollte in den Strafprozessen vor Gericht weniger geprüft werden, ob die Beschuldigten gegen ein Gesetz verstoßen hatten, sondern ob sie noch zur ›Volksgemeinschaft‹ gehörten oder nicht. Maßgeblich für die Strafzumessung war nicht mehr der äußere, objektive Tatbestand, also das tatsächliche und beweisbare Handeln einer Person bei einer ihr zur Last gelegten Tat. Zum Kernelement von ›Schuld‹ einer oder eines Angeklagten wurde der innere, subjektive Tatbestand und damit, wie Roland Freisler betonte, die »Stärke [des] bösen Willens und seiner Auflehnung gegen die Gemeinschaftspflicht« (Freisler 1936: 51). Eine Bestrafung erfolgte beim so genannten ›Willensstrafrecht‹ nicht erst bei der vollendeten Tat, sondern »sobald der verbrecherische Wille irgendwie in Erscheinung getreten ist« (ebd.: 14). Bereits das Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafrechts und des Strafverfahrens vom 24. April 1934 (RGBl. 1934: I: 341 ff.), das die bestehenden Vorschriften über Hoch- und Landesverrat neu regelte, hatte unter § 87 den unternommenen ›Versuch‹ mit der ›Vollendung‹ des Hochverrats gleichgesetzt und dadurch die Strafbarkeit dieses politischen Delikts vorverlagert auf eine nicht vollendete Tat. Die Bewertung des inneren Tatbestands, also die Einschätzung des verbrecherischen Willens, unterlag allein der subjektiven Bewertung durch die Richter. Aus diesem Grund konnte eine Handlung, die im Sinne der Nationalsozialisten der Vorbereitung zum Hochverrat diente, einmal mit dem Tode bestraft werden, ein anderes Mal aber nur mit Gefängnis oder Zuchthaus. Entscheidend war, ob die Richter der beschuldigten Person einen Täterwillen zusprachen oder sie ›nur‹ als Gehilfen ansahen. In Abgrenzung zum Täter wollte der Gehilfe laut Strafgesetzbuch »die Haupttat des anderen nur ›unterstützen‹ und deshalb seinen
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KAREN HOLTMANN
Willen dem des Täters ›unterordnen‹« (Mezger 1944: 337).3 Die Strafzumessung bei wegen Beihilfe verurteilten Personen war variabler und lag in den Strafverfahren gegen die Saefkow-Jacob-Bästlein-Gruppe zwischen sechs Monaten Gefängnis und zehn Jahren Zuchthaus.4 Eine wegen Hochverrats verurteilte Täterin oder ein verurteilter Täter dagegen galt als ›Volksverräter‹ und wurde grundsätzlich durch Todesurteil aus der ›Volksgemeinschaft‹ ausgeschlossen.
III. D i e R e c h t s p r e c h u n g g e g e n die Saefkow-Jacob-Bästlein-Gruppe Ein Großteil der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Anton Saefkow, Franz Jacob und Bernhard Bästlein stand wegen Vorbereitung zum Hochverrat, teilweise in Tateinheit mit Landesverrat und/oder Wehrkraftzersetzung, vor Gericht. Die Juristen verurteilten gut 57 Prozent der Frauen, aber nur 24 Prozent der Männer wegen Beihilfe. Als Täterinnen oder Täter identifizierten die Richter dagegen 45 Prozent der männlichen, aber nur 10 Prozent der weiblichen Angeklagten. Außerdem wurden 23 Prozent der Mitarbeiterinnen, aber nur 4 Prozent Mitarbeiter von dem Vorwurf der Vorbereitung zum Hochverrat freigesprochen. Ein Freispruch erfolgte dann, wenn die Beweise für eine Verurteilung nicht ausreichten und die Richter Zweifel hatten, ob die beschuldigten Personen die ›hochverräterischen‹ Absichten der Saefkow-Jacob-BästleinGruppe erkannt hatten. Zwar war der Anteil der Frauen an unterstützenden Tätigkeiten im Widerstand im Vergleich zu den Männern, wie die Auswertung der Handlungen der Angehörigen des Verbundes zeigt, überproportional hoch. Dennoch gingen die Aktivitäten der Mitarbeite3
4
Die Richter bezogen sich auf die »extrem-subjektive Theorie«, die bei »Unterordnungsverhältnissen« und mangelndem Eigeninteresse des TatAusführenden auch denjenigen nur als Gehilfen bestrafte, der in eigener Person den gesetzlichen Tatbestand voll verwirklicht hatte (vgl. Wessels/Beulke 2009: 186). Grundlage war eine Entscheidung des Reichsgerichts von Februar 1940, der so genannte »Badewannenfall«. Eine Frau hatte auf Verlangen ihrer Schwester deren Kind in der Badewanne ertränkt, und wurde dafür vom Landgericht Trier wegen Mordes zum Tode verurteilt. Das Reichsgericht hob dieses Urteil mit der Begründung auf, dass die Frau die Tat nicht als eigene wollte und ›nur‹ auf Verlangen der Mutter tätig geworden war (RGSt 74: 84). Die Höchstdauer der zeitlichen Haft lag für Gefängnisstrafen nach § 16 StPO bei fünf Jahren, die bei der entehrenden Zuchthausstrafe gemäß § 14 StPO bei 15 Jahren, wenn nicht auf eine lebenslange Zuchthaushaft erkannt worden war.
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rinnen über ›frauenspezifische‹ Tätigkeiten hinaus und in einigen Handlungsbereichen waren Männer und Frauen gleich aktiv (Holtmann 2010: 56 ff.). Vor dem Hintergrund, dass die männlichen und weiblichen Mitglieder der Organisation vielfach die gleichen Tätigkeiten im Widerstand ausgeübt hatten, wäre zu erwarten gewesen, dass die Angeklagten für ihre Taten auch die gleichen Strafen erhielten. Die Analyse der Urteile führte jedoch zu einem anderen Ergebnis: Frauen wurden wesentlich häufiger als Männer nur wegen Beihilfe verurteilt oder sogar freigesprochen – obwohl ihnen vor Gericht die gleichen Taten nachgewiesen werden konnten. Während Männer für ihre Handlungen im Widerstand als Täter mit dem Tode bestraft wurden, erhielten Frauen häufiger als Gehilfinnen nur Zuchthaus- oder Gefängnisstrafen. Die Gründe für diese unterschiedlichen Urteile trotz gleicher Tathandlungen liegen darin, dass die Rechtsprechung des Volksgerichtshofs nicht unerheblich von geschlechtsspezifischen Wahrnehmungen, Zuschreibungen und Deutungen beeinflusst war. Ein Handeln von Frauen im Widerstand aus rein politischem Interesse schienen die Richter in den Hochverratsverfahren gegen die SaefkowJacob-Bästlein-Gruppe kategorisch in Zweifel zu ziehen. Die Involvierung der weiblichen Angeklagten in die konspirative Arbeit der Organisation erklärten die Juristen mit unterschiedlichen Tatversionen: Handeln als Liebesdienst oder aus sexueller Hörigkeit, Verführung durch kommunistische Funktionäre sowie persönlich-mitmenschliche Tatmotive. Die Richter waren bei den Akteurinnen eher geneigt, die beteuerte Unwissenheit über die Existenz einer Widerstandsgruppe als wahrscheinlich anzunehmen und begründeten das mit der vermeintlichen mangelnden Intelligenz von Frauen. In der Regel griffen die Richter zur Rechtfertigung, warum Frauen im Gegensatz zu Männern nur als Gehilfinnen einzuordnen oder freizusprechen waren, auf mehrere Erklärungsmuster für ihre Involvierung in die illegale Arbeit zurück. In der emotionalen Verbundenheit zum Ehemann oder Geliebten sahen die Richter das dominanteste Tatmotiv für das Handeln von Frauen im Widerstand. Den »nicht zu einer aktiven politischen Betätigung« neigenden Angeklagten Luzie Nix und Vera Wulff sprachen die Juristen politische Motive für ihr Engagement in der Saefkow-Jacob-BästleinGruppe ab – obwohl die Richter wussten, dass beide Frauen vor 1933 in der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) aktiv gewesen waren. Der »Ausgangspunkt für die Straftat der Angeklagten« war laut Urteil »das enge Verhältnis« zwischen Luzie Nix und Bernhard Bästlein, sowie die
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»persönliche Bekanntschaft« von Vera Wulff zu Willi Jungmittag (VGH (1944h: 2rff.). Margarete Schönian und Anna Röder wurden beschuldigt, durch Geldzahlungen kommunistische und feindbegünstigende Bestrebungen gefördert zu haben. Bei beiden Frauen lag die Vermutung nahe, dass sie die Saefkow-Jacob-Bästlein-Gruppe aus politischen Motiven unterstützt hatten, zumal Schönian bereits wegen »kommunistischer Betätigungen« vorbestraft war. Trotzdem hatte der Volksgerichtshof »nicht bedenkenfrei feststellen [können], daß sie eigene kommunistische Gewaltziele verfolgt haben. Die Angeklagten Schönian und Röder waren den Männern sexuell hörig« (VGH 1944e: 26). Auf welche Anhaltspunkte die Richter die Annahme sexueller Hörigkeit stützten, blieb unklar, da weder im Urteil noch in den Verhören oder in der Anklageschrift von privaten Beziehungen zwischen den beschuldigten Personen die Rede war. Scheinbar unterstellten die Juristen den Kommunistinnen eine freizügige Sexualmoral (vgl. Herzog 2005: 24 ff.). Frieda Skamira erhielt wegen unterlassener Anzeige ›nur‹ ein Jahr Gefängnis, weil sie nach Meinung der Richter politisch uninteressiert war und sich als Ehefrau dem Willen ihres Mannes gefügt hatte. Die Strafe wurde als »ausreichend angesehen, weil sie ihren Mann liebte und [sich] durch die von ihr erkannte Anzeigenpflicht mit schweren Folgen für ihren Mann einerseits und durch ihre Gattenliebe andererseits in einem schweren seelischen Konflikt befunden hat.« (VGH 1944f: 9 f.).
Ob die Richter des Volksgerichtshofs in Frieda Skamira auch lediglich die unpolitische und liebende Ehefrau gesehen hätten, wenn ihnen bekannt gewesen wäre, dass sie KPD-Mitglied war und sich bereits kurz nach der Machtübernahme gegen das NS-Regime engagiert hatte, ist allerdings fraglich. Denn die Mitgliedschaft in politischen Parteien werteten die Richter in der Regel als Nachweis für ein Handeln mit Täterwillen und kommunistische Wiederholungstäterinnen und -täter wurden generell schärfer bestraft. Im Fall von Charlotte Kratzsch und Margarete Wald erkannten die Richter zwar an, dass die beiden Angeschuldigten aufgrund ihrer Familienverhältnisse, beide waren mit inhaftierten Kommunisten verheiratet, an die Unterstützung eines Funktionärs »gedacht haben mögen«, »ein sicherer Schuldbeweis« sei allerdings nicht zu führen gewesen. Besonders vor dem Hintergrund, dass Margarete Wald bereits wegen Vorbereitung zum Hochverrat vorbestraft und als ehemaliges Mitglied der SAJ poli-
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tisch vorbelastet war, überraschte die Bewertung der Richter, dass die Frauen »ausschließlich aus Gefälligkeit« und »aus Freundschaft« in der Saefkow-Jacob-Bästlein-Gruppe aktiv geworden seien. Die Verurteilung zu drei Jahren Zuchthaus wegen Beihilfe zur Wehrkraftzersetzung blieb unter den vom Oberreichsanwalt geforderten sechs bis sieben Jahren Haft (VGH-Hauptverhandlungsprotokoll vom 19.10.1944, BArchB, NJ 1535, Bd. 1, Bl. 19). Die Richter argumentierten, dass der von den Frauen besorgte Wehrmachtsausmusterungsschein für Franz Jacob nicht zu gebrauchen gewesen war. Die Erfolglosigkeit der Anwerbungsversuche neuer Mitglieder durch Willi Heinze spielte bei seiner Verurteilung zum Tode dagegen keine Rolle. Ausschlaggebend für das Urteil gegen ihn war ausschließlich »der durch die Ausführungshandlung klar zutage getretene verbrecherische Wille« (VGH 1945: 30 f.). Bei Charlotte Kratzsch, die nach Annahme der Juristen »selbst einer politischen Partei niemals angehört« hatte, war dagegen »der Wille der Angeklagten nicht nachweisbar auf die Unterstützung kommunistischer Umtriebe gerichtet gewesen« (VGH 1944c: 2 ff.). Vergleicht man die Urteile gegen männliche und weibliche Angeklagte, die wegen Beihilfe oder unterlassener Anzeige bestraft oder vom Tatverdacht freigesprochen wurden, fallen die unterschiedlichen Begründungen auf, die den Entscheidungen des Volksgerichtshofs zugrunde lagen. Generell verfuhren die Juristen unabhängig vom Geschlecht bei der Urteilsbegründung sorgfältig. Trotzdem ist auffällig, dass bei Frauen wesentlich ausführlicher erklärt wurde, aus welchen Gründen sie im Widerstand aktiv geworden waren, und warum sie trotz gleicher Tathandlungen nur wegen Beihilfe und deshalb milder zu bestrafen waren – selbst bei Delikten, die bei Männern die Todesstrafe nach sich zogen. Die von den männlichen Angeklagten vorgebrachten Rechtfertigungen für ihr illegales Handeln berücksichtigten die Richter nur bei geringen Delikten. Dagegen führten bei drei Frauen die von ihnen vorgebrachten Tatversionen zum Abweichen der Richter von der durch die Oberreichsanwaltschaft beantragten Todesstrafe. Die Ursache für diese geschlechtsspezifischen Urteilsfindungen liegt darin, dass die Richter bei weiblichen Beschuldigten ein Handeln mit Täterwillen eher bezweifelten als bei Männern. Für die Frauen wirkte sich bei der Beurteilung unter anderem die Rechtslehre vom »absichtlosen dolosen5 Werkzeug« positiv aus. Schönke führte dazu aus:
5 Von lateinisch »arglistig«, »vorsätzlich«, »heimtückisch«, »auf Täuschung bedacht«. 185
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»Läßt ein Mann durch seine Frau Sachen unter Umständen fortschaffen, die den Tatbestand des § 1376 erfüllen, so ist der Mann als mittelbarer Täter zu bestrafen, wenn die vorsätzlich handelnde Frau nur den Gehilfenvorsatz hat. […] Fehlt dem Werkzeug die in einem bestimmten Tatbestand erforderte Absicht, ist diese Absicht aber bei dem mittelbaren Täter vorhanden, dann spricht man von mittelbarer Täterschaft durch ein absichtsloses doloses Werkzeug.« (Schönke 1944: 125)
In der Deutung der Richter begingen die meisten Frauen ihre Handlungen im Widerstand nicht aus eigenem Willen, sondern aus Liebe zu einem Mann. Nach Ansicht der Richter lag bei Frauen daher kein eigenes politisches Handeln vor, das den Sturz des NS-Regimes zum Ziel hatte. So unterstellten sie ihnen bei der Bewertung der subjektiven Tatseite in der Regel nur einen Gehilfen- statt einen Täterwillen, auch wenn ihnen die objektive Tat nachgewiesen werden konnte. Während die Richter bei Frauen eine willentliche und politische Motivation zum oppositionellen Handeln grundsätzlich bezweifelten, setzten sie diese bei Männern qua Geschlecht voraus. Deshalb wurden sie für die gleichen Taten häufiger als Täter verurteilt und hingerichtet. Aus diesem Grund erhielten aber auch die Männer, bei denen die Juristen wegen Geld- und Lebensmittelspenden oder Gewährung von Quartier ›nur‹ auf Beihilfe zur Vorbereitung zum Hochverrat erkannten, höhere Freiheitsstrafen als Frauen. Die Gerichte sahen unterstützende Tätigkeiten im Widerstand also durchaus als ›staatsgefährdend‹ an und sanktionierten diese hart – zumindest bei den männlichen Mitgliedern der Organisation. Die Frage, ob eine Angeklagte oder ein Angeklagter, der oder die wegen Nichtanzeige einer oppositionellen Vereinigung vor Gericht stand, über die ›glaubhafte Kenntnis‹ der Existenz einer Widerstandsgruppe verfügte, wurde von den Richtern in der Regel bei Frauen intensiver diskutiert als bei Männern. Sammelten sie bei den männlichen Abgeurteilten Argumente, die für dieses Wissen sprachen, wie eine politische oder gewerkschaftliche Mitgliedschaft vor 1933, standen bei Frauen die Aspekte im Vordergrund, die Zweifel an ihrem politischen Bewusstsein weckten. Bei Hedwig Hartung begründeten die Richter ausführlich, warum die Möglichkeit bestand, dass sie trotz ihrer Mitgliedschaft in der SAJ und der Tatsache, dass sie 1935 wegen Verdachts der hochverräterischen Betätigung vor Gericht stand, keine Kenntnis von 6
Der § 137 ahndete Verbrechen und Vergehen wider die öffentliche Ordnung, insbesondere die Beiseiteschaffung von amtlich gepfändeten Gegenständen.
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der Existenz einer Widerstandsorganisation hatte. Der Senat hielt es laut Urteil für »durchaus möglich, daß es ihr bei der Mitgliedschaft in der SAJ ganz überwiegend, wenn nicht sogar ausschließlich auf die Ausflüge und Wanderungen in dieser Gruppe angekommen ist«, und sprach sie von dem Vorwurf der Vorbereitung zum Hochverrat und Feindbegünstigung frei. Dagegen bedurfte es in demselben Urteil nach Ansicht der Richter »keiner näheren Ausführungen, daß Heinrich Werner und Erwin Freyer aktiv in dieser Organisation mitgearbeitet haben« (VGH 1944a: 1 ff.). Die Voraussetzung politischer Erkenntnisfähigkeit bei Männern führte dazu, dass die Richter ihre »Schutzbehauptungen«, die »offensichtlich nur aufgestellt worden waren, um sich der schweren Verantwortung zu entziehen«, in der Regel als »unwahr« abtaten (VGH 1945: 31). Da das ehrenhafte Einstehen für politisches Handeln ein wesentliches Element des nationalsozialistischen Männerbildes war (Holtmann 2010: 141), wirkten sich die Entlastungsversuche der männlichen Angeklagten negativ auf ihre Wahrnehmung durch die Juristen aus. Dennoch legten die Richter auch bei Männern nicht per se eine politische Motivation für ihr Handeln im Widerstand zugrunde. Waren die Voraussetzungen für eine zweifelsfreie Schuldfeststellung nicht gegeben, sprachen die Juristen die Angeklagten vom Tatvorwurf frei (VGH 1944d: 10). Männer waren mit der unpolitischen Version ihrer Involvierung in den Widerstand besonders dann erfolgreich, wenn sie wie der »einen schüchternen, ängstlichen Eindruck« machende Albert Fehling, »keinesfalls dem Typ eines aktiven Staatsfeindes« entsprachen. Nach Ansicht des Senats hatte er an dem Treffen mit dem Funktionär Willi Skamira nur teilgenommen, weil er diesem »nicht zu widersprechen wagte« (VGH 1944f: 8 f.). Die Richter sprachen diesen Männern feminine Züge zu und beurteilten sie unter sonst nur bei Frauen anzutreffenden Gesichtspunkten. Nur bei drei von 30 von dem Volksgerichtshof zur Verantwortung gezogenen Mitarbeiterinnen der Saefkow-Jacob-Bästlein-Gruppe waren die Richter sowohl von einer politischen Motivation, als auch von einer über Hilfeleistungen hinaus gehenden aktiven Betätigung im Widerstand mit Täterwillen überzeugt – mit der Konsequenz, dass Elli Voigt, Judith Auer und Auguste Haase zum Tode verurteilt wurden. Berücksichtigten Richter bei den anderen weiblichen Angeklagten strafmildernd, dass die Frauen die »staatsfeindlichen Vorgänge« nicht erkannt haben müssen, unterstrichen sie bei Elli Voigt ausdrücklich, dass ihr der »hochverräterische Charakter« ihres Tuns »von vornherein völlig klar gewesen« sei, und sie von sich aus im Widerstand aktiv geworden war. Zur Hervorhe187
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bung ihrer politischen Motivation schloss das Urteil ausdrücklich die Tatmotive Liebesdienst oder sexuelle Hörigkeit, mit denen das widerständige Handeln von vermeintlich ›unpolitischen Frauen‹ erklärt wurde, aus. Elli Voigt war nach Ansicht der Juristen »ein derart fanatischer und äußerst gefährlicher Reichsfeind, daß er um des Schutzes von Volk und Staat willen und zur Sühne der Verratstat allein die Todesstrafe« verdiente (VGH 1944g: 17 ff.). Im Gegensatz zum Begriff ›Gehilfin‹ verfügten die Richter nicht über die weibliche Form des Wortes ›Reichsfeind‹. Allerdings war aus den Entscheidungen nicht klar ersichtlich, nach welchen Kriterien die Richter Elli Voigt, Judith Auer und Auguste Haase von den anderen weiblichen Angeklagten abgrenzten, die nach Einschätzung der Juristen nicht mit Täterwillen im Widerstand aktiv geworden waren. Denn von diesen drei Frauen hatte nach Quellenlage nur Judith Auer Leitungsfunktionen in der Gruppe übernommen. Während die Wahrnehmungen, Zuschreibungen und Deutungen des Volksgerichtshofs von Frauen und Männern bei Freisprüchen und Verurteilungen wegen Beihilfe maßgeblich vom Geschlecht einer Person beeinflusst waren, war diese Kategorie bei als Täter identifizierten Mitgliedern der Widerstandsgruppe unerheblich. Sowohl Männer als auch Frauen wurden als »fanatische Kommunisten«, die »von einem unbändigen Haß gegen den Nationalsozialismus erfüllt sind« zum Tode verurteilt (VGH 1945: 30 f.). Die Entscheidungsargumente für diese Todesurteile wiederum waren bei weiblichen und männlichen Angeklagten unterschiedlich. Während bei den meisten Männern aus Sicht der Richter keine Zweifel an der politischen Motivierung ihrer Straftaten bestanden, mussten Täterinnen von der weiblichen Geschlechtsidentität ausgeschlossen werden, indem ihnen ein willentliches und politisches Interesse bei ihrem Handeln im Widerstand zuerkannt wurde. Im Umkehrschluss wurden den (wenigen) Männern feminine Charakterzüge zugeschrieben, deren Taten nach Ansicht der Juristen keinen kommunistischen Hintergrund hatten. Auf gleiches Handeln von Frauen und Männern im Widerstand wurde vom Volksgerichtshof also verschieden reagiert, weil die Richter bei der Strafzumessung der subjektiven Tatseite eine entscheidende Bedeutung beimaßen.
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IV. D i e S e l b s t d a r s t e l l u n g e n d e r A n g e k l a g t e n in den Strafverfahren Die verhafteten Mitglieder der Widerstandsgruppe selbst waren im Angesicht einer drohenden Todesstrafe bemüht, ihre Involvierung in den Widerstand zu verbergen oder zumindest abzuschwächen. Die Frauen setzten dazu die bei den nationalsozialistischen Verfolgern latent vorhandenen Weiblichkeitsbilder erfolgreich strategisch ein, und stellten sich als naive und unpolitische Ehefrauen, Hausfrauen und Mütter dar, die ihren Männern zuliebe oder aus freundschaftlich-mitmenschlichen Motiven in den Widerstand hineingeraten waren (vgl. dazu auch Richter 2001: 79). Die Aussage, aufgrund der eigenen politischen Naivität den hochverräterischen Hintergrund der Organisation nicht erkannt zu haben, durchzog die Vernehmungsprotokolle aller inhaftierten Frauen. Bei den meisten stand gleich in den ersten Zeilen zu lesen, dass sie »für Politik kein Interesse« hatten (Gestapo-Vernehmungsprotokoll vom 11.07.1944, BArchB, NJ 1522, Bd. 5, Bl. 1). Elli Voigt wies die sie verhörenden Beamten darauf hin, dass es »schon aus diesem Grund doch gar nicht möglich sein kann, daß ich mich illegal betätigt haben soll« (Gestapo-Vernehmungsprotokoll vom 22.07.1944, BArchB, NJ 1576, Bd. 5, Bl. 6). Gertrud Hermann gestand zwar, von ihrem Ehemann ein Flugblatt zu lesen bekommen zu haben, behauptete jedoch, über dessen Inhalt keine Angaben machen zu können, »da mich die Politik im Allgemeinen nicht interessiert«. Die Aufbewahrung kommunistischer Flugschriften in ihrer Wohnung sei ihr »unheimlich« gewesen, sie konnte dagegen aber nichts unternehmen, weil ihr Mann sich »in politischer Hinsicht nicht reinreden lasse«, und höchstens »ärgerlich und erzürnt« würde, wenn sie gegen seine politische Anschauung redete: »Um in Frieden zu leben habe ich geschwiegen, wenn mir mein Ehemann politische Dinge erzählte« (Gestapo-Vernehmungsprotokoll vom 11.08.1944, BArchB, NJ 1562, Bd. 2, Bl. 47). Aber auch die Männer versuchten bei den Verhören und in den Gnadengesuchen, ein Handeln im Widerstand aus politischen Motiven zu leugnen, um einem Todesurteil zu entgehen. So erklärte Cäsar Horn in seinen polizeilichen Vernehmungen, »allein durch die schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse« in seiner Jugend mit dem Kommunismus in Kontakt gekommen, und zu seiner Betätigung im Widerstand von seinen »früheren politischen Freunden […] gedrängt worden« zu sein (GestapoVernehmungsprotokoll vom 28.07.1944, BArchB, NJ 1556, Bd. 2, Bl. 13 f.). Siegfried Forstreuter betonte in seinem Gnadengesuch an den
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Oberreichsanwalt, dass er von seinem Vorgesetzten im »kommunistischen Sinne beeinflusst« und »von diesen Leuten« ausgenutzt worden war (Gnadengesuch vom 23.09.1944, BArchB, NJ 1539, Bd. 6, Bl. 8). Auch andere Akteure verwiesen auf die Beeinflussung ihres Willens durch kommunistische Funktionäre. Die Männer scheiterten mit dieser Strategie jedoch fast immer, weil die Gestapo-Beamten und Juristen bei ihnen in der Regel qua Geschlecht ein politisches Interesse bei ihren oppositionellen Tätigkeiten voraussetzten. Obwohl beide Geschlechter zur Verteidigung ähnliche Tatversionen anführten, wurden von den Gestapo-Beamten und Richtern meistens nur die der Frauen akzeptiert. Die Akteurinnen hatten mit der Strategie des Abstreitens eines Tatvorwurfs größere Chancen auf eine mildere Bestrafung, während Männer aufgrund der Voraussetzung eines politischen Bewusstseins seitens der Richter und des brutaleren Vorgehens der Gestapo-Beamten bei den Verhören eher gezwungen waren, eine Tatbeteiligung zuzugeben.
V.
Fazit
Die Analyse der Hochverratsprozesse gegen die Saefkow-JacobBästlein-Gruppe hat gezeigt, dass die Darstellungen und Wahrnehmungen von Frauen als Akteurinnen in Widerstandsorganisationen, wie sie aus den Akten der NS-Justiz hervorgehen, nicht unhinterfragt übernommen werden dürfen. Aus Gründen des Selbstschutzes setzten viele Akteurinnen die Rolle der ›unpolitischen Hausfrau‹, die nur aus emotionaler Verbundenheit zu einem Mann aktiv geworden war, als Verteidigungsstrategie ein, um mildere Strafen zu erhalten. Bei der Beschäftigung mit den Biografien dieser Frauen wurde jedoch deutlich, dass sie durchaus ein Bewusstsein für die politischen und sozialen Missstände im ›Dritten Reich‹ besaßen. Ihr oppositionelles Handeln basierte vielfach auf der Überzeugung, etwas gegen das NS-Regime unternehmen zu müssen (vgl. Holtmann 2010: 84 ff.). Die Aktivitäten von Frauen in Widerstandsorganisationen per se lediglich auf einen ›Liebesdienst‹ für einen Mann zu reduzieren, wird den Akteurinnen der Saefkow-Jacob-Bästlein-Gruppe nicht gerecht, sondern spiegelt die Perspektive der nationalsozialistischen Verfolger wider. Ihrem oppositionellen Handeln qua Geschlecht generell eine untergeordnete Rolle im Widerstand zuzuschreiben, hält einer kritischen Hinterfragung ebenfalls nicht stand. Die Aktivitäten der Akteurinnen waren für das Funktionieren der Organisation von ebenso großer Bedeutung wie
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die Tätigkeiten der Männer. Vielfach unterschieden sich deren Handlungen nicht von denen der Frauen, und Leitungspositionen wurden nur von wenigen Personen bekleidet. Ein Abgleich der Aktivitäten der Frauen und Männer in der Saefkow-Jacob-Bästlein-Gruppe, wie sie sich aus den Urteilsschriften und den persönlichen Dokumenten der Mitglieder ergeben, verdeutlicht, dass es besonders Akteurinnen gelang, in den Strafverfahren einen Teil ihrer illegalen Tätigkeiten zu verbergen. Die weiblichen Angehörigen der Organisation brachten sich in den Widerstand also intensiver ein, als die Justizakten nahe legten. Bei der Verortung der Bedeutung des Handelns der Akteurinnen für den Widerstand muss außerdem beachtet werden, dass die Richter gleiches Handeln von Frauen und Männern, die sich des politischen Delikts Hochverrat schuldig gemacht hatten, hinsichtlich der subjektiven Tatseite unterschiedlich bewerteten. Die harten Urteile gegen männliche Angeklagte, die der Beihilfe schuldig gesprochen wurden, belegen, dass die nationalsozialistischen Gesetzgeber auch unterstützende Tätigkeiten im Widerstand hart sanktionierten, weil sie als ›staatsgefährdend‹ angesehen wurden. Die Ausgrenzung des Handelns von Frauen aus dem politischen Widerstandsbegriff, dessen Kerndefinition der bewusste Wille zum aktiven Handeln ist (Kleßmann 1979: 37; Steinbach 1994: 15 f.; Löwenthal 1982: 14; Peukert 1982: 97 f.), ist nicht zuletzt der unkritischen Übernahme der Perspektive der nationalsozialistischen Verfolger seitens der Forschung geschuldet. Die ›Grenze‹ zwischen politischem und unpolitischem Handeln im Widerstand zogen die Richter des Volksgerichtshofs aber nicht nach Tatbeständen, sondern primär nach dem Geschlecht der Angeklagten. Eine Differenzierung, die nach 1945 nicht selten beibehalten wurde.
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Frauen vor Gericht. Geschlechtsspezifische Zuschreibungspraktiken in der nationalsozialistischen Strafrechtsprechung im Krieg MICHAEL LÖFFELSENDER
I.
Einleitung
Die gerichtliche Etikettierung einer Person als »kriminell«, »gefährlich« oder »gestrauchelt« bildet immer nur den Schlusspunkt eines »sozialen und institutionellen Produktionsverfahrens« (Löschper 1999: 13). Ebenso hat vor allem die Kritische Kriminologie herausgearbeitet, dass in den abschließenden Akt dieses Konstruktionsprozesses – der justiziellen Urteilsfindung – neben den strafrechtsimmanenten Kriterien immer auch außerrechtliche Bewertungsmaßstäbe einfließen und wirken (vgl. Temme 2004 m. w. N.). Auf Basis dieser kriminologischen Grundannahmen richtet der folgende Beitrag den Blick auf die Strafrechtsprechung gegenüber Frauen
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MICHAEL LÖFFELSENDER
an der nationalsozialistischen »Heimatfront«.1 Er thematisiert die strafrechtlichen Aushandlungsprozesse, an deren Ende die Frauen nicht zuletzt auf Grundlage einer Zuschreibung einer spezifischen Sanktionierung ausgeliefert wurden. Das Hauptaugenmerk gilt hierbei zwei Fragestellungen. Erstens: Welche Relevanz und Wirkungsmacht entfalteten nicht-normativ verankerte Bewertungskriterien im Prozess des strafrechtlichen Vermessens und Etikettierens von Tat und Täterin? Zweitens: Inwiefern begründeten diese außerrechtlichen Faktoren womöglich eine strafrechtliche Ungleichbehandlung von Frauen und Männern? Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die These, dass insbesondere die inflationäre Präsenz von vagen Begriffen und Generalklauseln im nationalsozialistischen (Kriegs-)Strafrecht und die sich daraus ergebenden weiten richterlichen Ermessensspielräume (vgl. Rückert 2001: 244 f. m. w. N.) die Einflussnahme außerrechtlicher Kriterien begünstigte. Dem Wirken zweier rechtsexterner Wissensbestände wird exemplarisch nachgegangen anhand des zeitgenössischen kriminologischen Wissens um die Kriminalität der Frau und andererseits anhand des so genannten Alltagswissens um die Geschlechterdifferenz, wie es etwa in Geschlechtsstereotypen, informellen Verhaltenskodes und gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen zum Ausdruck kam.2 Betrachtet man die Bandbreite der von den Gerichten im Krieg gefällten Urteile, so lassen sich für die genannte Fragestellung zwei Gruppen von Urteilen unterscheiden. Auf der einen Seite »unauffällige« Urteile, die die Richter gewissermaßen »formularmäßig« (Roth 2009: 124) 1
2
Die Ausführungen beruhen auf einer exemplarischen Analyse der Strafrechtsprechung der Gerichte im Oberlandesgerichtsbezirk Köln, die im Rahmen meines noch laufenden Dissertationsprojekts zur justiziellen Verfolgung von Frauen und Jugendlichen im Zweiten Weltkrieg vorgenommen wurde. Der Beitrag kann freilich nur einige wenige Punkte beleuchten. Umfassende Ergebnisse wird die Dissertation liefern. Die Quellennachweise beziehen sich im Folgenden auf die Bestände Ger., Rep. 112, Ger., Rep. 429 und NW 174 im Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland [ehemals Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (HStA D)]. Im vorliegenden Beitrag werden aus Platzgründen nur die entsprechenden Verfahrensakten angeführt, auf die sich die jeweiligen Ausführungen beziehen. De facto handelt es sich hierbei um zwei nur schwerlich voneinander zu trennende Wissensfelder. Das Verhältnis von wissenschaftlichen Aussagen über das »verbrecherische Weib« und dem gesellschaftlichen common sense über die »Natur der Frau« war vielmehr durch gegenseitige Bezugnahmen, Austauschverhältnisse und fließende Übergänge gekennzeichnet (vgl. Uhl 2003: 147-152). Die Untersuchung der Rückwirkungen dieser Wissensbestände auf die Strafrechtspraxis stellt jedoch noch weitgehend ein Desiderat dar. Lediglich erste Einschätzungen hierzu finden sich bei Kailer (2007) und Roth (2009).
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ZUSCHREIBUNGSPRAKTIKEN IN DER NS-STRAFRECHTSPRECHUNG
und ohne große Argumentation abgehandelt zu haben scheinen. Der Einfluss etwaiger außerrechtlicher und eventuell geschlechtsspezifisch kodierter Bewertungsfaktoren lässt sich in diesen Fällen nicht mehr rekonstruieren, da sie sich in diesen, meist stereotypisierten Urteilsabfassungen ebenso wenig abbilden wie die Relevanz virulenter Rechtsanwendungsregeln.3 Auf der anderen Seite finden sich Urteile, in denen die Richter ihre Entscheidungen mit sehr großem Aufwand begründeten. Dies lässt sich vor allem bei Verfahren beobachten, in denen die ›Rechtswahrer‹ die Anwendung der strafverschärfenden Normen des Kriegsstrafrechts reflektierten. Ein wesentliches Versatzstück in ihrer Argumentation bildete hierbei der Blick auf die Person der Beschuldigten. Die Bewertung der Persönlichkeit konnte nicht zuletzt auf Grund der Tatsache, dass es sich beim nationalsozialistischen Kriegsstrafrecht um ein »Tat- und Täterstrafrecht« (Werle 1989: 714) handelte, neben den Reflexionen zu Umfang und Intensität der Tat, weitreichende Bedeutung für das Ausmaß der Sanktionierung erlangen. Urteile dieser zweiten Gruppe bilden die Grundlage der folgenden Ausführungen, in denen der Blick zunächst auf die Frage der Zurechnungsfähigkeit gerichtet ist. Im Rahmen der Strafzumessung wurden die Frauen jedoch auch anhand weiterer Kriterien eingestuft. Die daraus resultierenden Zuschreibungen werden in einem zweiten Schritt analysiert. Abschließend werden die Konstruktionsmechanismen der beiden Tätertypen der »asozialen Arbeitsbummelantin« und »gefährlichen Gewohnheitsverbrecherin« beleuchtet, deren Zuschreibung besonders weitreichende strafrechtliche Konsequenzen für die betroffenen Frauen hatte.4
3
4
Hiermit ist auch ein zentrales, generelles methodisches Problem der Untersuchung von Bewertungskriterien in justiziellen Entscheidungsprozessen benannt. Die Quellengrundlage beschränkt sich in der Regel auf Anklageschriften und Urteile, die aber immer nur begrenzte Einsichten in den Prozess der Urteilsfindung liefern. Es ist davon auszugehen, dass viele, den Urteilssprüchen zu Grunde liegende Aushandlungen und Einflussfaktoren ›unsichtbar‹ bleiben und mithin nicht mehr nachzuvollziehen sind. Gerade bei den ›formularmäßigen‹ Urteilen stößt man, zumal bei rechtshistorischen Untersuchungen, deshalb schnell auf die Grenzen empirischer Messbarkeit. Bei der Strafjustiz an der »Heimatfront« handelte es sich um einen durch rassistische Grenzziehungen markierten Raum, aus dem als »fremdvölkisch« angesehene Personen in der Regel ausgeschlossen waren. Die jüdische Bevölkerung und »OstarbeiterInnen« unterlagen im Krieg vornehmlich der außerjustiziellen Sanktionierung durch die Polizei, weshalb sich die folgenden Ausführungen auf die Strafrechtsprechung gegenüber deutschen Frauen beschränken. 197
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II.
Konstruktionen der Unzurechnungsfähigkeit
Der zeitgenössische kriminologische Diskurs führte delinquentes Verhalten von Frauen auf ein Konglomerat von anlage- und umweltbedingten Faktoren zurück, wobei biologische Ansätze eine besonders starke Deutungsmacht entfalteten. Delinquenz von Frauen brachten die Kriminologen primär mit dem Wesen und der Natur der Frau oder ihren spezifischen somatischen Zuständen, den »weiblichen Geschlechtsfunktionen«, in einen kausalen Zusammenhang (vgl. hierzu umfassend Uhl 2003). In der Strafrechtspraxis spielten solche Erklärungsmuster vor allem dann eine zentrale Rolle, wenn aus ihnen eine spezifisch weibliche Form der Unzurechnungsfähigkeit respektive einer verminderten Zurechnungsfähigkeit nach § 51 RStGB (vgl. Werle 1989: 103 f.) konstruiert wurde. Zweifel an der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Frauen ergaben sich hiernach nicht nur bei als weitgehend geschlechtsneutral zu bezeichnenden Verdachtsmomenten wie beispielsweise einer Geisteskrankheit (»Schwachsinn«) oder einer Alkohol- und Medikamenteneinwirkung. Grund für die Annahme einer »Bewusstseinstrübung« zur Tatzeit bestand vielmehr bei Frauen auch, wenn die Straftat zeitlich in eine der »Fortpflanzungsphasen« (vornehmlich Menstruation, Schwangerschaft oder Wechseljahre) fiel. Die Überprüfung dahingehender Vermutungen oblag den medizinisch-psychiatrischen bzw. kriminalbiologischen Gutachten. Diese stellten Einfallstore dar, durch die die im Ermittlungsverfahren punktuell aufflackernden Versatzstücke kriminologischen Vor- und Halbwissens kanalisiert, verifiziert oder falsifiziert und in Form wissenschaftlicher Expertisen anwendungsorientiert in den justiziellen Entscheidungsprozess einflossen (vgl. zum Hintergrund auch Germann 2007). In vielen Fällen bestätigten die Sachverständigen eine spezifisch weibliche Form einer geminderten Zurechnungsfähigkeit, indem sie besagten Kausalnexus von somatischen Zuständen und der jeweiligen Straftat attestierten. So sei eine Frau im Jahre 1939 etwa nur »infolge der Wechseljahre in einen seit wenigstens zwei Jahren bestehenden chronisch gespannten Affektzustand hereingeraten, der sich schließlich durch die Brandstiftung Luft gemacht« habe (HStA D, Ger., Rep. 112, Nr. 18245). In anderen Fällen erschienen die Straftaten als Ausdruck einer auf die Menstruation zurückgeführten »Affektstauung« oder einer im »weiblichen Nervensystem« begründeten »Psychopathie«, so dass sich die Gutachter für den Schutz des § 51 Abs. 1/2 RStGB oder zumindest
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ZUSCHREIBUNGSPRAKTIKEN IN DER NS-STRAFRECHTSPRECHUNG
für eine spürbare Strafmilderung aussprachen (vgl. etwa HStA D, Ger., Rep. 112, Nr. 17435, 18682, 18537). Oftmals übernahmen die Richter diese, auf kriminologische Theoreme rekurrierenden Etikettierungen der betroffenen Frauen als vermindert zurechnungsfähig oder unzurechnungsfähig. Hinsichtlich der Sanktionierung wirkte dieses Etikett zumeist privilegierend, da die Frauen hierdurch etwa der Stigmatisierung als »Gewaltverbrecherin« oder »Volksschädling« und mithin der Todes- oder einer Zuchthausstrafe entgingen (vgl. ebd.). Insofern kann zunächst von einer gewichtigen, weil privilegierenden Wirkungsmacht kriminologischen Wissens ausgegangen werden,5 pauschalisiert werden darf dieser Befund jedoch nicht. Vielmehr sind zwei Einschränkungen vorzunehmen. Einerseits zeitigten diese Zuschreibungen nicht per se positive Effekte für die betroffenen Frauen, da die Richter viele von ihnen wegen einer, aus der vermeintlichen (Geistes-)Krankheit abgeleiteten »Gefährlichkeit« zum Schutz der »Volksgemeinschaft« für unbestimmte Dauer in Heil- und Pflegeanstalten einwiesen (vgl. nur HStA D, Ger., Rep. 112, Nr. 17278, 18245, 18368).6 Andererseits konnten die Richter die auf eine Privilegierung der Frauen abzielenden Postulate einer verminderten Zurechnungsfähigkeit bzw. die auf sie bezogenen Strafmilderungsbestrebungen auch bewusst bei ihrer Urteilsfindung verwerfen, wodurch sie der Wirkungsmacht kriminologischen Wissens Grenzen zogen. Die kriminologisch-psychiatrischen Deutungsmuster traten in diesen justiziellen Aushandlungsprozessen hinter andere Kriterien zurück, denen die Richter in Einzelfällen eine größere Deutungshoheit verliehen und somit auch die Privilegierung der Frauen aufhoben. So verweigerte etwa das Kölner Sondergericht einer Frau jegliche Strafmilderung und verurteilte sie im Januar 1943 wegen Mordes an ihrem Ehemann zum Tode. Der medizinische Gutachter hatte ihr dagegen eine geschlechtsspezifische verminderte Zurechnungsfähigkeit bescheinigt. Das Gericht lehnte eine Affekttat nicht zuletzt aus generalpräventiven Gründen ab, da die bisher in vergleichbaren Fällen praktizierte, relative Milde im Urteilsspruch nicht entsprechend abschreckend gewirkt hätte (HStA D, NW 174, Nr. 319). 5
6
Kailers (2007: 125) Befund, nach dem in der kriminalbiologischen Untersuchung von Frauen kein kriminogener Zusammenhang von weiblichen »Geschlechtsfunktionen« und dem Handeln der Frauen hergestellt wurde, bestätigt sich somit für die Strafrechtspraxis nicht. Das Bild des strafrechtlich nicht zu belangenden aber »gefährlichen« Individuums hatte freilich auch im kriminologischen Diskurs seit etwa der Jahrhundertwende einen festen Platz (vgl. nur Müller 2004: 141-149 m. w. N.). 199
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Dieses Urteil ist paradigmatisch für eine ab der Kriegsmitte in der nationalsozialistischen Strafrechtsprechung zu beobachtende Tendenz. Kriminologisch-psychiatrische Strafmilderungskonzepte fanden zwar auch weiterhin Eingang in die justiziellen Aushandlungsprozesse, sie verloren jedoch sukzessiv an Geltungskraft hinsichtlich der Sanktionierung. Den ansonsten geläufigen Automatismus von verminderter Zurechnungsfähigkeit – sei sie nun geschlechtsneutral oder geschlechtsspezifisch konstruiert – und Strafmilderung setzten die Richter zunehmend außer Kraft. Extensiv in Anschlag gebrachte »Abschreckungsnotwendigkeiten« und spezifisch kriegskodierte »Gerechtigkeitsbedürfnisse« ließen sie nun von Strafmilderungen verstärkt auch bei nur bedingt strafrechtlich verantwortlichen Personen absehen (vgl. etwa HStA D, Ger., Rep. 112, Nr. 17579, 18894 und die dahingehenden Ausführungen bei Freisler 1940).
III. Z w i s c h e n S t r a f m i l d e r u n g und Strafverschärfung Über die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit hinaus erwiesen sich im Kontext der Strafzumessung noch eine ganze Reihe weiterer Faktoren als einflussreich. Neben klassischen strafrechtlichen und gänzlich geschlechtsneutralen Kriterien, wie Vorstrafen, Geständnis, Reue oder Alter, kamen hierbei auch regelmäßig geschlechtsspezifisch aufgeladene Aspekte zur Sprache (vgl. auch Roth 2007: 120-126). Ein belangvolles Moment stellte bei weiblichen Beschuldigten etwa die Vorstellung einer vermeintlich natürlichen Wesensart der Frau dar, die sich in verschiedenen, spezifisch femininen Eigenschaften und Dispositionen ausdrücke. Von besonderer Bedeutung in der Strafrechtspflege war vor allem die, sowohl im kriminologischen Diskurs als auch im gesellschaftlichen common sense geläufige Annahme einer allen Frauen innewohnenden »Mutterliebe« (vgl. zu diesen kriminologischen Positionen Uhl 2008). Führten die Richter das delinquente Verhalten der Frau nicht auf eine als eigennützig interpretierte »Genuss-, Putz- oder Ichsucht«, sondern vielmehr auf eine »karitative Einstellung« oder mit ihrer »Mütterlichkeit« in Verbindung gebrachte Motive wie Fürsorglichkeit, Sorge um Familienangehörige oder Mitleid zurück, resultierte dies auf Grund der »menschlich verständlichen Beweggründe« in Strafmilderungen. Eine reale Mutterschaft war hierbei nicht zwingend erforderlich. Beobachten lassen sich solche, zumeist auch auf den Topos einer ausgeprägteren weiblichen Emotionalität rekurrierende Strafmilderungsgründe vor al-
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lem bei der Ahndung von Verstößen gegen die mit Kriegsbeginn eingeführten Bezugsbeschränkungen von Lebensmitteln oder bei Vergehen gegen die Arbeitsdisziplin (vgl. etwa HStA D, Ger., Rep. 112, Nr. 17308, 18586, 18650, 18915). Vorstellungen eines weiblichen bzw. männlichen Naturells boten die Grundlage für dichotom gedachte Geschlechtsstereotype, die sich etwa in den Gegensatzpaaren starker Mann – schwache Frau oder aktiver Mann – passive Frau widerspiegelten (vgl. Frevert 1995: 25-50) und von denen Frauen in der Strafrechtspraxis partiell profitieren konnten. Während Männer in der richterlichen Interpretation hiernach zumeist als bewusst kalkulierende Personen auftraten, erhielten Frauen oftmals den Status der »Verführten«, »Getriebenen«, »Überrumpelten«, kurz: der unüberlegt Handelnden zugeschrieben. Das wirkte sich bei der Strafzumessung nicht selten strafmildernd aus. In dieser Lesart erschienen Frauen als Opfer der »weiblichen Willensschwäche« (HStA D, Ger., Rep. 112, Nr. 18620), die es ihnen unmöglich gemacht habe, den an sie herangetragenen Versuchungen, Gelegenheiten oder Wünschen von zumeist männlichen Mittätern den nötigen Widerstand entgegenzubringen (vgl. HStA D, Ger., Rep. 112, Nr. 17546, 17575, 18584, 18791). Eine Zuspitzung fanden diese Zuschreibungen in der Vorstellung der vornehmlich unter dem Einfluss des Ehemannes handelnden Frau, die sich bei einer Vielzahl von Verfahren ausmachen lässt, in denen sich Ehepaare vor Gericht verantworten mussten (vgl. etwa HStA D, Ger., Rep. 112, Nr. 18056, 18919). Ähnliche traditionelle Deutungsmuster um die Geschlechterpolarität entfalteten auch bei der Ahndung von Fällen minder schwerer politischer Delinquenz,7 den so genannten Äußerungsdelikten (zumeist Verstöße gegen das »Heimtückegesetz«), eine nicht zu unterschätzende Wirkung. So führten die Richter abfällige Bemerkungen von Frauen eher auf ein geringeres politisches Verständnis oder auf »weibliche Schwatzhaftigkeit« und weniger auf einen staatsfeindlichen Impetus zurück (HStA D, Ger., Rep. 112, Nr. 18787). Die Kölner Sonderrichter nahmen im August 1944 explizit Stellung zu den unterschiedlichen Maßstäben, die sie in solchen Fällen bei Männern und Frauen anlegten, als sie drei Frauen wegen der Verbreitung eines Hetzgedichtes zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen verurteilten. »Wenn ein Mann, der im Leben steht und politisch geschult ist, eine solche Schrift verbreiten
7
Zu Zuschreibungspraktiken in Fällen von schwerer politischer Delinquenz, die vor dem Volksgerichtshof verhandelt wurden, vgl. den Beitrag von Karen Holtmann in diesem Band sowie Richter (2001: 133-154). 201
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würde, so müsste er mit einer mehrjährigen Gefängnisstrafe rechnen« (HStA D, Ger., Rep. 112, Nr. 18739). Der Gültigkeit solcher aus vermeintlich biologischen Dispositionen hergeleiteten Strafmilderungsgründe, die die Frauen gleichsam als »Opfer ihrer selbst« (Kailer 2007: 127) präsentierten, waren indes Grenzen gesetzt. Die Richter berücksichtigten sie grundsätzlich nur bei erstmaligen Verfehlungen und zumeist auch nur bei der Bemessung der jeweiligen Strafhöhe und seltener bei der Wahl der Sanktionsform (Geldstrafe, Gefängnis oder Zuchthaus). Diese ergab sich zumeist aus dem Ausmaß der Rechtsverletzung, das vornehmlich an der Tat und weniger an der Persönlichkeit der Straftäterin festgemacht wurde. Die Annahme einer differenten Wesensart von Mann und Frau stellte auch die Grundlage für geschlechtsspezifisch unterschiedlich kodierte gesellschaftliche Rollenerwartungen dar. Sowohl Frauen als auch Männer sahen sich mit diesen konfrontiert und wurden an ihnen – nicht nur aber auch – in der Strafrechtspflege gemessen. Konkret bedeutete dies, dass die Richter während ihres Entscheidungsprozesses Frauen und Männer in ihrer jeweiligen Lebensführung immer mit dem entsprechenden gesellschaftlichen Anforderungsprofil abglichen. Dies diente nicht zuletzt dem Ziel, über die konkrete Tat hinaus die »Gemeinschaftstauglichkeit« der Beschuldigten zu eruieren, die ein nicht unwesentliches Kriterium bei der Strafzumessung darstellte. Wesentlich war mithin nicht nur die Feststellung, welche Tat den Frauen konkret vorgeworfen wurde, sondern immer auch die Frage, wie die Richter die Angeklagten auf der Skala zwischen »gemeinschaftszugewandt« und »gemeinschaftsfremd« einstuften. Bei Frauen spielte hierbei in erster Linie die Bewährung in den ihnen laut gesellschaftlicher Konvention primär zugewiesenen Handlungsräumen eine Rolle, worunter – neben Haushaltsführung und Mutterschaft – im Krieg verstärkt der Einsatz der Frauen in der Kriegswirtschaft verstanden wurde. Vor allem die Tatsache, mehrere Kinder geboren zu haben, werteten die Richter – zumal angesichts der pronatalistischen Politik des NS-Regimes – oft als Indiz dafür, dass sich die Frauen den Interessen der »Volksgemeinschaft« nicht per se entziehen wollten (vgl. nur HStA D, Ger., Rep. 112, Nr. 17960). Bedingung für eine strafmildernde Würdigung der Mutter- bzw. Schwangerschaft war aber auch ein ansonsten nicht zu beanstandender Lebenswandel der Frauen. Ein zentrales Kriterium stellten hierbei die informellen gesellschaftlichen Verhaltenskodes dar, die um den Schlüsselbegriff der »Sittlichkeit« kreisten. Während bei männlichen Beschuldigten Erhebungen über das Sexualleben für gewöhnlich nur bei so genannten Sittlichkeitsdelikten (Ver-
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gewaltigung oder »widernatürliche Unzucht mit Männern«) eine Rolle spielten, bildeten sie bei Frauen das konstituierende Element bei der Begutachtung des Lebenswandels. Gemäß der gesellschaftlich verankerten »Doppelmoral« (Kundrus 1995: 375), die Männern das freie Ausleben ihres heterosexuellen Sexuallebens zugestand, sollten sich Frauen außerhalb der Ehe durch sexuelle Enthaltsamkeit auszeichnen (vgl. ebd. m. w. N.). Ledige Frauen, die im Verdacht der Promiskuität standen, galten als »verwahrlost«, »verkommen« oder »haltlos« und waren deshalb zumeist generellen Strafverschärfungen ausgeliefert (vgl. HStA D, Ger., Rep. 112, Nr. 17941, 18448, 17429). Mit noch drastischeren Stigmatisierungen und Strafaufschlägen mussten Ehefrauen und Mütter rechnen, die durch einen vermeintlich »liederlichen Lebenswandel« aufgefallen waren. In den Augen der Richter hatten sie sich somit – neben der Straftat – in doppelter Hinsicht über die informell gesetzten Verhaltensnormen hinweg gesetzt: Einerseits hatten sie die gesellschaftliche Sexualmoral missachtet, andererseits wurde ihnen jedoch auch regelmäßig angelastet, sie hätten hierdurch ihre Kinder vernachlässigt und sich selbst überlassen. Damit hätten sie gegen ihre »Mutterpflichten« verstoßen und in gewisser Weise wider ihre vermeintlich natürliche Wesensart gehandelt. Es entspricht dieser Lesart, dass Gutachter und Richter bei solchen Frauen nicht selten meinten, eine »mangelhafte Kinderliebe« festzustellen und die Angeklagten mithin ein stückweit ›entweiblichten‹ (HStA D, Ger., Rep. 112, Nr. 17461, 17576). Dem Problem der »pflichtvergessenen Mütter« schrieben die Nationalsozialisten eine besondere Brisanz zu. Dies wird dadurch deutlich, dass die »Verordnung zum Schutz von Ehe, Familie und Mutterschaft« vom März 1943 (vgl. Werle 1989: 419-425) die »gewissenlose« Vernachlässigung der »Fürsorge- und Erziehungspflichten« als selbstständigen, primär auf Frauen abzielenden Straftatbestand einführte. Dieser sah bei einschlägigen Verfehlungen Gefängnisstrafen vor und wurde vor den Jugendschutzkammern verhandelt (vgl. nur HStA D, Ger., Rep. 112, Nr. 4268). Das Sexualverhalten von Frauen stellte in der Strafrechtspflege jedoch nicht nur als stereotyper Strafverschärfungsgrund einen Verhandlungsgegenstand dar. Vielmehr kriminalisierte das NS-Regime mit den kurz nach Kriegsbeginn implementierten Normen zum »Umgang mit Kriegsgefangenen« (vgl. Roth 2009: 116 f. m. w. N.) spezifische Formen intimer Verhältnisse unmittelbar. Zwar rekurrierte das Verbot des Umgangs mit Kriegsgefangenen nicht expressis verbis ausschließlich auf sexuelle Kontakte von Frauen mit Kriegsgefangenen. Diese stellten jedoch in den Augen der Justiz – neben der Beihilfe zur Flucht – die
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schwerste Form von Umgangsdelinquenz dar und wurden zumeist mit mehrjährigen Zuchthausstrafen geahndet. Frauen, die Beziehungen mit ausländischen Kriegsgefangenen führten, erhielten das Stigma der »Ehrvergessenheit«, da sie ihre »deutsche Frauenehre« gegenüber dem Feind preisgegeben hätten und somit in gewisser Weise zu Verräterinnen an der »Volksgemeinschaft« geworden seien. In besonderem Maße galt dies für »Kriegerfrauen«, da ihr (Fehl-)Verhalten in den Augen der Richter unmittelbare Auswirkungen auf die Kampfmoral ihrer im Feld stehenden Ehemänner habe. Bei der jeweiligen Bemessung der Strafhöhe reproduzierten die Richter ihre generellen, schon skizzierten Bewertungsmaßstäbe. Während sie bei »verführten« Frauen geringere Zuchthaustrafen als angemessen befanden, konnten Frauen, bei denen die Richter eine als unweiblich empfundene »geschlechtliche Gier« ausmachten, nicht auf Nachsicht hoffen. Bei der Sanktionierung der Umgangsdelikte vermischten die Richter mithin rein kriegsstrategische bzw. kriegsnationalistische Begründungen mit den traditionellen, auf die gesellschaftlichen Normalitätserwartungen gegenüber Frauen abzielenden Argumentationsmuster (vgl. HStA D, Ger., Rep. 112, Nr. 17883, 17998, 18003, 18656).
IV. » A s o z i a l e A r b e i t s b u m m e l a n t i n « u n d »Gefährliche Gewohnheitsverbrecherin« Die skizzierten negativen Kategorisierungen, mit denen die Richter weibliche Angeklagte über die Straftat hinaus stigmatisierten, bildeten elementare Bezugspunkte bei der Konstruktion gewisser Tätertypen, die – so die These – dadurch mitunter auch geschlechtsspezifisch aufgeladen sein konnten. Exemplarisch werden im Folgenden kursorisch die Konstruktionsmechanismen zweier Tätertypen untersucht, bei denen die Justiz sich im Krieg zum Einsatz ihrer repressivsten Instrumentarien veranlasst sah. Der Tätertyp der/des »asozialen Arbeitsbummelantin/en« ist in der Forschung bisher weitgehend unberücksichtigt geblieben. In seiner strafrechtlichen Verwendung ist er als ein spezifisch kriegsbedingter Tätertyp zu bezeichnen, der erst unter den Bedingungen der mit Kriegsbeginn einsetzenden Kriminalisierung abweichenden Arbeitnehmerverhaltens entstehen konnte.8 8
Er ist nicht zu verwechseln mit dem zeitgenössischen polizeilichen Tätertyp des/der »asozialen Arbeitsscheuen« (vgl. Werle 1989: 501-506), gegen den nicht strafrechtlich vorgegangen wurde.
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Die ab Kriegsmitte zu beobachtende Entwicklung dieses neuen Tätertyps war eine Folge der Bemühungen der Justiz, die – bis dato normativ nicht vorgesehene – Unterbringung in einem Arbeitshaus auch als Sanktion bei Fällen von wiederholtem »Arbeitsvertragsbruch« und »Arbeitsbummelei« einzusetzen.9 Im Fokus standen hierbei Rückfalltäter/innen, bei denen Geld- und Gefängnisstrafen nicht die erhoffte »Besserung« bewirkt hatten. Eine Arbeitshausunterbringung war jedoch an objektive und subjektive Voraussetzungen gebunden. Während der wiederholte »Arbeitsvertragsbruch« die objektive Voraussetzung darstellte, handelte es sich bei der subjektiven um das Vorliegen einer »Asozialität« (vgl. Werle 1989: 98 f.). Dieses ›innere‹ Tätertypenerfordernis machten die Richter in der Strafrechtspraxis bei Männern und Frauen an deutlich zu unterscheidenden Kriterien fest.10 Bei Männern stellte dies neben der an den Vergehen gegen die Arbeitsdisziplin festgemachten »Arbeitsscheu« vor allem ein genereller »Hang zum Müßiggang und Faulenzen« dar. Bei Frauen war die Zuschreibung »asozial« in der Strafrechtspraxis hingegen überwiegend sexualisiert, wie etwa auch im Kontext der polizeilichen Verbrechensbekämpfung. Im Stigma der »Asozialität« fanden bei Frauen die bereits angeführten negativen Zuschreibungen eine wirkungsmächtige Verdichtung, da sie hier nicht mehr nur strafverschärfend wirkten, sondern vielmehr eine für die betroffenen Frauen einschneidende spezifische Sanktionsform, die Arbeitshausunterbringung, begründeten. Alle Frauen, bei denen etwa die Bonner Amtsrichter eine Arbeitshausunterbringung anordneten, wiesen nach ihren Feststellungen Züge auf, die sie in die Nähe des Typs »der klassischen weiblichen Asozialen« (Schikorra 2000: 470) – der Prostituierten – rückten. Symptome hierfür stellen in der Lesart der Richter bereits ein ausgeprägter »Hang zum Herumtreiben« dar, den sie generalisierten und zu einem »leichten« oder »liederlichen Lebenswandel« stilisierten. Zuweilen reichte den Richtern jedoch ein »dirnenhafter« Eindruck der Angeklagten oder der Aufenthalt in einem »übelbeleumundeten Wirtshaus« aus, um sie als »asozial« zu etikettieren und somit die Internierung in einem Arbeitshaus im Anschluss an die zumeist mehrmonatige Gefängnishaft wegen des Arbeitsverstoßes zu legitimieren. Das Bonner Beispiel legt zudem
9
Hierzu demnächst ausführlicher die Angaben in meiner Dissertation. Vgl. zur Arbeitshausunterbringung generell Ayaß (1993). 10 Die folgenden Ausführungen und Zitate beziehen sich alle auf die Auswertung einer Verfahrensübersicht in Arbeitsvertragsbruchsachen des Amtsgerichts Bonn aus den Jahren 1939 bis 1944 (HStA D, Ger. Rep. 429, Nr. 1). 205
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den Verdacht nahe, dass die Richter das Etikett »asoziale/r Arbeitsbummelant/in« bei Frauen extensiver anwendeten als bei Männern: 21 der insgesamt 28 in den Jahren 1943/44 ausgesprochenen Arbeitshauseinweisungen wegen »Arbeitsvertragsbruchs« ergingen gegen weibliche Verurteilte.11 Gegenteiliges gilt für die Typisierung von Straftätern/innen als »gefährliche Gewohnheitsverbrecher/innen«, die seit 1933 auf rechtlicher Grundlage möglich war und vornehmlich Männer der Sicherungsverwahrung, ab 1942 verstärkt der Todesstrafe auslieferte. »Gefährliche Gewohnheitsverbrecherinnen« bildeten eine kleine, aber hinsichtlich ihres Profils relativ homogene Gruppe. Viele der Frauen hatten bereits als Prostituierte gearbeitet oder standen – durch eine von den Richtern unterstellte – sexuelle Devianz dem einschlägigen Milieu nahe (vgl. auch Wachsmann 2006: 125-137). In der justiziellen Tätertypenkonstruktion bildete dieser Umstand – neben der primär zur Debatte stehenden Rückfalldelinquenz12 – in den meisten Fällen ein tragendes Element. So diente er vielfach der Herstellung eines, bei einschlägigen Urteilen oft zu beobachtenden – und auch wiederum in der Kriminologie virulenten (vgl. Uhl 2008: 53 f.) – geschlechtsspezifischen Erzählmusters. Hiernach wurde eine kausale Abfolge von sexueller Devianz und Kriminalität konstruiert, nach der die Frauen zunächst »in sexueller Beziehung den Boden unter den Füßen« verloren hatten, um dann »immer weiter abzusinken und dann auch kriminell zu werden« (HStA D, Ger., Rep. 112, Nr. 17480, ähnlich Nr. 17617). Die »weibliche Willensschwäche«, die bei einmaligen Verfehlungen noch zu der strafmildernden Annahme einer »Gelegenheitstat« führen konnte, hatte sich bei diesen Frauen in der richterlichen Wahrnehmung zu einer umfassenden »Halt- und Hemmungslosigkeit« entwickelt, die sich in einer steten, sowohl sexuellen als auch kriminellen Abweichung manifestiere. Aus dieser permanenten Rückfallwahrscheinlichkeit leiteten die Richter wiederum das subjektive Tätertypenerfordernis der »Gefährlichkeit« ab. Waren die Frauen zudem geschlechtskrank, so beseitigte dies bei den Richtern zumeist letzte Zweifel, die Frauen als »gefährlich« zu etikettieren, da sie sowohl in kriminalpolitischer als auch volksgesundheitlicher Hinsicht ein vermeintliches Risiko darstellten. Diese Gefahr versuchten die Richter durch den dauerhaften Ausschluss der Frauen aus der »Volksgemein11 Diese These bedarf freilich noch einer vergleichenden Analyse der Rechtsprechung in anderen Gerichtssprengeln. 12 Ähnlich wie bei Männern handelte es sich hierbei zumeist um serielle, vielfach kleinere Eigentumsdelikte, die oft als Resultat eines »verbrecherischen Hangs« gedeutet wurden. 206
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schaft« in Form der Sicherungsverwahrung oder der Todesstrafe zu unterbinden (vgl. etwa HStA D, Ger., Rep. 112, Nr. 18621).
V.
Fazit
Rekurse auf kriminologische Erklärungsmuster und gesellschaftliche Normalitätsvorstellungen spielten eine ausschlaggebende Rolle bei der Sanktionierung delinquenter Frauen im Krieg. Im justiziellen Entscheidungsprozess stellten sie jedoch nur zwei Bewertungsmaßstäbe in einem ganzen Konglomerat von Faktoren dar, mit denen die Richter ihre jeweiligen Urteilssprüche rechtfertigten. Hierdurch waren vor allem der Wirkungsmacht kriminologischer Wissensbestände mitunter deutliche Grenzen gesetzt. Wenngleich eine Vielzahl strafmildernder Effekte nicht zu übersehen ist, kann von einer grundsätzlich privilegierenden Wirkung der außerrechtlichen Kriterien für Frauen nicht die Rede sein. Vielmehr muss von einer sehr großen gegensätzlichen Wirkungsmacht der bei weiblichen Angeklagten zumeist sexualisierten Negativzuschreibungen ausgegangen werden. Fragt man in diesem Kontext nach Spezifika der nationalsozialistischen Strafrechtsprechung gegenüber Frauen, so müssen diese weniger in den Zuschreibungspraktiken selbst – die sowohl vor 1933 als auch noch nach 1945 vielfach ähnlichen Mechanismen folgten – gesucht werden, als in den Konsequenzen, die diese Etikettierungen für die Frauen zeitigten. Vor allem die negativen Zuschreibungen gaben für die Richter im Krieg nicht selten den entscheidenden Ausschlag, Frauen im Klima einer sich generell radikalisierenden Strafjustiz einschneidenden strafrechtlichen Repressionen auszuliefern.
Literaturverzeichnis 1.
Ungedruckte Rechtsquellen
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Rheinland (ehemals Hauptstaatsarchiv 17278, 17617, 18448, 18739,
17308, 17883, 18537, 18787,
17429, 17941, 18584, 18791,
17435, 17960, 18586, 18894,
17461, 17998, 18620, 18915,
207
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Gerichte, Rep. 429, Nr. 1 NW 174, Nr. 319
2.
Sekundärliteratur
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209
S TRAFRECHT , K RIMINALITÄT UND G ESELLSCHAFT
»Sein Hang zu einem liederlichen Lebenswandel«. Geschlecht und Sexualität bei der Sanktionierung von jugendlicher männlicher und weiblicher Prostitution in der Weimarer Republik MARTIN LÜCKE
Dass Strafrecht ein Geschlecht hat, zeigt sich auf besonders deutliche Weise am Beispiel der käuflichen Sexualität: Bis in die 1960er Jahre wurde nach den Vorgaben des § 181 Strafgesetzbuches (StGB) die sich prostituierende Person ausschließlich als eine weibliche Person begriffen, während etwa die Figur des Zuhälters im Gesetzestext als eine männliche Person imaginiert wurde (Wünsch 2006; Lücke/Wünsch 2009). Dass auch Männer Anbieter der Prostitution waren, blieb von den Zeitgenossen in Kaiserreich und Weimarer Republik zwar nicht unbemerkt, wurde aber im Rahmen der Reformdebatten um mann-männliche Sexualität um den § 175 verhandelt und auf diese Weise von den Debatten um weiblich-heterosexuelle Prostitution separiert (Lücke 2008: 112149). Auch von der Historiografie der Homosexualitäten wurde die mann-männliche Prostitution nicht selten übersehen: Dort arbeitete man sich in rechtshistorischen Arbeiten zumeist an der ›normalen‹ Homosexualität ab. Fragen nach der Strafbarkeit von mann-männlicher Prostitution wurden ausgeblendet oder bestenfalls am Rande behandelt (z. B. Gollner 1974: 168; Sommer 1998: 158). Als gefährlich für die Gesellschaft aber wurde von den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen sowohl die weiblich-heterosexuelle als auch die mann-männliche Prostitution 213
MARTIN LÜCKE
interpretiert. Während die erste aber ›lediglich‹ mit dem Prädikat der »Unzucht« belegt wurde, galt die zweite hingegen als »widernatürliche Unzucht«, und es etablierten sich unterschiedliche Prostitutionsregime, um der Prostitution durch staatliches Handeln zu begegnen: Weiblichheterosexuelle Prostitution wurde in Kaiserreich und Weimarer Republik im Rahmen reglementaristischer Prostitutionsregime sanktioniert, während sich mann-männliche Prostitution einem prohibitiven Prostitutionsregime unterwerfen musste, das sowohl Anbieter als auch Nachfrager mit Strafe belegte (Lücke 2008: 118 f.; zur Typisierung von Prostitutionsregimen: Sauer 2006: 79). Ein geschlechtlich kodierter und zumeist heteronormativ ausgerichteter Blick auf Prostitution, der vorschnell Frauen allein die Rolle der Anbieterin und Männern die des Nachfragers zuweist, lenkt davon ab, im Detail auszuloten, wie Rechtsnormen zu Prostitution geschlechtlich geprägt wurden. Vor allem Jugendliche – junge Männer genauso wie junge Frauen – waren es, die in den Jahren der Weimarer Republik aufgrund ihrer Tätigkeit als Prostituierte in das Visier der Fürsorgegerichtsbarkeit gerieten. In diesem Beitrag soll nachgezeichnet werden, wie vor allem mann-männliche Prostitution durch die Gerichtspraxis des Vormundschaftsgerichtes geschlechtlich kodiert wurde und welche Verwahrlosungsprofile für Jungen auf diese Weise entstanden sind. Ein Blick auf die Vormundschaftsgerichtsbarkeit lohnt sich gerade deshalb, weil die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen insbesondere bei Jugendlichen eine viel größere Bedrohung durch Prostitution erkannten als bei Erwachsenen, denen per se eine viel gefestigtere sittliche Reife zuerkannt wurde. Im Rahmen des Beitrags soll ein Blick auf die Gerichtspraxis geworfen werden; das konkrete doing gender im Gerichtssaal kann zeigen, welche Geschlechternormen dort durch die in den Verfahren entstandenen Texte produziert und reproduziert wurden. Zwar wird mit einem Blick auf die Vormundschaftsgerichtsbarkeit die Analyseebene des Strafrechts (und damit das eigentliche Thema dieses Bandes) verlassen. Die Sanktionsmechanismen, die insbesondere das Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (RJWG) aus dem Jahr 1922/24 bereithielt, wurden von den Zeitgenossen jedoch eher als Strafe denn als Maßnahme fürsorgender Erziehung wahrgenommen. Aufgrund des begrenzten Umfangs des Beitrags soll schwerpunkthaft mit Vormundschaftsakten über sich prostituierende Jungen gearbeitet werden, auch, um mit dem so oft üblichen heteronormativen Blick auf Prostitution zumindest vorübergehend zu brechen. Um das Aktenmaterial einordnen zu können, werden jedoch zunächst die rechtlichen Rahmenbedingen skizziert.
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MÄNNLICHE UND WEIBLICHE PROSTITUTION IN DER WEIMARER REPUBLIK
I.
Der rechtliche Rahmen: Sanktionsmechanismen nach dem Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt
Mit der parlamentarischen Verabschiedung (1922) und dem Inkrafttreten (1924) des Reichsgesetzes für Jugendwohlfahrt schuf der Weimarer Fürsorgestaat ein dichtes Geflecht rechtlicher Normen zur Sanktionierung von jugendlicher Devianz. Das neue Reichsgesetz etablierte mit der Fürsorgeerziehung und der Unterbringung von Jugendlichen in Fürsorgeerziehungsheimen endgültig ein wirksames Bündel von Strafmaßnahmen, die normierend auf das Verhalten von jugendlichen Männern und Frauen einwirken sollten. Die Genese von staatlicher Fürsorgeerziehung und die Herauslösung von Jugendgerichtsbarkeit und Fürsorgeerziehung aus dem Erwachsenenstrafrecht kann hier nicht in allen Details nachgezeichnet werden (vgl. hierzu Münchmeier/Peukert 1990: 5 f.). Mit dem Inkrafttreten des RJWG war jedoch eine Entwicklung abgeschlossen, die dem Recht von Kindern und Jugendlichen auf Erziehung eigene Rechtsinstitutionen verschaffte. Besonders Richard Münchmeier und Detlev Peukert weisen zugleich darauf hin, dass dieses Recht »keineswegs ein von der Entfaltung der Einzelpersönlichkeit her gedachtes Individualrecht [war], sondern das Recht des Staates auf die Beaufsichtigung und eventuelle Korrektur des Erziehungsprozesses namens und an Stelle des Kindes markierte« (ebd.: 9). Das Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt bündelte und straffte auf diese Weise Strukturen, die einen disziplinierenden Einfluss auf deviante Jugendliche ausüben konnten (Lücke 2008: 162 ff.). Die zentrale Institution der Jugendfürsorge wurde das Jugendamt, dessen Einrichtung das Gesetz in allen Landkreisen und kreisfreien Städten vorschrieb (Uhlendorff 2003: 305 ff.; Wollasch 1999: 21). Das Jugendamt konnte durch eine »Mitwirkung bei der Schutzaufsicht und der Fürsorgeerziehung« (§§ 3 bis 4 RJWG) erheblichen Einfluss auf die Vormundschaftsgerichtsbarkeit gewinnen. Die Vormundschaftsgerichte konnten Schutzaufsicht über einen Minderjährigen verhängen, wenn eine solche Maßnahme »zur Verhütung seiner körperlichen, geistigen und sittlichen Verwahrlosung geboten und ausreichend erscheint« (§ 56 RJWG). Eine solche Schutzaufsicht konnte in der »Überwachung des Minderjährigen« bestehen, auch war es möglich, über seinen Arbeitsverdienst zu verfügen (ebd.). Wurde eine solche Schutzaufsicht nicht mehr als ausreichend angesehen, konnte das Vormundschaftsgericht auch Fürsorgeerziehung aussprechen. Das bedeutete die Einweisung in eine Erziehungsanstalt.
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MARTIN LÜCKE
Die im Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt verkündeten Sanktionsmechanismen erscheinen als staatliche Praktiken, die deviantem Verhalten in normierender Absicht begegneten. Insbesondere die Maßnahme der Fürsorgeerziehung wurde von den Beteiligten dabei keinesfalls als Maßnahme wohltätiger erzieherischer Fürsorge, sondern im Gegenteil als harte Strafsanktion interpretiert. So diskutierte etwa das Blatt Berlin am Morgen gegen Ende der 1920er Jahre über Züchtigungsmaßnahmen in den Fürsorgeanstalten und nannte dabei insbesondere den »Arrest in geschlossener Einzelzelle bis zu sieben Tagen« oder die »[k]örperliche Züchtigung mit Tafel- oder Rohrstock (1 cm) von bis zu zehn Hieben auf das mindestens mit einer Unterhose bekleidete Gesäß« (Lücke 2008: 222). Die Hamburger Fürsorgebehörden diskutierten sogar über eine Spezialanstalt für männliche Prostituierte und Homosexuelle, die aus einer »Kombination zwischen >Fürsorgeerziehungs-@ Anstalt und Arbeitshaus« bestehen sollte (ebd.: 232). Als der gelernte Friseur Egon F., der in Berlin der Prostitution nachging und zuvor in den Fürsorgeanstalten Rastenburg und Struveshof eingesessen hatte, 1928 im Rahmen eines sexualwissenschaftlichen Forschungsprojektes zum Thema Fürsorgeerziehung befragt wurde, fand er zum Strafcharakter dieser Maßnahme deutliche Worte und führte aus: »Da richtn se ein erst richtig ssu!« (Ebd.: 225)1
II.
Geschlechterprofile in der Fürsorgetheorie
In der bisherigen Forschung zu Fürsorgetheorie und -praxis war die geschlechterdichotome Vorstellung omnipräsent, dass Mädchen vor allem wegen sexueller Delikte in das Visier der Vormundschaftsgerichtsbarkeit gerieten, während die Jungen vor allem wegen Diebstahlsdelikten und einer unsteten Bildungs- und Erwerbsbiografie zum Gegenstand staatlicher Sorge und Sanktion wurden. Die Jugendhistorikerin Christina Benninghaus etwa stützt diese Themendifferenzierung auch im Hinblick auf den Zeitraum der Weimarer Republik, indem sie ausführt:
1
Das Zitat stammt aus der so genannten »Linsert-Enquete«, die der kommunistische Homosexuellenaktivist Richard Linsert (1899-1933) in den 1920er Jahren in Berlin anfertigte, indem er und evtl. auch weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Berliner Instituts für Sexualwissenschaft qualitative Interviews mit männlichen Prostituierten anfertigten. Auf diese Weise ist die wohl ungewöhnlichste Quelle zur Geschichte der mannmännlichen Prostitution entstanden. Vgl. auch Lücke (2008: 27 f., 97 ff., 280 ff.).
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MÄNNLICHE UND WEIBLICHE PROSTITUTION IN DER WEIMARER REPUBLIK
»Mädchen gerieten im Gegensatz zu Jungen nicht vornehmlich wegen krimineller Vergehen in Fürsorgeerziehung, sondern weil ihr Sexualverhalten als abweichend klassifiziert wurde. Daneben bildete die weibliche Sexualität besonders in Kriegs- und Krisenzeiten eine Projektionsfläche für gesellschaftliche Ängste.« (Benninghaus 1999: 19)
Gerade für die Zeit der Weimarer Republik lässt sich jedoch feststellen, dass zunehmend auch die Sexualität der Jungen in den Blick geriet. Die zuvor angeführten Beispiele gaben hierzu bereits eine erste Auskunft: Zwar galten für Jungen und Mädchen nach wie vor unterschiedliche Maßstäbe zur Beurteilung ihrer Sexualität, aber auch Jungen konnten nun in die Fänge der Fürsorgeerziehung geraten, wenn ihr sexuelles Handeln als deviant und gefährlich interpretiert wurde. Insbesondere die männliche Prostitution geriet dabei zum Gegenstand der Sorge. Der Fürsorgetheoretiker Hans Muser etwa fasste das Gefährdungspotenzial, das er dieser sexuellen »Verwahrlosungserscheinung« zuschrieb, in seiner sozialwissenschaftlichen Dissertation Homosexualität und Jugendfürsorge, die im Frühjahr 1933 erschien, wie folgt zusammen: »Wie schon angedeutet, wird hier unter sexueller Gefährdung der männlichen Jugendlichen ausschließlich die Gefährdung durch ho[mosexuelle] Beeinflussung verstanden. Nicht aber, woran man vielleicht auch denken könnte, eine Gefährdung durch normalen Geschlechtsverkehr oder durch Onanie. Letztere ist nur von Bedeutung für unsere Betrachtung, insofern sie geeignet ist, gegenseitige Onanie und über diesen Weg auch ho[mosexuelles] Fühlen herbeizuführen. Der normale Geschlechtsverkehr aber hat für die männliche Jugend bei weitem nicht die destruierende Bedeutung wie für die weibliche Jugend, eine Tatsache, auf die auch im Strafrechtsausschuß des Reichstags bei der Feststellung des sexuellen Schutzalters der Jugend hingewiesen worden ist. Demgegenüber spielt die ho[mosexuelle] Betätigung für die persönliche Gesamthaltung eines jugendlichen Menschen eine ganz andere Rolle. Sexuelle Gefährdung heißt aber nicht bloß Gefährdung des normalen sexuellen Lebens – wenn auch dieser Zusammenhang bedeutsam ist – heißt vielmehr GEFÄHRDUNG DER GESAMTPERSÖNLICHKEIT. Diese kurzen Andeutungen seien vorausgeschickt, um die sexuelle Gefährdung der männlichen Jugend einigermaßen zu charakterisieren. Das bedeutsamste Kennzeichen aber dieser Gefährdung ist die Prostitution.« (Muser 1933: 15 f., H. i. O.)
Solche Äußerungen eines Fürsorgetheoretikers sind keinesfalls nur Ausdruck von theoretisch-hypothetischer Reflexion: Muser stützte sich im Rahmen seiner Dissertation auf eine Auswertung von Beständen des Hamburger Jugendamtes, die nach 1925 eine eigene Fürsorgestelle für
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sexualgefährdete männliche Jugendliche unterhielt, deren Aufgabe explizit in einer Bearbeitung der männlichen Prostitution bestand und die immerhin über einen Zeitraum vom mindestens zwei Jahren mit drei regulären Planstellen besetzt war (Lücke 2008: 202 ff.). Männliche Prostitution war also nicht nur virulentes Thema der Fürsorge in theoretischer Hinsicht, sondern auch bei der praktisch-konkreten Fürsorgearbeit ein bedeutungsvoller Gegenstand.
III. G e s c h l e c h t e r p r o f i l e i n d e r G e r i c h t s p r a x i s Welchen geschlechternormierenden Charakter die Tätigkeit von Fürsorge entfalten konnte, zeigt sich bei einer Analyse des Redens über männliche Prostitution vor dem Vormundschaftsgericht. Hier lohnt sich insbesondere ein Blick auf die Bestände des Amtsgerichtsbezirkes BerlinCharlottenburg, der heute jedoch nur noch in unvollständiger Überlieferung vorliegt. Für den Zeitraum von 1919 bis 1938 sind noch insgesamt 1217 Fürsorgeerziehungs- und Schutzaufsichtsverfahren erhalten.2 Nimmt man alle für Berlin-Charlottenburg überlieferten Verfahren gegen Jungen in den Blick, die 13 Jahre und älter waren (für diese Alterskohorte hält zumindest Hans Muser männliche Prostitution für ein signifikantes Thema), bleiben von den 1217 Verfahren schließlich noch 203 Einzelprozesse übrig. In insgesamt 34 dieser Verfahren wird explizit erwähnt, dass sich die Jungen mit mann-männlicher Sexualität Geld verdient haben. 25 Fälle wurden während der Jahre der Weimarer Republik verhandelt, neun Fälle beschäftigten das Vormundschaftsgericht in der Zeit von Februar 1933 bis zum Ende des Jahres 1935. Bei zahlreichen anderen Jungen ist »Herumtreiberei« die Ursache für die Einweisung in die Fürsorgeanstalt. Bei ihnen ist auffällig, dass sie sich besonders häufig an Orten »herumgetrieben« haben sollen, die eindeutig auch Orte der männlichen Prostitution waren, z. B. im Berliner Tiergarten, am Potsdamer Platz oder im Preußenpark. Außerdem verfügten sie über 2
Es handelt sich dabei um den Bestand Amtsgericht Charlottenburg: Akten betreffend die Fürsorgeerziehung, Landesarchiv Berlin A Rep 342 Acc. 711, Nr. 4860-6077. Im Folgenden wird dieser Bestand mit »LAB« abgekürzt, die Ziffern beziehen sich auf die Paginierung der Verfahrensakte. Nach Auskunft des Landesarchivs Berlin ist der Bestand des Charlottenburger Vormundschaftsgerichts nicht vollständig überliefert. Der Bestand kam in den 1950er Jahren in die Obhut des Archivs. Es ist nicht bekannt, nach welchen Kriterien die Ablieferung vorsortiert wurde bzw. in welchem Umfang die Akten zuvor durch Kriegsverluste dezimiert worden waren.
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Geldsummen, über deren Herkunft ihre Eltern bzw. Vormünder im Unklaren waren. Es kann nicht mehr nachvollzogen werden, ob die heute noch zugänglichen Charlottenburger Fürsorgeakten einen repräsentativen Querschnitt aus allen dort ansässigen Verfahren bilden. Deshalb kann aufgrund des quantitativen Befundes, dass in 34 von insgesamt 203 Verfahren explizit von der männlichen Prostitution die Rede ist, keine Verallgemeinerung etwa in der Art getroffen werden, dass in ungefähr 17 Prozent aller Fürsorgefälle der entsprechenden Altersgruppe männliche Prostitution relevant wurde. Der Befund von insgesamt 34 Prostitutionsfällen deutet jedoch immerhin darauf hin, dass die männliche Prostitution kein marginales Phänomen war, sondern zum Alltag der Fürsorgegerichtsbarkeit gehörte. Sie war für das Vormundschaftsgericht offenbar ein typisches Verwahrlosungsphänomen neben den bisher von der historischen Fürsorgeforschung ausführlich diskutierten männlich konnotierten Verwahrlosungsphänomenen wie Gewalt- und Eigentumsdelikten.3
Das Verfahren um Hans Steinke4 Die Gerichtspraxis als Form von doing gender zu begreifen, in der normative Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit aufgegriffen, reproduziert und auf diese Weise Geschlecht zu einer wirkungsvollen Kategorie der Rechtspraxis werden konnte, soll hier bedeuten, sich Einzelfälle genauer anzuschauen, um an ihnen zu erkennen, wie das Vormundschaftsgericht Geschlecht in der Gerichtspraxis hergestellt hat. Hier lohnt sich insbesondere ein Blick auf das Verfahren um den Jugendlichen Hans Steinke: In seinem Fall tritt der geschlechtliche Charakter der Gerichtspraxis auf besonders deutliche Weise zum Vorschein. Das Verfahren gegen Hans, der am 2. April 1909 in Kiel zur Welt kam und dessen Vater im Ersten Weltkrieg starb, wurde auf Initiative der Mutter eröffnet, die am 2. Mai 1928 beim Jugendamt Charlottenburg formal die Einleitung eines Fürsorgeerziehungsverfahrens beantragte. Überliefert sind Beschluss und Beschlussbegründung des Verfahrens vom 15. Oktober 1928. Die Beschlussbegründung im Fall Steinke beginnt mit einer Darstellung der Schul- und Erwerbsbiografie des jungen Mannes. So konnte das 3 4
Die hier zur Systematik und Quantität männlicher Prostitution dargestellten Angaben sind übernommen aus Lücke (2008: 166 ff.). Das Fürsorgeverfahren gegen Hans Steinke wird ausführlicher dargestellt in Lücke (2008: 173-178). Der Fall ist überliefert unter LAB, Nr. 5905 (vgl. Fn. 2). 219
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Gericht nach einem Blick in das Arbeitsbuch des jungen Mannes schlussfolgern, »daß er >es@ auf keiner Stelle lange ausgehalten hat« (LAB: 4). Nach Auffassung des Gerichtes war die Ursache für eine solche wechselhafte Erwerbsbiografie folglich bei Hans Steinke selbst zu suchen. Ebenso wurde es seiner mangelnden Initiative zugeschrieben, dass er ab dem 21. Mai 1928 dauerhaft arbeitslos war (ebd.: 4). Zum Gegenstand staatlicher Sorge wurde der junge Mann also zunächst deshalb, weil er sich einem geregelten Erwerbsleben entzog und auf diese Weise den insbesondere an männliche Jugendliche gestellten Ansprüchen einer geregelten Erwerbsbiografie widersetze. Ausführlich beschäftigte sich das Gericht mit der Frage, wie der junge Mann stattdessen seine Zeit verbracht hat. So zitierte das Gericht in seiner Beschlussbegründung zunächst ausführlich aus dem Antrag der Mutter vom 12. Mai 1928, durch den das Fürsorgeverfahren überhaupt erst ins Rollen gebracht worden war. Über das Verhalten von Hans während seiner Arbeitslosigkeit hatte die Mutter nämlich zu Protokoll gegeben: »Er trieb sich bis spät in die tiefe Nacht hinein herum, schlief dann immer bis nachmittags, um dann wieder fortzugehen. Sonderbarerweise hatte er immer Geld und auch Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt zu fristen, da ich ihm bald bei meiner schwierigen wirtschaftlichen Lage nichts mehr für den Lebensunterhalt geben konnte. Auf meine Vorhaltungen, daß er sich um Arbeit oder wenigstens um Unterstützung bekümmern müsse, bedrohte er mich und sagte mir die gemeinsten Redensarten.« (Ebd: 1 f.)
Um zu beweisen, dass »der Jugendliche sich in Berlin durch homosexuellen Umgang Geld verdient« hat, um also darzulegen, auf welche Weise Hans Steinke die Besorgnis erregende nächtliche Kontrolllücke zu schließen wusste, bediente sich das Gericht der Aussage eines Jugendpflegers. Die Aussage von Zachow ist nicht im Wortlaut überliefert, sondern in zusammenfassender Form in die Beschlussbegründung eingefügt. Dass Hans »von der Charlottenburger Oper mit Herrn im Auto mitgefahren und erst spät nachts gegen 2 Uhr und 3 Uhr nach Hause gekommen« und »zu dieser Zeit stets Geldbeträge in Höhe von 6-7 RM bei sich« hatte, habe Hans, so das Gericht, dem Jugendpfleger Zachow gegenüber bereits mündlich zugegeben. Zachows Charakterisierung von Hans und seine Begegnungen mit dem jungen Mann fasste das Gericht wie folgt zusammen: »Bei den Besuchen des Fürsorgers Zachow hat dieser Hans mehrmals nachmittags entkleidet im Bett schlafend angetroffen. Auf die Frage, ob er denn 220
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Geld habe, nannte Hans als denjenigen Betrag, den er angeblich damals besaß, 6-7 RM, einen Betrag, den die Mutter dem Fürsorger bereits früher >...@ genannt hatte. Auf die Vorhaltungen, daß er meistens zu später Nachtstunde nach Hause komme, sagte Hans dem Fürsorger, er verdiene sich dadurch Geld, daß er vor der Charlottenburger Oper den Besuchern derselben die Türen der Autos öffne bezw. schließe. Als nunmehr der Fürsorger entgegnete, daß Opernschluß doch spätestens um ½ 12 Uhr sei und dann Hans doch wohl mit den Herren mitfahre, gab er dies ausdrücklich zu. Auch sagte er, daß er einsehe, daß er seine Gesundheit schädige, nachdem der Fürsorger ihn darauf aufmerksam gemacht hatte. Weiter erklärte er, daß er im vorhergehenden Herbst von anderen Jungen dort vor der Oper verführt worden sei. Insbesondere folgt aber auch aus der Kleidung und dem sich angeeigneten Gebaren des Hans, daß er homosexuellen Umgang gepflogen hat. So verwendete er besondere Sorgfalt auf seine Kleidung, plättete sich stets seine Krawatten und trug auch seine Augenbrauen ausrasiert.« (LAB: 3)
Zunächst verdeutlichen die Ausführungen des Jugendpflegers die Ermittlungsakribie, die das Jugendamt im Vorfeld des Fürsorgeverfahrens an den Tag gelegt hatte. Gerade der Besitz von Geld wurde zum Gegenstand des staatlichen Kontrollbedürfnisses und war ein deutliches Verdachtsmoment in Hinblick auf Prostitution. Ein Prostitutionsverdacht erschien jedoch in den Augen von Gericht und Jugendpfleger auch deshalb plausibel, weil Hans von Angewohnheiten und Verhaltensweisen, die für einen jungen Mann seines Alters und seiner sozialen Herkunft als üblich angesehen wurden, auf deutliche Weise abwich. Dazu gehörte zunächst der bloße Umgang mit »Herren«, die durch den Besuch des Opernhauses und den Besitz von Autos von deutlich anderem sozialen Status waren als der arbeitslose Hilfsarbeiter Hans Steinke. Hinzu kam, dass Hans – offenbar unüblich für einen jungen Mann seiner sozialen Schicht – eine besondere Sorgfalt auf seine Kleidung verwendete. Nicht etwa das Tragen von verschlissener Kleidung wird hier zum Indikator für »Verwahrlosung«, sondern im Gegenteil: die in den Augen des Gerichts viel zu akkurate Garderobe machte Hans verdächtig. Diese schichtspezifischen Verdachtsmomente wurden mit homosexuellen Stereotypen gepaart, indem etwa auf ausrasierte Augenbrauen und pauschalisierend auf ein »sich angeeignetes Gebaren« verwiesen wurde. Das Wissen darüber, was man sich genau unter einem solchen Gebaren vorzustellen habe und was das Ausrasieren von Augenbrauen mit der männlichen Prostitution zu tun habe, war dem Vormundschaftsgericht so präsent, dass es unnötig erschien, an dieser Stelle vertiefende Hinweise über die Hintergründe dieser Verdachtsmomente festzuhalten.
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Durch den Verweis darauf, dass »Hans mehrmals nachmittags entkleidet im Bett schlafend angetroffen« wurde, spielte das Gericht zudem auf diffuse Weise auf eine sexuelle Liederlichkeit des Jungen an. Hier mischen sich schichtspezifische und sexuell konnotierte Verdachtsmomente: Nachmittags schlafend im Bett angetroffen zu werden, widerspricht den Vorstellungen eines geregelten Arbeitslebens, wie es für einen jungen Mann seiner sozialen Stellung als üblich erachtet wurde. Das Erwähnen der körperlichen Unbekleidetheit deutet darauf hin, dass auch dies von Seiten der Fürsorge als unübliche Verhaltensweise angesehen wurde; Hans’ Abweichen davon macht ihn in moralisch-sittlicher Hinsicht verdächtig und lässt seine Betätigung als Prostituierter umso plausibler erscheinen. Und auch hier tritt die Ermittlungsakribie des Jugendpflegers zu Tage, der mit seiner Darstellung der Schlafsituation zu erkennen gibt, dass für ihn das Bett nicht zur privaten Schutzsphäre des jungen Mannes gehörte: Er scheute sich nicht, Hans an seiner Schlafstätte aufzusuchen und sein Charakterbild vor Gericht mit solchen sehr persönlichen Details auszuschmücken. Nur sehr verschlüsselt sprachen Jugendpfleger und Gericht über Sexualität. Neben den Andeutungen einer sexuellen Liederlichkeit, die sich aus dem unbekleideten Aufenthalt im Bett ergaben, wurde lediglich davon gesprochen, dass »Hans doch wohl mit den Herren mitfahre«; über den vermuteten eigentlichen Zweck dieser Fahrten wurde genauso geschwiegen, wie Gericht und Jugendpfleger offen ließen, worin genau die gesundheitlichen Gefahren der »Fahrten« bestanden. Ob hier etwa eine allgemeine Gefahr durch Geschlechtskrankheiten gemeint ist, eine spezielle Gefahr durch bestimmte Sexualpraktiken oder die Gefahr einer dauerhaften Verführung zu Homosexualität, lässt die Beschlussbegründung offen.5 Die Diagnose, die sich aus einer solchen Faktensammlung des Gerichts ergab, kann kaum mehr überraschen. Es hieß: »Aufgrund des oben festgestellten Sachverhalts kann kein Zweifel darüber bestehen, daß der Jugendliche bereits in hohem Grade verwahrlost ist und daß sein Hang zu einem liederlichen, arbeitsunwilligen und unsittlichen Lebenswandel bei ihm stark verwurzelt ist. Es handelt sich um einen in moralischer Beziehung schon stark verwahrlosten Jugendlichen, der einer regelmäßigen und geordneten Erziehung dringend bedarf.« (LAB: 3)
5
Die hier zusammengestellte Interpretation zum geschlechtlichen Charakter der Aussagen des Jugendpflegers Zachow sind entnommen aus Lücke (2008: 175 ff.).
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Bemerkenswert ist hier die Ausdrücklichkeit, in der die »Verwahrlosung« attestiert wurde: Hans Steinke war »bereits in hohem Gerade« verwahrlost, seine »Verwahrlosung« war »stark verwurzelt«, und insbesondere in moralischer Hinsicht, so scheut sich das Gericht nicht zu wiederholen, er sei ganz besonders verwahrlost gewesen. Sein Lebenswandel wurde als liederlich, arbeitsunwillig und unsittlich bezeichnet; hier mischen sich Attribute, die sich sowohl auf die Sexualität als auch auf das Arbeitsverhalten des jungen Mannes beziehen.
IV. V e r w a h r l o s u n g s p r o f i l e m ä n n l i c h e r Prostituierter im Überblick Das Beispiel von Hans Steinke war nur ein einziges eines Jungen, der wegen einer Betätigung als männlicher Prostituierter in das Visier der Vormundschaftsgerichtsbarkeit geriet. Überblickt man auch die anderen vor dem Charlottenburger Gericht verhandelten Fälle, so lassen sich gemeinsame Charakteristika erkennen: Eine »Verwahrlosung« durch die männliche Prostitution wurde zumeist relational zur Schul- und Erwerbsbiografie der Jungen diagnostiziert. Zwar kam es hier aufgrund der Verschiedenheit der Einzelfälle zu ganz unterschiedlichen Befunden, das Leitbild einer Erwerbstätigkeit der Jungen wurde aber immer zum Maßstab, an dem die »Verwahrlosung« durch Prostitution gemessen werden konnte. Dieses Charakteristikum zeigt in Anlehnung an Thomas Welskopp, dass auch bei der fürsorgerischen Bewertung von männlicher Prostitution deutlich wird, dass »Arbeit im Zentrum der modernen Gesellschaft« (Welskopp 2004: 225) steht. Auch zeigt sich, dass besonders die nächtliche Großstadt als gefährdender Faktor für die Jugendlichen angesehen wurde. Indem junge Männer Geld durch Prostitution verdienten, entzogen sie sich einer Kontrolle über ihre materiellen Ressourcen und erschufen zeitliche und finanzielle Freiräume für sich, um in das nächtliche Großstadtleben einzutauchen. Darüber hinaus stützten sich die Argumentationen vor Gericht häufig auf Verdachtsmomente und reproduzierten Stereotype über Verhaltensweisen, die als typisch für Homosexuelle erachtet wurden. Das vermeintliche Wissen über typisch homosexuelle Verhaltensweisen wurde vom Vormundschaftsgericht nicht hinterfragt, sondern bereits bloße Verdachtsmomente, aufgrund derer Prostitution attestiert wurde, besaßen so große Plausibilität, dass sie die Rolle von Beweisen in den Verfahren übernehmen konnten. Auf diese Weise konnten Stereotype über Homosexualität eine Festigung erfahren.
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Die Tätigkeit des Vormundschaftsgerichts kann, das zeigt ein Blick in die Texte, die hier entstanden sind, als eine Form von doing gender aufgefasst werden: Das Gericht entwarf Konzepte von devianter männlicher Adoleszenz für männliche Jugendliche aus sozial unterprivilegierten Schichten und ließ auf diese Weise die Kategorie Geschlecht in Relation, vor allem in Relation zur Kategorie der sozialen Herkunft (class), wirksam werden. So konnte unter Zuhilfenahme der Sanktionspotenziale des Reichsgesetzes für Jugendwohlfahrt ein Konzept vorbildlichhegemonialer Männlichkeit für die Unterschichten durchgesetzt werden, das sich in strikter Abgrenzung zum Verwahrlosungsprofil männlicher Prostituierter durch die Parameter einer geregelten Erwerbstätigkeit, durch Heterosexualität und durch Widerstandskraft gegenüber den Gefahren und Verführungen der Großstadt auszeichnete.
V.
Vergleich zu Verwahrlosungsprofilen von weiblichen Fürsorgezöglingen
Die Geschlechtsspezifik des Verwahrlosungsprofils »männliche Prostitution« tritt in noch deutlicherer Form bei einem Vergleich mit den von der Historikerin Kerstin Kohtz erarbeiteten Verwahrlosungsprofilen von Mädchen hervor. In den 135 Fällen, die sie aus dem Charlottenburger Aktenbestand in den Blick genommen hat, wurde in 94 Fällen gegen Mädchen der Altersspanne zwischen 14 und 21 Jahren ermittelt. In 73 dieser Fälle wurden die Mädchen mit Vorwürfen sexueller »Verwahrlosung« konfrontiert (Kohtz 1999: 171). Das bedeutet freilich nicht, dass sexuelle »Verwahrlosung« bei den Mädchen das einzig relevante Merkmal beim Attestieren von jugendlicher weiblicher Devianz war. Zwar zielte bei »drei Vierteln aller Verfahren gegen Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren >...@ die Anordnung einer Erziehungsmaßnahme mehr oder weniger unausgesprochen darauf ab, ihr vermeintliches Abgleiten in die Prostitution zu verhindern« (Kohtz 1997: 768), das Arbeitsverhalten der Mädchen blieb dabei jedoch nicht unbeachtet. So diente auch bei den Mädchen die Arbeitsstelle als Kontrollinstanz für ihr außerhäusliches Verhalten. Durch eine möglichst lückenlose Erwerbsbiografie sollte bei ihnen die Übergangsphase zwischen Schule und Ehe organisiert werden, freilich mit dem geschlechtlich kodierten Ziel einer Vorbereitung auf die ihnen zugedachte Rolle als Mütter (ebd.: 768 f). Beim »Verwahrlosungsfaktor« der Sexualität zeigt sich jedoch auf deutliche Weise, dass die Fürsorge Jungen und Mädchen unterschiedlich große geschlechtlich kodierte Freiräume für erlaubtes sexuelles Verhal-
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ten zuwies: Mädchen gerieten nicht nur in das Visier der Fürsorge, wenn sie entgeltliche Sexualität anboten. Zwar bildete die Frage, ob sexuelle Handlungen mit materiellen Gegenleistungen verknüpft worden waren, ein wichtiges Kriterium des Gerichts, und die Mädchen konnten sicher sein, beim Vorliegen eines solchen Tatbestandes erst recht als »verwahrlost« angesehen zu werden. Generell lässt sich jedoch festhalten, dass bei den Mädchen auch die unentgeltliche (Hetero-)Sexualität6 in jugendlichem Alter bereits Anlass zur Sorge bot und Grund genug war, sie einer Anstaltserziehung zu überweisen (Kohtz 1999: 171 ff.). Bei den Jungen war jedoch fast ausschließlich nur dann von sittlicher »Verwahrlosung« die Rede, wenn sie homosexuelle Beziehungen eingegangen und in der männlichen Prostitution tätig waren. Dieser Tatbestand korrespondiert mit der Auffassung von Hans Muser, dass bei Mädchen die sexuelle Betätigung als solche bereits Anlass zur Sorge bereitete, während bei den Jungen nur eine homosexuelle Betätigung und insbesondere die männliche Prostitution zum Stein des Anstoßes wurde (Muser 1933: 15 f.). Musers Auffassung war demnach keine Einzelmeinung eines Fürsorgetheoretikers, sondern ein gängiges Muster der Gerichtspraxis.
Literaturverzeichnis 1.
Quellen
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Kerstin Kohtz hat in ihrem Sample nur Mädchen untersucht, die wegen heterosexueller Verfehlungen in das Visier der Fürsorge geraten sind. 225
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2.
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226
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Lesarten: Kriminalität, Geschlecht und amtliche Statistiken DAGMAR OBERLIES UND JUTTA ELZ
I.
Vorbemerkungen
Im Herbst 2008 fand in Wiesbaden eine Fachtagung der Kriminologischen Zentralstelle e. V. (KrimZ) zum Thema Täterinnen – Befunde, Analysen, Perspektiven (Elz 2009) statt, die von der einen Autorin organisiert, von der anderen mit einer Gruppe Studierender besucht worden war. Aufgrund des dort Gehörten – u. a. der vermeintlichen Bevorzugung von Straftäterinnen gegenüber Straftätern bei der Sanktionierung – entstand der Entschluss, sich mit den kriminalitätsbezogenen Statistiken unter dem Aspekt der Geschlechtsstruktur zu befassen. Ausgangspunkt war dabei nicht das Winston Churchill zugeschriebene Zitat: »Ich glaube keiner Statistik, die ich nicht selbst gefälscht habe.«1 Stattdessen hieß es: »Ich glaube keiner Statistik, die ich nicht selbst gelesen habe.« Zusammen haben sich die Studierenden2 und wir drei Aspekte ausgesucht und diese exemplarisch bearbeitet, nämlich:
1
2
Barke (2004: 50) kommt allerdings nach längerer Recherche zu dem Ergebnis: »Nichts spricht für die Richtigkeit des ›Zitats‹ und alles spricht dagegen.« Annette Bertling, Faiza Habib, Sandra Höfer, Silke Lehr, Saide Minareci, Sabine Müller, Gerardina Procida-Schreiber, Jurek Reinhardt, Janine Wenz, Simon Wind, Bianca Zenglein. 229
DAGMAR OBERLIES UND JUTTA ELZ
1. Kriminalität und Kriminalitätsentwicklung, 2. Selektion und Sanktion, 3. Opferrisiko und Kriminalitätsfurcht. Auf dem gemeinsam Erarbeiteten basieren die folgenden Ausführungen. ›Kriminalität‹ wird dabei verstanden als das Produkt eines gesellschaftlichen Prozesses, in dem einer Handlung eine Bedeutung (›kriminell‹) zugeschrieben wird. Das Ergebnis findet – sofern es nicht im privaten Raum und damit im ›Dunkelfeld‹ verbleibt, sondern zur Kenntnis der Polizei gelangt – seinen Niederschlag in der jährlich mit den Daten des Vorjahres erscheinenden Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) des Bundeskriminalamtes sowie den Rechtspflegestatistiken,3 die vom Statistischen Bundesamt erstellt und herausgegeben werden. Diese amtlichen Erhebungen bilden demnach keine ›naturgegebene‹ Wirklichkeit ab, sondern sind das Resultat vielfältiger Zuschreibungen, an denen verschiedene Akteure und Akteurinnen – wie Anzeigende, Ermittlungs- und Justizbehörden, Gesetzgebung, Rechtswissenschaft, aber auch ›die öffentliche Meinung‹ – beteiligt sind. Dabei kommt es im Zeitverlauf immer wieder zu Umwertungen. Als Beispiele neueren Datums können gelten: • Betäubungsmitteldelikte oder Schwangerschaftsabbruch (Entkriminalisierung) sowie • Häusliche Gewalt, Stalking oder Umweltdelikte (Kriminalisierung). Das hat nicht nur Änderungen des Strafrechts zur Folge, sondern u. a. Auswirkungen auf das Anzeigeverhalten der Bevölkerung und die Verfolgungsintensität der Polizei, wie in den letzten Jahren etwa bei Sexualdelikten oder auch Jugendkriminalität zu beobachten ist. Amtliche Statistiken sind somit lediglich Momentaufnahmen mehrdimensionaler Selektionsprozesse, sozusagen Stadien gelungener Etikettierung.
3
Dabei handelt es sich v. a. um die Strafverfolgungsstatistik (StVerfStat) mit Angaben über im Erhebungsjahr rechtskräftig abgeurteilte/verurteilte Personen sowie die Strafvollzugsstatistik (StVollzStat), in der alle Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten erfasst werden.
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LESARTEN: KRIMINALITÄT, GESCHLECHT UND AMTLICHE STATISTIKEN
II.
Kriminalität und Kriminalitätsentwicklung
Sowohl bei der jährlichen Vorstellung der jeweils neuesten PKS als auch bei einer anlassbezogenen Verwendung der Daten in den Massenmedien gilt, dass selten absolute Zahlen, stattdessen ›Entwicklungen‹, also – je nach Intention – Anstiege oder Rückgänge, im Mittelpunkt stehen: Die Gesamtkriminalität hat um X Prozent zu- oder abgenommen, die Aufklärungsquote ist um X Prozent gestiegen oder gesunken, die Zahl jugendlicher Tatverdächtiger bzw. solcher mit Migrationshintergrund hat sich um X Prozent erhöht oder reduziert usw. Um solche Veränderungen sinnvoll lesen und interpretieren zu können, müssen am Beginn jedoch Basis-Zahlen stehen. Im Hinblick auf die Geschlechtsstruktur bedeutet dies für das Jahr 2007 (Bundeskriminalamt 2008: 72):4 Von 2.294.883 Personen, die laut PKS nach dem Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen als ausreichend verdächtig galten, eine Straftat begangen zu haben – so genannte Tatverdächtige (TV) – waren lediglich 554.738 und damit 24,2 Prozent weiblich. Mit anderen Worten: Obwohl Frauen bekanntlich etwa die Hälfte der Bevölkerung stellen, kommt dennoch auf drei männliche lediglich eine weibliche Tatverdächtige. Zudem zeigen sich wesentliche Unterschiede in der Deliktstruktur (Abb.1). Als »Gewaltkriminalität« werden in der PKS bestimmte, besonders gravierende, mit körperlicher Gewalt gegen Personen verbundene Straftatbestände zusammengefasst.5 Während im Jahr 2007 fast 11 Prozent der männlichen Tatverdächtigen die Begehung solcher Gewaltdelikte vorgeworfen wurde, war die entsprechende Quote bei weiblichen Tatverdächtigen mit ca. 5 Prozent nur etwa halb so hoch. 4
5
Die PKS für das Jahr 2008 lag zum Zeitpunkt des Vortrages noch nicht vor, steht inzwischen aber – wie die Statistiken der Jahre zuvor – unter www.bka.de als Download zur Verfügung. »Gewaltkriminalität« umfasst in der PKS folgende Tatbestände inkl. ihrer Versuche (Bundeskriminalamt 2008: 16): Mord, Totschlag und Tötung auf Verlangen, Raub, räuberische Erpressung und räuberischer Angriff auf Kraftfahrer, erpresserischer Menschenraub und Geiselnahme, gefährliche und schwere Körperverletzung sowie solche mit Todesfolge und Angriff auf den Luft- und Seefahrtverkehr. Von den Sexualdelikten nach §§ 174 ff. StGB fallen nur Vergewaltigung und sexuelle Nötigung gem. § 177 Abs. 2, 3, 4 StGB bzw. mit Todesfolge in die Gruppe, so dass hier weder die »einfache« sexuelle Nötigung nach § 177 Abs. 1 StGB noch sexuelle Missbrauchsdelikte berücksichtigt werden. Zusammen machen gefährliche und schwere Körperverletzungen sowie Raubdelikte im Jahr 2007 über 95 Prozent der »Gewaltkriminalität« aus. 231
DAGMAR OBERLIES UND JUTTA ELZ
Nimmt man die »leichte« Körperverletzung6 hinzu, machten solche Taten mit körperlichen Übergriffen über 25 Prozent jener Delikte aus, die von männlichen Tatverdächtigen begangen worden sein sollen, während der Anteil bei weiblichen Tatverdächtigen lediglich 14 Prozent betrug. Abbildung 1: Deliktstruktur 2007, differenziert nach Geschlecht7
Weibliche Tatverdächtige
Männliche Tatverdächtige
(n = 554.738)
(n = 1.740.145)
„schwerer“ Diebstahl
„schwerer“ Diebstahl 2,1%
„einfacher“ Diebstahl
6,2%
sonstige Delikte
sonstige Delikte 29,6%
26,1% 19,0%
23,6%
14,9% 9,1%
23,3% 30,7%
„leichte“ Körperverletzung
4,9%
Gewaltkriminalität
10,5%
Vermögens- und Fälschungsdelikte
„leichte“ Körperverletzung Gewaltkriminalität
Quelle: PKS 2007
Demgegenüber stellten Eigentums-, Vermögens- und Fälschungsdelikte etwa 62 Prozent der Verdachtsfälle gegenüber Mädchen und Frauen, hingegen unter 50 Prozent derjenigen gegenüber Jungen und Männern. Zudem gibt es innerhalb der Diebstahlskriminalität8 wesentliche Unter6
7 8
Die hier und in der PKS zur Abgrenzung verwendete Tatbezeichnung »leichte« Körperverletzung findet sich so nicht im StGB. Es handelt sich dabei um die vorsätzlich begangene Grundform (§ 223 StGB), zu der es »Steigerungen«, insbesondere die »gefährliche« (§ 224 StGB) und die »schwere« (§ 226 StGB) Körperverletzung, gibt. Diese und alle folgenden Abbildungen wurden von den Autorinnen anhand der Daten der jeweils unter »Quelle« genannten Statistik(en) erstellt. Auch den »einfachen« Diebstahl oder – wie es in der PKS heißt – den »Diebstahl ohne erschwerende Umstände« gibt es im StGB nicht. Dabei handelt es sich um die Grundform »Diebstahl« (§ 242 StGB), zu der sich in §§ 243 ff. StGB »Steigerungen« finden, etwa durch einen mit dem Diebstahl verbundenen Einbruch, das Beisichführen einer Waffe oder die Begehung als Mitglied einer Bande. Diese Steigerungen werden hier zusammen als »schwerer« Diebstahl bezeichnet, in der PKS als »Diebstahl unter erschwerenden Umständen«.
232
LESARTEN: KRIMINALITÄT, GESCHLECHT UND AMTLICHE STATISTIKEN
schiede bezüglich der Tatschwere, soweit diese durch die Anwendung verschiedener Paragrafen in der PKS ihren Ausdruck findet: Etwa 7 Prozent aller Diebstähle, die weibliche Tatverdächtige begangen haben sollen, waren von »schwerer« Natur, während dies auf fast 25 Prozent jener Diebstähle zutraf, deren Begehung männlichen Tatverdächtigen vorgeworfen wurde – eine Differenz, auf die im zweiten Kapitel zurück zu kommen sein wird. So heißt es dann auch im Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht (2. PSB) des Bundesministeriums des Innern und des Bundesministeriums der Justiz aus dem Jahr 2006 (32/33): »Im Vergleich zu ihrem Bevölkerungsanteil werden deutlich weniger Frauen als Männer als Tatverdächtige registriert. […] Wie die Analyse der Deliktstruktur von Frauen im Vergleich zu jener ihrer männlichen Altersgenossen zeigt, werden Frauen […] vor allem wegen Delikten registriert, die im Schnitt deutlich weniger schwer sind als die der Männer.«
Aus dem Vorangestellten ergibt sich, dass es für die Darstellung – und damit die ›Lesart‹ – von (Kriminalitäts-)Entwicklungen wesentlich ist, ob man für Vergleichsgruppen (hier männliche vs. weibliche Tatverdächtige) einen identischen ›Nullpunkt‹ setzt und von diesem aus prozentuale Entwicklungen beschreibt, oder ob man absolute Zahlen verwendet. In den Abbildungen 2 und 3 wird das am Beispiel der genannten Gewaltkriminalität verdeutlicht. Aus den Daten der PKS-Zeitreihen, die das Bundeskriminalamt als Download zur Verfügung stellt, ergibt sich, dass sich die Zahl der weiblichen Tatverdächtigen in dieser Deliktsgruppe zwischen 1993 und 2007 und damit innerhalb von 15 Jahren tatsächlich mehr als verdoppelt hat, während sie bei männlichen Tatverdächtigen um weniger als 60 Prozent gestiegen ist (2009: Tab. 20). Da sich ähnliche Entwicklungen auch bei anderen Delikten zeigen, sind ›Lesarten‹ wie jene, dass »in den letzten Jahren die Zahl der weiblichen Tatverdächtigen deutlich angestiegen ist« (so die Redaktion in der Einführung zu Schmölzer 2003: 58), bzw. »die Anstiegsraten bei den Frauen [...] überwiegend höher oder zumindest in gleichem Masse gestiegen [sind] wie die der Männer« (Heinz 2004: 31), somit nicht falsch und außerdem medienwirksam.
233
DAGMAR OBERLIES UND JUTTA ELZ
Abbildung 2: Entwicklung der TV-Zahlen bei Gewaltkriminalität 19932007, differenziert nach Geschlecht (prozentual)
120 M ännliche T V
110
Weibliche T V 100 90
Prozent
80 70 60 50 40 30 20 10 0 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 Quelle: PKS Zeitreihen
Allerdings erlaubt erst die Darstellung anhand absoluter Zahlen wie in Abbildung 3 den zwar nicht so spektakulären, aber notwendigen (An-)Schluss: »Dies ändert aber nichts daran, dass Frauen weiterhin deutlich unterrepräsentiert sind, insbesondere im Bereich der schweren Kriminalitätsformen.« (Ebd.)9
9
Zur Entwicklung der absoluten Zahlen von 1993 bis 2007 im Hinblick auf die Gesamtkriminalität siehe Schmölzer (2009: 24).
234
LESARTEN: KRIMINALITÄT, GESCHLECHT UND AMTLICHE STATISTIKEN
Abbildung 3: Entwicklung der TV-Zahlen bei Gewaltkriminalität 19932007, differenziert nach Geschlecht (absolut)
200.000 Männliche TV Weibliche TV
180.000 160.000 140.000 120.000 100.000 80.000 60.000 40.000 20.000 0
1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007
Quelle: PKS Zeitreihen
III. S e l e k t i o n u n d S a n k t i o n Um den Selektionsprozess während der Strafverfolgung darzustellen, wird häufig – so etwa bei Jehle (2009: 9) – auf ein ›Trichtermodell‹ zurückgegriffen (dies zunächst ohne Differenzierung nach dem Geschlecht). Die amtlichen Statistiken, auf die das Modell in seinen verschiedenen Versionen Bezug nimmt, sind allerdings aufgrund unterschiedlicher Erfassungsgrundsätze und -zeiträume nur eingeschränkt kompatibel. In Deutschland gibt es nämlich keine ›Verlaufsstatistik‹, anhand derer man den Weg eines/r Tatverdächtigen durch das strafrechtliche System verfolgen könnte. Stattdessen setzt jede Statistik für den eigenen Arbeitsbereich neu an, weshalb z. B. die PKS Tatverdächtige, die mehrfach in einem Erhebungsjahr in Erscheinung treten, nach einer anderen Methode erfasst, als dies die StVerfStat mit einem Abgeurteilten oder Verurteilten10 tut, der wegen mehrerer Straftaten in einem Verfah10 Verurteilte sind Angeklagte, gegen die von einem Gericht eine Strafe (nach Erwachsenem- oder Jugendstrafrecht) verhängt wurde. Zählt man dazu jene Angeklagten, gegen die eine andere gerichtliche Entscheidung (meist eine Einstellung) erging, ergibt das die größere Gruppe der Abgeurteilten. 235
DAGMAR OBERLIES UND JUTTA ELZ
ren vor Gericht steht. Und die StVollzStat schließlich ermittelt nicht das Ergebnis eines Jahres – also etwa die Zahl der Personen, die in dieser Zeit in den Strafvollzug gelangten –, sondern erhebt den Bestand an einem Stichtag.11 Dies hat zur Folge, dass der genaue Ausfilterungsprozess nicht ermittelt werden kann. Allerdings wird weitgehend davon ausgegangen (oder zumindest nicht problematisiert), dass sich die genannten methodischen Schwierigkeiten bei Frauen und Männern vergleichbar auswirken. Deshalb wird das ›Trichtermodell‹ in einer Differenzierung nach dem Geschlecht gerne als Beleg für die Bevorzugung von Frauen im Selektions- und Sanktionsprozess – auch kurz »Frauenbonus« genannt – gelesen (so etwa Geißler/Marißen 1988). Tatsächlich werden Frauen nicht nur seltener als Männer polizeilich registriert. Aus Abbildung 4, die den Selektionsprozess bei Diebstahlsdelikten zum Gegenstand hat, ergibt sich, dass weibliche Tatverdächtige – geht man von dem ›Trichter‹ aus – gegenüber männlichen zudem etwas seltener ab- bzw. verurteilt und sehr viel seltener inhaftiert werden. Abbildung 4: Selektionsprozess bei Diebstahlsdelikten 2007, differenziert nach Geschlecht
Frauen
Männer
Tatverdächtige
Abgeurteilte
Verurteilte
Inhaftierte
400.000 300.000 200.000 100.000
0
100.000
200.000 300.000 400.000
Quelle: PKS 2007, StVerfStat 2007, StVollzStat 2007
11 Hinzu kommen weitere Probleme wie jene, dass eine Person nicht zwingend im selben Jahr verurteilt bzw. inhaftiert wird, in der sie auch der Begehung einer Straftat verdächtigt wurde. Ein Problem besteht seit 2007 aber nicht mehr: (Erst) seit diesem Jahr bezieht sich die StVerfStat – wie die PKS und StVollzStat – auf das gesamte Bundesgebiet. 236
LESARTEN: KRIMINALITÄT, GESCHLECHT UND AMTLICHE STATISTIKEN
Für Diebstahlsdelikte (in »einfacher« und »schwerer« Form) würde das auf der Grundlage der Statistiken für das Jahr 2007 (PKS: Bundeskriminalamt 2008: Tab. 20, S. 11; StVerfStat: Statistisches Bundesamt 2009a: 24; StVollzStat: Statistisches Bundesamt 2008: 25). bedeuten: Während die Ab- bzw. Verurteilungsquote weiblicher Tatverdächtiger nur gut 26 bzw. 21 Prozent beträgt, beläuft sie sich bei männlichen auf ca. 33 bzw. 27 Prozent. Und der Anteil Inhaftierter, bezogen auf Verurteilte, macht bei Frauen lediglich gut 2 Prozent, bei Männern hingegen 11 Prozent aus. Das hieße letztlich: Während von 200 weiblichen Tatverdächtigen, denen die Begehung eines Diebstahls vorgeworfen wurde, lediglich eine inhaftiert wurde, kommen auf eine entsprechende Zahl männlicher Tatverdächtiger sechs Inhaftierte. Vordergründig liest sich das beeindruckend. Von einem Frauenbonus kann man aber nur sprechen, wenn das Geschlecht auch tatsächlich der Grund für diese stärkere Ausfilterung ist. Das wäre aber zu kurz gedacht. Um ein früheres Beispiel einer der Autorinnen (Oberlies 1990: 129) aufzugreifen: »Wir würden ja auch nicht behaupten, das Geschlecht sei der Grund dafür, dass Männer weniger Badewasser verbrauchen.« Denn berücksichtigt und kontrolliert man die Variablen Größe und Gewicht (und damit die Wasserverdrängung), erledigt sich die Geschlechtszugehörigkeit als diskriminierendes Merkmal. Und so stellt sich die Frage nach den Unterschieden hinter dem – vermeintlich – Gleichen. Dabei ist zu bedenken, dass das Abstellen auf die Statistiken u. a. eine Beschränkung auf die rechtliche Einordnung einer Tat zur Folge hat. So muss etwa offen bleiben, ob zwischen den Geschlechtern – bei derselben strafrechtlichen Einordnung! – Unterschiede in der Begehungsweise von Straftaten und bei den zugrunde liegenden Motiven bestehen.
1.
Tatschwere
Zu Anfang wurde schon auf die unterschiedliche Tatschwere bezüglich der Gesamtkriminalität eingegangen. In Abbildung 5 werden nun lediglich jene Personen berücksichtigt, die laut PKS im Jahr 2007 der Begehung eines Diebstahls (Bundeskriminalamt 2008: Tab. 20, S. 8 ff.) verdächtigt wurden – mithin diejenigen, die auch im obigen ›Trichter‹ (Abb. 4) eingesetzt wurden. So zeigt sich, dass nicht nur der Anteil von »schweren« an allen Diebstählen bei Männern 3,5-mal so hoch ist wie derjenige bei Frauen. Darüber hinaus gibt es innerhalb des somit verbleibenden »einfachen« Diebstahls einen gravierenden Unterschied: Während es sich bei Taten weiblicher Tatverdächtiger zu etwa
237
DAGMAR OBERLIES UND JUTTA ELZ
80 Prozent um Ladendiebstähle12 handelt, beträgt die entsprechende Rate bei männlichen Tatverdächtigen nur ca. 60 Prozent. Mit anderen Worten: 73 von 100 Frauen, die der Begehung irgendeines Diebstahls verdächtigt werden, sollen einen Ladendiebstahl begangen haben, während dies nur auf 45 von 100 Männern zutrifft. Abbildung 5: Struktur der Diebstahlsdelikte 2007, differenziert nach Geschlecht
Weibliche Tatverdächtige
Männliche Tatverdächtige
(n = 175.943)
(n = 438.398)
sonstiger „einfacher“ Diebstahl
sonstiger „einfacher“ Diebstahl
Ladendiebstahl
„schwerer“ Diebstahl
30,3% 19,7%
6,7%
45,1%
24,6%
73,6%
„schwerer“ Diebstahl Quelle: PKS 2007
Ladendiebstahl stellt aber – so der Erste Periodische Sicherheitsbericht (1. PSB) des Bundesministeriums des Innern und des Bundesministeriums der Justiz aus dem Jahr 2001 (BMI/BMJ 2001: 118) – nicht nur
12 Die PKS bezeichnet den Diebstahl »von ausgelegten Waren durch Kunden während der Geschäftszeit« (Bundeskriminalamt 2008: 14) als Ladendiebstahl. Personaldiebstähle fallen also nicht darunter. Diese machen etwa 3 Prozent aller bekannt gewordenen sonstigen »einfachen« Diebstähle aus, werden von Männern und Frauen anteilig etwa gleich häufig begangen und führen zu höheren Schadenssummen (vgl. BMI/BMJ 2001: 118 f.). 238
LESARTEN: KRIMINALITÄT, GESCHLECHT UND AMTLICHE STATISTIKEN
wegen des vergleichsweise hohen Frauenanteils13 »einen Sonderfall innerhalb des Kriminalitätsgeschehens dar«.14 Für die hiesigen Ausführungen ist vor allem relevant, dass der Wert der gestohlenen Waren vergleichsweise gering ist: Laut PKS lag er im Jahr 2007 in über der Hälfte der Fälle unter 15 Euro – Taten, die in der PKS (Bundeskriminalamt 2008: 161) dann auch »Bagatelldelikte« genannt werden –, während das nur auf ein Viertel aller »einfachen« Diebstähle (also sogar unter Einschluss des Ladendiebstahls als Untergruppe) zutraf. Hinzu kommt, dass Ladendiebe üblicherweise (wenn überhaupt15) auf frischer Tat entdeckt werden, so dass die »gestohlenen Gegenstände dem Geschäft [regelmäßig] zurückgegeben werden« (BMI/ BMJ 2001: 119).16 Ähnliches lässt sich für andere Delikte zeigen. So betrug der Schaden beim »Waren- und Warenkreditbetrug« – einer weiteren Straftat mit relativ hohem Frauenanteil von etwa 31 Prozent im Jahr 2007 – in fast drei Viertel aller Fälle unter 250 Euro. Beim (allerdings wesentlich selteneren) Anlagebetrug hingegen, bei dem Frauen nur ca. 10 Prozent der Tatverdächtigen stellen, lag die Schadenshöhe in zwei Drittel der Fälle zwischen 5.000 und unter 25.000 Euro. Aufgrund der Unterschiede bei der Gesamtkriminalität und solcher innerhalb einzelner Straftaten(gruppen) liest man zum anteilig größeren ›Schwund‹ von Frauen zwischen ›Tatverdacht‹ und ›Verurteilung‹ bei Heinz (2004: 29) dann auch zu Recht: »Freilich beruht dies weniger auf einem ›Frauenbonus‹ der Justiz als vielmehr darauf, dass der Anteil der ›leichten‹ Kriminalität, die sich eher für eine Einstellung eignet, bei Frauen größer ist als bei Männern.« Die ›Schwere‹ der Kriminalität ist weiterhin bedeutsam für Art (und Dauer17) einer eventuellen Strafe und somit für die Ausfilterung zwi13 Allerdings darf man nicht vergessen, dass sogar bei dem vermeintlich typisch weiblichen Delikt »Ladendiebstahl« etwa 60 Prozent aller registrierten Taten von Männern begangen werden! 14 Der Ladendiebstahl wird auch im 2. PSB (BMI/BMJ 2006: 196 ff.) thematisiert; verwiesen wird aber auf den 1. PSB (BMI/BMJ 2001: 118 ff.) mit der »Detailbetrachtung« anhand der Zahlen aus 1999. 15 Das Dunkelfeld dürfte erheblich sein: »Vorsichtig geschätzt werden wohl nur 5 bis 10 Prozent der Taten entdeckt.« (BMI/BMJ 2006: 196). 16 Deshalb lässt sich der durch Ladendiebstähle verursachte Gesamtschaden auch nicht durch den Wert der entdeckten entwendeten Gegenstände bestimmen. Wie dieser zu berechnen ist, ist allerdings umstritten (BMI/BMJ 2001: 119; BMI/BMJ 2006: 197). 17 Die Dauer einer Strafe kann wegen der Erfassungsmodalitäten der StVerfStat für die statistische Zahl der Inhaftierten bedeutsam sein, siehe dazu III.3.). 239
DAGMAR OBERLIES UND JUTTA ELZ
schen Verurteilung und Inhaftierung. Der demnach stärkere ›Schwund‹ weiblicher Verurteilter lässt sich bei Anwendung des Erwachsenenstrafrechts zunächst auf zwei Punkte zurückführen: • Verurteilte Frauen erhalten häufiger als verurteilte Männer Geldstatt Freiheitsstrafen (StVerfStat für 2007: Frauen 89 Prozent, Männer 80 Prozent) (Statistisches Bundesamt 2009a: 88). Werden Freiheitsstrafen verhängt, handelt es sich bei Frauen häufi• ger um aussetzungsfähige – also solche bis maximal zwei Jahren Dauer –, deren Vollstreckung auch tatsächlich öfter ausgesetzt wird (StVerfStat für 2007: Frauen: aussetzungsfähig: 96,4 Prozent, davon ausgesetzt: 84,4 Prozent; Männer: aussetzungsfähig: 91,7 Prozent, davon ausgesetzt: 75,4 Prozent) (ebd.: 152). Berücksichtigt man auch hier, welche Straftaten den Sanktionen zugrunde liegen, lässt sich beispielhaft zeigen: Während laut StVerfStat im Jahr 2007 etwa 21 Prozent aller Verurteilungen, die Frauen betrafen, wegen »einfacher« Diebstähle ergingen und weniger als 4 Prozent wegen »Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit« (ebd.)18, beliefen sich diese Quoten bei verurteilten Männern einerseits auf lediglich 11 Prozent, andererseits auf fast 9 Prozent. Überprüft man deshalb die für »einfachen« Diebstahl und »gefährliche Körperverletzung« verhängten Strafen, stellt man allerdings fest, dass weibliche Verurteilte auch innerhalb dieser Gruppen anteilig häufiger Geldstrafen und im Falle von Freiheitsstrafen eher solche von niedriger Dauer erhalten (Abb. 6 und 7). Beim »einfachen« Diebstahl dürfte u. a. bedeutsam sein, dass Frauen – wie ausgeführt – eher als Männer verdächtigt werden, diesen in Form von Ladendiebstahl begangen zu haben. Dies sollte sich auch noch auf der Verurteilungsebene durch niedrigere Strafen auswirken. Das lässt sich mangels Differenzierung anhand der StVerfStat jedoch nicht verifizieren.
18 Dabei können »Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit« allerdings nicht mit der »Gewaltkriminalität« der PKS gleichgesetzt werden (s. Fn. 6), denn sie umfassen (nur) die Straftatbestände §§ 223-231 StGB, mithin alle Körperverletzungen inkl. der fahrlässig begangenen sowie der Beteiligung an einer Schlägerei, aber z. B. keine gewaltsamen Eigentumsdelikte. 240
LESARTEN: KRIMINALITÄT, GESCHLECHT UND AMTLICHE STATISTIKEN
Abbildung 6: Strafart und Höhe der Freiheitsstrafen bei Verurteilungen nach § 242 StGB 2007, differenziert nach Geschlecht
Dauer Freiheitsstrafen Frauen 1,5% 0,1% 3,9%
Dauer Freiheitsstrafen Männer 0,3% 3,3%
100% 90%
6,8%
80% 70%
19,5%
60%
75,0%
26,1% 63,5%
50% 40% 30% 20% 10%
unter 6 Monate >6-9 Monate >9-12 Monate >12-24 Monate >24 Monate
0%
Frauen
Männer
Freiheitsstrafe Geldstrafe
unter 6 Monate >6-9 Monate >9-12 Monate >12-24 Monate >24 Monate
Quelle: StVerfStat 2007
Abbildung 7: Strafart und Höhe der Freiheitsstrafen bei Verurteilungen nach § 224 StGB 2007, differenziert nach Geschlecht
Dauer Freiheitsstrafen Frauen
Dauer Freiheitsstrafen Männer 100%
1,9%
4,8%
90% 11,2%
12,1%
7,8%
80%
15,5%
70% 17,4%
60% 50% 57,4%
22,1%
49,7%
40% 30% 20%
unter 6 Monate >6-9 Monate >9-12 Monate >12-24 Monate >24 Monate
10% 0%
Frauen
Männer
Freiheitsstrafe Geldstrafe
unter 6 Monate >6-9 Monate >9-12 Monate >12-24 Monate >24 Monate
Quelle: StVerfStat 2007
241
DAGMAR OBERLIES UND JUTTA ELZ
Hinzu kommt aber ein weiterer Aspekt, der erneut sowohl auf der Ebene der Einstellungen (statt Verurteilungen) als auch der der Sanktionierungen eine Rolle spielt, nämlich die »Mehrfachtäterschaft«.
2.
Mehrfachtäterschaft
Auswirkungen auf den Selektions- und Sanktionsprozess hat auch die Anzahl der vorgeworfenen bzw. abgeurteilten Straftaten. Dafür, dass Frauen eher als Männer mit lediglich einer Tat polizeilich auffällig werden, sprechen die Daten der PKS zu den »Mehrfachtätern«. Bei diesen handelt es sich um Tatverdächtige, die zuvor schon mindestens einmal »als TV in Erscheinung getreten sind« (Bundeskriminalamt 2008: 126). Die früheren Taten müssen keine Verurteilung zur Folge gehabt haben und erst recht lässt sich nicht sicher sagen, ob sie zusammen mit jener anderen Tat, die ihren Niederschlag in der StVerfStat fand, abgeurteilt wurden. Hohe Mehrfachtäter-Quoten legen aber zumindest nahe, dass ein – in der Größenordnung nicht bestimmbarer – Teil von Verurteilungen auf mehreren Straftaten beruht.19 Nach der PKS erfüllten im Jahr 2007 über 45 Prozent der männlichen Tatverdächtigen, hingegen nur knapp 29 Prozent der weiblichen das Merkmal »Mehrfachtäterschaft«. Stellt man auf »einfachen« Diebstahl ab, erhöht sich die Quote für Männer auf über 47 Prozent, bei Frauen sinkt sie unter 28 Prozent. Bei gefährlicher bzw. schwerer Körperverletzung – eine Trennung ist hier nicht möglich – steigen die Raten auf fast 58 Prozent und gut 39 Prozent. Ob eine angeklagte Person tatsächlich wegen einer Straftat oder mehrerer Straftaten in einer Entscheidung verurteilt wurde, lässt sich der StVerfStat allerdings nicht entnehmen, da jede Verurteilung dort nur einmal erfasst wird. Standen in dieser mehrere Straftaten zur gemeinsamen Aburteilung an, wird die gerichtliche Entscheidung in der Statistik bei dem Delikt mit der abstrakt schwersten Strafandrohung geführt. Das bedeutet, dass eine Person, die unter »gefährliche Körperverletzung« erfasst wird, z. B. nicht gleichzeitig wegen eines gravierenderen Gewaltdeliktes verurteilt worden sein dürfte; weitere gefährliche Körperverlet19 Dabei stellt die Mehrfachtäterschaft lediglich ein Merkmal dar, das zur Person des einzelnen TV erhoben wird, so wie auch »Konsument harter Drogen« oder Tatbegehung »unter Alkoholeinfluss«. Davon abzugrenzen ist die Anzahl der Tatverdächtigen. Diese wird seit Mitte der 1980er Jahre anhand der »Echttäterzählung« ermittelt, bei der ein Tatverdächtiger, »für den im Berichtszeitraum mehrere Fälle der gleichen Straftat festgestellt wurden, [...] in demselben Bundesland nur einmal gezählt wird« (Bundeskriminalamt 2008: 19). 242
LESARTEN: KRIMINALITÄT, GESCHLECHT UND AMTLICHE STATISTIKEN
zungen sind aber ebenso möglich wie zusätzliche Diebstähle o. Ä. Mehrere Straftaten in einem gemeinsamen Ermittlungs- bzw. Strafverfahren erhöhen aber die Wahrscheinlichkeit einer Anklage bzw. im Falle einer Verurteilung die einer gravierenden Strafe. Das spräche, sofern man der Annahme folgt, dass Männer häufiger als Frauen mehrere Straftaten begehen, für einen stärkeren Schwund von Frauen sowohl bei der Verurteilungs- als auch der Inhaftierungsrate.
3.
Strafrechtliche Vorbelastung und Legalbewährung
Während es zuvor um Straftaten ging, die im ›Umfeld‹ der berücksichtigten Entscheidung stattfinden, geht es nun um die strafrechtliche Vorbelastung, also Vorstrafen. Auch diese sind schon bei der Frage nach Einstellung statt Anklage relevant, wirken sich aber besonders bei der Sanktionsentscheidung aus. Denn bei der in § 46 StGB geregelten Strafzumessung sind neben der Schwere der Tat auch personale Faktoren wie etwa das »Vorleben« zu berücksichtigen, wobei »in der Praxis [...] jedenfalls im Erwachsenenstrafrecht die Frage der Vorbestraftheit im Vordergrund« (Fischer 2009: § 46 Rn. 37a) steht. Ausdruck findet dies auch in § 47 StGB, in dem die Verhängung kurzer Freiheitsstrafen (statt Geldstrafe) geregelt ist, sowie in § 56 StGB, der die Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren Dauer zum Gegenstand hat. So kann eine Freiheitsstrafe von weniger als sechs Monaten nur verhängt werden, wenn sie unerlässlich ist, und eine Aussetzung der Vollstreckung nur erfolgen, wenn die Prognose günstig ist. Beides erfordert Bewertungen, bei denen auch das Vorliegen von Vorstrafen zu berücksichtigen ist (Fischer 2009: § 47 Rn. 6a; § 56 Rn. 6). In der PKS wird die Vorstrafenbelastung nicht erfasst, jedoch in der StVerfStat und der StVollzStat. Danach waren im Jahr 2007 ca. 60 Prozent der männlichen Verurteilten sowie 70 Prozent der am Stichtag 31.03.2007 in Freiheitsstrafe befindlichen Männer vorbestraft, während die Quoten bei Frauen lediglich 44 bzw. 57 Prozent betragen (StVerfStat: Statistisches Bundesamt 2009a: 416; StVollzStat: Statistisches Bundesamt 2008: 20). Angesichts der bisherigen Befunde – weniger schwerwiegende Kriminalität, weniger Mehrfachtäterschaft, weniger Vorstrafen – ist eine (wie oben dargestellte) jeweils maximal 9 Prozent günstigere Quote von Frauen bei
243
DAGMAR OBERLIES UND JUTTA ELZ
• •
Geld- statt Freiheitsstrafen, Freiheitsstrafen bis maximal zwei Jahren statt solche von längerer Dauer, • Aussetzung der Vollstreckung von aussetzungsfähigen Strafen statt Vollzug an sich nicht erstaunlich. Damit sind aber noch nicht alle Unterschiede angesprochen. Die beiden folgenden lassen sich unter ›Legalbewährung‹ zusammenfassen: keine Rückfälligkeit sowie Begleichung einer verhängten Geldstrafe. Denn die Gruppe der Inhaftierten umfasst nicht nur Personen, die unmittelbar und ohne Unterbrechung in den Vollzug der Freiheitsstrafe gelangt sind, sondern auch solche, bei denen • die Vollstreckung zuerst ausgesetzt worden war, diese Entscheidung später aber widerrufen wurde; • die Vollstreckung nach einer Teilverbüßung ausgesetzt wurde, dann aber ebenfalls ein Widerruf dieser Entscheidung erging; • eine Ersatzfreiheitsstrafe vollstreckt wurde. Somit stellt sich die Frage nach der Rückfälligkeit, denn Widerrufsentscheidungen hängen wesentlich mit der Begehung neuer Straftaten zusammen.20 Dass es hierbei erhebliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt, zeigen die Ergebnisse der 2003 erstmals veröffentlichten Rückfallstatistik. Für diese wurde ermittelt, ob im Jahr 1994 Verurteilte bzw. in diesem Jahr aus dem Straf- oder Maßregelvollzug Entlassene innerhalb von vier Jahren neuerlich wegen der Begehung von Straftaten sanktioniert wurden (Jehle/Heinz/Sutterer 2003). Danach liegt »die Rückfallsquote von Frauen mit 24 % deutlich unter derjenigen der Männer mit rund 38 % [...]. Diese Differenz bleibt durchweg erhalten, wenn man nach den verschiedenen Sanktionsarten der Bezugsentscheidung unterscheidet [...]« (ebd.: 47). Insofern ist davon auszugehen, dass bei Frauen eher als bei Männern eine primäre Vollstreckungsaussetzung oder eine Strafrestaussetzung nicht widerrufen wird und sie deshalb nicht bzw. nicht wieder inhaftiert werden. Weiter handelte es sich nach einer unregelmäßig erscheinenden Statistik des Statistischen Bundesamtes zum Bestand der Gefangenen und Verwahrten in den deutschen Justizvollzugsanstalten, die aber für den Stichtag 31.03.2007 vorliegt, bei 7 Prozent der zum Erhebungszeitpunkt 20 Das ergibt sich schon aus §§ 56 f., 57 V StGB, wonach der Widerruf einer Straf(rest)aussetzung u. a. erfolgt, »wenn der Verurteilte in der Bewährungszeit eine Straftat begeht und dadurch zeigt, dass die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat.« 244
LESARTEN: KRIMINALITÄT, GESCHLECHT UND AMTLICHE STATISTIKEN
laufenden Freiheitsstrafen um »Ersatzfreiheitsstrafen« (2009b: 41), also solche, die gemäß § 43 StGB anzutreten sind, wenn eine an sich verhängte Geldstrafe »uneinbringlich« ist und der Verurteilte die Vollstreckung nicht durch Arbeitsleistungen nach Art. 293 EGStGB abgewendet hat. Setzt man die Anzahl der Ersatzfreiheitsstrafen in Beziehung zur Zahl der verhängten Geldstrafen und differenziert dabei zwischen verurteilten Frauen und Männern, so zeigt sich, dass bei ersteren auf eine angetretene Ersatzfreiheitsstrafe 368 verhängte Geldstrafen kommen, bei Männern dieses Verhältnis aber nur eins zu 134 beträgt. Mit anderen Worten: Bei Männern scheitert die Vollstreckung der Geldstrafe (durch Zahlung oder Arbeitsleistungen) demnach 2,5-mal so häufig wie bei Frauen. Neben diesen Erkenntnissen, die erneut im Tatsächlichen einen größeren Schwund von Frauen zwischen Verurteilung und Inhaftierung begründen können, gibt es aber auch auf dieser Selektionsstufe einen erfassungstechnischen Aspekt, der sich nun aus der StVollzStat ergibt: Wie ausgeführt, wird die Zahl der Inhaftierten nicht durch Eingänge in den Vollzug innerhalb eines Jahres, sondern durch die Belegung an einem Stichtag erhoben. Das hat zur Folge, dass ein Teil der Kurzstrafigen, die zwar auch in dem Jahr, aber nicht mehr oder noch nicht an diesem Tag inhaftiert sind, nicht erfasst wird, solche somit unterrepräsentiert sind. Mithin gilt dies auch für inhaftierte Frauen, die ja – wie mehrfach dargestellt – häufiger als inhaftierte Männer lediglich kurze Strafen verbüßen bzw. Strafen nicht in voller Länge absitzen müssen. Somit gehen im ›Trichter‹ anteilig mehr Frauen als Männer zwischen ›Verurteilung‹ und ›Inhaftierung‹ verloren, als dies tatsächlich der Fall sein dürfte. All das legt nahe, dass Frauen keinen ›Bonus‹ erhalten, sondern dass Menschen, die u. a. häufiger als andere • mit nur einem Delikt von zudem leichterer Natur in Erscheinung treten, • nicht vorbestraft sind und nicht rückfällig werden, gerichtlicherseits auch häufiger keine oder nur eine geringe Strafe erhalten. Das scheint uns berechtigt und führt angesichts der gravierenden Unterschiede zwischen straffälligen Männern und Frauen hinsichtlich Tatschwere, Mehrfachtäterschaft, Vorbelastung und Legalbewährung sowie eingedenk der Tatsache, dass ein Teil des vermeintlich stärkeren Schwundes bei Frauen nur erfassungstechnisch bedingt ist, eher zu der Frage, ob die im ›Trichter‹ zum Ausdruck kommenden Unterschiede in der Ausfilterung nicht zu Lasten von Frauen verzerrend wirken.
245
DAGMAR OBERLIES UND JUTTA ELZ
IV. O p f e r r i s i k o u n d K r i m i n a l i t ä t s f u r c h t Der Zusammenhang zwischen ›Kriminalität, Geschlecht und amtlichen Statistiken‹ lässt sich auch noch unter einem anderen Aspekt ›lesen‹, nämlich dem des ›Opfer-Seins‹. Erneut stellt sich die Frage nach dem Unterschied zwischen den Geschlechtern im Sinne eines ›Seltener – Häufiger‹. Und auch dazu finden sich Daten in der PKS – und zwar nur in dieser. Opfer sind danach »natürliche Personen, gegen die sich die mit Strafe bedrohte Handlung unmittelbar richtete« (Bundeskriminalamt 2008: 14). Von besonderem Interesse ist die für ausgewählte Straftaten(gruppen) berechnete »Opfergefährdungszahl« (OGZ), für die die »Zahl der Opfer [...] auf 100.000 Einwohner des entsprechenden Bevölkerungsanteils« (ebd.) bezogen wird. Denn nur mit einer solchen Verhältniszahl ist es möglich, die unterschiedliche Verteilung der Bevölkerung über die Altersgruppen hinweg zu berücksichtigen. Schließlich macht es einen Unterschied, ob von einer Opferzahl X eine zahlenmäßig kleine oder große Altersgruppe betroffen ist. Außerdem lassen sich damit zeitliche Entwicklungen verfolgen, ohne dass es zu demographisch bedingten Verzerrungen kommt.21 Zweierlei gilt es aber anzumerken: Erstens handelt es sich genau genommen nicht um eine Gefährdungszahl, denn gezählt werden mit ihr ja Personen, die zumindest nach der PKS tatsächlich Opfer einer angezeigten Straftat geworden sind; aus den OGZ wird dann aber auf eine entsprechende Gefahr geschlossen. Zweitens wäre die OGZ nur für die Frage der (annähernden) Unterschiede zwischen den Geschlechtern nicht erforderlich. Denn bei einem Merkmal, das eine Gruppe in zwei etwa gleich große Hälften teilt, ergibt sich die Belastung schon aus den Opferzahlen selbst: Kommt auf eine Gruppe mehr als die Hälfte der Opfer, dann ist sie die belastetere. Erst wenn Geschlecht und Alter berücksichtigt werden sollen, muss die OGZ herangezogen werden. Aus Abbildung 8 mit den OGZ des Jahres 2007 für vollendete Körperverletzungen (vgl. dazu Fn. 18) ergibt sich, dass die Belastung für Mädchen und Frauen in allen Altersgruppen geringer ist als die von Jungen und Männern. Stellt man nur auf das Geschlecht ab, beläuft sich die OGZ auf 486 (weiblich) gegenüber 936 (männlich). In Prozenten ausge-
21 Eine ähnliche Berechnung gibt es deshalb für Tatverdächtige, die zu der »Tatverdächtigenbelastungszahl« führt. Aus dem im Text weiter ausgeführten Grund war diese bei den vorherigen Ausführungen zu weiblichen und männlichen Tatverdächtigen nicht notwendig. 246
LESARTEN: KRIMINALITÄT, GESCHLECHT UND AMTLICHE STATISTIKEN
drückt: Der Polizei bekannte Opfer von Körperverletzungen waren im Jahr 2007 zu 35 Prozent weiblich und somit zu 65 Prozent männlich.22 Abbildung 8: OGZ bei vollendeten Körperverletzungen 2007, differenziert nach Geschlecht und Altersgruppen
M änner
Frauen 4.000
4.000
3.500
3.500
3.000
3.000
2.500
2.500
2.000
2.000
1.500
1.500
1.000
1.000
500
500
0
0
Ki
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H e Er Ju Er w w g er e nd ra nw a ch a ch li c s s a h e ch s en e e n e en d e 21 < ab 6 60 0 J Ja ah r hr e en
E E H J Ki n d u ge er a rwa rwa n d nw ch c h er s s li c a he c hs ene e ne en a 2 de 1 < b 6 60 0 J Ja ahr hr e en
Quelle: PKS 2007
War es zuvor der ›Frauen-Bonus‹, den wir so aus den Statistiken nicht lesen konnten, sind es nun die Ergebnisse der Befragungen zu »Kriminalitätsfurcht«. Denn »zu dem wohl stabilsten, international immer wieder bestätigten Resultat der Verbrechensforschung zählt, dass Frauen mehr Furcht haben, Opfer einer Straftat zu werden und sich unsicherer fühlen als Männer« (Kury/Obergfell-Fuchs 2003: 15); ein Phänomen, das auch »Kriminalitäts-Furcht-Paradox« (ebd.) oder »Viktimisierungsparadox« (BMI/BMJ 2006: 507) genannt wird.
22 Da sexuelle Übergriffe hierin nicht enthalten sind: Die OGZ für Gewaltkriminalität (vollendete Fälle), erhöht um die an sich fehlende »einfache sexuelle Nötigung«, beläuft sich für Frauen auf 158, für Männer auf 388; somit reduziert sich der Anteil von Frauen auf 30 Prozent, wobei zu bedenken ist, dass sich »Gewaltkriminalität« bzgl. mehrerer Delikte von der Gruppe »Körperverletzung« unterscheidet (vgl. dazu Fn. 6); Angaben zu Sexualkriminalität in Gänze sind anhand der PKS-Daten nicht möglich. 247
DAGMAR OBERLIES UND JUTTA ELZ
Sehr verkürzt lassen sich in Forschung und Literatur vier Ansätze zur Erklärung finden: • Frauen haben nicht häufiger als Männer Angst, Opfer einer Straftat zu werden; sie sind nur eher bereit, dies in Befragungen auch anzugeben (BMI/BMJ 2006: 507). • Der geringen OGZ von Frauen im Hellfeld steht durch nicht polizeilich erfasste Viktimisierungen von Frauen im sozialen Nahraum ein besonders großes Dunkelfeld gegenüber (z. B. Müller/Schröttle 2004: 158 ff.). • Frauen fühlen sich aus spezifischen Gründen verletzbarer als Männer, etwa weil sie aufgrund geringerer körperlicher Stärke Angriffen weniger entgegen zu setzen hätten, sie sich eher als Männer mit dem besonders angstbesetzten Thema eines sexuellen Übergriffs befassen (müssen), sie zwar vielleicht nicht häufiger als Männer schon einmal Opfer einer Straftat wurden, dies bei ihnen aber (zumindest) zu einer sensibleren Wahrnehmung führt, während Männer ein solches Erlebnis eher bagatellisieren oder sogar durch besonders risikobehaftetes Verhalten neutralisieren (Kury/Obergfell-Fuchs 2003: 15 f. m. w. N.). • Das Wissen von Männern und Frauen über Kriminalität wird in erster Linie durch die (Boulevard-)Medienerstattung geprägt. Dies führt neben einer allgemeinen Überschätzung des Kriminalitätsaufkommens v. a. zu einer Verzerrung im Hinblick auf an sich seltene Vorkommnisse (z. B. Schwind u. a. 2001: 252 ff.) wie (Sexual-)Morde oder Sexualdelikte in Gänze – Taten, die vor allem das Sicherheitsgefühl von Frauen betreffen.23 Einige Studierende haben im Rahmen unserer Beschäftigung mit der Thematik eine schriftliche Umfrage unter Studierenden der Fachhochschule Frankfurt durchgeführt. Dazu haben sie einen Fragebogen entwickelt, den sie Personen auf dem Campus mit der Bitte gaben, an dieser – natürlich anonymen – Befragung teilzunehmen. 131 Männer und 110 Frauen haben sich beteiligt, nur wenige eine Mitarbeit verweigert. Schon aufgrund der Befragtengruppe erhebt diese Studie keinen Anspruch auf Repräsentativität. Außerdem konnten in der knapp bemessenen Zeit nur 23 Eine weitere Verzerrung dürfte es zudem bezüglich der TatverdächtigenOpfer-Beziehung geben: Bei »Gewaltkriminalität« bestand zwischen Tatverdächtigen und ihren weiblichen Opfern laut PKS im Jahr 2007 nur zu 35 Prozent »keine Vorbeziehung« (bei männlichen Opfern zu 50 Prozent) (Bundeskriminalamt 2008: Tab. 92, S. 6); wobei dieser Anteil wahrscheinlich noch zu hoch ist, da solche Taten eher als in Konstellationen mit Vorbeziehung begangene zur Anzeige gelangen. 248
LESARTEN: KRIMINALITÄT, GESCHLECHT UND AMTLICHE STATISTIKEN
einige Thesen und Fragen angerissen werden. Umso interessanter sind die Ergebnisse: Tabelle: Befragung zu Kriminalitätsfurcht – ausgewählte Ergebnisse Frauen (N = 110) Wer wird Ihrer Meinung nach häufiger Frauen: Opfer einer Straftat? 76,8 % Gab es Situationen, die Anlass zur Be- Ja: fürchtung gaben, Opfer einer Straftat 33,7 % zu werden? Ja: Haben Sie Angst vor einer Schlägerei? 18,6 % Ja: Haben Sie Angst vor einem Überfall? 42 % Wie oft denken Sie daran, dass Sie Op- Sehr selten: fer einer Straftat werden könnten? 28,2 %
Männer (N = 131) Frauen: 80,7 % Ja: 33,1 % Ja: 21,5 % Ja: 19,5 % Sehr selten: 47,2 %
In zwei Punkten ähneln sich die Quoten der männlichen und weiblichen Befragten frappierend: Auch unter Studierenden unterliegt die Mehrheit, nämlich je um 80 Prozent, dem Irrtum, dass Frauen häufiger als Männer Opfer einer Straftat werden. Und jeweils etwa ein Drittel gab an, schon einmal in einer Situation gewesen zu sein, die Anlass zur Befürchtung gab, Opfer einer Straftat zu werden. Im Hinblick auf (vermeintliches) Wissen und Erfahrung gibt es also keine geschlechtsbezogenen Unterschiede.24 Noch mehr erstaunt das nächste Ergebnis: Angesichts der Tatsache, dass eine ›Schlägerei‹ im ›Alltagswissen‹ wohl eher als ›Sache unter Männern‹ angesehen wird – was zudem die PKS in der Rubrik »gefährliche und schwere Körperverletzung auf Straßen, Plätzen und Wegen« mit einer Männerquote von 88 Prozent (Tatverdächtige) bzw. 83 Prozent (Opfer) im Jahr 2007 nahe legt – war die Erwartung, dass eher Männer als Frauen die Frage nach Angst vor einer solchen bejahen würden. Stattdessen taten dies mit um die 20 Prozent annähernd gleich viele männliche wie weibliche Befragte. Offen muss hier bleiben, ob manche Männer keine solche Angst einräumen wollten, ob sie das Risiko für sich – etwa aufgrund der eigenen Alters- und Sozialgruppenzugehörig24 Wobei nicht gefragt wurde, wer tatsächlich schon einmal Opfer einer Straftat geworden war. 249
DAGMAR OBERLIES UND JUTTA ELZ
keit – so gering einschätzten oder ob sie der Meinung waren, sich in einer Schlägerei ausreichend schützen zu können, ihnen eine Schlägerei also ›keine Angst macht‹. Demgegenüber fürchten mit über 40 Prozent zu weniger als 20 Prozent doppelt so viele befragte Frauen wie Männer, Opfer eines Überfalls zu werden. Das wird – obwohl die Frage nicht explizit auf eine sexualbezogene Tat ausgelegt war – zumindest auch auf die Angst vor überfallartigen Vergewaltigungen (so eine Untergruppe in der PKS) zurückzuführen sein. Hinzu kommt wahrscheinlich die Furcht vor Taten wie dem so genannten »Handtaschenraub«, der in der PKS zur Straßenkriminalität zählt und dessen Opfer zu 93 Prozent Frauen sind. Insgesamt ist aber zu bedenken, dass z. B. diese beiden Delikte – überfallartige Vergewaltigungen und Handtaschenraub – nach der PKS im Jahr 2007 nur wenig mehr als 0,1 Prozent der bekannten Gesamtkriminalität ausmachten (Bundeskriminalamt 2008: Tab. 01, S. 1, 2, 11). Es bleibt der Befund, dass mit 47 Prozent fast jeder zweite Mann nur ›sehr selten‹ darüber nachdenkt, dass er Opfer einer Straftat werden könne, während das lediglich auf 28 Prozent der weiblichen Befragten zutrifft. Insbesondere dieses letzte Ergebnis sehen wir ambivalent, denn um Kury/Obergfell-Fuchs (2003: 17) zu zitieren: »Verbrechensfurcht kann durchaus ›sinnvoll‹ sein, wenn sie dazu beiträgt, hoch risikobehaftete und mit großer Opferwahrscheinlichkeit versehene Situationen nicht aufzusuchen. Kontraproduktiv ist sie dann, wenn sie in überzogener Weise den Einzelnen einschränkt und seine Lebensqualität mindert, ohne die persönliche Sicherheit merkbar zu erhöhen.« Welche der oben genannten Thesen das »Kriminalitäts-FurchtParadox« (ebd.: 15) nun erklären, wissen wir nicht; an allen mag ›etwas Wahres‹ sein. Und alle führen uns zu der Frage, ob nicht auch Opferund Täter-Sein – im gesellschaftlichen Diskurs – ein Geschlecht haben.
V.
Zusammenfassung und Fazit
Anhand des vorliegenden Beitrages sollte verdeutlicht werden, dass für die Frage, ob das Strafrecht in seiner Anwendung ein Geschlecht hat, die ›Lesarten‹ von offiziellen Kriminalstatistiken entscheidend sind. Auf den ersten Blick prägnante Unterschiede zwischen Frauen und Männern im Hinblick auf ihre Kriminalitätsbelastung, die Selektion und Sanktion durch die Strafverfolgungsinstanzen sowie das gegensätzliche Ausmaß von Opfergefährdung und Kriminalitätsfurcht schwinden bzw. verändern sich, sobald eine differenzierte Betrachtung vorgenommen wird.
250
LESARTEN: KRIMINALITÄT, GESCHLECHT UND AMTLICHE STATISTIKEN
Was dann noch bleibt, ist die Tatsache, dass Frauen nur ein Viertel der Tatverdächtigen im Hellfeld der Gesamtkriminalität stellen. Bei der Überprüfung der These vom so genannten ›Frauenbonus‹ zeigt die Datenlage jedoch, dass straffällige Frauen im Hinblick auf Tatschwere, Mehrfachtäterschaft, strafrechtliche Vorbelastung und Legalbewährung geringer belastet sind als straffällige Männer. Es liegt deshalb nahe, dass diese Kriterien, die im Rahmen der Sanktionierung grundsätzlich von Bedeutung sind und sein sollen, die vermeintlich unmittelbar geschlechtsbezogenen Unterschiede erklären können.
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251
DAGMAR OBERLIES UND JUTTA ELZ
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LESARTEN: KRIMINALITÄT, GESCHLECHT UND AMTLICHE STATISTIKEN
Schmölzer, Gabriele (2009): »Frauen als ›die bessere Hälfte‹ der Menschheit? Statistische und empirische Erkenntnisse«, in: Jutta Elz (Hg.), Täterinnen – Befunde, Analysen, Perspektiven, Wiesbaden, S. 21-44. Schwind, Hans-Dieter/Fetchenhauer, Detlef/Ahlborn, Wilfried/Weiß, Rüdiger (2001): Kriminalitätsphänomene im Langzeitvergleich am Beispiel einer Großstadt. Bochum 1975 – 1986 – 1998, Neuwied. Statistisches Bundesamt (Hg.) (2008): Strafvollzugsstatistik 2007 = Fachserie 10 »Rechtspflege«, Reihe 4.1 »Strafvollzug – Demographische und kriminologische Merkmale der Strafgefangenen«, Wiesbaden. Statistisches Bundesamt (Hg.) (2009a): Strafverfolgungsstatistik 2007 = Fachserie 10 »Rechtspflege«, Reihe 3 »Strafverfolgung«, Wiesbaden. Statistisches Bundesamt (Hg.)25 (2009b): Bestand der Gefangenen und Verwahrten in den deutschen Justizvollzugsanstalten nach ihrer Unterbringung auf Haftplätze des geschlossenen und offenen Vollzuges jeweils zu den Stichtagen 31. März, 31. August und 30. November eines Jahres, Wiesbaden.
25 Alle amtlichen Rechtspflegestatistiken des Statistischen Bundesamtes stehen als Download gratis zur Verfügung; zu finden sind sie über www.destatis.de / Publikationen / Fachveröffentlichungen / Rechtspflege. 253
Intersektionalität. Ein neues Paradigma zur Erfassung sozialer Ungleichheit im Strafrecht? MARTINA ALTHOFF
Der folgende Artikel diskutiert die kriminologische Forschung zur sozialen und kulturellen Diversität im Strafrecht. Dabei werden verschiedene theoretische Perspektiven aufgezeigt, die die Bedeutung der sozialen Kategorien und den Einfluss sozialer Zugehörigkeiten (Ethnizität, Geschlecht, Klasse) untersuchen. Gezeigt wird, dass die Frage nach dem Geschlecht des Strafrechts theoretisch nicht ausreichend ist, um Diskriminierung im Strafrecht zu erklären. Vielmehr muss das Verhältnis verschiedener Ungleichheitslinien in das Blickfeld geraten und müssen die Fragen demnach lauten: Welche Überschneidungen bzw. Überkreuzungen sozialer Zugehörigkeiten1 finden im Strafrecht statt, welche Identitäten werden dabei hergestellt? Mit Bezug auf welche Überkreuzungen sozialer Zugehörigkeiten argumentiert das Strafrecht und welche Überkreuzungen werden ein- und welche ausgeschlossen?
1
In der deutschsprachigen Diskussion wird neben Intersektionalität (vom englischen Terminus intersectionality abgeleitet), zur Bezeichnung der Überschneidung der verschiedenen Ungleichheitslinien auch von Überkreuzung bzw. Überlagerung der verschiedenen sozialen Zugehörigkeiten gesprochen. 255
MARTINA ALTHOFF
I.
Rechtsgleichheit als Problem?
Rechtsgleichheit ist Ausgangspunkt sowie ein Prinzip des Strafrechts und der eigentliche Kern der Strafrechtsideologie (Baratta 1980). Die Einhaltung des Gleichheitsprinzips ist nicht nur Gegenstand juridischer und strafrechtsimmanenter Diskussionen, sondern auch strafrechtssoziologischer und kriminologischer Auseinandersetzungen. Einige der zentralen Fragen sind dabei: Wie kann das Gleichheitsprinzip in der Rechtspraxis gewährleistet werden? Wie lässt sich verhindern, dass das Gleichheitsprinzip zur Ignoranz von gesellschaftlichen Machtunterschieden verschiedener sozialer Gruppen führt und schließlich deren Dominanz und Position in der Rechtssache (unbeabsichtigt) stärkt? Wie lässt sich vor dem Hintergrund des Gleichheitsprinzips strafrechtliche Selektivität und damit verbundene soziale Ungleichheit erklären und verhindern? Zugleich steht das Gleichheitsprinzip auch unter Einfluss gesellschaftlicher Diskurse und Veränderungen. So wird z. B. gefordert, das Strafrecht einer multikulturellen Gesellschaft müsse ethnisch und kulturell diversifizieren. Die zunehmende ethnische und kulturelle Pluralität der Gesellschaft könne nicht ohne Einfluss auf das Rechtssystem und insbesondere auf das Strafrecht bleiben. Auch die auf der Geschlechterungleichheit beruhenden Praktiken im strafrechtlichen System werden vor dem Hintergrund des Gleichheitsprinzips kritisiert.
II.
Kriminologische Forschung zur Selektivität des Strafrechts
In der kriminologischen Diskussion (vgl. z. B. Sack 1990; Smaus 1998) wird Strafrecht als Distinktionsmittel gekennzeichnet. Einerseits entstehe Strafgesetzgebung auf der Basis sozialer Ungleichheit durch diejenigen, die die Macht haben, ihre moralischen Vorstellungen durchzusetzen gegenüber denjenigen, die nicht über eine solche Definitionsmacht verfügen. Andererseits sei Selektivität und damit verbundene soziale Ungleichheit in der Anwendung des Strafrechts nicht gewollt, aber unvermeidbar. Anders formuliert: Strafrecht ist per Definition selektiv. Dies wird so lange nicht als problematisch angesehen, solange die Selektion eher zufällig, nicht systematisch und nicht deliktspezifisch geschieht und nur zu geringen Unterschieden in der Behandlung durch das Strafrecht führt (vgl. Kannegieter 1994: 19; van Swaaningen 2001: 239 ff.). Zugleich konstatieren Kriminologen: »Equal treatment was (and is) a seduc-
256
INTERSEKTIONALITÄT
tive criminal justice ideology« (Daly/Tonry 1997: 205; vgl. auch Smaus 1998: 20). Vor dem Hintergrund dieser Einschätzung hat sich die kriminologische Forschung im Verlauf ihrer historischen Entwicklung immer wieder dem Thema der (systematischen) Selektivität des Strafrechts zugewendet.
1.
Klassenjustiz
Ein Klassiker sind (internationale) Untersuchungen aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts zum Einfluss der sozial-ökonomischen Position des Tatverdächtigen. Klassenjustiz war das Stichwort und die damit verbundene Annahme, dass die Selektivität des Strafrechts vorhandene soziale Ungleichheit zwischen sozialen Klassen verstärke. Die Forschungen wurden differenziert und der Einfluss der sozialen Klasse wurde ersetzt durch den der Arbeitsposition (Arbeitslosigkeit). Auch hier kam man zum dem Ergebnis, dass Arbeitslose für dasselbe Delikt im Durchschnitt strenger bestraft werden (vgl. Kannegieter 1994). An den Forschungen wurde viel Kritik geübt, die sich größtenteils auf die methodologischen Grundlagen dieser Studien richtete, wonach mit Hilfe verschiedener Variablen Strafdossiers ausgewertet wurden hinsichtlich ihres Einflusses auf das Strafmaß. Ein entscheidendes Problem dieser Forschungen ist zudem, dass sie so genannte Klassenunterschiede feststellen, diese aber kaum erklären können (van de Bunt 1993; Sack 1977). Hier fehlt nicht nur ein theoretisches Konzept von sozialer Klasse, auch lassen sich anhand von Strafurteilen kaum subtile Formen sozialer Ungleichheit ermitteln.
2.
Diskriminierung von Frauen
Die Selektivität des Strafrechts ist ebenso ausführlich im Kontext der feministischen Kriminologie erforscht worden. Dabei war der Fokus zunächst explizit auf die Untersuchung von Prozessen der Kriminalisierung von Frauen gerichtet. Auf dieser Basis beschäftigt sich eine ganze Tradition von Arbeiten mit frauendiskriminierenden Praktiken innerhalb von strafrechtlichen Institutionen und Kontrollorganen orientiert an den folgenden Fragen: Auf welche Art und Weise sind Frauen und Mädchen in die offizielle Kriminalität involviert, wie lässt sich die Behandlung von Frauen in den Strafinstitutionen kennzeichnen, wie verläuft die Struktur und Anwendung des Strafrechts, welches offiziell eine Geschlechtergleichbehandlung vorgibt, und wie differenzieren die Systeme
257
MARTINA ALTHOFF
strafrechtlicher Kontrolle zwischen Frauen und Männern? Wie lässt sich die geringe Kriminalitätsbelastung von Frauen erklären und wie die spezifischen Formen weiblicher Devianz? Dies sind wohl die zentralen Fragen, an denen die kriminologischen Arbeiten zur Erklärung von Frauenkriminalität ausgerichtet sind, welche die Ungleichbehandlung der Geschlechter durch das Strafrecht nachgewiesen haben (vgl. die Übersicht in Althoff 2002). Die auf der Geschlechterungleichheit beruhenden Praktiken im strafrechtlichen System wurden vor dem Hintergrund des Gleichheitsprinzips kritisiert und gleichzeitig die Aufgabe des Gleichheitsprinzips zugunsten sozialer Gleichheit durch Vertreterinnen des Differenzgedankens gefordert (vgl. die Diskussion in beispielsweise Gerhard u. a. 1990; MacKinnon 1991). Die Idee, die sich hinter dieser Position verbirgt, ist, dass aufgrund ungleicher Positionen soziale Gleichheit nur durch ungleiche Behandlung hergestellt werden kann.
3.
Kulturelle Diversität
Die Erforschung der Selektivität des Strafrechts richtet sich des Weiteren, im Kontext der zunehmenden Aufmerksamkeit für die auffällige Kriminalitätsbelastung ethnischer Minderheiten, auf die der Ethnizität. Dabei wurde aus unterschiedlicher Perspektive festgestellt, dass ethnische Minderheiten für vergleichbare Delikte schwerer bestraft werden und dass ethnische Minderheiten (unabhängig vom Delikttyp) einem höherem Entdeckungsrisiko gegenüber polizeilicher Kontrolle ausgesetzt sind (vgl. Bovenkerk/Yesilgöz 2003). Es stellt sich zudem die Frage, ob das Verhalten von Tatverdächtigen ethnischer Minderheiten innerhalb des durch die Gerichtsverhandlung vorgegebenen interpretativen Rahmens überhaupt eindeutig interpretiert werden kann. Eine Studie (van Rossum 1996) kommt zu dem Ergebnis, dass der vorgegebene Interpretationsrahmen zu inkonsistenten Interpretationen des Verhaltens der Tatverdächtigen führt, wie z. B. dass Respektbezeugungen nicht als solche interpretiert werden könnten. In einer anderen Studie (Wiersinga 2002) werden Strafakten untersucht hinsichtlich der Anwendung des juridischen Prinzips des rechtlichen Gehörs, um den Einfluss kultureller Faktoren im Strafprozess zu ermitteln. Das Prinzip des rechtlichen Gehörs gilt als eine Art Garantie für das Grundrecht auf Zugang zum Recht für jedermann, das geradezu Diversität innerhalb des Rechts verlangt. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass Richter sehr wohl kulturelle Faktoren berücksichtigen und diese einkalkulieren in der Anwendung dieses Prinzips.
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Das Thema Selektivität im Strafrecht hat sich hier verschoben zu dem Thema Diversität im Strafrecht und der Frage nach der Notwendigkeit des Einflusses und der Anerkennung kultureller Phänomene im Strafprozess (so z. B. was die Schuldfähigkeit des Angeklagten betrifft). Auch hier dreht sich die Diskussion im Wesentlichen um das Dilemma, inwiefern die Anerkennung kultureller Unterschiede zu einer Verletzung des Gleichheitsprinzips führt oder eine durch kulturelle Faktoren entstandene ungleiche soziale Position auch eine ungleiche Behandlung fordert, um Rechtsgleichheit herzustellen (vgl. Bovenkerk/Yesilgöz 2003). Rechtspluralismus ist dann das Ergebnis, wenn soziale und kulturelle Diversität an Einfluss auf das Strafrecht gewinnt.
III. D a s Z u s a m m e n w i r k e n s o z i a l e r und kultureller Diversität Eine Begrenztheit dieser Studien zeigt sich darin, dass sie sich einseitig auf die Selektivität einer sozialen Position bzw. einer sozialen Kategorie konzentrieren. In der feministischen Diskussion in den Sozialwissenschaften wurde diese Kritik relativ schnell mit Bezug auf das Konzept gender ausformuliert, mit dem Hinweis darauf, dass Frauen weder eine homogene Gruppe, noch gender die einzig relevante Kategorie ist, wenn es um soziale Ungleichheiten geht. Die Frage, die sich dann stellt, ist, wie sich die heterogenen sozialen Positionierungen von Frauen und Männern theoretisch erfassen lassen. Ist gender ein relationales Phänomen, dessen Stellenwert je nach Kontext alternieren kann? Anders formuliert: Ist Geschlechterdifferenz problematisch als Bezugsgröße oder können Dimensionen von gender unabhängig von anderen Gruppenzugehörigkeiten untersucht werden (vgl. Althoff/Bereswill/Riegraf 2001)? In der (feministisch) kriminologischen Diskussion hat sich die Forschung vor dem Hintergrund dieser Kritik transformiert in eine, die soziale Ungleichheit durch ethnische Diskriminierung (im angloamerikanischen race)2 ebenso wie durch Geschlechtsdiskriminierung im Kontext sozialer Klassenzugehörigkeit analysiert. Es wurde die These formuliert, dass die strafrechtlichen Institutionen (einseitig) die Interessen bestimm-
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Im Folgenden wird der im angloamerikanischen Sprachraum übliche Begriff race verwendet. Im deutschsprachigen Sprachraum wird der Begriff Rasse vermieden unter Hinweis darauf, dass es diese nicht gibt. Race hat sich aber mittlerweise verselbständigt und versteht sich als Sammelbegriff und Konzept zur Verdeutlichung der Diskriminierung, wenn es um ethnische Zugehörigkeit oder z. B. Hautfarbe geht. 259
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ter sozialer Gruppen vertreten. Vor diesem Hintergrund wurde untersucht, wie das Rechtssystem auf individuelle Delinquenten im Kontext ihrer sozialen Herkunft und sozialen Position reagiert. So studieren Steffensmeier, Ulmer und Kramer (1998) Gerichtsurteile hinsichtlich des Zusammenwirkens von race, gender und age. Es zeigt sich, dass diese am meisten punitiv sind bei Angeklagten, deren soziale Position sich am Rande der Gesellschaft befindet: junge, schwarze Männer. Auch die Studie von Spohn und Holleran (2000) bestätigt, dass die sozialen Positionen von race, gender, class und age miteinander interagieren und strafbeeinflussend wirken. Ganz allgemein kam die Forschung, die die Ergebnisse richterlicher Beurteilungen untersucht, zum Ergebnis: »court processing is systematically biased due to institutionalized discrimination« (Zatz in: Daly/Tonry 1997: 228). Die Effekte sozialer Zugehörigkeiten bestehen jedoch mehr indirekt oder subtil und häufig verschwinden sie hinter den Routinepraktiken der Gerichte. Einen ausführlichen Forschungsüberblick über die theoretisch und methodisch sehr unterschiedlich ausgerichteten Studien zur strafrechtlichen Beurteilung liefern Daly und Tonry (1997), indem sie auf sehr unterschiedliche Ergebnisse dieser Forschung verweisen. So stellt sich die Diskriminierungshypothese, dass Mitglieder von Minderheitsgruppen schwerere strafrechtliche Beurteilungen zu erwarten haben gegenüber Mitgliedern der dominierenden sozialen Gruppen, als zu simplifizierend heraus. Diese lasse sich wenn überhaupt nur bezogen auf die ethnische Zugehörigkeit formulieren. Wenn Frauen betroffen sind, müsse eher die Rede sein von struktureller positiver Diskriminierung, wenngleich dies einen einfachen Dualismus zwischen Bevorzugten und Benachteiligten unterstellt. Andere (statistische) Analysen der Verurteilungspraxis verweisen demgegenüber darauf, dass ethnische Zugehörigkeit bzw. race statistisch nur einen geringen Effekt hat, jedoch die Geschlechtszugehörigkeit zuungunsten aber auch zugunsten der Betroffenen die Verurteilungspraxis beeinflusst. Diese Studien zeigen auch, dass die stärksten Prädiktoren und beeinflussenden Faktoren, die die Höhe des Strafmaßes betreffen, die Deliktschwere sowie die Vorstrafen und die kriminelle Vergangenheit sind (vgl. Daly/Tonry 1997: 225). Zu Recht fragen sich Daly und Tonry (1997: 230): »Is there something wrong with these studies?« und verweisen hier auf ein Dilemma der Forschung. Das Fehlen statistisch signifikanter Korrelationen zwischen der strafrechtlichen Beurteilung und den sozialen Kategorien race, gender und class (und vor allem bei race) dürfe nicht als Hinweis inter260
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pretiert werden, dass diese nicht maßgeblich den Strafprozess beeinflussen. Vielmehr stelle sich die Frage, wie dieser Einfluss adäquat nachgewiesen werden könne. Die sehr gegensätzlichen Ergebnisse seien ein Hinweis darauf, dass eine theoretisch und methodisch völlig anders ausgerichtete Forschung notwendig sei, um den Einfluss sozialer und kultureller Diversität im Strafrecht zu messen (ebd.: 225 ff.). Auch wenn die kriminologische Erforschung der Selektivität des Strafrechts sich verschoben hat in eine der Intersektionalität von race, class, gender and crime (Schwartz/Milovanovic 1996), bedeutet dies zunächst nicht mehr als die Berücksichtigung der verschiedenen sozialen Positionen in einem additiven Sinne. In der Erforschung der sozialen und kulturellen Diversität wird von einem Nebeneinander der verschiedenen sozialen Positionen ausgegangen und diese kaum hinsichtlich ihrer Überkreuzungen analysiert. Theoretisch ist jedoch durchaus vorstellbar, dass eine soziale Kategorie eine andere soziale Kategorie beeinflusst und so die Aufhebung einer sozialen Ungleichheitsposition ermöglicht. Ein Konzept der Intersektionalität, das diese Dimension nicht beachtet, reduziert Intersektionalität auf einen Begriff, der die Berücksichtigung verschiedener und parallel zueinander wirkenden, sozialen Positionen plausibilisiert. »Arrest and court data examine race and gender separately, but not together. This is a major problem, because the most interesting analytical and political questions center on the intersections of race and gender, not merely the separate categories of ›black‹, ›white‹, ›male‹ and ›female‹. Crime and justice system data are limited by the very terms in which these phenomena are counted and explained. That is not to say that harms of various types are not ›real‹ or that people do not suffer them, but that certain harms are more easily counted and detected than others […] and that certain offenses become a targeted focus of policing and criminal justice activity.« (Daly/Tonry 1997: 208)
IV. Ü b e r k r e u z u n g e n : Das Konzept der Intersektionalität als Forschungsperspektive Der Begriff der Intersektionalität stammt ursprünglich aus der feministischen Diskussion und gilt als paradigmatische Neuorientierung der Geschlechterforschung (Knapp 2005). Im politischen Kontext konnte sich dieses Konzept schnell durchsetzen und zielte auf die Erfassung von Formen multipler Diskriminierungen und Benachteiligungen. Intersektionalität zielt dabei zunächst auf soziale Ungleichheit und Differenz 261
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und schließlich auf soziale und kulturelle Diversität. Das Konzept richtet sich »on the specific ways that race is ›gendered‹ and gender is ›racialized‹ in different contexts and how both are limited to the continuities and transformations of social class« (Davis 2008: 21). Ziel einer intersektionalen Analyse ist es, die simultanen Effekte von gender und race zu untersuchen und zu zeigen, wie diese interagieren. Die amerikanische Rechtsgelehrte Kimberlé Crenshaw, die schon Mitte der 80er Jahre das Konzept entwickelte, zeigt an verschiedenen Beispielen, die Beschränkungen und Grenzen einer Analyse auf, die Intersektionalität als Forschungsperspektive vernachlässigt. So zeigt eine Studie zum Strafmaß in Vergewaltigungsfällen eindeutige Unterschiede hinsichtlich des Strafmaßes und einen Zusammenhang mit der ethnischen Zugehörigkeit des Opfers. Schwarze Männer, die wegen Vergewaltigung strafrechtlich verfolgt werden, werden deutlich schwerer verurteilt, wenn das Opfer weiß und nicht schwarz ist. Die Vergewaltigung schwarzer Frauen zeichnet sich deutlich durch strafrechtliche Milde aus. Die mit diesem Ergebnis verbundene (klassische) kriminologische Interpretation ist, dass schwarze Männer diskriminiert werden, wenn das Opfer weiß ist. Was ist hier das Problem und was wird mit dieser Interpretation ausgeblendet? Eine derartige Schlussfolgerung, so Crenshaw (1991: 1269), thematisiert nicht die gleichzeitige Unterordnung schwarzer Frauen unter weiße Frauen. Ist Rassismus nur etwas, das zwischen Männern stattfindet? Und ist das Problem der Diskriminierung nicht umgekehrt, dass schwarze Männer relativ straflos schwarze Frauen vergewaltigen können? Verweist dies nicht auch auf eine Ungleichbehandlung zweier sozialer Gruppen, da Vergewaltigung innerhalb der Gruppe der Schwarzen anders und weniger ernsthaft behandelt wird, als zwischen Weißen. Intraracial Vergewaltigung wird scheinbar nicht als Gegenstand von Rassismus betrachtet. Rassismus wird nur in der Beziehung zwischen weißen und schwarzen Männern angenommen, eine Ungleichbehandlung der Opfer nicht gesehen (ebd.: 1277). Auch die mit diesen Forschungsergebnissen verbundene allgemeine Schlussfolgerung, dass race ein wichtiger Prädiktor richterlicher Entscheidungen sei, ist simplifizierend oder möglicherweise sogar falsch. Man denke hier nur an andere Fälle von Vergewaltigung z. B. zwischen Homosexuellen. Werden hier nicht vielmehr Vorstellungen über das Sexualverhalten schwarzer Frauen bearbeitet, fragt Crenshaw. Gender und race werden insofern als separate Kategorien behandelt. Dies impliziert, dass die Gruppe der schwarzen Frauen im Kontext sozialer Ungleichheitspraktiken nicht thematisiert bzw. beachtet wird. 262
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Crenshaw zeigt in ihrer Analyse, dass innerhalb des Diskurses über Gewalt immer nur ein ›Entweder-oder‹ thematisiert werde. Der Diskurs richte sich entweder auf den des Rassismus oder den der sexuellen Unterdrückung von Frauen. Überkreuzungen der beiden identitätsbildenden Kategorien race und gender werden ausgeblendet. Diese Kritik arbeitet Crenshaw an einem weiteren Beispiel aus. Eine Analyse des Falls der strafrechtlichen Verfolgung einer Gruppe schwarzer Rap-Musiker wegen der Darstellung von Pornographie in ihrer öffentlichen Performance und ihren Songtexten zeigt, dass die strafrechtliche Begründung kaum Bezug nimmt auf die schwarzen Frauen, die die eigentlichen Betroffenen der angenommen Pornographie sind. Die Fallanalyse zeigt, wie einerseits durch eine anti-sexistische Rhetorik, Anteilnahme mit den Frauen hergestellt wird, gleichzeitig traditionelle Deutungsmuster schwarzer, männlicher Sexualität zur Anwendung gelangen, wonach sexuelle Gewalt gegen (weiße) Frauen selbstverständlich ist. Dies führt zur Konstruktion einer Täter-Opfer-Dyade ›schwarzer, männlicher Vergewaltiger – weißes Opfer‹, wenngleich es in diesem Fall um schwarze Frauen geht. Die Rap-Musiker verteidigen ihre sexistische (und frauenfeindliche) Darstellung mit dem Hinweis darauf, dass sie gerade die Absurdität dieser kulturellen Vorstellungen mit dem Stilmittel der Übertreibung aufzeigen und kritisieren wollen. Schafft also die Rhetorik des Anti-Sexismus eine Gelegenheit für Rassismus, dann schafft die Rhetorik des Anti-Rassismus eine Gelegenheit zur Verteidigung von Frauenfeindlichkeit dieser schwarzen Rap-Musiker, schlussfolgert Crenshaw (1991: 1289 f.). Das Konzept der Intersektionalität weist eine vielen anderen Konzepten innewohnende Vormachtstellung der Kategorie Geschlecht zurück. Damit sind Analysen gemeint, die der Geschlechterhierarchie – offen oder verdeckt – einen Vorrang im Spannungsfeld sozialer Ungleichheit einräumen. Demgegenüber wird hier angenommen, dass Geschlecht nur ein Element im komplexen Geflecht sozialer Privilegierungen und Diskriminierungen ist. Dimensionen von Geschlecht können demnach nicht isoliert von anderen Gruppenzugehörigkeiten untersucht werden, da »all people simultaneously experience both oppression and privilege; no individual or group can be entirely privileged or entirely oppressed« (Burgess-Proctor 2006: 36). Alle sozialen Kategorien wie race, gender, class verändern ihre Bedeutung je nach Kontext in dem sie auftauchen, und sie bilden zugleich einen Rahmen für das Leben jedes Einzelnen ungeachtet seiner sozialen Lage (ebd.: 38). Daly (1997) spricht deshalb von multiplen Ungleichheiten, wenn sie darauf verweist, dass die class-race-gender Beziehungen ausgeweitet 263
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werden müssen: »Class-race-gender conceptualizes inequalities, not as additive and discrete, but as intersecting, interlocking and contingent« (ebd.: 33). Diese Konzeptionalisierung multipler Beziehungen von sozialer Ungleichheit ist eine der theoretischen Herausforderungen, wenn es darum geht, den Mechanismus zu ermitteln, wodurch die verschiedenen Formen von Ausschließung und Unterordnungen funktionieren. Im strafrechtlichen Kontext ist diese Perspektive vor dem Hintergrund des Gleichheitsprinzips besonders relevant, da rechtssoziologisch und kriminologisch seine Praktiken als social ordering practice (Garland 1990) beschrieben werden. Die gesamte bestehende Forschungsliteratur verweist darauf, dass das Strafrecht und seine Instanzen selektiv sind und soziale Ungleichheit produzieren. Entscheidend ist jedoch, dass in der Anwendung des Rechts subtile Rechtsungleichheiten durch die verschiedenen Überkreuzungen der unterschiedlichen sozialen Gruppen unsichtbar bleiben, wie vor allem Crenshaw (1991) gezeigt hat, aber ebenso Burgess-Proctor 2006. Ohne eine neue Perspektive und ohne einen Intersektionalität theoretisierenden Rahmen kann dies durch die Forschung kaum gezeigt werden. Intersektionalität betrifft alle soziale Gruppen und Identitäten und bezieht sich auf alle Rechtssubjekte, um die multiplen Dimensionen Rechtsgleichheit und Rechtsungleichheit festzustellen. Die Referenz auf bestimmte soziale Positionen und Kategorien im Strafprozess und die damit verbundene Ausschließung anderer könnte damit sichtbar gemacht werden. Was bedeutet dies für die Analyse? Davis (2008: 21) verweist auf Matsuda, die vorschlägt in der Analyse nach dem Nicht-Sichtbaren zu suchen; sie nennt dies asking the other question: »Asking the other question because the mainstay of an intersectional perspective, offering the tantalizing possibility of exposing multiple positions and power inequalities as they appear in any social practice, institutional arrangement, or cultural representation.«
Warum wird bei der Verurteilung von Murrat D., einem niederländischmarokkanischen Jugendlichen, der seinen Lehrer erschoss, nicht die broken home Problematik sowie die seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Klasse thematisiert, sondern die zur Marokkanischen Kultur (vgl. de Haan/Hiekema 2005)? Warum richten die strafrechtlichen Verfolgungsinstanzen ihre Aufmerksamkeit auf die in den Niederlanden lebenden männlichen Jugendlichen und Heranwachsenden von den Antillen und nicht auf die (jungen) Frauen, deren Kriminalitätsbe-
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lastung auf vergleichbarem Niveau mit dem der männlichen Durchschnittsbevölkerung liegt (vgl. Jennissen/Blom 2007)? Warum wird bei der Strafverfolgung schwarzer Jugendlicher Rap-Musiker wegen Pornographie die Darstellung schwarzer männlicher Sexualität problematisiert und nicht die Frauenfeindlichkeit ihrer Texte und Performance, die sich gegen schwarze Frauen richtet (vgl. Crenshaw 1991: 1290 ff.)? Warum wurde demgegenüber der weiße Popstar Madonna, die Masturbation und Gruppensex auf der Bühne inszeniert, nie strafrechtlich wegen Pornographie verfolgt (ebd.: 1285)? Soziale Identitäten werden dem Konzept der Intersektionalität zufolge sozial konstruiert durch die Überkreuzungen multipler Dimensionen, wobei die organisierenden Identitätsgruppen, denen wir uns zugehörig fühlen, Koalitionen darstellen. Eine Folge der intersektionalen Identität ist, dass Minderheiten Opfer multipler Ungleichheit und Unterdrückung sind. Abhängig vom jeweiligen sozialen Kontext entstehen Überkreuzungen der verschiedenen Ausschließungssysteme, die mehr sind als das Zusammenfügen verschiedener Ausgrenzungserfahrungen. Oder anders formuliert, ihr Effekt ist kontextuell und nicht mathematisch (Lynch 1996: 9). Eine intersektionale Analyse bzw. Perspektive in der Kriminologie würde nicht nur bedeuten, das Miteinanderwirken und die Überkreuzung der verschiedenen sozialen Ordnungssysteme (wie gender, race, class) zu berücksichtigen, sondern zu untersuchen, inwieweit weitere soziale Kategorien (z. B. Sexualität, Körper, Nationalität, Religion, Alter)3 und Positionierungen Einfluss auf die Rechtshandhabung haben. Eine intersektionale Analyse kann zeigen, wie soziale Ungleichheit auf Basis der Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Positionen und Kategorien sich auswirkten auf das Verhaltensrepertoire der Handelnden (Täter, Opfer, Kontrolleure). Sie ist auch geeignet für die Analyse der Rechts(un)gleichheit und Selektivität des Strafrechts, die sich in Strafmodellen ebenso wiederfinden können wie in Maßnahmen zur Bekämpfung und Verhinderung von Kriminalität. Eine solcherart gestaltete Analyse kann sichtbar machen, wie verschiedene Formen sozialer Ungleichheit sich gegenseitig verstärken, aber ebenso ausgehebelt werden kön3
Welche Kategorien gehören dazu und welche nicht, fragt Davis (2008: 25). Im Europäischen Kontext ist race in ethnische Zugehörigkeit umgeändert worden, aber was ist mit Sexualität, Religion, Kultur, Nationalität, Alter oder aber der ökonomischen Situation, Beruf? Lutz und Davis (2005) verweisen darauf, dass nicht weniger als 14 Differenzlinien denkbar sind, wenngleich sich alle mit race und gender überkreuzen. Winker und Degele (2009) sprechen von vier Strukturkategorien, und benennen Körper als eine Strukturkategorie neben Klasse, Geschlecht und Rasse. 265
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nen. Ganz allgemein ermöglicht die hier vorgestellte theoretische Perspektive eine Antwort auf die Frage, inwiefern Strafrecht gerecht ist gegenüber den verschiedenen Kategorien von Bürgern oder anders formuliert, wie Strafrecht auf die verschiedenen intersectional identities (vgl. Crenshaw 1991: 1299) reagiert. Schließlich muss man sich fragen, warum all diese Überkreuzungen unsichtbar bleiben. Müssten sie, um soziale Gleichheit zu garantieren, nicht (zumindest) sichtbar sein? Für eine feministische Kriminologie und eine Analyse der Genderperspektive des Strafrechts stellt Intersektionalität m. E. die einzige, aber innovative Perspektive dar.
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AUTORINNEN
UND
AUTOREN
Martina Althoff, Dr. phil., Studium der Soziologie in Münster und Kriminologie in Hamburg. Universitätsdozentin für Kriminologie, Fakultät für Rechtswissenschaften, Universität Groningen (Niederlande). Seit April 2008 Sprecherin der Sektion »Genderperspektiven« der Gesellschaft für interdisziplinäre wissenschaftliche Kriminologie (GiwK). Arbeitsschwerpunkte: Kriminalitätsdiskurse, Kriminalität und Medien, Jugend und Gewalt, Feministische Kriminologie. Publikationen u. a.: (zus. mit Mechthild Bereswill u. Birgit Riegraf ) Feministische Methodologien und Methoden. Traditionen, Konzepte, Erörterungen. Lehrbuch zur sozialwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung, Bd. 2, Opladen 2001; »›Bad woman‹ oder ›one of the guys‹: Junge Frauen und Gewalt«, in: Christine Künzel/Gaby Temme (Hg.), Täterinnen und/oder Opfer? Frauen in Gewaltstrukturen, Hamburg 2007; (zus. mit Jan Nijboer) »Fußball, Spiel und Kampf. Zur politischen Dimension des Hooliganismus«, in: Gabriele Klein/Michael Meuser (Hg.), Ernste Spiele. Zur politischen Soziologie des Fußballs, Bielefeld 2008. Jutta Elz, Dipl.-Pädagogin und Assessorin jur., seit 1993 nebenberufliche Rechtsfortbildung für MitarbeiterInnen aus Jugendämtern und –verbänden, Schulprojekten etc. zu den Themen Aufsichtspflicht, Jugendschutz und Sexualstrafrecht. 1997 bis 1998 Rechtsanwaltstätigkeit im Landgerichtsbezirk Frankfurt/M. Seit 1998 Wissenschaftliche Angestellte der Kriminologischen Zentralstelle (www.krimz.de), dort u. a. Planung und Durchführung von Forschungsprojekten (v. a. bzgl. Sexualdelinquenz) und Fachtagungen. Publikationen u. a.: Legalbewährung und kriminelle Karrieren von Sexualstraftätern: sexuelle Missbrauchs269
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delikte, Wiesbaden 2001; Hg. (zus. mit Jörg-Martin Jehle u. HansLudwig Kröber) Exhibitionisten: Täter, Taten, Rückfall, Wiesbaden 2004; Hg. Kooperation von Jugendhilfe und Justiz bei Sexualdelikten gegen Kinder, Wiesbaden 2007; Hg. Täterinnen – Befunde, Analysen, Perspektiven, Wiesbaden 2009. Johannes Feest, Dr. soz., Jurist und Sozialwissenschaftler. Professor (i. R.) am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Bremen. Veröffentlichungen vor allem zu Fragen der Kriminologie, Rechtssoziologie und des Strafvollzuges. Verantwortlich für das Strafvollzugsarchiv an der Universität Bremen (vgl. http://www.strafvollzugsarchiv.de). Publikationen u. a.: Hg. Kommentar zum Strafvollzugsgesetz, 5. Aufl., Neuwied 2006; (zus. mit Wolfgang Lesting) »Contempt of Court. Zur Wiederkehr des Themas der renitenten Strafvollzugsbehörden«, in: Henning Ernst Müller u. a. (Hg.), Festschrift für Ulrich Eisenberg zum 70. Geburtstag, München 2009; »Aufruf zur Rehabilitierung von Dr. Hannes Kapuste«, in: Helmut Pollähne/Heino Stöver (Hg.), Komplemente In Sachen: Kriminologie, Drogenhilfe, Psychotherapie, Kriminalpolitik, Münster 2010. Susanne Hehenberger, Magister, Historikerin. Studium der Geschichte und Politikwissenschaft an den Universitäten Wien und Trier; Doktoratsstudium der Geschichte an der Universität Wien; 2001 bis 2003 DOC-Stipendiatin an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften; 2004 Auszeichnung mit dem Michael Mitterauer Förderungspreis für Gesellschafts-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte; seit 2001 Universitätslektorin am Institut für Geschichte der Universität Wien; Mitglied des Instituts für die Erforschung der Frühen Neuzeit (iefn), Redakteurin und Koordinatorin der Zeitschrift Frühneuzeit-Info; 2004 bis 2008 wissenschaftliche Projektmitarbeiterin in der Geistlichen Schatzkammer des Kunsthistorischen Museums in Wien. 2008 bis 2009 Mitarbeit am Projekt der österreichischen Kommission für Provenienzforschung Digitalisierung von Wiener Auktionskatalogen aus der NSZeit. Seit 2009 Provenienzforscherin im Kunsthistorischen Museum Wien. Forschungsschwerpunkte: Gender Studies, Kriminalitäts-, Religions- und Sexualitätsgeschichte der Frühen Neuzeit, Provenienzforschung. Publikationen u. a.: Unkeusch wider die Natur. Sodomieprozesse im frühneuzeitlichen Österreich, Wien 2006; zus. mit Maria Czwik, Andrea Griesebner u. a.: »Ehre – Emotionen – Eigentum. Häusliche Gewalt, Wirtshaushändel und Holzdiebstähle in Perchtoldsdorf (18. Jahrhundert)«, in: Frühneuzeit-Info 1 (2007); »Dehumanised Sin-
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ners and Their Instruments of Sin: Men and animals in the context of bestiality, Austria 1500–1800«, in: Intersections. Yearbook for Early Modern Studies, Jg. 7, H. 2 (2007). Karen Holtmann, Dr. des., Sommersemester 1998 bis Wintersemester 2003/04 Magisterstudium der Fächer Geschichte und Germanistik an den Universitäten Leipzig und Bielefeld. Im Anschluss daran Promotionsprojekt an den Universitäten Bielefeld und Hannover. Seit September 2008 Geschäftsführerin der Bielefeld Graduate School in History and Sociology, Universität Bielefeld. Publikationen: »Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus«, in: Achim Rogoss u. a. (Hg.), Georg Elser – Ein Attentäter als Vorbild, Bremen 2006; Die SaefkowJacob-Bästlein-Gruppe vor dem Volksgerichtshof. Die Hochverratsverfahren gegen die Frauen und Männer der Berliner Widerstandsorganisation 1944-1945 (Dissertation; wird 2010 erscheinen). Isabel Kratzer, Akad. Rätin, Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Augsburg; 2004 Erstes Staatsexamen; 2006 Zweites Staatsexamen. Seit August 2007 Akademische Rätin am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie von Prof. Dr. Wilfried Bottke an der Universität Augsburg. Publikation: (zus. mit Wilfried Bottke) »Roma locuta causa finita? – Abschied vom Gebot des Rechtsgüterschutzes? Zugleich eine Anmerkung zum Beschluss des BVerfG vom 26.2.2008 zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 173 II S. 2 StGB«, in: Winfried Hassemer u. a. (Hg.), In dubio pro libertate. Festschrift für Klaus Volk zum 65. Geburtstag, München 2009. Christine Künzel, Dr. phil., Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Studium der Germanistik, Amerikanistik und der Philosophie an der Universität Hamburg und der Johns Hopkins University in Baltimore (USA). Von 1998 bis 2001 Stipendiatin am Graduiertenkolleg »Codierung von Gewalt im medialen Wandel« an der Humboldt-Universität zu Berlin, 2003 Promotion. Seit 2000 Lehraufträge an den Universitäten Hamburg, Hannover und Oldenburg. Im Dezember 2005 Auszeichnung der Dissertation mit dem Fritz Sack Preis der Gesellschaft für interdisziplinäre wissenschaftliche Kriminologie (GiwK). 2004 bis 2008 (zus. mit Gaby Temme) Sprecherin der Sektion »Genderperspektiven« der GiwK. Wintersemester 2006/07 bis 2009/10 diverse Vertretungsprofessuren für Neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik II an der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte u. a.: Repräsentation von Gewalt in der Literatur (sexuelle Gewalt, Recht, Kriminalität, Ver-
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HAT STRAFRECHT EIN GESCHLECHT?
brechen), Recht und Literatur. Publikationen u. a.: Vergewaltigungslektüren: Zur Codierung sexueller Gewalt in Literatur und Recht, Frankfurt/M./New York 2003; Hg. Unzucht – Notzucht – Vergewaltigung. Definitionen und Deutungen sexueller Gewalt von der Aufklärung bis heute, Frankfurt/M./New York 2003; Hg. (zus. mit Gaby Temme) Täterinnen und/oder Opfer? Frauen in Gewaltstrukturen, Hamburg 2007. Annika Lingner, M. A., Magisterstudium der Germanistik, Anglistik und Journalistik an der Universität Leipzig; derzeit Doktorandin im Bereich Germanistik in Leipzig. Arbeit an einer Dissertation zum Thema: »Medialität in Dramen der Aufklärung und des Sturm und Drang«. Wissenschaftliche Vorträge im In- und Ausland. Publikation: »›Wir drehen uns eine Zeitlang in diesem Platz herum wie die anderen Räder‹: Between mechanism and vitalism – on the mediality of the body in Goethe’s Götz von Berlichingen«, in: Sabine Blackmore/Ralf Haeckel (Hg.), Discovering the Human. Life Sciences and the Arts in the Eighteenth and Early Nineteenth Centuries; der Band wird voraussichtlich im September 2010 im Routledge Verlag (London) erscheinen. Michael Löffelsender, M. A., Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Köln; 2005 bis 2006 wissenschaftlicher Volontär der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora; 2006 bis 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität zu Köln. Derzeit Promotionsstipendiat der International Max Planck Research School for Comparative Legal History an der Goethe-Universität Frankfurt/M. Publikationen u. a.: »›A particularly unique role among concentration camps.‹ Der Dachauer Dora-Prozess 1947«, in: Helmut Kramer u. a. (Hg.), Zwangsarbeit im Nationalsozialismus und die Rolle der Justiz. Täterschaft, Nachkriegsprozesse und die Auseinandersetzung um Entschädigungsleistungen, Nordhausen 2007; »Möglichkeiten und Grenzen eines nationalsozialistischen Modefachs. Deutsche Volkskunde an der Universität Köln 1919-1945«, in: Geschichte im Westen. Zeitschrift für Landes- und Zeitgeschichte 23 (2008). Martin Lücke, Dr. phil, Studium der Fächer Geschichte und Deutsch an der Universität Bielefeld; 2002 Erstes und 2004 Zweites Staatsexamen; 2004 bis 2006 Promotionsstipendiat der Friedrich-Ebert-Siftung; 2007 Promotion zur Geschichte der männlichen Prostitution in Kaiserreich und Weimarer Republik an der Universität Bielefeld. Seit 2008 als wissenschaftlicher Mitarbeiter für Didaktik der Geschichte an der Freien Universität Berlin, 2008 Hedwig-Hintze-Preis des Verbandes der Histo-
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AUTORINNEN UND AUTOREN
rikerinnen und Historiker Deutschland (für die Dissertation). Publikationen u. a.: Männlichkeit in Unordnung. Homosexualität und männliche Prostitution in Kaiserreich und Weimarer Republik (2008); Hg. (zus. mit Sabine Grenz) Verhandlungen im Zwielicht. Momente der Prostitution in Geschichte und Gegenwart (2006); »›A Hint of What was to Come‹ – Bilingualität und das Erinnern an Antisemitismus und den Holocaust in videografierten Zeitzeugeninterviews«, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 8 (2009). Dagmar Oberlies, Dr. jur., zwischen 1984 und 1996 Tätigkeiten als Rechtsanwältin in freier Praxis, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Referatsleiterin im Saarländischen Ministerium für Frauen, Arbeit, Gesundheit und Soziales und wissenschaftliche Mitarbeiterin der SPD-Bundestagsfraktion. Seit 1996 Professorin an der Fachhochschule Frankfurt/M. mit Schwerpunkt Strafrecht und Kriminologie, Migrations- und Antidiskriminierungsrecht, Internationale Menschenrechte und Gewalt gegen Frauen. Seit 2001 verschiedene Tätigkeiten in der Entwicklungszusammenarbeit u. a. in Kambodscha (2002 bis 2004) und Afghanistan (2005 und 2007) sowie Gastprofessur an der Internationalen Islamischen Universität, Kuala Lumpur, Malaysia (2006). Vorsitzende der Strafrechtskommission des Deutschen Juristinnenbundes (1996 bis 2002), Geschäftsführerin des Gemeinsamen Frauenforschungszentrums der Hessischen Fachhochschulen (2000 bis 2002), Mitherausgeberin der Feministischen Rechtszeitschrift STREIT (1983 bis 2004). Publikationen u. a.: Tötungsdelikte zwischen Männern und Frauen. Eine Untersuchung geschlechtsspezifischer Unterschiede aus dem Blickwinkel gerichtlicher Rekonstruktionen, Pfaffenweiler 1995; (zus. mit Margrit Brückner u. a.) Ratgeberin: Recht. Für Frauen, die sich trennen wollen und für Mitarbeiterinnen in Frauenhäusern und Beratungsstellen, Frankfurt/M. 1998 (3., überarbeitete Aufl., 2002); Hg. (zus. mit Ulrike Schmauch) Anstoß nehmen – Anstoß geben. Ein Rückblick auf 30 Jahre feministischer Diskussion. Gedächtnisschrift für Karin Walser, Königstein/Ts. 2005. David James Prickett, Dr. phil., Germanist und Kulturwissenschaftler. Promotion an der University of Cincinnati, Ohio, USA, mit einer Dissertation zum Thema: Body Crisis, Identity Crisis: Homosexuality and Aesthetics in Wilhelmine- and Weimar Germany (2003). Seit 2003 arbeitet er als assoziierter Mitarbeiter am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien (ZtG) der Humboldt-Universität zu Berlin. Zurzeit ist er freiberuflicher Dozent an der Europa-Universität Viadrina und an der
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HAT STRAFRECHT EIN GESCHLECHT?
Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkt: das Zusammenspiel von Kriminalitäts-, Medien- und Geschlechterdiskursen und die sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Wechselwirkungen. Publikationen u. a.: »Hans Ostwald«, in: Volkmar Sigusch/Günter Grau (Hg.), Personenlexikon der Sexualwissenschaft, Frankfurt/M. 2009; »Double Exposure: Photography, Hegemony, and Masculinity in Early Twentieth-Century Germany«, in: Sarah Colvin/Peter Davies (Hg.), Masculinities in German Culture., Edinburgh German Yearbook, Bd. 2, Rochester, NY; (2010): »›We will show you Berlin‹: Leisure, ›Space‹, Flânerie and Sexuality«, in: Kath Browne/Jayne Caudwell (Hg.), Sexy Spaces: Leisure and Geography, Sonderausgabe von Leisure Studies (wird in Kürze erscheinen). Torsten Sander, Dr. phil., 1997 bis 2002 Magister-Studium der germanistischen Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Kommunikationswissenschaft an der TU Dresden; 2009 Promotion. Seit 2001 Mitarbeiter der L. G. Röth Sächsisches Buch- und Graphikkabinett GmbH, Radebeul (Antiquariatsbuchhandlung). Publikationen: Die Auktion der Dubletten der kurfürstlichen Bibliothek Dresden 1775 bis 1777. Ein Beitrag zur Geschichte des Buchauktionswesens, Dresden 2006; »Zur Benutzung der Sächsischen Landesbibliothek seit 1556. Organisation und Demokratisierung von Lektüre«, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 77 (2006); Ex Bibliotheca Bunaviana. Studien zu den institutionellen Bedingungen einer adligen Privatbibliothek im Zeitalter der Aufklärung, Dresden 2010 (in Vorbereitung). Gerlinda Smaus, Dr. phil., bis 2001 Forschungs- und Lehrtätigkeit am Institut für Rechts- und Sozialphilosophie an der Universität des Saarlandes, zuletzt als Privat-Dozentin für Soziologie. Danach bis 2008 Professorin für Soziologie an der Fakultät für soziale Studien an der Masaryk-Universiät in Brno und an der Philosophischen Fakultät der Palacký Universität in Olomouc, Tschechische Republik. In Brno und in Olomouc Grundlagen sozialwissenschaftlicher Forschung und Gendertheorien. Arbeitsschwerpunkte: Rechtssoziologie, vor allem Strafrechtssoziologie, zuletzt unter dem Gender-Aspekt. Von 1996 bis 1998 Vorsitzende der Gesellschaft für interdisziplinäre wissenschaftliche Kriminologie (GiwK). Publikationen u. a.: Das Strafrecht und die gesellschaftliche Differenzierung, Baden-Baden 1998; »Das Geschlecht des Strafrechts«, in: Ursula Rust (Hg.), Juristinnen an den Hochschulen – Frauenrecht in Lehre und Forschung, Baden-Baden 1997; »Soziale Kontrolle und das Geschlechterverhältnis«, in: Detlev Frehsee/Gabi
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AUTORINNEN UND AUTOREN
Löschper/Karl F. Schumann (Hg.), Strafrecht, soziale Kontrolle, soziale Disziplinierung, Opladen 1993. Gaby Temme, Dr. jur., seit 2005 Professorin für Kriminalwissenschaften/Kriminologie an der Fakultät der Polizei der Niedersächsischen Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege (zum 01.10.2007 Polizeiakademie Niedersachsen). Diplom-Kriminologin und promovierte Juristin. Studium an den Universitäten Bielefeld und Hamburg. Ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Bremen und Marie Curie Research Fellow an der Keele University in Großbritannien. 2004 bis 2008 (zus. mit Christine Künzel) Sprecherin der Sektion »Genderperspektiven« der Gesellschaft für interdisziplinäre wissenschaftliche Kriminologie (GiwK). Forschungsschwerpunkte: Drogen, Konstruktivismus, Abolitionismus, Restorative Justice, Strafrechtssystem, Strafvollzug. Publikationen u. a.: Selbstreproduktionsmechanismen des Strafrechtssystems – eine Analyse anhand des Betäubungsmittelstrafrechts, Berlin 2006; Hg. (zus. mit Christine Künzel): Täterinnen und/oder Opfer? Frauen in Gewaltstrukturen, Hamburg 2007; »Dissonanzreduktion in einer totalen Institution. Drogen im Strafvollzug als Auslöser kognitiver Dissonanzen«, in: Helmut Pollähne/Heino Stöver (Hg.), Komplemente In Sachen: Kriminologie, Drogenhilfe, Psychotherapie, Kriminalpolitik, Münster 2010.
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Studien interdisziplinäre Geschlechterforschung Jutta Jacob, Heino Stöver (Hg.) Männer im Rausch Konstruktionen und Krisen von Männlichkeiten im Kontext von Rausch und Sucht 2009, 192 Seiten, kart., zahlr. Abb., 22,80 €, ISBN 978-3-89942-933-6
Constance Ohms Das Fremde in mir Gewaltdynamiken in Liebesbeziehungen zwischen Frauen. Soziologische Perspektiven auf ein Tabuthema 2008, 346 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-948-0
Lydia Potts, Jan Kühnemund (Hg.) Mann wird man Geschlechtliche Identitäten im Spannungsfeld von Migration und Islam 2008, 234 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-992-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Studien interdisziplinäre Geschlechterforschung Malwine Seemann Geschlechtergerechtigkeit in der Schule Eine Studie zum Gender Mainstreaming in Schweden 2009, 278 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1253-0
J. Seipel Film und Multikulturalismus Repräsentation von Gender und Ethnizität im australischen Kino 2009, 288 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1174-8
Gaby Temme, Christine Künzel (Hg.) Hat Strafrecht ein Geschlecht? Zur Deutung und Bedeutung der Kategorie Geschlecht in strafrechtlichen Diskursen vom 18. Jahrhundert bis heute Juni 2010, ca. 222 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1384-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de