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German Pages 527 [528] Year 2017
Handbuch Sprache in sozialen Gruppen HSW 9
Handbücher Sprachwissen
Herausgegeben von Ekkehard Felder und Andreas Gardt
Band 9
Handbuch Sprache in sozialen Gruppen
Herausgegeben von Eva Neuland und Peter Schlobinski
ISBN 978-3-11-029576-4 e-ISBN [PDF] 978-3-11-029613-6 e-ISBN [EPUB] 978-3-11-039388-0 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: fidus Publikations-Service GmbH, Nördlingen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis Eva Neuland/Peter Schlobinski Sprachgebrauch in sozialen Gruppen
IX
I Grundlagen Christian Stegbauer 1. Soziale Netzwerke und sprachliche Interaktion
3
Paul Eisewicht 2. Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit in der Moderne – über Qualitäten posttraditionaler Gesellungsgebilde 17 Peter Schlobinski 3. Datenerhebung quantitativ
35
Norbert Dittmar 4. Datenerhebung qualitativ. Mit einem Ausblick auf Beschreibungsverfahren 52
II
Sprachmuster und Kommunikation in sozialen Gruppen
Stephan Elspaß 5. Sprachvariation und Sprachwandel
87
Oliver Siebold 6. Wortschatz, Wortbildung und lexikalische Semantik Jens Philipp Lanwer/Georgios Coussios 7. Kommunikative Praxis, soziale Gruppe und sprachliche Konventionen 126 Kirsten Adamzik Texte, Textsorten 8.
149
Svend F. Sager Nonverbale Kommunikation 9.
168
108
VI
Inhaltsverzeichnis
Jannis Androutsopoulos 10. Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit
193
Marina Petkova 11. Code-switching und Gruppenkonstellationen
218
Jens Runkehl 12. Gruppe in der Forschung zu Neuen Medien (Web 2.0)
III
233
Einzelanalysen zum Sprachgebrauch in sozialen Gruppen
Miriam Morek/Uta Quasthoff 13. Sprachliche und diskursive Praktiken unter Kindern Eva Neuland 14. Sprachgebrauch in Jugendgruppen
255
276
Diana Walther 15. Zum Aspekt „Gender“ in der Kommunikation sozialer Gruppen
293
Inken Keim 16. Städtische Gruppen und ihre kommunikativen sozialen Stile
313
Heike Wiese 17. Die Konstruktion sozialer Gruppen: Fallbeispiel Kiezdeutsch
331
Marco Lehmann/Caroline Cohrdes/Reinhard Kopiez 18. Sprache und Musikszenen 352 Robert Claus/Jonas Gabler 19. Sprache und Kommunikation in Fußballfangruppen Helen Christen 20. Dialekt und soziale Gruppe
370
385
IV Anwendungsfelder Carmen Spiegel 21. Gruppensprachliche Praktiken in der Institution Schule
403
Inhaltsverzeichnis
Werner Pfab Konfliktkommunikation in Jugendgruppen – Diskursmatrix eines 22. Forschungsprogramms 420 Heidrun Kämper 23. Sprache in politischen Gruppen
439
Thorsten Roelcke 24. Soziale Gruppen in der Fachkommunikation
455
Christian Efing 25. Soziale Gruppen in der Wirtschaftskommunikation Sachregister
497
473
VII
Eva Neuland/Peter Schlobinski
Sprachgebrauch in sozialen Gruppen Im Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft gibt es Zwischeninstanzen, die für die gesellschaftliche und somit auch für die kommunikative und sprachliche Dynamik von großer Bedeutung sind. Soziale Gruppen gehören zentral dazu. Als soziales Aggregat, sei es als eher zufälliges Konglomerat (z. B. wartende Fußgängergruppe vor roter Ampel), sei es als eine formalisierte Zweckgemeinschaft (Rat für deutsche Rechtschreibung) oder organisierte Interessensgemeinschaft (Fußballmannschaft), bilden soziale Gruppen in ihren objektiven Verbindungen Kommunikationsnetzwerke und in ihren subjektiven mehr oder weniger gemeinsam geteilte Werte- und Sinnsysteme. Erstere bilden für Sprachvariations-, Sprachentwicklungsund Sprachwandelprozesse soziale Tatsachen, die zusammen mit Spracheinstellungen, Sprachbewertungen und sprachlichen Emotionen für dynamische Prozesse in Sprachgemeinschaften verantwortlich sind. In empirischen Forschungen zum Sprachgebrauch spielen soziale Gruppen manchmal eine explizite und häufig eine implizite Rolle. Eine explizite Ausein andersetzung mit dem soziologischen Gruppenbegriff findet sich auch in soziolinguistischen Studien nur selten. Zwar ist der Terminus: Gruppensprachen seit Ende des 19. Jahrhunderts in der Sprachwissenschaft etabliert und wird auch immer wieder aktualisiert, so z. B. in der Jugendsprachforschung, aber auch in vielen kommunikationslinguistischen Studien. An einem aktuellen systematischen Überblick mangelt es bis heute. Mit dem vorliegenden Handbuch wollen wir diesem Desiderat Rechnung tragen. In der Reihe der Handbücher Sprachwissen nimmt dieser Band eine wichtige Gelenkstelle zwischen stärker systembezogenen und stärker an Wissensdomänen und Handlungsfeldern orientierten Bänden ein. Das erste Kapitel dieses Bandes ist ausgewählten theoretischen Grundlagen gewidmet und greift Fragen der Empirie auf. Das zweite Kapitel präsentiert zentrale linguistische Gegenstandsfelder, in denen der Aspekt der sozialen Gruppe eine nicht immer offensichtliche Bedeutung entwickelt. Im dritten Kapitel werden exemplarische Studien zum Sprachgebrauch in sozialen Gruppen dokumentiert. Abschließend stellt das vierte Kapitel ausgewählte Anwendungsbereiche gruppenorientierter linguistischer Handlungsfelder vor. Einige zentrale Punkte des Themenfeldes Sprache und soziale Gruppe seien in dieser Einleitung kurz angesprochen, wobei wir auf eine verkürzte und aktualisierte Fassung unseres Beitrags in Band 1 der HSW-Reihe zurückgreifen (Neuland/Schlobinski 2015):
DOI 10.1515/9783110296136-203
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1 Vom Wandel der soziologischen Kategorie: Gruppe In der deutschsprachigen Soziologie wurde der Gruppenbegriff zur Bezeichnung sozialer Gebilde der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung von Individuen erst um die Wende des 19./20. Jahrhunderts fruchtbar gemacht, u. a. durch Ferdinand Tönnies, Max Weber, Georg Simmel und Leopold von Wiese. Vor allem aber hat die amerikanische Kleingruppenforschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (u. a. Robert Bales, Charles Cooley, George Homans, Jacob L. Moreno, Kurt Lewin) die Ausbildung einer Gruppensoziologie maßgeblich beeinflusst. Seitdem hat sich die Gruppensoziologie mit unterschiedlichen Theorien und Anwendungsfeldern des Gruppenbegriffs auseinandergesetzt und verschiedene Formen und Funktionen sozialer Gruppen unterschieden (z. B. Freundes- und Arbeitsgruppen, Neigungs- und Gesinnungsgruppen, Leistungs- und Rückzugsgruppen). Aus der Vielzahl soziologischer Begriffsbestimmungen und unterschiedlichen Dimensionierungen des Gruppenbegriffs seien folgende Schwerpunkte herausgegriffen und näher beleuchtet.
1.1 Soziale Gruppen Schäfers (2013) fasste kürzlich prägnant zusammen: Eine soziale Gruppe umfasst eine bestimmte Anzahl von Mitgliedern, die ein gemeinsames Ziel verfolgen und für die Erreichung dieses Ziels dauerhaft in einem relativ kontinuierlichen Kommunikations- und Interaktionsprozess stehen, aus dem sie ein Zusammengehörigkeitsgefühl (Wir-Gefühl) entwickeln. Voraussetzung für die Erreichung des Gruppenziels und die Herausbildung einer Gruppen-Identität sind gemeinsame Normen und ein gruppenspezifisches Rollendifferenzial. (Schäfers 20013, 108)
Die Gruppensoziologie hat verschiedene Typen sozialer Gruppen unterschiedene und z. T. mit binären Bezeichnungen charakterisiert. Cooley definierte schon 1909 die Primärgruppe als eine Gruppe mit sehr enger unmittelbarer persönliche Verbindung (face-to-face). Solche Primärgruppen sind an die konkreten Erfahrungsräume der Einzelnen gebunden und sozialen Wandlungsprozessen ausgesetzt. Daneben werden sekundäre Gruppen unterschieden, die nicht auf unmittelbare persönliche Beziehungen, sondern auf gesellschaftliche Formationen (Vereine, Fachverbände) basieren. Ein weiteres Begriffspaar unterscheidet formale, planmäßig geschaffene von informellen, spontan gebildeten Gruppen wie z. B. Neigungs- und Gesinnungsgruppen. Weitere Unterscheidungen betreffen Klein- und Großgruppen, Kern- und Randgruppen etc. Gruppen, denen in der Forschung besondere Aufmerksamkeit zuteilwurde, waren seit Beginn des 20. Jahrhunderts Jugendgruppen, Peergruppen gleichaltriger Kinder und Jugendlicher sowie Bezugsgruppen (Robert K. Merton), deren Normen und
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Ziele einen Orientierungsrahmen für die einzelnen Individuen bilden (vgl. Guken biehl 1999). Zentrale Fragestellungen der Gruppensoziologie betreffen einerseits gruppeninterne Prozesse der Positionierung und Rangdifferenzierung, Einstellungsbildung und Handlungspraktiken, die als wesentliche Bestandteile einer Gruppenidentität angesehen werden. Andererseits bilden unterschiedliche gruppenexterne Kontexte und Handlungsfelder weitere Schwerpunkte, darunter schon früh die Auswirkungen auf Leistungssteigerung in betrieblichen Arbeitsgruppen oder die sozialisatorischen Auswirkungen für Kinder und Jugendliche (vgl. Neidhardt 1999).
1.2 Peergruppen Der unmittelbare persönliche Kontakt ist das Charakteristikum von Peergruppen, die für Prozesse der Sprachentwicklung, der Ausbildung spezifischer Kommunikationsgemeinschaften und Register, der Kommunikation in altersbezogenen Gruppen/ Soziolekten von erheblicher Bedeutung sind (vgl. dazu Krappmann 1991, Machwirth 1999) Die Gleichaltrigengruppe gilt als sozialer Ort spezifischer sozialer Erfahrungen und der Selbstverortung. […] Die zentrale Funktion dieser Primärgruppen ist ihr Sozialisationsbeitrag zur Entwicklung der sozialen Identität. […] Die Gleichaltrigengruppen geben die Chance zur Behauptung gegenüber der Erwachsenenwelt, zur Suche nach Authentizität und zum Aufbau der eigenen Persönlichkeit und ihrer Identität. (Machwirth 1999, 248 ff.) Die Peergruppenforschung entwickelte sich von verschiedenen Ansätzen her, darunter die jugendsoziologische und pädagogische Sozialforschung und Sozialpsychologie. Forschungsschwerpunkte bilden v. a. die Funktionen von Peergruppen für umfassendere soziale Gebilde sowie für die soziale Entwicklung des Individuums. Empirische Studien wandten sich bereits Mitte des 20. Jahrhunderts dem ‚abweichenden‘ Verhalten ‚delinquenter‘ Jugendlicher in Gangs oder Banden im Kontext von Verstädterung- und frühen Migrationsprozessen sowie sozialer Benachteiligung zu (z. B. Whyte 1943 [dt 1996]: Street-Corner-Society, Hollingshead 1949: Elmtown’s Youth, Aizensḥtad 1956 [dt 1966] sowie die durch die gleichnamige Verfilmung bekannt gewordene Studie von Bernstein 1957: West Side Story). Dieser jugendsozio logische Forschungsbereich ist bis heute aktuell geblieben (z. B. Bohnsack 1989, Tertilt 1996). Im Rahmen zunehmend komplexer gesellschaftlicher Anforderungen und Erwartungen können Peergruppen eine Schutz- und Ausgleichsfunktion erfüllen und in diesem Rahmen Sicherheit und Status vermitteln. Peergruppen spielen in der soziolinguistischen Forschung daher auch eine besondere Rolle: Durch die Ausbildung gemeinsamer Interessen, Meinungen und Wertungen und durch gemeinsame Handlungspraxen liegt die Entwicklung eines gruppentypischen Wortschatzes nahe; da
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es sich zugleich um Interaktionsgemeinschaften handelt, ist dieser Wortschatz aber in sprachliche Handlungskontexte eingebunden und oft nur in solchen Kontexten zu verstehen. Zur relativen Altershomogenität und Generationsgemeinschaft tritt zumeist eine milieu- und geschlechtstypische Ausbildung von Peergruppen, die diese zu einem bevorzugten Gegenstandsfeld soziolinguistischer Forschungen macht. Aufgrund der Unmittelbarkeit des face-to-face-Kontakts bildet der Sprachgebrauch in Peergruppen auch eine wichtige Basis für Forschungen zu gesprochener Sprache, interpersoneller Kommunikation und subkulturellen Stilbildungen. Ein Großteil der Einzelanalysen in Kap. III des vorliegenden Bandes bezieht sich auf den Sprachgebrauch in Peergruppen.
1.3 Szenen, Milieus, Subkulturen Angesichts zunehmender gesellschaftlicher Differenzierung geht die soziologische Forschung heute von vielfachen Pluralisierungs- und Individualisierungsprozessen aus (vgl. Beck/Beck-Gernsheim 1994), die zu gewichtigen Umstrukturierungen des sozialen Leben und zu neuen Vergemeinschaftungsformen und Gesinnungsgenossenschaften führen, denen die traditionellen Sozialisationsagenturen, neben Familie und Schule auch Vereine, Verbände und Gemeinden, immer weniger gerecht werden können. Hinzu treten Strukturveränderungen des Erfahrungsraums speziell der jugendlichen Peergruppen, v. a. durch die Verbreitung neuer Medien, durch erhöhte Mobilität und vermehrte Sprach- und Kulturkontakte. Dadurch verlieren auch die traditionellen Einteilungskriterien und Definitionsmerkmale sozialer Gruppen an Trennschärfe. Peergruppen gehen teilweise in de-lokalisierte „Szenen“ über. Hitzler/Bucher/ Niederbacher definieren solche Szenen als: Thematisch fokussierte kulturelle Netzwerke von Personen, die bestimmte materiale und/oder mentale Formen der kollektiven Selbststilisierung teilen und Gemeinsamkeiten an typischen Orten und zu typischen Zeiten interaktiv stabilisieren und weiterentwickeln. (Hitzler/Bucher/ Niederbacher 2001, 20)
Im Unterschied zu traditionellen Gemeinschaftsformen weisen Szenen zwar auch inhaltliche Relevanzen (v. a. Großthematiken wie Musik, Sport, Mode und neue Medien; vgl. auch die Studie von Strzoda u. a. 1996 sowie die Beiträge zum Sprachgebrauch in Musikszenen und in Fangruppen i. d. Bd.), Routinen und Deutungsschemata auf; sie sind aber auch durch eine höhere Dynamik, geringere Verbindlichkeitsansprüche und partiellere Geltungsbereiche gekennzeichnet. Szenen können, so Hitzler/Honer/Pfadenhauer (2008, 20), als Angebote zur zeitweiligen Vergemeinschaftung und sozialen Selbst- und Fremdverortung größere Verpflichtungen und
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ohne dauerhafte Bindungen dienen (Dazu ausführlicher der Beitrag von Eisewicht i. d. Bd.). Als thematisch fokussierte soziale Netzwerke können Szenen auch einzelne soziale Gruppen umfassen. Durch Ästhetisierung und Stilisierung der Ausdrucks- und Handlungsformen im thematischen Fokus unterscheiden sich Szenen von Milieus (vgl. Schulze 1992) aber auch durch die Außenperspektiven öffentlicher Wahrnehmung eines Szene-Publikums von umfassenderen Sozialgebilden von Vergesellschaftung und Lebensstil (vgl. dazu Hörning/Michaelow 1990). Für die soziolinguistische Jugendsprachforschung hat sich das Gegenstandsfeld kultureller Szenen als äußerst fruchtbar erwiesen, wie die verschiedenen Studien zum Sprachgebrauch in z. B. Musik-, Sport- und Modeszenen zeigen. Dabei geht es nicht nur um Studien zu oftmals fachspezifischen Wortschätzen, sondern etwa auch um Anredeformen und spezifische kommunikative Handlungsmuster. Man kann diesen Zusammenhang in Form eines Zwiebelmodells‘ veranschaulichen, in dem Gruppen Netzwerke in Szenen bilden (z. B. die ‚Punker-Szene am Ratinger Tor in Düsseldorf‘), diese wiederum bilden Netzwerke in Milieus und Subkulturen (vgl. Clarke 1979). Insofern sind auch Szenen keine Zufallsprodukte willkürlicher Selbstverordnung, sondern weisen zumindest teilweise auch sozial vororganisierte Erfahrungen auf. Die folgende Abbildung nach Hitzler u. a. soll in dieser Hinsicht wie folgt erweitert werden: Subkulturen Milieus Szenen Gruppe
Personen
Interaktion
Abb. 1: Gruppen in Szenen, Milieus und Subkulturen (nach Hitzler/Bucher/Niederbacher 2001, 25)
1.4 Posttraditionale Gemeinschaften Auch in soziologischer Sicht stellt sich die Frage nach dem speziellen Anteil des kommunikativen Handelns in solchen Formen postmoderner Vergemeinschaftungen.
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Knoblauch (2008) entwickelt die These, dass traditionale Gemeinschaften zumeist eine Form der Unmittelbarkeit bzw. Kopräsenz und mithin eine Unmittelbarkeit der kommunikativen Begegnung von Angesicht zu Angesicht implizieren, gemeinsames Wissen voraussetzen und daher als Wissensgemeinschaften bezeichnet werden können. Demgegenüber haben sich mit der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft und dem vermehrten Bedarf an und den entwickelten Möglichkeiten von mittelbarer Kommunikation posttraditionale Gemeinschaften entwickelt, die durch Kommunikation im Wesentlichen erst konstituiert werden. Beispiele für solche Kommunikationsgemeinschaften, die durch gemeinsame Nutzung kommunikativer Muster und Verfahrensweisen konstituiert werden, bilden gerade die interaktiven Medien (z. B. Blogs, Pins, Gästebücher): Als Kommunikationsgemeinschaften teilen sie nicht nur gemeinsame Codes und Formen, sondern auch die Vorstellung einer Gemeinschaft, der man angehört; damit verbunden, im Rahmen der entkontextualisierten Kommunikation noch wichtiger, ist die kommunikative Markierung einer Identität, die der Gemeinschaft entspricht. (Knoblauch 2008, 85)
Die ‚Mitgliedschaft‘ in solchen Gemeinschaften wird durch kommunikative Partizipation performativ praktiziert. Solche posttraditionalen Gemeinschaften sind durch: Anonymisierung, Entkontextualisierung und Medialisierung charakterisiert. Posttraditionale Gemeinschaften sind daher in besonderer Weitere Beispiele solcher Gemeinschaften stellen aber auch Fan- und Event-Gruppen dar, Party-Szenen sowie die ad hoc-Gemeinschaften beim „public viewing“; die Zugehörigkeit wird stets durch die kommunikative Partizipation angezeigt. Eine solche Erweiterung der traditionellen soziologischen Kategorie der sozialen Gruppe trägt nicht nur in besonderer Weise dem kulturellen Wandel der Gesellschaft Rechnung; sie eröffnet zugleich Möglichkeiten einer Neubestimmung der soziolinguistischen Kategorie der Gruppensprache. Die Berücksichtigung des Rahmenkonzepts posttraditionaler Gemeinschaften bietet zusätzlich zu Peergruppen und Szenen fruchtbare Anknüpfungspunkte für die Sprachforschung (vgl. den Beitrag von Runkehl i. d. Bd.), und zwar nicht nur im Bereich soziolinguistischer Sprachgebrauchsuntersuchungen, sondern etwa auch für Aspekte des Bedeutungswandels: In der ‚Generation Facebook‘ stellt sich die Frage: Welche Stufen des Bedeutungswandels haben die Ausdrücke: Freund und soziale Gruppe bis heute vollzogen?
1.5 Interaktionsnetzwerke Betrachten wir zum Schluss noch eine weitere Perspektive, die schon den früheren Gruppenkonzepten inhärent war, aber immer nur aspektuell verfolgt wurde. In interaktionaler Perspektive können soziale Gruppen als Interaktionsnetzwerke begriffen
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werden, was in der Soziolinguistik ein zentraler und fruchtbarer Ansatz war und ist. Wenn auch in den Arbeiten von Georg Simmel und in Folge von Leopold von Wiese Fundamente für die ,Geometrie sozialer Beziehungen‘ gelegt waren, sind für die moderne Netzwerkforschung die von Moreno (1934) entwickelte Soziometrie sowie sozialanthropologisch fundierte Arbeiten der 40er und 50 Jahre ausschlaggebend. Moreno entwickelte die Soziometrie, um die Beziehungsstrukturen zwischen Menschen zu untersuchen. Die Matrix der Repräsentation dieser Beziehungen nannte er ,sociomatrix‘, die graphische Abbildungen dieser Matrix ,sociogram‘. Moreno schuf die Grundlagen der soziometrischen Gruppenanalyse, die in Folge mathematisch ausgearbeitet wurde und in der Netzwerkforschung seine Anwendung fand. Die Arbeiten im Labov-Paradigma sind u. a. in dieser Perspektive einzuordnen. In seiner klassischen Fallstudie über einen norwegischen Kirchensprengel gibt Barnes (1954) eine operationable Definition, die für weitere Untersuchungen relevant war und ist: Each person is, as it were, in touch with a number of people, some of whom are directly in touch with each other and some of whom are not … I find it convenient to talk of a social field of this kind as a network. The image I have is of a set of points some of which are joined by lines. The points of the image are people, or sometimes groups, and the lines indicate which people interact with each other. (Barnes 1954, 43)
An diese Definition orientiert sich Bott (1955) in ihrer explorativen Studie zur Struktur der Familiennetzwerke und dem Ausmaß der Segregation der Geschlechterrollenbeziehungen. In dieser Untersuchung, an die Milroy (1980) direkt anküpft, wird das Netzwerkkonzept weiter ausgearbeitet, indem der Konnexionsgrad eines Netzwerkes als relevanter Faktor eingeführt wird: I use the term dispersed network to describe a network in which there are few relationships amongst the component units, and the term higly connected network to describe a network in which there are many such relationships. (Bott 1955, 349)
Die Grundidee, Gruppen- und Interaktionsstrukturen als formale Netzwerkstrukturen zu analysieren, spielt in der Soziolinguistik eine ebenso wichtige Rolle wie in Kommunikationsanalysen, insbesondere im Hinblick auf digitale Kommunikationsstrukturen.
2 Gruppensprachen als linguistisches Forschungsfeld Wechseln wir nun die Perspektive zur Tradition der linguistischen Forschung mit dem Ausgangspunkt der Gruppensprachen. Ein kurzer Blick in die Geschichte der sprach-
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wissenschaftlichen Beschäftigung mit Gruppensprachen weist zwei wichtige theoretische und empirische Schwerpunkte auf, und zwar Gruppensprache als Sondersprache sowie Gruppensprache als Soziolekt.
2.1 Gruppensprache als Sondersprache Dem sondersprachlichen Wortschatz wurde schon früh in der Geschichte der deutschen Sprache und in der Geschichte der deutschen Sprachwissenschaft ein besonderer Stellenwert zuteil. So hob Jakob Grimm 1854 in der Vorrede zum deutschen Wörterbuch die Bedeutung der Standes- und Berufssprachen hervor (zit. n. Schirmer 1981 [1913], 1). Eine systematische Erforschung der deutschen Sondersprachen hatte sich erst die Sondersprachforschung mit ihren Vertretern Friedrich Kluge (1907), Hermann. Hirt (1909) u. a. zum Ziel gesetzt. Dabei ist allerdings auffällig, dass der (berufs)ständische Aspekt neben den sozialen Variablen des Geschlechts und der Altersklassen überwiegt, der Bezeichnung: Gruppensprache jedoch keine klassifikatorische Funktion zugeschrieben wird. Auch reduzieren sich die verschiedenen aufgezählten Sondersprachen in der Regel auf den Wortschatz. Als typische sondersprachliche Erscheinungsweisen wurden die Studenten- und Pennälersprache, Soldatensprache, das Rotwelsch sowie Berufs- und Fachsprachen, z. B. einzelner Handwerke wie der Buchdrucker, Bergleute, Kaufleute, Seeleute, Jäger sowie die Sprache von Spiel und Sport (so schon bei Schirmer 1981, 18) vor allem im Hinblick auf ihre besonderen Wortschätze untersucht, und zwar im Hinblick auf die Herkunftsbereiche, Bildungsformen und den Übergang in Stilschichten der Gemeinund Literatursprache. Prägend für diese Forschungsrichtung war insbesondere Friedrich Kluge mit vielen Einzeldarstellungen (u. a. zum Rotwelschen, zur Seemannssprache und Studentensprache) sowie mit der Begründung des etymologischen Wörterbuchs der deutschen Sprache (1983) und der Zeitschrift für deutsche Wortforschung (seit 1901). Dabei hebt Kluge (1895, 1) stets die Bereicherung der Gemeinsprache durch die Sondersprachen hervor. Zwar zeigt die Analyse der historischen Dokumente und vor allem Wörterbücher zur frühen deutschen Studentensprache, dass diese keineswegs so homogen war, wie die sondersprachliche Erforschung sie darstellte. Vielmehr lässt sich eine Heterogenität soziokultureller Sprach- und Lebensstile in landschaftlicher, aber auch in subkultureller Hinsicht erkennen (Neuland 2008).
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2.2 Übergänge Erst lange nach dem zweiten Weltkrieg wurde das Gegenstandsfeld der Gruppensprachen von der deutschen Sprachwissenschaft wieder aufgegriffen, und zwar im Zusammenhang der großen Paradigmenwechsel von der inhaltsbezogenen Sprachbetrachtung zur modernen Sprachwissenschaft. Steger (1964) forderte den Einbezug der sozialen Situation und gliederte im Sprachgebrauch von Gruppen junger Akademiker vier Kernbereiche gruppensprachlichen, von der Standardsprache unterschiedlichen Wortschatzes aus: Seminarbetrieb, gemeinsame Mahlzeit und Geselligkeit sowie Gewohnheiten in der Gruppe. Bausinger wandte sich hingegen von volkskundlich-kulturwissenschaftlicher Seite aus den Gruppensprachen (damals auch: „Sozialdialekte“) zu, wobei sein Forschungsinteresse insbesondere dem funktionalen Aspekt der „Gruppierungsfunktion“ von „Sprache als Gruppenabzeichen“ (so 1972, 118 ff.) galt. Insbesondere hebt Bausinger die Funktionen der Stärkung des Gruppenzusammenhalts einerseits und die externe Abgrenzung und Geheimhaltung andererseits hervor. Dies führt ihn zu folgender funktionalen Differenzierung von Sondersprachen in Geheimsprachen mit besonderer Abschließungsfunktion, sachorientierte Fachsprachen und gruppenorientierte Kontrasprachen.
2.3 Gruppensprache als Soziolekt Mit der Entwicklung der Soziolinguistik und der Varietätenlinguistik nahmen die Versuche zu, die Gruppensprachen als Soziolekte in das varietätenlinguistische Klassifikationssystem einzuordnen. So ordnete Nabrings (1981) Gruppensprachen neben Sonder-, Berufs-, Geschlechts- und Alterssprachen der diastratischen Dimension sprachlicher Variation zu, die neben der diachronen, diatopischen und diasituativen Dimension das weiteste Feld der sprachlichen Differenzierung darstellt. Der Soziolekt war in der frühen Soziolinguistik in Deutschland relativ stark mit der Bernsteinschen Code-Theorie verbunden und wurde praktisch mit den schichtspezifischen Sprechweisen gleichgesetzt. Nach Steinig (1976, 14) repräsentiert ein Soziolekt „das Sprachverhalten einer gesellschaftlich abgrenzbaren Gruppe von Individuen“. Löffler widmet in seiner germanistischen Soziolinguistik (5/2016) ein umfangreicheres Kapitel den Soziolekten als soziolektale (gruppale) Varietäten: „Gruppenspezifische Varietäten im weitesten Sinne werden Soziolekte genannt“ (Löffler 2016, 112). Seinem Einteilungsmodell zufolge werden drei große Gruppen von Soziolekten unterschieden, darunter „eigentliche Soziolekte“ (Sondersprachen und nicht berufsbedingte Gruppensprachen, die transitorisch, temporär oder habituell sein können:
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Soziolekte
A
B
Sprachl. (soziolektale) Merkmale symptomatisch für:
Prestige (angesehen) Oberschicht (Ober)region Gebildet Angestellter Hochsprache Einheimisch
Sprachl. Merkmalbündel konstitutiv für eine (berufsbedingte) Gruppensprache
Stigma (verachtet) Unterschicht (Unter)region Ungebildet Arbeiter Dialekt Fremd/auswärtig
Berufs-, Fach-, Wissensch.-, Schichten-, Standessprache/Jargon
C „Eigentliche Soziolekte“ (Sondersprachen/nichtberufsbedingte Gruppensprachen) temporär
transitorisch
Lebensalter
Schüler-, Jugend-, Seniorensprache
Gefängnis-, Militär-, Soldatensprache Pidgin-Deutsch
Sport-, Hobby-, Freizeit-, Nachtlebensprache
habituell
Frauen-, Männersprache
Gaunersprache
Fahrenden, „Jenisch“
Jiddisch
Fremdsprache
Abb. 2: Soziolekte (nach Löffler 5/2016, 115)
Dabei zeigt sich, wie sehr der Gegenstandsbereich zwischenzeitlich ausgedehnt wurde und ein fast unüberschaubares Feld unterschiedlicher Differenzierungen ergibt. Auch weitere Einführungs- und Übersichtswerke zur Soziolinguistik führen an dieser Stelle nicht weiter; sie beschränken sich z. T. auf Einzelfälle (z. B. Veith 2005 kurz zu Peergruppen Jugendlicher, 63 f.) und heben die Problematik der Überlappung verschiedener Varietäten hervor (z. B. Dittmar 1997, 189 ff.). Trotz aller Betonung von Interdependenzen und Mehrfachzugehörigkeiten bleiben aber Modelle mit statischen, festgeschriebenen Einheiten von Varietäten oder ‚Teilsprachen‘ unzureichend, da sie die Dynamik sozialen wie sprachlichen Wandels unbeachtet lassen. Als wichtige Erkenntnis der frühen Sozio- und Varietätenlinguistik aber bleibt die Bedeutung der sozial-symbolischen Bewertungsdimension als ein Unterscheidungskriterium zwischen Soziolekten und der Standardsprache festzuhalten: Soziolektale Merkmale unterliegen zumeist negativen subjektiven Bewertungen. Allerdings gibt es dazu auch widersprüchliche Befunde zum ‚verdeckten‘ Prestige von Non-Standard-Varietäten.
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Das Manko an expliziter theoretischer und methodologischer Reflexion des Gruppenbegriffs in der Linguistik ist bemerkenswert (vgl. die Beiträge in Kap. II. dieses Bandes) und er ist umso bedeutsamer, als das Gegenstandsfeld des Sprachgebrauchs in sozialen Gruppen durch viele Einzelstudien immer wieder neu belebt wird. Dabei überwiegen Studien zu aktuellen Kleingruppen in Familie, Schule, Freundeskreisen, Mediennutzung (vgl. dazu die Einzelanalysen in den Kap. III. und IV. i. d. Bd.). Der Großteil der empirischen Gesprächsforschung, Soziolinguistik und Interaktionslinguistik hat interpersonelle und häufig intragruppale Kommunikation zur Grundlage, ebenso wie empirische Forschungen zum Sprachkontakt und Codeswitching (dazu auch die Beiträge von Androutsopoulos und Petkova i. d. Bd.).
3 Soziale Netzwerke und sprachliche Variation In seiner berühmten Untersuchung zum Black English Vernacular in jugendlichen Kleingruppen knüpft Labov (1972, 256) explizit an Netzwerkanalysen an, indem er einen ethnographischen Ansatz wählt. Labov geht es um die Frage, welche Jugendlichen im New Yorker Ghetto der Schwarzen, in Harlem, konsistente Sprecher des Black English Vernacular (BEV) sind und welche Beziehungsstrukturen zwischen Jugendlichen dabei eine Rolle spielen. Labov untersuchte hierfür das Sprachverhalten verschiedener Peergroups und deren Interaktionsnetze, die er soziometrisch erfasste und in Soziogrammen darstellte. Lesley 10
S Larry Billy 9
10 Del
10 Curtis
Gary 10
David 11 Money 11
S Rickey 10
Boot 12
Robbie 11 Roger 13
Junior 13 S Alvin 13
S Larry 12
Calvin 12
Abb. 3: Hang-out pattern of the Tunderbirds (Labov 1972, 262)
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Die soziometrische Analyse ergab, dass einzelne Jugendliche unterschiedlich stark in die jeweilige Peergroup eingebunden sind, wobei neben Kern- und eher peripheren Mitgliedern die sog. „Lames“ (Außenseiter) für die soziolinguistische Analyse, in der phonologische und morphologische Merkmale mit den Interaktionsrollen der Gruppenmitglieder in Zusammenhang gebracht wurden, eine besondere Rolle spielen. Während die Kernmitglieder am stärksten den Vernacular gebrauchen – so die generelle Tendenz –, orientieren sich die Außenseiter eher am Standardenglisch (SE) der Weißen: Categorical or semicategorical rules of BEV are weakened to variabale rules by the Lames: rules that are strong use in BEV are reduced to a low level by the Lames. Whenever there is a contrast between SE and BEV, the language of the Lames is shifted dramatically towards SE. In many cases, this leads to a close alignment between the Lames and white nonstandard vernaculars. (Labov 1972, 271)
Die unterschiedliche Orientierung erklärt sich damit, dass die Insider einer Gruppe über gemeinsam geteilte solidarische Werte verfügen, während sich die Lames von der lokalen Subkultur entfernen: „They are more open to the influence of the standard culture, and they can take advantage of the path of upward mobility through education“ (ibid., 285). Labov konnte in seiner Analyse zeigen, dass in jugendlichen Subkulturen mit dem Grad der Integration in die Peergroup hinsichtlich des lokalen Vernaculars Sprachstabilität und -loyalität wächst, umgekehrt mit der Dissoziation aus der Gruppe eine Orientierung zum Mainstream und zur Standardvarietät verbunden ist. Eine der wichtigsten Untersuchungen zur Sprachvariation in sozialen Netzwerken ist die von Milroy (1980), die im Paradigma der korrelativen Soziolinguistik und Stadtsprachenforschung steht. In ihrer Belfast-Studie überprüft Milroy die Grundhypothese, inwieweit Sprachloyalität, d. h. die Affinität von Sprechern zu Sprachnormen des Vernaculars, positiv mit dem Grad der Integration in soziale Netzwerke korreliert. Auf der linguistischen Ebenen wählt Milroy eine Anzahl phonologischer Variablen und korreliert diese mit der Dichte und Multiplexität von sozialen Netzwerken. Mit Rekurs auf frühere soziologische Arbeiten wird die Dichte eines Netzwerkes über die Anzahl von Interaktionspartner einer ausgewählten Person X definiert, Multiplexität über die verschiedenen Beziehungen zwischen X und seinen Interaktionspartner (Milroy 1980, 49–50). Eine Beziehung, die durch eine einzige Kapazität strukturiert ist, ist als uniplex definiert, eine Beziehung, die aus mehr als einer Kapazität strukturiert ist, als multiplex. Teilbereiche eines Netzwerkes, die durch eine hohe Dichte gekennzeichnet sind, bilden sog. ,cluster‘. In Abhängigkeit von der Dichte bestehen geschlossene und offene Netzwerke. Zur Messung von Dichte und Multiplexität konstruiert Milroy (ibid., 141–42) eine Netzwerkskala. In ihrer empirischen Studie untersucht Milroy drei Gemeinschaften (communities) in Belfast: Ballymacarett im Osten von Belfast, Clonard und Hammer im Westen. Alle drei Communities sind traditionelle Arbeiterbezirke, in denen eine hohe Solidari-
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tät herrscht, eine ausgeprägte ,street corner society‘ ausgebildet ist und die Nachbarschaftsgrenzen als Kommunikationsschwellen fungieren. Nach dem ,principle of anchorage‘ erstellt Milroy ein Sample von 46 Personen, geschichtet nach den drei Communities. Die Sprechdaten werden durch ein soziolinguistisches Interview gewonnen. Hieraus werden neun phonologische Variablen im Hinblick auf Alter, Geschlecht, Bezirk, Stil und soziales Netzwerk mit Hilfe von Varianz- und Korrelationsanalysen untersucht. Korrelationstests zeigen u. a. einen signifikanten Zusammenhang zwischen einer hohen Punktzahl auf der Netzwerkskala und einer hohen relativen Häufigkeit des Gebrauchs der gerundeten Variante eines halboffenen Hintervokals von den Älteren. Milroy erklärt diese zwei Phänomene damit, dass die ursprünglichen Migranten nach Belfast die stereotype, gerundete Variante aus dem ländlichen Hinterland mit nach Belfast brachten, und diese Variante zunächst als ,marker of network loyalty‘ funktionierte, solange die sozialen Netzwerke der Migranten stabil waren. Als jedoch die Migrantennetzwerke aufbrachen und sich langsam neue städtische Netzwerke ausbildeten, verlor die gerundete Variante ihre Funktion. Aus diesem und anderen Beispielen zieht Milroy folgenden Schluss: An important corollary to the capacity of close-knit networks to maintain linguistic stability is then that a looser network structure is more likely to produce the social mechanism whereby change can take place. (Milroy 1980, 191).
Sprachwandel wird also verbunden mit der Änderung des Wertesystems und dem Aufbrechen sozialer Netzwerke (vgl. dazu die Beiträge von Elspaß, Keim, Wiese, Christen i. d. Bd.). Die Studien im Milroy-Paradigma zeigen, dass mithilfe des Konzepts des sozialen Netzwerks, subtile Variations- und Sprachwandelmechanismen erfasst und beschrieben werden können, der relationalfundierte Interaktionsansatz steht hierbei in Konkurrenz zum stratifikationalen Ansatz von Merkmalsanalysen.
4 Gruppen und soziale Netzwerke in der digitalen Kommunikation In den digitalen Kommunikationsnetzen haben sich in jüngster Zeit Perspektiven eröffnet, soziale Gruppen und Netzwerke hinsichtlich kommunikative und linguistischer Strukturen empirisch und methodisch in neuer Qualität zu analysieren. Für netzbasierte, digital-virtuelle Gruppen ist unter den Aspekt einer gewissen Gruppenstabilität grundlegend, dass die Mitglieder einer Gruppe „über längere Zeit in einem relativ kontinuierlichen Kommunikations- und Interaktionsprozess stehen und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit (Wir-Gefühl) entwickeln“ (Schäfers 1999, 20). Demgegenüber stehen ,flüchtige‘ Gruppen, die sich flashmobartig bilden. So gibt es in der
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Chatkommunikation freie, unverbindliche Kommunikationskonstellationen, flüchtige, themenbezogene Ad-hoc-Gruppenbildungen bis hin zu festen, über rekurrente Interaktionen und über das Wir-Gefühl konstituierte soziale Gruppenbildungen (vgl. Lehnhardt 2002). In Kontrast zu Real-Life-Interaktions- und Kommunikationskontakten beruhen Kommunikationsformen in virtuellen Gruppen auf computervermittelten Netzwerkstrukturen. Klassisches Beispiel sind Newsgroups, neuere Entwicklungen stellen Social Networks wie Facebook, Tumblr oder Twitter mit ihren zahlreichen Gruppenbildungen dar. Twitter ist ein typisches kontobasiertes Social Network, in dem Mitteilungen von Nutzern veröffentlicht werden, die auf 140 Zeichen beschränkt sind (im Einzelnen Siever/Schlobinski 2013). Eine wichtige Funktion ist das Verschlagworten von Inhalten, für das so genannte ,Hashtag‘ (#) eingesetzt werden. Hierdurch werden themenbezogen und somit merkmalsbasiert Gruppenprozesse in Gang gesetzt, die extrem flüchtig sein oder aber zu einer relativen Stabilität führen können. Und Twitter ist hoch interaktiv. Durch die Echtzeitverarbeitung ist es möglich, relativ schnell auf Tweets zu reagieren (quasisynchron), was dialogartige Turns ermöglicht. Ein beliebtes Verfahren ist die ,Weiterleitung‘ von Tweets, die dann ,Retweets‘ (RT) genannt werden. Twitter weist ein Abonnement-Modell auf. Tweets von Nutzern können abonniert werden, womit man einem Account ,folgen‘ kann (Follower-Funktion), umgekehrt wird auf einer Profilseite auch angezeigt, wie viele Abonnenten dem Accountinhaber folgen. Accountinhaber können Einzelpersonen oder eine Personengruppe sein. Die Analyse von Kommunikations- und sprachlichen Strukturen in Social Networks bietet völlig neue Perspektiven, da erstmalig über große Datenmengen Interaktionsstrukturen und Gruppenprozesse in einer Feinheit analysiert werden können, wie es bisher nicht möglich war. Dies hat weitreichende Konsequenzen für Analysen zur sprachlichen Variation und zum Sprachwandel; entsprechende linguistische Studien stehen bis dato aus. In ihrer (soziologischen) Studie zur Entstehung und Evolution spezifischer Konventionen in sozialen Onlinenetzwerken am Beispiel Twitter untersuchen Kooti et al. (2012), wie Retweet-Varianten entstehen und sich durchsetzen. Da Retweets durch @ markiert sind, geht es um den linken Kotext vom At-Zeichen (via @xxx, RT @xxxx, Retweet @xxx etc.). Datengrundlage bildet ein Korpus von 1,7 Milliarden öffentlichen Tweets aus den Profilen von 52 Millionen Nutzern im Zeitraum zwischen 2006 und 2007. Die Verfasser zeigen im Detail vom ersten Aufkommen einer Variante (via), wie diese und andere Varianten sich ausbreiten. So finden sie u. a. heraus, dass die früh gebrauchte und am 16.3.2007 entstandene Variante via sich wesentlich weniger stark durchsetzt als die Abkürzung RT für ‚Retweet‘, obwohl diese erstmalig am 25.1.2008 gebraucht wurde. Und sie weisen nach, „that the early adopters of the retweeting convention are active and innovative users, who explore more features provided by Twitter than the average user“ (Kothi et al. 2012, 198). Über eine Big-Data-Analyse können im Hinblick auf linguistische Parameter auf der einen Seite komplexe Netzstrukturen, auf der anderen Seite auf der Basis von Clusteranalysen
Sprachgebrauch in sozialen Gruppen
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Gruppenprozesse analysiert werden. Hierin liegt unserer Meinung nach ein zukunftsweisender Wendepunkt für die korpusbasierte, empirische Sprachwissenschaft.
5 Methodische und empirische Fragen und Probleme In der Soziolinguistik ist der Zusammenhang von sprachlichen Merkmalen und sozialen Gruppen im Hinblick auf die empirische Erfassung und der Auswertung sowie Analyse der Daten von grundlegender Bedeutung und Gegenstand von Reflexionen seit den 1970er Jahren des letzten Jahrhunderts. Auf der Ebene der Methodik stehen an einem Ende des Pols die Methode der teilnehmenden Beobachtung, am anderen Ende die Fragebogenerhebung und das Interview. Verbunden hiermit ist oft der Unterschied in eine qualitative und quantitative (kardinale) Daten verwendende Sprachwissenschaft sowie in eine eher statistisch analysierende versus interpretativ verfahrende Sprachwissenschaft (vgl. Schlobinski 1996 sowie die Beiträge von Schlobinski und Dittmar i. d. Bd.). Quantitative und qualitative Methoden in den Sprachund Sozialwissenschaften bezeichnen unterschiedliche Vorgehensweisen, Daten zu gewinnen, zu beschreiben und zu erklären. Quantitative Verfahren sind solche, bei denen das Operieren mit Zahlen eine zentrale Rolle spielt, qualitative sind solche, bei denen der Interpretationsprozess im Vordergrund steht und die sich auf der Folie hermeneutischer Verfahren entwickelt haben. Quantitative Verfahren sind letztlich statistische Verfahren, qualitative sind – zumindest in den Sprachwissenschaften – solche, bei denen Texte oder Diskurse nach einer bestimmten Methodik interpretativ analysiert werden. Die Differenzierung in ‚korrelative Soziolinguistik‘ und ‚interpretative Soziolinguistik‘ (Auwärter 1982) spiegelt den Kontrast wider. In Bezug auf die Analyse von Gruppen, speziell sozialen Gruppen, sind zwei Aspekte besonders hervorzuheben und zu beachten, die zudem zusammenhängen mit der Frage nach kleinen versus großen Datenmengen: 1. der Aspekt der Mikroversus Makrogruppe und 2. der Aspekt einer merkmalsbasierten versus netzwerkbasierten Herangehensweise. Eine typische soziale Mikrogruppe stellt die Gruppe der Thunderbirds in Labovs Untersuchung dar (s. o.): Die Gruppe hat weniger als 25 Mitglieder; die Interaktionsbeziehungen sind über ein einfaches soziometrisches Verfahren zu erfassen. Die Gruppe aller weiblichen Twitteruser im Alter von 14 bis 16 Jahren, die #Justin Bieber folgen, wäre eine soziale Makrogruppe mit mehreren Millionen Personen. Diese Gruppe ist dadurch gekennzeichnet, dass Personen bestimmte soziale Merkmale (Geschlecht, Alter) zugewiesen werden. Es findet also eine merkmalsbasierte Agglomeration statt und die statistische Gruppenanalyse ist ein grundsätzliches Verfahren, entsprechende hierarchische Cluster zu analysieren. Methodisch stellt sich die Frage und das Problem, wie die Daten aus dem World Wide Web gewonnen werden können, was hier nicht weiter vertieft werden kann. Wenn Netzstrukturen große Datenmen-
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gen zugrunde liegen, dann reichen klassische und einfache Netzwerkanalysen nicht mehr aus, sondern es müssen komplexe Verfahren der dynamischen Netzwerkanalyse angewandt werden (Daley/Vere-Jones 2003 und der Beitrag von Stegbauer i. d. Bd.). Solche Analyse sind bisher in der Linguistik nicht durchgeführt worden. In dem World Wide Web als Korpusarchiv und in der Datengewinnung mit Analysetools der Informatik sowie der Analyse der Daten mit modernen Netzwerkanalysen sehen wir eine große Perspektive für medien- und soziolinguistische Fragestellungen.
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I Grundlagen
Christian Stegbauer
1. Soziale Netzwerke und sprachliche Interaktion Abstract: Formale Netzwerkkonzepte besitzen einen höheren Allgemeinheitsgrad als Gruppenkonzepte, da sie auch für andere Strukturen offen sind. Allerdings messen Netzwerkanalysen Beziehungsstrukturen meist viel abstrakter als sich die Relationen in der sozialen Wirklichkeit darstellen. Die gemessenen Beziehungen beruhen auf Aushandlungen in Situationen. Es finden sich verschiedene Strukturmuster, mit denen bestimmte Konsequenzen hinsichtlich der Verbreitung von Inhalten verbunden sind. Bei diesen Mustern geht es um die Bedingungen der Möglichkeit für die Diffusion von neuen Sprachelementen. Ein Problem der Netzwerkforschung stellt allerdings die Netzwerkabgrenzung dar, die in dem Beitrag ebenfalls angesprochen wird. 1 Wurzeln im Strukturalismus 2 Soziale Beziehungen als Grundlage für Sprachentwicklung 3 Netzwerke statt klassischer Gruppenbegriff 4 Grundlagen von Netzwerken – Situationen 5 Netzwerkgrundstrukturen und die Diffusion von Sprache 6 Resümee 7 Literatur
1 Wurzeln im Strukturalismus Zwischen Netzwerkforschung und der Forschung zu sprachlicher Interaktion bestehen zahlreiche Verbindungen. So entstammt der Strukturalismus der Sprachwissenschaft und wurde vor allem durch die Ethnologie in die Sozialwissenschaft übertragen. Man kann sagen, dass sprachliche Ordnungen, die Sprache selbst und die Art und Weise, wie diese angewendet wird und wie sie sich entwickelt, in einem Zusammenhang mit der sozialen Ordnung stehen, die man als Struktur bezeichnet. Kühn könnte man einige der Ideen Ferdinand de Saussures (2001, zuerst 1916) mittels der Einführung von Analogien auf die Netzwerkforschung übertragen. So unterschied Saussure zwischen Langue, Langage und Parole. Langue lässt sich mit Sprache und Langage mit menschlicher Rede übersetzen (Saussure 2001, 17). Parole meint den Ausschnitt, der gerade gebraucht wird, während unter Langue die Gesamtheit der sprachlichen Regeln und Begriffe verstanden wird. Eine weitere Unterscheidung, die im Strukturalismus Saussures gemacht wird, ist die zwischen Synchronie und Diachronie. Diachronie beschreibt die sprachliche Entwicklung über die Zeit. Synchronie steht für das Regelwerk, das Sprache bestimmt. Synchronie blendet die DOI 10.1515/9783110296136-001
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Geschichte aus und beschäftigt sich mit der konkreten historischen Situation, die für Sprecher oder Schreiber von Bedeutung ist. Da Sprache etwas zutiefst Soziales und an zahlreiche Voraussetzungen gebunden ist, etwa an das Erlernen der Sprachstruktur, das gegenseitige Verstehen der Symbolik und Abstraktion, ist ihre Entstehung und Weitergabe von sozialen Beziehungen abhängig. Die Ordnung, welche in Sprache steckt, ist eigentlich eine soziale Ordnung eines Teilgebietes der Struktur, welche das Verhalten von Menschen untereinander überhaupt ausmacht. Die Bedeutung der Struktur, sei es Ordnung durch gemeinsame Sprache, durch allgemein anerkannte Institutionen oder durch Beziehungsmuster, wie sie in der Netzwerkforschung bedeutend sind, ist ein zu erklärendes Moment des Zusammenlebens und damit Thema der Soziologie insgesamt, sei es beispielweise in der Luhmannschen oder, näher an der Netzwerkforschung, in der Whiteschen Fassung. Zu diesen Ähnlichkeiten zwischen Strukturalismus und Netzwerkforschung kommt hinzu, dass der Strukturalismus eine wichtige Grundlage für die Entstehung der Netzwerkforschung und -analyse darstellt. Die Übertragung des Strukturalismus in die Sozialwissenschaft fand vor allem durch Lévi-Strauss statt, an den später der bedeutende Netzwerkforscher und -theoretiker Harrison White (1963) anschloss. Modernere Strömungen des neueren amerikanischen Strukturalismus haben versucht, die Einwände (etwa Geschichtslosigkeit) zu entkräften. Auch hierbei ist Harrison White (1992, 2008) ein bedeutender Spieler. Im Gefolge von Whites Überlegungen zu Netzwerken wurde neben dem Strukturaspekt auch die Frage nach der kulturellen Bedeutung von Beziehungsstrukturen gestellt. Dies umschließt neben der Struktur selbst auch die Inhalte, welche in den Strukturen aufscheinen, bzw. dort selbst entwickelt werden (beispielsweise: Breiger 2010; Fuhse/Mützel 2010; Fuhse/Stegbauer 2011; Mische 2011; Stegbauer 2012b).
2 Soziale Beziehungen als Grundlage für Sprachentwicklung Der Begriff des sozialen Netzwerks steht für Strukturen von sozialen Beziehungen (Radcliffe-Brown 1940). Nach Radcliffe-Brown handelt es sich bei der Betrachtung nicht allein darum, die Beziehung zwischen zwei Personen in Augenschein zu nehmen – jedenfalls nicht isoliert von deren Einbettung. Aber worauf beruhen soziale Beziehungen? Deren Grundlage sind meist Interaktionen1. Der Austausch ist also
1 Hier gibt es einige Ausnahmen – so können beispielsweise Konkurrenzbeziehungen ohne direkte Kommunikation auskommen, sie werden aber über die soziale Institution des Marktes vermittelt. Ähnliches ist für Kommunikationsverbote denkbar.
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auf Beziehungen angewiesen. Beziehungen lassen sich typisieren. Die traditionelle Netzwerkforschung untersucht meist die Strukturen der Beziehungen und stellt ihre Konsequenzen dar. Die moderneren Varianten interessieren sich auch für die Produktion von Kultur, für die beides gleichermaßen von Bedeutung ist und sich gegenseitig bedingt: die Struktur und deren Inhalte. Es ist also klar, dass entlang der Interaktionen innerhalb der Struktur auch kulturelle Tools, also beispielsweise Verhaltensweisen und Interpretationen von Symbolen weitergegeben werden. Hierzu gehören in bedeutender Weise auch Inhalte und Formen von Sprache. Es ist aber keineswegs so, dass die Struktur festliegt und die Inhalte dann entlang der Struktur ausgetauscht würden – die Struktur befördert bestimmte Inhalte, diese sind aber auch strukturbildend. In den letzten Jahren wurde der Zusammenhang zwischen Kultur und Netzwerkstruktur immer wichtiger in der Netzwerkforschung. Der Bedeutungswandel beruht vor allem auf dem Einfluss von Harrison White (1992), der sich anders als zu Beginn seiner Zeit als Netzwerkforscher mit den Grundlagen von Netzwerken und ihrer Bedeutung auseinandersetzte. Dies ist heute anders als während der Anfänge der Netzwerkforschung. Damals herrschte vor allem eine starke Formalisierung vor. Daher rechnete man diese Wissenschaftsrichtung auch dem Positivismus zu, denn man kam über die Analyse der Struktur kaum hinaus. Die Prozesse der Interpretation, der Entstehung und Übertragung von Kultur hatte man damals noch nicht auf dem Schirm (vergl. Mische 2011, 8). Dies änderte sich vor allem unter Whites Einfluss. Kultur in diesem Zusammenhang beschäftigt sich mit Informationen, Ideen, Einstellungen und Praktiken (Mische 2011, 85); etwas genauer formuliert mit Symbolen, Geschichten, Ritualen und Weltsichten (Swidler 1986, 273). Sprache ist ein integraler Bestandteil dieser Kultur – ja die Kultur (als Alltagskultur, die es möglich macht, miteinander zu interagieren) ist ohne Sprache nicht denkbar. Zudem liefern die Geschichten – also die Repräsentation und Interpretation von Ereignissen Relationierungen der Welt um die Personen herum. Hierdurch werden Beziehungen transparent. Strukturen und Inhalte über Verbindungen, Trennungen und Positionen werden sichtbar, was wiederum Möglichkeiten zum Anschluss oder zur Trennung eröffnet. In Sprache gepackte Geschichten sind somit unbedingter Bestandteil von sozialen Prozessen (Wiese 1933) und natürlich auch umgekehrt. Aus einer netzwerktheoretischen Sichtweise lässt sich diese Anschauung noch stark erweitern. So behauptet Harrison White gar, dass es erst die Geschichten sind, welche die Beziehungen definieren; sie weisen ihnen erst Bedeutung und eine Verankerung in der Zeit zu (White 1992, 67). Hierdurch entstehen nicht nur eine transportable Version der Beziehung und eine Verknüpfung mit Ereignissen und Prozessen (Schmitt 2009); die Stories strukturieren auch die Wahrnehmung der anderen Personen im sozialen Umkreis. Geschichten ermöglichen erst bei den Beteiligten die Entstehung des Wissens (bzw. von Vermutungen) zu generieren, welches in der Forschung unter dem Begriff der kognitiven sozialen Struktur (Krackhardt 1987; Stegbauer 2012b) behandelt wird. Auf diese Weise entwickelt sich bei den Menschen eine
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Idee davon, wie die Beziehungen zwischen den anderen beschaffen sind. Die Netzwerkwahrnehmung wird also mit den Geschichten sprachlich konstruiert. Weitergedacht kann man also die sprachlichen Eigenheiten und die mitgeteilten Inhalte in Geschichten als Merkmale von Beziehungsstrukturen in Netzwerken ansehen. Nicht nur das, sie gehören zu den Eigenschaften, die das Netzwerk erst konstituieren. Beispielsweise unterscheidet sich die Sprache je nach Position im Netzwerk – innerhalb von sozialen Gruppen finden wir eine gegenseitige Anpassung (alignment). Wird dagegen über Hierarchieebenen hinweg kommuniziert, so ändert sich wiederum die Sprache. Dies gilt auch, wenn beide Beispielsituationen sich in einer einzigen – sagen wir – Organisation ereignen und die Organisation selbst über bestimmte sprachliche Eigenheiten verfügt, die es nur dort gibt.
3 Netzwerke statt klassischer Gruppenbegriff Der Begriff des Netzwerkes ist allgemeiner als der der sozialen Gruppe. Dies ist deswegen der Fall, weil ein formaler Begriff des Netzwerkes auch für andere soziale Formationen als die soziale Gruppe offen ist. So ist eine soziale Gruppe nur eine aus vielen Möglichkeiten, wie die Struktur eines Netzwerkes beschrieben werden kann. Deutlich wird dies an der Definition des Begriffs für soziale Netzwerke: „A social network consists of a finite set or sets of actors and the relation or relations defined on them“ (Wasserman und Faust 1994, 20). Es bleibt also völlig offen, wie die Struktur tatsächlich beschaffen ist. Handelt es sich um soziale Gruppen? Ist das Verhältnis der Personen im Netzwerk durch Hierarchie geprägt? Wie lässt sich die Formation derjenigen beschreiben, welche miteinander in Kontakt stehen? Handelt es sich um Positionen mit typischem Rollenverhalten? Stehen die Akteure über starke oder schwache Verbindungen miteinander in Kontakt (oder wie ist das Verhältnis von starken zu schwachen Beziehungen)? Solche Fragen (hier als Beispiele erwähnt) beschäftigen die sozialwissenschaftliche Netzwerkforschung. Der Netzwerkbegriff ist also zunächst einmal neutral. Informationen, Wissen, die Diffusion neuer sprachlicher Elemente kann (abgesehen von der Weitergabe über Massenmedien – aber auch diese folgt einer Struktur) nur entlang von Kontakten erfolgen, die als Struktur beschreibbar sind. Für die Verbreitung von Sprache sind nicht unbedingt „soziale Gruppen“ verantwortlich. Eine Diffusion von Sprachelementen oder Sprachstruktur kann prinzipiell auch über schwache Kontakte erfolgen. So kann Kultur auch über schwache Verbindungen weitergegeben und wirksam werden (Schultz/Breiger 2010). Zudem vermittelt der Netzwerkbegriff auch eine Vorstellung davon, wie kleinere soziale Einheiten miteinander in Verbindung stehen.
Soziale Netzwerke und sprachliche Interaktion
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4 Grundlagen von Netzwerken – Situationen Strukturuntersuchungen von Netzwerken nehmen meist eine mittlere Ebene in den Fokus; wenn wir uns aber fragen, was eigentlich unter einer Beziehung zu verstehen ist, die in der Netzwerkforschung gemessen wird, wird klar, dass die Relationen meist auf Interaktionen beruhen. Dagegen versucht man meist, die Relationen mittels abstrakter Indikatoren zu messen, sogenannter Netzwerkgeneratoren. Diese gibt es in einer großen Vielzahl. So kann man nach Freundschaftsbeziehungen, Partnerschaften, Kollegenbeziehungen etc. fragen. Eine Freundschaft etwa beruht auf einer Kette gemeinsamer Aktivitäten. Solche Aktivitäten repräsentieren Situationen, in denen sich die beteiligten Personen in bestimmter Weise verhalten haben. Eine Situation ist ein Zusammentreffen von mindestens zwei Personen, bei dem diese in Interaktion miteinander treten. Situationen sind oft um gemeinsame Aktivitäten herum fokussiert (Homans 1951; Feld 1981). In Situationen finden Aushandlungen der Verhaltensweisen und der zu benutzenden Sprache statt, die dann oft (aber nicht zwingend) zu einer gegenseitigen Anpassung führen. Allerdings erfordern unterschiedliche soziale Situationen auch dementsprechende Verhaltensmuster und sprachliche Besonderheiten. Die Besonderheiten variieren zwischen Situationen mit unterschiedlichen Teilnehmern. Um die Unterschiede bewältigen zu können, verfügen die Akteure über Wissen, welches sich durch die Bewältigung von ähnlichen vorangegangenen Situationen angesammelt hat. Dieses Wissen wird in „Aushandlungen“ dann in die jeweilige Situation eingepasst. Das Wissen ist im sog. „cultural toolkit“ (Swidler 1986) gebündelt und kann flexibel abgerufen werden. Durch die Aushandlungen wird es jeweils modifiziert und spezialisiert. Es ergeben sich hierdurch situationstypische Wissensbestände, die in weiteren Bestandteilen von „Situationsketten“ (Collins 2005) wiederum eingebracht werden können. Die Ergebnisse dieses Prozesses sind (meist kognitiv gebündelt) als Ties (also als Typen und Bewertungen von Beziehungen) in Netzwerkuntersuchungen abrufbar (Stegbauer 2016). Zwar ist prinzipiell alles in dem Sinne aushandelbar, aber die Chancen welche Verhaltensweisen, welche Inhalte, welche Formen zur Anwendung kommen, sind unterschiedlich verteilt. Bestimmte Verhaltenskonventionen sind so tief verankert, dass sie erst durch Krisenexperimente (Garfinkel 1973) sichtbar gemacht werden können. Andere Verhaltensweisen oder Sprachbesonderheiten werden in Situationen mit den Beteiligten ausgehandelt und besitzen nur für den beschränkten Teilnehmerkreis Gültigkeit. Diese sind für die Netzwerkforschung von besonderem Interesse, weil sie für Eigenheiten stehen, die sich auch vergleichen lassen. Situationen stellen eine Grundlage für die Entwicklung von Beziehungsstrukturen dar. In der Netzwerkforschung werden bestimmte Strukturmuster typisiert, welche für die soziale Interaktion von Bedeutung sind. Zunächst einmal kann man nach den Bedingungen der Möglichkeit für Interaktion fragen (Giddens 1988 nennt dies Strukturation). Hierbei fragt man, wer überhaupt mit wem zusammenkommen
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kann, wer sich am gleichen Ort und zur gleichen Zeit befindet. Eine solche Voraussetzung trifft ebenfalls auf „virtuelle Orte“ zu. Durch die Aushandlungen und die wiederholten Kontakte in Situationsketten mit denselben Personen entwickeln sich eigenständige kulturelle Formen. Diese eigenständigen Formen umfassen insbesondere auch typische Bedeutungen und Symbole (Stegbauer 2016), welche über die Sprache weitergegeben werden. Es bilden sich sogenannte Idiokulturen heraus (Fine 1979). Gary Fine konnte am Beispiel von Juniorenbaseballteams aufzeigen, dass sich innerhalb der Teams ganz eigene Bedeutungsstrukturen mit einer spezifischen Sprache entwickelt hatten. Jedes Team hatte aufgrund von Erlebnissen und der Weitergabe von Geschichten für sich diese Entwicklung vollzogen. Strukturell gesprochen, bedeutet dies hier, dass sich Sprache entlang von Beziehungsverdichtungen entwickelt2. Wenn die Mitgliedschaft in einem Team bedeutet, dass die Teilnehmer in Ketten von Situationen öfters untereinander interagieren und viel seltener mit Spielern gegnerischer Mannschaften, dann kann man diesen Umstand als Beziehungsstruktur netzwerkanalytisch beschreiben. M. a. W. Sprachentwicklung und Beziehungsentwicklung gehören zusammen. Der beschriebene Prozess ist universell, er findet überall statt, wo Menschen zusammen kommen.
5 Netzwerkgrundstrukturen und die Diffusion von Sprache 5.1 Paare und Triaden Wenn man kleinste Strukturen betrachtet, dann kommen zunächst Paare, dann aber gleich auch der Dritte in den Fokus der Betrachtung; sei der Dritte nun eine weitere Person oder ein Objekt. Die Beziehung innerhalb des Paares, so die Idee der Überlegungen zu einer strukturellen Balance (Heider 1958), spielt für beider Teilnehmer Beziehung zu einem Dritten eine Rolle. Solchen Konstellationen wird häufig die Fähigkeit zu Transitivität zugerechnet. D. h. über eine spezifische Beziehungskonstellation werden weitere Beziehungen geschaffen. Beispielsweise steht Person A mit Person B und Person C in Verbindung. Wenn sich die Kontexte der Beziehungen von A zu B und A zu C sich nicht völlig unterscheiden, rechnet man damit, dass irgendwann eine Beziehung zwischen B und C entsteht. Entwickelt sich die Beziehung nicht, so handelt es sich um eine Konstellation, die Granovetter (1973, 1363) gar mit dem Begriff der „verbotenen Triade“ beschreibt (sofern die Relation von A zu B und C eine starke
2 … und auch hier gilt, dass sich Beziehungsstrukturen entlang von Sprachen entwickeln – nicht zuletzt, weil Sprache auch als eine Voraussetzung für Kontaktaufnahme angesehen werden kann.
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ist). Mehr noch, nicht nur erwartet man an dieser Stelle eine Beziehungsentwicklung: Über die Beziehungen von A zu B und A zu C werden auch Beziehungseigenschaften, die zu den bereits vorhandenen Bindungen gehören, weitergegeben (Davis 1977). Bei Davis geht es zunächst nur um das Vorzeichen, welches positive oder negative Beziehungen benennt. Allerdings dürfte es sich nicht auf das Vorzeichen beschränken lassen, denn Eigenschaften wie die Anrede, bestimmte Inhalte und Vorlieben (Stegbauer/Rausch 2014), aber auch sprachliche Elemente werden über solche Beziehungen ebenfalls weitergegeben. Durch die Weitergabe der „Vorzeichen“ in Triaden (Davis 1977; Davis 1963; Carwright/Harary 1956; Heider 1958), wie sie von der Balance-Theorie beschrieben wird, lassen sich soziale Gruppen trennen. Die Aufteilung erfolgt über negative Beziehungen. Dies kann man regelmäßig beispielsweise an Schulklassen beobachten. Zwischen denjenigen, die in einer negativen Beziehung zueinander stehen, ist die Kommunikation beschränkt, bzw. diese bricht ab. Wenn gemeinsame Sprachentwicklung auf den gegenseitigen Kontakt angewiesen ist, dann stellen negative Beziehungen eine Barriere dazu dar. Bei dieser Aufteilung von Netzwerken in kleinere Einheiten wie Beziehungen zwischen zwei oder drei Personen muss allerdings beachtet werden, dass weder Paare noch Triaden alleine in der Welt sind. Sie sind eingebettet in eine Vielfalt von weiteren Beziehungskonstellationen. Diese Strukturen wirken auf das Verhalten in den kleinsten Einheiten der Netzwerke zurück, was sich bereits an den (durch strukturelle Balance erzeugten) Aufteilungen größerer Gruppen zeigt. Ein weiterer Hinweis auf die Wirkung der Einbettung von kleinsten Einheiten in größere Beziehungsmuster wurde uns durch die Untersuchung von Elizabeth Bott (1957) gegeben, welche die Arbeitsteilung im Haushalt von der Struktur der Freundesbeziehungen bei Paaren abhängig sieht. Ein hoch verbundener gemeinsamer Freundeskreis erscheint dabei eher in der Lage die damals gültigen Normen für die häusliche Arbeitsteilung beim Paar zur Anwendung zu bringen, als Freundschaftsstruktur, die eher untereinander unverbundene Freunde aufweist. Botts Analyse hat zahlreiche Folgeuntersuchungen angestoßen. Viele der Folgestudien konnten ihre Hypothese in ihren eigenen Erhebungen so nicht nachvollziehen (Udry/Hall 1965; Hennig 2009); andere fanden wiederum Unterstützung dafür (Maryanski/Ishii-Kunz 1991). Was Botts Untersuchung für die Netzwerkforschung so interessant macht, ist die Strukturhypothese, nämlich aufzuzeigen, dass kleine Einheiten nicht für sich alleine stehen, sondern immer auch in der Struktur ihrer Netzwerkeinbettung betrachtet werden sollten. Man kann das Argument erweitern und behaupten, dass die Interaktion zwischen zwei oder drei Personen oder auch größeren Cliquen – eben nicht nur zwischen den dort Beteiligten abläuft, sondern immer eingebettet ist in weitergehende Beziehungen. Diese stehen für einen sozialen Austausch und eine soziale Kontrolle der Subbeziehungen innerhalb der Gruppen.
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5.2 Starke und schwache Verbindungen Während in kohäsiven Gruppen mit starken internen Beziehungen durch Strukturations- und Balanceeffekte meist Homophilie (Wert- und Statushomophilie – Lazarsfeld/Merton 1954, Überblick in McPherson et al. 2001) und Redundanz von Informationen und Verhaltensweisen vorzufinden ist, werden Neuigkeiten eher über schwache Verbindungen weitergegeben (Granovetter 1973; Burt 1992). Die Wirkung der Innovationen, die eher über schwache Verbindungen in Gruppen eindringen, dürfte ebenso für die Verbreitung von Sprachelementen gelten. Obwohl sich eine eigene Sprache in kohäsiven, relativ abgeschlossenen Gruppen entwickelt, kommen neue Sprachelemente, die über schwache Verbindungen weitergegeben werden, ebenfalls dort an. Das bedeutet, dass es nicht starker Beziehungen bedarf, um solche Gruppen vor einer sprachlichen Isolierung zu schützen; schwache Beziehungen reichen aus, um die Rückbindung an einen größeren Zusammenhang zu gewährleisten. Die Verbindung zwischen Homophilie und den Neuigkeiten, die von außen kommen, besagt noch etwas weiteres über die Struktureigenschaften aus: Homophilie bedeutet so viel wie Homogenität einer Gruppe hinsichtlich bestimmter Merkmale (seien dies zugeschriebene Merkmale, wie Altersgruppe, Herkunft oder Geschlecht und/oder „inhaltliche“ Gleichklänge, wie dieselben Haltungen oder Vorlieben). Das Hineintragen von Informationen von außen hingegen bedeutet, dass meist jemand hinzutritt, der die Homogenität irritiert, – man könnte diese strukturelle Tatsache auch mit dem Begriff Diversität beschreiben. Diese ist notwendig, damit Veränderungen angestoßen werden können.
5.3 Dichte in Netzwerken Das Maß der Dichte beschreibt, welcher Anteil der grundsätzlich möglichen Verbindungen in einem Netzwerk tatsächlich realisiert ist. Bei einer höheren Dichte in einem Netzwerk gibt es eine größere Chance, dass sich Neuerungen, etwa sprachliche Besonderheiten verbreiten, und es zu einer Redundanz in der Distribution solcher Informationen kommt. Allerdings ist zu beachten, dass mit dem Ansteigen der Anzahl der Teilnehmer die Dichte naturgemäß abnimmt. Die Zahl der möglichen Beziehungen bemisst sich nach der Zahl der Teilnehmer mal Teilnehmer minus eins, geteilt durch zwei (n*(n-1)/2). Das bedeutet, dass die Anzahl möglicher Beziehungen quadratisch mit dem Ansteigen der Teilnehmerzahl zunimmt. Da die menschlichen Möglichkeiten, Kontakte zu pflegen, begrenzt sind, muss die Dichte in größeren Netzwerken gering sein. Allerdings folgt die Diffusion von Neuerungen meist nicht einer gleichmäßigen Verbreitung in Netzwerken, sondern bestimmte Positionen haben eine höhere Bedeutung als andere bei der Weitergabe von Neuigkeiten.
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5.4 Redundanz und Innovation Sprache, etwa Begriffe werden also, wenn man den Überlegungen der Netzwerkforschung folgt, in kleinen Gruppen (kohäsiven Gruppen, die sich durch viele Interaktionen auszeichnen) in Aushandlungen entwickelt. Fragt man aber danach, wie Bedeutungen, Begriffe, Grammatik sich verbreiten, dann kann dies nur über ein Beziehungsgefälle geschehen. Der Austausch in dieser Hinsicht zwischen den Gruppen erfolgt also in erster Linie über schwache/schwächere Verbindungen. Eine Position ist dafür verantwortlich, die man in der Sprache der Netzwerkforschung mit dem Begriff „Broker“ belegt (Burt 1992). Broker stellen Verbindungen zwischen tendenziell voneinander abgeschotteten Subgruppen her. Sie verfügen somit über eine spezielle Position, die Lücken (strukturelle Löcher) überbrücken kann. Man kann also eine Art Arbeitsteilung in sozialen Gruppen unterstellen, die dichten Kontakte in der Gruppe sorgen für Redundanzen beim Sprachgebrauch und damit für eine Festigung einer gruppenspezifischen Sprachkultur. Gruppengrenzen schotten solche Kollektive gegenüber anderen tendenziell ab. Neuerungen in solchen sozialen Einheiten werden durch die Position der Broker eingeführt. Strukturell etwas anders verortet ist die Position des Hubs, welche trotz der Einschränkung der Zahl von menschlichen Kontaktmöglichkeiten immer wieder zu beobachten sind. Als Hub bezeichnet man eine Position, die über weit zahlreichere Kontakte verfügt, als der „normale“ Teilnehmer. Solche Hubs sind, da sie sehr viele Kontakte haben, die dann oft über die jeweils kleinen Kollektive hinausreichen, auch gleichzeitig Broker. Nachgewiesen ist dies etwa für die Zahl von Sexualkontakten (Liljeros et al. 2001). Es wird dieser Position aber auch viel Potential für die Verbreitung von Marketinginformationen, also für das virale Marketing zugetraut (Gladwell 2002). Meist handelt es sich bei solchen Verteilungen um sog. power law oder scale free Verteilungen. Das bedeutet, dass die Masse der Beteiligten über eine ähnliche, eher geringe Anzahl an Kontakten verfügt, es aber immer einige wenige gibt, die über immense Kontaktzahlen verfügen. Solche Personen sind zur Übertragung von Informationen geradezu prädestiniert. Im Falle von Viren, etwa bei, über Sexualkontakte übertragbaren, Krankheiten, allerdings möglicherweise auch für eine andere Art der Verbreitung durch Ansteckung. Das Beispiel zeigt, dass ganz unterschiedliche Genres (das Weitergeben von Viren, Informationen, Sprache) auf recht ähnlichen Beziehungsstrukturen basieren. Neuere Untersuchungen (Lerman et al. 2015) beschreiben gar, dass die Einflüsse von Personen, welche über viele Kontakte verfügen, deswegen besonders groß sind, weil sie gegenüber solchen Personen, die nur wenige Beziehungen haben, die Illusion erzeugen können, dass die Mehrheit eine bestimmte Meinung vertritt. Meinungsführer, die mit überdurchschnittlich vielen Personen in Verbindung stehen, könnten somit tatsächlich Meinungsänderungen bewirken – zumindest, wenn man zusammen mit der Literatur davon ausgeht, dass sich viele Menschen eher der Mehrheit anschließen.
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5.5 Bimodale Netzwerke und Kulturübertragung Die Konstruktion von bimodalen Netzwerken hat eine lange Tradition in der Netzwerkforschung. Eines der am häufigsten genannten und analysierten Beispiele stammt aus einer Gemeindeuntersuchung in Natchez am Mississippi. Die Untersuchung dort wurde von Davis et al. (2009; zuerst 1941) durchgeführt und ist als eines der Beispiele, die Homans (1951) in seiner „Theorie der sozialen Gruppe“ behandelt, bekannt geworden. Das bimodale Netzwerk dort wird durch eine Tabelle repräsentiert, in der in den Zeilen Frauen der Gesellschaft der Kleinstadt genannt (insgesamt 18) sind (Modus 1); in den Spalten sind Events aufgeführt, die der Lokalzeitung entnommen waren (Modus 2). In der Tabelle nun findet sich eine Markierung für jede der 14 aufgeführten Veranstaltungen, an der eine Frau teilgenommen hat. In den allermeisten Fällen wird die bimodale Analyse genutzt, um Gruppen zu identifizieren (Freeman 2003). Die bimodale Analyse dient also dazu, per Projektion die Teilnehmerinnen in Gruppen zu ordnen, die mehrmals an Events beteiligt waren und daraus zu schließen, zu welchen Cliquen diese gehören. Die Analyse berücksichtigt aber nur selten, dass über gemeinsame Teilnehmerinnen auch die Events in Beziehung miteinander stehen. Die Verbindung ist nicht so ganz einfach, da Events vergänglich sind. Wenn wir jedoch annehmen, dass sich Sprache u. a. als Idiokultur durch Interaktion in kleinen Gruppen entwickelt, dann sind die Events und deren Zusammenhang als noch wichtiger anzusehen als eher abstrakte Cliquenformationen. Diese geben den Rahmen ab, in dem die Bedeutungen entwickelt werden, die dann in Folgeevents wiederum zum Tragen kommen. Die Bedeutungen sind nicht nur – aber auch in Sprache auszudrücken. Die als Sprache gemeinsam entwickelten Symbole mögen vielleicht sogar an die Gelegenheiten gebunden sein, in denen sie entstanden sind und sich nur in diesem Bereich bewähren. Insofern kommt der Übertragung von Event zu Event zu Event eine besondere Bedeutung zu (vergleiche Stegbauer 2012b; 2016). Die Reichweite der Events mit den teilnehmenden Personen wäre dann auch die Grenze der Verbreitung von idiokulturellen sprachlichen Eigenheiten.
5.6 Grenzen von Netzwerken Mit dem Begriff der Reichweite ist auch die Frage der Grenzen von Netzwerken aufgeworfen. Wo hören Netzwerke eigentlich auf? Wie weit reichen die Beziehungen, die sich auf Sprache auswirken?
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Die Beziehungen sind grundsätzlich nicht begrenzbar auf einen Raum, eine Zeit, ein Kontinent,3 so jedenfalls Harrison White „networks do not have boundaries“ (1995, 1039). Demgegenüber stehen die hauptsächlich zu beobachtenden Vorgehensweisen der Netzwerkforschung. Zum einen finden wir die sog. egozentrierte Netzwerkforschung, bei der einzelne Personen, häufig in einer quantitativen Befragung, Auskunft über ihre Beziehungen geben. Die Erinnerung an Bezugspersonen wird mittels sog. Netzwerk- oder Beziehungsgeneratoren stimuliert. Der bekannteste Generator ist der sog. Burt-Generator (Burt 1984), bei dem lediglich danach gefragt wird, mit wem man im letzten halben Jahr über wichtige Dinge gesprochen hat. Die Auskunftsperson kann nun nach Kontakten zwischen den von ihr angegebenen Beziehungen gefragt werden (soweit diese der Person bekannt sind). Hier sind die Netzwerke nicht begrenzbar, weil die Befragten Bezugspersonen aus ganz unterschiedlichen Kontexten benennen können. Eine Übertragung zwischen Kontexten wäre also durch solche Personen möglich, die ihre Bezüge nicht nur in einem Kontext besitzen. Ganz anders dagegen ist die Vorgehensweise, nach der man sich am häufigsten ausrichtet – man untersucht ein geschlossenes Netzwerk, welches man auch als „network in a box“ bezeichnen könnte. Man sucht hierfür eine äußere Begrenzung, die oft institutionell vorgegeben ist. Emblematisch dafür sind Netzwerkuntersuchungen an Schulklassen. Hier befinden sich Schüler in einem Raum. Zwischen diesen Schülern lassen sich die Beziehungen mittels (Netzwerkgeneratoren wiederum) bestimmen. Da alle Schüler befragt werden, kann man die so ermittelten Egonetzwerke zu einem Gesamtnetzwerk zusammensetzen. In einer solchen Klassensituation könnte man nun feststellen, welche kohäsiven Subgruppen zu unterscheiden sind (meist Jungen- und Mädchengruppe). Man kann ein gutes Argument anführen, sich genau solchen „networks in a box“ zu widmen: Die gemeinsame Anwesenheit zu einem Zeitpunkt an einem Ort erlaubt es nicht, sich der sozialen Dynamik zu entziehen. D. h. die Beziehungsstruktur ist das Ergebnis von sozialen Prozessen – ebenso, wie möglicherweise zwischen den Subgruppen vorfindbare Sprachunterschiede. Das Vorgehen ist aber gleichzeitig problematisch, denn die Beziehungen der Schüler (und Lehrer) hören nicht an der Tür des Klassenraumes auf. Wenn der Klassenraum einen Kontext darstellt, so sind alle Schüler und Lehrer auch noch mit weiteren Kontexten verbunden. Das heißt, dass sich die Kontexte gegenseitig beeinflussen und es über die beteiligten Personen zu einem Austausch von Einflüssen kommt. Genau diese gegenseitigen Einflussnahmen sind kaum bestimmbar – daher ist es grundsätzlich nicht möglich, Grenzen von Netzwerken festzulegen. Man spricht auch von realistischer versus nominalistischer Abgrenzung von Netzwerken
3 Die Verneinung einer grundsätzlichen Grenze bedeutet nicht, wie im letzten Unterkapitel angesprochen, dass nicht bestimmte auf Kontexte und Gruppen beschränkte Spracheigenheiten entwickelt würden – sie bedeutet nur, dass diese im Prinzip auch aus dieser Netzwerknische hinaus diffundieren könnte. Man kann behaupten, dass sich immer Teilnehmer finden, die Kontakte nach außen haben.
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(Laumann et al. 1983). In der realistischen Vorgehensweise werden die Akteure mit ihrer Sichtweise der Beziehungen zum Ausgangspunkt und zur Abgrenzung genutzt. In der nominalistischen Abgrenzung nehmen die Forscher aufgrund thematischer und konzeptioneller Erwägungen die Abgrenzung vor. Man muss allerdings auch eingestehen, dass die theoretisch beschreibbaren Kontextsprünge (White 1995) unter Diffusionsforschungsgesichtspunkten zwar höchst interessant sind, aber nur recht schwer mittels Netzwerkanalysen zu erfassen sind.
6 Resümee Es findet sich eine historische Verbindung zwischen dem Strukturalismus, der in der Linguistik entstanden ist und dem strukturalistischen Denken in der Sozialwissenschaft. Der Strukturalismus kann also zumindest als eine der bedeutendsten Wurzeln der Netzwerkforschung angesehen werden. Es finden sich eine Reihe von Strukturargumenten, die sich gut in Überlegungen fügen, über welche Wege es möglich ist, Sprachunterschiede in sozialen Gruppen oder hier besser, in bestimmten Netzwerkformationen hervorzubringen. Da aber Strukturen zwar erklären können, wie Barrieren für die Verbreitung zustande kommen, aber praktisch nichts über deren Entstehung aussagen, sind in der relationalen Soziologie, die aus der Netzwerkanalyse entstanden ist, sozialkonstruktive Momente hinzugezogen worden. Auf diese Weise wurde es möglich, mehr Licht in die „black box“ (Mische 2003) hineinzubringen, welche eine rein strukturorientierte Betrachtung hinsichtlich der Inhalte und der Verwobenheit zwischen Inhalten, Bedeutungen (also der Kultur) und der Struktur darstellte. Die Netzwerkforschung versucht auf dem Weg der Kombination von Struktur und Inhalten auch Möglichkeiten zur Erklärung der Entstehung und Verbreitung von sozialen Phänomenen, wie die Sprache, zu generieren. Auf der Mikroebene entstehen Beziehungen, welche die Netzwerkforschung traditionell nur sehr grob kategorial misst. Die Beziehungen und auch die sozialen Positionen entstehen in Situationen (oder werden dort bestätigt). Dort werden auch die Inhalte von Beziehungen ausgehandelt und ein gemeinsames Verständnis von Bedeutungen durch Interaktion entwickelt. Es lassen sich eine Reihe von Strukturformationen beschreiben, welche unterschiedliche Auswirkungen auf die Diffusion von Neuem haben. Neuigkeiten kommen meist von außen und können als eine Überbrückung von Kontexten angesehen werden. Dies macht es schwer, Netzwerke für die Forschung in realistischer Weise abzugrenzen. Gleichwohl eröffnet die Netzwerkperspektive Sichtweisen auf strukturelle Begrenzungen, zu denen die traditionelle Gruppensoziologie nicht in der Lage war.
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2. Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit in der Moderne – über Qualitäten posttraditionaler Gesellungsgebilde Abstract: Der Mensch als soziales Wesen ist vor allem eins, Gruppenzugehöriger. Daran ändert auch die ihn beständig aus traditionalen Sinnzusammenhängen und tradierten sozialen Beziehungen herauslösende Moderne wenig. Vielmehr verändern sich Gruppen stets unter den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen. Dergestalt ‚moderne‘ Gruppen, prototypisch gelten hier Posttraditionale Vergemeinschaftungen wie z. B. (Jugend-)Szenen, balancieren das Bedürfnis nach Orientierung und Zusammengehörigkeit von gesellschaftlich freigesetzten Individuen und die Herausforderungen eines dynamischen, prekären, stets riskant und selbstverantwortlich geführten Lebens. Der Beitrag verortet Posttraditionale Gesellungen einerseits vor dem Hintergrund der einschlägigen Gegenwartsdiagnosen, andererseits hinsichtlich der gruppenspezifischen Besonderheiten von Gemeinschaften. Gezeigt wird, wie sich Gruppen hinsichtlich formaler Strukturmerkmale und inhaltlicher Relevanzen der Gruppenzugehörigen unterscheiden und welche Konsequenzen dies für das kompetent Zugehörig-Sein hat. Herausforderungen der sozialwissenschaftlichen Forschung zu Posttraditionaler Vergemeinschaftung werden vorgestellt und abschließend hinsichtlich der Rolle von Sprache in Gruppen diskutiert. 1 Anthropologische und zeitdiagnostische Anmerkungen zur Gruppe 2 Unterschiede von Gruppen und kompetente Zugehörigkeit 3 Herausforderungen der Gruppenforschung 4 Sprache und Zugehörigkeit 5 Literatur
1 Anthropologische und zeitdiagnostische Anmerkungen zur Gruppe 1.1 Der Mensch als soziales Wesen Als ‚Kulturwesen‘ ist der Mensch in einem notwendigerweise vermittelten Verhältnis zu Welt und sich selbst. Kulturwesen ist er insofern, als er „exzentrisch positioniert“ (Plessner 1981; vgl. Fischer 2000) ist und ihm aufgrund seiner instinktiven und körperlichen Mängelausstattung (vgl. Gehlen 1993) nichts anderes bleibt, als sich eine DOI 10.1515/9783110296136-002
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Vorstellung von sich als Person und der Welt um sich herum zu machen (vgl. Rehberg 2010). ‚Welt‘ ist folglich für den Menschen stets ein pragmatisches Deutungs- und Handlungsproblem, dem gegenüber er sich typischerweise verhalten muss. Bei der Bearbeitung dieser Probleme sind Menschen nicht ‚auf sich allein gestellt‘. Vielmehr greifen sie auf symbolisch und sozial vermittelte kulturelle Muster zurück.1 Symbolisch vermittelt sind diese vor allem über sprachliches Wissen (vgl. Fischer 2000, 281). Sprache bzw. sprachliches Handeln, als Gebrauch eines Zeichensystems von Menschen zur kommunikativen Markierung einer Unterscheidung, dient dabei der Auslegung dessen, was sich dem Menschen in seinem Bewusstsein präsentiert bzw. von diesem als relevant wahrgenommen wird. Und es dient auch dem Ausdruck des Menschen mit dem Ziel einen entsprechend der intersubjektiven Geltung von Sprache erwartbaren Eindruck bei Menschen zu machen, d. h. chancenhaft von diesen verstanden zu werden (vgl. Goffman 1955; Luckmann 1979; Schütz 1971). Das ‚In-der-Welt-Sein‘ und darin ‚Mit-Anderen-Sein‘ ist über verschiedene Zeichensysteme kulturell codiert und wird von Helmuth Plessner darin als „vermittelte Unmittelbarkeit“ (Plessner 1981, 419) charakterisiert. Aufgrund der Eigenheit von Sprache, dass sie das Bewusstsein bzw. die Existenz des Anderen transzendiert und dass es so möglich ist in bestimmten Grenzen, durch den Gebrauch von Zeichen die cogitationes des Anderen zu erfassen und, unter bestimmten Umständen, sogar den Strom meiner inneren Zeit mit dem seinen in vollständigen Einklang zu bringen (Schütz 1971, 376; als strukturelle Kopplung, nicht nur, psychischer Systeme vgl. Luhmann 1984, 2005, 44 f., 197 f.),
ist das Verhältnis zu Welt auch sozial vermittelt. Menschen erfinden für sich selten gänzlich neue Antworten auf die Deutungsprobleme die sich ihnen stellen, vielmehr greifen sie auf – typischerweise durch Andere vermittelte – „institutionalisierte (auf Dauer und – relativ – sicher gestellte) ‚Antworten‘“ (Hitzler 1992, 453) zurück. Mit anderen Worten: In Wirklichkeit befindet sich [.] der Mensch schon von Anbeginn in einer Umgebung, die für ihn von Anderen ‚abgesteckt‘ worden ist, das heißt, sie ist für ihn bereits ‚vor-gemerkt‘, ‚vor-angezeigt‘, ‚vor-gedeutet‘ und sogar ‚vor-symbolisiert‘. […] Daher leitet sich nur ein kleiner Teil des für den Menschen jeweils vorhandenen Wissensvorrats von seiner eigenen individuellen Erfahrung ab. Der Großteil seines Wissens ist sozial abgeleitet, ihm von Eltern und Lehrern als sein Erbe übertragen. Dieses Erbe besteht aus einer Reihe von Systemen relevanter Typifikationen, typischer Lösungen für typische praktische und theoretische Probleme, typischer Vorschriften für typisches Verhalten (Schütz 1971, 401).
1 Kultur meint hier basal das Wissen, „was wer unter welchen Bedingungen wie, wann, wo und warum zu tun und zu lassen habe“ (Hitzler 1992, 453).
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Ganz gleich also, ob man sozialanthropologisch von Aristoteles Konzeption des Menschen als ‚Zoon Politikon‘ (als soziales bzw. politisches Wesen) oder Thomas Hobbes Gegenentwurf des ‚Bellum omnium contra omnes‘ (des Kriegs aller gegen alle) – auch prominent in der Losung ‚homo homini lupus‘ (der Mensch ist des Menschen Wolf)2 – ausgeht (in der Gegenüberstellung vgl. bereits Tönnies 1923), Menschen befinden sich typischerweise, ob freiwillig oder gezwungenermaßen und damit zum Guten und Schlechten, in Gesellschaft. Dies bedeutet nicht, dass Menschen per se soziabel oder unsozial sind, insofern sich diese Frage überhaupt klären lässt – sie sind vielmehr soziale, nicht aber durchweg sozialisierte Wesen (vgl. Wrong 1961). Als soziale Wesen sind sie bedingt durch die sie gegebene und umgebende sozial konstruierte, d. h. darin entwickelte, angeeignete, erprobte, stabilisierte und tradierte Kultur und deren Sprache als Bedeutungsträger kulturellen Wissens.3 In der Vermittlung zwischen Welt und Mensch, wie auch zwischen Mensch und Gesellschaft nehmen Gruppen, Gruppenzugehörigkeiten und damit gruppenspezifische Wissensbestände eine vermittelnde Rolle ein (vgl. Hoffstätter 1957; Simmel 1890; Strauss 1974; Taylor 1996; im Überblick vgl. Neuland/Schlobinski in diesem Band). Gruppenzugehörigkeiten und die damit verbundenen gruppenspezifischen, v. a. sprachlich vermittelten Wissensbestände sind dabei selten universell, denn die Bestimmung dessen, was mitteilungswert und mitteilungsbedürftig ist, [hängt] von den typischen, praktischen und theoretischen Problemen ab, die gelöst werden müssen. Diese werden für Männer und Frauen, für die Jungen und die Alten, für den Jäger und den Fischer, mit anderen Worten, für die verschiedenen sozialen Rollen, die von den Mitgliedern der Gruppe übernommen werden, verschieden sein. (Schütz 1971, 402)
2 Im Vergleich zum ‚Krieg aller gegen Alle‘ zielt Hobbes Analogie zum Wolf nicht auf eine Charakterisierung des Naturzustands des Menschen ab. Seinem viel zitierten Ausspruch sind zwei Zitate vorangestellt (zitiert nach der deutschen Ausgabe ‚Lehre vom Bürger‘ von 1918, 62 ff.). Einerseits die Ansicht des römischen Senators Marcus Cato „dass alle Könige [der Tarquinier] zum Geschlecht der wilden Tiere gehörten“ andererseits Pontius Telesinus [einem Gegner Roms] Ansprache an sein Heer „Rom selbst müsse verwüstet und zerstört werden, denn die Wölfe, die Räuber der italienischen Freiheit, würden immer wiederkehren, solange nicht dieser Wald, ihr Zufluchtsort, gefällt sein werde“. Hobbes resümiert: „Nun sind sicher beide Sätze war: Der Mensch ist ein Gott für den Menschen, und: Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen“ Hobbes spricht ein Perspektivenproblem an, dessen Lösung in einer frühen Forderung zur Werturteilsfreiheit liegt: „Wenn dagegen […] jede Partei ihr Recht mit Aussprüchen der Philosophie unterstützt; wenn dieselbe Handlung von dem einen gelobt und von dem andern getadelt wird; wenn derselbe Mensch heute das billigt, was er morgen verdammt, und wenn er die eigenen Taten anders beurteilt, sofern sie andere tun: so sind dies deutliche Zeichen, daß die bisherigen moralischen Schriften der Philosophen zur Erkenntnis der Wahrheit nichts beigetragen haben.“ Dass darüber hinaus Hobbes Konzeption des Naturzustandes nicht zwingend einen unsozialen Menschen veranschlagt hat Daniel Eggers (2008) in jüngerer Zeit erst diskutiert. 3 Die hohe Bedeutung der Sprache – als das prominenteste signifikante Symbol – für die soziale Genese von Identität ist mittlerweile eine Grundannahme in den Sozialwissenschaften (vgl. Mead 1934; Whorf 1956).
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Gruppenzugehörigkeiten selektieren und organisieren folglich Situationen und damit verbundene Verhaltenserwartungen, Handlungsorientierungen und Einstellungen, derer sich Menschen je nach ihren subjektiven Relevanzen bedienen, die sie aneignen und übernehmen, um sich in der Welt adäquat und angemessen verhalten zu können. Und gesteigert gilt dies für gemeinschaftsstiftende Gruppenzugehörigkeiten. Denn, mit den Worten Ferdinand Tönnies (1887, XXIII), „es gibt keinen Individualismus in Geschichte und Cultur, außer wie er ausfließt aus Gemeinschaft und dadurch bedingt bleibt.“
1.2 Der moderne Mensch in Heimat auf Zeit Gruppen und Gruppenzugehörigkeiten – vor allem jene, die als vergleichsweise neue soziale Phänomene verhandelt werden wie z. B. (Jugend-)Szenen, Markengemeinschaften und Online-Communities – lassen sich nur vor dem Hintergrund der sie bedingenden gesellschaftlichen Prozesse verstehen. Als typisch für die Gegenwartsgesellschaft gelten dabei Prozesse, die für die zweite, radikalisierte, reflexive, wie auch immer etikettierte Moderne ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausgearbeitet wurden. Kennzeichnend ist hierfür die fortschreitende Individualisierung und Pluralisierung der Gesellschaft qua Differenzierung und Globalisierung (vgl. Beck et al. 1996). Dies befördert die zunehmende Auflösung gesellschaftlicher Verbindlichkeiten wie sie durch eingeborene Zugehörigkeiten wie Religion, Nachbarschaft und Familie den Einzelnen umfassten (vgl. Beck 1996a, 139 f.) und dessen Handeln organisierten. Der Einzelne ist folglich zunehmend ‚entbettet‘ aus diesen Gruppen und den damit verbundenen Gewissheiten, die seinen Alltag und seine Entscheidungen maßgeblich bestimmten. Darüber hinaus erodieren in der zweiten Moderne aber auch zunehmend jene Gewissheiten, die im Zuge der ersten Moderne gewissermaßen erst erarbeitet wurden.4 Brüchig werden mit der Auflösung traditionaler und der Umordnung moderner Wissensbestände nicht nur soziale Beziehungen, sondern gleichsam individuelle Identitätsentwürfe. Das bedeutet, dass der Mensch heute mental typischerweise »im Freien« steht und berieselt, beregnet, überschüttet wird mit religiösen, esoterischen, chauvinistischen, nationalistischen, internationalistischen, klassenkämpferischen, konsumistischen, ökologischen, sexistischen und dergleichen Ideen mehr. (Hitzler/Honer 1994, 308)
4 D. h. moderne Wissensbestände und die durch daran orientierten Handlungen geprägten sozialen Phänomene werden in der zweiten Moderne ihrerseits auch transformiert. Dazu gehören z. B. Phänomene wie die moderne Arbeitsteilung der Geschlechter und die Emanzipation davon in der zweiten Moderne oder die Ausbildung konsumorientierter Freizeitangebote in Trennung von staatlich organisierter Ausbildung und die zunehmende Verwischung dieser Grenzen zwischen Freizeit und Arbeit/ Bildung bzw. die wachsende Bedeutung außerschulischer, freizeitlicher Lernorte.
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Modernisierung ist folglich nicht nur ein gesellschaftlicher Prozess, sondern Handlungs- und Orientierungsproblem für jeden Einzelnen. Aus den verschiedenen SinnAngeboten bedient sich der Mensch gezwungenermaßen und bastelt sich so sein ganz eigenes ‚Sinn-Dach‘ aus kleineren und größeren Elementen, die ihm für kurze oder längere Zeit Orientierung bieten. Mal gekonnt, mal stümperhaft, mal wohlüberlegt, mal aus der Laune heraus flicken wir uns heute im Alltag aus den unübersichtlichen und vielfältigen Sinn-Angeboten die Collage unserer eigenen Identitätsentwürfe. Die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe kann die eigenen Entscheidungen in Form kollektiver Sicherheiten stabilisieren. In der Selbstverantwortlichkeit des eigenen Lebens nimmt die Bedeutung solcher Gruppenzugehörigkeiten für die eigene Identitäts- und Handlungsorientierung zu, die aufgrund eigener, aktueller Neigungen, Bedürfnisse und geteilter Interessen geknüpft werden (vgl. Beck 1996b, 91; Hitzler; Niederbacher 2010, 30). Dabei gilt für die Zugehörigkeit, was für jede Handlungsentscheidung des freigesetzten Individuums in der Gegenwartsgesellschaft gilt. Die Entscheidung für gewisse Zugehörigkeiten ist stets riskant, vorläufig und kann zunehmend weniger auf traditionalen Gewissheiten gründen.5 Alles was moderne Menschen als selbstverantwortliche Existenzbastler dabei an diese Gesellungsgebilde bindet, ist das subjektive Wohlempfinden, das ‚gute Gefühl‘ jetzt gerade in genau ‚hier und jetzt‘ dabei und mitunter ‚daheim‘ zu sein (vgl. Eisewicht/Grenz 2010, 73 ff.; Hitzler 2009, 55).6 In Gruppen können Einzelne ihre Individualität durch Selbststilisierungen konstruieren und dabei auch von anderen kopieren (vgl. Luhmann 1994a, 191 ff.), gerade auch in Anlehnung an bereits in der Gemeinschaft vorliegende Individualitätsentwürfe. Zugehörigkeiten dienen dabei der identitätsstiftenden Verfolgung eigener Interessen (vgl. Bauman 1997, 136 ff.), als übernommenes Muster einer sozialen Identität (vgl. ebd, 150 ff.; Luhmann 1994a), als Grundlage erlebnisorientierter, unverbindlicher, selbstbezogener Handlungen (vgl. Bauman 1997, 156 ff.; Schulze 2005, 465), sowie als Filter und Katalysator sozialer Beziehungen jedweder Bindungsstärke und Dauer (vgl. Bauman 1997, 80; Schulze 2005, 35) oder als festgelegter Raum für darauf
5 In diesem Sinne ist auch die Entscheidung für traditionale Wissensbestände und Zugehörigkeiten in heutiger Zeit eine selbstverantwortliche und darin riskante Entscheidung. Mit anderen Worten, heute in Europa religiös zu sein, den Beruf der Eltern zu ergreifen, den Ort für Ausbildung und Beruf ggf. nicht zu wechseln usw., erfordert und bedeutet in unserer Gesellschaft anderes als vor der Moderne. Mitunter ist die Annahme solcher traditionalen Wissensbestände – unabhängig von ihrer Adäquanz und Angemessenheit für die Lösung moderner Probleme – heute begründungsbedürftiger als es andere Wissensbestände sind, allein weil sie eine explizit soziale, nahräumliche gegenüber einer vermeintlich individuellen, aus den vollen Möglichkeiten schöpfende, Orientierung anzeigt. 6 Ronald Hitzler beschreibt darin die Verführungskraft von gegenwartstypischen Gemeinschaftsformen (1998, 85), welche die je individuelle und freie Orientierung des eigenen Handelns an der Gemeinschaft befördern.
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bezogene Statusgewinne und Anerkennungen innerhalb der Gemeinschaft (vgl. Bauman 1997, 159 ff.).
2 Unterschiede von Gruppen und kompetente Zugehörigkeit 2.1 Kennzeichen Posttraditionaler Vergemeinschaftung und Differenzierungen von Gruppen Eine Antwort auf den Verlust traditionaler Verbindlichkeiten findet sich in den als „Posttraditionale Vergemeinschaft[ungen]“ (Hitzler 1998), „Neo-Tribes“ (Maffesoli 1996) oder flüchtige Gemeinschaften (Bauman 2009) bezeichneten gegenwartstypischen Sozialformen. Hierunter fallen zum Beispiel – und am prominentesten beforscht – (Jugend-)Szenen (vgl. Hitzler 2009; Hitzler/Niederbacher 2010; auch als Sub- und Jugendkulturen; zur Unterscheidung vgl. Eisewicht/Pfadenhauer 2015, 490 ff.). Eine Entsprechung zu gesellschaftlichen Tendenzen stellen diese Gesellungsgebilde dar, insofern, dass sie nicht auf traditionalen Verbindlichkeiten gründen, sondern auf thematischen Interessen und dass sie entsprechend ihrer freien Zu- und Austrittsmöglichkeit vergleichsweise unverbindlich, fragil und dynamisch sind. Als „Rüstung mit Reißverschluss“ (Bauman 2003, 199) bieten Szenen und andere Formen Posttraditionaler Vergemeinschaftung zumindest (teil-)zeitliche Vertrautheit, Orientierung und quasi ‚Bausteine auf Probe‘ für die eigene Bastelexistenz (Eisewicht/ Grenz 2010, 16 ff.). Aus der Forschung heraus (vgl. v. a. Hitzler 1998; Hitzler/Niederbacher 2010, 15 ff.) lassen sich folgende Kernelemente Posttraditionaler Vergemeinschaftung benennen: (A) Ein geteiltes Interesse oder Thema, aufgrund dessen Zugehörige miteinander in Verbindung treten, sich austauschen, miteinander Zeit verbringen und auf das sie sich in ihren Handlungen und Einstellungen orientieren. In posttraditionalen Vergemeinschaftungen agiert und interagiert man nicht aufgrund geteilter religiöser, nachbarschaftlicher oder ethnischer Hintergründe, sondern vor allem aufgrund eines gemeinsam gegenseitig unterstellten Interesses an einem Thema. Entscheidend ist hierbei jedoch nicht das gemeinsame Thema oder eine Suche nach gemeinschaftlichem Zusammensein, sondern vor allem zunächst allein eine als geteilt unterstellte, prinzipiell wiederkehrende, „veranstaltet[e] Begeisterungschance“ (Rehberg 1993, 24) für diese Thematik. (B) Spezifische Interaktionszeiträume, d. h. Orte an denen zu bestimmten Zeiten Zugehörige agieren und interagieren, sprich: teilkulturell sinnhafte Praktiken verfolgen, die sich zumeist am Thema ausrichten und dieses füreinander erfahrbar machen. Diese Praktiken weisen mitunter den Charakter von Ritualen und Traditionen auf, die
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im ‚dann‘ und ‚dort‘ gemeinschaftskonstitutiv sind und die kollektive Intensität, also das Erlebnis Gemeinschaft kennzeichnend werden lassen. Geteilte Praktiken dienen dabei der symbolischen Selbstanzeige als Zugehöriger, wie der gegenseitigen Anzeige und damit Erfahrbarkeit der sinnstiftenden Gemeinsamkeit. (C) Mit diesen Aktions- und Interaktionsweisen verknüpfte spezifische Wissensbestände, vor allem Wertesetzungen, welche das (Miteinander-)Handeln der Anderen für den Zugehörigen verstehbar macht und an denen er seine eigenen Handlungsweisen ausrichtet. Wie auch die Praktiken werden im alltäglichen individuellen Handlungsvollzug diese stets reaktualisiert und in dem Beziehungsgeflecht beständig verhandelt. Dabei kann die jeweilige Deutungsreichweite der Werte und Normen variieren. Von den eher begrenzten Orientierungen des Wochenend-Technoiden bis hin zu umfassenden Lebensentwürfen von Neo-Hippies können diese Zugehörigkeiten ganz unterschiedliche Anteile des Alltags ausmachen. (D) Aufgrund der gemeinschaftsspezifischen Wissensbestände und Handlungsweisen (die auf das Thema der Vergemeinschaftung hin ausgerichtet sind) die ermöglichte Abgrenzung gegenüber einem Nicht-Wir. Erlebnisse konstituieren sich nicht allein aus der Wahrnehmung der gleichgesinnten Anwesenden, sondern auch in der Erwartung der Exklusivität des Erlebnisses. Damit sind nicht nur einfach Nicht-Anwesende gemeint, sondern mitunter auch Anwesende, denen sozusagen der Sinn, also der nötige Wissensbestand, für die gemeinschaftsstiftende Begeisterung fehlt. (E) Ein Zusammengehörigkeits- bzw. Wir-Gefühl, also die aus den geteilten Praktiken und Wertvorstellungen erwachsende und als besonders wahrgenommene sozioemotionale Qualität der Teilhabe an der Vergemeinschaftung und damit gerade an dem sinnlich wahrnehmbaren Zusammensein mit den Anderen (mit denen man eben auf Basis eines geteilten Interesses und zumindest unterstellten ähnlichen Einstellungen in einen prosozialen Austausch tritt). Diese Eigenschaft ist die wesentliche, die auch gegenwartstypische Gemeinschaftsphänomene von anderen Formen sozialer Gruppen unterscheidet und die gesteigerten prosozialen Verhaltensweisen nach innen und tendenziell antisoziale Einstellung gegenüber Außenstehenden verstärkt. Das Wohlbefinden in der jeweiligen Gemeinschaft wird dabei über spezifische, geteilte Repräsentationspraktiken, wie Kleidungsstile, Sprachcodes etc. ausgedrückt. Posttraditionale Vergemeinschaftungen veranschaulichen dergestalt zwei zentrale Elemente, nach denen Gruppen unterschieden werden können. Stichwortgebend ist hier Georg Simmels Unterscheidung sozialer Phänomene nach deren Inhalt und Form. Als Inhalt versteht Simmel dabei alles das, was in den Individuen, den unmittelbaren Orten aller historischen Wirklichkeit als Trieb, Interesse, Zweck, Neigung, psychische Zuständlichkeit und Bewegung derart vorhanden ist, dass daraus oder daran die Wirkung auf andre und das Empfangen ihrer Wirkungen entsteht (1908, 5)
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Wovon sich Formen notwendigerweise unterscheiden, denn [w]eder Hunger noch Liebe, weder Arbeit noch Religiosität, weder die Technik noch die Funktionen und Resultate der Intelligenz bedeuten, wie sie unmittelbar und ihrem reinen Sinne nach gegeben sind, schon Vergesellschaftung; vielmehr, sie bilden diese erst, indem sie das isolierte Nebeneinander der Individuen zu bestimmten Formen des Miteinander und Füreinander gestalten, die unter den Begriff der allgemeinen Wechselwirkungen gehören: (ebd.)
Formale Gruppenkennzeichen sind demnach z. B. formale oder non-formale Gruppenorganisation, Hierarchiestrukturen, Netzwerkvarianten, zeitliche und räumliche Organisation oder ritualisierte Interaktionsmuster (vgl. der Überblick von Neuland/ Schlobinski in diesem Band). Entgegen dem Anliegen von Simmel (der Analyse von Formen der Vergesellschaftung) ist für die Erforschung von Menschen in Gruppen allerdings die inhaltliche Differenzierung mindestens von ähnlich hoher Bedeutung. Es bietet sich daher an nicht nur Gruppen nach formalen Strukturvariationen zu differenzieren, sondern auch nach der Art und Weise des Verhältnisses der Menschen zur Gruppe zu fragen. Ein erster Zugang hierfür ist die Unterscheidung zwischen Gemeinsamkeiten, Zugehörigkeiten und Zusammengehörigkeiten (vgl. Grenz/Eisewicht 2012). Gemeinsamkeiten können für sich genommen (sozial-)strukturell oder durch geteilte Interessen bedingt sein und implizieren zunächst nicht notwendigerweise daran orientierte Zuschreibungsakte oder ein daran ausgerichtetes Handeln.7 Alle als Gruppen bezeichenbaren Gesellungsgebilde weisen jeweils spezifische Gemeinsamkeiten auf. Gemeinsam ist Menschen in Posttraditionalen Gesellungsgebilden z. B. nicht vordringlich ihre sozialstrukturelle Verortung (also ein bestimmtes Alter, Geschlecht oder Herkunftsmilieu), sondern eine bestimmte Zuwendung zu Themen, Praktiken und Dingen die sich in spezifischen Handlungsmustern äußert. Gemeinsamkeiten sind konstitutiv für Gemeinschaftlichkeit, bringen diese aber keineswegs zwingend hervor: Wissenssoziologisch gesehen evoziert die Entdeckung von Gemeinsamkeiten allein noch keinen oder allenfalls einen schwachen Bedarf nach aufeinander abgestimmten Weltsichten (es sei denn, die Weltsichten würden eben als das entdeckt, was man gemeinsam zu haben scheint). Das Erleben von Gemeinschaft hingegen beinhaltet typischerweise nicht nur, dass man ähnliche Ansichten zur Welt hat, sondern Gemeinschaftserleben impliziert darüber hinaus, dass man die Welt und die Dinge nicht nur gleich, sondern fraglos auch „auf die richtige Weise“ sieht […]. Übereinstimmende Deutungsschemata in diesem Sinne lösen zwar nicht per se Wir-Gefühle aus.
7 Gerade nominelle Gruppen oder solche die vor allem durch Fremdzuschreibungen bestehen, sind Gruppen zunächst unterstellter Gemeinsamkeit. Diese Gemeinsamkeiten müssen nicht zwingend von den zugeschrieben Zugehörigen gewusst sein oder diesen in ihrem Handeln relevant sein. Die Unterscheidung der gruppenrelevanten Gemeinsamkeiten (d. h. für die Gruppenzugehörigen relevante Gemeinsamkeiten) von den zufälligen oder nicht relevanten Gemeinsamkeiten sollte vordringliche Aufgabe entsprechender Forschung sein.
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Aber ohne die quasi selbstverständliche Übereinstimmung von Deutungsschemata lassen sich Wir-Gefühle kaum stabilisieren (Hitzler 2013, 102).
Gemeinsamkeiten, die von Handelnden irgendwie gewusst werden und die Relevanz für den Entwurf der eigenen Handlung und der Bewertung von Handlungen haben, gehen typischerweise in subjektiven Konzepten von Zugehörigkeit auf. Für derartige (Gruppen-)Zugehörigkeiten, die für den Einzelnen subjektiv hohe Relevanz besitzen, erweist sich das für an dieser Zugehörigkeit orientierte geteilte Interesse oder Thema als grundlegend. Aufgrund solcher Verständnisse beziehungsweise Semantiken, die jedem Zugehörigen zumindest geläufig sind, treten Menschen miteinander in Verbindung, tauschen sich aus und verbringen Zeit miteinander. Mit damit verbundenen Aktions- und Interaktionsweisen sind spezifische Wissensbestände, vor allem Wertesetzungen mit je verschiedenen Geltungsreichweiten, verknüpft. Als gemeinschafts- beziehungsweise zusammengehörigkeitsstiftend lassen sich Gemeinsamkeiten qua Zugehörigkeit schließlich verstehen, wenn sie über vermutete und avisierte Gruppenzusammenhänge hinaus ein am Miteinander orientiertes Erleben (und Handeln) befördern, bei dem der Handlende davon ausgeht, einer Person ‚wie man selbst‘, das heißt einem Gleichgesinnten, gegenüberzutreten. Das ‚Gemeinsame‘ ist hier gleichsam der Treiber einer als besonders verstandenen – weil nur einem begrenzten Personenkreis gemeinsamen – sozio-emotionalen (familienartigen) Qualität, die als geteilt unterstellt wird. Erst mit dem – für ein enges Verständnis von Vergemeinschaftung notwendigen – Wir-Gefühl entsteht die oben von Hitzler erwähnte Abstimmung von Weltsichten. Wenn der Austausch nicht mehr nur und nicht mehr allein vorrangig an Informationsabruf und -weitergabe, also am Thema, sondern an Emotionalität orientiert ist, dann verstärken sich prosoziale Verhaltensweisen, Reziprozitätserwartungen und die Zuschreibung von Vertrauen nach innen. Handelnde können also sehr viel (thematisch) gemeinsam haben, was sie vergemeinschaftet, ist eine als geteilt unterstellte Perspektive auf und Begeisterung für diese (thematische) Gemeinsamkeit. Sie ist auf dieser ‚Stufe‘ also gewissermaßen die Hintergrundfolie fraglos als richtig erachteten Denkens, Handelns und Fühlens. Szenen z. B. lassen sich damit verstehen als eine Form d. h. Szenenetzwerke, welche dem Inhalt (und damit dem Bedürfnis und der Erfahrungsqualität) der Gemeinschaft chancenhaft einen Rahmen bietet. Szenen sind damit nicht deckungsgleich mit Gemeinschaften, jedoch „Brutstätten postraditionaler Vergemeinschaftung“ (Hitzler 2008). An einem Beispiel: Verschiedenste Menschen hören dieselbe Musik (teilen also freiwillig oder unfreiwillig z. B. als Beifahrer in einem Auto eine Gemeinsamkeit) und vielen Menschen bedeutet diese Musik mitunter etwas (sie besuchen Konzerte, tauschen sich mit anderen über Lieblingssongs aus, kurz: sie tun etwas mit der Musik). Was soziale Gruppen jedoch als Zusammengehörigkeitsprojekt auszeichnet ist weniger ein geteiltes Kulturgut bzw. Konsumobjekt oder eine Relevanz dessen im eigenen Handeln, sondern die Unterstellung, dass der Andere in der Gruppe einer ist, wie man Selbst (nicht nur in Blick auf materiale Erschei-
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nung, sondern auch hinsichtlich mentaler Dispositionen). Dass der andere Mensch ‚meine Sicht der Dinge‘ teilt, dass ich mich mit ihm situativ als zusammengehörig erfahre und mich damit ihm sozioemotional verbundener als Menschen außerhalb der Gruppe fühle, das kennzeichnet das Wir-Gefühl und gleichsam die ‚Grenzen‘ jeder Gemeinschaft (Plessner 2002). Mit Hilfe einer solchen Differenzierung von Gemeinsamkeit, Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit lassen sich soziale Gruppen (also Gesellungsformationen) differenzierter hinsichtlich ihrer inhaltlichen Erfahrungsqualität unterscheiden. Dabei ist mit zunehmender Kohäsion der Gruppenmitglieder (bis hin zum gemeinschaftlichen Wir-Gefühl), größerem Abgleich und Angleichen untereinander und einer größeren (Deutungs-)Reichweite der gruppenspezifischen Weltsicht zu erwarten, dass sich prosoziales Verhalten nach Innen und Orientierung an der Gruppe, sowie abgrenzendes Verhalten nach Außen und Distanzierung von anderen Gruppen verstärkt. Entscheidend hierbei ist nicht das Gruppengefüge (also die Form), sondern die subjektive Relevanz der Zugehörigkeit für den Einzelnen (die wiederum die Dauer der Zugehörigkeit und die gefühlte Verbindlichkeit der szenespezifischen Wissensbestände moderiert).8
2.2 Zugehörigkeit und Kompetenz Soziale Gruppen bestehen nur in den an ihnen orientierten Handlungen der Menschen. Unsicher für den Einzelnen ist gerade in non-formalen, posttraditionalen Gruppen dabei nicht nur die bloße Zugehörigkeit aufgrund der Frage, ob es nicht woanders und in anderen Gruppen ein verheißungsvolleres Versprechen (von Erlebnis, Orientierung, Anerkennung und Identität) gibt, sondern auch die eigene Stellung innerhalb der Gruppe (vgl. Hitzler 1998, 86 f.). Da in der Moderne Zugehörigkeiten nicht einfach gegeben und fraglos zugeschrieben, sondern zunehmend selbstverantwortlich hergestellt und gemanaget werden müssen (vgl. Eisewicht/Grenz 2010; Grenz/Eisewicht 2012), erweist sich akzeptierte Zugehörigkeit als Folge kompetenten Handelns.9
8 D. h. dass auch bei geringerer Verbindlichkeit und niedrigen Ein- und Austrittsschwellen, Szenezugehörigkeiten für Menschen eine hohe Bedeutung haben und teils derart umfassend handlungsanleitend wirksam werden können, dass sie bildlich ‚über Allem stehen‘ (dass also die soziale Identität nahezu deckungsgleich mit der Szenezugehörigkeit ist, diese Zugehörigkeit im Vergleich zu anderen Zugehörigkeiten also hypertrophiert). 9 In wissenssoziologischer Perspektive meint ‚Kompetenz‘ (vgl. Pfadenhauer 2008, 2010) ein subjektives und soziales, generatives Handlungsvermögen. Es lässt den Akteur Situationen nicht nur zufällig, sondern absichtsvoll, nicht nur irgendwie, sondern systematisch, nicht nur einmalig, sondern ‚immer wieder‘ bewältigen. Dadurch erwächst dem kompetenten Akteur sukzessive eine relative Sicherheit, auch wenn sich sein Vermögen auch für ihn selber immer wieder bewähren muss.
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Menschen benötigen zuvorderst eine bestimmte Motivation, die sie überhaupt dazu veranlasst, sich mit dem Thema jeweiliger Szenen (oder anderer posttraditionaler Gruppen) auseinanderzusetzen. Diese Motivation ist grundlegend dafür, sich mit großem Aufwand das beizubringen, was Menschen können müssen, um beim SzeneGeschehen mittun zu können. Szenen sind gewissermaßen Wollens-Gemeinschaften insofern Einsteiger wie Erfahrene – die sich ja gerade hinsichtlich des Ausmaßes ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten unterscheiden – eine ähnliche Motivation eint. Das Dazugehören-Wollen d. h. Anerkennung von Anderen zu erhalten, leitet zum einen Prozesse des Kompetenzerwerbs (sowohl hinsichtlich des Themas als auch hinsichtlich der der Umgangsformen, der Gruppengeschichte etc.), zum anderen Vermittlungsprozesse an. Wenn anerkannte Angehörige einer Szeneelite sich jüngerer Szenegänger annehmen, um diese anzuleiten, suchen sie sich in der Regel solche Personen als ‚Schüler‘ aus, denen sie unterstellen, dass diese das Gleiche wie sie selber wollen, nämlich anerkannter Teil dieser Szene werden zu wollen. Kompetenzerwerb in Szenen wird durch die Motivation angetrieben, das können zu wollen, was Gegenstand, Beschäftigung und Inhalt einer Szene ist. Die Zugehörigkeit zu Posttraditionalen Gesellungsgebilden wird vorrangig über themenspezifische Aktivitäten hergestellt und aufrechterhalten. Vereinfacht gesagt muss jemand, der sich z. B. als Szenegänger versteht, selber entsprechende szenetypische Aktivitäten an den Tag legen (können). Die hierfür erforderlichen Fähigkeiten und Wissensbestände sind innerhalb der Szene asymmetrisch verteilt. Das Wissen um Beschaffungsmöglichkeiten und Zugangsmöglichkeiten etwa ist typischerweise nicht nur zwischen Einsteigern und Szeneeliten, sondern auch zwischen diesen fragmentiert und differenziert.10 Kompetenzerwerb hinsichtlich Szenen heißt in diesem Sinne schlicht das zu können, was in diesen Kernaktivität ist. Die – als dramatologisch zu verstehende (vgl. Hitzler 1992) – Inszenierung von Zugehörigkeit zu Posttraditionalen Gesellungen findet typischerweise über das Zurschaustellen der Kernaktivität und damit des Können und Wollens statt. Die darin subjektiv erlebte Zugehörigkeit erfährt dabei über – vom Zugehörigen als Anerkennung verstandene – (Ent-)Äußerungen anderer Zugehöriger in sequentieller Weise eine Absicherung. Über die wechselseitig zugeschriebene, stellenweise auch kompetetiv erstrittene Anerkennung unter den Zugehörigen wird die interne Hierarchisierung ausgehandelt. Die Anerkennung wirkt insofern vermittelnd, als Posttraditonale Gesellungen auch Aushandlungsorte dafür sind, wer wo mit welchen Aktivitäten reüssieren und Anerkennung erhalten kann. Dabei ist z. B. in Szenen der Szeneelite
10 Wissensbestände in Szenen sind typischerweise dynamisch, in ihrer zeitlichen Gültigkeit und Deutungsreichweite oft limitiert und häufig nicht von einer zentralen Position in der Szene aus hierarchisch geordnet. Dies umso mehr, als Deutungsmonopole in Szenen über lokale und regionale Kontexte hinaus nicht unstrittig sind. Dies befördert die kommunikativen Abstimmungs- und Aushandlungsprozesse unter den Angehörigen einer Szene.
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per se eine größere Berechtigung zugeschrieben als Szeneanfängern. Entsprechend lassen sich auch Sanktionsmittel finden, auf welche Zugehörige (ihres Erachtens nach berechtigt) zurückgreifen, wenn in der Gruppe geltende Normen verletzt werden. Kompetenzerwerb in Posttraditionalen Gesellungen erfolgt in einem in der Gruppe ausgehandelten, anerkannten und durchgesetzten Raum von Berechtigungen. Kompetenzerwerb in diesen Gruppen führt dergestalt sukzessive dazu, gruppentypische Aktivitäten unsanktioniert tun zu dürfen. Kompetente Zugehörigkeit liegt nicht einfach vor, Handelnde müssen diese Selbstwirksamkeit entsprechend ihres Handlungsziels erst herausbilden. D. h. Einsteiger wissen zunächst nicht nur nicht, was man wie macht, sie wissen typischerweise auch nicht, wie man Gruppenaktivitäten und -typische Dinge in der Gesellung bewertet. Beim kompetenten Handeln geht es also um adäquates und angemessenes Handeln (vgl. Knoblauch 2010). Adäquates Handeln meint, dem eigenen Handlungsziel entsprechend zu handeln; angemessen meint, im Rahmen der in der Gruppe relevanten sozialen Normen im Bereich des zu Erwartenden und Gebilligten zu handeln. Szenehandeln z. B. kann dahingehend spezifiziert werden, dass es als solches auch (an)erkannt werden muss. Kompetentes Handeln als selbstbezogene Bewertung oszilliert zwischen der Konnotation der kontinuierlichen, reflexiven Adaption von problemlösenden Handlungsschritten und routinisierter Selbstsicherheit (kompetent zu handeln, unbeschadet der Umstände). Im ersten Fall liegt das Gewicht auf der Bereitschaft (auch das eigene Handeln reflektieren und Problemlösungen entwickeln zu wollen und daraufhin Probleme adäquat zu lösen); im letzteren Fall auf dem der selbstzugeschriebenen Berechtigung (und damit der Erwartung unabhängig vom Handlungsergebnis kompetent zu handeln, d. h. Probleme angemessen zu bearbeiten). Hinsichtlich der Kompetenzentwicklung in Posttraditionalen Gesellungen wird somit deutlich, welche Bedeutung gerade bei Einsteigern dem volontativen Aspekt zukommt und wie mit zunehmender Verweildauer und Kompetenzdarstellung Statusprozesse, die in der zugeschriebenen Berechtigung durch andere ihre Entsprechung finden, z. B. so etwas wie ‚Szenekarrieren‘ moderieren können (vgl. Pfadenhauer/ Eisewicht 2015).
3 Herausforderungen der Gruppenforschung Die Forschung zu Posttraditionalen Gesellungsgebilden ist mittlerweile breit aufgefächert und differenziert sich zunehmend in spezialisierte Forschungsbereiche (z. B. szenefokussiert als ‚Metal-Forschung‘ vgl. Heesch/Höpflinger 2014) aus. Einerseits geht es um das Erleben in diesen Gruppen als eigensinniges, spezifisches Welterleben (im Sinne einer kleinen sozialen Lebenswelt vgl. Luckmann 1970). Auf der anderen Seite finden sich auch Arbeiten und Themen, die quer zu den einzelnen Gruppen stehen und damit auf die generellen Konstitutionsmerkmale von Posttraditionaler
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Gesellung fokussieren. Aufbauend auf den bisherigen Arbeiten lassen sich folgende Herausforderungen für die Gruppenforschung ableiten: (A) Gruppenqualitäten als methodische Herausforderung – soziale Gruppen hinsichtlich ihrer inhaltlichen Differenzierung als zusammengehörigkeitsstiftend zu verstehen stellt eine besondere methodische Herausforderung dar. Diese Herausforderung der Rekonstruktion der Binnenperspektive von Gruppen wird u. E. von ethnographischen Programmen, besonders der lebensweltanalytischen Ethnographie nach Anne Honer (1993; vgl. Hitzler/Eisewicht 2016) bearbeitet, indem die Frage nach dem (subjektiv sinnhaften) Erleben der Menschen im Feld zentral wird. Hierfür ist die beobachtende Teilnahme im Feld leitend. Anschließend an eine entsprechende für inhaltliche und formale Aspekte von Vergemeinschaftung sensible Forschung kann so die inhaltliche Spezifik von Gemeinschaft zu anderen Gruppenphänomenen spezifiziert werden. (B) Soziale Gruppen als grenzrealisierend – Gruppen werden stets in Spannung zu ihrer Innen- und Außenseite hin betrachtet. Auf der Innenseite geht es um die Integration von Einzelnen in eine Gruppe (im Falle von Gemeinschaften mit einer besonderen Gefühlsqualität und Sicherheit für das Handeln der ihr Zugehörigen). Auf der Außenseite spielen Abgrenzung gegenüber Nicht-Mitgliedern und Abschließungsprozesse eine Rolle, die bereits aufgrund geringer Gruppengemeinsamkeit zum Tragen kommen können (vgl. Tajfel 1982, 106). Im Zusammenschluss einer Gruppe Einzelner die eine Gemeinsamkeit teilen, stehen nicht mehr eine Vielzahl Ich’s nebeneinander, sondern sind diese aufeinander bezogen und aneinander orientiert. Norbert Elias bezeichnet dies als „Wir-Identität“ (1987, 279) sozialer Gruppen. Integriert werden Gruppenmitglieder damit immer in Abgrenzung zu denen, die ‚nicht dabei‘ sind. Aber auch auf der Innenseite der Gemeinschaft findet sich die Spannung „zwischen der Verschmelzung mit unser sozialen Gruppe und der individuellen Heraushebung aus ihr“ (Simmel 1919, 26), die Elias „Wir-Ich-Balance“ (1987, 269) nennt. Gruppen sind folglich nicht einfach durch Gleiche gekennzeichnet. Es findet sich in Gruppen eine je nach Größe und Kohäsion ausgeprägte interne Differenzierung und Hierarchisierung. Gruppen sind dabei auch durchzogen von Konflikten und Kontrolllogiken. Gruppenzugehörigkeiten als Spannung zwischen kollektiver und personaler Identität in den Fokus zu rücken ermöglicht, die Heterogenität der Zugehörigkeit zu Gemeinschaften zu verstehen und darüber die Rolle dieser für den Einzelnen genauer in den Blick nehmen zu können (vgl. Grenz/Eisewicht 2012). (C) Einzelzugehörigkeit und Zugehörigkeiten – Bisher wenig beachtet ist im Fokus auf einzelne Gruppen, dass Menschen in der Gegenwartsgesellschaft typischerweise nicht nur eine Zugehörigkeit managen, sondern diese sequentiell, biographisch und situativ wechseln und oft gleichzeitig verschiedene Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen organisieren müssen (als „Kreuzung sozialer Kreise“ Simmel 1908, 305). Entgegen einer Einzel-Zugehörigkeitsbetrachtung ist für kompetente Akteure auch die Balancierung von multiplen Zugehörigkeiten kennzeichnend. In den vielfältigen, teils sich überschneidenden, entgegen stehenden, kombinierbaren und je individu-
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ell gebrochenen Zugehörigkeiten schwingt immer auch die Anforderung mit, diese in Spannung stehenden Teilidentitäten in eine Selbsteinheit zu integrieren (vgl. Luhmann 1994b, 194; Mead 1937, 192 ff.). (D) materiale Anzeige mentaler Zugehörigkeit – Da besonders Posttraditionale Gesellungen weniger auf dem Einzelnen angeborenen, eingeschriebenen und irgendwie erkennbaren Gemeinsamkeiten gründen, muss Zugehörigkeit hergestellt und typischerweise den Anderen (Zugehörigen wie auch nicht-Zugehörigen) gegenüber angezeigt, d. h. mangels organisationaler Mitgliedschaft untereinander ausgehandelt werden. Zugehörigkeiten sind nicht ‚bloße‘ mentale Repräsentationen und soziale Gruppen keine ‚freischwebenden‘ Kulturen. Die Erforschung sozialer Gruppen erfordert daher nicht nur die Rekonstruktion von Bedeutungen, und die diskursive Herstellung von Zugehörigkeit, sondern auch deren materielle Hervorbringung (z. B. zur graphischen Variation von Schrift und deren Bedeutung in Szenen vgl. Spitzmüller 2013). Sofern es bei Gruppen um solche mit zusammengehörigkeitsstiftender Qualität geht (oder solche denen eben diese Qualität abgesprochen wird), sind zusätzlich zwei Aspekte zu beachten: (E) Gemeinschaft und Community – der Gemeinschaftsbegriff fußt grundlegend auf Ferdinand Tönnies Arbeit zu „Gemeinschaft und Gesellschaft“. Das Problem dieser Gegenüberstellung befördert die Doppeldeutigkeit des Gemeinschaftsbegriffs als soziale Beziehungsform einerseits und als in Wir-Gefühl erlebter Gemeinschaft andererseits. Der Communitybegriff dreht sich demgegenüber und in Anschluss an die Stadtökologie der Chicago School um Robert Ezra Park vorrangig um soziale Bindungsformen im persönlichen Umfeld (im Überblick vgl. Neckel 1997). Der Communitybegriff ist formal gefasst und inhaltlich unscharf, da er keine explizite (oder nur eine ‚fahrlässig‘ an Tönnies orientierte) Verbindung zum Erfahren der Menschen innerhalb der Community aufweist (zur Konzeption und Kritik des CommunityBegriffs vgl. Gusfield 1975). Angesichts dessen plädieren wir für einen am Wir-Gefühl eng geführten Gemeinschaftsbegriff, da mit dieser Begriffsschärfe auch genauere Aussagen darüber möglich sind, was Vergemeinschaftung typischerweise – auch für die darin involvierten Handelnden – bedeutet. (F) Gemeinschaft als Gegenbegriff – in der deutschsprachigen Tradition ergibt sich damit ein weiteres Problem aus dem Anschluss an Tönnies Doppelkonnotation von Gemeinschaft. Gemeinschaft wird oft in Spannung zu Gesellschaft als Romantik vormoderner, unrationalisierter sozialer Beziehungen untereinander gesetzt. In diesem Sinne steht stets der Vergesellschaftung als „Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich“ (Weber 1980, 21) die Vergemeinschaftung als „Einstellung des sozialen Handelns […] auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit“ (ebd.) gegenüber. Diagnosen, die von einem solchen Entsprechungsverhältnis ausgehen, kommen dergestalt immer zu einem Befund des Verlusts von Gemeinschaft in modernen Gesell-
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schaften.11 Die Herausbildung der modernen Gesellschaft ist infolge des gesteigerten rational gesteuerten Abgleichs individueller Anliegen durch eine zunehmende Gemeinschaftsferne gekennzeichnet. Während in der Vergesellschaftung in der Moderne das Individuum in einem fortwährenden Prozess der „Entbettung“ aus traditionalen und gemeinschaftlichen Bindungen herausgelöst wird, steht Vergemeinschaftung als das Zurückliegende, Verlorengegangene als „Gegenbegriff“ (Joas 1993, 51) und Rückzugsort in einer ‚kalt‘ gewordenen Gesellschaft (vgl. Gebhardt 1999). Verkannt wird in dieser Perspektive die gesellschaftliche Bedingtheit der Gemeinschaft, die stets auch Katalysator gesellschaftlicher Prozesse ist und nicht einfach nur diesen gegenüber steht. In Vergemeinschaftungsprojekten spiegeln, widerstehen und entwerfen Menschen Gesellschaft. Handelnde verhalten sich in Gemeinschaften auch rational, ebenso wie zweckrationale Sozialbeziehungen, zum Beispiel Projektteams in beruflichen Kontexten, gemeinschaftsstiftend sein können. Gemeinschaften als geprägt von gesellschaftlichen Tendenzen und gesellschaftliche Tendenzen prägend zu verstehen (vgl. Opielka 2006), heißt sie als Inhalt sozialer (gesellschaftlicher) Beziehungsformen zu sehen und nicht als Gegenbegriff. Die für Zugehörigkeiten konstitutive Bedeutung von Gemeinsamkeit ist als Inhalt sozialen Handelns Produkt subjektiver Auslegungsakte, die im (mehr oder weniger) alltäglichen Miteinander material gestützt und angeleitet, d. h. zunächst sinnlich erfahren werden. Insofern Zugehörigkeiten also auf den mittelbaren und unmittelbaren Interaktionen gleichsam vor-gelagerten subjektiven Deutungsakten beruhen, bietet sich ein strikt vom handelnden Akteur aus gedachtes Konzept für die generelle Beschreibung und Analyse der Formen der sozialen (Selbst-)Zuordnung an.
4 Sprache und Zugehörigkeit Was mit diesem Überblick veranschaulicht werden sollte, ist die Vielfalt und Komplexität von Gruppen (über die Betrachtung als einheitliches Gruppengebilde hinaus) und die Anforderungen an kompetente Zugehörige (und darin kompetent Sprache beherrschende), sowie die Herausforderungen für die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit Gesellungsgebilden. Die Funktion der Sprache lässt sich dabei – hinsichtlich der Bedeutung, der Differenzierung und Herausforderung von und durch
11 In Ferdinand Tönnies grundlegender Konzeption von „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (1887) findet sich die Diagnose der Auflösung natürlicher Sozialbeziehungen in einer an Verträgen durchzogenen Gesellschaft. In Max Webers Überlegungen zur Herausbildung des okzidentalen Kapitalismus findet dies Ausdruck in der Zunahme zweckrationaler Beziehungen im ‚stahlharten Gehäuse‘ der Hörigkeit. Thomas Bender (1978, 45 f.) fragt angesichts der Menge an Verfallsdiagnosen in der amerikanischen Communityforschung über die Jahrzehnte dementsprechend kritisch: „How many times can community collapse in America?“
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Gruppenzugehörigkeit – über deren gesellschaftliche Funktion hinaus (vgl. Luckmann 1979, 60 ff.), hinsichtlich der formalen Strukturierung des Gruppengeschehens auf der einen und der Appräsentation subjektiv und sozial geteilter Erlebnisqualitäten auf der anderen Seite, differenzieren. Die Herausforderung und die Besonderheit sozialwissenschaftlicher Gruppenforschung liegt dabei weniger in der Identifikation und sachlichen Bennennung von Themen, Praktiken und Werten etc., sondern vielmehr in der Identifikation und Rekonstruktion der je subjektiven Relevanz und sinnstiftenden Funktion der Gruppenzugehörigkeit für den Menschen. Das Verstehen von Gruppen (und der Bedeutung der dort verwendeten Sprache) ist dabei für den Forschenden eine ähnliche Herausforderung wie für den von Alfred Schütz beschriebenen Fremden, denn [d]ie Sprache als ein Auslegungs- und Ausdrucksschema besteht nicht nur aus linguistischen Symbolen, die in einem Lexikon katalogisiert sind, und nicht nur aus syntaktischen Regeln, die eine ideale Grammatik aufzählt […] Jedes Wort und jeder Satz ist, um wiederum einen Begriff von William James zu borgen, von „Sinnhorizonten“ („fringes“) umgeben, die sie einerseits mit den vergangenen und zukünftigen Elementen des entsprechenden sprachlichen Universums verbinden und die sie andererseits mit einem Hof emotionaler Werte und irrationaler Implikationen, die selbst wiederum unaussprechlich bleiben, umgeben. Die Sinnhorizonte sind der Stoff, aus dem die Poesie gemacht ist; man kann sie in Musik setzen, aber man kann sie nicht übersetzen. (Schütz 1972, 63 f.)
Diese, für Gruppenzugehörige selbstverständliche, unhinterfragte Poesie zu verstehen, d. h. die gruppenspezifischen Sinnhorizonte (und darin der sozialen Inhalte von Gruppen) zu rekonstruieren, ist Aufgabe der sozialwissenschaftlichen Gruppenforschung. Dafür bietet es sich an, eben jenen Weg in das jeweilige Feld zu beschreiten, den Fremde (und hinsichtlich Posttraditionaler Gesellungen quasi alle interessierten Menschen) zu gehen haben. Je nach Forschungsinteresse und -perspektive entscheidet sich dabei die Strecke dieses Weges, von der distanzierten Beobachtung bis hin zur Teilnahme und Übernahme der relativ-natürlichen Weltanschauung der Menschen im Feld.
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3. Datenerhebung quantitativ Abstract: Quantitative Methoden in den Sprachwissenschaften sind solche, bei denen operationale Merkmale vorausgesetzt werden, quantitative Verfahren sind letztlich statistische Verfahren. Im Hinblick auf die Datenerhebung bei sozialen Gruppen bedeutet dies, dass bestimmte Methoden und Techniken bevorzugt eingesetzt werden: Tests und Fragebögen, Interviews und teilnehmende Beobachtungen. Insbesondere in soziolinguistischen Untersuchungen kommen diese und spezifisch entwickelte Methoden (rasche und anonyme Datenerhebung) zum Einsatz. Im digitalen Zeitalter nehmen Online-Netzwerkuntersuchungen eine zunehmend wichtige Rolle ein. 1 Grundlegende Aspekte 2 Sampling 3 Methoden 4 Literatur
Quantitative und qualitative Methoden in den Sprachwissenschaften bezeichnen unterschiedliche Vorgehensweisen, Daten zu gewinnen, zu beschreiben und zu erklären. Quantitative Verfahren sind solche, bei denen das Operieren mit Zahlen eine zentrale Rolle spielt, qualitative sind solche, bei denen der Interpretationsprozess im Vordergrund steht und die sich auf der Folie hermeneutischer Verfahren entwickelt haben. Quantitative Verfahren sind letztlich statistische Verfahren, qualitative sind – zumindest in den Sprachwissenschaften – solche, bei denen Texte oder Diskurse nach einer bestimmten Methodik erhoben und interpretativ analysiert werden. So wird die Soziolinguistik unterschieden in die ‚korrelative Soziolinguistik‘, also in jene Variante, bei denen statistische Verfahren wie die Korrelation angewandt werden, und in die ‚interpretative Soziolinguistik‘, die mit interpretativer Methodik arbeitet (vgl. Auwärter 1982). Allerdings weist Ehlich (1982) zu Recht darauf hin, dass quantitative Methoden eine verborgene Qualitativität besitzen. „Wir stoßen auf das paradoxe Ergebnis, daß die ,quantitative‘ Analyse eine ,qualitative‘ ist – allerdings eine ,qualitative‘ besonderer Art. Die ,qualitates‘ nämlich, die in sie Eingang finden, sind diejenigen, über die die Diskursgemeinschaft sich im großen und ganzen schon einig ist“ (Ehlich 1982, 307). So setzt die Erhebung von Sprachdaten bei jugendlichen Peer Groups, was trivial erscheint, aber nicht trivial ist, die Definitionen von ,jugendlich‘ und ,Peer Group‘ voraus. Wenn im Folgenden das Thema Sprachdatenerhebung unter quantitativen Aspekten behandelt wird, so sind zwei grundlegende Punkte zu berücksichtigen: 1. der Unterschied von Sprecher-/Schreibergruppen, die für eine Erhebung vorab festgelegt werden, und gruppierten Daten, die in der Analyse aus den gewonnenen DOI 10.1515/9783110296136-003
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Daten extrahiert werden. Beide Punkte spielen in quantitativer Perspektive insofern eine Rolle, als für die Erhebung vorab genau zu klären ist, welche Konsequenzen der jeweilige Punkt für die konkret geplante Erhebung hat bzw. haben kann. Damit verbunden ist 2. die Beschränkung auf quantitativ relevante Datenerhebungsmethoden einerseits und die Frage nach Datenerhebungsmethoden im Hinblick auf quantitative Analysen andererseits. Zum Dritten werden Erhebungen für Big-Data-Analysen berücksichtigt, wie sie für die Internetlinguistik (Marx/Weidacher 2014) wichtig sind. Im Idealfall erfüllen quantitative Erhebungsmethoden folgende Punkte: Es geht 1. um das systematische, standardisierte Erfassen von empirischen Sachverhalten, 2. um Verfahren zum Testen von Hypothesen, 3. meistens um Untersuchung großer Fallzahlen/größerer Stichproben mit dem Anspruch auf Repräsentativität, 4. um die objektive Messung und Quantifizierung von Sachverhalten und die Messung zählbarer Eigenschaften, mit 5. der Konsequenz der Auswertung durch statistische Verfahren (im Einzelnen vgl. Schlobinski 1996).
1 Grundlegende Aspekte In quantitativ angelegten Untersuchungen werden Untersuchungsgegenstand und Fragestellungen präzise definiert und Hypothesen in Bezug auf die einzelnen Fragestellungen aufgestellt. Hieraus ergibt sich die Art der Datenerhebung, die sog. Elizitierungstechnik. Ziel einer jeden Untersuchung sind natürlich ‚gute‘ Daten, also Daten, die auf einer systematischen Beobachtung beruhen. Bei der Planung linguistischer Forschung im Hinblick auf Verbaldaten stellt sich jedoch ein Problem, das Labov als Beobachterparadox wie folgt formuliert hat: „The aim of linguistic research in the community must be to find out how people talk when they are not being systematically observed“ (Labov 1972, 209). Während durch die Methode der Teilnehmenden Beobachtung (vgl. Kap. 3–4) das Beobachterparadox optimal minimiert werden kann, stellt sich dieses bei anderen Erhebungsmethoden mehr oder weniger stark (s. u.). Das Dilemma, in dem die Forschung steckt, lässt sich in der Jugendsprachforschung exemplifizieren. Ein klassisches Beispiel hierfür sind die Untersuchungen von Henne (1986) und Schlobinski/Kohl/Ludewigt (1993) zur Sprache Jugendlicher. Henne versteht unter Jugendsprache ein „spielerisches Sekundärgefüge“, das spezifische „Sprechformen favorisiert“ (Henne 1986, 208). Die ‚favorisierten Sprechformen‘ ermittelt Henne in einer Fragebogenerhebung mit Fragen wie „Kennst Du Klangwörter (z. B. peng, ächz, lechz, usw.)?“. Der Fragebogen ist in diesem Fall jedoch ungeeignet, Sprechformen zu dokumentieren (vgl. Brandmeyer/Wüller 1989, 149). Fragen nach dem Sprachwissen geben noch keine Auskunft darüber, wie Jugendliche wirklich sprechen. Vorteil der Henne-Untersuchung: Es konnten viele Sprachdaten erhoben werden (N = 536). Schlobinski/Kohl/Ludewigt wählten einen ethnografischen Ansatz, mit dem authentisch gesprochene Sprache von Jugendlichen in zwei
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Gruppen detailliert erfasst werden kann. Vorteil: Das Beobachterparadox ist minimiert. Nachteil: Es kann nur die Sprechweise weniger Sprecher erfasst werden (N = 41). Die Durchführung einer quantitativen Erhebung lässt sich in vier aufeinanderfolgende Schritte gliedern, die den zeitlichen Ablauf und internen logischen Aufbau einer Untersuchung widerspiegeln. Im ersten Schritt der Untersuchung werden die Ideen konzeptualisiert, die allgemeinen und speziellen Ziele der Untersuchung festgelegt und der Untersuchungsgegenstand definiert (Operationalisierung). Anschließend werden Hypothesen formuliert, die bei statistischen Untersuchungen getestet, d. h. durch die Untersuchung geprüft werden sollen. Die präzise Formulierung der Hypothesen (und Gegenhypothesen) ist für statistische Analysen von zentraler Bedeutung. Im zweiten Schritt erfolgt die Planung und Durchführung der Datenerhebung. Zunächst wird die Stichprobe (Art und Umfang) festgelegt, es werden ggf. Vortests (Pretests) durchgeführt, Fragebögen in einem Vorlauf getestet usw. Es folgt dann die eigentliche Erhebung. Im dritten Schritt wird das erhobene Material verarbeitet und aufbereitet. Verbale Daten werden verschriftet, interessierende Gesprächspassagen werden ausgewählt, quantitative Daten werden in Form von Tabellen und Graphiken zusammengefasst (deskriptive und explanative Datenanalyse, vgl. Schlobinski (1996)). Im letzten Schritt steht die eigentliche Analyse der Daten und die Beantwortung der Frage, welche Schlussfolgerungen aus dem Datenmaterial gezogen werden können. Bei statistischen Verfahren werden die zuvor formulierten Hypothesen getestet. Die Ergebnisse der Untersuchung sind mit den Ergebnissen anderer Untersuchungen zu vergleichen, und ggf. sind Prognosen und Modelle anhand der vorliegenden Untersuchung zu erstellen.
1.1 Merkmale und Skalierungen Merkmale, die bei einer Untersuchung erhoben werden, bezeichnet man auch als Erhebungsmerkmale (im labovschen Sinne eine Variable). Die Erhebungsmerkmale werden nun nach der Art der Merkmalsausprägungen (im labovschen Sinne eine Variante) in quantitative und qualitative Merkmale eingeteilt. Ein quantitatives Merkmal wie z. B. Alter oder Einkommen kann verschiedene Werte (Zahlen) annehmen. Ein qualitatives Merkmal hingegen kann verschiedene Kategorien annehmen, die geordnet sein können oder nicht. Das Merkmal ‚natürliches Geschlecht‘ hat genau zwei sich gegenseitig ausschließende Ausprägungen – das Problem der Androgynität beiseite gelassen. Ein Merkmal wie ‚Frechheit‘ kann in Rangordnungen ‚zerlegt‘ werden, so wie beim sog. ‚semantischen Differential‘, nach dem Eigenschaften wie ‚frech‘ in ‚sehr frech – frech – wenig frech – nicht frech‘ geordnet werden (Näheres hierzu s. u.). Für die Auswertung per EDV werden den Merkmalsausprägungen qualitativer Daten Zahlen zugeordnet, sodass formal ein qualitatives zu einem quantitativen Merkmal wird. Umgekehrt werden quantitative Merkmale klassiert, d. h., es werden Intervalle gebildet wie im Falle des Merkmals Alter z. B. die Gruppen unter 20, 20–39, 40–59,
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60–79 und über 80. In diesen Fällen spricht man von klassierten oder auch gruppierten Daten. Neben der Differenzierung in qualitativ und quantitativ spielt das Kriterium der Häufbarkeit eine Rolle. Das Merkmal Geschlecht ist nicht häufbar, da der Merkmalsträger nicht gleichzeitig männlich und weiblich sein kann. Anders beim Merkmal Beruf; eine Person kann in ihrem Leben mehr als zwei Berufe gelernt haben, sodass bei der Frage nach dem Beruf sichergestellt sein muss, ob der zur Zeit ausgeübte Beruf erfragt wird oder der/die erlernte/-n. Bei solch häufbaren Merkmalen können Mehrfachzählungen bzw. Mehrfachnennungen auftreten. Wenn die Merkmalsausprägungen eines Merkmalsträgers bestimmt werden, so bezeichnet man dies als Messen, die so gemessenen Werte als Messwerte. Für die unterschiedlichen Merkmale gelten nicht die gleichen Messvorschriften. Ein quantitatives Merkmal wird mit einer kardinalen Metrik gemessen; diese metrische Skala heißt Kardinalskala. Qualitative Merkmale werden mit einer nominalen oder ordinalen Metrik gemessen; die Skalen heißen Nominalskala und Ordinal- bzw. Rangskala. Eine Nominalskala liegt dann vor, wenn lediglich die Gleichheit oder Ungleichheit der Ausprägung des untersuchten Merkmals festgestellt werden soll. Das Merkmal ‚Geschlecht‘ wird in zwei Klassen (Merkmalsausprägungen) aufgeteilt: ‚männlich‘ und ‚weiblich‘. Eine Ordinalskala liegt dann vor, wenn für das gemessene Merkmal Ausprägungen nicht nur unterschieden werden können, sondern zusätzlich für die Ausprägungen eine Rangordnung festgelegt werden kann. Typisches Beispiel für eine Rangskala ist das semantische Differential (Osgood et al. 1957). Das semantische Differential besteht aus einer 5- bis 12-punktigen Skala, deren Endpunkte durch semantisch bipolare Adjektive gekennzeichnet sind. Die Messung der Einstellung erfolgt dadurch, dass einzelne Personen ihr Urteil über ein sprachliches Objekt durch Ankreuzen auf der vorgegebenen Skala zum Ausdruck bringen. Dieses häufig verwendete und einfache Verfahren, bei dem Versuchspersonen ein Objekt auf einer mehrstufigen Skala einordnen sollen, nennt man Rating. Die Beurteilung, ob der Hamburger Dialekt ‚vornehme‘ wirke, kann durch eine solche Rangskala gemessen werden. Eine Kardinalskala liegt dann vor, wenn nicht nur Ränge zwischen den Messwerten bestehen, sondern auch die Abstände zwischen den Messwerten berechnet werden können, wobei als Messwerte Kardinalzahlen zugeordnet werden. Wie wir gesehen haben, können kardinale Daten auch klassiert werden, indem Intervalle gebildet werden. In diesem Fall spricht man von einer Intervallskala. Kommt zu der Intervallskala noch ein (natürlicher) Nullpunkt hinzu, so spricht man von einer Verhältnisskala. Die kardinale Metrik stellt die stärksten Forderungen an das Mess niveau, die nominale die geringsten, mit der Folge, dass viele statistische Auswertungsmethoden nur bei kardinaler Metrik möglich sind. Messen setzt voraus, dass das, was gemessen wurde, auch das wiedergibt, was gemessen werden sollte. Es stellt sich die Frage, wie gültig (valide) die gemessenen Werte und die so erhaltenen Ergebnisse sind. Die sog. Validität einer Messung setzt die Zuverlässigkeit einer Messung voraus, setzt voraus, dass die Messungen genau und konstant durchgeführt wurden. Man spricht in diesem Fall von Reliabilität. Die
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Reliabilität ist u. a. durch einen Re- und Parallel-Test abzusichern. Bei einem Re-Test wird die Messung unter gleichen Bedingungen wiederholt, bei einem Parallel-Test wird die Messung mit äquivalenten Instrumenten wiederholt. Die Validität einer sprachwissenschaftlichen Untersuchung kann sehr häufig dann in Frage gestellt werden, wenn Sprachwissenschaftler Skalen oder Indizes entwickeln, ohne diese nach statistischen Standards zu überprüfen. Ein klassisches Beispiel sind Dialektindizees oder Maße zur syntaktischen Komplexität, bei denen nicht geprüft wird, ob die Indikatoren überhaupt das Untersuchungsmerkmal adäquat reflektieren und wie die zugeordneten Zahlenwerte zu interpretieren sind. Die sog. Konstruktvalidität (Kerlinger 1970, 12 f.), die für die Forschung wesentlich ist, wird in sprachwissenschaftlichen Untersuchungen kaum überprüft. Doch auch bei etablierten Skalen ist Validität nicht immer gegeben. Klassisches Beispiel sind Berufsskalen. Berufsskalen sind Ordinalskalen, bei denen Berufe entlang einer Achse ‚sozialer Status/soziales Prestige‘ geordnet werden, z. B. Fabrikarbeiterin, Busfahrerin, Verkäuferin, Postbeamtin, Chefsekretärin, Ärztin, Nachrichtensprecherin, wobei die Abstände zwischen den Berufen auf der Skala identisch sind. In soziolinguistischen Untersuchungen werden Berufsskalen benutzt, um den sozialen Wert sprachlicher Merkmale zu testen (Labov 1966). Probanden werden Tonaufnahmen verschiedener Sprecher vorgespielt, die in die Skala eingeordnet werden müssen (Näheres hierzu in 3.2 und 3.4). Bei den Analysen werden dann den Berufen Zahlen zugeordnet, um statistische Auswertungen vornehmen zu können. Hinter der Konstruktion solcher Skalen verbirgt sich ein zentrales Problem: Den hierarchisch rangskalierten Berufen wird jeweils eine Einheit Prestige zugeordnet, d. h., Prestige wird wie eine physikalische Größe behandelt, ohne dass jedoch auf die Bedingungen für die Messbarkeit eingegangen wird. Die Frage ist, ob soziales Prestige durch diese Art der Skala überhaupt erfasst werden kann oder ob nicht vielmehr ein auf ein ‚physikalisches Maß zurechtgestutztes‘ Prestige gemessen wird, das mit dem Merkmal in der sozialen Realität wenig zu tun hat.
2 Sampling Es gibt verschiedene Typen statistischer Erhebungen, die nach der Art der Ermittlung unterschieden werden können (s. u.). Hierfür gibt es verschiedene Stichprobentechniken und eine Stichprobentheorie. Die bekanntesten Stichprobentechniken sind die der Zufallsstichprobe und der Quotenauswahl (geschichtetes Sample). Bei der Zufallsstichprobe wird aus der Grundgesamtheit nach dem Zufallsprinzip eine Stichprobe gezogen. Bei der Quotenauswahl wird das Sample nach bestimmten Merkmalsausprägungen gewählt, z. B. so, dass die Merkmalsausprägungen in der Stichprobe genauso verteilt sind wie in der Grundgesamtheit. So wählt das Institut für Demoskopie Allensbach seine Quoten nach der Bevölkerung über 16 Jahre, z. B. Männer 49 % und Frauen 51 %. Wenn also Daten gruppiert werden (z. B. nach Geschlecht),
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dann sollte die Stichprobe keinen Bias aufweisen. Ein Bias liegt dann vor, wenn die Stichprobe nach anderen Parametern gezogen wird, als sie in der Grundgesamtheit vorkommen. Die Stichprobe ist dann ‚verzerrt‘ bzw. ‚verfälscht‘. Der Umfang einer repräsentativen Untersuchung liegt auf der Basis einer großen Grundgesamtheit bei n ≥ 1 000, wobei es bei Zufallsstichproben spezifische Verfahren gibt, Stichprobengrößen zu berechnen. Repräsentativität heißt, dass das Zurückschließen (Induktionsschluss) auf die Grundgesamtheit zulässig ist und die Stichprobe die Grundgesamtheit widerspiegelt (vgl. auch Abb. 1). Induktionsschluss
Grundgesamtheit Stichprobe
Abb. 1: Stichprobenziehung
3 Methoden Für die Erhebung von gruppenbezogenen Daten stehen verschiedene Techniken zur Verfügung, die dem jeweiligen Untersuchungsgegenstand und -ziel ausgewählt werden müssen. Im Hinblick auf quantitative Verfahren sind grundlegend 1. Tests/Experimente, 2. schriftliche Befragungen (Fragebogenerhebung), 3. mündliche Befragungen (speziell das soziolinguistische Interview), 4. textbasierte Erhebungsmethoden.
3.1 Experiment Das Experiment ist die präziseste Methode, Antworten auf eine Frage zu erhalten. Das Experiment ist ein Verfahren, unter exakt kontrollierten Bedingungen den Faktor zu finden, der ein Phänomen bewirkt. In der Statistik spricht man davon, dass der Einfluss einer Variablen auf eine andere festgestellt werden kann. Dieser Zusammenhang zwischen Variablen kann durch statistische Tests ermittelt werden. Die Messung setzt allerdings voraus, dass 1. die Variablen exakt und eindeutig definiert sind und 2. Störvariablen ausgeschaltet sind. Klassisches Beispiel für ein Experiment sind Erhebungen bei Lernergruppen in der Zweitspracherwerbsforschung. In einer Längsschnittstudie zur Modalität im
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ungesteuerten Zweitspracherwerb wurden u. a. strukturierte Aufgaben in einem Videolabor durchgeführt. Polnische Lerner erhielten unter den gleichen Laborbedingungen in unterschiedlichen Abständen verschiedene Aufgaben, durch die auf der Folie des Diskurstyps ‚Instruktion‘ systematisch Ausdrücke für Modalstrukturen elizitiert werden konnten. Die einzelnen Experimente sind so gestaltet, dass die polnischen Informanten einem Versuchsleiter Instruktionen entlang eines teleologischen Handlungsmodells für konkrete Handlungen zu geben haben. Zwei Teilexperimente (von insgesamt zehn) im Einzelnen (vgl. Dittmar et al. 1990, 132 f.): 1. Das Aschenbecherexperiment. Dem Informanten wird stumm eine Szene vorgespielt. Eine Person betritt ein ‚Cafe‘, stellt seine Tasche hin, hängt die Jacke auf, liest Zeitung und entwendet schließlich einen Aschenbecher vom Tisch. Die Versuchsperson hat die Aufgabe, einen zweiten Versuchsleiter so zu instruieren, dass dieser die Szene nachspielen kann. 2. Das Kaffeemaschinenexperiment. Teilnehmer: zwei Versuchsleiter und ein Informant. Die Personen sitzen an einem Tisch, auf dem sich eine Espressomaschine befindet. Ein Versuchsleiter gibt der Versuchsperson die Gebrauchsanweisung der Maschine in seiner Muttersprache, die der Informant auf Deutsch einem zweiten Versuchsleiter wiederzugeben hat. Experimente können mit mehr oder weniger Probanden durchgeführt werden, die Zahl liegt zwischen N = 30–120. Aufgrund der hohen Strukturiertheit von Sprache und der strikten Versuchsbedingungen wird oftmals angenommen, dass die Stichprobe repräsentativ ist.
3.2 Test Ein Test ist ein Verfahren zur Messung des relativen Grades von Merkmalsausprägungen, das in hohem Maße standardisiert ist. Für die Güte eines Tests gelten 1. Objektivität, Validität, Reliabilität (vgl. oben), gegenüber dem Experiment sind die Kon trollbedingungen weniger strikt. Einen hohen Stellenwert haben sog. Reaktionstests auf sprachliche Stimuli in der Spracheinstellungsforschung (Erhebung subjektiver Sprachdaten). Bei diesen Tests geht es um die subjektive Reaktion von Sprechern auf sprachliche Proben. Der Zusammenhang von subjektiven Reaktionen und lautlichen Varianten wurde von Labov (1966) unter Anwendung der Matched-guise-Technik in Form eines Berufseignungstests getestet. Eine Anwendung habe ich zum Berlinischen durchgeführt (Schlobinski 1987, 175 f.), die hier dargestellt werden soll, da ein Paralleltest durchgeführt wurde, der die Probleme bei dieser Art des Testens verdeutlicht. Die Untersuchung zum Sprachgebrauch hatte ergeben, dass die dialektale Variante [j] in Wörtern wie ‚gut‘, ‚gern‘ usw. sozial stratifiziert ist: Mittelschichtssprecher gebrauchen diese Variante wesentlich seltener als Arbeiter. Es sollte nun getes-
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tet werden, ob die palatalisierte Variante auch entsprechend sozial bewertet wird. Deshalb wurden sechs Sprachproben aus drei Standardtexten von fünf Sprecherinnen erstellt. Die erste und sechste Sprachprobe wurde von derselben Sprecherin gelesen, wobei in der ersten Sprachprobe die Standardvariante [g], in der anderen die Dialektvariante [j] realisiert wurde. Ansonsten waren die Texte identisch. Die restlichen Sprachproben fungierten als Füller. Die Sprachproben wurden 51 Versuchspersonen vorgespielt, die die Sprachproben anhand der oben dargestellten Berufsskala (s. Kap. 2.1) einstufen sollten, indem sich die Versuchspersonen in die Rolle eines Personalchefs versetzen sollten. Die Ergebnisse wurden nach dem labovschen Verfahren und statistisch ausgewertet. Es konnte nachgewiesen werden, dass die Standardvariante mit sozialem Prestige assoziiert ist, die dialektale Variante hingegen stigmatisiert wird. Neben dem Skalenproblem stellt sich das Problem, dass ein Text mit isoliertem Lautmerkmal recht unnatürlich ist, da normalerweise mehrere Merkmale gleichzeitig realisiert werden. In einem Paralleltest wurde der Frage nachgegangen, ob im Hinblick auf natürliche Sprache veränderte Versuchsbedingungen zu gleichen Testergebnissen führen. In einigen Punkten wurden die Sprachproben geändert. Eine längere Passage aus einer Rundfunksendung wurde verschriftet und als Grundlage genommen. Wiederum wurden Sprachproben mit Standard- und Dialektvariante ([g] versus [j]) erstellt, wobei zusätzlich zum einen zwei, zum anderen fünf weitere Dialektmerkmale hinzugenommen wurden, das Merkmal [g/j] also nicht mehr isoliert auftrat. Die Sprachproben wurden 76 Versuchspersonen vorgespielt. Die Auswertung ergab nun keine signifikanten Unterschiede mehr. Unabhängig davon, ob zusätzlich zwei oder fünf Merkmale hinzukamen, sind die Reaktionen auf die sprachlichen Stimuli gleich, die Spirantisierung spielt bei der veränderten Testanordnung keine Rolle als Stigmatisierungsmerkmal mehr. Offensichtlich führen verschiedene Modellannahmen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Die Erklärung hierfür hängt mit der stärkeren Natürlichkeit der Sprachproben zusammen. Da aber natürliche Sprache diejenige ist, die im Alltag rezipiert wird, sind darauf aufbauende Tests aussagestärker. „In other words, how listener-judges respond to a stimulus speaker will undoubtedly be quite different from how they would react to him or her under more naturalistic and personally involving conditions“ (Giles/Ryan 1982, 211).
3.3 Fragebogenerhebung Befragungen sind eine geeignete Methode, um repräsentative sprachwissenschaftliche Daten zu erhalten, werden aber auch für kleinere Stichproben/Gruppen genutzt. Schriftliche Befragungen werden mittels eines Fragebogens durchgeführt, mündliche Befragungen in Form von Interviews. Befragungen sind mehr oder weniger standardisiert. Fragen lassen sich nach unterschiedlichen Kriterien klassifizieren, primär danach, auf welchen Gegenstandsbereich sie sich beziehen. Man unterscheidet folgende Fragekategorien:
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Faktfragen. Besitzen Sie ein Berliner Wörterbuch? Wissensfragen. Spricht Ihr Arzt mit Ihnen Dialekt? Einschätzungsfragen. Glauben Sie, dass die Akzeptanz des Berlinischen in ganz Berlin eher zu- oder abgenommen hat? Bewertungsfragen. Wie beurteilen Sie die Sprache der bayerischen Politiker? Einstellungsfragen. Was empfinden Sie, wenn Sie den Berliner Dialekt hören? Er wirkt auf mich: 1-----------------2--------------------3---------------------4-------------------5 schlagfertig äußerst sehr neutral weniger nicht Handlungsfragen. Begrüßen Sie auf der Straße Ihre Freunde mit ,Hi‘? Ferner kann man Fragen danach klassifizieren, ob es sich um offene oder geschlossene Fragen handelt. Offene Fragen sind typisch für Interviews; die Antworten sind nicht vorgegeben, sondern offen (s. u.). In Fragebogenerhebungen werden meistens geschlossene Fragen verwendet, also solche, bei denen mehrere Antwortmöglichkeiten vorgegeben sind. Diese sind besonders für die statistische Auswertung geeignet, da die definierten Antworten leicht kodiert werden können. Zur Exemplifizierung vgl. die Fragebogenerhebung zur Untersuchung von Jugendsprache (Henne 1986, 61 f.), eine kritische Reflexion findet sich in Schlobinski (1996, 41 ff.). Vorteile: Repräsentative Datenerhebung ist möglich, schnelle statistische Auswertung. Nachteile: Nur Sprachwissen wird erfasst, keine authentische Sprache. Soziale Gruppierungen werden meist nur über Klassifizierung der Daten erfasst. Eine der Fragebogenerhebung vergleichbare Interviewtechnik findet man in repräsentativen Umfragen mittels Telefoninterviews. So wurde 2014 mithilfe computergestützter Telefoninterviews eine Untersuchung in Berlin zum Berliner Dialekt durchgeführt (Ewels/Schlobinski 2014). Im Rahmen der Untersuchung wurden insgesamt 1 001, nach einem systematischen Zufallsverfahren ausgewählt, Männer und Frauen ab 14 Jahre in der Stadt Berlin befragt, die Gruppierung nach sozialen Parametern erfolgte per Festlegung vorab und die Klassifizierung der Daten nach der Erhebung.
3.4 Interview Das Interview hat in sprachwissenschaftlichen Untersuchungen insofern einen hohen Stellenwert, als durch diese Methode verbale Daten systematisch erhoben werden können. „Das wichtigste Verfahren zur Gewinnung eines großen Korpus von verlässlichen Sprachdaten einer Person ist das auf Tonband aufgezeichnete Einzelinterview. Im großen und ganzen ist das Interview sozial kontrolliertes Sprechen – überwacht und gesteuert infolge der Anwesenheit eines außenstehenden Beobachters“ (Labov 1976, 2).
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In sprachwissenschaftlichen Interviews werden häufig offene und geschlossene Fragen verwendet, sodass der Grad der Standardisierung stark schwankt. Spezielle sprachwissenschaftliche Techniken, die in Interviews angewandt werden, sind 1. das laute Lesen von Wörtern oder Texten, insbesondere Listen mit Minimalpaaren und Wörtern sowie Sätzen; 2. Elizitierung von Erzählungen; 3. Tests wie Matched-guise-Test, Lückentest etc. Möglichst natürliche Sprachproben können durch die Wahl des Themas oder zusätzliche Interaktionspartner erreicht werden. Labov (1980, 19) hat verschiedene Themenkomplexe angeführt, die besonders geeignet sind, zwangloses Sprechen zu elizitieren: 1. Tod und Lebensgefahr, 2. moralische Entrüstung und Interaktion zwischen den Geschlechtern, auf konkrete Beispiele wurde bereits hingewiesen. Auch der Rückgriff auf Kindheitserlebnisse kann insbesondere ältere Informanten zu informellem Sprechen veranlassen. Eine andere Möglichkeit besteht darin, andere Interaktionspartner wie Freunde oder Familienmitglieder in das Interview einzubeziehen und die Kommunikation zwischen ihnen zuzulassen. Wenn die Befragten aus dem eigentlichen Interview ausbrechen und mit Vertrauten sprechen, ist der Sprechstil informeller als im Interview. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, Gruppeninterviews oder auch Rollenspiele durchzuführen. Der Vorteil eines Gruppeninterviews besteht zum einen in der Minimierung des Beobachterparadoxes: Es ist leichter, private und persönliche Themen anzusprechen, insbesondere gehemmte Personen können durch andere Gruppenmitglieder ermutigt werden, sich zu äußern. Zum anderen besteht ein Vorteil darin, dass man in kürzester Zeit eine Reihe von Interviews erheben kann. Nachteilig ist, dass die Erhebungssituation weniger stark kontrollierbar ist und insbesondere die Informanten sich gegenseitig beeinflussen können, also unkontrollierte gruppendynamische Effekte entstehen. Ferner ist der organisatorische Aufwand in der Regel höher, um mehrere Personen zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort zu interviewen. Das Gruppeninterview ist natürlich dann besonders gut geeignet, wenn es darum geht, sprachliche oder metasprachliche Daten einer spezifischen Gruppe zu untersuchen. So habe ich mit Studenten vor einigen Jahren eine Gruppe von Punks interviewt, weil uns interessiert hat, welche Einstellung die Sprecher als soziale Gruppe gegenüber ihrer Sprache und der Sprache anderer haben. Das Gruppeninterview hängt von gruppenund personenspezifischen Faktoren ab, aber auch vom gewählten Thema. Das Thema ist dann besonders relevant, wenn eine Gruppendiskussion geführt werden soll. Will man beispielsweise untersuchen, wie in einer Gruppe argumentiert wird, muss ein Thema gewählt werden, das eine die Gruppe interessierende strittige Frage aufgreift. Eine gezielte Gruppendiskussion, bei der eine Gruppe als Variable bestimmend ist, setzt die Definition der zu untersuchenden Gruppe voraus. Es gilt zu klären, ob es sich um Ad-hoc-Gruppen, Zweckgruppen usw. handelt. In soziolinguistischen Untersuchungen werden die Gruppen mit Hilfe von soziometrischen Verfahren beschrieben,
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die die Position der einzelnen Gruppenmitglieder innerhalb einer Gruppe angeben. Vorteil: Viele natürliche Sprachdaten und soziale Parameter können erhoben werden. Nachteile: Beobachterparadox ist immer noch hoch, Daten aus sozialer Interaktion werden nicht erfasst.
3.4.1 Rasche und anonyme Datenerhebung Eine spezielle Interviewtechnik ist die Rasche und anonyme Datenerhebung, die aus zweierlei Gründen von Labov (1966) in seiner berühmten Kaufhausstudie entwickelt wurde: 1. um möglichst natürliche Sprachdaten zu erheben und das Beobachterparadox zu minimieren, 2. um in kürzester Zeit eine große Anzahl von Daten zu erheben und 3. um abhängige linguistische Variablen mit unabhängigen Parametern zu korrelieren (s. u.). Labov hält rasche und anonyme Beobachtungen „für die wichtigste Methode in einem linguistischen Forschungsprogramm, das die von gewöhnlichen Leuten bei ihren alltäglichen Verrichtungen benutzte Sprache zu ihrem wichtigsten Gegenstand macht“ (Labov 1980, 48). In seiner Untersuchung ging es Labov um eine phonologische Fragestellung im New Yorker Englisch im Rahmen der soziolinguistischen Erforschung der sprachlichen Verhältnisse in New York, speziell um das Vorhandensein oder Fehlen von [r] in postvokalischer Position, z. B. car, card, four, fourth, etc., und wie die Allophone hinsichtlich sozialer und stilistischer Faktoren variieren. Um die sozialen Faktoren zu berücksichtigen, wählte Labov drei unterschiedliche Kaufhäuser als Erhebungsorte aus, die in ihrem Rang und Status deutlich divergieren: ein Kaufhaus in der Fifth Avenue mit hohem Prestige, ein hinsichtlich Preis und Prestige in der Mitte gelegenes sowie ein billiges Kaufhaus, nicht weit von der Lower East Side. Labov trat nun an Angestellte in der Rolle eines Kunden heran und fragte sie nach einer Abteilung im vierten Stock. Die Antwort lautete normalerweise: ‚Fourth floor‘. Labov fragte dann noch einmal nach und erhielt gewöhnlich eine zweite, emphatische Äußerung ‚Fourth floor!‘. Anschließend notierte er die sprachliche Realisierung, verschiedene Daten zur Person und erfasste so folgende Merkmale: – Kaufhaus (entspricht sozialem Schichtmodell) – Stockwerk innerhalb des Kaufhauses – Geschlecht – Alter (geschätzt in Intervallen von fünf Jahren) – Tätigkeit (Verkäufer, Kassierer, etc.) – Hautfarbe – Akzent
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Neben den so ermittelten unabhängigen, außersprachlichen Variablen erhielt Labov den Gebrauch des [r] in vier verschiedenen Positionen: – präkonsonantisch – auslautend – informell (zwanglos gesprochen) – formell (emphatisch gesprochen). In sechseinhalb Stunden ‚interviewte‘ Labov auf diese Weise 264 Personen. Anschließend wurden die Sprachdaten statistisch ausgewertet. So konnte Labov u. a. zeigen, dass „die Gruppe mit dem höchsten Status eine negative Korrelation von (r-1) [= r-Realisierung gegenüber vokalischer Realisierung/Tilgung, P.S.] mit dem Alter zeigt: Jüngere Sprecher gebrauchen mehr (r-1); die Gruppe mit dem zweithöchsten Status zeigt geringere Werte für (r) und eine positive Korrelation mit dem Alter; die Arbeiterschicht schließlich zeigt noch niedrigere Werte und keine spezifische Korrelation mit dem Alter.“ (Labov 1976, 17)
3.4.2 Teilnehmende Beobachtung, Interviews und soziale Netzwerke An die Methode der teilnehmenden Beobachtung/Gruppeninterviews verbunden mit dem Konzept des sozialen Netzwerkes als Basis für die Struktur von Gruppen, hat Labov (1972) in seiner berühmten und bahnbrechenden Untersuchung zum Black English Vernacular in jugendlichen Kleingruppen (Peergroups) angeknüpft. Labov geht es um die Frage, welche Jugendlichen im New Yorker Ghetto der Schwarzen, in Harlem, konsistente Sprecher des Black English Vernacular (BEV) sind und welche Beziehungsstrukturen zwischen Jugendlichen dabei eine Rolle spielen. Labov untersuchte hierfür das Sprachverhalten verschiedener Peergroups und deren Interaktionsnetze, die er soziometrisch erfasste und in Soziogrammen darstellte (s. Abb. 2). Die teilnehmende Beobachtung ist die Form der Beobachtung, bei der der Forscher (= Beobachter) das Sprachverhalten von Personen in natürlichen Kontexten beobachtet, indem er an Aktivitäten der Personen teilnimmt, möglichst ohne diese Aktivitäten zu stören. Die Methode der teilnehmenden Beobachtung kommt aus der Ethnologie und wurde zunächst bei ethnolinguistischen Untersuchungen angewandt, später über die Soziologie auch in soziolinguistischen Untersuchungen, hier insbesondere im Paradigma der Ethnographie des Sprechens (Bauman/Sherzer 1974). Sie ist besonders geeignet, um 1. möglichst natürliches und 2. schwer zugängliches Sprachmaterial zu erhalten. Labov charakterisiert seine methodische Vorgehensweise wie folgt: „Our model was one that we continued to use throughout our work with peer groups: individual interviews with leading members of the group, followed by a series of group outings and group sessions […]. The setting was essentially that of a party rather than an interview, with card games, eating and drinking, singing and sounding“ (Labov, 1972, xviii–xix). Auf diese Weise ,interviewte‘ das Team um
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Labov nahezu 100 Personen über einen längeren Zeitraum als Basis für quantitative Analysen und Diskursanalysen. Lesley 10
S Larry Billy 9
10 Del
10 Curtis
Gary 10
David 11 Money 11
S Rickey 10
Boot 12
Robbie 11 Roger 13
Junior 13 S Alvin 13
S Larry 12
Calvin 12
Abb. 2: Hang-out pattern der Thunderbirds (Labov 1972, 262)
3.5 Textbasierte Erhebungsmethoden Das Zusammenstellen von Texten in Bezug auf linguistische Fragestellungen und Analysen hat eine lange Tradition und hat an Bedeutung in den letzten Jahren im Rahmen der Korpuslinguistik (Lemnitzer/Zinsmeister 2006) erheblich gewonnen. Insbesondere durch die digitale Aufbereitung von Daten der geschriebenen und gesprochenen Sprache – s. beispielhaft die Korpora am IdS (http://www1.ids-mannheim.de/onlineangebote.html) – können große Datenmengen analysiert werden. Im Hinblick auf soziale Gruppen ist dies allerdings nur dann möglich, wenn entsprechende Metadaten (z. B. Geschlecht oder Berufsgruppenzugehörigkeit) vorliegen. In einem solchen Falle können linguistische Variablen mit entsprechenden Parametern korreliert werden. Die Datenerhebung verläuft letztlich analog zu klassischen soziolinguistischen Erhebungsmethoden labovscher Prägung (s. o.). In den digitalen Kommunikationsnetzen haben sich in jüngster Zeit Perspektiven eröffnet, soziale Gruppen und Netzwerke hinsichtlich kommunikativer und linguistischer Strukturen empirisch und methodisch in neuer Qualität zu analysieren. Gegenüber einem starren Datenkonzept, in dem linguistische Parameter zu einem Zeitpunkt ti erhoben und mit unabhängigen Variablen, die praktisch ein festes, rigides, Strukturkonzept bilden (z. B. Altersgruppe), korreliert werden, stehen relati-
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onale Konzepte, die zudem hochdimensional sind, wenn es um z. B. internetbasierte Kommunikation geht. Diese grundlegende Bedeutung kann am Konzept der Nachbarschaft verdeutlicht werden. Gegeben sei als Ausgangspunkt Person A und seine unmittelbaren Nachbarn B1, …, Bn. Betrachten wir B in einem Hochhaus wohnend, so hat er maximal sechs unmittelbare Nachbarn, entlang der drei Raumdimensionen jeweils zwei Nachbarn, einen über, einen unter sich usw. Gehen wir von 3 Milliarden Menschen aus, die direkt Zugang zum Netz haben, so lebt A aus der Perspektive des Netzes in einem 1,5-Milliarden-dimensionalen Raum und jeder ist unmittelbarer Nachbar von A. Generalisiert: Jeder Einzelne im Netz ist unmittelbarer Nachbar jedes Andern. Je höher-dimensional der Raum ist, desto größer sind die Wahlmöglichkeiten im Hinblick auf den unmittelbaren Nachbarn. Und genau diese Erhöhung der Wahlmöglichkeiten macht die Dynamik der Gruppenbildungen im Netz aus, allerdings gebrochen durch Gruppenbildungen außerhalb des Netzes.
3.5.1 Gruppenbildung und digitale Kommunikationsnetze Für netzbasierte, digital-virtuelle Gruppen ist unter dem Aspekt einer gewissen Gruppenstabilität grundlegend, dass die Mitglieder einer Gruppe „über längere Zeit in einem relativ kontinuierlichen Kommunikations- und Interaktionsprozess stehen und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit (Wir-Gefühl) entwickeln“ (Schäfers 1999, 20). Demgegenüber stehen ,flüchtige‘ Gruppen, die sich flashmobartig bilden. So gibt es in der Chatkommunikation freie, unverbindliche Kommunikationskonstellationen, flüchtige, themenbezogene Ad-hoc-Gruppenbildungen bis hin zu festen, über rekurrente Interaktionen und über das Wir- Gefühl konstituierte soziale Gruppenbildungen (vgl. Lehnhardt 2002). In Kontrast zu Real-Life-Interaktions- und -Kommunikationskontakten beruhen Kommunikationsformen in virtuellen Gruppen auf computervermittelten Netzwerkstrukturen. Klassisches Beispiel sind Newsgroups, neuere Entwicklungen stellen Social Networks wie Facebook, Tumblr oder Twitter mit ihren zahlreichen Gruppenbildungen dar. Twitter ist ein typisches kontobasiertes Social Network, in dem Mitteilungen von Nutzern veröffentlicht werden, die auf 140 Zeichen beschränkt sind (im Einzelnen Siever/Schlobinski 2013). Eine wichtige Funktion ist das Verschlagworten von Inhalten, für das so genannte ,Hashtags‘ (#) eingesetzt werden. Hierdurch werden themenbezogen und somit merkmalsbasiert Gruppenprozesse in Gang gesetzt, die extrem flüchtig sein oder aber zu einer relativen Stabilität führen können. Und Twitter ist hochgradig interaktiv. Durch die Echtzeitverarbeitung ist es möglich, relativ schnell auf Tweets zu reagieren (quasisynchron), was dialogartige Turns ermöglicht. Ein beliebtes Verfahren ist die ,Weiterleitung‘ von Tweets, die dann ,Retweets‘ (RT) genannt werden. Twitter weist ein Abonnement-Modell auf. Tweets von Nutzern können abonniert werden, womit man einem Account ,folgen‘ kann (Follower-Funktion), umgekehrt wird auf einer Profilseite auch angezeigt, wie
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viele Abonnenten dem Accountinhaber folgen. Accountinhaber können Einzelpersonen oder eine Personengruppe sein. Netzstrukturen in kommunikativen Netzwerken können sich auf unterschiedliche Elemente beziehen. So können als Knoten im Netzwerk einer Newsgroup Interaktanden angesehen werden. Die Kanten können auf verschiedene Arten konstruiert werden. Es können zunächst alle möglichen Interaktanden als verbunden angesehen werden. Innerhalb einer Newsgroup ergibt sich dann ein voll verbundenes Netzwerk. Eine andere Möglichkeit ist es, die Kanten aus früheren Interaktionen zu gewinnen. Damit sind nur effektive oder bestätigte Interaktanden verbunden. Die Interaktionen können dabei sehr unterschiedlich markiert sein: z. B. durch References, @mentions bzw. Adressierungen oder Quotings. Das Kantengewicht kann davon abhängig gemacht werden, wie oft eine Interaktion stattfand, ebenso kann eine Interaktionsund entsprechend eine Kantenrichtung abgeleitet werden. Damit ergibt sich ein gewichtetes und gerichtetes Netzwerk. Dieses ist einerseits selbst von Interesse und kann in seiner Struktur analysiert und mit anderen sozialen Netzwerken (vgl. Knox 2006, Newman 2010) verglichen werden, andererseits dient es als Grundlage für eine dynamische Modellierung der sprachlichen Interaktionen. Adressierung und Korrespondenz sind nicht immer im Quelltext markiert, sondern es existieren die unterschiedlichsten sprachlichen Ausdrucksvarianten im Text selbst, die analysiert und für Netzwerkuntersuchungen fruchtbar gemacht werden müssen. Im Fall der BlogKommunikation können ganze Blogs als Knoten angesehen werden. Ihre Links zu anderen Blogs oder ihre Backlinks (Trackback) innerhalb der Blogosphäre könnten als Kanten analysiert werden. Ferner besteht eine Interaktionsstruktur zwischen dem Blog-Content und den dazugehörigen Kommentaren, die netzwerkartig vorliegen kann. Gegenüber klassischen Netzwerkanalysen liegen mit digitalen Netzwerken oft extrem komplexe Netzwerke vor, sodass für die Analysen große Informationsmengen verarbeitet werden müssen (Stichwort: Big-Data-Analyse). Auf der anderen Seite stehen leistungsfähige Rechenkapazitäten und Analysetools sowie ein relativ leichter Zugang zu relationalen Informationen. Mit mathematisch-statistischen Verfahren lassen sich entsprechende Analysen durchführen, wobei in zunehmendem Maße die grafische Darstellung eine große Rolle spielt, wenn auch damit ein Informationsverlust verbunden ist (vgl. Stegbauer 2010, 215 ff.). Für linguistische Analysen ist von einem linguistischen Suchalgorithmus (WordIn-Net-Search) auszugehen zur Analyse von Datenkorpora, die interne Vernetzungsstrukturen aufweisen. Für linguistische Zwecke muss das Tool in der Lage sein, (1) linguistische Formen in einer Netzwerkstruktur zum Ursprung zurückzuverfolgen, wobei (2) die Pfade skalierbar sein sollen, (3) linguistische Formen in einer Netzwerkstruktur zeitlich abzubilden, (4) linguistische Formen in Abhängigkeit voneinander in Netzwerkstrukturen abzubilden, (5) linguistische Formen in Abhängigkeit von anderen Parametern (User, Gruppen, Metadaten) und (6) Einschränkungen auf spezifische Parameter wie Sprache, Domäne etc. festzulegen. Damit wäre ein solches Tool
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einfachen Analysetools zur Visualisierung von Netzwerken (vgl. gephi, https://gephi. org/) für linguistische Analysen weit überlegen.
3.6 Quantitativ – qualitativ Am Anfang einer jeden Untersuchung steht ein qualitativer Schritt (vgl. auch die Einleitung). Andererseits gibt es auch eine verborgene Quantitativität in den qualitativen Methoden. Die Interpretation einer Textpassage, einer narrativen Sequenz ist insofern quantifiziert, als sie die Interpretation einer und nicht zweier oder dreier Passagen ist. „Genauso, wie die quantitative Analyse verschiedenen Qualitäten (oder Kategorien) relative Häufigkeiten zuweist, genauso enthält die qualitative Analyse quantitative Feststellungen in grober Form. Das kann mehr oder weniger explizit sein; nichtsdestoweniger handelt es sich um Häufigkeitsfeststellungen des Vorkommens allgemeiner Kategorien“ (Berelson 1971, 116). Daraus folgt: Die Belegdichte, mit der eine wissenschaftliche Argumentation gestützt wird, ist immer relevant und zu begründen. Es mag durchaus sein, dass ein Beleg ausreicht, eine relevante qualitative Analyse durchzuführen, es kann aber auch durchaus anders sein, und zwar insbesondere dann, wenn die Variation besonders stark ist. Hier gilt folgende Faustregel: Je komplexer und variationsreicher ein sprachliches Phänomen ist, desto mehr Faktoren sind zu erwarten, die die Variation steuern, und desto mehr Belege werden benötigt, um das Phänomen angemessen zu beschreiben und zu erklären. Quantitative und qualitative Methoden sind nicht konträre Methoden, sondern können und sollten komplementär in Abhängigkeit von der jeweiligen Fragestellung angewandt werden. Sinnvoll ist es, die Vielfalt der methodischen Ansätze für spezifische Fragestellungen pragmatisch zu nutzen; nicht Methodendogmatik ist gefragt, sondern Methodenpluralität. Entscheidend bei der Wahl der Methode ist, ob die gewählte Methodik geeignet ist, auf die gestellte Frage eine angemessene Antwort zu finden.
4 Literatur Auwärter, Manfred (1982): Sprachgebrauch in Abhängigkeit von Merkmalen der Sprecher und der Sprechsituation. Eine soziolinguistische Untersuchung. Berlin. Bauman, Joel/Richard Sherzer (Hg.) (1974): Explorations in the Ethnography of Speaking. Cambridge. Berelson, Bernhard (1971): Content Analysis in Communication Research. New York. 1952 Dittmar, Norbert et al. (1990): Die Erlernung modaler Konzepte des Deutschen durch erwachsene polnische Migranten. Eine empirische Längsschnittstudie. In: Info DaF 17-2, 125–172. Ehlich, Konrad (1982): ‚Quantitativ‘ oder ,qualitativ‘? Bemerkungen zur Methodologiediskussion in der Diskursanalyse. In: Karl Köhle/Hans-Heinrich Raspe (Hg.): Das Gespräch während der ärztlichen Visite. München, 298–312.
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Barbara Frank-Job u. a. (Hg.) (2013): Die Dynamik sozialer und sprachlicher Netzwerke. Konzepte, Methoden und empirische Untersuchungen an Beispielen des WWW. Wiesbaden. Giles, Howard/Ellen B. Ryan (1982): Prolegomena for developing a social psychological theory of languages attitudes. In: Ellen B. Ryan/Howard Giles (Hg.): Attitudes Towards Language Variation. London, 208–223. Henne, Helmut (1986): Jugend und ihre Sprache. Darstellung, Materialien, Kritik. Berlin. Kerlinger, Fred N. (1970): Foundations of Behavioral Research. London. Knox, Hannah/Mike Savage/Penny Harvey (2006). Social networks and the study of relations: Networks as method, metaphor and form. In: Economy and Society 35, 113–140. Labov, William (1966): The Social Stratification of English in New York City. Washington, D. C. Labov, William (1972): Sociolinguistic Patterns. Pennsylvania. Labov, William (1976): Sprache im sozialen Kontext. Band 1. Königstein/Taunus. Labov, William (1980): Sprache im sozialen Kontext. Eine Auswahl von Aufsätzen. Königstein/ Taunus. Lemnitzer, Lothar/Heike Zinsmeister (2006): Korpuslinguistik: Eine Einführung. Tübingen. Marx, Konstanze/Georg Weidacher (2014): Internetlinguistik. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. Tübingen. Newman, Mark (2010): Networks. New York. Osgood, Charles E./George J. Suci/Percy H. Tannenbaum (1957): The Measurement of Meaning. Urban, III. Schäfers, Bernhard (Hg.) (1999): Einführung in die Gruppensoziologie. Geschichte, Theorien, Analysen. Wiesbaden. Schlobinski, Peter (1987): Stadtsprache Berlin. Eine soziolinguistische Untersuchung. Berlin. Schlobinski, Peter (1996): Empirische Sprachwissenschaft. Opladen. Schlobinski, Peter/Gaby Kohl/Irmgardt Ludewigt (1993): Jugendsprache. Fiktion und Wirklichkeit. Opladen. Schlobinski, Peter/Torsten Siever (Hg.) (2013): Microblogs global: Eine internationale Studie zu Twitter & Co. aus der Perspektive von zehn Sprachen und Ländern. Frankfurt a. M. Stegbauer, Christian (Hg.) (2010): Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie. Ein neues Paradigma in den Sozialwissenschaften. Heidelberg.
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4. Datenerhebung qualitativ. Mit einem Ausblick auf Beschreibungsverfahren Abstract: Die Dokumentation von Beobachtungen anonymer oder teilnehmender Art sowie dialogischer Interviewdaten durch Protokolle, Audio- und Videoaufzeichnungen stellen hohe Anforderungen an die zentralen Aufgaben der qualitativen Forschung, das interaktive, soziale und sprachliche Geschehen in Gruppen (von Individuen im dynamischen interaktiven Gesamtprozess) natürlich und authentisch in verschiedenen sozialen Kontexten angemessen und objektiv interpretiert darzustellen. Das Ziel, natürliche Daten in lebensweltlichen Kontexten zu dokumentieren, ist mehr oder weniger durch Fremdeinwirkung (der Forscher als Eindringling in eine soziale Lebenswelt) oder durch Beobachtungsnebenwirkungen (technische Geräte, Verhalten eines Außenseiters) eingeschränkt. Anhand vorliegender Studien sollen die Möglichkeiten vorgeführt werden, das Beobachterparadoxon (Labov 1970) in der diskursspezifischen Datenerhebung zugunsten der Natürlichkeit der Interaktion zu überwinden. Die Einbettung der vorzustellenden empirischen Untersuchungen in die Paradigmen der Ethnomethodologie, der Ethnographie, der gruppendokumentarischen Methode und der interaktiven Gesprächsforschung stellt das theoretische Dach der Verfahren dar. 1 Datenerhebung im qualitativen Paradigma 2 Typen von Gruppen 3 Typen der Erhebung 4 Qualitative Beschreibungsverfahren: Eine minimalistische Übersicht 5 Literatur
1 Datenerhebung im qualitativen Paradigma Ein wahres Füllhorn an Begriffsbestimmungen tut sich Forschern auf, die nach einer eindeutigen Definition qualitativer Forschung suchen. Nach Kallmeyer „(bezeichnet) der Begriff qualitativ verstehend rekonstruierende, von der Beobachtung der Gegenstände angeleitete und auf die Typik der Gegenstände und nicht auf statistisch abgesicherte Repräsentativität ausgerichtete Verfahren…“ (Kallmeyer 2005, 978). Diese stehen „insofern in Opposition zu quantitativ messenden, nomothetisch ableitenden und experimentell überprüfenden Forschungsverfahren“ (a. a. O., vgl. auch die Artikel 109 Experiment und 110 Tests in Ammon, Dittmar et al. 2005). Beide Verfahrenstypen streben nach Generalisierungen: die quantitative Methodologie mithilfe standardisierter Verfahren, die qualitative unter Rückgriff auf Vergleiche von Fallstudien, DOI 10.1515/9783110296136-004
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die natürliches und authentisches Verhalten in lebensweltlichen Kontexten nach Gesichtspunkten der Angemessenheit auf nichtstandardisierte Weise erheben (vgl. Oswald 2013, 187). Kennzeichnend für nichtstandardisierte Methoden ist das Ziel, kommunikatives Verhalten in sozialen Lebenswelten (hier: Gruppen) in ihren natürlichen und authentischen Erscheinungsformen tels quels zu dokumentieren (vgl. Bergmann 1994), d. h. Daten sollen in unterschiedlichen sozialen Kontexten unter Bedingungen der geringst möglichen Außen- oder Fremdeinwirkung (z. B. durch die Autorität des Forschers) gewonnen werden. Andererseits sollen Daten nach wissenschaftlichen Prinzipien systematisch erhoben werden. Diesen der qualitativen Datenerhebung inhärenten Widerspruch hat Labov das Beobachterparadoxon genannt (Labov 1972a, 61 f.). In den letzten 25 Jahren sind zahlreiche Monographien und Handbücher zu Qualitativer Forschung in den Sozial-, Geistes- und Erziehungswissenschaften erschienen (siehe Schwartz & Jacobs 1979; Flick et al. 2000; Kallmeyer 2005 für einen methodischen und bibliographischen Überblick). Zentrale Begriffe wie Fallstudien, Validitätsprüfung durch Vergleich, Triangulation, Längsschnittbeobachtungen unter Berücksichtigung verschiedener, sich gegenseitig ergänzender Erhebungsverfahren, Präferenz natürlicher Erhebungsszenarien, interkulturelle und interethnische Vergleiche (u. a.) reflektieren Kernkonzepte in den Verhaltenswissenschaften. Im Bereich der soziolinguistischen Forschungen werden ganz überwiegend Modelle und Methoden der Ethnographie und der ethnomethodologisch orientierten Gesprächsforschung angewandt (s. u. a. Duranti 1997, Saville-Troike 2003, Erickson 2005). Ein bedeutender Grund für die Anwendung dieser Methoden liegt darin, dass sie eine detaillierte und valide Methodologie für sprachspezifische Erhebungsinstrumente entwickelt haben. Die konzeptuellen Grundannahmen qualitativer Forschung werden in Kallmeyer (2005, 979) angeführt. Hervorgehoben seien die folgenden: (a) Gegenstandsangemessenheit: Die wissenschaftlichen Methoden müssen dem Gegenstand (Fragestellung) angemessen sein; (b) Soziale Realität: Sie wird von den Gesellschaftsmitgliedern konstituiert; das Prinzip der qualitativen Forschung wird daher auch als methodisch kontrolliertes Fremdverstehen bezeichnet. (c) Untersuchung der kommunikativ konstituierten sozialen Wirklichkeit: Die routinierten alltäglichen Methoden („Praktiken“) der Gesellschaftsmitglieder soziale Wirklichkeit herzustellen stellen die Basis für die anzuwendenden wissenschaftlichen Methoden dar; (d) Gütekriterien: Gegenstandsangemessenheit (Beobachtung von Verhalten in natürlichen unstrukturierten Kontexten) ist das wichtigste Validitätskriterium; (e) Generalisierbarkeit der Ergebnisse: „Im Bereich qualitativer Forschungsstrategien geschieht die Sicherung von Allgemeinheit durch rekonstruktive Verfahren. Medium ist dabei die Kommunikation auf der Grundlage abstrahierender Typenbildung“ (Kudera, Arbeitspapier 12, Sonderforschungsbereich 333, zit. nach Kallmeyer 2005, 980); (f) humanistischer Ansatz: Die Forschung greift nicht in lebensweltliche Bedingungsgefüge ein, sie muss Handlungsrelevanz berücksichtigen und sollte einen Praxisbezug zur Gesellschaft haben (ethische Gesichtspunkte).
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Die soziolinguistische Erforschung des sozialen und Kommunikationsverhaltens in Gruppen stellt einen Kernbereich qualitativer Forschung dar. Wir fassen darunter im engeren Sinne den Ansatz der Ethnomethodologie (Arbeitsgruppen Bielefelder Soziologen 1973, Bergmann 1994) und der Ethnographie der Kommunikation (siehe für einen ausführlichen Überblick Duranti 1997, Saville-Troike 2003, Erickson 2005 und Copland/Creese 2015). Aufgrund ihrer langen Tradition (Hymes 1962) und ihrer zahlreichen Einzeluntersuchungen (z. B. Gumperz/ Hymes 1964), an die die überwiegende Anzahl empirischer Studien in der zweiten Hälfte des 20. Jhdt’s anknüpfen (z. B. die Arbeiten zum Kommunikationsverhalten von Schwarzen in amerikanischen Großstadtgettos), steht die Methodologie der ethnographischen Datenerhebung im Zentrum unserer Darstellung von Erhebungsmethoden. Statt mit repräsentativen Stichproben quantitativ zu arbeiten (vgl. Artikel II-1 in diesem Band) und Generalisierungen über zufällige Streuungen von großen Datenmengen zu generieren, strebt die ethnographische Forschung eine möglichst umfassende Typik der Sprachverhaltensweisen in einem breiten Spektrum von Situationen an und zielt auf eine Generalisierung der Befunde durch systematische Vergleiche ab. Das holistische Ideal der Ethnographie bezeichnet Erickson als einen „systematic attempt to describe and account analytically fort the whole way of life of the human group studied“ (2005,1199). Dieses Ideal werde eher nur in seltenen Fällen erreicht (Ausnahme: Heath 1983), da der Konflikt zwischen Breite (interaktive, situative Vielfalt) und Tiefe (Erfassung der sozialen und kommunikativen Kompetenz) in der Durchführung von Studien zu Kompromissen zwingt. Häufig, in Abhängigkeit von den zur Verfügung stehenden Mitteln, können nur einzelne Segmente des sozialen Lebens über einen längeren Zeitraum beobachtet werden (z. B. Gruppenaktivitäten von Jugendlichen, kommunikative Muster in Institutionen oder Vereinen). Der ethnographische Ansatz verfolgt zwei wesentliche Ziele: zum einen die soziale Bedeutung kommunikativer Muster von Gruppenmitgliedern in verschiedenen Situationen und Interaktionstypen zu dokumentieren und dies zum andern methodisch in der Perspektive der Handelnden („actors“) zu erfassen. Es wird davon ausgegangen, dass die Performanz von sozialen und kommunikativen Handlungen nicht allein durch Interviews erfasst werden kann. Ethnographische Schlüsselkonzepte sind (i) die Sprechsituation, (ii) das Sprechereignis, (iii) die Sprechaktivitäten, (iv) die Spielarten des Sprechens („ways of speaking“, Hymes 1962) und (v) die kommunikative Kompetenz (diese Begriffe werden erläutert in Auer 1999,187–198 und Erickson 2005,1201). Den jeweiligen Zielen ethnographischer Studien (siehe für Beispiele 3.1) müssen die Datenerhebungsinstrumente entsprechen. Sie sind angemessen, wenn sie genau jenes kommunikative und soziale Verhalten dokumentieren, das das typische, natürliche, authentische Verhalten der Gruppenmitglieder im Interaktionsprozess miteinander erfasst (inhaltliche Validität). Beobachtetes natürliches Verhalten wird über die Methode des kontrollierten Fremdverstehens (Bedeutungszuschreibungen aus der Perspektive der Handelnden) in Form von Typisierungen erfasst. Die Verlässlichkeit dieser Typisierungen kann durch die Triangulation überprüft
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werden (z. B. Vergleich der Beobachtungsergebnisse mit den introspektiven Antworten in Interviews, vgl. Erickson 2005,1205; Schründer-Lenzen 2013). Darüber hinaus wird eine Fallstudie, die ja eine qualitative und keine zufällige Informantenauswahl impliziert, durch Vergleiche mit Studien ähnlicher Gegenstandswahl validiert. Das Verfahren ist nicht verschieden von denen der modernen Spracherwerbsforschung. Die Phasen des kindlichen Spracherwerbs werden anhand von Einzelfällen typisiert, die Typisierungen werden dann miteinander verglichen. Daraus lassen sich allgemeingültige Erwerbsmuster ableiten (siehe für quersprachliche Vergleiche Slobin 1985–1997). Der interethnische und interkulturelle Vergleich geht auf die Anthropologie im 19. und 20. Jahrhundert zurück (vgl Duranti 1997). Erklärung durch Vergleich ist ein zentrales methodisches Prinzip der Ethnographie. Die qualitative ethnographische Datenerhebung besteht aus (i) der teilnehmenden Beobachtung, (ii) dem Interview und (iii) der Gruppendiskussion. Beobachtungen im Feld werden protokolliert, auf Tonband und/oder Video aufgezeichnet. Das in der Situation flüchtige verbale und nichtverbale Verhalten wird durch schriftliche Transkriptionen fixiert (Dittmar 2008, Copland/Creese 2015). Teilnehmende Beobachtung (eine aktive Rolle in einem bestimmten Typ von Aktivitäten mit anderen Teilnehmern einnehmen) führt über Protokolle, Audio- und Videoaufnahmen zu einer dichten Kette von situativen und interaktiven Verhaltensdokumenten, die die Basis dafür abgeben, kulturspezifische Regeln dafür zu formulieren. Der teilnehmende Beobachter forscht nach „Ethnokategorien“, d. h. nach solchen Kategorien, „die die Untersuchten selbst zur Interpretation kommunikativer Phänomene anwenden und die durch spezifische, von den Untersuchten regelmäßig benutzte Ausdrücke lexikalisiert sind“ (Deppermann/Schmidt 2001). In ihren Untersuchungen zu einer Gruppe Jugendlicher zwischen 15 und 17 Jahren haben Deppermann/Schmidt auch Tiefeninterviews mit den Mitgliedern der Peergroup durchgeführt. „Zusammen mit den Beobachtungsprotokollen und anderen ethnographischen Dokumenten erweiterten die Interviews das Wissen, das im Rahmen der Feldarbeit gewonnen wurde. Diese ethnographischen Kenntnisse bilden ein Hintergrundwissen, das sich als außerordentlich wichtig für die konversationsanalytische Auswertung der Gesprächsaufnahmen erwiesen hat.“ (a. a. O.) Interviews werden in Ergänzung zur teilnehmenden Beobachtung (TB) geführt, um die Evidenz aus den Beobachtungen zu bestätigen oder zu korrigieren. Es ist ein wichtiges Anliegen der Ethnographie, verschiedene Datenquellen im Feld zu nutzen, um die Evidenz der TB im Sinne der Validität einer Untersuchung zu bestätigen oder zu korrigieren. „This comparison of evidence across differing data is called triangulation“ (Erickson 1205). Relevante Beschreibungs- und Erklärungsdimensionen des Konzeptes Triangulation lotet Schründer-Lenzen (2013, 149–158) aus. Die Planung und Festlegung von Datenerhebungsmethoden hängt bei jedem Projekt von den Zielen der Forschung ab. Forschungsexterne Faktoren wie Zeit, Mitarbeiter, Sachmittel, Zwischen- und Abschlussberichte bestimmen die „äußeren“ Bedingungen des Forschungsprozesses. „Forschungsintern durchläuft jeder For-
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schungsprozess grob vier Hauptphasen, unabhängig davon, um welchen Typ von Forschung es sich handelt: (1) Problemfindung und präzise Formulierung des Forschungsproblems, (2) Planung und Vorbereitung der Erhebung ( … ) (3) Datenerhebung (4) Datenauswertung (Schlobinski 2005, 992) Friebertshäuser/Panagiotopoulou (2010, 306–7) setzen für die qualitative Forschung zehn Schritte an (Nummerierung von mir – ND): (i) Ein Forschungsthema wird formuliert, (ii) Theoretische Bezüge werden hergestellt, (iii)Methoden werden ausgewählt, (iv) Das Untersuchungsgebiet, die Untersuchungsgruppe wird ausgewählt, (v) Vorarbeiten werden geleistet, (vi) Die Feldforschung wird organisiert, (vii) Kontaktaufnahme und erste Orientierung im Feld, (viii) Die explorative Phase, (ix) Ein spezielles Problem wird untersucht, (x) Auswertung und Veröffentlichung.
Jeder dieser Schritte wird problembezogen kommentiert. Die jeweiligen Entscheidungen müssen mit den Grundannahmen qualitativer Forschung, wie sie Kallmeyer (2005, 279 f.) formuliert hat, übereinstimmen.
2 Typen von Gruppen „Viele Verständnisse des Begriffs ‚Gruppe‘ “ fasst Fisch (2004) in einem höchst informativen Aufsatz über „Gruppen“ in interdisziplinärer Perspektive zusammen. Er berücksichtigt u. a. die Größe, die emotionale Intensität in Interaktionen von Angesicht zu Angesicht („Primärgruppen“), das „wir“-Gefühl, die Kohäsion von Gruppen, auch die „Synergieeffekte“ („Teams“) . Neuland/Schlobinski (in diesem Band) bezeichnen die Gruppe als ein „soziales Aggregat“, das (oft an einem bestimmten Ort) in der Form eines „zufälligen Konglomerats (…), einer organisierten Zweckgemeinschaft (…) oder Interessengemeinschaft“ bestehen kann (S. X). Fisch (2005,424) differenziert verschiedene „Typen von Gruppen“. Langfristig und persönlich von Angesicht zu Angesicht interagierende miteinander vertraute Personen werden einer Primärgruppe, eher zweckgebundene Mitglieder einer Interessengemeinschaft einer Sekundärgruppe zugerechnet (a. a. O.). Die meisten und differenziertesten Untersuchungen – unter welchem disziplinären Dach auch immer – wurden zu Peergroups (Gruppen von Gleichaltrigen), durchgeführt. Motiv für die intensive Kleingruppenforschung in diesen drei Bereichen ist nach Schmidt (2004, 18 ff.) die Tatsache, dass „Kleingruppen (…) die menschlichen Grundbedürfnisse nach Nähe und Distanz aus(balancieren)“ (a. a. O.). Unter Rückgriff auf Durkheim, der die Gruppe als sinnstiftendes und handlungsorientierendes Aggregat ansah, hebt Schmidt hervor: „ Der Einzelne ist auf diese Weise nicht nur aus praktischen (eine Gruppe arbeitet effektiver
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als jeder alleine), sondern auch aus Gründen der psychischen Gesundheit auf Kleingruppen angewiesen“ (a. a. O.). Als wichtige Bezugsgruppen gelten aufgrund ihrer zentralen identitätsstiftenden Rolle die Familie, die Jugendgruppe, die Arbeitsgruppe und die Freizeitgruppe (Fisch 2004, 424). Berücksichtigen wir, dass Spontangruppen, Männer- und Frauengruppen, Arbeitsgemeinschaften, Teams, Vereine, Interessengruppen (u. a.) unter dem Dach des Gruppenbegriffs aufgeführt werden, kommen wir zu dem Schluss: „Menschen verfügen in aller Regel über multiple Klein- und Großgruppenzugehörigkeiten“ (Fisch 2004, 424). In einem grundlegenden Kapitel mit einem graphischen Modell hat Schmidt (2004, 17, 96) Eigenschaften und Typen von Gruppen nach einer ganzen Reihe von soziologischen, psychologischen und interaktionistischen Parametern beschrieben. Sein Modell (a. a. O. 30) erlaubt zu unterscheiden zwischen formell und informell, ad hoc und zweckgebunden, in einem szenischen oder in einem institutionellen, organisierten Rahmen interagierenden Mitgliedern von Gruppen zu unterscheiden. Den gesellschaftlichen Wandel von Vertrautheit miteinander zu mehr thematischen Gemeinsamkeiten in der modernen Gesellschaft aufgreifend haben Neuland/Schlobinski (in diesem Band) die von Schmidt mit „Delokalisierung“ verbundene Gruppenbezogenheit in „Szenen“ hervorgehoben. Zurecht weisen sie daraufhin, dass es über Facebook und Twitter Erlebnis-, Freizeit- und fanspezifische (große!) Gruppen in der modernen Gesellschaft gibt, die durch Liebhabereien, Begeisterung für bestimmte Gattungen der Kunst, Musik, des Sports (u. a.) miteinander verbunden sind, wobei hier nicht persönliche Vertrautheit miteinander, sondern Interessenverbundenheit im Zentrum steht. Szenisch gebundene Gruppenkonstellationen liegen hier vor, oft vielleicht auch ein Ersatz für eine auf persönlicher Vertrautheit beruhende sekundäre oder tertiäre Gruppenidentität. Für mein Verständnis von Gruppe ist der Grad an Vertrautheit in Interaktionen von Angesicht zu Angesicht grundlegend. Der Grad der Bindung von Mitgliedern an eine Gruppe hängt sicher erheblich von ihrer Größe ab. Ihre Einbindung in Szenen und Szenarien (‚Masse‘) ist eher erlebnismotiviert, m. E. für die Langzeitverhältnisse von Individuen in Gruppen untereinander von untergeordneter Bedeutung. Neuere soziolinguistische Untersuchungen zum kommunikativen Verhalten von Mitgliedern in Gruppen beziehen sich u. a. auf Vereine (z. B. Fußballmannschaft), Freizeitaktivitäten (Literaturclub, künstlerische Interessengemeinschaften, organisierte Treffen jugendlicher Peergroups), Ferienlager, Freundschaftsgruppen. In allen Fällen handelt es sich um Kleingruppen, die beobachtet wurden. Im Rahmen der soziolinguistischen Forschung liegen Anleitungen zur Durchführung von qualitativer Feldforschung (Präsentation von Modell- und Problemfällen) nicht vor. Lueger (2000) arbeitet aus soziologischer Perspektive die Grundlagen der Feldforschung auf (Was bedeuten Interpretation und Rekonstruktion? Was sind Gütekriterien für gute Beobachtungen? Etc.). Dagegen versteht sich Girtler (1984) als eine „Anleitung zur Feldarbeit“. Erhebungspraktische Fragen, ethische Probleme, Lösungen für Rollenkonflikte, Falldiskussionen, Modellbeispiele werden umsichtig und sorgfältig für die
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Bereiche teilnehmende Beobachtung und Interview diskutiert. Im Übrigen sei auf die vielen Einzelstudien verwiesen (z. B. Schmidt (2004), der der Durchführung von Feldarbeit viel Platz widmet).
3 Typen der Datenerhebung Umfassende interdisziplinäre Darstellungen verschiedener qualitativer Projekte zum Thema Sprachverhalten in Gruppen finden sich in Fisch (2004), Kallmeyer (2005), Schmidt (2004) und in dem Teil I des vorliegenden Handbuchs (cf. Stegbauer, Neuland/Schlobinski sowie Hitzler). Copland/Creese (2015, 59–170) haben eine aktuelle, anwendungsorientierte Methodenlehre der ethnographischen Forschung vorgelegt, in deren Zentrum vier ausführlich dargestellte Fallstudien stehen. Diese britischen Studien führen die Arbeitsschritte exemplarisch vom Ziel über die methodischen Instrumente bis zur Analyse und den daraus resultierenden Ergebnissen vor. Die Darstellung ist eine reiche Quelle für ein breites Spektrum methodischer Entscheidungen: the four case studies accounts and the accompanying chapters surrounding them present the linguistic ethnographer as a decision-maker, agentive in shaping possibilities, relationships and outcomes (Copland/Creese 2015, 9)
Folgende soziolinguistische Methoden stehen im Vordergrund: (a) teilnehmende Beobachtung, (b) anonyme Beobachtung, (c) Interviews, (d) soziale Netzwerke, (e) online-Netzwerke und (f) Gruppendiskussionsverfahren. Nach Saville-Troike ist es nicht möglich, eine allgemeine beste Datenerhebungsmethode zu definieren: There is no single best method of collecting information on the patterns of language use within a speech community. Appropriate procedures depend on the relationship of the ethnographer and the speech community, the type of data being collected, and the particular situation in which fieldwork is being conducted (…) Ethnographers should thus command a repertoire of field methods from which to select according to the occasion (Saville-Troike 2003, 95).
Alle Datenerhebungsverfahren suchen eine angemessene Lösung für jene Probleme zu finden, die die Erhebung natürlichen Kommunikationsverhaltens beeinträchtigen. In erster Linie muss das Beobachterparadoxon überwunden werden, das nach Labov (1972a, 61 f.) darin besteht, dass der Sprachgebrauch von Sprechern in seinen natürlichsten Erscheinungsformen dokumentiert werden soll (d. h. ohne Fremdeinwirkung von außen), dies jedoch nur durch systematische Beobachtung möglich ist. Denn: das Wissen um eine elektronische Aufzeichnung des Verhaltens kann Sprecher in unkontrollierbarer Weise zu verschiedenen Abweichungen von ihrem authentischen Verhalten veranlassen. Qualitative, insbesondere ethnographische, Methoden zielen darauf ab, das Sprach- und Kommunikationsverhalten möglichst umfassend in unter-
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schiedlichen Situationen unter den verschiedensten Interaktionsbedingungen aufzuzeichnen, um Rückschlüsse auf die zugrunde liegende soziale und kommunikative Kompetenz von Interaktanten ziehen zu können. Was schadet der natürlichen Datenaufnahme, was nützt ihr? (a) Der Zugang zu Gruppen ist von grundlegender Bedeutung. Das Forschungsinteresse muss z:B. akzeptabel formuliert werden. Bei der ersten Erhebung zum Erwerb des Deutschen durch Migranten führten sich die Feldforscher so ein: „Wir sind gekommen, euren sozialen Alltag besser kennen zu lernen, um daraus zu lernen, wie eure Situation verbessert werden kann“ (HPD 1975). Eine positive Motivation (z. B. Helfenwollen) erleichtert den Zugang zu den Informanten. (b) Die sozialen und ethnischen Charakteristika der Feldforscher wie z. B. Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit sollten mit denen der zu beobachtenden Gruppenmitglieder kompatibel sein: Frauen eignen sich mehr für Mädchengruppen (vgl. Keim 2008, Spreckels 2006), schwarze Feldforscher sind für die Beobachtung von schwarzen Peergroups weißen vorzuziehen (vgl. Labov 1972b), junge teilnehmende Beobachter fügen sich besser in Jugendlichengruppen ein (vgl. Bahlo 2010, Deppermann/Schmidt 2001). (c) Symmetrie vs. Asymmetrie in der Erhebungssituation. Führt man sich bei Dialekterhebungen als akademischer Professor ein, führt das dazu, dass Informanten als möglichst gebildet eingeschätzt werden wollen und Standard sprechen (Informanten richten die Wahl ihrer in/formellen Varietät nach dem sozialen Prestige des Feldforschers aus, vgl. Labov 1972 a, 208 f.). (d) Ethische Erfordernisse. Die Identität der Informanten muss geschützt werden – in welchem Ausmaß ist mit den Informanten einvernehmlich zu klären. Persönliche Daten sollten in Veröffentlichungen anonymisiert sein. Gillian Sankoff und Mitarbeiter haben zu diesem Zwecke einen Vertrag mit den Informanten abgeschlossen, in dem Rechte und Pflichten der Informanten und Feldforscher festgelegt wurden. Labov (1972b) problematisierte die Tatsache, dass sich Forscher mit Projekten akademisch weiterqualifizieren, Informanten aber für ihre Mitarbeit leer ausgehen. Um den Informanten für ihre Mitarbeit an dem Heidelberger Projekt zur Kommunikation von Migranten zu danken, gaben die Soziolinguisten diesen kostenlos Privatunterricht in Deutsch als Fremdsprache – damit erwiesen sie diesen ihren Respekt. Andere Soziolinguisten veröffentlichten im Anschluss an die Feldarbeit aufklärende bzw. unterstützende Reportagen in Zeitungen, z. B. über Minderheitensprachen oder über die soziale Stigmatisierung von Sprechern aufgrund ihres Sprachgebrauchs. Ein ganzes Kapitel widmen Copland/Creese (2015, 176 ff.) der Ethik von Studien zum Schutz der Informanten. Sie legen Musteranträge bei Gemeinden und Institutionen vor, entwerfen Modellbriefe an gesellschaftliche Autoritäten und diskutieren Fälle, in denen besondere Schutzmaßnahmen in interkulturellen Kontexten getroffen werden müssen. Zu den ethischen Aufgaben des ethnographischen Forschers gehört für sie selbstverständlich die Umsetzung relevanter Forschungsergebnisse in die gesellschaftliche Praxis. Die Verbesserung der jeweils
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untersuchten sozialen Verhältnisse auf dem Hintergrund der relevanten Ergebnisse nennen sie den „impact“ der Studie: Impact is generally understood to mean a change to or an effect on an aspect of social life, such as the economy, culture, health, policy, professional practice, and so on, that has resulted from academic research (a. a. O. 187).
In Labovs umfassender soziolinguistischer Beschreibung des von Halbwüchsigen und Jugendlichen unter 18 Jahren gesprochenen Black English Vernacular (BEV) vertraute er zwei jungen schwarzen Feldforschern die TB von organisierten Peergroups an. In der Studie zu den drei Belfaster Vierteln Ballymacarett, Hammer und Clonard kam nur eine Frau für die Durchführung der Feldforschung in Frage: dies begründet Lesley Milroy (1987,44) mit dem gesellschaftspolitischen Kontext der Gewalt im Belfast der 70iger Jahre (Männer stellten ein Gewaltrisiko dar). Aus der Perspektive des qualitativen Forschungsparadigmas ist eine Kombination mit quantitativen Beschreibungsinstrumenten nicht ausgeschlossen (vgl. Oswald 2013). Soziolinguistische Daten können mithilfe ethnographischer Techniken erhoben, mit quantitativen korpuslinguistischen Methoden teilausgewertete werden (z. B. Eckert 2000). Als Modell qualitativer ethnographischer Feldforschung seien die von Labov durchgeführten umfassenden Studien zum Gebrauch des Black English Vernacular durch Peergroups in amerikanischen Großstädten der 60iger Jahre angeführt (Labov 1972b), die Labov auch korpuslinguistisch und quantitativ (u. a.) ausgewertet hat. Ziel war es, das situations- und kontextspezifische stilistische Repertoire des Nonstandardenglischen (Black English Vernacular, BEV) herauszufinden, dessen eigenständige und subkulturelle Regeln, vornehmlich in Gettos im Gebrauch, nicht bekannt waren. Peergroups, 14 bis 16 jährige halbwüchsige schwarze Jugendliche, wurden mithilfe teilnehmender Beobachter (zwei schwarze junge Männer, die Mitglieder der Gruppen waren) zum Beispiel in ihrem verbalen und nichtverbalen Verhalten bei unterschiedlichen Gruppenaktivitäten (Parties mit Essen und Trinken, Spielrunden, spielerische Wettbewerbe, Ausflüge in einem VW Bus, Szenen mit Lachen und Streiten) per Audio und Beobachtungsberichte (Protokolle) dokumentiert. Die gesammelten Datensätze stellen Megakorpora dar. Die unterschiedlichen Anlässe der Gruppenaktivitäten repräsentieren ein breites stilistisches Spektrum im BEV, ein Repertoire an kontextspezifischen Stilen. Labov wendete hier die Verfahren der teilnehmenden Beobachtung an und kombinierte diese Daten mit Interviews. In den Gruppensitzungen hatte jeder Sprecher ein Lavalière Mikrofon um den Hals, sodass die Beiträge individuell auf je einem Track separat gespeichert werden konnten. Diese Tonwiedergaben konnten mit den Daten aus den Interviews zusammengeführt werden. Somit konnte von jedem einzelnen die kommunikative Kompetenz für sich als auch im Zusammenspiel mit den anderen Gruppenmitgliedern dokumentiert werden. Der Abgleich von Datenmengen, die in unterschiedlichen Kontexten vom gleichen Individuum erhoben wurden (im Rahmen der Interaktionsdynamik mit
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anderen Gruppenmitgliedern, Interview, Beobachtungsprotokolle) garantiert eine präzise, umfassende, zuverlässige soziolinguistische Diagnose des natürlichen kommunikativen Verhaltens. Sie macht die Validität (Güte) der Erhebung aus. Sie schließt die Triangulation der Daten ein. Die Validität der Sprachdatenerhebung ist darüber hinaus noch stärker, wenn andere Studien die gefundenen kommunikativen Muster bestätigen. Diese empirische Konvergenz liegt für die Labovschen Studien vor. Außerdem ist es bemerkenswert (quersprachlicher Vergleich), dass Schmidt (2004) für die von ihm dokumentierten Jugendlichen in Frankfurt ähnliche kommunikative Muster im spielerischen Wettstreiten gefunden hat wie Labov.
3.1 Teilnehmende Beobachtung In der qualitativ orientierten (ethnographischen) Soziolinguistik hat sich als angemessenste Methode die teilnehmende Beobachtung durchgesetzt. Häufig werden (triangulationsspezifisch) die interaktions- und aktivitätsbezogenen Beobachtungen durch sogenannte Tiefeninterviews ergänzt, die gezielt auf vertiefende persönliche Hintergrundinformationen abzielen, d. h. die sinnkonstitutiven Introspektionen (s. Saville-Troike 2003, 96) der Informanten komplementär erfassen (siehe 3.3). Herausforderung und Desiderat, am Leben anderer teilzunehmen, um gruppeninternes Wissen und Handeln sowohl selbst zu verstehen als auch der Gesellschaft verständlich zu machen, kennen wir bereits aus der Literatur. 1903 lebte Jack London mit Pennern aus den Londoner Parks zusammen, um am eigenen Leibe zu erfahren, was es bedeutet, Asozialer zu sein und um 22h00 aus den öffentlichen Parks ausgeschlossen zu werden. Die Beobachtungen in Die Menschen des Abgrunds (1903) (Reportage über die Londoner Slums) haben viele Berührungspunkte mit ethnographischen Prinzipien. Der Roman Ganz unten ist von dem in der deutschsprachigen Öffentlichkeit bekannten Schriftsteller Günter Wallraff (1985), der zwei Jahre lang (ab 1983) als türkischer Gastarbeiter Ali Levent Sinirlioğlu bei McDonald und Thyssen arbeitete. Er entdeckte über die teilnehmende Beobachtung zahlreiche Verstöße gegen Gesetz, Betriebsordnung und Betriebsführungsregeln. Immerhin ist es das erfolgreichste deutsche Sachbuch und wurde über 5 Millionen mal verkauft. Die Methode der TB wird hier in kritischer Perspektive genutzt. Wir würden mal demgegenüber der akademischen Forschung die wissenschaftliche Neutralität zugutehalten. Silverstein (1979) hat jedoch gerade in den letzten Jahren einen ideologiekritischen Blick auf ethnographische Forschungen geworfen, indem er in kreativer Erweiterung der Jakobsonschen Funktionsanalyse einen Ansatz konzipiert hat, der ideologische Aspekte ethnographischen Forschens in die Methodik integriert. Aus dieser Diskussion ziehen viele Ethnographen den Schluss, dass es weniger wichtig ist, teilnehmende Beobachtungen objektiv-neutral zu halten als Zielvorgaben und Orientierungen / Hintergründe so offen und explizit wie möglich zu benennen.
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Teilnehmende Beobachtung (TB) ist ein grundlegendes und viel genutztes Erhebungsinstrument in der qualitativen Forschung. TB hat „die geplante Wahrnehmung des Verhaltens von Personen in ihrer natürlichen Umgebung durch einen Beobachter“ zum Ziel, „der an den Interaktionen teilnimmt und von den anderen Personen als Teil ihres Handlungsfeldes angesehen wird“ (Friedrichs 1973, 288). TB ist ein Instrument kontrollierten Fremdverstehens. Indem Forscher in die lebensweltlichen Alltagsroutinen von Gruppenmitgliedern im Rahmen bestimmter Interaktionstypen eingebunden und dabei dem Vollzug der geltenden Regeln und Normen ausgesetzt sind, können mittels Protokollen, Tonbandaufnahmen und Notizen zu einzelnen kommunikativen Ereignissen die verbalen und nicht-verbalen Beziehungsverhältnisse aufgedeckt und rekonstruiert werden. Die Handlungsmuster der Gruppenmitglieder sollen durch Teilnahme an den Aktivitäten der Gruppe erfasst werden. Die in der Beobachtung erschlossenen Werte und Normen, die sich in den Routinen und Handlungsmustern der Gruppenmitglieder manifestieren, werden in der Regel während oder nach der TB in Tiefeninterviews überprüft. Diese sollen in Form von Introspektion Daten zu den subjektiven Dimensionen der gemeinsam geteilten Werte und Normen liefern. Beide Methoden dienen der Triangulation und werden häufig komplementär genutzt (eine detaillierte Übersicht zu den Unterschieden dieser beiden Erhebungstechniken findet sich in HPD (1975, 47–48). Für das Gelingen der TB ist es entscheidend, dass Feldforscher eine angemessene, für die zu beobachtende Zielgruppe akzeptable soziale Rolle finden. Sie sollte hinreichend Nähe und Distanz zu den Gruppenmitgliedern aufweisen. Der Mitschnitt von Gruppenaktivitäten mit dem Tonband muss offen in der Gruppe angesprochen und akzeptiert werden. Feldforscher sollten möglichst zurückhaltend auftreten, Interesse und Wohlwollen gegenüber den Gruppenaktivitäten wirken sich aber meist positiv aus. Diese Gesichtspunkte werden in Lüdtke (2005, 1034) unter den Kategorien „Stellung“ und „Sichtbarkeit des Beobachters“ weiter differenziert. Saville-Troike weist auf die grundlegende Bedeutung des Fremdverstehens hin: The key to successful participant-observation is freeing oneself as much as humanly possible form the filter of one’s own cultural experience. This requires cultural relativism, knowledge about possible cultural differences, and sensitivity and objectivity in perceiving others (2003, 97).
Längsschnittbeobachtungen sind üblich. In einem bestimmten Zeitintervall wochen-, monate- oder sogar jahrelang Gruppenaktivitäten zu beobachten, ist meist die Voraussetzung, die Regeln der einschlägigen interaktiven Handlungsroutinen aufzudecken. Wenn sich nach einem bestimmten Beobachtungszeitraum Routinen und kommunikative Muster der Gruppenmitglieder wiederholen, kann die teilnehmende Beobachtung beendet werden (Datensättigung). Lüdtke (2005, 1034) unterscheidet „Einzelfallstudie – Mehrfällestudie, komparative Studie“. Als „Grundeinheit im Fokus des Beobachters“ bezeichnet Lüdtke (2005, 1041) die Situation, die mindestens
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neun Dimensionen umfasst, unter diesen insbesondere (a) der Raum, (b) die Aktoren (beteiligte Personen), (c) die Aktivität („Menge aufeinander bezogener Einzelhandlungen“), (d) die Handlung. Natürlich spielen auch „Zeit“, „Ziele“ des Handelns und „Gefühle“ eine Rolle. Unerlässlich ist die unmittelbare Kommentierung des Gruppengeschehens nach ihrem Ende. Dabei kann das Abhören der Tonbandaufnahmen genutzt werden, um Verstehensprozesse, Handlungsstrategien, soziale Rollen (u. a.) innerhalb des Gruppengeschehens in ihren sinnstiftenden Funktionen herauszuarbeiten. Jede TB hat ihre ganz spezifischen Kontext-, Rollen-, situativen und Teilnahmeprobleme, zu deren Lösung angemessene Bedingungen gefunden werden müssen. Wie solche Probleme in vorliegenden Untersuchungen gelöst wurden, soll im Folgenden exemplarisch gezeigt werden (vgl. auch die vier Fallstudien in Copland/Creese 2015). 1) Auswahl der Informanten und Umfang der Untersuchung Im Unterschied zu quantitativen Verfahren, die von der Zufallsauswahl (Stichprobe) ausgehen (vgl. Schlobinski in diesem Band), erfolgt die Auswahl der Informanten in qualitativer Forschung nach dem Prinzip der Angemessenheit. Für das gewählte Forschungsthema sollen die Informanten typisch, d. h. repräsentativ sein derart, dass sie die für die Studie wesentlichen Eigenschaften aufweisen. Jede Untersuchung hängt von den finanziellen Mitteln, dem Zeitraum, dem Zugang zu der Zielgruppe, den Mitarbeitern und den zur Verfügung stehenden technischen Hilfsmitteln ab. In der Ethnographie kommt es allerdings IMMER darauf an, je nach den Umständen, Situationen, Interaktionskonstellationen jene Hilfsmittel zu nutzen, die der natürlichen Dokumentation authentischen Verhaltens optimal entsprechen. Viele Studien widmen sich EINEM Segment des sozialen Lebens, z. B. einer wöchentlich stattfindenden Freizeitgruppe (z. B. eine Literaturgruppe, vgl. Schwitalla 1995), einer über mehr als ein Jahr teilnehmend beobachteten Bastelgruppe von Senioren in Mannheim (Keim 1995) oder den Spielaktivitäten einer jungen Berliner Fußballmannschaft über mehrere Monate (vgl. Dittmar/Hädrich 1988). In allen drei Studien wurden die Beziehungen zwischen den Gruppenmitgliedern über introspektives Fremdverstehen (keine zusätzlichen Interviews) ermittelt. In ihrer umfassenden Milieustudie „Ways with words“ begleitete Shirley Brice Heath (1983) Gruppen schwarzer und weißer SchülerInnen über mehrere Jahre in ihrem Schul- wie auch Privatleben. Nachhaltig wirkende Unterschiede in der Sozialisation von schwarzen und weißen Kindern wurden in verschiedenen sozialen Kontexten (Schule, Privatleben) ethnographisch-qualitativ beschrieben. 2) Soziale Rolle im Feld „Das Spektrum reicht von der unverfänglichen Zuschauerrolle bis zur Doppelrolle des eingreifenden Teilnehmers und Forschers. Da die teilnehmende Beobachtung ein Hin- und Herpendeln zwischen Teilnehmer- und Beobachter- bzw. Forscherrolle
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erfordert, sollte die einzunehmende Rolle hierfür den Handlungsspielraum liefern. Im Normalfall lässt sich das am besten erreichen, indem der Forscher an eine den Informanten vertraute Rolle anknüpft und ihnen gleichzeitig seine Forschungsinteressen vermittelt“ (Legewie 1991,191). Um zu beobachten, wie Migranten in den Heidelberger Druckmaschinen im automatisierten Fertigungsbereich kooperierend miteinander kommunizieren, ließ sich Dittmar (HPD 1975, 49–103) als Theologiestudent einführen, der sein obligatorisches Praktikum über 6 Wochen in einem Betrieb absolvieren muss. In einem überschaubaren Radius wurden 8 Migranten (Männer und Freuen) über einen Zeitraum von 6 Wochen 30 Werktage in ihrem interaktiven Sprachverhalten beobachtet. Der teilnehmende Beobachter (ND) wohnte vielen arbeitsbezogenen Interaktionen bei, hielt sich mit eigenen Beiträgen aber zurück. Bei ihrer TB zu der Frage, in welchem Maße in einer Neuköllner (Berliner) Fußballmannschaft berlinert wird und typisches berlinern auf zentrale Gruppenmitglieder zurückzuführen ist, dokumentierte Doris Hädrich als einziges weibliches Mitglied der Mannschaft ihre Mitspieler in Performanzsituationen und Kommentarsitzungen direkt nach einem Spiel sowie in Vereinssitzungen. Als vertraute Mitspielerin konnte sie problemlos aufnehmen und viele introspektive Daten auf Band aufzeichnen. Inken Keim dagegen nahm als von außen kommende Interessierte an den Sitzungen einer Bastelgruppe älterer Leute teil nach dem Motto: sie würde gern das soziale Leben der Gruppe kennen lernen als eine für Mannheim ganz typische Freizeitgruppe. Sie nahm dann, je nach Situation Distanz oder Nähe zeigend, solange an den Sitzungen teil, bis sie das Repertoire von Routinen und kommunikativen Mustern erfasst hatte (Kriterium für die Beendigung der Beobachtung: Sättigung der Mustervorkommen aufgrund von Rekurrenz). Lesley Milroy führte sich bei ihren Netzwerkanalysen in Dublin niemals als „Professorin“, sondern mit ihrem einfachen Namen ein. Zur Aufgabe des „guten“ Feldforschers gehört es, möglichst wenig aufzufallen, sich so zu verhalten, dass die Teilnehmer an dokumentierten Gruppenaktivitäten ihr natürliches Verhalten möglichst wenig kontrollieren und Beobachtungseffekte so gering wie möglich gehalten werden konnten. 3) Zeitintervall und Länge der TB Kurze TBs sind oft einem nur beschränkten Zugang zu den Gruppenaktivitäten geschuldet, können diese allerdings als besonders typische „einfangen“. In ihrem Vergleich schulischer und familiärer Aktivitäten von schwarzen und weißen SchülerInnen dokumentierte Heath (1983) die Sozialisationsgeschichte der Kinder – hier handelt es sich um eine entwicklungsgeschichtlich angelegte TB. Ähnliches gilt im Prinzip auch für Bahlos Dokumentation des Sprachverhaltens Heranwachsender über sechswöchige Ferienlagerbeobachtungen im Laufe von 3 Jahren. In dieser Untersuchung konnten leichte Tendenzen von altersspezifischem Wandel belegt werden. Im Übrigen gilt die Faustregel, dass 6 bis 12 Monate Beobachtungszeit von wöchent-
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lich stattfindenden Vereins- oder Freizeitgruppentreffen hinreichen, um die Variationsbreite der kommunikativen Muster in der Gruppe zu erfassen. Labov (1972 c) konnte in kurzfristigen, allerdings sehr intensiven Treffen mit schwarzen Jugendlichen (Ausflüge, Parties, Wettspiele) verbale Routinen wie rituelle Beschimpfungen, gegenseitiges Frotzeln, Provokationen, spielerische Scherze (u. a.) dokumentieren. Schmidt (2004) dokumentierte ähnliche kommunikative Routinen von Jugendlichen über einen längeren Beobachtungszeitraum. Labovs teilnehmende Beobachtungen galten in den siebziger Jahren als Innovation. Darauf aufbauend konnte Schmidt (2004) das Instrument für Längsschnittbeobachtungen nutzen. 4) Protokollierung, Audio- und Videoaufnahmen, Verschriftlichung Videoaufnahmen während der TB sind eine besondere Herausforderung. Das Beobachterparadoxon ist schwer zu überwinden, allein die notwendigen Geräte ziehen viel Aufmerksamkeit der Informanten auf sich, was die Flexibilität der Beobachtenden einschränkt. Vor allem in der Dokumentation von Schulstunden bzw. Interaktionen zwischen Schülern und Lehrern im Schulunterricht wurden Videokameras eingesetzt (siehe u. a. Rampton 2006 und Goodwin 2014)). Wenn Gruppenaktivitäten allerdings NICHT auf Video, sondern nur auf Tonband aufgenommen werden, spielt der Kontext als situativer und sozialer Hintergrund der Interaktionen eine bedeutende Rolle für die Sinnzuschreibung der Äußerungen (vgl. auch Lüdtke 2005). Daher sollte die Audioaufnahme NACH der TB so früh wie möglich abgehört und mit Kommentaren über die Interaktionssituation versehen werden (WER spricht zu WEM, welcher Kontext / Hintergrund ist für das Verstehen bestimmter Äußerungen relevant? Etc.) Das pidginisierte Arbeitsdeutsch der Migranten konnte in online-Interaktionen auf Tonband mitgeschnitten werden, wobei das Gerät im Overall verborgen war und um Erlaubnis der Aufnahme nicht nachgefragt worden war (vgl. HPD 1975). ALLE Daten wurden vollständig anonymisiert. Aufgrund vorherrschenden Maschinenlärms konnten nur einzelne Passagen explizit ausgewertet werden, diese waren aber in hohem Maße authentisch und gaben einen nachhaltigen Einblick in die Konstruktion des kooperativen Pidgins am Arbeitsplatz (HPD 1975, 88–98). Während der 8 stündigen Arbeitszeit ging der Feldforscher in regelmäßigen Abständen drei Mal auf die Toilette und fasste die gerade gemachten Beobachtungen nicht-verbaler Art auf dem laufenden Tonband zusammen. Abends wurden diese Kommentare in ein Tagesprotokoll überführt. Situative Aufnahmen von Arbeitsinteraktionen wurden möglichst in einem Rohtranskript gleich nach der Arbeit transkribiert, um die Kontextinformationen nicht zu verlieren. Bahlo (2010) fragte die Jugendlichen, mit denen er ein Ferienlager durchführte, nach der Erlaubnis, sie aufnehmen zu dürfen, wo auch immer sie gerade waren; die Jugendlichen stimmten dem Anliegen zu. Mehrere Mikros befanden sich an unterschiedlichsten Orten, selbst innerhalb der Zelte, so dass auch Zubettgehzeremonien mit Äußerungen, die das andere Geschlecht anmachen sollten, dokumentiert werden konnten. Kallmeyer und Keim holten sich von den Mitgliedern der Bastelgruppe eine
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Erlaubnis für die Aufnahmen. Sie trugen dafür Sorge – wie in der Regel alle teilnehmenden Beobachter – dass die (kleinen!) Tonbandgeräte, die so unauffällig wie möglich platziert waren, von den Interagierenden nicht wahrgenommen wurden. 4) Soziale Charakteristika der Gruppen Die Beobachter sollten möglichst mit den relevanten sozialen Merkmalen der Mitglieder der zu beobachtenden Gruppe kompatibel sein. Sicher ist es von Vorteil, wenn Frauen Frauengruppen und Männer Männergruppen teilnehmend beobachten. Ähnlich verhält es sich mit dem Alter: es passt nicht, wenn Jugendliche teilnehmend an Gruppenaktivitäten von Senioren teilnehmen. Es macht einen Unterschied, ob ein Weißer Schwarze beobachtet oder ein Schwarzer (vgl. Labov 1972 und Saville-Troike 2003). Untersuchungen zu ethnischen Gruppen belegen, dass Beobachter der gleichen ethnischen Gruppe angehören sollten, wenn die Daten natürlich und authentisch sein sollen. Schrader-Kniffki (2003) konnte erst dann das Sprachverhalten von Otomi-Frauen in Mexiko teilnehmend beobachten, als sie sich in die Webe- und Tuchherstellungsproduktion der Frauen einfügte und in der Gruppe „eine der Ihren“ wurde. Gerade bei ethnischen Minderheiten ist das Misstrauen vor Fremden groß. Um die richtigen Entscheidungen für eine längere Beobachtungszeit angemessen zu treffen, ist eine Vorbereitungsphase („Pretest“) erforderlich. Nach einem vorgegebenen Fragenkatalog wird zunächst im „Feld“ ausprobiert, unter welchen spezifischen Bedingungen die Forschung im geplanten Sinne durchführbar ist.Die Hauptuntersuchung sollte erst beginnen, wenn die Vorbedingungen optimaler Beobachtungsmöglichkeiten geklärt sind. 5) Gütekriterien Nach Lüdtke (2005, 1045) haben qualitative soziolinguistische Beobachtungsverfahren einen hohen Standard an Gütekriterien empirischer Sozialforschung erreicht (siehe die Stichwörter „(Selbst-)Kritik und (Selbst-)Evaluation“ ). Die kleine Anzahl von Informanten in Fallstudien lässt sich nur in besonderen Fällen inferenzstatistisch auswerten, meist überhaupt nicht. Statt statistischer Repräsentativität gilt das Kriterium des Vergleichs von Gruppen (Fallstudien) unter Berücksichtigung ausgewählter Parameter. Schütze, ein exponierter qualitativer Sprachsoziologe, forderte von der Einzelfallstudie, der Fall müsse zu einer „figuridentischen Klasse von Interaktionsprozessen gehören“ (1975, 716). Erickson weist darauf hin, dass die Triangulation, d. h. der Vergleich verschiedener Datenquellen im Rahmen einer Studie, ein Hauptkriterium für die Validität (inhaltliche Gültigkeit) einer Beschreibung sei. Wenn die Daten von TB und Interviews mit den Gruppenmitgliedern hohe Übereinstimmung aufweisen, ist dies ein positives Kriterium für Validität. Die strukturierten linguistischen Daten lassen im Übrigen klar erkennen, ob sie der Zielvorgabe, ein bestimmtes Register, einen Stil oder eine Varietät in authentischen natürlichen Kontexten zu repräsentieren, entsprechen. Eine Bewertung der Validität ist auch anhand dokumentierter Korpora bzw. vorliegender linguistischer Analysen möglich. „This comparison across
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differing data sources is called triangulation. It provides a validity check and is one of the principal reasons why ethnographic research employs multiple methods of data collection“ (Erickson 2005, 1205). Andere Datensätze (Registereinträge, Protokolle, schriftliche Unterlagen etc.) können ebenso der Triangulation dienen. Reliabilität (formale Gültigkeit) bezieht sich auf die Genauigkeit der Messinstrumente. Da formale Messinstrumente in der qualitativen soziolinguistischen Forschung nicht angewandt werden, erübrigt sich die methodische Diskussion. Labov hat wiederholt darauf hingewiesen, dass es in den meisten Fällen von dem Interviewer- / Beobachter-Informant Verhältnis abhängt, ob der natürliche und authentische Stil der Informanten dokumentiert werden kann (1972b). Kommen mehrere soziolinguistische Untersuchungen zu einer Varietät zu übereinstimmenden Ergebnissen, spricht man von hoher Verlässlichkeit der Feldmethoden. Der Vergleich ist ausschlaggebend. Immer wieder betont Labov, dass es entscheidend für die Validitätsprüfung sei, ob wir JENE sprachliche Performanz von Sprechern erfassen, die diese VOR und NACH dem Interview / der Beobachtung mit Freunden / Vertrauten / Familienmitgliedern im Alltag sprechen.
3.2 Anonyme Beobachtung Interaktionen im Klassenzimmer, Therapien, Auswahlgespräche („Jobinterviews“) oder institutionelle Beratungen lassen sich oft wegen spezifischer Anwesenheitseffekte nicht ohne Fehlerquellen in Form einer TB realisieren. Saville-Troike (2003, 98 f.) fasst unter „observation“ (Beobachtung) Studien zusammen, die Beobachtungen völlig unauffällig realisieren müssen, um verbale Interaktionen in einem vertrauten Rahmen oder in institutionellen Kontexten angemessen zu beobachten. Meist handelt es sich um Interaktionen im Schulunterricht, die durch eine „blinde Wand“ per Film oder Video aufgenommen werden. Duranti (1997) stellt Möglichkeiten vor, so mit dem Video im Feld zu arbeiten, dass der Aufnahmeeffekt die Natürlichkeit von Daten nicht verfremdet. Verhalten wird daher in diesen Fällen von nicht sichtbaren Außenbeobachtern durchgeführt. Ihre Aufgabe ist es, das Zusammenspiel verbaler und nicht-verbaler Äußerungen im interaktiven Prozess der Verständigung zu symbolisch zu kodieren. Vorbildlich ist die Untersuchung „The Counseler as a Gatekeeper“ von Erickson/Shultz (1982). Verstehen und Missverstehen, miteinander kooperieren vs. sich gegenseitig misstrauen wurde mithilfe eines ausgeklügelten Kodiersystems in Bezug auf die Körperbewegungen, die Stimme, die Prosodie und die Sprechakttypen unter synchrones vs. asynchrones Interagieren zusammengefasst. Ethnische Konflikte konnten in der dialogischen Beratung herausgearbeitet werden. Die Kodierungen wurden von geschulten sogenannten „Ratern“ (Verhaltenskodierer) vorgenommen. Besonders evidente Kodierungen lagen vor, wenn die Triangulation zwischen den beiden „Ratern“ übereinstimmte. Es konnten Typen von ethnisch bedingtem Missverstehen herausgearbeitet werden.
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In dem Zweitspracherwerbsprojekt „P-MoLL“ wurden kommunikative Aufgaben zwischen zwei Aktanten in einem Labor an der FU-Berlin per Video aufgenommen (Dittmar 2012). Die Lerner (polnische und italienische Migranten) hatten in einer têteà-tête Sitzung in einem Raum der FU Berlin, der mit zwei nicht sichtbaren Kameras (Halbtotale aus zwei unterschiedlichen Perspektiven) ausgestattet war, Reisebuchungen in einem REISEBÜRO, Vermittlungswünsche in einer PARNTERVERMITTLUNG, Kleiderumtausch im KAUFHAUS (u. a.) durchzuführen, wobei die Lerner die Position des professionellen Experten innehatten. In der Performanz wurde deutlich, dass die Lust am Spiel das natürliche Sprachverhalten förderte. Hier handelte es sich nicht um Gruppen. Da es sich aber um eine Längsschnittstudie von mehr als zwei Jahren handelte, fassten sich die Informanten informell schon als durch die „Erwerbsaufnahmen“ verbundenen Mitglieder einer Gruppe auf, die sich auch außerhalb der Aufnahmen trafen. Solche Beobachtungen können nur in technisch angemessen ausgestatteten Settings (Institutionen, Universität) durchgeführt werden. Sind Kodierer („Rater“) beteiligt, verfügen sie über weniger Kontextwissen als die teilnehmenden Beobachter in natürlichen Kontexten. Andererseits ist das Risiko geringer, Ereignisse und Interaktionsprozesse zu subjektiv zu interpretieren.
3.3 Interview Im Laufe der 50 Jahre innovativer soziolinguistischer Forschung hat sich das Interview als bedeutendstes und am häufigsten angewandtes empirisches Erhebungsinstrument entwickelt. Dazu hat Labovs gewichtiges Dictum Anfang der siebziger Jahre beigetragen: No matter what other methods may be used to obtain samples of speech (group sessions, anonymous observation), the only way to obtain sufficient good data on the speech of any one person is through an individual, tape-recorded interview: that is through the most obvious kind of systematic observation (Labov 1972b, 209).
Interviews allein stellen nach ethnographischem Credo keine angemessene Datenbasis dar. „Interviews are used to support researchers in gaining an emic perspective on research, that is, understanding from the participant’s perspective (…) The data from interviews provide an alternative perspective to that recorded by the researcher, usually in field notes, and support interpretation of naturally occurring data, such as recordings of interactions“. (Copland/Creese 2015, 29–30). Interviews werden in formelle und informelle unterteilt (a. a. O., 30). Formelle Interviews folgen einem vorher festgelegten Leitfaden (kanonisches Format). Sie werden gemeinhin in strukturierte, semistrukturierte und offene Typen unterschieden. Ethnographisch orientierte Linguisten ziehen in der Regel semi-strukturierte vor (face-to-face oder Gruppeninterviews).
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Seine teilnehmenden Beobachtungen im Rahmen der Aktivitäten schwarzer Peergroups (polyphones und pluristilstisches Verhalten in Gruppeninteraktionen) ergänzte Labov durch Einzelinterviews mit den Mitgliedern. Einerseits liefert das Interview eine solide Grundlage für die individuelle soziolinguistische Kompetenz eines Sprechers, andererseits können wichtige subjektive Wissensbestände von Sprechern elizitiert werden, die bezüglich des eigenen sowie des Verhaltens anderer Gruppenmitglieder nur via Introspektionen gewonnen werden können. Interviewdaten gehören nach Erickson (2005, 1205) zur Triangulation. TB- und Interviewdaten repräsentieren sich gegenseitig ergänzende Wissensbestände, die signifikant zur Validität einer Untersuchung beitragen. Validitätskonsolidierend wirken sich Interviewdaten in der Triangulation jedoch nur aus, wenn das Beobachterparadoxon (Labov 1972b:209) angemessen gelöst wird. Charakteristische Eigenschaften des soziolinguistischen Interviews sind: (i) Informanten wechseln Stile (soziales Prestige spielt eine Rolle) (ii) Stile können danach geordnet werden, wieviel Aufmerksamkeit (monitoring, Kontrolle) dem Sprechen gewidmet wird (iii) methodisch sollte alles darauf ausgerichtet sein, den natürlichen, informellen Alltagsstil („vernacular“) des Informanten zu elizitieren, der die unmarkierte Basisvarietät eines Sprechers darstellt (iv) Der Kontext des Interviews ist meist formell – schon allein aufgrund der Tatsache, dass dem Sprechen mehr als ein Minimum an Aufmerksamkeit gewidmet wird; daraus folgt, dass die sprachliche Performanz in der Regel semiformell ausfällt (und NICHT die unmarkierte Basisvarietät darstellt.). Die Interviewstruktur besteht für Briggs (2005,1052) in dem rekursiven Gebrauch von question-answer pairs as modes of elicitation, often with follow-up Q-A sequences (generally termed „probes“). The participation framework of interviews is organized around a central, asymmetrical opposition: the interviewer asks the questions, the respondent answers them, and the interviewer then signals when he/s/he considers the response adequate.
Briggs stellt Interviews als ein dominantes ideologisches Instrument des 20. Jahrhunderts in westlichen Gesellschaften dar. Hierauf sei hingewiesen. Zahlreiche soziolinguistische Studien arbeiten NUR mit Interviewdaten. Meist sind sie auf Zufallsstichproben gegründet, mit denen der Gebrauch bestimmter sprachlicher Varianten valide und reliabel empirisch ermittelt werden soll (vgl. dazu Schlobinski in diesem Band). Qualitative Forschung, insbesondere die ethnographische, untersucht den Sprachgebrauch dagegen eingebettet in soziale Kontexte (Gruppen, Situationen, Szenen, interaktive Vernetzungen). Sprachliche Performanz wird in Alltagssituationen, Routinen, kommunikativen Praktiken erfasst. In der Perspektive qualitativer Forschung ist das Interview EINES unter mehreren sich ergänzenden und triangulierenden Datenerhebungstechniken. Per se ist es eine beschränkte, über das wirkliche soziale Leben
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von Mitgliedern einer Gruppe zu oberflächlich informierende Quelle. Wichtiger sind im ethnographischen Kontext sogenannte Tiefeninterviews, denen zwar ein Fragekatalog zugrunde liegt, dessen Fragen jedoch nicht in einer bestimmten Reihenfolge gestellt werden müssen. Das Geschick des Interviewers besteht darin, dieses wie ein Gespräch zwischen zwei sich begegnenden und sich für einander interessierenden Personen zu führen. Neue Inhalte ergeben sich kongruent aus gerade fokussierten vorausgegangenen. Die Fragen ergeben sich meist aus Situationen und Kontexten der Teilnehmenden Beobachtung und haben eher inhaltliche Relevanz als die Elizitierung der informellen, unmarkierten Alltags- und Habitussprache. Letzterer allerdings galt das Interesse William Labovs, der das Beobachterparadoxon durch Fragen überwinden will, die die Emotionen der Informanten derart ansprechen, dass sie die Selbstkontrolle (monitoring) über das Sprechen vernachlässigen. Emotionen auslösende Fragen beziehen sich auf (a) Unfall, (b) Todesgefahr, (c) Kindheitserinnerungen bzw. -erfahrungen, (d) das Telefonieren mit Freunden (u. a.). Statt auf die unmarkierte Sprechvarietät als Grundstein der Kompetenz (Labov) fokussieren qualitative soziolinguistische Studien dagegen das stilistische Spektrum des performativen Sprechens in unterschiedlichen sozialen und interaktiven Szenarien. Schütze (1976) untersuchte unterschiedliche Sichtweisen auf Gemeindezusammenlegungen in Ortsgemeinschaften (in seinem Fall: Bielefeld zu Beginn der siebziger Jahre). Sein sprachsoziologischer Ansatz ist bekannt geworden unter dem Terminus narratives Interview. In einer Gesprächsrunde mit politisch Verantwortlichen wurden Gespräche informell und strategisch so geführt, dass die Beteiligten sich in Erzählungen zu verschiedenen Szenarien der Ortsgemeinschaftspolitik verloren und sich dabei in Widersprüche verstrickten. Die narrativen Sequenzen lieferten einen reichen Schatz an Erfahrungen und Hintergrundinformationen über Perspektiven der Handelnden (u. a.). Im Sinne qualitativer Forschung wurden KEINE Hypothesen verifiziert, sondern soziologisch relevante Erfahrungen/Normen/Werte in Stegreif-Erzählungen elizitiert. Interviews stellen über die genannten Gesichtspunkte hinaus auch wertvolles historiographisches Material dar, das Sprachveränderungsphasen dokumentiert. Dies trifft auf das Berliner Wendekorpus zu, das in meist informellen Gesprächen die ost- bzw. westgeprägten Berliner Stile direkt nach dem Mauerfall dokumentiert. Über informelle persönliche Netzwerke unter Lehrern entstanden Gespräche, in denen die Beteiligten ihre ganz persönliche Geschichte vom Fall der Mauer am 9. Nov 1989 erzählten und im Laufe des Gesprächs Erzählende und Fragende (beide beteiligt an den denkwürdigen Ereignissen) in einen diskursiven Prozess des Miteinander-Verarbeitens der außergewöhnlichen Ereignisse gerieten ().
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3.4 Soziale Netzwerke Schlobinski (2005) gibt einen Überblick über theoretische Grundlagen und methodische Probleme vorliegender soziolinguistischer Netzwerk-Untersuchungen. Ob „geschlossene“ (auf Stabilität der Beziehungen gegründete) oder „offene“ (durch Mobilität gekennzeichnete) Netzwerke (a. a. O. 1461) – sie sind eher über den „Konnexionsgrad“ (1460) von Personen, die miteinander in Beziehung stehen, definiert als durch die thematische oder Zweckgebundenheit von Gruppen. Die Harlem-Studien der Black Peergroups (Labov 1972c) orientieren sich an der „relationalen Netzwerkanalyse“, „in der an Hand von Kohäsionskonzepten (wie Dichte, Multiplexität) innerhalb von Netzwerken interne Beziehungsnetze (z. B. Cliquen) beschrieben werden“ (Schlobinski 2005, 1462). Die bedeutendste soziolinguistische Netzwerkanalyse, in der das Konzept des social network innovativ und in ethnographischer Perspektive ausgearbeitet ist, findet sich in Lesley Milroy (1987). Sie untersuchte vergleichend in drei Stadtvierteln von Belfast (Clonard, Ballymacarrett und Hammer) typische Beziehungsgefüge von insgesamt 46 Personen, die aufgrund von Freundschaft regelmässig in kommunikativem Kontakt standen. Über einen Freund lernte Milroy z. B. einen seiner Freunde im Viertel Clonard kennen und erschloss sich durch Gespräche, Treffen, kleine Partys, small talk und andere Gelegenheiten ein dichtes kommunikatives Netzwerk von 18 Personen (vgl. a. a. O. die Netzwerkgrafik auf S. 58). Das Beziehungsgefüge dieser in ständigem Kontakt miteinander stehenden Personen beschreibt Milroy als Cluster, das durch vielseitige (multiplex) und dichte (dense) Interaktionen und Beziehungen gekennzeichnet ist (Milroy 49 ff., 56 ff.). Das Beziehungsgefüge gründet sich auf persönliche Nähe der Beteiligten und ihres ständigen Austauschs mit- und untereinander. Nicht die Zwecke bestimmter Aktivitäten oder Freizeitthemen bestimmen den inneren Zusammenhalt, sondern der Austausch über persönliche und Alltagsbedürfnisse. Der Zugang zu solchen Netzwerken muss sorgfältig bedacht werden. Im Belfast der gewaltgeprägten 70iger Jahre gab es ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber Männern in der Öffentlichkeit. Folglich war es nur einer FRAU möglich, mit einem gewissen Vertrauensvorschuss in solche Netzwerke hineinzukommen (a. a. O. 44). Im Laufe ihrer zahlreichen Kontakte mit den am Netzwerk Beteiligten wohnte Milroy teilnehmend den unterschiedlichsten Situationen und Treffen mit den Netzwerkbeteiligten bei – mal formelle, mal informelle Anlässe mit wenigen oder mehreren Personen. Die Erlaubnis, per Tonband aufzunehmen, hatte sie bereits zu Beginn der Kontakte erhalten. Immer weniger wurde das mitlaufende kleine Tonbandgerät, meist geschickt verborgen platziert, beachtet. In unterschiedlichsten interaktiven Konstellationen konnte Milroy auf diese Weise eher formelle Stile (wenn sie mit den Beteiligten ein Interview führte) und völlig informelle Stile (Spiele, familiärer Austausch, Geburtstagsfeier etc.) dokumentieren. Ein umfangreiches Korpus konnte von jedem der drei Cluster gewonnen werden. Als Teilnehmerin an vertrauten Gesprächen war Milroy somit eher ein Insider der Beteiligten, als Interviewerin mit bestimmten
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Interessen (spezifische Fragen) am Leben und Alltag der Beteiligten ein Outsider. Die Teilnahme an Segmenten des Alltagslebens von den Informanten und die lebensweltliche Breite der dabei auf Tonband aufgenommenen Stile zur Bewältigung der vielfältigen kommunikativen Aufgaben entsprechen ganz den Prinzipien qualitativer ethnographischer Soziolinguistik. Die Dokumentation des Sprachverhaltens (teilnehmende Beobachtung, Interviews) in recht unterschiedlichen Situationen führt zu einer ausgewogenen Bewertung der performativen Stile (Triangulation). Für die stilistische Vielfalt der Aufnahmen über den Interviewstil hinaus spricht Milroys soziolinguistisches Dictum: „all spontaneous styles have in common the property that they lack a clear two-part discourse structure; they cannot easily be analyzed as replies to an interviewer’s elicitations on topics chosen by him“ (a. a. O. 63). Schließlich geht Milroy auch auf die Repräsentativität von Netzwerkanalysen in der Ortsgesellschaft ein (a. a. O. 42). Der Anspruch, dass die Daten für eine gesamte Ortsgemeinschaft repräsentativ sein sollen, lässt sich schwer mit dem breiten stilistischen Spektrum der Netzwerke in der Gemeinschaft vereinen. Milroy geht den Weg, „core groups“ in der Ortsgesellschaft zu dokumentieren und diese nach soziolinguistischen Kriterien zu unterscheiden in secondary, peripheral members und schließlich lames. In diesem Punkt konnte sie auf Labovs Studie in Harlem zurückgreifen. Neben Schlobinskis soziolinguistischem Aufsatz geben Schenk/Bergs (2005) einen Überblick über die soziologische Forschung auf dem Gebiet der Netzwerkanalyse mit einer ausführlichen Bibliographie.
3.5 Gruppendiskussionsverfahren Während die Studie von Axel Schmidt (2004) die soziale Konstruktion von Aktivitäten (Spiele, Dissen, Austragen von Wettkämpfen und Streit, Beziehungsgestaltungen etc.) in Peergroups interdisziplinär (Linguistik, Soziologie) untersucht, ist das von Bohnsack vertretene Gruppendiskussionsverfahren eine soziologische Methode, die „milieutypischen Orientierungen und sozialen Erfahrungen“ nachgeht (Bohnsack 2013, 205). Die Methode, die theoretisch und empirisch über mehr als 20 Jahre entwickelt und verfeinert wurde, geht zurück auf Bohnsacks Dissertation „Generation, Milieu und Geschlecht“ von 1989. „Kollektive Erfahrungen“ sollen aus „Interaktions-, Diskurs- und Gruppenprozessen für die Konstitution von Meinungen, Orientierungsund Bedeutungsmustern“ (a. a. O. 205) gewonnen werden. Interview ist daher ein falscher Begriff für dieses Verfahren. Bohnsack geht davon aus, dass in den Redebeiträgen der Gruppendiskussionsteilnehmer jeweils ein „immanenter Sinngehalt“ (Terminus von Karl Mannheim) mitgeteilt wird und im Laufe der Diskussion „Orientierungsmuster“ geprägt werden (a. a. O. 208), die „wechselseitige (intuitive) Verstehensleistungen“ darstellen und nach Karl Mannheim dokumentarische Interpretation genannt werden können.
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Für die empirische Durchführung der Gruppendiskussion gilt das „Grundprinzip, nach dem der Forscher bzw. die Forscherin Bedingungen der Möglichkeit dafür zu schaffen hat, dass der Fall, hier also die Gruppe, sich in seiner Eigenstrukturiertheit prozesshaft zu entfalten vermag. Dies meint vor allem, dem Diskurs die Möglichkeit zu geben, sich auf jene Erlebniszentren einzupendeln, welche jeweils die fokussierte Erfahrungsbasis des kollektiven Orientierungsrahmens der Gruppe darstellen. Die Gruppe bestimmt somit ihre Themen selbst“ (a. a. O. 213). Damit die dokumentierten Diskurse aber auch vergleichbar bleiben, spricht sich Bohnsack für eine „gewisse Standardisierung der Ausgangsfragestellung“ aus (a. a. O.). In Bohnsack (1989) werden 7 Fälle von Gruppendiskussionen mit männlichen und weiblichen Lehrlingen, Gymnasiasten und Erwachsenen der Elterngeneration zu Ausgangsfragestellungen an unterschiedlichen Orten in dem damaligen Westdeutschland mit dem Fokus Generation, Milieu und Geschlecht vorgestellt und auf den kollektiven Bedeutungsgehalt hin anhand diskursiver Belege analysiert. Die Gruppe „Mauer“ ist z. B. einer der 7 Fälle. Es handelt sich um eine „Clique“ von 10 Mädchen und Jungen aus der Umgebung von Frankenstadt im Alter zwischen 14 und 17 Jahren. Die Ausgangsfragestellung bezieht sich, da es sich um relativ junge Jugendliche handelt, auf die Zukunft nach der Schulzeit. „Interaktive Dichte, Selbstläufigkeit und Bildhaftigkeit finden wir dort, wo sich der Diskurs um die Schüler-Lehrer-Kommunikation in der Hauptschule dreht“ (a. a. O. 40). Die Gruppe „Wies’n“, 11 junge Männer zwischen 18 und 19 Jahren, ist eine seit langem bestehende Clique aus einer Arbeitersiedlung, die ihren Ausgang von der Frage nach dem Beruf und der beruflichen Zukunft nimmt. Im Unterschied zur Gruppe „Mauer“ ist das Diskursgeschehen in hohem Maße selbstläufig und von hoher interaktiver Dichte. Mit kontextsensitiver Sorgfalt präsentiert Bohnsack im Anschluss an die kurze und nur das Wesentliche behandelnde Exposition der Datenerhebung den Verlauf des Diskurses und seine soziale Orientierungen wählende Selbstläufigkeit. Eine in der Soziolinguistik sonst übliche differenzierte Vorstellung der Datenerhebung mit vielfältigen interaktiven und kontextbezogenen Details im ethnographischen Sinne fehlen in den expositorischen Präsentationen der Fälle. Inhaltliche soziologische und soziale Problemstellungen stehen deutlich im Vordergrund. Es werden klassische soziologische Fragestellungen thematisiert: Wie und wohin orientieren sich Jugendliche? Wie stehen sie der älteren Generation gegenüber? Wie unterscheiden sich Mädchen und Jungen je nach Alter? Solche inhaltlichen Themen, die Aufschluss über soziale Orientierungen geben sollen, müssen ergänzend zu den soziolinguistischen Fragestellungen der sprachlichen Kooperation, der Vernacularwahl, der Stile und der Performanz als soziologisches Interesse an Gruppen gesehen werden. Es geht um thematische Aspekte, die nicht direkt im Interview abgefragt werden können. Meinungen und Orientierungen werden erst im gruppendynamischen Miteinander sichtbar. Soziale Werthaltungen mit Bezug auf Generation, Geschlecht und Milieu können auch in der teilnehmenden Beobachtung nicht erfasst werden.
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3.6 Online-Netzwerke Neuland/Schlobinski (in diesem Band) weisen in ihrem Grundlagenartikel auf die in den letzten 2–3 Jahrzehnten entstandenen posttraditionalen Kommunikationsgemeinschaften hin, „die durch Anonymisierung, Entkontextualisierung und Medialisierung charakterisiert sind“ (a. a. O., 6). Solche Kommunikationsgemeinschaften würden Fan- und Event-Gruppen darstellen, möglicherweise auch „Party-Szenen“ oder „ad hoc Gemeinschaften beim public viewing“ (a. a. O., 7). Sie plädieren für eine „Neubestimmung der soziolinguistischen Kategorie der Gruppensprache“ (a. a. O.). Sofern es sich um spontane Teilnahmen mit körperlicher Präsenz an bestimmten Event-Orten, bei Fußballspielen oder Konzerten handelt, zu denen sich Individuen mehrmals verabreden, kann man die für solche Massenveranstaltungen typischen Großgruppengefühle einbeziehen. Feiern, Zuhören mit hohen Emotionen, Bewundern von Leistungssportlern in Spielen oder Schaustellern in Shows betrachte ich als eine Klasse von Paraaktivitäten (Aktivitäten zweiten Grades), die von events abgeleitet sind und mit denen sich hohe Teilnahme- und Gefühlserwartungen verbinden – NICHT jedoch als eigenständige, authentische, in Interaktion mit den Anderen zweck- oder sinnstiftende Handlungen, die je nach den Vorläuferhandlungen mit Folgehandlungen weiterentwickelt werden. In diesem Sinne scheint mir der Terminus „Online-Gemeinschaften“ in Androutsopoulos (2003) angemessen. Androutsopoulos schlägt vor, Online-Gemeinschaften mit bestimmten (variierenden) Stilen zu identifizieren. Zu den stilistischen Eigenschaften gehören „Höflichkeitskonventionen (…) typische Ablaufmuster (…), rekurrente Gesprächsthemen“ (u. a.). Zu einer „virtuellen Gruppenkultur“ würden „konstitutive Interessen (…) spezifische Ausdrucksressourcen (…) und Konventionen“ gehören. Solche „sozialen Stile im Internet“ (a. a. O., 180) werden anhand von Sprachgebrauchsbelegen differenziert. Eine Problematik der Sprachdatenerhebung gibt es im Falle der Online-Gemeinschaften offenbar nicht. Der angemessene Zugang zu Chat- oder Blog-Daten ist ein technisches und kein auf das Elizitieren von Daten bezogenes Problem.
3.7 Envoi Zukünftige (Forschungs-)Arbeiten sollten ihre Aufmerksamkeit vor allem auf drei Problembereiche richten: 1. Gütekriterien qualitativer Datenerhebungstechniken: Qualitative Gütekriterien für Vergleiche von Fallanalysen sollten im Sinne einer Skala von Geltungsansprüchen präzisiert werden. Fritz Schütze stellte an eine Einzelfallstudie die Anforderung, sie müsse zu einer „figuridentischen Klasse von Interaktionsprozessen“ gehören (Schütze 1975a:716). Mehrere Soziolinguisten untersuchten in den letzten 20 Jahren (rituelle) Beschimpfungen, die in Jugendlichengruppen zwischen 12 und 18 Jahren verwendet wurden und werden. Fallstudien zeigen, dass der diesbezügliche Sprach-
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gebrauch in subkulturellen Milieus von Großstädten wie Berlin, Amsterdam, Kopenhagen (u. a.) sehr ähnlich ausfällt. Wenn diese Beobachtungen durch Triangulation mit Interviewdaten der Introspektion untermauert werden, kann man im Sinne von Labov von verlässlichen Daten reden. 2. Ethik: Für die Datenaufnahmen, den Datenschutz und die Datenverwertung sollten allgemeingültige ethische Prinzipien formuliert werden, deren Einhaltung z. B. durch einen europäischen Ethikrat öffentlich zu kontrollieren wäre. Über Aktionsforschung, die den Betroffenen (Gruppen etc.) überzeugend darstellen kann, welchen Nutzen Fallstudien für die Gemeinschaft und das Zusammenleben in ihr haben, können positive Rollenkonditionen für teilnehmende Beobachtung (u. a.) geschaffen werden. Verträge mit betroffenen Informanten, in denen die Rechte und Pflichten der Forscher sowie die Verwendungsbedingungen der Daten fixiert sind, könnten (z. B. im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft) standardisiert werden. In diesem Rahmen sollte auch darauf geachtet werden, dass die Ergebnisse von Studien anwendungsbezogen für eine Verbesserung der untersuchten gesellschaftlichen Segmente genutzt werden. 3. Praktische Anleitungen zur Feldforschung: Es fehlt an detaillierten, praxisnahen Anleitungen zur qualitativen Feldforschung. Der Zugang zu Informanten, Maßnahmen des Datenschutzes, Interviewabläufe, alternative Input- und Outputwege in der teilnehmenden Beobachtung, Übersicht über elektronische Medien und ihre Vor- und Nachteile im Feld (u. a.) sollten systematisch abgehandelt, Module von Erhebungsverläufen besser standardisiert werden.
4 Qualitative Beschreibungsverfahren: Eine minimalistische Übersicht Es sei vorausgeschickt: Jede qualitative (ethnographische) Untersuchung wird unter besonderen soziopolitischen und -kulturellen Bedingungen durchgeführt. Erhebung und Datenauswertung unterliegen jeweils spezifischen lokalen, gesellschaftlichen, kulturellen, legislativen etc. Rahmenbedingungen. Auf die zahlreichen (nuancierten) Varianten der konkreten Umsetzung eines methodischen qualitativen Credo kann im folgenden nicht eingegangen werden. Die Verfahren, die sich in der internationalen Forschergemeinschaft durchgesetzt haben (siehe 4.1 bis 4.3), teilen, bei allen Unterschieden im einzelnen, folgende Grundprinzipien: es gilt 1) das Reinheitsgebot natürlicher Sprachdaten 2) die Priorität von Langzeitbeobachtungen („Längsschnitt“) 3) die Schlüsselrolle des Kontextes 4) das Anliegen, bestimmte Eigenschaften („Formen und Funktionen der sprachlichen Gestaltung“) der kommunikativen Kompetenz von Sprechern möglichst umfassend zu dokumentieren („Prinzip der Belegung“).
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Zu (1). Experimente oder vom Forscher künstlich arrangierte Interaktionskonstellationen werden abgelehnt. „Natürlich“ heißt: dokumentieren von Interaktionen in ihrem authentischen, von außen nicht beeinflussten Verlauf. Zu (2). Das Interaktionsverhalten von Sprechern für ausgewählte kommunikative Funktionen (z. B. Erzählungen, Beleidigungen, Begrüßen und Verabschieden, Anrede, Bitten, Aufforderungen, Ablehnungen) soll nach Möglichkeit („Ideal“) solange („Zeitraum“) dokumentiert werden, bis die (ständige) Wiederholung des Repertoires an Mustern („Routinen“) evident ist. Es gilt also, verbale / kommunikative Muster in ihrer rituellen Gestalt (Luckmann) zu erfassen (im Unterschied zu Beobachtungen in einem vordefinierten Zeitintervall mit dem Ziele, diesen Ausschnitt nach statistischen Prinzipien als „repräsentativ“ zu interpretieren). Die umfassende gestaltspezifische und idealtypische Beschreibung von Einzelkompetenzen hat – analog zum Erstspracherwerb – Priorität vor der statistisch normierten (induzierten) Beschreibung von „fragmentierten oder Durchschnittskompetenzen“. Zu (3) Diskursmarker, kommunikative Formeln, Parenthesen, syntaktische Muster im Vor-, Mittel- oder Nachfeld (u. a.) werden nicht als formal definierte Variablen behandelt, sondern müssen Vorkommen für Vorkommen in ihrem jeweiligen sprachlichen und interaktiven Kontext auf Form, Funktion und soziale Bedeutung differenziert beschrieben werden. Die hochdifferenzierte Kontextanalyse ist eines der wesentlichen Merkmale der qualitativen Beschreibung. Zu (4). Die qualitative Analyse gibt sich nicht mit dem – wie auch immer statistisch zu interpretierenden – „repräsentativen“ Ausschnitt aus einer Datenmenge zufrieden. Vielmehr soll die kommunikative Kompetenz nach Maßgabe der Rekurrenz von rituellen kommunikativen Mustern (siehe Schütz, Luckmann, Gumperz in Auer 1999) erfasst werden. Es wird davon ausgegangen, dass Sprecher über ein endliches, meist rituelles Repertoire von sprachlichen und kommunikativen Mustern verfügen und diese über einen genügend langen Beobachtungszeitraum erfasst werden können. „Authentische“, nicht simulierte Kompetenz soll beschrieben werden. Drei im internationalen Kontext praktizierte methodische Beschreibungsansätze, deren real existierende Mischformen jedoch nicht thematisiert werden, sollen auf dem erläuterten Hintergrund kurz vorgestellt werden: 4.1 die Konversationsanalyse, 4.2 das interpretative Verfahren der Kontextualisierung und 4.3 die ethnographische Beschreibung (auch „soziale Stilistik“ genannt). Anleitungen zur Beschreibung von Gruppendiskussionsverfahren, die hier nicht berücksichtigt werden, finden sich in Bohnsack (1989, 2013).
4.1 Konversationsanalyse Die Konversationsanalyse (KA) beschreibt die wechselseitig konstituierten und sich konstituierenden interaktiven Praktiken, mit denen Gesprächsteilnehmer in natürlichen (nicht-institutionellen, nicht vorstrukturierten) Kontexten Gespräche organisie-
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ren. Die Interaktionen im Gespräch werden als regelhafte Praktiken der Herstellung von (sozialer) Ordnung im Sinne einer formalen Architektur beschrieben. Der Vollzug dieser Praktiken (z. B. der Wechsel von Sprecher A zu B oder C) wird als die im jeweiligen Kontext angemessene interaktive, kooperative Leistung (Resultat) beschrieben. Die Verteilung von Rederecht, die Sequenzierung von Redebeiträgen, die stilistische Konstruktion des Redebeitrages (u. a.) sind zentrale Beschreibungsgegenstände der KA. Die die KA leitenden methodischen (empirischen) Prinzipien werden umfassend von ihrem inspirierenden Genius, Harvey Sacks, in zwei 1992 von Gail Jefferson herausgegebenen Bänden unter dem Titel Lectures formuliert. Sie stellen das originellste und ausführlichste Manifest der qualitativen konversationsanalytischen Beschreibung dar. Einen Überblick über die Beschreibungsmethoden und herausragende Einzeluntersuchungen geben Bergmann (1994), Kallmeyer (2005) und Schegloff (2007). Die regelhafte Organisation des Sprecherwechsels ist eine der großen Beschreibungsleistungen der KA (siehe Sacks/Schegloff/Jefferson 1974). Bei der Durchsicht von dokumentierten Gesprächsausschnitten fielen Sacks und Schegloff einzelne Ausschnitte auf, in denen die Übergabe des Redebeitrags von einem Sprecher zu einem anderen Regeln sozialer Organisation unterlag. Sie suchten dann im Datenmaterial nach der Kookkurrenz funktional gleichartiger Phänomene. Schließlich wurden alle gleichartigen Fälle in einer Kollektion zusammengestellt. Für die Beschreibung ist ein stetiger Rückgriff auf die authentischen Tondateien wichtig, um die Dynamik des Interaktionsverlaufs in der sozialen Wirklichkeit nicht aus den Augen zu verlieren. Beobachtungen zu Syntax, Prosodie, Pausen etc. werden auf der Folie der eigenen Sprecherintuition interpretiert. Treffen viele der beobachteten Kriterien auf die Mitglieder der Kollektion zu, wird dies zu einer Regel ausformuliert. Sie gehen so vor: Alle übergangsrelevanten Stellen, an denen ein Sprecher nach Pause sein aktuelles Rederecht aufrechterhält oder ein anderer Sprecher einen Redebeitrag übernimmt, werden aus dem Gesamtkorpus ausgeschnitten und zu einer Kollektion zusammengestellt. Die für die Regelformulierung einschlägigen Stellen in der Transkription werden am linken Rand mit einem rechtsgerichteten Pfeil versehen („Belegstelle“). Die übergaberelevanten Prinzipien des Sprecherwechsels werden in Form kontextfreier konstitutiver Regeln fixiert. Die konstitutive Regel beschreibt eine Alltagsroutine des Sprecherwechselverhaltens in Gesprächen. Das ‚System‘ des Sprecherwechsels sieht so aus: Die Redebeitragsübergabe kann in zwei Modi (Makroebene) erfolgen: (1) Gegenwärtiger Sprecher wählt den nächsten Sprecher aus, (2) der folgende Redebeitrag wird durch Selbstwahl des nächsten Sprechers bestimmt. Die Regeln (Mikroebene) „bedingen Konstruktion und Zuweisung von Turns und koordinieren einen weitgehend lückenlosen Transfer“ (Streeck 1983, 77). Dieser Transfer wird nach drei Regeln vollzogen: (i) Wählt gegenwärtiger Sprecher den nächsten aus, hat dieser das Rederecht und kann unmittelbar mit seinem Beitrag beginnen;
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ii) erfolgt eine solche Auswahl nicht, übernimmt derjenige den Redebeitrag, der nach Redebeitragsabschluss des gegenwärtigen Sprechers als erster beginnt; iii) wenn der gegenwärtige Sprecher weder den nächsten wählt noch die Selbstwahl eines anderen Sprechers erfolgt, kann der gegenwärtige Sprecher mit seinem Redebeitrag fortfahren. Diese Prinzipien stellen nach Bergmann (1994,11) eine „Systematisierung von Erfahrungsregeln“ dar; sie gehören offenbar nicht zur Kompetenzausstattung von Interaktionsteilnehmern. Andere, methodisch ähnliche Beschreibungen wurden für Reparaturen, Eröffnungen und Beendigungen (u. a.) von Gesprächen vorgenommen. Die Sequenzanalyse im jeweiligen Kontext ist auch hier grundlegend. Viele Detailfragen der Beschreibung mit Bezug auf eine breite Phänomenologie der „Interaktionskonstitution“ (1216) werden unter dem Stichwort „Analyseverfahren“ in Kallmeyer (2005,1215–1218) behandelt. Im Rahmen der Pragmatik haben Soziolinguisten in zahlreichen Einzelstudien das Sprachwechselverhalten in unterschiedlichen kulturellen Kontexten und zwischen den Geschlechtern untersucht. Viel diskutiert war und ist die Hypothese, dass Männer über das Sprachwechselverhalten die thematische Gestaltung des Diskurses kognitiv kontrollieren, während Frauen die Gesprächsarbeit leisten. Zur Aufdeckung entsprechender Strategien wurde statistisch argumentiert. Neuere soziolinguistische Untersuchungen im Rahmen der Pragmatik nutzen oft die konversationsanalytische Kategorisierung, um dann den Gebrauch einzelner KA-Kategorien zu quantifizieren. Einerseits widerspricht das den methodologischen Vorgaben von Sacks und Schegloff; andererseits gibt es kein explizites Dictum derart, dass qualitativ erhobene und beschriebene Daten nicht auch quantifiziert werden können. Eine detaillierte Beschreibung der Interaktionsverläufe von männlichen Jugendlichen hat Schmidt (2004) vorgelegt. Anhand von Transkriptionen video- und tonbandaufgezeichneter Interaktionen an einem Jugendlichentreffpunkt in Frankfurt (am Main) beschreibt er die Sequenzen, in denen Jugendliche ernsthafte und spielerische Konflikte austragen und sich untereinander necken, beschimpfen oder zu bestimmten Anlässen spotten, klatschen oder lästern (Schmidt 2004, 119). Es werden u. a. Verfahren und Strategien beschrieben, wie Jugendliche die Zugehörigkeit zur Gruppe aushandeln, d. h. bestimmte Jugendliche ein- und andere auszuschließen (a. a. O. 169 ff.). Die konversationsanalytische Beschreibung wird exemplarisch für typische Belegstellen durchgeführt.
4.2 Die Analyse von Kontextualisierungshinweisen nach John Gumperz Englisch- und deutschsprachige Studien zum Interaktionsverhalten in Gruppen greifen häufig auf den von John Gumperz konzipierten Ansatz der „Kontextuali-
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sierung“ zurück, der sprachliche und nicht-sprachliche Hinweise auf den Kontext fokussiert. Wie wird, so lautet die Grundfrage, die Alltagssprache „orchestriert“ und von Sprechern in Musik umgesetzt? (vgl. Auer 1992, 1–3, der das mit Bachs Matthäus Passion vergleicht). Auer in Auer/Di Luzio (1992, 4) präzisiert den Kern des Ansatzes so: … contextualization therefore comprises all activities by participants which make relevant, maintain, revise, cancel … any aspect of context which, in turn, is responsible for the interpretation of an utterance in its particular locus of occurrence. Such an aspect of context may be the larger activity participants are engaged in (the „speech genre“), the small-scale activity (or „speech act“), the mood (or „key“) in which this activity is performed, the topic, but also the participants’ roles (the participant constellation, comprising „speaker“, „recipient“, „bystander“, etc.), the social relationship between the speaker and the information he conveys via language („modality“), even the status of „focused interaction“ itself.
Kontextualisierungshinweise liefern nach Auer (1999, 169) u. a. Prosodie, Körperhaltung, Sprachcode (Sprache, Varietät), soziale Rolle des gerade Sprechenden und des Angesprochenen, das Thema etc. Einzelne Belege für kommunikative Fehlschläge stammen aus interkulturellen Gesprächen. Prototypische Beispiele von John Gumperz sind solche der interkulturellen Kommunikation: Migranten beispielsweise (long residents, die sich routiniert in der Zielsprache äußern), die einer auf Englisch vollzogenen Äußerung eine aus dem Hindi entlehnte Prosodie unterlegen und mit der Äußerung auch einen in ihrer Kultur üblichen Gesichtsausdruck im Blickkontakt verbinden (siehe für Beispiele Gumperz/ Jupp/Roberts 1979). Aus einem transkribierten Korpus werden bestimmte „Schlüsseläußerungen“, die Hinweise auf den sozialen Hintergrund und soziokulturelle Begleitumstände des kommunikativen Austausches geben, herausgegriffen; es handelt sich meist um Folgen von Redebeiträgen, die zu gravierenden Missverständnissen in der Interaktion führen. Die Ursachen der Missverständnisse liegen in soziokulturellen Unterschieden im Gebrauch kommunikativer Kodes. Beliebtes Beispiel von Gumperz ist der pakistanische Busfahrer in London, der in einem vollen Bus mit lauter Stimmer die Äußerung „exact change please“ mit finaler Prosodie vollzieht. Für britische Einheimische klingt dies extrem unhöflich, denn Bitten (höfliche Aufforderungen) werden im britischen Englisch mit steigender Prosodie realisiert. Der pakistanische Busfahrer wendet die ihm vertraute, gegenläufige Prosodie des Hindi an und löst damit Missverständnisse aus. In diesem Sinne beschreibt Gumperz jeweils Einzelbelege in einer interkulturellen Interaktion. Die Prosodie ist ein wesentlicher Aspekt der Analyse (heute in der Regel mithilfe von PRAAT durchgeführt). Quelle vieler Missverständnisse ist die Realisierung eines prosodischen Musters (Hebung, Senkung der Stimme, Akzent etc.), das von den Normen der für die Interaktion geltenden Standardsprache abweicht. Zunächst wird die Auslösestruktur des Missverständnisses detailliert erfasst.
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Darauf aufbauend werden die Reaktionen des Interaktionspartners mit folgender Wirkung auf den Initiator der missverständlichen Äußerung interpretiert (siehe für die praktische Durchführung im Rahmen der interpretativen Soziolinguistik Auer/ Di Luzio 1984). Die formale oder inhaltliche Gestaltung einer Äußerung (oder einer Äußerungssequenz) wird, auf ethnographischem Hintergrund, mithilfe von Kontextualisierungshinweisen auf kommunikative Angemessenheit hin beschrieben. Von Fall zu Fall fokussiert die Beschreibung unterschiedliche (nicht-)sprachliche Eigenschaften. Die Beschreibungsverfahren sind nicht standardisiert. Die jeweilige soziolinguistische Bedeutung (Funktion) einer Ausdrucksgestalt wird im Zusammenwirken der einzelnen sprachlichen Eigenschaften im sprachlichen und außersprachlichen Kontext interpretiert. Einen Querschnitt exemplarischer (modellhafter) Analysen findet sich in Gumperz (1992). Auer/Di Luzio (1992) stellen die Beschreibungsleistungen des Kontextualisierungsansatzes auf den methodischen Prüfstand. Anhand eines per Video und Tonband aufgezeichneten Ausschnitts aus einer Interaktion zweier deutsch-italienischer zweisprachiger Kinder und einem zweisprachigen Erwachsenen modelliert Auer (1992, 4–21) eine Beschreibung, die teils etische teils emische Mittel als Kontextualisierungshinweise im Kontext der Interaktion erfasst. Die relativ erschöpfende Analyse dieses Ausschnitts mag als Modell für die Schritte der Beschreibung dienen, die eine explizite Analyse von Kontextualisierungshinweisen erfordert.
4.3 Ethnographische Beschreibung und soziale Stilistik Ethnographische Beschreibungen sind Legion – ein weites Feld. Folgende elementare Informationen sollen zur eigenständigen Weiterarbeit befähigen. Aufbauend auf der ethnographischen Datenerhebung (siehe 3.1) werden sprachliche Korpora ausgewertet, die über längere Zeiträume dokumentiert wurden. Videoaufnahmen, Protokolle und zusätzliche Interviews geben Auskunft über den außersprachlichen Kontext der Interaktionen, die Situation und die sozialen Rollen der jeweils an der Interaktion Beteiligten. Anders als bei dem Ansatz der Kontextualisierung (4.2) geht es nicht um Einzelfälle, sondern (meist!) um Gruppen, deren Mitglieder auf der Folie eigenständiger Normen regelmäßig miteinander interagieren. Die Anwendung der ethnographischen Methoden auf Freizeitgruppen in urbanen Stadtvierteln haben Kallmeyer (1994) und sein Forschungsteam soziale Stilistik genannt. Regelmäßige Tonbandaufnahmen von Freizeitgruppen über längere Zeiträume liegen in transkribierter Form als Korpus der Beschreibung zugrunde. Zunächst wurde die Stadtmundart (Mannheim) als gemeinsame für die Interkation genutzte Varietät der Gruppenmitglieder erfasst. Ein Teil der Beschreibungen bezieht sich auf Abweichungen vom Stadtdialekt. Alle Belegstellen, wo Sprecher vom Stadtdialekt in die Standardvarietät wechseln (oder umgekehrt), wurden aus dem Korpus ausgeschnitten. Über ein Jahr lang wurde eine Bastelgruppe regelmäßig einmal pro
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Woche in dem Viertel „Filsbach“ per Tonbandaufnahmen und (ethnographische) Protokolle dokumentiert. Ein großer Teil der Aufnahmen wurde nach einem gut lesbaren System literarischer Transkription verschriftlicht. Eine bedeutende Ressource des sozialsymbolischen Verhaltens stellt die Lautvariation dar. Die Gruppenmitglieder sind durchweg Dialektsprecher des Vorderpfälzischen. Was bedeutet es, so eine leitende Forschungsfrage des Mannheimer Projektes, wenn Sprecher in bestimmten situativen Kontexten zwischen Varietäten des gesprochenen Deutsch wechseln? (Kallmeyer et al. 1994, 144 ff.). Um sozialsymbolische Abweichungen der Gruppenmitglieder von der unmarkierten „Filsbachgosch“ (dialektale Schnauze der Filsbach-Bewohner) funktional zu beschreiben, legen die Autoren (Kallmeyer, Keim a. a. O. 147 ff.) ein umfangreiches Repertoire dialektaler Form an mit ihren jeweiligen Entsprechungen im Standard. Eine Reihe von „Zwischenformen“ wird erfasst, aber nicht quantifiziert. Der Grad der Relevantsetzung eines Bedeutungssegments wird im engen Zusammenhang mit der Akzentuierung, dem Tonhöhenverlauf, phonotaktischen Regeln etc. analysiert – mithilfe einer einfachen, aber systematischen formalen Notation für rhythmische und prosodische Merkmale. Die Soziolinguisten des Mannheimer Teams isolierten nun jene Äußerungen in einem Korpus, in denen Gruppenmitglieder Auswärtige bzw. Fremde als unerwünschte Eindringlinge in ihr vertrautes soziales Territorium dadurch markieren, dass sie deren unangemessen verbalisierte Anliegen, in das Milieu der Gruppe „einzudringen“, in einem steifen, unsympathischen Standardstil zitieren. Die Standardversion, langsam und hyperkorrekt gesprochen, symbolisiert das unvertraut Fremde in scharfem Kontrast zum vertrauten Dialekt. Mit dem Wechsel in die „kalte“ Standardvarietät wird dem Hörer unmissverständlich vermittelt, dass die mit welchen legitimen Anliegen oder Forderungen auch immer eindringende fremde „Stimme“ nicht willkommen ist. Der Wechsel in den Standard symbolisiert soziale Distanz. Im Unterschied zur konversationsanalytischen Beschreibung werden detaillierte Informationen zur Situation, zum Kontext des Interaktionsverlaufs und zu dem sozialen Hintergrund der Beteiligten gegeben. Es entsteht in einer flächendeckenden ethnographischen Beschreibung die dichte Qualität einer gruppendynamischen Gestalt, die das Porträt einer Gruppe abgibt – daher ist der Begrff der sozialen Stilistik auch angemessen. Über die vielfältigen Facetten ethnographischer Beschreibung geben detaillierte, anwendungsbezogene Informationen zur Planung von Projekten Copland/Creese (2015), Duranti (1997), Goodwin (1993), Kallmeyer (1994), Hymes (1962) und SavilleTroike (2003).
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II Sprachmuster und Kommunikation in sozialen Gruppen
Stephan Elspaß
5. Sprachvariation und Sprachwandel Abstract: Nur tote Sprachen sind unveränderlich. Zum Wesen lebender Sprachen gehört indes, dass sie variieren und der Veränderung unterliegen. Sprachlicher Wandel setzt sprachliche Variation voraus, aber nicht jede Variation führt zum Wandel. Sprecher/innen und Schreiber/innen variieren ihre Sprache – häufiger unbewusst als bewusst – im Gebrauch. Ein Wandel zeigt sich in der Regel als nicht geplantes Ergebnis des kumulativen Zusammenwirkens eines bestimmten intentionalen Sprachgebrauchs Vieler. Sprachliche Variation und sprachlicher Wandel finden mithin da statt, wo Menschen Sprache verwenden, also in der sprachlichen Interaktion zwischen zwei oder mehr Kommunizierenden, die wiederum verschiedenen sozialen Gruppen angehören können. Sprachliche Varianten sind dabei nicht allein Indikatoren einer bestimmten Herkunft oder Sozialisation. Ihnen lässt sich auch ein sozialer Wert zuschreiben, so dass sie bevorzugt verwendet bzw. unterdrückt – mehr oder weniger bewusst zur stilistischen Markierung oder zur Selbstpositionierung – oder sogar als Stereotype verwendet werden. Solche Verhaltensweisen können den Sprachwandel bisweilen in Richtungen lenken, die im Resultat wenig ökonomisch erscheinen. 1
Grundsätzliches: Variation und Wandel als Wesensmerkmale von Sprache – Alltagssprache als Ausgangspunkt ihrer Untersuchung 2 Beschreibungskonzepte für Sprachvariation 3 Zum Verhältnis von Sprachvariation und Sprachwandel – theoretische und methodische Konzepte 4 Nachsatz: Die sprachpolitische Verantwortung der Linguistik 5 Literatur
1 Grundsätzliches: Variation und Wandel als Wesensmerkmale von Sprache – Alltagssprache als Ausgangspunkt ihrer Untersuchung Es ist ein Axiom der soziolinguistisch orientierten Sprachwissenschaft, dass Variation und Wandel der Normalfall in lebenden Sprachen sind und nur tote Sprachen keiner Veränderung mehr unterliegen. Variation bezieht sich dabei auf die Veränderlichkeit von Sprache zu einem bestimmten Zeitpunkt, also das gleichzeitige Nebeneinander von verschiedenen Ausdrucksformen und Bedeutungen bzw. Funktionen, Wandel auf die Veränderlichkeit von Sprache in diachroner Perspektive, also das zeitliche NachDOI 10.1515/9783110296136-005
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einander von verschiedenen Ausdrucksformen und Bedeutungen bzw. Funktionen. Anders formuliert: – –
Sprachvariation liegt vor, wenn zur Realisierung einer sprachlichen Funktion mehr als eine sprachliche Form verwendet wird. Sprachwandel liegt vor, wenn sich die Zuordnungen zwischen sprachlichen Funktionen und sprachlichen Formen über die Zeit verändern. (modifiziert nach Pickl 2013, 39)
Der Gedanke der Veränderlichkeit von Sprache mag der Intuition vieler Mitglieder einer schriftkulturell geprägten Gesellschaft widersprechen, die eher das Bild einer einheitlichen, kaum veränderlichen Standardsprache vor Augen haben (von der es allenfalls einige Abweichungen in Form von ,Nonstandard‘-Formen und daneben vielleicht noch einige Dialekte gebe). Dieser Eindruck einer weitgehenden Homogenität einer Einzelsprache wird sich einstellen, wenn man vor allem standardsprachliche Texte vor Augen sowie mündliche Verlautbarungen standardsprachlicher Texte im Ohr hat, wie man sie etwa in Radio- und Fernsehnachrichten hört. Man muss sich bewusst machen, dass eine solche Wahrnehmung erst seit wenigen Generationen überhaupt möglich ist: Relativ einheitliche geschriebene – genauer: gedruckte – Texte gibt es erst seit den Kodifizierungen der geschriebenen Standardsprache und deren Durchsetzung im Buch- und Zeitungsdruck sowie im Bildungsbereich in den letzten 100 bis 150 Jahren. Solche Texte erreichen die große Mehrheit der Bevölkerung freilich erst seit der Massenalphabetisierung des 19. Jahrhunderts und der Verbreitung gedruckter Massenmedien in dieser Zeit. Überregionales, an einem Aussprachekodex geschultes Sprechen ist erst seit der Kodifizierung der Bühnensprache am Ende des 19. Jahrhunderts möglich, welche lange Zeit auch maßgeblich für die Ausbildung von Wochenschau- und Nachrichtensprecher/inne/n war. Für die Mehrheit der Bevölkerung in den deutschsprachigen Ländern ist eine solche an der Schrift orientierte Explizitlautung erst seit der Verbreitung von Rundfunk, Film und Fernsehen in den 1930er Jahren hörbar. Die Instrumentalisierung der audiovisuellen Massenmedien durch die NS-Propaganda in den 1930er und 1940er Jahren hatte an der raschen Verbreitung dieser relativ homogenen Aussprache des Schriftdeutschen einen nicht unbeträchtlichen Anteil. Ontogenetisch und phylogenetisch primär ist jedoch nicht elaboriertes Schreiben und Sprechen, sondern das Sprechen in der alltagssprachlichen Interaktion. Als hilfreiches Modell zur Differenzierung von eher alltagssprachlichen Kommunikationsformen auf der einen und (ontogenetisch und phylogenetisch) sekundären, elaborierteren Sprachlagen auf der anderen hat sich das ,Nähe-Distanz‘-Modell erwiesen (Oesterreicher/Koch 2016). ,Nähesprache‘ gründet nach diesem Modell auf einer Kombination von Kommunikationsbedingungen wie Privatheit, Vertrautheit der Kommunikationspartner, Situations- und Handlungseinbindung, raum-zeitliche Nähe, Dialogizität, freie Themenentwicklung u. a. (vgl. ebd., 24). Prototypisch für Alltagssprache im Sinne von ,Nähesprache‘ oder ,konzeptioneller Mündlichkeit‘ ist danach
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die face-to-face-Kommunikation unter miteinander vertrauten Kommunikationspartner/inne/n. Nähesprachliche Kommunikation ist freilich auch über andere Medien und Kommunikationsformen möglich, gesprochen etwa über das Telefon, getippt über Mobiltelefone und Computer, handschriftlich über Papier (Briefe, Kassiber etc.). Der ,Distanzsprachlichkeit‘ oder ,konzeptionellen Schriftlichkeit‘ (auch diese Termini werden von Oesterreicher/Koch synonym verwendet) liegen dagegen typischerweise Kombinationen von Kommunikationsbedingungen wie Öffentlichkeit, Fremdheit der Kommunikationspartner, Situations- und Handlungsentbindung, raum-zeitliche Distanz, Monologizität, Themenfixierung u. a. zugrunde. Distanzsprachliche Genres beruhen in allen Sprachgesellschaften auf langen Diskurstraditionen. Ein prototypisches Beispiel sind Rechtssprachen. In Schriftkulturen wird Distanzsprachlichkeit tendenziell im geschriebenen Medium realisiert, Nähesprachlichkeit tendenziell im gesprochenen Medium; eine „medium-transferability“ (Lyons [1981], zit. ebd., 21) ist jedoch jederzeit möglich. Nähesprachliche Kommunikation ist regelgeleitet – sonst wäre sie nicht möglich – und unterliegt insofern konventionellen/subsistenten Normen (auch ,Gebrauchsnormen‘); distanzsprachliche Kommunikation ist häufig zusätzlich von gesetzten/statuierten Normen geprägt (Gloy 1998; von Polenz 1999, 229 f.). Tendenziell lässt Nähesprache mehr Raum für Variation als Distanzsprache. So kann Variation in distanzsprachlichen Varietäten – wie etwa in geschriebener Standardsprache – als Abweichung von gesetzten/statuierten Normen aufgefasst werden und als solche negative Sanktionen nach sich ziehen (z. B. durch Notenbewertung in der Schule, Selektion in Bewerbungsverfahren, Stigmatisierungen im öffentlichen Diskurs etc.) – es sei denn, Variation wird als Teil der Norm anerkannt (vgl. dazu etwa Elspaß 2005) oder im Rahmen stilistischer Auffälligkeiten toleriert (s. Abschnitt 3.7). Nichtintendierte Variation in der nähesprachlichen Kommunikation bleibt dagegen häufig unbemerkt. Wenn sie bemerkt wird, stellen sich soziale Folgen allenfalls mittelbar ein – etwa dadurch, dass Variation mit der Herkunft oder der sozialen Rollen der Sprecherinnen oder Schreiber in Verbindung gebracht wird. Es ist aber auch möglich, dass Sprecher oder Schreiberinnen in der Nähesprache Variation nützen, um sich im sozialen Raum selbst zu verorten (s. ebd.). Was für Variation auf synchroner Ebene gilt, trifft auch auf die Entwicklung von Sprache(n) auf diachroner Ebene zu. Paul stellt in seinen „Prinzipien der Sprachgeschichte“ der ,natürlichen‘ Entwicklung die ,künstliche‘ gegenüber: Man muss […] unterscheiden zwischen der natürlichen Entwickelung der Sprache und der künstlichen, die allerdings durch ein absichtlich regelndes Eingreifen zu Stande kommt. (Paul 1920, 18)
Auch wenn die Redeweise von einer „natürlichen“ Entwicklung oder einem „natürlichen“ Wandel eine positive Bewertung nahelegt – und sich damit der Gefahr einer naturalistic fallacy aussetzt –: Im Vordergrund steht hier eine nüchterne Differenzie-
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rung von Ausprägungen von Sprachlagen, die in ganz unterschiedlichem Maß normierenden Einflüssen ausgesetzt sind, z. B. im Rahmen von Standardisierungsprozessen. Diese Ausprägungen sollen wiederum mit den Prototypen Nähesprache und Distanzsprache eingefangen werden. Für den Sprachwandel gilt dann, dass er im Bereich der Nähesprache so natürlich wie unvermeidbar ist: Wo Sprache verwendet wird, ändert sie sich zwangsläufig auch, denn „[d]ie eigentliche Ursache für die Veränderung des Usus ist nichts anderes als die gewöhnliche Sprechtätigkeit“ (ebd., 32; Herv. im Original). Distanzsprachliche Kommunikation hingegen ist auf Verstetigung angelegt. In der Distanzsprache ist Sprachwandel grundsätzlich ebenfalls möglich, wird hier aber eher durch vorsätzliche Eingriffe herbeigeführt, wie z. B. im Rahmen einer Rechtschreibreform. M. a. W.: Während Sprachwandel in der Nähesprache regulär ist, kann er in der Distanzsprache als Ergebnis regulierenden Handelns begegnen. Darauf wird mit der Unterscheidung von ,Sprachwandel von unten‘ und ,Sprachwandel von oben‘ (in Abschnitt 3) zurückzukommen sein. Vor dem Hintergrund dieser Erwägungen wird verständlich, dass sich das Hauptinteresse der linguistischen Forschung zu Variation und Wandel auf die alltags-/ nähesprachliche Interaktion richtet. Entsprechende Sprachlagen haben Weinreich/ Labov/Herzog (1968) vor Augen, wenn sie Sprache in ihrer für die moderne realistische Sprachwissenschaft wegweisenden Schrift „Empirical Foundations for a Theory of Language Change“ als „an object possessing orderly heterogeneity“ bezeichnen und diese Grundannahme als „key to a rational conception of language change“ beschreiben (ebd., 100 f.). Für die muttersprachliche Kompetenz ist Variation nach Weinreich/Labov/Herzog demnach kein Störfaktor, sondern ein Wesensmerkmal. Im Gegenzug heißt das: „in a language serving a complex (i. e., real) community, it is absence of structured heterogeneity that would be dysfunctional“ (ebd., 101; Herv. im Original). Dass Sprachvariation als Schlüssel zur Erforschung von Sprachwandel betrachtet werden kann, erwies sich gegenüber den vom Strukturalismus dominierten Ansätzen der Sprachwissenschaft der Zeit als Erkenntnisfortschritt. Noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde infrage gestellt, ob man Sprachwandel überhaupt beobachten kann. Hockett (1958, 439) etwa behauptete: „No one has yet observed sound change: we have only been able to detect it via its consequences.“ Dagegen geht die sozio- und variationslinguistisch orientierte Sprachwandelforschung davon aus, dass der Prozess des Sprachwandels sehr wohl zu erschließen ist: Variationen und Varianz [stellen] nicht selten ein Indiz für einen gerade sich vollziehenden sprachlichen Wandel dar. […] Das diachronische Nacheinander äußert sich also oft in einem synchronischen Nebeneinander, in synchronischen Oppositionen; das heißt, die Varianten sind dann Ausdruck […] sprachlicher Bewegung. (Langner 1988, 17 f.)
Dieser Sachverhalt sei an einem ersten Beispiel illustriert: Die folgenden vier Formen lassen sich ,synchronisch‘ als Variationen einer inhaltlich gleichbleibenden Äuße-
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rung auffassen, wenn man sie wie in der linken Spalte aufgeführt betrachtet. Wenn man sie dagegen wie in der rechten Spalte aufreiht, können die Formen als verschiedene Stufen phonologischen und grammatischen Wandels im aktuellen Sprachgebrauch gedeutet werden (Tendenz zum Wegfall finaler Dentale, insbesondere in komplexen Silbenkodas; Grammatikalisierung von nicht brauchen als Modalverb): Er braucht bald nicht mehr zu arbeiten. Er brauch bald nich mehr arbeiten. Er braucht bald nich mehr arbeiten. Er braucht bald nich mehr zu arbeiten.
Er braucht bald nicht mehr zu arbeiten. Er braucht bald nich mehr zu arbeiten. Er braucht bald nich mehr arbeiten. Er brauch bald nich mehr arbeiten.
Die soziolinguistisch geprägte Variationslinguistik und Sprachwandelforschung versucht nun zum einen, die letzten Endes ,außersprachlichen‘ Faktoren bzw. Bedingungen für sprachliche Variation und sprachlichen Wandel zu ergründen. Zum anderen untersucht sie auch die soziale Bedeutung, die variierenden Formen in Sprachgemeinschaften zugeschrieben werden kann und die – bewusst oder unbewusst – zum Sprachwandel beitragen können.
2 Beschreibungskonzepte für Sprachvariation Der Terminus Variation bezieht sich, wie eingangs ausgeführt, auf die grundsätzliche Veränderlichkeit von Sprache. Er wird als Sammelbegriff für die heterogene Menge von sprachlichen Formen in einer natürlichen Sprache verwendet, die linguistisch beschrieben werden können. Das folgende Kapitel stellt zentrale Termini und damit zugleich grundlegende Beschreibungskonzepte für Variation vor. Ich orientiere mich dabei an den Verwendungsweisen der in dieser Hinsicht führenden anglo-amerikanischen Soziolinguistik.
2.1 Varianten und Variablen Als sprachliche Variante bezeichnet man die usuelle Realisierung einer abstrakten, in ihrer Ausprägung veränderlichen linguistischen Einheit, der Variablen. Beispiele für Varianten sind die Reibelaute [ç], [ɕ] oder der Verschlusslaut [k] als Ausspracheformen für das geschriebene g im Wort König im Deutschen, das -s und das -e in Balkons bzw. Balkone als zwei mögliche Kennzeichnungen des Plurals von Balkon, die Wörter Samstag und Sonnabend als Bezeichnungen des ‚Wochentags vor dem Sonntag‘ oder die Phrasen ich bin gestanden und ich habe gestanden als Formen zum Ausdruck des Perfekts von stehen. Schibboleths sind sprachliche Varianten, anhand derer sich – im forensischen Sinn – die soziale oder regionale Herkunft von Sprecher/inne/n zuordnen lässt.
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Schibboleths können also deren Herkunft ‚verraten‘, vgl. das eindrückliche Schicksal der biblischen „Sibboleth“-Sprecher, der Ephraimiten: Und die Gileaditer besetzten die Furten des Jordans vor Ephraim. Wenn nun einer von den Flüchtlingen Ephraims sprach: Lass mich hinübergehen!, so sprachen die Männer von Gilead zu ihm: Bist du ein Ephraimiter? Wenn er dann antwortete: Nein!, ließen sie ihn sprechen: Schibbolet. Sprach er aber: Sibbolet, weil er’s nicht richtig aussprechen konnte, dann ergriffen sie ihn und erschlugen ihn an den Furten des Jordans, sodass zu der Zeit von Ephraim fielen zweiundvierzigtausend. (Buch Richter 12, 5–6)
Systematisch beschreibbare sprachliche Variablen werden in der Soziolinguistik nach drei Typen differenziert (Labov 1994, 78, 2001, 196 f.; vgl. auch Johnstone et al. 2006, 82 f., die diese Differenzierung in Anlehnung an das semiotische Konzept der ,indexikalischen Ordnung‘ weiterentwickelt haben): a) Als Indikatoren oder ,indizierende‘ Merkmale werden solche bezeichnet, die von Muttersprachler/inne/n in der Verwendung kaum variiert werden. Sie sind den Sprecher/innen i. d. R. nicht bewusst, so dass sie von ihnen auch nicht metasprachlich kommentiert werden (können), s. das Beispiel „Sibboleth“. Linguistisch lassen sich solche Merkmale in Relation zu sprachexternen Größen wie Alter, Gender, regionale oder soziale Herkunft beschreiben, und sie unterliegen diesbezüglich einer Stratifikation. b) Als Marker gelten Merkmale, die Muttersprachler/innen in sozialen oder stilistischen Kontexten variabel verwenden und die durch einen wiederkehrenden Gebrauch in bestimmten Kontexten (z. B. eher formellen Situationen) soziale Bedeutung erlangen können – auch wenn sich Sprecher/innen solcher Merkmale und ihrer sozialen Bedeutung (ebenfalls) nicht unbedingt bewusst sind. Sprecher/innen ,markieren‘ ihr Sprachverhalten entweder durch die – mehr oder weniger bewusste – Verwendung oder die Vermeidung dieser Merkmale. Letzteres liegt etwa vor, wenn Sprecher/innen bairischer Mundarten bei der Aussprache von sagen in formelleren Kontexten den „dumpfen“, „dunklen“ a-Laut und/oder das anlautende stimmlose s unterdrücken und stattdessen [ˈza:ɡn̩] sagen. c) Stereotype werden solche Merkmale genannt, die den Sprecher/innen völlig bewusst sind und die daher von ihnen nicht nur kommentiert werden, sondern auch Gegenstand von Korrekturen sein können. Die ,stereotype‘ Zuordnung kann so weit gehen, dass diese Merkmale gar nicht mehr zum tatsächlichen Sprachgebrauch einer bestimmten sozialen Gruppe gehören, z. B. wenn als Aussprachemerkmal von Sprecher/innen aus dem hohen Norden die Lautung [s] statt [ʃ] wie in „über einen s-pitzen S-tein s-tolpern“ genannt wird. Sprachspott beruht auf solchen Stereotypen. Diese an verschiedenen Stufen der Bewusstheit bzw. Kontrolle der Sprecher/innen sowie verschiedenen Graden sozialer Bedeutung orientierte Differenzierung wurde häufig mit chronologisch beschreibbaren Stadien des Sprachwandels in Verbindung gebracht. Das kann an einem historischen und einem gegenwärtigen Beispiel aus dem Deutschen illustriert werden: Im 19. Jahrhundert trat im Rheinland – möglicher-
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weise als Sprachkontakterscheinung – die ,Koronalisierung‘ als Ausspracheerscheinung auf. So wurde der ich-Laut (z. B. beim g in König) von vielen rheinischen Sprecher/innen, zunächst in relativ freier Variation, nicht mehr als palatales [ç], sondern als alveo-palataler Frikativ [ɕ] ausgesprochen (Indikator). Diese Lautung breitete sich relativ schnell aus und wurde in bestimmten sozialen Kontexten gebräuchlich (Marker). Mit zunehmender Kommentierung als ,typisch rheinisch‘ bzw. als in verschiedenen öffentlichen Sprechsituationen unerwünschtes Aussprachemerkmal wurde die Koronalisierung den Sprecher/inne/n offenbar bewusst (Stereotyp), was im Fall von König in gehobener Redeweise am Ausweichen vieler Sprecher/innen auf die [-ɪĸ]-Aussprache erkennbar ist. Ähnliches kann man für die gegenwärtige Entwicklung der Koronalisierung in urbanen Zentren, wie z. B. Berlin, feststellen, wo der ethnolektale Marker [ɕ] bzw. [ʃ] auf dem Weg vom Marker zum Stereotyp ist. Dies ist zum einen an seiner Adaption in Sprechweisen bestimmter Jugendszenen ersichtlich (vgl. Wiese 2012, 38 f.), zum anderen an seiner Karikierung durch sogenannte ,Comedians‘.
2.2 Varietäten Als Varietät einer Sprache gilt ein Teilsystem innerhalb einer natürlichen Sprache, sozusagen eine „Sprache in der Sprache“ (Linke/Voigt 1991). Sie lässt sich idealerweise durch eine relativ stabile Teilmenge sprachlicher Varianten von anderen Teilsystemen derselben Sprache abgrenzen. Genauer und präziser formuliert, können Varietäten als „Variantenkonfigurationen“ begriffen werden, die sich „durch die Rekurrenz bestimmter Kombinationsmuster“ innerhalb von Äußerungseinheiten „fortlaufend (re-)konstituieren und sich gegen andere habitualisierte Variantenkonfigurationen im Repertoire der betreffenden Sprechgemeinschaft (z. B. vertikal) und/oder gegen Variantenkonfigurationen im Sprachgebrauch anderer Sprechgemeinschaften (bspw. im Raum, d. h. horizontal) abgrenzen lassen“ (Lanwer 2015, 72). Solche Variantenkonfigurationen können wieder im Zusammenhang mit bestimmten außersprachlichen Merkmalen stehen, z. B. der regionalen Herkunft der Sprecher oder einer typischen Kommunikationssituation. Als Varietäten des Deutschen zählen typischerweise Dialekte, oder auch die in den deutschsprachigen Ländern regional und national verschieden ausgeprägten Formen der Standardsprache, die als Standardvarietäten bezeichnet werden. Mit dieser Terminologie wird deutlich gemacht, dass selbst die als ,Standard‘ angesehenen Varietäten im Varietätengefüge einer Sprachbevölkerung nur einige von vielen möglichen Ausprägungen darstellen. Als typische Varietäten wurden in der älteren deutschsprachigen Soziolinguistik auch „Soziolekte“, „Genderlekte“, „Mediolekte“ u. a. gesehen (vgl. das Varietäten-Modell in Löffler 2016, 79). Außer mit Bezug auf regionale Herkunft oder typische kommunikative Kontexte ist es jedoch bisher kaum überzeugend gelungen, Korrelationen zwischen solchen ,Lekten‘ und einem bestimmten außersprachlichen Faktor herzustellen. So lassen sich vermeintliche sprachliche Indikatoren einer sozialen Schicht oftmals genauso gut als
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typische Kennzeichen von Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit oder als Kennzeichen der regionalen Herkunft von Sprecher/inne/n deuten. Die neuere Soziolinguistik, die sich in den deutschsprachigen Ländern – auch aus Gründen der Abgrenzung zur frühen Soziolinguistik – eher als ,Variationslinguistik‘ bezeichnet, richtet ihr Augenmerk denn auch stärker auf multifaktorielle Erklärungsansätze. Akzente sind Variantenkonfigurationen auf rein lautlicher und intonatorischer Ebene. Sie können – wie Schibboleths – Indikatoren für die regionale oder soziale Herkunft der Sprecher/innen sein. Als Register wird eine Varietät bezeichnet, deren Merkmale an einen typischen, wiederkehrenden kommunikativen Kontext gebunden sind und in diesem bestimmte Funktionen erfüllen. In der englischsprachigen Literatur ist folgende Definition weithin anerkannt: […] a register [is] a language variety associated with both a particular situation of use and with pervasive linguistic features that serve important functions within that situation of use. (Biber/ Conrad 2009, 31)
Als Beispiele für Register werden in der linguistischen Literatur vor allem Berufssprachen bzw. Fachjargons genannt, aber auch informelle vs. formelle Sprech- und Schreibweisen. Erstere sind im Wesentlichen durch die Verwendung bestimmter lexikalischer Varianten charakterisiert, Letztere können sich darüber hinaus auch durch lautliche oder grammatische Merkmale auszeichnen. Dass Sprechweisen je nach Formalitätsgrad der Kommunikationssituation unterschiedlich sein können, versucht man in Untersuchungen durch Versuchsdesigns abzubilden, bei denen verschiedene Aufgaben für unterschiedliche Formalitätsgrade stehen. So werden Sprecher/innen bei Studien zur Lautvariation typischerweise in Alltagsgesprächen (informell, privat), Interviews (informell bis formell, halböffentlich) sowie beim Vorlesen von standardisierten Texten (formell) oder Wortlisten (maximal formell und kontrolliert) aufgenommen. Stile werden – zumindest in der neueren soziolinguistischen Literatur – nicht als Varietäten definiert, sondern als Variantenkonfigurationen, die durch Sprecherinnen und Schreiber in der Interaktion konstruiert und entsprechend flexibel eingesetzt werden können. Die Sprecher und Schreiberinnen werden damit in die Lage versetzt, bestimmte Rollen aufzuführen. In dieser Sichtweise werden sie nicht mehr in erster Linie als sich nicht nur äußernde (Re-) Produzent/inn/en von ,Gruppensprachen‘ gesehen, sondern als durch Sprache und andere semiotische Systeme (Kleidung, Habitus etc.) handelnde Individuen. Stile sind also – anders als Varietäten i. e. S. oder Register – nicht durch die Herkunft oder einen typischen Kontext festgelegt. ,Jugendsprachen‘ etwa lassen sich wohl am besten als „subkulturelle Stile“ erfassen, die „Ausdrucksformen sprachlichen wie nichtsprachlichen Handelns“ sind (Neuland 2008, 71). In einem solchen soziopragmatischen Verständnis lassen sich auch (adressatenbezogene) Ausprägungen von Schreibkonventionen unter dem Stil-
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Begriff fassen, z. B. eine historisierende Sprache in einem historischen Roman, der ,Verliebtheitston‘ in Liebesbriefen, die Inszenierung von Regionalität oder Gender in Chat-Foren u. a. Nationale Varietäten und Dialekte – man könnte sie als Varietäten i. e. S. bezeichnen – enthalten Schibboleths, also Merkmale, die den Sprecher/inne/n gewissermaßen in die Wiege gelegt worden sind. Demgegenüber handelt es sich bei Register- und Stil-Markern um solche, die erst im späteren Verlauf der Sprachsozialisation erworben werden, und die es den Sprecher/inne/n eben erlauben, je nach Bedarf und je nach Situation ein bestimmtes ‚Register zu ziehen‘ oder durch die Verwendung eines Stils in eine gewisse Rolle zu schlüpfen. Dazu kann dann auch zählen, dass man ausgewählte Schibboleths oder Stereotype (auch die eines Dialekts) bewusst zur Erzielung bestimmter Handlungszwecke verwendet. Die Gesamtheit an sprachlichen Varietäten (i. e. S.) und Registern, die einem Sprecher oder einer Schreiberin zur Verfügung stehen, bilden sein/ihr sprachliches Repertoire innerhalb seiner/ihrer Muttersprache, sozusagen die „innere Mehrsprachigkeit“, die von Sprecher zu Sprecher oder von Schreiberin zu Schreiberin verschieden breit gefächert ist; zusammen mit der „äußeren Mehrsprachigkeit“, die sich auf das Beherrschen verschiedener Sprachen bezieht, konstituiert sie – in einem weiteren Verständnis von Mehrsprachigkeit – die „Mehrsprachigkeit des Menschen“ (Wandruszka 1979). Mit der „innersprachlichen Mehrsprachigkeit“ (Linke/Voigt 1991, 12) meint man dagegen das Vorhandensein verschiedener Varietäten i. w. S. innerhalb einer (National-) Sprache. In einem Teil der Fachliteratur gehen die beiden Termini allerdings durcheinander, bzw. wird „innere Mehrsprachigkeit“ dort unterschiedslos einmal für den einen, einmal für den anderen Begriff verwendet. So essentiell es für das linguistische Verständnis von Sprache ist, dass es sie ohne Variation i. S. von „structured heterogeneity“ (s. o.) nicht geben kann, so wesentlich ist es für dieses Verständnis, dass in jeder lebenden Sprache Varietäten, Register, Stile und Akzente existieren. Ein ,akzentfreies Deutsch‘ etwa gibt es genauso wenig wie ein ,dialektfreies Deutsch‘, und linguistisch gesehen können auch Standardvarietäten als ,Dialekte‘ i. w. S. gelten.
3 Zum Verhältnis von Sprachvariation und Sprachwandel – theoretische und methodische Konzepte 3.1 Innovation und Wandel Sprachlicher Wandel setzt sprachliche Variation voraus, aber nicht jede Variation führt zum Wandel. Variation kann da beginnen, wo ein Sprecher nicht so spricht oder schreibt wie andere, genauer: wenn er
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– eine neue Ausspracheform verwendet, z. B. ich mit [ɕ] spricht und nicht mit [ç], oder bei nicht das [t] nicht mehr vernehmbar artikuliert, – eine neue Schreibweise gebraucht, z. B. kuhl statt cool, – ein ganz neues Wort in die Welt setzt, z. B. sitt ([sɪt] oder [zɪt]) i. S. v. ‚nicht mehr durstig sein‘, – eine neue Wortbildung kreiert, z. B. nichtsdestotrotz (statt nichtsdestoweniger), – oder eine neue grammatische Form bildet, z. B. gewunken (statt gewinkt, in Analogie zu getrunken) oder geschlaft (statt geschlafen, in Analogie zu gestraft). Ob diese Formen, die durchwegs vom Sprachsystem des Deutschen lizenziert sind, vom selben Sprecher wiederholt verwendet werden, also nicht einmalig bleiben (z. B. im Fall von Versprechern oder Verschreibern), ist die eine Frage. Ob der Sprecher sie wiederholt gebraucht und sie von anderen Sprecher/inne/n aufgenommen und damit zu Varianten bestehender Formen werden, ist die andere. Und ob diese Varianten sich soweit im Sprachgebrauch ausbreiten, dass andere Varianten schließlich außer Gebrauch kommen, ist wiederum die für den Prozess des Sprachwandels entscheidende Frage. J. Milroy unterscheidet in diesem Sinne zwischen Sprecher-Innovation (die – um ein mögliches Missverständnis zu vermeiden – nicht geplant, kontrolliert oder sogar kreativ sein muss) und Sprachwandel: We can describe speaker-innovation as an act of the speaker which is capable of influencing linguistic structure. […] If […] the innovation is successful, the reflex of this speaker-act is change in the language system […]. (Milroy 1992, 169, Herv. im Original)
Beobachtet werden kann nun nicht nur der Sprachwandel als Ergebnis der Ausbreitung einer (damit erfolgreichen) Innovation, sondern auch die Diffusion einer innovativen Variante, die i. d. R. in einer geordneten Weise verläuft und typischerweise in Form einer S-Kurve beschrieben werden kann (ebd., 169 f.).
3.2 Sprachwandel ,von oben‘ und Sprachwandel ,von unten‘ Hinsichtlich grundsätzlicher Prozesse des Sprachwandels differenziert Labov in einen Sprachwandel von oben und einen Sprachwandel von unten: Changes from above are introduced by the dominant social class, often with full public awareness. Normally they represent borrowings from other speech communities that have higher prestige in the view of the dominant class. Such borrowings do not immediately affect the vernacular patterns of the dominant class or other social classes, but appear primarily in careful speech, reflecting a superposed dialect learned after the vernacular is acquired. […] Changes from below are systematic changes that appear first in the vernacular, and represent the operation of internal, linguistic factors. At the outset, and through most of their development,
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they are completely below the level of social awareness. […] It is only when changes are nearing completion that members of the community become aware of them. Changes from below may be introduced by any social class, although no cases have been recorded in which the highest-status social group acts as the innovating group. (Labov 1994, 78)
Auch wenn der diastratische, also auf eine Differenzierung sozialer Schichten bezogene Aspekt der Unterscheidung ,von oben‘ und ,von unten‘ (zuerst in Labov 1966) für die ältere Soziolinguistik besonders attraktiv erschien und dementsprechend stark rezipiert wurde, so ist dieser nicht der entscheidende. J. Milroy behauptet sogar, dass die starke Betonung sozio-ökonomischer ,Klassen‘ für die soziolinguistische Modellbildung eine beträchtliche Einschränkung nach sich ziehe, weil Klassen nicht in jeder Gesellschaft vorkommen (Milroy 2012, 547 f.). So hat es sich als problematisch erwiesen, die in der anglo-amerikanischen Literatur verbreiteten sozialstratifikatorischen Modelle etwa auf die Verhältnisse in den deutschsprachigen Ländern zu übertragen. Das hat sich etwa in der Rezeption der Arbeiten des Soziologen B. Bernstein und der sich darauf berufenden Sprachbarrieren-Hypothese sowie deren überstürzte Adaption in schulpolitischen Modellen der 1960er und 1970er Jahre gezeigt (vgl. die kritischen Darstellungen in Barbour/Stevenson 1998, 201 ff., und Löffler 2016, 154 ff.). Bedeutsamer ist in Labovs Definitionspaar aber die Verbindung der ‚Oben-Unten‘Metapher mit unterschiedlichen sprachlichen Registern und verschiedenen Stufen sozialen Bewusstseins: ,Von unten‘ bezieht sich auf unbewussten, ,von oben‘ auf bewussten Wandel. ,Unten‘ ist danach im vernakulären Bereich zu verorten, was in der hier verwendeten Terminologie dem Bereich der Alltags-/Nähesprache entspricht (s. o. Abschnitt 1). Der Wandelprozess beginnt auf der Stufe von Indikatoren, also Variablen, die den Sprecher/inne/n nicht bewusst sind (Labov 2001, 196; s. o. Abschnitt 2). Die Annahme ist also, dass sich sprachlicher Wandel ,von unten‘ überwiegend unbemerkt in der Alltagssprache abspielt und erst dann soziale Aufmerksamkeit auf sich zieht, wenn er fast abgeschlossen ist. Beispiele für Sprachwandel ,von oben‘ wären auf einer Makroebene die behördlich verordnete und betriebene Implementierung einer Amtssprache, die Durchsetzung von Rechtschreibreformen oder eines ,geschlechtergerechten Sprachgebrauchs‘ im Wortschatz und der Wortbildung (z. B. durch Movierung mit dem Suffix -in); auf einer Mikroebene zählen dazu v. a. Entlehnungen („borrowings“) im Bereich der Lexik, so etwa die verbreitete Übernahme von Lehnwörtern in spezialisierten Domänen (wie etwa Anglizismen im Management-Diskurs oder der Mode, Italianismen und Gallizismen im Bereich der Kulinarik etc.). Das sind alles Beispiele für Wandel, der sich erst nach Abschluss des Erstspracherwerbs vollzieht („after the vernacular is acquired“). Als Beispiele für Sprachwandel ,von unten‘ können auf der Makroebene die Entstehung von neuen Varietäten gelten (z. B. ein ,Regiolekt‘, ,Kiezdeutsch‘, oder auch Pidgins oder Kreolsprachen wie ,Küchendeutsch‘/,Namibian Black German‘ oder ,Unserdeutsch‘); auf der Mikroebene können Lautwandelerscheinungen (z. B. die Zweite Lautverschiebung, die erwähnte Verbreitung der Koronalisierung) oder auch
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die meisten Formen flexionsgrammatischen und syntaktischen Wandels angeführt werden. Ein Fall flexionsgrammatischen Wandels ,von unten‘ ist etwa das Aufkommen der Form gewunken als Partizip II-Form von winken. (Diese Variante ist inzwischen offenbar selbst im Buchdruck geläufiger als gewinkt, wie allein ein Vergleich der beiden Formen über eine Abfrage im Google Books Ngram Viewer eindrücklich zeigt.) Die Öffentlichkeit scheint sich besonders für Sprachwandel ,von oben‘ zu interessieren, die Linguistik dagegen eher für Sprachwandel ,von unten‘. Für das öffentliche Interesse an Phänomenen eines Wandels ,von oben‘ stehen etwa die Diskussion um die Rechtschreibreform oder die Anglizismen-Diskussion. Dies ist vor dem Hintergrund nachvollziehbar, dass sich diese Wandelphänomene ,im vollen öffentlichen Bewusstsein‘ abspielen. Phänomene eines ,Sprachwandels von unten‘ spielen dagegen in der öffentlichen Diskussion eine geringere Rolle – sieht man einmal ab von den an zwei Händen abzählbaren „z. T. 100–200 Jahre alten sprachkritischen Ladenhüter[n]“ wie Dativ nach wegen, wie nach Komparativ, nicht brauchen ohne zu etc. (von Polenz 1999, 299, nach Diekmann [1991]), die in der sprachpflegerischen Literatur immer wieder hervorgeholt werden. Die meisten aktuellen Sprachwandelphänomene werden jedoch nicht öffentlich thematisiert, eben weil sie den meisten Sprachteilnehmer/inne/n gar nicht auffallen. Beispiele dafür sind die Ausbreitung des im Englischen als „uptalk“ (oder „high rising terminal (HRT)“) bezeichneten Intonationsmusters mit steigendem Akzent bei Deklarativsätzen auch im Deutschen, die Verbreitung von Diskursmarkern wie ich mein(e) oder weil, obwohl, wobei (Letztere mit Verbzweitstellung). Beispiele phonetischen Wandels sind die Vereinfachung von Konsonantenclustern (z. B. durch Wegfall von Dentalen in nich, jetz u. a., dieser kann sich auch in kaum auffallenden Schreibungen wie berüchtigste niederschlagen), die fortschreitende Nebensilbenabschwächung in Lehnwörtern (vgl. verbreitete Falschschreibungen wie Reperatur, korregieren oder projezieren) oder die neuerliche Verbreitung der Koronalisierung (die als regionale Variante immer mehr vermieden wird, aber dafür als ethnolektaler Marker eine Renaissance erlebt). Die linguistische Literatur zu Phänomenen des Sprachwandels konzentriert sich im Wesentlichen auf solche Fälle eines lange Zeit weitgehend unbemerkten Wandels ,von unten‘, da sie nicht nur die häufigsten, sondern für die meisten Sprachgemeinschaften auch die sprachhistorisch folgenreichsten Formen des Wandels sind.
3.3 ,Interne‘ vs. ,externe‘ Faktoren? Die (historische) Sprachwissenschaft hat seit ihren Anfängen verschiedenste Theorien und Modelle des Sprachwandels entwickelt, um die Bedingungen des Wandels sowie die genauen Prozesse der Diffusion von innovativen Varianten bzw. des AußerGebrauch-Kommens anderer Varianten zu erklären. Vielfach wird zwischen internen und externen Faktoren des Sprachwandels unterschieden (s. o. 3.2), wobei sich ,intern‘ auf sprachstrukturelle und ,extern‘ auf soziale Faktoren bezieht. So wird Laut-
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wandel als von internen Faktoren, Lautersatz als von externen Faktoren (z. B. „Nachahmung von Prestigeformen“) gesteuert beschrieben (Seidelmann 2014, 32 ff.). Die Sinnhaftigkeit dieser strikten Trennung zwischen ,internen‘ und ,externen‘ Faktoren ist in Zweifel gezogen worden (Milroy 1997; Hickey 2012, 388). So mögen aktuelle strukturelle Dispositionen in einer Varietät den Spielraum sprachlicher Variationsmöglichkeiten einschränken und nur bestimmte Innovationen überhaupt erst gestatten. Diffusionsprozesse sind jedoch nicht möglich ohne Kontakt zwischen Sprecher/inne/n, der somit soziale Interaktion darstellt – und nicht ,Sprachkontakt‘ i. S. eines Kontakts zwischen abstrakten ,Sprachen‘ (Milroy 1997, 311 f.). Rein ,interne‘ Erklärungsversuche stoßen spätestens bei einer Frage an ihre Grenzen, welche Weinreich/Labov/Herzog das „actuation problem“ genannt und so beschrieben haben: Why do changes in a structural feature take place in a particular language at a given time, but not in other languages with the same feature, or in the same language at other times? (Weinreich/ Labov/Herzog 1968, 102; vgl. auch das „historische Problem eines bestimmten Wandels“ bei Ágel 2010, 199, nach Coseriu 1974, 56)
Auch wenn verschiedene ,interne‘ und ,externe‘ Faktoren beim Sprachwandel zusammenwirken mögen, sind für dessen Ingangsetzung wohl letztlich externe Faktoren entscheidend: „The actuation of change must be triggered by external factors.“ (Hickey 2012, 394)
3.4 Spracherwerbsbasierte vs. äußerungsbasierte Konzepte Was Theorien des Sprachwandels betrifft, können spracherwerbsbasierte und äußerungsbasierte Konzepte unterschieden werden (Croft 2000, 43 f.). Spracherwerbsbasierte Theorien gehen davon aus, dass sich Sprachwandel erst von einer Generation zur nächsten – und damit relativ abrupt – zeigt, indem Kinder im Zuge ihres Spracherwerbs Strukturen der Elterngeneration abweichend bzw. ,fehlerhaft‘ übernehmen. Solche Konzepte gehen aber von starken Vorannahmen, z. B. einer weitgehenden Homogenität von Sprachen bzw. ,Grammatiken verschiedener Generationen‘ aus. Solche Vorannahmen können jedoch durch empirische Befunde nicht gestützt werden, die im Gegenteil das Nebeneinander von Varianten und damit geregelte Heterogenität des Sprachgebrauchs nachweisen (ebd., 44 ff.). Äußerungsbasierte Theorien – so auch Crofts Theorie der Äußerungsselektion (s. u. 3.7) – gehen davon aus, dass die jeder sprachlichen Äußerung inhärente und regelgeleitete Variation in der Interaktion Ausgangspunkt des Wandels ist. Für ein Handbuch zum Thema „Sprache in sozialen Gruppen“ erscheint es gerechtfertigt, sich auf einige äußerungsbasierte Beschreibungskonzepte zu konzentrieren, die sprecher-/schreiberbezogene bzw. interaktionsbezogene und soziale Faktoren bzw. Motivationen des Sprachwandels in den Mittelpunkt stellen.
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3.5 Ökonomie Als eines der grundlegenden Prinzipien des sprachlichen Wandels gilt die sprachliche Ökonomie, verstanden als „Ursache bzw. Anlass für die Tendenz [von Sprechern und Schreiberinnen], mit einem Minimum an sprachlichem Aufwand ein Maximum an sprachlicher Effektivität zu erzielen“ (Bußmann 2008, 656). Wenn man zum Erreichen eines bestimmten kommunikativen Ziels einen geringeren Aufwand in der Artikulation oder im Schreiben betreiben muss, ohne missverstanden zu werden, wird man diesen Vorteil nutzen wollen. Dabei lässt sich zwischen quantitativer und qualitativer Ökonomie unterscheiden. Beide laufen auf Vereinfachungen für Sprecherinnen und Schreiber hinaus. Quantitative Ökonomie kann auf verschiedenen Ebenen zu Kürzungsformen führen, etwa – in der Aussprache zu Kürzungen wie (i[ch]) hab[e], nich[t], (du) komms[t], die z. T. mit Klitisierungen (also lautlichen Verschmelzungen schwach betonter Funktionswörter mit dem nachfolgenden oder vorangehenden Wort) wie (s)chab ([çap], [ɕap]/[ʃap]) ‚ich habe‘, kommsch [kɔmʃ] ‚kommst Du‘ einhergehen, – in der Kurzwort-Bildung – gesprochen wie geschrieben – zu Kurzwörtern i. e. S. wie Uni, Bus, oder Akronymen wie hdl (‚hab(e) dich lieb‘), UB; – in der nähesprachlichen Syntax (gesprochen, handschriftlich oder getippt) zu Objekt- oder Subjektellipsen, wenn die Objekte bzw. Subjekte aus dem Kontext zu erschließen sind, z. B. (Das) Glaub (ich/i) nicht/net. Ein Minimum an sprachlichem Aufwand darf dabei nicht unterschritten werden. Eine Äußerung wie Glau net. (‚Das glaube ich nicht.‘) kann in bestimmten Regionen und bestimmten Kontexten noch verständlich sein – Gl ne wird wohl nicht mehr verstanden werden; heut ist historisch gesehen bereits eine stark reduzierte Form (vgl. ahd. hiu tagu ‚an diesem Tag‘) – ht wird nicht mehr verstanden werden; usw. Qualitative Ökonomie kommt ins Spiel, wenn Sprecher/innen statt komplexer Formen einfachere Varianten verwenden, z. B. – wenn sie assimilierte Formen wie empfangen statt *entfangen oder bei dem schwierig auszusprechenden Konsonantencluster [lç] im Silbenendrand, etwa im Wort Milch, statt der Explizitlautung [mɪlç] eine Variante mit einem vokalisierten l (Müüch, Miich, Muich o. ä.) oder mit einem epenthetischen Vokal (Milich; auch unter Wegfall des [ç]: Mili) verwenden, – wenn sie statt unregelmäßiger Verbformen regelmäßige Formen gebrauchen, also etwa Sie bestreitete ihr erstes Spiel. statt Sie bestritt ihr erstes Spiel. Sprachökonomische Entwicklungen verlaufen – wie die Beispiele zeigen – vielfach in Richtung einer Vereinfachung i. S. eines Abbaus von quantitativ oder qualitativ komplexeren Formen. Das Konzept des Sprachwandels aufgrund von Ökonomie umfasst aber auch Fälle, die auf den ersten Blick ,unökonomisch‘ erscheinen. So werden im Fall von
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Milich oder bestreitete aus quantitativer Sicht letztendlich weniger ökonomische Formen gewählt, aber artikulatorisch bzw. morphologisch – also qualitativ gesehen – Vereinfachungen darstellen. Beim Verb sein oder häufig verwendeten Adjektiven wie viel, gut, gern ,leisten sich‘ Sprecher/innen des Deutschen viele morphologisch unregelmäßige Formen (Suppletionsformen). Angesichts ihrer hohen Frequenz im Sprachgebrauch zahlt es sich aus, verschiedene Tempusformen ((ich) bin – war – bin gewesen) bzw. Steigerungsformen (viel – mehr – am meisten (/mehrsten) etc.) zu lernen, zumal sie sich gut unterscheiden lassen. Als wenig belastend erscheinen auch andere unregelmäßige Verbformen, sofern sie häufig gebraucht werden. Deshalb ist bei einem Verb wie streiten die Wahrscheinlichkeit geringer, dass sich langfristig die regelmäßigen Formen im Präteritum verbreiten, als bei weniger frequenten Ableitungen dieses Verbs, z. B. abstreiten, bestreiten. In all diesen Fällen können also verschiedene sprachökonomische Prinzipien miteinander in Konflikt stehen, wobei sich am Ende nur eines durchsetzt – in den zuletzt genannten Fällen eine qualitative Ökonomie. Schließlich kann Wandel aufgrund von Ökonomie auch zu Formen führen, die nur auf einer Ebene ,ökonomisch‘ erscheinen. So resultiert die fortschreitende Reduktion von wir habēn – wir haben – wir habn – wir habm – wir ham am Ende (bzw. schon bei der mhd. Variante hân) in einer phonologischen Vereinfachung; in morphologischer Hinsicht wird aber durch kontrahierte Formen wie hân oder ham Komplexität aufgebaut, da die morphologisch ‚optimale‘ Schemakonstanz (Verbstamm hab- + Verbendung) verlorengeht. Entwicklungen von komplexeren (,markierten‘) zu einfacheren Formen setzen eine „natürliche Entwickelung der Sprache“ voraus (s. das Zitat von Paul in Abschnitt 1). In jeder Gesellschaft gibt es jedoch auch Sprachwandel ,von oben‘, der solchen ,natürlichen Entwicklungen‘ bisweilen zuwiderlaufen kann. In schriftkulturell geprägten Gesellschaften ist insbesondere mit schriftinduzierten Wandelerscheinungen ,von oben‘ zu rechnen, die im Ergebnis unökonomisch erscheinen (s. u. 3.7).
3.6 Semantischer und funktionaler Wandel Bei anderen Formen sprachlichen Wandels ist es nicht möglich, sie auf Ökonomie zurückzuführen, so etwa beim Bedeutungswandel oder der Grammatikalisierung. Beim Bedeutungswandel ändern sich im Gebrauch nicht so sehr die Formen als vielmehr die Inhalte bzw. Funktionen. Beim Sonderfall Grammatikalisierung gehen Formund Bedeutungs- bzw. Funktionswandel parallel. Hier sind theoretische Modelle und Ansätze gefragt, die nicht nur die Produzenten-, sondern auch die RezipientinnenSeite in der Interaktion in den Blick nehmen. Im Grammatikalisierungsmodell geht man davon aus, dass konversationelle Implikaturen der Ausgangspunkt von Bedeutungs- und Funktionsveränderungen sein können. Dies kann dazu führen, dass einem einst autonomen lexikalischen Wort
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zunehmend eine grammatische Funktion zugeschrieben wird, bis es am Ende – in einem langen Prozess, der über verschiedene Grammatikalisierungsstufen führt – als neues grammatisches Morphem im Sprachsystem verwendet wird. Ein Beispiel, das eine konversationelle Implikatur als möglich erscheinen lässt, ist die Verwendung von die weil (aus die weile) in der folgenden Stelle aus Luthers Übersetzung des Alten Testaments, die neben der temporalen auch eine kausale Interpretation zulässt (vgl. zu diesem Bsp. Diewald 1997, 57): Vnd die weil Mose seine hende empor hielt / siegte Jsrael / Wenn er aber seine hende nider lies / siegte Amalek. (Luther 1545, 2 Mos. 17)
Eine Vielzahl solcher Implikaturen mag dazu beigetragen haben, dass im Sprachgebrauch neben die temporale immer häufiger die kausale Bedeutung von (die) weil trat und schließlich die temporale ganz verdrängte. Dass dieses Nebeneinander von Bedeutungsvarianten sich über viele Jahrhunderte hin erstrecken kann, zeigt sich hier etwa an Belegen für (noch dominant) temporales weil vom Ende des 18. Jhs. (z. B. ich schreibe dises in der gresten geheim, weill er beÿm essen ist, Anna Maria Mozart, 2.2.1778). Ein Gutteil von Bedeutungsveränderungen von Lexemen ist darüber hinaus auf Bedeutungs- und Funktionszuschreibungen zurückzuführen, die zumindest in der Innovations- und ersten Diffusionsphase sehr bewusst erfolgt sein dürften. So könnte die vermehrte Verwendung des Worts Frau und Fräulein zur Bezeichnung von Frauen auch nicht-adeliger Stände langfristig – und nicht beabsichtigt – eine ,Bedeutungsverschlechterung‘ des Worts Weib im Deutschen nach sich gezogen haben (s. König et al. 2015, 112 f.) und somit für einen Prozess stehen, „bei dem jeder stets das Gute will und die Pejorisierung schafft“ (Keller 1994, 107; kritisch dazu Nübling et al. 2013, 138 ff.). Auch die Bedeutungsveränderung von Modeausdrücken wie geil kann hierzu gezählt werden: Ursprünglich durch meist jugendliche Sprecher/innen dazu benützt, um mit einem verbalen Tabubruch aufzufallen, hat die breite Übernahme – auch durch ältere Generationen und die Werbung – dazu geführt, dass es seine provozierende Funktion weitgehend eingebüßt hat und inzwischen nur noch als Synonym zu cool aufgefasst wird (Fritz 2005, 63). – Weitere Typen von Bedeutungswandel, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, finden sich in Keller/Kirschbaum (2003) und Fritz (2005).
3.7 Bedingungen und Prozesse ,erfolgreichen‘ Wandels in der Interaktion Die beiden letztgenannten Beispiele deuten an, dass ,sprachliche Effektivität‘, von der in der oben (3.5) genannten Definition von Ökonomie die Rede war, nicht nur darin besteht, erfolgreich und dabei möglichst unaufwändig eine Nachricht zu über-
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mitteln, sondern sich auch darin zeigen kann, dass Sprache erfolgreich als soziales Symbol verwendet wird. Als Hypermaxime sprachlichen Handelns kann formuliert werden: „Rede so, dass Du sozial erfolgreich bist, bei möglichst geringen Kosten.“ (Keller 1994, 142). ,Sozial erfolgreich‘ kann dabei zum einen heißen, man passt sich sprachlich – bewusst oder unbewusst – so an seine Umgebung an, dass man damit den Wunsch der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe zum Ausdruck bringt. Zum anderen kann man durch die – bewusste – Verwendung sprachlicher Varianten aber auch markieren, dass man sich von einer sozialen Gruppe abheben will. Keller (1994, 131 ff.) unterscheidet dementsprechend statische und dynamische Maximen: Statische Maximen wie „Rede so, dass Du nicht auffällst“ erzeugen langfristig Homogenität und Stase. Dynamische Maximen wie „Rede so, dass Du beachtet wirst“, „Rede amüsant, witzig etc.“ hingegen können auf Dauer zu Variation und Wandel führen. Für sprachliche Innovationen sind nach dieser Vorstellung vornehmlich dynamische Maximen verantwortlich. Zusammenführend lässt sich sagen: Sprachlicher Wandel findet erst dann statt, wenn Innovationen keine Eintagsfliegen bleiben, sondern sich viele Sprecher bzw. Schreiberinnen in wiederkehrenden Kontexten derselben neuen Sprachformen bedienen, um bei möglichst geringen Kosten sozial erfolgreich zu sein. Keine/r dieser Sprecherinnen bzw. Schreiber beabsichtigt dabei, die Sprache zu ändern, sondern jede/r verfolgt zunächst einmal nur einen eigenen Handlungszweck. Sprachwandel geht also von intentionalen Handlungen einzelner Individuen aus, die bestimmten Handlungsmaximen folgen. Sprachwandel ergibt sich erst als (nicht-intendierte) kausale Konsequenz einer Vielzahl intentionaler Handlungen einzelner Sprecher oder Schreiberinnen, wie Keller (1994, 125 ff.) in seiner Theorie der ,unsichtbaren Hand in der Sprache‘ deutlich zu machen versucht. Was diese Theorie allerdings nicht fassen kann (und wohl auch nicht will), sind die Mechanismen von Innovationen sowie die Prozesse des Wandels, genauer: die Diffusionsprozesse sprachlicher Innovationen. Hier greifen variationslinguistisch fundierte Theorien und Modelle. In Bezug auf die Mechanismen der Innovation baut etwa Croft (2000) seine ebenfalls äußerungsbasierte ,evolutionäre‘ Sprachwandeltheorie explizit auf der Annahme auf, dass Variation dem Sprachgebrauch inhärent ist. Er geht davon aus, dass die Form-Funktion-Zuweisungen („form-function mapping“) sprachlicher Zeichen in (intendierten) sprachlichen Äußerungen niemals völlig gleich sind, sondern sich immer ein gewisser Spielraum für Reanalysen durch Sprecher/innen und Hörer/innen ergibt („form-function reanalysis“, ebd., 117 ff.). Den Kern und eigentlichen Ort des Sprachwandels bildet dabei die – den sprachlich Interagierenden nicht-bewusste – ,Selektion‘ bestimmter Äußerungsvarianten durch Sprecherinnen und Hörer in der Interaktion (daher der Name ,Theorie der Äußerungsselektion‘, ebd., 25 ff.). Sprachwandel ergibt sich letztlich als Folge einer vielfachen Replikation bestimmter intentionaler Äußerungshandlungen (in seinem evolutionären Modell sozusagen die ,sprachlichen Gene‘), die aufgrund der der Sprache innewohnenden
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Variation niemals gleich sind. – Ähnlich beschreiben schon Paul (1920) und Coseriu (1974) den sprachlichen Wandel. Ein Weg zur Beschreibung von Prozessen der Diffusion sprachlicher Innovationen wurde durch die Analyse des Sprachgebrauchs in sozialen Netzwerken möglich. Als bahnbrechende Arbeit in diesem Bereich gilt die Untersuchung von L. Milroy (1980) zur Sprachvariation und zum Sprachwandel in Belfast, die bereits im einleitenden Kapitel vorgestellt wurde (s. Neuland/Schlobinski in diesem Band). Zu den Arbeiten im deutschsprachigen Raum, die Netzwerkanalysen angewendet haben, zählen u. a. Lippi-Green [1989] mit einer Studie zu einem Dorf in Vorarlberg, Schlobinski [1987] zur Stadtsprache in Berlin sowie Barden/Großkopf [1998], die die sprachliche Anpassung von Sächsinnen und Sachsen untersuchten, die nach der ,Wende‘ in westdeutsche Bundesländer übergesiedelt waren (s. im Überblick und mit Literaturangaben Schlobinski 2005, 1466 f.). Dass dieser Ansatz auch auf historische Dokumente anwendbar ist, zeigt die anglistische Arbeit von Bergs (2005) zu Variation und Wandel im Bereich der Morphosyntax in Briefen eines familiären Netzwerks aus dem 15. Jahrhundert. Der Grundgedanke bei linguistischen Netzwerkanalysen ist, dass der Gebrauch sprachlicher Varianten nicht einfach bestimmten sozialen Kategorien wie Alter, Geschlecht, regionale Herkunft, soziale Schicht etc. zuzuordnen ist, sondern dass sie allenfalls für solche charakteristisch sind (Eckert 2012, 93); Sprecher/innen können sich relativ flexibel ihres sprachlichen Repertoires bedienen, das sie zudem durch Sprachkontakt – insbesondere in lockeren sozialen Netzwerken – ständig erweitern. Lockere bzw. offene Netzwerke befördern die Ausbreitung sprachlicher Innovationen, was sich auf Systemebene schließlich im Sprachwandel äußert. Dichte Netzwerke hingegen hemmen die Ausbreitung von Innovationen und tendieren zu sprachlich konservativen Verhältnissen. In der neueren soziolinguistischen Forschung werden Varietäten und Varianten nicht mehr nur in Beziehung zu einer bestimmten Herkunft, Sozialisation oder sozialen Identität von Gruppen von Sprecher/inne/n gesetzt. Vielmehr konzentriert sich diese Forschung auf den symbolischen Wert von Variation auf dem sprachlichen Markt, den sich die Sprecher/innen gezielt zunutze machen. Damit rücken auch der „flexible Sprecher“ (Macha 1991) bzw. nicht mehr nur seine durch äußere Umstände determinierten Sprechweisen in den Mittelpunkt, sondern auch „speakers’ choices“ (Coulmas 2013). Varietäten und Varianten werden in der Interaktion bestimmte soziale Geltungen zugeschrieben, so dass sie bevorzugt verwendet bzw. unterdrückt – mehr oder weniger bewusst zur stilistischen Differenzierung oder Selbstpositionierung – oder auch als Stereotype verwendet werden. Diese Neubewertung sprachlicher Variation geht auf eine Richtung der Soziolinguistik zurück, die insbesondere auf die stilistischen Praktiken von Sprecher/inne/n in der sprachlichen Interaktion fokussiert: The emphasis on stylistic practice […] places speakers not as passive and stable carriers of dialect, but as stylistic agents, tailoring linguistic styles in ongoing and lifelong projects of selfconstruction and differentiation. It has become clear that patterns of variation do not simply
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unfold from the speaker’s structural position in a system of production, but are part of the active – stylistic – production of social differentiation. (Eckert 2012, 97 f.)
Solche Verhaltensweisen können den Sprachwandel – i. S. eines Wandels ,von oben‘ – sogar in Richtungen lenken, die im Resultat auf unökonomische Ausspracheformen oder grammatische Formen (z. B. morphologisch stark markierte Varianten) hinauslaufen oder auf solche, die im historischen Rückblick anachronistisch erscheinen. Ein Beispiel auf der Ebene der Aussprache des Deutschen ist das bewusste Sprechen nach der Schrift als orthoepisches Ideal, das von ,guten‘ Sprecher/inne/n beispielweise die volle Artikulation von Konsonantenclustern (z. B. [ʃɪmpfst] ‚(du) schimpfst‘) oder die ebenfalls artikulatorisch aufwändigere Lautung [ɛ:] statt [e:] zur nur orthoepischen Unterscheidung von Wortpaaren wie Ähre – Ehre. Als Beispiel aus der Grammatik können angeführt werden die durch die präskriptive Schulgrammatik im 19. Jh. bewirkten Restitutionen des Genitivs als Präpositionalkasus nach wegen (wegen des Buches statt wegen dem Buch) sowie des Dativ-e in distanzsprachlichen Texten (dem Buche statt dem Buch); beide Formen waren in der gesprochenen Sprache wie auch in nähesprachlichen Texten der Zeit weitgehend abgebaut. Es könnte hier nicht einmal im Ansatz gelingen, einen einigermaßen kompletten Überblick über Methoden der Sozio- und Variationslinguistik sowie andere als die hier genannten Sprachwandeltheorien und -modelle zu geben. Verwiesen werden sei daher auf einschlägige Einführungen, Reader und Handbücher (z. B. Cherubim 1975, McMahon 1994, Labov 1994 ff., Chambers/Trudgill/Schilling-Estes 2002, Milroy/ Gordon 2003, Mufwene 2008, Aitchison 2013 u. a.).
4 Nachsatz: Die sprachpolitische Verantwortung der Linguistik Labov, der einer der Mitbegründer der soziolinguistisch orientierten Sprachvariations- und Sprachwandelforschung und zugleich sicher auch ihr am stärksten rezipierter Vertreter ist, hat immer wieder die Verpflichtung betont, die Forscher/inne/n gerade aus ihrer Arbeit auf dem Gebiet der Soziolinguistik gegenüber den Mitgliedern der Sprachgesellschaft erwächst. Der Überblick über gegenwärtige Konzepte von Sprachvariation und Sprachwandel soll mit einem Hinweis auf die von Labov (1982) formulierten Prinzipien der ‚Irrtumskorrektur‘ und der ,wissenschaftlichen Bringschuld‘ schließen: principle of error correction: A scientist who becomes aware of a widespread idea or social practice with important consequences that is invalidated by his own data is obligated to bring this error to the attention of the widest possible audience. (Labov 1982, 172)
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principle of the debt incurred […]: An investigator who has obtained linguistic data from members of a speech community has an obligation to use the knowledge based of that data for benefit of the community, when it has need of it. (ebd., 173)
5 Literatur Ágel, Vilmos (2010): +/-Wandel. Am Beispiel der Relativpartikeln so und wo. In: Dagmar Bittner/Livio Gaeta (Hg.): Kodierungstechniken im Wandel. Berlin/New York, 199–222. Aitchison, Jean (2013): Language Change: Progress or Decay? 4. Aufl. Cambridge u. a. Barbour, Stephen/Patrick Stevenson (1998): Variation im Deutschen. Soziolinguistische Perspektiven. Berlin/New York. Bergs, Alexander (2005): Social Network Analysis and Historical Sociolinguistics. Berlin. Biber, Douglas/Susan Conrad (2009): Register, Genre, and Style. Cambridge. Bußmann, Hadumod (2008): Lexikon der Sprachwissenschaft. 4. Aufl. Stuttgart. Chambers, Jack/Peter Trudgill/Natalie Schilling-Estes (Hg.) (2002): The Handbook of Language Variation and Change. Malden, MA/Oxford. Cherubim, Dieter (Hg.) (1975): Sprachwandel. Reader zur diachronen Sprachwissenschaft. Berlin/ New York. Coseriu, Eugenio (1974): Synchronie, Diachronie und Geschichte. Das Problem des Sprachwandels. München. Coulmas, Florian (2013): Sociolinguistics. The Study of Speakers’ Choices. 2. Aufl. Cambridge. Diewald, Gabriele (1997): Grammatikalisierung. Eine Einführung in Sein und Werden grammatischer Formen. Tübingen. Eckert, Penelope (2012): Three waves of variation study: The emergence of meaning in the study of sociolinguistic variation. In: Annual Review of Anthropology 41, 87–100. Elspaß, Stephan (2005): Zum sprachpolitischen Umgang mit regionaler Variation in der Standardsprache. In: Jörg Kilian (Hg.): Sprache und Politik. Deutsch im demokratischen Staat. Mannheim u. a., 294–313. Fritz, Gerd (2005): Einführung in die historische Semantik. Tübingen. Gloy, Klaus (1998): Sprachnormierung und Sprachkritik in ihrer gesellschaftlichen Verflechtung. In: Werner Besch u. a. (Hg.): Sprachgeschichte. 2. Aufl., Bd. 1. Berlin/New York, 396–406. Hernández-Campoy, Juan Manuel/Juan Camilo Conde-Silvestre (Hg.) (2012): The Handbook of Historical Sociolinguistics. Chichester. Hickey, Raymond (2012): Internally- and externally-motivated language change. In: Hernández-Campoy/Conde-Silvestre, 387–407. Hockett, Charles F. (1958): A Course in Modern Linguistics. New York. Johnstone, Barbara u. a. (2006): Mobility, indexicality, and the enregisterment of ‘Pittsburghese’. In: Journal of English Linguistics 34, 2: 77–104. Keller, Rudi (1994): Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache. 2. Aufl. Tübingen/ Basel. Keller, Rudi/Ilja Kirschbaum (2003): Bedeutungswandel. Eine Einführung. Berlin/New York. König, Werner u. a. (2015): dtv Atlas Deutsche Sprache. München. Labov, William (1966): The Social Stratification of English in New York City. Washington, D. C. Labov, William (1982): Objectivity and commitment in linguistic science: The case of the Black English trial in Ann Arbor. In: Language in Society 11, 165–201.
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6. Wortschatz, Wortbildung und lexikalische Semantik Abstract: Sprachliche Diversifikation in der Gesellschaft führt zur Herausbildung gruppenspezifischer Lexik, was komplexe Verbreitungswege und Verbindungen zu gruppenübergreifenden Wortschatzbereichen einschließt (1). Wortschatzbezogene Differenzerfahrungen bieten darüber hinaus einen Zugang zu einer grundlegenden theoretischen Modellierung des Gefüges sprachlicher Existenzformen (2). Um ihren Bezeichnungsbedarf zu decken, nutzen soziale Gruppen Nominationsverfahren (Wortbildung, Bedeutungsveränderung, Entlehnung), die als Grundlage sprachlicher Kreativität gesehen werden können, im Sinne konventionalisierter sprachlicher Lösungen jedoch auch zu einer Vereinheitlichung gruppenspezifischer Ausdruckssysteme beitragen (3). Die Nutzung solcher Verfahren kann dazu führen, dass sich innerhalb gruppenspezifischer Lexik zum Teil umfangreiche Synonymreihen ausbilden (4). Typische Lexik leistet einen Beitrag zur inneren Stabilisierung einer Gruppe sowie zu ihrer Abgrenzung nach außen, kann sozialen Bewertungen unterliegen, die bis hin zu einer Stigmatisierung führen, jedoch auch den Wortschatz insgesamt bereichern und die Selbstreflexion der Sprachgemeinschaft anregen (5). 1 Einführung 2 Wortschatz in sozialen Gruppen – ein Modell 3 Kreativität und Konventionalisierung 4 Dubletten und Synonymreihen – Überangebot im Wortschatz? 5 Identität und Abgrenzung – Sprache als Gruppensymbol 6 Literatur
1 Einführung Sprachliche Diversifikation ist ein Kennzeichen moderner Gesellschaften; sie nimmt zu und wird durch die Entwicklung neuer kommunikativer Interaktionsformen, vor allem im Internet, weiter intensiviert. Und so können bisweilen „schon in des Nachbarn Keller Dinge vor sich gehen, die Nichteingeweihte nur schwer verstehen können“ (Barth/vom Lehn 1996, 217). Ein Beispiel:
DOI 10.1515/9783110296136-006
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B1 tztztz, Immer diese Standard saetze aus dem Klingon dictionary....:-))) B1 kannst du nicht eigene saetze schreiben? B1 tlhIngan mu’tlheghmeyl Ij Dachen ʼeghpu ʼbeʼ !! B2 yItamchoH B1 yIyep!! (ebd., 238)
Worum es hier geht, kann sich Außenstehenden umrisshaft erschließen: Bezug genommen wird auf ein Wörterbuch zu einer bestimmten Sprache, dem Klingonischen, die Sätze ab Zeile 3 sind darauf bezogene Sprachproben. Ab hier dürfte das Verständnis jedoch in aller Regel aussetzen. Es handelt sich um einen Ausschnitt aus einer Kommunikation unter Anhängern des amerikanischen Medien- und Produktverbundes Star Trek, die sich in Deutschland auch Trekkies nennen (im Englischen Trekker). Sie bilden eine weltweit vernetzte Gemeinschaft, die sich über das gemeinsame Freizeitinteresse an Star Trek konstituiert. In jüngerer Zeit trägt, wie Barth und vom Lehn zeigen, vor allem die computerbasierte Kommunikation zur Stabilisierung dieser Gruppe bei. Kleinere Netzwerke, in diesem konkreten Fall eine Mailboxgruppe, sind Teil einer größeren, verhältnismäßig verstreuten und offenen Community, deren Größe sowie alters- und bildungsbezogene Zusammensetzung kaum exakt zu ermitteln sind. Das Klingonische ist eine Plansprache, die der amerikanische Linguist Marc Okrand im Auftrag von Paramount Pictures für das Star-Trek-Universum entwickelt hat, genauer für die Klingonen, eine kriegerisch veranlagte humanoide Spezies. Eine Teilgruppe der Trekkies fasziniert das Klingonische so sehr, dass sie „sich gegenseitig Nachhilfe beim Erlernen der Sprache ‚Klingonisch‘ gibt, über die Sprache diskutiert und sogar in ihr schreibt“ (ebd., 238). Das oben erwähnte Klingon Dictionary (Okrand 1992) bietet dafür eine Grundlage. Zu fließender Sprachbeherrschung bringen es vermutlich nur wenige Personen, die Gruppe der Klingonisch-Interessierten ist weltweit jedoch in jedem Fall erheblich größer (Okrent 2010, 272 ff.). Das Beispiel zeigt, wie schwierig die Grenzen sozialer Gruppen zu bestimmen sein können. Die Klingonisch-Interessierten bilden eine Untergruppe der Trekkies, die Trekkies sind wiederum Teil eines größeren Netzwerkes von Gruppen, die sich mit unterschiedlichen Spielarten der Science-Fiction, der Fantasy oder Verwandtem beschäftigen. Doch nicht jeder, der sich mit dem Klingonischen befasst, muss sich auch als Trekkie betrachten (z. B. Linguist*Innen). Individuen können in unterschiedlicher Weise an der Gemeinschaft einer sozialen Gruppe partizipieren und sind zugleich in der Regel Mitglieder weiterer, unter Umständen ganz anders ausgerichteter Gruppen. All das hat nicht zuletzt Auswirkungen auf die Verbreitungswege und die Reichweite gruppenspezifischer Lexik. Das Beispiel zeigt auch, dass an gruppenspezifisch verwendeter Lexik unterschiedliche Wortschatzbereiche beteiligt sein können. In dem von Barth und vom Lehn belegten Material finden sich Elemente der allgemeinen Umgangssprache (rumkritisieren, eine Äußerung ablassen), typisches Star-Trek-Vokabular, wie es sich über die Fernsehserie, Filme, Bücher und andere Wege verbreitet (Raumschiffkommando,
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Flottenkapitän, Computerlogbuch), Fachwörter aus den Naturwissenschaften (Photon, raum-zeitliches Bezugsgefüge) und dem cineastischen Bereich (Effekte, Kulisse, Action), Ausdrücke, die sich auf die technische Seite der Kommunikation, in diesem Fall das Mailboxnetz, beziehen (Trek-Net, Z-Netz-zulässige Route-Größe) und bei einigen Mitgliedern der Gruppe auch Vokabeln des Klingonischen. Daraus ergibt sich eine gruppenspezifische Konstellation von Lexik unterschiedlicher Bereiche, unter anderem eine Kombination aus Fachlichkeit und alltagsnaher konzeptioneller Mündlichkeit (vorbeidüsendes Universum), die Steger (1988, 313) als ‚Amalgam‘ bezeichnet und für Freizeitgruppen dieser Art als typisch ansieht. Die Kenntnis und der Gebrauch dieses Vokabulars können bei individuellen Mitgliedern einer Gruppe unterschiedlich ausgeprägt sein. Barth und vom Lehn kennzeichnen verschiedene Typen von Kommunikationsteilnehmern, wie den ‚Archivar‘, der dazu neigt, spezifisches Wissen in Listen zusammenzustellen und zum Beispiel systematische Kenntnisse über Bezeichnungen für Raumschifftypen aufzubauen, oder den ‚Wissenschaftler‘, der sich an Diskussionen beispielsweise über die Lichtgeschwindigkeit beteiligt und in diesem Zusammenhang physikalische Terminologie nutzt. Auch die Klingonisch-Kenntnisse dürften bei den Gruppenmitgliedern sehr uneinheitlich ausfallen. Die bis hierher getroffenen Aussagen gelten auch für den Sprachgebrauch anderer sozialer Gruppen, obgleich jede Gruppe unter eigenen Rahmenbedingungen kommuniziert, was sich, neben anderem, auch auf die Art und Verbreitung gruppenspezifischer Lexik, den Anteil verschiedener Wortschatzbereiche sowie die Homogenität bzw. die Diversifikation lexikalischen Wissens der Gruppenmitglieder auswirkt. Die besonderen Kommunikationsbedingungen und Ausdrucksbedürfnisse einer Gruppe sind also jeweils gesondert zu betrachten. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es jedoch nicht, den Wortschatz einzelner sozialer Gruppen systematisch zu kennzeichnen, sondern vielmehr, grundlegende Tendenzen im Sprachgebrauch sozialer Gruppen auf der Wortebene aufzuzeigen. Zur Konkretisierung wird Lexik unterschiedlicher Gruppen, wie in diesem Fall der Trekkies, exemplarisch herangezogen, ohne dass in dieser Hinsicht Vollständigkeit angestrebt werden kann. Das Hauptaugenmerk liegt auf Lexik, die im Anschluss an Steger (1988, 294) von „gruppenhafter/,sozietärer Reichweiteʻ“, also nicht in erster Linie dialektaler oder fachsprachlicher Natur ist. Zum Wortschatz sozialer Gruppen liegt eine breite Forschungsliteratur vor. Im Mittelpunkt vieler Beiträge steht die Lexik einer bestimmten Gruppe. Auch wenn es Versuche einer Systematisierung gibt, stellt sich die Forschungslage insgesamt heterogen dar, was nicht zuletzt daran liegt, dass sich der Forschungsgegenstand, wie schon angesprochen, eindeutigen Grenzziehungen und Zuordnungen immer wieder entzieht. Löffler (2010, 113) weist angesichts dieses „gruppensprachlichen ,Sprachknäuelsʻ“ auf das Fehlen überschneidungsfreier Klassifikationen hin. Die Heterogenität der Forschungslage äußert sich nicht zuletzt in einer Vielfalt an Begriffen für gruppenspezifische Lexik, wie ‚Gruppensprache‘, ‚Sondersprache‘, ‚Jargon‘, ‚Slang‘, ‚Domänensprache‘, ‚Szenesprache‘, ‚Argot‘, mit Bezug auf bestimmte
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Gruppen ‚Jugendsprache‘, ‚Soldatensprache‘ und andere. Auf eine Diskussion dieser Begriffe muss im Rahmen des vorliegenden Beitrags verzichtet werden (vgl. dazu die Einführung zum vorliegenden Handbuch von Neuland/Schlobinski sowie Steger 1988, Heusinger 2004, Löffler 2010). Auch der Forschungsstand zum Wortschatz einzelner sozialer Gruppen stellt sich unterschiedlich dar. Zum Beispiel ist der Sprachgebrauch Jugendlicher mittlerweile breiter erforscht, der Wortschatz anderer Gruppen, zum Beispiel Strafgefangener, wurde bislang kaum systematisch untersucht (vgl. Löffler 2010, 121). Manche Arbeiten begnügen sich damit, den Wortschatz einer Gruppe mehr oder weniger strukturiert aufzulisten, was den Eindruck fördert, ‚die Sprache‘ dieser Gruppe reduziere sich auf ein relativ homogen verwendetes Vokabular. Die Soldatensprache etwa ist lexikographisch gut erfasst (Maußer 1917, Küpper 1970, Küpper 1986, Möller 2000; vgl. auch Löffler 2010, 121), während die systematische Einordnung dieses Vokabulars in komplexere kommunikative Zusammenhänge dahinter zurückbleibt (Ansätze z. B. in Möller 2004). Gruppenspezifische Lexik ist jedoch stets funktional in übergreifende Kommunikationsprozesse integriert. Dem steht nicht entgegen, dass Wörter einen hohen Symbolwert für das Sprachverhalten einer Gruppe gewinnen können (vgl. 5).
2 Wortschatz in sozialen Gruppen – ein Modell Das Trekkie-Beispiel in Abschnitt 1 hat gezeigt, dass im gruppenspezifischen Sprachgebrauch Lexeme vorkommen, die vorzugsweise hier geprägt und genutzt werden, zugleich aber auch Interferenzen mit anderweitigen Wortschatzbereichen auftreten. Diese Zusammenhänge hat Steger (1988) in einem Modell dezidiert zu erfassen versucht. Ziel ist, die vielfältigen ‚Existenzformen‘ oder ‚Varietäten‘ der deutschen Sprache zu ordnen und Kriterien für eine genauere Charakteristik verschiedener Wortschatzbereiche zu erarbeiten. Im Folgenden wird dieses Modell kurz vorgestellt, soweit es die Thematik des vorliegenden Beitrags betrifft. Sprachvarietäten sieht Steger nicht als objektiv gegebene Ausschnitte aus dem kommunikativen Gesamthaushalt einer Sprachgemeinschaft an, sondern vielmehr als „motivational gesteuerte Teilkonstrukte, somit als Interpretationen einer komplexen kommunikativen Wirklichkeit“ (ebd., 293). Dass solche Interpretationen an alltäglichen sprachlichen Wahrnehmungen anknüpfen, zeigt Steger unter Hinweis auf lexikalische Differenzerfahrungen: Es kann (1) vorkommen, dass Sprecher einen bestimmten Sachverhalt begrifflich teilen, ihn jedoch unterschiedlich bezeichnen, (2) Sprecher einen Sachverhalt begrifflich teilen und auch gleich bezeichnen, bestimmte Sprecher mit dieser sprachlichen Form jedoch eine zusätzliche Bedeutung verbinden, die andere Sprecher nicht teilen, oder (3) Sprecher Begriffe und dazugehörige Bezeichnungen verwenden, die andere Sprecher nicht teilen (ebd., 293 ff.).
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Steger gewinnt aus dieser Betrachtung zwei Dimensionen, die eine genauere Charakteristik unterschiedlicher Existenzformen der Sprache ermöglichen. Zum einen betrifft das die funktional-zweckhafte Leistung von Sprache, die sich in der Herausbildung verschiedener Semantiken äußert, wie sie Steger mit Blick auf verschiedene ‚Makrobereiche‘ der Kommunikation diskutiert. Grundlegend sei eine allgemein bekannte und genutzte Alltagssemantik, die zur sprachlichen Bewältigung der Lebenspraxis einer Sprachgemeinschaft dient. Der Makrobereich der Alltagssemantik könne überdies „aufgrund von spezifischen sprachlichen Weltinterpretationen sozialer Einzelgruppen (Familien, Jugend-, Fan-, Frauengruppen usw.) untergliedert erscheinen“ (ebd., 303). Soziale Gruppen können demnach Elemente der Alltagssemantik aus ihrer Perspektive deuten oder, auch diese Möglichkeit ließe Stegers Modell zu, um innovative Elemente bereichern. Neben der Alltagssemantik, auch in ihrer gruppenspezifischen Aneignung, sieht Steger Fachsemantiken in den Makrobereichen Institutionen, Technik/angewandte Wissenschaften und theoretische Grundlagenwissenschaften, Literatursemantiken im Makrobereich der Sprachkunst sowie Religions- und Ideologiesemantiken. Anzumerken ist, dass auch diese Semantiken durch bestimmte Sprechergruppen getragen werden, jedoch weniger sozial (‚gruppal‘, ‚sozietär‘) als funktional (‚zweckrational‘) determiniert seien. Löffler (2010, 116) differenziert die Sprachvarianten in sozialen Gruppen nach dem Verständnis Stegers noch genauer: Gruppen mit ‚Durchgangsstatus‘, die sich zum Beispiel über bestimmte Stadien der Ausbildung oder die Generationszugehörigkeit definieren, bringen ‚transitorische‘ Sprachvarianten hervor, dauerhafte Gruppen ‚habituelle‘ Sprachvarianten, zum Beispiel ‚Genderlekte‘, ‚temporäre‘ Sprachvarianten sind nur „für eine gewisse Zeit im Tages- oder Jahresablauf“ (ebd.) relevant, was unter anderem für Freizeit- oder Hobbygruppen wie die oben angesprochenen Trekkies gilt. Zum anderen benennt Steger die soziale Reichweite von Ausdruckssystemen, die als Träger einer Teilsemantik bestimmbar sind, im Sinne einer „Gleichgestaltigkeit der hör- und sehbaren Ausdruckselemente und Regeln im Sprachbesitz von zusammenlebenden und bis zu einem bestimmten Grad abgrenzbaren Teilen einer Gesamtbevölkerung“ (Steger 1988, 305). Während sich Dialekte hinsichtlich ihrer sozialräumlichen Reichweite ausdifferenzieren, was immer auch ihre regionale Verbreitung umfasst, unterscheiden sich Ausdruckssysteme sozialer Gruppen hinsichtlich ihrer sozietären Reichweite. Sie können in diesem Zusammenhang auf dem Ausdruckssystem der allgemeinen Standard- oder Umgangssprache aufbauen und haben dann als ‚Standardausdruckssystem‘ einer sozialen Gruppe eine große sozietäre Reichweite, wie zum Beispiel die überregionale Jugendsprache, sie können aber auch stärker auf regionalen Ausdruckssystemen basieren und von eingeschränkterer Reichweite sein, etwa „lexikalische Absonderungen vor allem städtischer Jugendgruppen, etwa in der Schülersprache, Discosprache, Studentensprache“ (ebd., 307). Damit werden verschiedene Existenzformen der deutschen Sprache in Abhängigkeit von ihrer funktional-zweckhaften Leistung und ihrer sozialen Reichweite bestimmbar, wobei sie zum Teil aufeinander aufbauen und in eine enge Wechselbe-
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ziehung treten, sich aber auch stärker voneinander absondern können. Eine mögliche Folge sind charakteristische Hybridisierungserscheinungen im Sprachgebrauch bestimmter sozialer Gruppen, wie die schon angesprochene Amalgamierung gruppenspezifischer Alltagssemantik mit Fachsemantiken durch Freizeitgruppen wie die Trekkies. Indem diese zugleich spezifische Lexik verwenden, die in Filmen, Fernsehfolgen und anderen Formaten an der Konstruktion des fiktionalen Star-Trek-Universums beteiligt ist, partizipiert diese Gruppe im Übrigen auch an einer ‚Literatursemantik‘ im Sinne Stegers. Das Vokabular des Klingonischen ließe sich in Stegers Modell ebenfalls am besten hier verorten. Gruppenspezifische Inhalts- und Ausdruckssysteme entfalten sich nach Steger vor allem in der Lexik. Eine integrative Funktion übernehmen verschiedene Ausprägungen von ‚Alltagssprache‘, an denen die übrigen Existenzformen partizipieren, wobei alltagssprachliche Elemente im Sprachgebrauch sozialer Gruppen immer auch semantisch umgedeutet oder neu benannt werden können. Morphologie und Syntax bilden eine gemeinsame Grundlage quer zu allen Existenzformen, verstanden als eine polyfunktionale, virtuelle Gesamtgrammatik, auch wenn es „begrenzte grammatische Sonderentwicklungen“ (ebd., 304) oder „zweckspezifisch bedingte Abwahlmuster oder Frequenzen“ (ebd.) geben kann. Steger weist in diesem Zusammenhang auf Besonderheiten der Wortbildung hin (vgl. 3.1). Zur Integration verschiedener Existenzformen trägt schließlich der individuelle Sprecher bei, der „oft mehrere Ausdruckssysteme kompetent [beherrscht] und […] sie am gleichen Ort optimal anwenden und dabei wieder stilistisch variieren [kann]“ (ebd., 305), der also über ein sprachliches ‚Repertoire‘ (Gal 1987) verfügt, das ihn in die Lage versetzt, sich in unterschiedlichen Kommunikationssituationen adäquat zu verhalten. Damit ist auch angedeutet, dass Differenzen zwischen Ausdruckssystemen zwar, wie oben festgestellt, zu Verständnisschwierigkeiten führen können, der individuelle Sprecher jedoch Elemente verschiedener Ausdruckssysteme oft kennt und selbst dann einzuordnen vermag, wenn er sie nicht als Mitglied einer bestimmten Trägergruppe aktiv verwendet. Stegers Ausführungen bleiben notwendigerweise grundsätzlich und abstrakt und können die lebendige Vielfalt gruppenbezogener Wortschatzphänomene nur andeuten. Sein Modell ist aber anschlussfähig für verschiedene Phänomene, die den Wortschatz sozialer Gruppen betreffen und in den folgenden Abschnitten weiter ausgeführt werden.
3 Kreativität und Konventionalisierung In Stegers Modell ist sprachliche Kreativität als zentrale Größe systemhaft angelegt, denn zum einen besteht im Sprachgebrauch sozialer Gruppen die Tendenz, Elemente anderer sprachlicher Existenzformen, vorzugsweise einer allgemeingültigen Alltagssemantik, aus gruppenspezifischer Perspektive neu zu benennen oder die Bedeutung
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vorhandener Ausdrucksmittel zu verändern, zum anderen besteht die Notwendigkeit, spezifischere Konzepte, die nicht Teil der Alltagssemantik sind, zu versprachlichen. Die daraus resultierenden Innovationen können von anderen Sprechergruppen aufgenommen werden und so den Wortschatz über den kommunikativen Bezugsrahmen einer Gruppe hinaus bereichern. Sprachliche Lösungen, die sich bewährt haben und innerhalb einer Gruppe immer wieder genutzt werden, tragen zugleich zu einer Vereinheitlichung gruppengebundener Ausdruckssysteme bei. Sprachliche Kreativität kann also in gruppeninterne Konventionalisierungsprozesse einmünden. In diesem Zusammenhang sind verschiedene Formen sprachlicher Kreativität produktiv, die im Folgenden im Überblick dargestellt werden, wobei ihre Vielgestaltigkeit im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht vollständig erfasst werden kann.
3.1 Wortbildung Wortbildung, verstanden als „die Produktion von Wörtern […] auf der Grundlage und mit Hilfe vorhandenen Sprachmaterials“ (Fleischer/Barz 2007, 5), ist die meistgenutzte Form der deutschen Gegenwartssprache zur Erzeugung neuer Nominationsbzw. Benennungseinheiten. Unter nominationstheoretischem Aspekt kommen der Wortbildung zwei Grundfunktionen zu: die Erstbenennung, also die Schaffung eines neuen sprachlichen Ausdrucks für einen neuen Begriff, und die Zweitbenennung, die sprachliche Neufassung eines bereits vorhandenen Begriffs. In der Benennungsbildung kommt immer eine bestimmte Perspektive des Nominators auf den benannten Begriff zum Ausdruck, in Abhängigkeit von seinem Wissen, seinen Interessen, den kommunikativen Rahmenbedingungen sowie dem Inventar bereits vorhandener sprachlicher Einheiten (Barz 1988, 49). Die Wortbildung erweist sich somit als ein flexibles Mittel zur Realisierung der bei Steger (1988, 303) angesprochenen „spezifischen sprachlichen Weltinterpretationen sozialer Einzelgruppen“. Dabei operieren soziale Gruppen prinzipiell auf der Basis gebräuchlicher Wortbildungsmodelle, können diese jedoch besonders intensiv nutzen und auf diese Weise gruppenspezifische Frequenzmuster ausbilden, auf die Steger ebenfalls hinweist. Zum Beispiel stellt Heusinger (2004, 82) für den Sprachgebrauch Jugendlicher fest, dass es hier von „der Standardsprache abweichende Wortbildungsmodelle“ nicht gibt. Androutsopoulos (1998) hat jedoch gezeigt, dass auch gängige Wortbildungsmodelle durch Jugendliche in charakteristischer Weise genutzt und modifiziert werden können. Im Übrigen neigen Fachsprachen, wie Steger (1988, 303) herausstellt, stärker zur Entwicklung neuer Wortbildungsmuster, doch selbst ein so spezielles Modell wie die von Steger angeführte Derivation auf -itis, die im Rahmen der medizinischen Nomenklatur Benennungen für Entzündungserkrankungen bildet, bleibt nicht auf diesen engen Verwendungszusammenhang beschränkt. Glück/Sauer (1997, 76 f.) sammeln vielfältige Belege aus nichtmedizinischen Kontexten, denen gemeinsam ist, dass ein
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negativ wahrgenommener Sachverhalt ironisierend zur Krankheit erklärt wird (Substantivitis, Fotokopieritis, Mattscheiberitis). Die Komposition (Zusammensetzung) ist die produktivste Wortbildungsart der deutschen Gegenwartssprache. Ein wesentlicher Grund für diese Produktivität ist ihre besondere Eignung zu einer genauen, differenzierten Benennung von Sachverhalten und zu ihrer Eingliederung in begriffliche Systeme (vgl. Barz 1988, 63). Wie im Bereich der Komposition ein gruppenspezifisches Profil zustande kommt, hat Androutsopoulos (1998) für die Jugendsprache gezeigt. Zum einen werden allgemeinsprachlich produktive Modelle durch charakteristische Konstituenten aufgefüllt, wie ‚umgangssprachlich‘, ‚salopp‘, ‚derb‘, ‚vulgär‘ oder ‚expressiv‘ konnotierte Lexik (Bitch-Gelaber, Szenedepp), Anglizismen (Heavycombo), Eigennamen als Zweitglied (Pyromania-Boris) oder Sätze als Erstglied (Verpiss-dich-du-Arsch-Attitüde; ebd., 145 ff.). Zum anderen können bestimmte Konstituenten reihenbildend in Komposita mit gleicher oder ähnlicher Wortbildungsbedeutung auftreten, etwa Bezeichnungen für Personen (-fuzzi, -typ) und Örtlichkeiten (-laden, -schuppen) oder sogenannte Passepartout-Wörter, die eine allgemeine Bedeutung und eine dementsprechend hohe Wortbildungskombinatorik aufweisen (-ding, -kram; ebd., 151 ff.). Wortbildungsmodelle dieser Art sind Ausdruck sprachlicher Kreativität, denn sie bringen immer wieder Neues hervor, doch zugleich äußert sich in dieser frequenten Nutzung eine Tendenz zu gruppenspezifischer Schematisierung von Wortbildungsprozessen (vgl. auch Wilss 1992). In ähnlicher Weise ließen sich spezifische Kompositionsprofile für andere soziale Gruppen ermitteln. Ausschlaggebend ist, welche Sachverhalte für eine Gruppe thematisch relevant sind und welche Bewertungen sich damit verbinden. Daraus resultiert eine typische Auswahl wortbildungsaktiver Lexeme als Konstituente und eine erhöhten Produktivität bestimmter Wortbildungsmodelle. Das gilt jedoch nicht allein für die Komposition, sondern zum Beispiel auch für die explizite Derivation (Ableitung). Im Korpus von Androutsopoulos häufig belegt sind die Präfigierung von Verben mit ab- (abtanzen, absaufen im Sinne von ‚Alkohol trinken‘, abhotten), rum- (rumschmusen, rumrempeln, rumnerven) und anderen Präfixen, die Intensiv- bzw. Augmentationspräfigierung zu Adjektiven und Substantiven mit mega-, hyper-, super- und deutschen Wortbildungselementem wie Schweine- oder Sahne- oder auch die Derivation mit den Suffixen -i (Laschi, Schleimi, Alki) und -o (Schizo, Prollo, Normalo; Androutsopoulos 1998, 90 ff.). Ein Phänomen im Übergang zwischen Komposition und Derivation stellen Lexeme dar, die in einem bestimmten Wortbildungsmodell eine hohe Frequenz aufweisen und in diesem Zusammenhang eine semantische Modifikation erfahren. Sie werden auch als Halbaffixe oder Affixoide bezeichnet (dazu kritisch Fleischer/Barz 2007, 27). Androutsopoulos nennt in diesem Zusammenhang Bezeichnungen für Körperteile, die metonymisch anzeigen, dass es sich um eine Personenbezeichnung handelt (Saufarsch, Schnarchnase, Dosenhirn). Auch diese Modelle sind in ihrer Produktivität nicht grundsätzlich auf eine bestimmte Gruppe festgelegt. Möller (2000) belegt für die Soldatensprache in der
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DDR ebenfalls eine Vielzahl deverbaler Derivate mit ab- (abknien, abkotzen) und rum(rumkotzen, rumgeikeln) sowie Derivate auf -i (Buffi ‚Berufsunteroffizier‘, Schnuffi ‚Schutzmaske‘). Da namentlich die Zeitsoldaten in der DDR in der Regel sehr jung waren, können Überschneidungen zur Jugendsprache nicht überraschen. In einigen Fällen ist jedoch eine Gruppenspezifik soldatensprachlicher Bildungen an der lexikalischen Auffüllung der Derivationsbasis unmittelbar abzulesen, wie bei den (allerdings denominalen) Bildungen abmumpeln (‚abmunitionieren‘, zu Mumpel ‚Geschoss‘) und abkohlen (‚eine Verpflichtung über den Grundwehrdienst hinaus rückgängig machen‘, zu Kohle ‚Dienstzeit‘). Modelle wie die genannten können darüber hinaus auch als typisch für die Umgangssprache im Allgemeinen angesehen werden (Gersbach/Graf 1984/1985, Glück/Sauer 1997). Gruppenspezifischer Sprachgebrauch bedient sich solcher Modelle, füllt sie aber partiell auch nach eigenen Präferenzen auf. Angesprochen sei auch die Kurzwortbildung, eine Wortbildungsart, die formal vielgestaltig ist und deren Produkte aufgrund ihres Bezuges zu einer vorhandenen, wenn auch dem individuellen Sprecher nicht immer bekannten Langform eine gewisse Sonderstellung im Bereich der Wortbildung einnehmen (vgl. Bellmann 1980, Fleischer/Barz 2007, Jung 2008). Die Kurzwortbildung ist auch im gruppenspezifischen Sprachgebrauch produktiv. Im Gegensatz zu Kurzwörtern zum Beispiel im fachsprachlichen Bereich sind diese Bildungen oft expressiv konnotiert, ihre Funktion weist also über die der Ausdrucksökonomie hinaus. Konkurrierende Kurzwörter können zum Teil subtile Differenzierungen ausdrücken. Zum Beispiel steht das Kurzwort SciFi (= Science Fiction; analog zu HiFi) unter Science-Fiction-Fans tendenziell für eine kommerzialisierte, an klischeehaften Erzählmustern orientierte und intellektuell anspruchslose Spielart des Genres, die renommiertere Variante ist SF. In Internetforen werden solche Feinheiten unter Mitgliedern der Gruppe kontrovers diskutiert. Überhaupt neigen Science-Fiction-Fangruppen, auch die Trekkies, stark zur Kurzwortbildung, wie Byrd (1978) für das Englische gezeigt hat (vgl. auch Southard 1982). Jugendliche nutzen die Möglichkeiten der Kurzwortbildung in ihrer ganzen Breite (vgl. Androutsopoulos 1998, 128 ff.), ebenso finden sich vielfältige Kurzwortbildungen in der Soldatensprache der DDR, die sich in ständiger Nähe zu der an Kurzwörtern ebenfalls reichen Fachsprache des Militärs entwickelt hat (vgl. Möller 2000). Interessant ist in diesem Zusammenhang der Typ der ‚homonymenbildenden Kurzwortvariante‘ (Bellmann 1980), d. h. Kurzwörter, die formal einem bereits etablierten Lexem entsprechen. Daraus können sich spezifische Konstellationen zwischen neuer und alter Bedeutung sowie zur Langform ergeben. Zum Beispiel wurden in der NVA Unteroffiziere auf Zeit im 2. Diensthalbjahr DAGS genannt, was von der lautlichen Realisierung her auf den jungen Dachs anspielt. Welchen Stellenwert eine so angesprochene Person in der Gruppenhierarchie hatte, wird durch die Langform ersichtlich: Du aalglatte Sau. Unterschiedliche Wortbildungsverfahren liefern in ihrem Zusammenwirken einen großen Teil der sprachlichen Mittel, die den Bezeichnungsbedarf einer Gruppe abdecken. Gruppenspezifische Wortbildung kann dementsprechend eine große
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strukturelle Vielfalt aufweisen. Bestimmte Lexeme, die für eine Gruppe thematisch relevant sind, können immer wieder als Konstituente in Wortbildungen auftreten. Sie werden auf diese Weise zum Kern zum Teil umfangreicher Wortbildungsnester, verstanden als Gruppen von Wörtern, die unabhängig von ihrer Bildungsweise „über ein formal und semantisch identisches Grundmorphem verfügen, das das Kernwort des Nestes darstellt“ (Fleischer/Barz 2007, 71). Androutsopoulos (1998, 208 ff.) führt entsprechende Beispiele für den Sprachgebrauch Jugendlicher auf, wie Kult (Konversion kult, Adjektivderivate kultig, kultmäßig, Kompositionserstglied in Kultfilm, Zweitglied in Amikult, verbales Derivat abkulten). Auch in der Vernestungstendenz spiegelt der Sprachgebrauch sozialer Gruppen somit allgemeine Verhältnisse in der Wortbildung des Deutschen wider. Barz (1988, 99) weist darauf hin, dass 97,5 % des Wortschatzes im Russischen in Wortbildungsnestern strukturiert seien, und nimmt eine ähnliche Bedeutsamkeit dieses Phänomens für das Deutsche an.
3.2 Bedeutungsveränderungen Auch die semantische Veränderung bereits vorhandener Lexik trägt, wie Steger herausstellt, zur Absicherung gruppenspezifischer Bezeichnungsbedürfnisse bei, typischerweise durch zusätzliche Bedeutungsvarianten zu etablierten Wörtern (vgl. 2). Zum Beispiel weisen gängige alltagssprachliche Ausdrücke wie Haarbürste, Werkzeug, Hammer, Nagel oder Pumpe im Sprachgebrauch der Drogenszene Bedeutungsvarianten auf, die alle in eine ähnliche Richtung gehen und deren Beziehung zur alltagssemantischen Bedeutung in den meisten Fällen noch erkennbar ist: Haarbürste und Werkzeug meinen das für die Injektion von Drogen benötigte Spritzbesteck, Hammer und Pumpe die Injektionsspritze, Nagel die Injektionsnadel (Harfst 1984). Dass diese Ausdrücke alle auch im Sprachgebrauch Strafgefangener belegt sind, verweist einmal mehr auf die Übergangsbereiche zwischen sozialen Gruppen (Keppler/Stöver 2009). Musikbox, Staubsauger oder Schildkröte bezeichneten unter Zeitsoldaten in der DDR Rituale, die dazu dienten, Angehörige unterer Diensthalbjahre zu schikanieren oder für die Auflehnung gegen die rigide Gruppenhierarchie zu bestrafen (Möller 2000). Die Beispiele aus der Drogenszene und der Soldatensprache zeigen, dass hier zusätzliche, den spezifischen Bedürfnissen einer Gruppe entsprechende Bedeutungsvarianten zu alltagssprachlicher Lexik entstanden sind, die überdies jeweils Bestandteil eines umfassenderen gruppenrelevanten Bedeutungsfeldes sind. Die Bedeutungsvarianten sind in diesen Fällen durch unterschiedliche Prozesse der Bedeutungsverschiebung entstanden. Eine Injektionsnadel hat Ähnlichkeit mit einem Nagel, eine Injektionsspritze ist eine Art Pumpe, ähnlich wie bei der Musikbox an einem öffentlichen Ort wurden die in einen Spind gesperrten Opfer des betreffenden Rituals gezwungen, nach Einwurf einer Münze ein gewünschtes Lied zu singen. Es wird also jeweils eine Analogie zu einem alltagssemantischen Konzept hergestellt, „Konzepte für Dinge aus einem Herkunftsbereich […] entliehen, um damit Dinge in
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einem anderen Bereich, dem Zielbereich, zu beschreiben“ (Löbner 2003, 70), was auch als ‚metaphorische Verschiebung‘ bezeichnet wird. Ein anderer Prozess der semantischen Verschiebung liegt in einem Fall wie Beine vor. Der Ausdruck steht in der Sprache der Drogenszene für einen Rauschgiftkurier (Harfst 1984). Die Bezeichnung für einen Teil wird zur Bezeichnung für das Ganze, oder allgemeiner, ein Sachverhalt wird unter Fokussierung auf einen seiner untergeordneten Aspekte benannt, es findet eine ‚metonymische Verschiebung‘ statt (Löbner 2003, 67 f.). Die Metaphernforschung hat gezeigt, dass in bestimmten kommunikativen Zusammenhängen charakteristische, in der Auswahl ihres Herkunfts- und Zielbereiches analoge Metaphorisierungen auftreten können (z. B. Jakob 1991, Liebert 1995). Bestimmte Tendenzen in der Metaphorik können auch für den Sprachgebrauch einer sozialen Gruppe typisch sein. Ein markantes Beispiel liefert wieder die Soldatensprache in der DDR. Die Wehrpflicht umfasste 18 Monate, eine ‚freiwillige‘ Verpflichtung zu 36 Monaten war oft zum Beispiel dem Wunsch nach einem Studienplatz geschuldet. Diese der Institution Armee ‚geopferte‘ Lebenszeit war ein in der alltäglichen Kommunikation dieser Gruppe allgegenwärtiges, oft emotional aufgeladenes Thema. In diesem Zusammenhang wurde ‚Zeit‘ vielfach in Temperaturbegriffe übersetzt. Dahinter steht die Vorstellung, dass die Zahl der noch zu dienenden Tage der individuellen Körpertemperatur eines Wehrdienstleistenden entspricht. Eine Vielzahl von Ausdrücken lässt sich hier zuordnen: heißer Brummer, heißer Puffer, heißer Koffer (kurz Heiko), Glühfinger, Plasmaofen, Hitze haben, auf- oder abkohlen (‚den Wehrdienst freiwillig verlängern‘ bzw. ‚diese Entscheidung rückgängig machen‘) und andere. Wer mit heißer Brummer oder ähnlich tituliert wurde, hatte noch viel Zeit bei der Asche (‚Armee‘) vor sich und nahm in der Gruppenhierarchie eine entsprechend niedrige Stellung ein. Ein charakteristischer, zum Ausdruck von Expressivität geeigneter Bildspenderbereich wird also genutzt, um ein für das Erleben der Gruppe zentrales Problemfeld sprachlich zu erfassen und – durchaus spielerisch – zu verarbeiten, auf diese Weise aber letzten Endes vor allem das hierarchisch strukturierte soziale Beziehungsgefüge der Gruppe zu stabilisieren. Ein Plasmaofen oder ein heißer Puffer hat, grundsätzlich gesehen, nicht zwangsläufig etwas Negatives an sich. Wenn diese Ausdrücke im Gruppenkontext pejorativ gebraucht werden, können sie auch als Fälle ‚konnotativer Verschiebung‘ angesehen werden. Dieses Phänomen ist nicht nur mit Blick auf metaphorisch gebrauchte Ausdrücke relevant. Im Sprachgebrauch Jugendlicher kann, wie Androutsopoulos (1998, 390 ff.) zeigt, die konnotative Verschiebung zu einer semantischen Aufwertung von Ausdrücken der Allgemeinsprache führen, die dort eher ‚umgangssprachlich‘ oder ‚salopp‘ konnotiert sind. Das betrifft zum Beispiel Kompositabildungen auf -kram oder Verben wie rumhängen. Dass auch im jugendsprachlichen Bereich eine Abwertung möglich ist, zeigt der aktuelle Gebrauch von Lexemen wie behindert, Spasst[iker] oder Opfer. Die zuletzt genannten Beispiele wirken der gegenwärtig im öffentlichen, aber teilweise auch im privaten Sprachgebrauch wirksamen Tendenz zu politischer Korrektheit direkt entgegen, sie sind somit Ausdruck von „Verkehrungen des ‚norma-
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len Systems‘ sozialer Werte“ (Schwitalla/Streeck 1989, 229) im Sprachgebrauch einer Gruppe, der in diesen Fällen kontrasprachliche Züge annimmt. Auch gruppenspezifische Lexik selbst kann Bedeutungsveränderungen durchlaufen, wie sie allgemeinsprachlich wirksam sind. Androutsopoulos (1998, 390) zeigt für einige jugendsprachliche Ausdrücke eine Bedeutungserweiterung im Sinne einer Ausdehnung ihres Referenzbereichs. So waren Partizipialattribute wie durchgeknallt oder abgedreht ursprünglich Referenten mit dem semantischen Merkmal [+menschlich] vorbehalten. In jüngeren Verwendungszusammenhängen finden sich jedoch auch unbelebte Referenten (durchgeknallter Collegerock, abgedrehtes Scratching).
3.3 Entlehnungen Kurz soll auch auf Entlehnungen eingegangen werden, die ebenfalls zur Erweiterung gruppenspezifischer Lexik beitragen können. Der Sprachgebrauch bestimmter sozialer Gruppen erweist sich in der Gegenwart als überaus offen für die Integration von Anglizismen. Androutsopoulos (1998, 527 ff.) hat gezeigt, dass sich der Sprachgebrauch Jugendlicher unter anderem durch eine spezifische Tendenz zu Entlehnungen substandardlicher Elemente auszeichnet (bitch, girlie, fuck). Ein starker, ebenfalls substandardlich ausgerichteter Einfluss des Englischen lässt sich auch für die Sprache der Drogenszene konstatieren (Harfst 1984). Die eingangs angesprochene Gruppe deutschsprachiger Trekkies übernimmt gleichfalls englische Lexik in ihren Sprachgebrauch, und zwar solche, die an der Konstruktion des Star-Trek-Universums beteiligt ist (subspace frequencies, Raumschiffklassen wie Ambassador, Excelsior). Das kann als Anzeichen für die internationale Vernetztheit dieser Gruppe gesehen werden, wobei das Star-Trek-typische Vokabular zum Teil auch in übersetzter Form erscheint (Computerlogbuch, Flottenkapitän). In dem speziellen Fall des Mailboxnetzwerkes kommt auch englischsprachige Computerterminologie hinzu (Barth/vom Lehn 1996). Die generell starke Dominanz des Englischen als Herkunftssprache von Entlehnungen spiegelt sich also auch und zum Teil sehr deutlich im Sprachgebrauch sozialer Gruppen wider. Doch andere Sprachen können in dieser Hinsicht ebenfalls von Bedeutung sein. Zum Beispiel zeigt das Kiezdeutsch, das sich im Sinne einer „multiethnischen Jugendsprache“ (Wiese 2012, 45) in urbanen Ballungszentren wie Berlin-Kreuzberg entwickelt hat, Lehneinflüsse des Türkischen (lan ‚Typ, Mann‘, moruk ‚Alter‘, hadi çüş ‚Tschüss, mach’s gut!‘) und Arabischen (wallah ‚Echt!‘, yallah ‚Los!‘). Auch das Jugendwort des Jahres 2013, Babo (‚Anführer einer Gruppe‘, ‚Boss‘), ist im Türkischen, außerdem im Kurdischen und Bosnischen belegt.
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4 Dubletten und Synonymreihen – Überangebot im Wortschatz? Soziale Gruppen kommunizieren aus ihrer spezifischen Perspektive heraus in typischen Situationen über für sie relevante Themen. Sprachliche Verfahren, wie sie in den vorangegangenen Abschnitten dargestellt worden sind, werden genutzt, um gruppenspezifische Bezeichnungsbedürfnisse abzudecken. Teile einer gruppenspezifischen Lexik sowie Verfahren zu ihrer Gewinnung, zum Beispiel bestimmte Wortbildungsmuster, können in diesem Zusammenhang eine hohe Nutzungsfrequenz entwickeln und im Wortschatz der betreffenden Gruppe einen wiedererkennbaren Kern bilden, der für die Gruppe einen sprachlichen Symbolwert gewinnt (vgl. 5). Gruppenspezifische Lexeme fungieren, wie es auch Stegers Modell (vgl. 2) nahelegt, oft als Parallelbenennung oder ‚Dublette‘ zu allgemeinsprachlichen Ausdrücken. Statt von der Injektionsspritze sprechen Mitglieder der Drogenszene vom Hammer oder der Pumpe und erreichen damit nicht zuletzt, dass Außenstehende nicht in jedem Fall wissen, was gemeint ist. Zugleich bilden Hammer und Pumpe aber auch im gruppeninternen Sprachgebrauch eine Dublette. Sachverhalte, die für die Kommunikation einer Gruppe relevant sind, erscheinen also nicht zwangsläufig in einer einheitlichen, stabilen sprachlichen Form. Vielmehr können verschiedene Ausdrücke parallel zueinander gebraucht werden oder aber sie lösen sich in ihrer Gebrauchspräferenz ab und tragen so zu gruppeninternem Sprachwandel bei. Androutsopoulos nutzt in diesem Zusammenhang den Begriff ‚Inventar‘, definiert als „eine Gruppe von synonymischen oder funktional äquivalenten Einheiten innerhalb eines bestimmten Wortfelds, einer funktionalen Kategorie oder eines Wortbildungsparadigmas“ (Androutsopoulos 1998, 65). Phänomene dieser Art im Bereich der Wortbildung sind schon in 3.1 zur Sprache gekommen. In lexikalischer Hinsicht äußert sich die Inventarbildung in der Ausprägung von Synonymreihen. Wie umfangreich solche Synonymreihen ausfallen können, belegt eindrucksvoll eine Untersuchung mit schwedischen Jugendlichen Ende der 1990er Jahre, über die Kotsinas (2003, 80 ff.) berichtet. Zum Beispiel zum Konzept ‚ärgerlich sein‘ gaben die Probanden 900 verschiedene Wörter und Phrasen an, für ‚dumm, einfältig‘ 671, für ‚dicke Person‘ 598, für ‚männliches Geschlechtsteil‘ 553. Andere Konzepte kamen auf weniger Alternativen, wie ‚Gesicht‘ (113) oder ‚kaufen‘ (106). Kotsinas vermutet, dass zu Konzepten, die aus Sicht der Jugendlichen emotional brisanter sind, mehr Alternativen auftreten. Inwieweit die angegebenen Alternativen im engeren Sinne jugendspezifisch waren, geht aus der Darstellung bei Kotsinas allerdings nicht hervor. Innerhalb einer Synonymreihe muss keine ‚totale Synonymie‘ vorliegen, was auf die Austauschbarkeit von Lexemen in jedem beliebigen Kontext hinausliefe. Möglich ist auch ‚partielle Synonymie‘, die sich zum Beispiel in unterschiedlichen konnotativen Gewichtungen äußert (Löbner 2003, 117). Unabhängig davon können Synonymreihen relativ stabil bleiben, was punktuelle Veränderungen nicht ausschließt, oder
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sie können durch eine hohe Dynamik, eine fortlaufende lexikalische Neuauffüllung gekennzeichnet sein. Kotsinas (2003, 42 ff.) vergleicht zwei Untersuchungen zur schwedischen Jugendsprache aus den Jahren 1987 und 1998 und zeigt, dass sich die frequentesten Bezeichnungen für bestimmte Sachverhalte in diesem Zeitraum kaum verändert haben und zum Teil auch davor schon in Gebrauch waren, etwa Ausdrücke für ‚Junge‘, ‚Mädchen‘ oder ‚Geld‘. Auch die in 3.2 als Beispiele genutzten Ausdrücke für Injektionsutensilien in der Sprache der Drogenszene und der Sprache Strafgefangener waren in zwei zeitlich auseinanderliegenden Wortlisten vertreten (Harfst 1984, Keppler/Stöver 2009). In anderen Bereichen zeigt Kotsinas (2003, 42 ff.) für den Sprachgebrauch Jugendlicher eine größere Dynamik, insbesondere bei emotional wertenden Ausdrücken, etwa für ‚gut‘, ‚dumm‘ oder ‚böse‘. Androutsopoulos (1998, 377) kennzeichnet die Struktur solcher dynamischen Synonymreihen noch genauer. Während ein Kernbestand relativ stabil bleibt, kommen andere Lexeme neu hinzu oder werden obsolet, d. h. aus dem Inventar ausgesondert, oder verändern ihre Distribution als Wortbildungsmittel. Offenbar nutzen sich bestimmte, vor allem expressiv bedeutungsvolle Lexeme, die eine Zeit lang in Mode sind, in ihrer Ausdruckskraft ab und werden ersetzt, ohne deshalb zwangsläufig aus einem Inventar auszuscheiden. Dabei spielt auch das Bedürfnis nach sprachlicher Originalität, die mit schwindendem Neuheitswert verloren geht, eine Rolle. Die Tendenz zur lexikalischen Neuauffüllung bestimmter Synonymreihen wirkt also gruppeninternen Konventionalisierungsprozessen entgegen. In einer relativ stabilen Synonymreihe wie den Bezeichnungen für Injektionsutensilien in der Drogenszene erhöht eine Vielzahl konkurrierender Ausdrücke zudem deren Undurchschaubarkeit nach außen hin. Regionale Variation innerhalb des Sprachgebrauchs einer Gruppe kann ebenfalls zur Ausbildung von Synonymreihen beitragen. Das vermeintliche Überangebot im gruppenspezifischen Wortschatz kommt also nicht unbegründet zustande. Die dahinter wirksamen Mechanismen sind jedoch für verschiedene soziale Gruppen differenziert zu bewerten.
5 Identität und Abgrenzung – Sprache als Gruppensymbol Gruppenspezifische Ausdruckssysteme in ihrer charakteristischen Ausformung können, wie Steger (1988, 307) herausstellt, als ‚Gruppensymbol‘ wahrgenommen werden, das einen Bezugspunkt für die „Unterscheidung der Gruppen von anderen“ (ebd.) bildet. Eine solche Unterscheidung ist in mehr als einer Hinsicht relevant: Die Gruppe erkennt sich in ihrem Sprachgebrauch selbst und stabilisiert sich damit nach innen, sie kann sich mehr oder weniger bewusst von anderen Gruppen oder der Sprachgemeinschaft insgesamt abgrenzen, sie kann aber auch von außen an ihrem Sprachgebrauch wiedererkannt werden. Auf diese drei Aspekte soll im Folgenden abschließend eingegangen werden.
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Das Individuum ist „Träger und Repräsentant […] für eine bestimmte Varietät“ (Löffler 2010, 151) und fügt sich in den Sprachgebrauch einer Gruppe ein, indem es „seine eigene und die Sprache anderer einschätzt und sein Sprachverhalten danach richtet“ (ebd.). Damit ist jedoch nicht gesagt, dass der gruppenspezifische Sprachgebrauch bei allen Mitgliedern einer Gruppe uniform ausgeprägt sein muss. Vielmehr können Individuen einen unterschiedlichen Anteil daran haben und in unterschiedlichem Maß bereit sein, ihre sprachliche Kompetenz, zum Beispiel die Kenntnis gruppenspezifischer Lexik, anzuwenden. Das Individuum ist somit „Nucleus verschiedener (Gruppen-)Varietäten und Ausgangspunkt oder Träger der ‚Sprachdynamik‘“ (ebd.) auch im Bereich gruppenspezifischen Sprachgebrauchs. Dennoch spielt für Individuen Loyalität im Sinne eines Zugehörigkeitsgefühls zu einer Gruppe eine Rolle, einschließlich „der Bereitschaft, sich an deren Regeln zu halten“ (ebd., 153). Dazu gehört die Partizipation an einem gruppenspezifischen Sprachgebrauch, was sich sinnfällig in der Kenntnis und Verwendung bestimmter Lexik äußern kann. Die Mitglieder einer Gruppe erkennen sich an diesem Wortgebrauch und versichern sich so ihrer gemeinsamen Loyalität gegenüber der Gruppe. Das trägt zur Stabilisierung der Gruppe bei und, bei aller individuellen Varianz, zu einer „Gleichgestaltigkeit der Ausdruckssysteme“ (Steger 1988, 305), was unter Umständen mit einem hohen Maß an sozialer Kontrolle einhergehen und im Zweifelsfall dazu führen kann, dass die Mitgliedschaft eines Individuums in einer Gruppe problematisch wird. Die Frage, inwieweit die sprachliche Ingroup-Orientierung eine Abgrenzung nach außen hin eher als Nebenprodukt nach sich zieht oder derartige OutgroupEffekte von den Mitgliedern einer Gruppe bewusst angestrebt werden, ist differenziert zu betrachten. Zum Beispiel muss es nicht vordergründig in der Absicht einer Gruppe von Trekkies liegen, sich als solche gegen die Außenwelt abzugrenzen. Die Beschäftigung mit relevanten Themen, die in diesem Zusammenhang kultivierte Expertise und der Gebrauch einer entsprechenden Lexik kann jedoch von den Beteiligten als gemeinsamer Besitz wahrgenommen werden, der Außenstehende, ‚Unkundige‘ ausschließt. Das mag erst recht für Trekkies gelten, die Klingonisch lernen. Dieses ist zwar nicht per se als Geheimsprache gedacht, kann aber situationsgebunden als eine solche benutzt werden. Andere Gruppen entwickeln ihren spezifischen Wortschatz dagegen bewusst auch in der Absicht, von Außenstehenden nicht verstanden zu werden, um sich zu schützen oder bestimmte Aktivitäten zu verschleiern (Schlaefer 2002, 55 f.). Das gilt zum Beispiel für den Wortschatz der Drogenszene, der einerseits „gegenüber Gleichgesinnten gewählt [wird], um damit zu beweisen, daß man ‚Insider‘ ist, also dazugehört, Bescheid weiß, Fachmann ist“ (Harfst 1984, 7), andererseits aber auch „gegenüber Außenstehenden als Tarnung“ (ebd.). Eine andere Form sprachlicher Abgrenzung besteht darin, dass eine Gruppe der Benennung eines Sachverhalts durch eine andere Gruppe bewusst eine alternative Benennung entgegensetzt, was typisch etwa für Gruppen mit politischem Hintergrund ist (Schröter/Carius 2009, 26 ff.). Ein Beispiel ist die Opposition zwischen Kern- und Atomkraft als Fahnenwörter von Kernkraftbefürwortern und -gegnern (Schank/Schwitalla 2000, 2004).
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Extern wird gruppenspezifischer Sprachgebrauch oft wertend wahrgenommen, was mit dem sozialen Prestige einer Gruppe, aber auch mit bestimmten Eigenschaften ihrer Sprache zu tun hat, wobei entsprechende Wertungen oft linguistisch nicht zu begründen sind. Zum Beispiel ist das Sprachverhalten Jugendlicher nicht selten als Ausdruck von Sprachverfall und sprachlicher Sittenlosigkeit gesehen worden. Von einer „heute zu beobachtende[n] Zunahme an Grobianismus, Sexualismen und Fäkalismen im Wortschatz“ (Heusinger 2004, 83), die „in der Gesellschaft mehrheitlich nicht toleriert werden“ könne (ebd.), ist auch aktuell noch die Rede (vgl. auch Neuland 2008, 3 ff.). Letztlich basieren Wertungen dieser Art auf Stereotypen, die spätestens dann problematisch werden, wenn sie zu einer Stigmatisierung führen, in der sich zugleich das Bestreben von Teilen der Sprachgemeinschaft äußert, ihren Sprachgebrauch als den normalen und einzig richtigen zu etablieren (vgl. Löffler 2010). Drastische Beispiele sprachlicher Diskriminierung liefert Wiese (2012) für das Kiezdeutsch. Die zunehmende Ausdifferenzierung von Lebensstilen, die gesellschaftliche Relevanz bestimmter sozialer Gruppen sowie die Wirksamkeit öffentlicher Medien tragen dazu bei, dass in der Gegenwart „Wörter und stilistische Eigenschaften von Gruppen mehr und mehr in die Sprache der Öffentlichkeit ein[dringen]“ (Schank/Schwitalla 2000, 1999), damit breiteren Sprecherkreisen bekannt und von ihnen zum Teil auch genutzt werden, womit „Bedeutungseinschränkungen und -erweiterungen und je nach Standpunkt konnotative Auf- oder Abwertung einher[gehen]“ (ebd., 2000). Ein Wort wie chillen verliert aus dem Munde eines Erwachsenen seine jugendsprachliche Ausstrahlung und wenn beamen heute in unterschiedlichen Kontexten gebraucht wird, um die blitzschnelle Fortbewegung von einem Ort zum anderen zu bezeichnen, dürfte dabei nicht immer klar sein, welche (pseudo-)physikalischen Hintergründe diese Technologie im Star-Trek-Universum eigentlich hat. Die eingangs zitierten Trekkies werden dieses Wort in einem konkreteren Sinn verwenden. Aktionen wie die Wahl zum ‚Jugendwort des Jahres‘ verdeutlichen, wie bewusst gruppenspezifischer Wortschatz in der Sprachgemeinschaft heute wahrgenommen wird, unabhängig davon, welche Relevanz einzelne Wörter wie Gammelfleischparty oder Niveaulimbo für den alltäglichen Sprachgebrauch Jugendlicher tatsächlich haben. Der Übernahme gruppenspezifischer Lexik in andere Kommunikationsbereiche fördert auch die Einsicht, dass „nicht jede/r spricht wie der/die andere“ (ebd., 2006). Sprachliche Differenzerfahrungen auf der Wortebene tragen so dazu bei, dass sich die Sprachgemeinschaft ihrer eigenen Vielfalt und Dynamik bewusst wird, sie kritisch reflektiert und kreativ nutzt.
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7. Kommunikative Praxis, soziale Gruppe und sprachliche Konventionen Abstract: Sprache – als ein auf Konventionen beruhendes Zeichensystem – kann wohl genuin als Gruppenphänomen gelten. Die kommunikative Praxis sozialer Gruppen kann entsprechend nicht als ein peripherer Gegenstand der linguistischen Forschung aufgefasst werden. Vielmehr tangiert deren Untersuchung zentrale linguistische Fragestellungen – vor allem solche, die Aspekte der Konventionalisierung kommunikativer Ressourcen im Sinne verschiedenster semiotischer Potenziale betreffen. Der vorliegende Beitrag zielt daher darauf ab, eine Sicht auf Sprache und sprachliche Konventionen zu etablieren, die unter Rückgriff auf den primär sozialtheoretisch geprägten Praxisbegriff ein Gegenstandsverständnis nahelegt, das soziale Gruppen im Sinne von communities of practice als primären Ort der Entstehung und Tradierung sprachlicher Konventionen begreift und entsprechend der Analyse des Sprachgebrauchs sozialer Gruppen im Kontext der linguistischen Forschung einen deutlich zentraleren Status zuweist, als dies bisher üblich ist. 1 Einleitung 2 Zum Praxisbegriff in der Sozialtheorie 3 Praxistheorie und Linguistik 4 Koordination, Konvention und common ground 5 Resümee 6 Literatur
1 Einleitung Der Konventionsbegriff nimmt mit Blick auf die linguistische Gegenstandskonstitution spätestens seit Saussures Idee der Bilateralität des sprachlichen Zeichens und der Arbitrarität der Verbindung von Ausdrucks- und Inhaltsseite eine durchaus zentrale Stellung ein. Gemessen an seiner Bedeutung für die linguistische Theoriebildung ist dieser jedoch chronisch unterentwickelt, in manchen Teilbereichen, wie bspw. der Generativen Grammatik, gar völlig unbeachtet geblieben. Zunehmende Aufmerksamkeit erfährt die Auseinandersetzung mit dem Aspekt der Konventionalität jedoch z. B. im Rahmen der sog. gebrauchsbasierten Linguistik, wo davon ausgegangen wird, dass sprachliche Zeichen in der sozialen Interaktion als routinisierte Lösungen lokaler Koordinationsprobleme entstehen und dort als solche fortlaufend rekonstituiert werden. Wenn wir jedoch annehmen, dass „Sprache als Mittel der Kommunikation […] das Resultat der Verhaltenskoordination von Individuen und nicht das Substrat DOI 10.1515/9783110296136-007
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ihrer Kognition als Individuen“ (Feilke 1996, 59) ist, erscheint eine sinnvolle Einbettung des linguistischen Konventionsbegriffs in sozialtheoretische Diskurse als dringend notwendig. Eine solche Einbettung soll im vorliegenden Artikel unter Rückgriff auf das vornehmlich sozialtheoretisch inspirierte Praxiskonzept angeboten werden. Die Adaption eines praxistheoretischen Konventionsbegriffs führt schließlich – dies gilt es abschließend zu zeigen – zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Sprache und Gruppe, die der kommunikativen Praxis sozialer Gruppen im Sinne sog. communities of practice im Kosmos der linguistischen Forschungsgegenstände einen deutlich höheren Stellenwert zuschreibt, als dies bisher üblich ist.
2 Zum Praxisbegriff in der Sozialtheorie Wie einleitend bereits angedeutet, ist der Praxisbegriff maßgeblich im Kontext der Sozialtheorie geprägt worden. Hier finden sich entsprechend zahlreiche Arbeiten zum Themenfeld ‚soziale Praxis‘ (für einen Überblick vgl. Hillebrandt 2014, Reckwitz 2002, 2003, Turner 1994). Mit Blick auf entsprechende Arbeiten wird zudem nicht selten von einer Art praxistheoretischen Wende gesprochen. Es ist jedoch sicher nicht unumstritten, im Bereich der Sozialtheorie von einem wirklichen ‚practice turn‘ auszugehen, wie es vor allem Schatzki (2001) proklamiert, da sich praxistheoretische Ansätze in ihrer Modellbildung nicht grundsätzlich von anderen Theorien wie bspw. Garfinkels Ethnomethodologie (wenn man diese nicht selbst als Praxistheorie begreift) und vor allem von Schütz’ Sozialphänomenologie unterscheiden (Bongaerts 2007, 2008). Es lässt sich jedoch durchaus konstatieren, dass in praxistheoretischen oder praxeologischen Arbeiten verschiedene Aspekte in den Fokus geraten, die in anderen Theorien zumindest eher am Rande thematisiert werden, weniger elaboriert oder lediglich implizit enthalten sind. Zu diesen Aspekten gehört neben der Relevanz der körperlichen Verankerung des Sozialen (embodiment) und der damit verbundenen Überwindung des cartesianischen Dualismus (Trennung von Körper und Geist) vor allem auch die Etablierung eines speziellen Regel- bzw. Normverständnisses, welches zugleich ein spezifisches Verständnis von Konventionalität impliziert (vgl. hierzu Abschnitt 4). Aus praxeologischer Sicht können soziale Normen nicht in erster Linie als präskriptive, explizierbare Regeln verstanden werden, sondern zuallererst einmal als in der sozialen Praxis erzeugte Regularitäten – im Sinne körperlich ‚eingeschliffener‘ Routinen. „Eine Praktik besteht aus bestimmten routinisierten Bewegungen und Aktivitäten des Körpers“ (Reckwitz 2003, 290). Die Regelhaftigkeit entsprechender Routinen besteht jedoch nicht allein in statistischen Regularitäten der Reproduktion. Der entscheidende Unterschied zu einem traditionellen, eher naturwissenschaftlich inspirierten Regelbegriff (vgl. auch Taylor 2003) liegt vor allem in der Annahme einer fortlaufenden Rekonstitution: Das Tun (doing) sozialer Akteure wird zwar als in gewisser Hinsicht von Regeln oder Normen bestimmt aufgefasst. Entsprechende
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Normen werden aber als solche – und das ist die Pointe des Praxisbegriffs – durch das doing sozialer Aktanten immer wieder aufs Neue hervorgebracht. Es wird entsprechend von einer spezifischen Form der Rückkopplung zwischen Regel und situativer Passung ausgegangen, aus der sich eine generelle Unabgeschlossenheit oder Offenheit von Typisierungen und ein grundlegendes Potenzial zu Dynamik und Variabilität ergeben. Dieses inhärente Dynamikpotenzial sozialer Praktiken wird dadurch zusätzlich verstärkt, dass sich […] immer wieder eine interpretative und methodische Unbestimmtheit, Ungewissheit und Agonalität ergibt, die kontextspezifische Umdeutungen von Praktiken erfordert und eine ‚Anwendung‘ erzwingt und ermöglicht, die in ihrer partiellen Innovativität mehr als reine Reproduktion darstellt (Reckwitz 2003, 294).
Ein entsprechender Praxisbegriff findet sich zunächst bei Bourdieu, der als einer der Begründer der anthropologisch-soziologischen Praxistheorie gilt. Bourdieu charakterisiert soziale Praxis als ein reguliertes Improvisieren auf der Basis (in einem Kollektiv) etablierter Ausdrucks- und Interpretationsschemata – inkorporiert als Habitus1 –, die als solche in der sozialen Praxis stetig rekonstituiert werden (vgl. u. a. Bourdieu 2003 [1977], 78). Der situative ‚Vollzug‘ ist damit Teil einer Praktik und nicht deren Anwendung oder Realisierung. Ein ganz ähnliches Verständnis findet sich auch bei Giddens (1984, 2), der in seinem Entwurf einer Theory of Structuration schreibt: Human social activities […] are recursive. That is to say, they are […] continually recreated by […] [social actors] via the very means whereby they express themselves as actors. In and through their activities agents reproduce the conditions that make these possible (Giddens 1984, 2).
Entsprechende Überlegungen sind bei Giddens eng verbunden mit seinem Konzept der practical consciousness, welches deutliche Ähnlichkeiten zum Bourdieu’schen Habitus-Begriff einerseits und zu Schatzkis practical understanding andererseits aufweist (vgl. hierzu auch Schatzki 2012, 14). Wie Bourdieu und Giddens geht auch Schatzki davon aus, dass soziale Praktiken sich im Tun sozusagen immer wieder selbst hervorbringen. Schatzki betont dabei zudem die besondere Relevanz von Verstehen bzw. Sinnzuschreibungen: „The (conceptual) understanding, against which a particular behavior-in-circumstances constitutes an X-ing, is carried by the practice of X-ing“ (Schatzki 1996, 93). Entscheidend ist für Schatzki, dass die Rekonstitution von Praktiken in der sozialen Praxis auf „identity-bestowing understandings of action“ (Schatzki 1996, 93) beruht. In der vermeintlich immer gleichen Auslegung von doings rekonstituieren sich soziale Praktiken verstanden als „arrays of human activity“ (Schatzki 2001, 11). Von Handlungsbegriffen wie bspw. dem Luckmann’schen
1 Habitus im Bourdieu’schen Sinne kann damit auch als ein Repertoire sozialer Praktiken begriffen werden.
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(u. a. 1992) unterscheidet sich der praxeologische Ansatz – zumindest in der dargelegten Version – insofern, als dass für die Klassifizierung eines doings bzw. Handelns als spezifisches X-ing bzw. als spezifische Handlung nicht die Erfüllung/Umsetzung eines in irgendeiner Weise (mehr oder weniger) vorentworfenen Plans notwendig ist, sondern lediglich Sinnzuschreibungen im Tun selbst, die (1) mit vorab festgelegten Intentionen von Akteuren konvergieren können aber nicht müssen und (2) als solche explizierbar sein können, aber nicht müssen. Der praktische Sinn einer Aktivität emergiert letztlich im situierten Vollzug (Schatzki 2012, 20; vgl. hierzu auch Bongaerts 2008), während die Explikation stets ein reflektierendes Bewusstmachen eines bisher unbewussten, praktischen bzw. nicht-propositionalen Sinns voraussetzt: „Propositional understanding is an inferior stand-in for, and thus not equivalent to, the nonpropositional conceptual understanding living in the practice“ (Schatzki 1996, 93). Es sind jedoch in jedem Fall identitätszuschreibende Interpretationen – ob nicht-propositional im Vollzug oder propositional reflektierend – notwendig, um über Raum und Zeit hinweg überhaupt Verkettungen von Aktivitäten und damit soziale Praktiken als solche zu erzeugen bzw. fortlaufend zu rekonstituieren (vgl. auch Deppermann/ Feilke/Linke 2016, 15). In Analogie zu den verschiedenen Formen des Verstehens nimmt Schatzki schließlich eine Unterscheidung zwischen expliziten und impliziten Regeln vor, wenngleich er den Regelbegriff für erstere reserviert. Die Unterscheidung repliziert mehr oder weniger Giddens (1984, 23) Differenzierung zwischen diskursiven und impliziten bzw. taziten Regeln, von denen Giddens letzteren mit Blick auf die soziale Praxis einen primären Status zuschreibt: „Most of the rules implicated in the production and reproduction of social practices are only tacitly grasped by the actors: they know how to ‚go on‘.“ Die diskursive, d. h. sprachliche Ausformulierung einer taziten Regel ist hingegen – wenn überhaupt möglich – immer schon eine Interpretation und folglich nicht äquivalent mit dieser. Die simple, aber weitreichende Pointe entsprechender Überlegungen ist mit Polanyi (2009 [1966], 4) gesprochen: „We know more than we can tell.“ Die Kenntnis oder besser die Beherrschung sozialer Praktiken wird also primär (aber nicht ausschließlich!) als tacit knowledge (Polanyi 2009 [1966] u. a.) aufgefasst, als ein in der sozialen Praxis lebendes knowing how (Ryle 1949). Normativ ist dieses knowing how in dem Sinne, dass es beinhaltet, wie man eine Aktitvität in der Weise vollzieht, dass diese für andere als Aktualisierung einer spezifischen Praktik erkennbar und sinnvoll interpretierbar wird. [D]ie Praktik als soziale Praktik ist nicht nur eine kollektiv vorkommende Aktivität, sondern auch eine potenziell intersubjektiv als legitimes Exemplar der Praktik X verstehbare Praktik (Reckwitz 2003, 290).
Erst in der im Normalfall beiläufigen, d. h. nicht bewusst reflektierenden intersubjektiven Legitimierung von doings als X-ings manifestiert sich die soziale und damit gewissermaßen auch die normative Dimension sozialer Praktiken, da erst auf diese
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Weise sozial geteilte Verkettungen zwischen vergangenen, aktualen und potenziell zukünftigen Aktivitäten (im Sinne eines projizierenden knowing how to go on) hergestellt werden (vgl. auch Deppermann/Feilke/Linke 2016, 8), die in ihrer Rekurrenz Praktiken als solche rekonstituieren. Der Praxisbegriff beinhaltet damit eine spezifische Sozialontologie (Schatzki 2001, 12): „[T]he social is a field of embodied, materially interwoven practices centrally organized around shared practical understandings.“ Rekurrenz als Modus der Rekonstitution sozialer Praktiken impliziert damit eine Gleichheit von Aktivitäten, die weder subjektiv noch objektiv gegeben ist, sondern auf situierten, konsensuellen Zuschreibungen beruht. Soziale Praktiken können daher als transsituative Verkettungen von Aktivitäten begriffen werden, deren Identität sich erst und ausschließlich in einer intersubjektiven Übereinkunft zwischen sozialen Aktanten im praktischen Vollzug manifestiert. Soziale Ordnung kann entsprechend „nur aus der mikrosoziologischen Abstimmung bezüglich nie identischer Situationen erfasst werden“ (Bongaerts 2007, 249). Die skizzierten Überlegungen schließen u. a. an die von Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen entwickelten Gedanken zum Regelfolgen an, von denen der praxeologische Normdiskurs maßgeblich inspiriert worden ist (vgl. Bloor 2001 sowie Taylor 2003). Eine Regel besteht nach Wittgensteins Auffassung nur in einer Folge oder Reihe von passenden Anwendungen. Die Passung in der Anwendung ist jedoch – so Wittgenstein – außerhalb der geteilten Praxis nicht überprüfbar. In diesem „Fall habe ich ja kein Kriterium für die Richtigkeit. Man möchte […] sagen: richtig ist, was immer mir als richtig erscheinen wird“ (PU 258). Man kann einer Regel daher nicht ‚privatim‘ folgen, „weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen“ (PU 202). Deshalb kann weder „ein einziges Mal“ noch „nur ein Mensch einer Regel gefolgt sein“ (PU 199). Erst die soziale Übereinkunft entledigt die Anwendung von der potenziellen Willkürlichkeit in der Art der Wiederholung. Normativität entspringt daher letztlich einem „consensus between different rule-followers“ (Bloor 2001, 104). Dieser Gedankengang stellt ein zentrales Argument in Wittgensteins logischer Widerlegung der Möglichkeit einer Privatsprache dar (vgl. Schneider 2005 und 2011), mit der er den theoretischen Grundstein für einen praxeologisches Sprachverständnis gelegt hat, dessen Potenzial in der Linguistik – trotz zunehmender Etablierung eines zumindest praxistheoretisch inspirierten Vokabulars – bei weitem nicht ausgeschöpft scheint.
3 Praxistheorie und Linguistik In der Linguistik fällt die theoretische Auseinandersetzung mit dem Praxisbegriff im Vergleich zum hier nur grob skizzierten sozialtheoretischen Diskurs zumeist schmaler aus, wenngleich ‚kommunikative Praxis‘ ‚kommunikative Praktik‘, ‚Sprachpra-
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xis‘, ‚sprachliche Praxis‘, sprachliche Praktik‘, oder ‚community of practice‘2 in der Sprachwissenschaft durchaus gebräuchliche Termini sind. Entsprechende Verwendungen sind allerdings häufig eher vortheoretischer Natur. Praxistheoretische Hintergründe werden nur selten im Detail expliziert und im Hinblick auf Relevanz und Erklärungspotenzial für die linguistische Theoriebildung beleuchtet. Auch Deppermann/Feilke/Linke (2016, 11) bemerken entsprechend kritisch, dass der Praktikenbegriff zwar zunehmend Einzug in die Linguistik hält, er jedoch oft eher en passant benutzt wird, ohne dass auf die mit ihm verbundenen theoretisch-methodischen Entscheidungen fokussiert und sein Platz im Gefüge linguistischer Begriffe und Gegenstände genauer bestimmt wird.
Insgesamt lässt sich jedoch konstatieren, dass vor allem die Konzepte der kommunikativen Praxis, der kommunikativen Praktik und das der community of practice in der Linguistik etabliert und zumindest – wenn auch sicher in unterschiedlichem Maße – in verschiedenen Arbeiten einerseits im praxistheoretischen Diskurs verortet und andererseits im Hinblick auf ihren potenziellen Mehrwert für die linguistische Forschung beleuchtet worden sind. Im Folgenden sollen entsprechende Konzepte unter Berücksichtigung der einschlägigen Forschungsliteratur vorgestellt und unter Rückgriff auf die in Abschnitt 2 ausgeführten praxistheoretischen Überlegungen weiterführend diskutiert werden. Der Fokus liegt dabei auf der Zusammenschau von theoretischen Aspekten, nicht auf der Darstellung des jeweiligen Forschungsstandes.
3.1 Kommunikative Praxis Vor allem in der Anthropologischen Linguistik finden sich einzelne Arbeiten, die explizite Bezüge zum sozialtheoretischen Praxisdiskurs herstellen und theoretische und methodische Implikationen für die linguistische Forschung ableiten (vgl. u. a. Foley 1997, Hanks 1987, 1996, 2003, 2005a, 2005b sowie Pennycook 2010). Zentrale Überlegungen im Hinblick auf die Entwicklung eines praxistheoretischen Sprachverständnisses finden sich vor allem bei Hanks, der vor dem Hintergrund seines Modells der kommunikativen Praxis3 ein Sprachverständnis entwickelt, das maßgeblich von
2 Im Deutschen hat sich nach wie vor keine Übersetzung für den Terminus ‚community of practice‘ durchgesetzt. Dies ist wohl nicht zuletzt dem Umstand zu schulden, dass der Begriff ‚Praxisgemeinschaft‘ mit anderer Bedeutung fest im Alltagswortschatz verankert ist. 3 Hanks spricht in seinen Arbeiten allerdings wechselhaft einmal etwas allgemeiner von ‚communicative practice‘ und ein anderes Mal wieder spezifischer von ‚linguistic practice‘, ohne eine begriffliche Differenzierung einzuführen. Dies scheint für die Auseinandersetzung mit Hanks praxistheoretischen Überlegungen jedoch auch nicht von besonderer Relevanz. Der Einfachheit halber wird daher im Rahmen der weiteren Darstellung durchgängig von ‚kommunikativer Praxis‘ gesprochen.
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Bourdieus praxeologischen Überlegungen geprägt ist. Die kommunikative Praxis ist nach Hanks (1996, 231) Auffassung sowohl durch „systemic potentials of symbolic forms“ als auch durch „actual doings of real agents“ gekennzeichnet, woraus sich ein praxis-immanentes Wechselspiel zwischen „schematic and emergent aspects“ (Hanks 1996, 234) ergibt. Das Begriffspaar ‚schematisch‘ vs. ‚emergent‘ löst in Hanks Terminologie in gewisser Hinsicht die von ihm kritisch diskutierte Unterscheidung zwischen Type und Token ab, die er im Sinne einer Anwendungslogik, wie sie häufig auch in Verbindung mit Begriffsoppositionen wie ‚Langue‘ vs. ‚Parole‘ oder ‚Kompetenz‘ vs. ‚Performanz‘ postuliert wird (für eine alternative Lesart vgl. Abschnitt 4), ablehnt. Auch mit Blick auf Sprache adressiert das Konzept der Praxis daher die Reflexivität von schematischen Potenzialen und situierter Emergenz und kann somit per se nicht als Entsprechung zur Saussure’schen ‚Parole‘ oder Chomskys ‚Performanz‘ verstanden werden. Der Praxisbegriff teilt die mit der Verwendung entsprechender Termini häufig implizierte mechanische Trennung zwischen einem System sprachlicher Regeln und dessen Anwendung oder Gebrauch explizit nicht (Hanks 2005a, 72). In diesem Sinne ist auch Pennycook (2010, 8) zu verstehen, der schreibt: To talk of practice is not the same as talking about use. In particular, the notion of use suggests a prior object that can be taken up and employed for certain purposes. The notion of language use therefore suggests that languages exist out there in the world and can then be taken up and put to some use. Both the notion of languages and the notion of use implied by such a proposition are challenged by […] [the] notion of language practice, which suggests that language is a product of social action, not a tool to be used.
Ausgehend von einem Verständnis von Sprache als „product of social action“ und der damit verbundenen Idee von einer unauflösbaren Verwobenheit von Sprache und sozialer Aktivität gerät nicht mehr das isolierte Individuum als „unit of speech production“ (Hanks 1996, 230) in den Blick, sondern „the socially defined relation between agents and the field that ‚produces‘ speech forms.“ Sprachliches Wissen wird als praktisches, in sozialen Feldern inkorporiertes Wissen im Sinne des Bourdieu’schen Habitus konzipiert: „Habitus […] emerges specifically in the interaction between individuals and the field, and it has no independent existence apart the field“ (Hanks 2005a, 72). Ein soziales Feld wird dabei begriffen als „space of positions and position takings.“ Positionen im sozialen Feld lassen sich in Abgrenzungen zu anderen, nicht selten komplementären Positionen im gleichen Feld, wie bspw. Ärztin ≠ Patientin (Gesundheitswesen), Lehrerin ≠ Schülerin (Bildungssystem) oder Mutter ≠ Kind (Familie), beschreiben, sind jedoch nicht als statische Strukturen aufzufassen: Like the duality of perception schemes and practices of perceiving in the habitus, the duality of position and position taking make any field a dynamic form of organization, not a fixed structure (Hanks 2005a, 72).
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Aufgrund der Dualität von „position and position taking“ haben Positionen wie Felder eine gewissermaßen historische Dimension, in der sich die für die praxeologische Sozialontologie charakteristische Rekonstitutionslogik entfaltet. formal structure
activity
ideology
Abb. 1: Drei Dimensionen der kommunikativen Praxis nach Hanks (1996, 230)
Die kommunikative Praxis führt nun aufgrund der historisch-dynamischen Verschränkung von Habitus und Feld zu sich in der Praxis stetig rekonstituierenden assoziativen Verknüpfungen von verschiedenen Formen des Habitus mit spezifischen Positionen in sozialen Feldern und damit jeweils verbundenen evaluativ-ideologischen Zuschreibungen (vgl. ähnlich auch Deppermann/Feilke/Linke 2016, 9). Die kommunikative Praxis erzeugt damit letztlich ein dynamisches Spannungsfeld zwischen sprachlichen Strukturpotenzialen, kommunikativen Praktiken und Ideologien, die diese evaluativ durchdringen (vgl. Hanks 1996, 30 sowie Abbildung 1). Die Berücksichtigung dieses Wechselspiels als Determinanten der Emergenz von Sprache als ein zentrales Inventar semiotischer Potenziale für die kommunikative Praxis erfordert mit Blick auf die empirische Analyse die Fokussierung des sprachlichen Verhaltens sozialer Akteure in konkreten Handlungskontexten, d. h. die Analyse sozialer bzw. kommunikativer Praktiken (vgl. ähnlich auch Pennycook 2010, 6).
3.2 Kommunikative Praktiken Während der Terminus der Praxis eine spezifische Konzeptualisierung der Formen menschlichen Daseins vornimmt, richtet sich das (in der Linguistik allerdings in keiner Weise einheitlich gehandhabte) Konzept der Praktik bzw. Praktiken4 im weitesten Sinne auf die Erfassung und Beschreibung von (kommunikativen) Routinen ganz unterschiedlichen Formats, die – aus praxeologischer Sicht – ihren Sitz in der Sphäre der (kommunikativen) Praxis haben (vgl. Abschnitt 2). Mit Deppermann/Feilke/Linke (2016, 12–13) lassen sich hier grob-schematisch drei verschiedene Verwendungen des Praktikenbegriffs identifizieren, die sie mit ‚superstrukturell-handlungsfeldbezogen‘,
4 Im Englischen wird der begriffliche Unterschied zwischen Praxis und Praktik in der Regel über die Verwendung der Singular- (practice) bzw. Pluralform (practices) markiert.
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‚makrostrukturell-gattungstheoretisch‘ und ‚mikrostrukturell-konversationsanalytisch‘ überschreiben. Arbeiten, die Deppermann/Feilke/Linke dem ersten Bereich zuordnen, weisen zwar durchaus begrifflich-inhaltliche Bezüge zu Aspekten des bisher skizzierten praxistheoretischen Theoriegebäudes auf (Habitus, Ideologie etc.), befassen sich jedoch eher mit „sehr allgemeine[n] Leitstrukturen der Kommunikation und des Umgangs mit Texten“ (Deppermann/Feilke/Linke 2016, 12) und in der Regel nicht mit Fragen, die die lokale Organisation und Rekonstitution von Praktiken im sozialen Austausch betreffen. Ein entsprechend kleinschrittiger Zugriff findet sich zwar in mikrostrukturell-konversationsanalytisch orientierten Studien. Im konversationsanalytischen Sinne sind Praktiken allerdings als (rekurrente) Strategien der zumeist sprachlichen aber bspw. auch gestisch-mimischen Kontextualisierung (Gumperz 1982, 130–152) von Turns mit Blick auf die Realisierung spezifischer Handlungen (actions) zu begreifen (Heritage/Stivers 2013, 665). Praktiken sind also Verfahren des ‚Turn-Designs‘, die kommunikative Ressourcen zur Realisierung von Handlungen darstellen. Im Rahmen der Praxistheorie sind Handlungen hingegen – wenn dem Handlungskonzept überhaupt ein theoretischer Status zugewiesen wird – eher als Bestandteile von Praktiken zu begreifen oder fallen mit diesen im Minimalfall zumindest zusammen. Praktiken sind praxeologisch gesehen jedoch niemals ‚lediglich‘ Elemente (zur Erzeugung) von Handlungen (vgl. ähnlich auch Imo 2016, 158– 161). Nach Schatzki (2002) liefern Praktiken vielmehr eine Art Rahmen oder ‚Träger‘, der einen intersubjektiv sinnvollen Vollzug sozialen Handelns überhaupt erst ermöglicht. Handlungen setzen also Praktiken voraus (Schatzki 2002, 96). Praktiken, die Gegenstand der Konversationsanalyse sind, werden jedoch begrifflich auch als conversational oder interactional practices (Heritage/Stivers 2013) erfasst und sind somit auch terminologisch von communicative practices bspw. im Sinne von Hanks zu unterschieden, dessen Begriffsverständnis primär dem makrostrukturellgattungstheoretischen Bereich zuzuordnen ist. In der Sichtweise von Hanks (1996, 242) ist es für die Analyse kommunikativer Praktiken (communicative practices) zunächst grundlegend, eine Beschreibungseinheit zu identifizieren, „that is greater than the single utterance but less than a language.“ Zur Bestimmung entsprechender Einheiten bezieht sich Hanks auf Bakhtins Genre-Begriff und dessen Unterscheidung zwischen primären und sekundären Genres: „Primary genres are simple in the sense that they consist of just one kind of practice, whereas secondary genres combine two or more primary ones“ (Hanks 1996, 242–243). Als Beispiele für primäre Genres nennt er u. a. Essen in einem Restaurant Bestellen oder Grüßen eines Freundes auf der Straße, die gewissermaßen ‚Einzelhandlungen‘ darstellen. Beispiele für sekundäre Genres wären hingegen öffentliche Vorträge oder Debatten, die eher größere Handlungskomplexe darstellen. Die von Hanks vorgenommene Unterscheidung zeigt daher gewisse Ähnlichkeiten zu der in der vor allem germanistischen Linguistik zuweilen vorgenommenen Unterscheidung zwischen kommunikativen Praktiken und kommunikativen Gattungen.
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In der germanistischen Linguistik ist das Konzept der kommunikativen Praktik maßgeblich von Fiehler et al. (2004) geprägt worden, die in ihren Ausführungen in allerdings nicht explizit an praxistheoretische Überlegungen anknüpfen. Es handelt sich hierbei vermutlich um eine eher zufällige begriffliche Parallele zu Hanks communicative practices, der hingegen – wie Hanks Arbeiten insgesamt – praxistheoretisch eingebettet ist. Mit Fiehler et al. sind kommunikative Praktiken zu begreifen als „präformierte Verfahrensweisen […] [auf die] Sprecher und Sprecherinnen als Bausteine ihrer kommunikativen Praxis zurückgreifen“ (Fiehler et al. 2004, 99–100). Auch wenn sich hier zunächst Ähnlichkeiten zu dem aus der Wissenssoziologie stammenden Gattungskonzept (vgl. u. a. Luckmann 1995; Günthner/Knoblauch 1994) abzeichnen, wird jedoch schnell deutlich, dass das Konzept bei Fiehler et al. genuin als eine Alternative zum Gattungskonzept angelegt ist. Ein entscheidender Unterschied liegt darin, dass Fiehler et al. (2004, 99) davon ausgehen, dass wir, „[w]enn wir uns verständigen, […] dies im Regelfall auf der Basis von vorgeformten Praktiken“ tun, während laut Günthner/Knoblauch (1994, 703) „nicht behauptet werden [kann], daß alles Sprechen in Gattungen ablaufe.“ Fiehler et al. schreiben somit der Musterhaftigkeit im alltäglichen Handeln eine tendenziell größere Relevanz zu als dies im Rahmen der Gattungstheorie der Fall ist. Linke (2010) löst diese Differenzierung zwischen Gattungs- und Praktikkonzept jedoch auf, indem sie kommunikative Praktiken gewissermaßen als Kleinformen von Gattungen begreift. Als Unterscheidungskriterien zwischen kommunikativen Praktiken und Gattungen macht Linke neben der Größe, die Möglichkeit zur Einbettung und die interne Strukturiertheit geltend. Kommunikative Praktiken sind mit Linke dann in erster Linie als kleinere kommunikative Formen zu verstehen, wie etwa ‚jemanden begrüssen‘, ‚jemandem zum Geburtstag gratulieren‘, ‚im Restaurant Essen bestellen‘ oder ‚ein Gespräch eröffnen‘, die oft auch in größere und komplexere Praktiken eingebettet sind (Linke 2010, 261).
Gattungen werden hingegen als die komplexeren kommunikativen Formen begriffen, „die sich zudem durch eine deutliche und oft explizit markierte Struktur von Beginn– Verlauf–Beendigung auszeichnen“ (Linke 2010, 261). Hier sind also durchaus Ähnlichkeiten zu Hanks Unterscheidung zwischen primären und sekundären Genres zu erkennen. Eine etwas anders gelagerte Modellierung bieten Günthner/König (2016, 181) an, die Praktiken als „Oberbegriff für Verfahren zur Herstellung sozialer Aktivitäten verstanden“ wissen möchten und als Gattungen lediglich [j]ene kommunikativen Praktiken [bezeichnen], die Verfestigungen auf mehreren Ebenen (der Binnenebene, der situativen Realisierungsebene und der Außenstruktur) aufweisen und sich über längere Sequenzen (oftmals mit mehr oder weniger markiertem Anfang und Ende) erstrecken und somit komplexe Handlungsmuster repräsentieren (Günthner/König 2016, 182).
Aus praxeologischer Sicht erscheint eine Zusammenführung des Konzeptes der Praktik mit dem der Gattung jedoch in beiden genannten Spielarten als nur bedingt
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sinnvoll, da – wie in Abschnitt 2 ausgeführt – die Praxistheorie eine spezifische Sozialontologie impliziert, die sich von der phänomenologisch-soziologischen Sichtweise, die dem Gattungsbegriff zugrunde liegt (vgl. Schütz/Luckmann 2003), in Teilen unterscheidet (vgl. hierzu Bongaerts 2007 und 2008). Entscheidend für die hier behandelten Zusammenhänge ist dabei u. a., dass im Rahmen praxistheoretischer Modelle vor dem Hintergrund der bereits an verschiedener Stelle aufgegriffenen Rekonstitutionslogik grundsätzlich davon ausgegangen wird, dass jegliche Formen von Aktivitäten stets in Praktiken eingebettet sind. In diesem Umstand manifestiert sich jedoch nicht nur ein zentraler Unterschied zum Gattungskonzept, sondern zugleich auch zu dem der kommunikativen Praktik im Sinne von Fiehler et al. Kommunikative Praktiken werden von Fiehler et al. zwar als im Regelfall präformiert aufgefasst. Aus praxeologischer Sicht ist soziales Agieren jedoch – wie bereits angesprochen – nicht nur im Regelfall, sondern per se in Praktiken eingebunden.5 Die von Schatzki applizierte Metapher der Verkettung stellt dies deutlich heraus (vgl. Abschnitt 2). Praktiken sind zudem nicht im engeren Sinne als präformiert und vor allem nicht als singuläre Realisierungen (vgl. Fiehler et al. 2004, 99) aufzufassen. Eine entsprechende Terminologie isoliert den Typen begriffslogisch vom Token. Eben dies wird in der praxistheoretischen Modellierung grundsätzlich vermieden (vgl. auch Abschnitt 2 und 3.1). Aus praxeologischer Sicht stehen einzelne Aktivitäten vielmehr als Vergleichsobjekte nebeneinander, die auf der Basis von interpretativ regulierten Identitätsurteilen zu Praktiken verkettet werden (vgl. Abschnitt 2), wie es Wittgenstein ganz ähnlich für Sprachspiele beschreibt: Unsere klaren und einfachen Sprachspiele sind nicht Vorstudien zu einer künftigen Reglementierung der Sprache […]. Vielmehr stehen die Sprachspiele da als Vergleichsobjekte, die durch Ähnlichkeit und Unähnlichkeit ein Licht in die Verhältnisse unserer Sprache werfen (PU 130). Nur so nämlich können wir der Ungerechtigkeit oder Leere unserer Behauptungen entgehen, indem wir das Vorbild als das, was es ist, als Vergleichsobjekt – sozusagen als Maßstab – hinstellen; und nicht als Vorurteil, dem die Wirklichkeit entsprechen müsse. […] (PU 131).
Ein weiterer zentraler Aspekt, der das sozialtheoretische Verständnis von Praktik mit dem Gattungskonzept kontrastiert, ist die jeweils unterstellte Art der Aneignung. Während mit Blick auf kommunikative Gattungen stets von einer kognitiven Entlastung ausgegangen wird, die darin begründet liegt, dass Handlungen oder Handlungssequenzen aufgrund zunehmender Routinisierung und Habitualisierung mit stets geringerer Aufmerksamkeitszuwendung durchlaufen werden können (vgl. Berger/ Luckmann 2012 [1969] sowie Günthner 2000; ähnlich auch Linke 2010, 262 mit Blick auf Praktiken), gehen praxeologische Ansätze im Normalfall von einer initial impliziten Aneignung von Praktiken und nicht von einem Verlauf vom Expliziten zum Impli-
5 In einer früheren Publikation vertritt allerdings auch Fiehler den Standpunkt: „[J]edes Sprechen und Schreiben geschieht in und ist Bestandteil von kommunikativen Praktiken“ (Fiehler 2000, 38).
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ziten aus. Wie weiter oben bereits ausgeführt, wird zudem davon ausgegangen, dass das Explizierbare immer in irgendeiner Weise im Implizitem verankert und zudem eine Bewusstmachung nicht immer ohne weiteres möglich ist (vgl. Abschnitt 2).6 Schatzki nimmt jedoch eine Differenzierung von verschiedenen Formen von Praktiken, nämlich dispersed und integrative, vor, die die beschriebenen Unterschiede zumindest in Teilen relativiert. Dispersed practices sind – so Schatzki (1996) – gesellschaftlich weit verbreitete Praktiken, d. h. sie tauchen in ganz unterschiedlichen sozialen Feldern auf und umfassen lediglich „a single type of action“ (Schatzki 2002, 88). Als Beispiele nennt Schatzki (1996, 91) Praktiken wie Fragen, Beschreiben etc., die durchaus dem Format von kommunikativen Praktiken im Sinne von Linke sowie primären Genres im Sinne von Hanks ähneln. Derartige dispersed practices basieren in der Regel ausschließlich auf praktischem Verstehen (vgl. Abschnitt 2). Von entsprechenden dispersed practices unterscheidet Schatzki integrative practices, die in der Regel diverse Aktivitäten oder auch Handlungen (in Form von dispersed practices) integrieren, zusätzlich zur Ebene des (impliziten) praktischen Verstehens durch explizite Regeln und eine hierarchische Ziel- und Aufgabenstruktur organisiert sind (Schatzki 2012, 16). Integrative practices sind in ihrer Verbreitung im Gegensatz zu dispersed practices auf bestimmte soziale Felder oder gar Gruppen beschränkt, weisen meist einen komplexeren Handlungsaufbau auf (vgl. Schatzki 1996, 98) und könnten vermutlich als kommunikative Gattungen (oder auch als sekundäre Genres) beschrieben werden. So lassen sich am Ende die Konzepte der Gattung und der Praktik in gewisser Weise auch aus praxeologischer Sicht vereinen – wie es sich im Grunde auch bei Hanks andeutet –, wenngleich theoretische Unstimmigkeiten im Spannungsfeld zwischen Gattungstheorie und Praxistheorie verbleiben. Es ist zudem aus praxeologischer Sicht vermutlich generell eleganter, im Sinne einer terminologischen Konsistenz, dem Begriffspaar Praktik vs. Gattung das Begriffspaar dispersed vs. integrative practice vorzuziehen. Dies gilt vor allem dann, wenn wir kommunikative Praktiken allgemein als zentrale Knotenpunkte der kommunikativen Vernetzung sozialer Gruppen im Sinne von communities of practice beschreiben wollen.
3.3 Communities of practice Bereits Anfang der 1990er Jahre führen Eckert/McConell-Ginet (1992) das Konzept der community of practice (CofP) in den linguistischen Forschungsdiskurs ein, welches auf lerntheoretische Arbeiten von Lave und Wenger (Lave 1988, sowie Lave/Wenger 1991) zurückgeht und Ende der 1990er Jahre von Wenger in einer gleichnamigen Monographie detailliert ausgearbeitet und unter Rückgriff u. a. auf Bourdieu und Wittgenstein
6 Anders gelagert ist dies jedoch sicher in Kontexten der bewussten, wissentlichen und in der Regel angeleiteten Aneignung.
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im praxeologischen Diskurs verortet worden ist. Nach Wenger (1998, 47) sind CofPs „the prime context in which we can work out common sense through mutual engagement“. CofPs können in diesem Verständnis als die zentrale soziale Einheit gelten, in der Verkettungen von Aktivitäten infolge konsensueller Interpretationen zu sozialen Praktiken akkumulieren. Entsprechende Gemeinschaften sind jedoch zugleich Resultat der Herausbildung sozialer Praktiken. Als Dreh- und Angelpunkt der Konstitution von CofPs kann daher in erster Instanz gelten, was Wenger (1998, 72–82) als mutual engagement und joint enterprise bezeichnet: Eine CofP kann in diesem Sinne als eine interaktionsbasierte Gemeinschaft/Gruppe aufgefasst werden, die entsteht, wenn verschiedene soziale Akteure in ihrem Tun bei wechselseitiger Involviertheit (unbewusst) geteilte ‚Ziele‘ verfolgen und in diesem Zuge soziale Praktiken zum Erreichen dieser Ziele in ihrem Tun generieren und/oder adaptieren, fortlaufend rekonstituieren und auf diese Weise ein geteiltes Repertoire „of ways of doings things“ (Wenger 1998, 49) etablieren, welches mit Bourdieu auch als Habitus bezeichnet werden kann. Die Partizipationsstruktur einer CofP ist damit in shared practices verankert, die mit Blick auf die kommunikative Vernetzung sowie das kommunikative Repertoire auch als kommunikative Praktiken bezeichnet werden können. Das Konzept ist vor allem in soziolinguistischen Arbeiten der sog. Third Wave (Eckert 2012) aufgegriffen worden, die sich aus praxeologischer Perspektive mit der interaktiven Konstruktion sprachlicher Identitäten und/oder der in der kommunikativen Praxis verankerten Wechselwirkung von Sprachvariation und Sprachwandel befassen. Ein praxistheoretischer Ansatz ermöglicht – so die Auffassung – ein flexibles Verständnis von sprachlicher Identität, welches das Wechselspiel zwischen der interaktiven Dynamik lokaler Aushandlungsprozesse einerseits und sozialen Kategorisierungen auf einer globaleren Ebene andererseits adäquater zu erfassen vermag als klassische soziolinguistische Modelle, die von einer gewissen Determiniertheit des sprechenden Individuums ausgehen. Entsprechende Überlegungen sind in den Folgejahren von Eckert (2008, 2010 u. a.) unter Rückgriff auf die Konzepte des Habitus und des Feldes (vgl. Abschnitt 2 und 3.1) sowie auf Silversteins (2003) Indexikalitätsbegriff zu einer praxeologischen Indexikalitätstheorie ausgebaut und in verschiedenen soziolinguistischen Studien vor allem im anglo-amerikanischen (für eine Übersicht vgl. Eckert 2012, 93–97), aber auch im deutschsprachigen Raum (vgl. u. a. Droste 2016, Lanwer 2015 sowie Spreckels 2006) adaptiert worden. Entsprechende Untersuchungen liefern Einblicke in lokale, mikro-soziale kommunikative Prozesse, die sich in makro-sozialen Wandelprozessen niederschlagen (können) und diese zugleich widerspiegeln (vgl. Eckert 2010 sowie Lanwer 2015, 48–52). Das Konzept der CofP liefert in diesem Zusammenhang – so Eckert/McConellGinet (1992, 464) – mit Blick auf die Modellierung sozialer Gruppen eine konzeptionelle Alternative zur Gumperz’schen speech community. Als problematisch an Gumperz Konzept der speech community befinden Eckert/McConell-Ginet die mangelnde Berücksichtigung der interaktiven Fundiertheit sozialer Gruppierungen und der sich daraus potenziell ergebenden Subgruppierungen. Die Einheit der speech
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community wird in gewisser Hinsicht als zu grobkörnig empfunden, um die situierte Aushandlung sprachlicher Identitäten in den Fokus zu rücken. In ganz ähnlicher Weise erklärt auch Bucholtz (1999) das Konzept der speech community mit Blick auf Mikroanalysen der interaktiven Aushandlung sprachlicher Identitäten für ungeeignet. Bucholtz (1999) bezieht sich in ihrer Kritik allerdings nicht auf Gumperz sondern auf Labov, der eine speech community – ähnlich wie bspw. auch Bloomfield – primär als eine sprachbasierte Einheit konzipiert.7 Im Verständnis von Gumperz (u. a. 1997) konstituiert sich eine speech community allerdings gerade nicht durch das Beherrschen von „rules and norms for the use of a language“, wie es Eckert/McConell-Ginet (1992, 464) darstellen, sondern in erster Instanz durch intensive sowie sozial signifikante interpersonelle Kommunikation, was sich in der Erzeugung eines geteilten Repertoires an Kommunikationsmitteln niederschlägt, wie es ähnlich auch für CofPs beschrieben wird. Offen bleibt jedoch sicherlich die Frage, wie sich speech communities in ihrer Gesamtstruktur durch soziale Interaktion formieren und vor allem wie die Aushandlung kommunikativer Mittel in der sozialen Interaktion sich zu den kommunikativen Ressourcen einer speech community verhält , da der Aspekt der kommunikativen Vernetzung bereits stark von der Mikroebene lokaler Koordinationsprozesse abstrahiert (vgl. hierzu auch Holmes/Meyerhoff 1999, 178–179 sowie Lanwer 2015, 16–19), in der – wie im Weiteren argumentiert werden soll – die Erzeugung und Tradierung sprachlicher Konventionen ihren primären Sitz zu haben scheint.
4 Koordination, Konvention und common ground Der Konventionsbegriff ist gemessen an seiner Bedeutung für die linguistische Gegenstandskonstitution in weiten Teilen der Sprachwissenschaft bis heute verhältnismäßig unausgearbeitet geblieben. In der Regel werden (Zeichen-)Konventionen in Anlehnung an Saussure als gesellschaftlich etablierte, arbiträre Verbindungen von Ausdrucks- und Inhaltsseite sprachlicher Zeichen beschrieben. Das Saussure’sche Arbitraritätsprinzip wird dabei vor allem (aber sicher nicht nur) „in linguistischen Einführungen häufig als eine Art ‚Beliebigkeitsprinzip‘ trivialisiert“ (Schneider 2015, 127). Gerade mit dem Aspekt der Arbitrarität sind jedoch Fragen nach der Konstitution bzw. der Rekonstitution sprachlicher Zeichen verbunden, deren Beantwortung vor dem Hintergrund einer praxistheoretischen Regel- oder Normkritik (vgl. Abschnitt 2) als unabdingbar für die Etablierung eines praxeologischen Konventionsbegriff gelten kann. Entsprechende Fragen werden jedoch aufgrund der gängigen Unterscheidung
7 Der Unterschied zwischen Labov und Bloomfield besteht jedoch darin, dass Labov den einheitsbildenden Faktor eher in einem geteilten Set von „social attitudes towards a language“ (Labov 1972, 249) sieht, während für Bloomfield (1933, 42–56) allein der Gebrauch einer spezifischen Sprache Individuen zu Mitgliedern der speech community macht, in der die betreffende Sprache gesprochen wird.
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zwischen einem System von Regeln auf der einen und der (empirisch beobachtbaren) Anwendung dieser Regeln auf der anderen Seite zumeist ausgeblendet. Die praxeologische Sichtweise lehnt jedoch – wie in Abschnitt 2 und 3 herausgearbeitet wurde – eine entsprechende Anwendungslogik ab und ersetzt diese durch eine Rekonstitutionslogik, die sich mit Blick auf Sprache in Anschluss an Hanks als eine Art rekursive Aktualisierung von Zeichenpotenzialen in der kommunikativen Praxis begreifen lässt. Eine solche Auffassung scheint hochgradig kompatibel mit Facetten von Saussures Zeichenbegriff, die in der breiten, in erster Linie durch den Cours geprägten Saussure-Rezeption bisher weitestgehend unbeachtet geblieben sind (vgl. u. a. Jäger 2003, Stetter 2005 sowie Schneider 2008 und 2015). Jedoch auch bereits im Cours, der bekanntermaßen postum auf der Basis von Vorlesungsmitschriften kompiliert und (gezwungenermaßen) unautorisiert publiziert worden ist, finden sich Passagen wie die Folgende, die auf ein Bewusstsein bzgl. der in der Arbitrarität begründeten Rekonstitutionsproblematik zumindest hindeuten: Die Gesellschaft ist notwendig, um Werte [(im Sinne von Zeichen; LC)] aufzustellen, deren einziger Daseinsgrund auf dem Gebrauch und dem allgemeinen Einverständnis beruht (Saussure 1967 [1916], 135).
Die entscheidenden Schlagwörter sind hier Gesellschaft, Daseinsgrund, allgemeines Einverständnis und Gebrauch8: Das sich im Gebrauch manifestierende allgemeine Einverständnis (in einer wie auch immer gearteten sozialen Gruppierung) ist der einzige Daseinsgrund sprachlicher Zeichen. Ein solches soziales Einverständnis charakterisiert Saussure an anderer Stelle auch als basierend auf gewissermaßen intersubjektiv abgesicherten Identitätsurteilen (vgl. Jäger 2003), die sich auf die Identifizierung – so könnte man sagen – von aktualen und vergangenen Kopplungen von Ausdruck und Inhalt in der Zeichenpraxis richten. In diesen mikro-sozialen Übereinkünften rekonstituiert sich das Dasein sprachlicher Zeichen. „Das signe linguistique bildet sich im intersubjektiven Gebrauch“ (Stetter 2005, 204). Wir finden somit bei Saussure eine Sprachauffassung, die sich als hochgradig kompatibel mit der in praxistheoretischen Arbeiten postulierten Sozialontologie erweist. Zugleich lassen sich deutliche Analogien zwischen Saussures sprachtheoretischen Überlegungen und grundlegenden Annahmen einer gebrauchsbasierten Linguistik erkennen (vgl. Lanwer 2015, 5–10 sowie Schneider 2015, 127–130), die ebenfalls von einer Rekonstitutionslogik im praxeologischen Sinne ausgeht – ohne dies jedoch in dieser Weise zu benennen. Entsprechende Ansätze – wie bspw. Tomasello (2003) – sind zudem nicht unwesentlich von
8 Der Begriff ist hier nicht im Sinne einer Anwendungslogik zu verstehen, wie er von Pennycook kritisiert wird. ‚Gebrauch‘ kann hier eher mit ‚(kommunikativer) Praxis‘ (im Sinne einer Sphäre menschlicher Kommunikation; vgl. Abschnitt 3.2) identifiziert werden
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der Sprachphilosophie des späten Wittgenstein geprägt (vgl. auch Schneider 2011, 65). Im Rahmen des gebrauchsbasierten Paradigmas wird allgemein davon ausgegangen, dass „[p]rocesses of human interaction along with domain-general cognitive processes shape the structure and knowledge of language“ (Beckner et al. 2009, 2; vgl. außerdem vor allem Bybee 2010, Croft 2000, Langacker 1987 sowie Tomasello 2003 und 2008). Als zentrale kognitive Fähigkeiten gelten in diesem Zusammenhang die Kategorisierung von Erfahrungen und der damit verbundene Aufbau kognitiver Repräsentationen, die Ausbildung modalitäts-übergreifender Assoziationen sowie die Automation neuro-motorischer Prozesse bzw. allgemein die Ausbildung von (körperlichen) Routinen (vgl. u. a. Bybee 2013, 49–50). Es wird weiterführend davon ausgegangen, dass sprachliche Struktureigenschaften auf allen Ebenen mit den angeführten kognitiven Fähigkeiten in unmittelbarem Zusammenhang stehen. So wird bspw. die grundlegende Eigenschaft sprachlicher Zeichen, Form und Inhalt aneinander zu koppeln, auf den genannten Aufbau modalitäts-übergreifender Assoziationen zurückgeführt (vgl. vor allem Langacker 1987, 328–368). Wenn wir allerdings davon ausgehen, dass die Verknüpfungen zwischen Ausdrucks- und Inhaltsseite sprachlicher Zeichen kognitiver Natur sind, stellt sich die Frage, wie sich in der kommunikativen Praxis überhaupt aufeinander abgestimmte Assoziationen von sprachlichen Form- und Bedeutungspotenzialen in den Köpfen verschiedener sozialer Aktanten herausbilden können. Die Antwort, die gebrauchsbasierte Ansätze auf diese Fragen liefern, ist ebenso simpel wie weitreichend: Sowohl die Genese als auch der (Erst-)Erwerb eines symbolischen Zeichensystems werden als das Ergebnis erfolgreicher intersubjektiver Koordination in der sozialen Interaktion aufgefasst (vgl. u. a. Tomasello 2003, 21–28). Die Kopplung von Ausdruck und Inhalt sprachlicher Zeichen emergiert in diesem Sinne in der intersubjektiven Abstimmung in situ. Entsprechende Überlegungen sind im Wesentlichen geprägt von Lewis’ Konventionsbegriff, der in den 1980er Jahren von Clark in den linguistischen Forschungsdiskurs eingeführt worden ist. In seiner Monographie Convention entwickelt Lewis (1969) einen Konventionsbegriff, der Konventionen als in einer sozialen Gemeinschaft etablierte Mittel zur Lösung rekurrenter Koordinationsprobleme im Schelling’schen Sinne begreift. Zur näheren Erläuterung dieser Konzeption soll folgendes, von Schelling skizzierte Szenario dienen: You are to meet somebody in New York City. You have not been in- structed where to meet; you have no prior understanding with the person on where to meet; and you cannot communicate with each other. You are simply told that you will have to guess where to meet and that he is told the same thing and that you will just have to try to make your guesses to coincide (Schelling 1980 [1960]:56).
Das Problem betrifft im geschilderten Szenario die Koordination zweier sozialer Aktanten im Hinblick auf ein anvisiertes räumliches Zusammentreffen und ergibt sich daraus, dass generell verschiedene Orte als Treffpunkt in Frage kommen und
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somit eine potenzielle Auswahl an Lösungsmöglichkeiten besteht (Stichwort: Arbitrarität), da weder aufgrund vorausgehender Zusammenkünfte noch auf der Basis einer expliziten Absprache bereits eine Auswahl erfolgt und keine Kommunikation möglich ist. Wie sollen die Aktanten – nennen wir sie a und b – in diesem Szenario zueinander finden? Aktant a wird sehr wahrscheinlich zunächst überlegen, wohin b gehen wird und vice versa. Wenn a und b dies wiederum jeweils bedenken, wird a annehmen, dass b dort hingehen wird, wohin a den Vermutungen von b zufolge gehen wird und so weiter. Dieses Gedankenspiel lässt sich nun bis ins Unendliche fortführen, ohne zu einer wirklichen Lösung zu gelangen. Die Aktanten a und b werden daher zwangsläufig dort hingehen (müssen), „where […] [they] mutually expect the other to go“ (Clark/ Marshall 1981, 18), ohne wirkliche Gewissheit darüber erlangen zu können, ob ihre jeweiligen Erwartungen zutreffend sind. Gehen wir nun davon aus, dass die Aktanten in dem beschriebenen Szenario – wenn auch unter Umständen lediglich durch Zufall – zu einer Lösung des Koordinationsproblems gelangen, sich also an ein und demselben Ort einfinden. Nehmen wir außerdem an, dass es zu einer Wiederholung der beschriebenen Situation zwischen eben diesen Aktanten kommt: Die Auflösung des Problems könnte sich in diesem Fall als relativ ‚unproblematisch‘ erweisen, da beide Aktanten sich unter Umständen wechselseitig darauf verlassen würden, dass der jeweils andere sich wieder in gleicher Weise verhalten wird, wie er es im Präzedenzfall getan hat, und eben dies auch von dem jeweils anderen erwartet usw. (vgl. auch Lewis 1969, 36–42). Auch hier wäre aber natürlich keine letzte Gewissheit gegeben, dass entsprechende Erwartungserwartungen erfüllt werden. Mit jeder (weiteren) Wiederholung des Koordinationsproblems und dessen Lösung würde sich allerdings der Eindruck einer Regelhaftigkeit zunehmend verfestigen, womit der Weg zur Ausbildung einer Konvention geebnet wäre; zumindest dann, wenn wir eine Konvention mit Lewis als eine in einer sozialen Gemeinschaft etablierte Lösung eines rekurrenten Koordinationsproblems begreifen. Es sei allerdings darauf verwiesen, dass auch die Wiederholung eines Koordinationsproblems keine irgendwie objektive Gegebenheit darstellt, sondern – wie es bereits mit Blick auf die Rekonstitution von Praktiken herausgearbeitet worden ist (vgl. Abschnitt 2) – abhängig ist von Sinnzuschreibungen (vgl. auch Lewis 1969, 36–38). Die Analogie des geschilderten Falls zur Konventionalität sprachlicher Zeichen liegt auf der Hand: Sprachliche Zeichen sind nichts anderes, als im sozialen Austausch etablierte und tradierte Lösungen rekurrenter Probleme der Koordination von Bewusstseinströmen, d. h. Hilfsmittel zur Alignierung von kognitiven Modellen in den Konzeptwelten sozialer Akteure. Sprachliche Zeichen emergieren in der Folge sozial geteilter Bedeutungskonstitutionen, d. h. in der Rekurrenz situierter Assoziationen von lautlichen Gestalten auf der einen und semantischen Konzeptualisierungen auf der anderen Seite (Schmid 2016). Aufgrund der „Intransparenz des Mentalen“ (Deppermann 2015, 11) kann es jedoch letztlich als unmöglich gelten, über die Kongruenz von Konzeptualisierungen letzte Gewissheit zu erlangen. Wechselseitig verfügbares Wissen kann daher stets lediglich als hypothetisch wechselseitig verfügbares Wissen
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aufgefasst werden. Entsprechende Hypothesen entfalten selbst wiederum nur in Form eines wechselseitig verfügbaren Metawissens ihre Wirksamkeit (vgl. vor allem Clark 1996, 92–98), woraus sich das von Clark/Marshall (1981) formulierte mutual knowledge paradox ergibt. Sozial geteiltes, hypothetisches Metawissen im Sinne eines mutual knowledge oder common ground (Clark 1996) ist in seiner Konstitution daher in sinnvoller Weise nur als praxisbasiert zu begreifen; praxisbasiert in dem Sinne, dass es sich in der kommunikativen Praxis wiederholt als für den intersubjektiven Verkehr brauchbar erwiesen hat und damit vermutlich auch weiterhin erweisen wird, wie es auch das angeführte Beispiel illustriert. Kommunikation verläuft daher mit Personen, mit denen wir einen großen Erfahrungsschatz d. h. einen reichhaltigen common ground teilen, in der Regel besonders unproblematisch. Auf der Gegenseite zeigt sich, dass bei einem Mangel an common ground nicht selten besonderer kommunikativer Aufwand zur Bearbeitung epistemischer Asymmetrien betrieben werden muss, um bspw. durch gezieltes recipient design (Sacks/Schegloff/Jefferson 1974, 727) geteilte Konzeptualisierungen und Diskursreferenten zu etablieren (vgl. Imo/Lanwer i.Dr.; Lanwer angenommen; Bentz et al. 2016). Aus einer solchen Perspektive wird die Geordnetheit der kommuniaktiven Praxis sozialer Gruppen im Sinne von CofPs zum (linguistischen) Normalfall. Das Funktionieren sprachlicher Interaktion zwischen sozialen Akteuren über verschiedene CofPs hinweg erscheint hingegen hochgradig erklärungsbedürftig: Die entscheidende Frage ist, wieso wir – wenn Konventionen stets intersubjektiv ausgehandelt werden – überhaupt dazu in der Lage sind, mit Menschen (verbal) zu interagieren, mit denen wir keine gemeinsame Interaktionsgeschichte teilen. Eine erste Antwort liefert die von Clark vorgeschlagene Unterscheidung zwischen personal und communal common ground (vgl. u. a. Clark 1996, 100–121). Die zentrale Idee dieser Unterscheidung ist die, dass wir in der Interaktion nicht nur auf geteilte Erfahrungen zurückgreifen (personal common ground), sondern immer auch wechselseitige Kategorisierungen im Hinblick auf soziale Zugehörigkeiten vornehmen, die vor allem auf indexikalischen Ressourcen wie Kleidung und/oder bestimmten Verhaltensformen im Sinne eines Habitus ebenso wie auf damit assoziierten Positionen im jeweiligen sozialen Feld (vgl. Abschnitt 3.1) basieren. „Communal common ground […] is based on two people’s mutual belief that one or both are members of a particular community“ (Clark 1996, 116). Entsprechende Zuschreibungen dienen als inferentielle Basis der Koordination nicht nur des verbalen Verhaltens (Clark 1996, 117–119; vgl. hierzu auch Tomasello 2008, 208–217). Koordinationsprobleme betreffen letztlich alle drei von Hanks beschriebenen Dimensionen der kommunikativen Praxis (vgl. Abschnitt 3.1). Wie lassen sich vor diesem Hintergrund jedoch (vermeintliche) Gesamtsprachen im Sinne einer im communal common ground einer größeren Gemeinschaft, wie bspw. einer Nation, verankerten Kenntnis eines (vermeintlich) gleichen Zeichensystems sinnvoll erklären? Sprachgemeinschaften als Träger von Gesamtsprachen weisen in der Regel eine grundlegend andere Organisationsform und Integrationstruktur auf, die sich von der von communities of practice in vielerlei Hinsicht fundamental
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unterscheidet. Entsprechende Unterschiede gilt es systematisch zu erfassen und im Hinblick auf Konzepte wie das des communal common ground zu modellieren (vgl. Lanwer i. V.). In diesem Zusammenhang erscheint die von Wenger (1998, 173–187 und 2000, 227–229) vorgeschlagene, in Abschnitt 3.2 aus Platzgründen nicht behandelte Differenzierung zwischen verschiedenen modes of belonging (engagement, imagination und alignment) vielversprechend, auf deren Basis sich – so Wenger – ggf. eine Typologie sozialer Gruppierungen und Gemeinschaften entwickeln ließe, die für die Linguistik vor allem hinsichtlich der Erklärung von (vermeintlichen) Gesamtsprachen, deren Konstitutionsmodus vor dem Hintergrund des skizzierten Konventionsbegriffs als unklar gelten kann, von großem Interesse sein könnte. Mit Blick auf die Entwicklung einer Typologie sozialer Gemeinschaften kann und muss jedoch der Ball in die Sozialtheorie zurückgespielt werden.
5 Resümee Ziel des vorliegenden Beitrags war es, einen linguistischen Konventionsbegriff vorzustellen, der sich mit Blick auf ein praxistheoretisches Normverständnis, wie es sich in der praxeologischen Sozialtheorie findet, als anschlussfähig erweist. Hanks hat in diesem Zusammenhang einmal eher pessimistisch angemerkt: „The problem for one who would study linguistic practice is that linguistics is by tradition locked into conventionalism, and to reject it is to undermine grammar“ (Hanks 2003, 147–148). Das von Hanks angesprochene Problem ergibt sich vor dem Hintergrund eines ‚traditionellen‘ Konventionsbegriffs, der von einer starren Anwendungslogik ausgeht, einerseits und einer Überbetonung der lokalen Emergenz, die jegliche Regelhaftigkeit verkennt, andererseits. Es konnte gezeigt werden, dass sich bereits bei Saussure sprachtheoretische Überlegungen finden, die sich mit der praxeologischen Rekonstitutionslogik, die mit Blick auf Sprache eine Dialektik von systemischen Potenzialen und situierter Emergenz nahelegt, durchaus vereinbaren lassen. Gleiches gilt auch für gebrauchsbasierte Ansätze, die sich als hochgradig kompatibel mit einer praxistheoretischen Modellbildung erweisen und diese zusätzlich um einen sozio-kognitiven Blickwinkel erweitern, dem in der bisherigen Praxistheorie noch keine besondere Aufmerksamkeit zu Teil geworden ist. Im Rahmen einer gebrauchsbasierten Linguistik werden sprachliche Konventionen als routinisierte, kognitive Verbindungen von Form und Bedeutung begriffen, die als solche in der sozialen Interaktion emergieren. Entsprechende Ansätze nehmen damit explizit eine Gegenposition ein zu Theorien, die „die Regel (logisch und genealogisch) ‚vor‘ die Anwendung [stellen], indem […] die soziale Praxis als Basis der Bedeutungs- und Regelkonstitution außer Acht“ (Schneider 2015, 3) gelassen wird. Die Verortung der Bedeutungs- und Regelkonstitution in der sozialen Praxis hat jedoch zur Folge, dass interaktionsbasierten Gruppen im Sinne sog. communities of
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practice ein zentraler Status im Hinblick auf die Rekonstitution und Tradition sprachlicher Konventionen zugeschrieben werden muss. Der Gegenstand ‚Gesamtsprache‘ verliert vor diesem Hintergrund ebenso an Kontur wie die Idee gesamtgesellschaftlich verfügbarer kommunikativer Praktiken. Für die Linguistik ergibt sich daraus die Aufgabe, den Zusammenhang zwischen lokalen Interaktionen und der Verbreitung sprachlicher und kommunikativer Praktiken innerhalb größerer sozialer Gebilde wie bspw. einer Nation theoretisch neu auszuloten und von einer entsprechenden Neubestimmung empirische Prämissen abzuleiten. Es zeigt sich insgesamt, dass die Praxistheorie – bei allen verbleibenden Unklarheiten – einen reichen Nährboden für einen konstruktiven Austausch zwischen Sprach- und Sozialtheorie bietet.
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Kirsten Adamzik
8. Texte, Textsorten Abstract: Gruppenzugehörigkeit wird in diesem Beitrag als Zuschreibung aufgefasst, die ganz verschiedene Aspekte betreffen kann. Im 2. Abschnitt geht es zunächst um offiziell zugeschriebene, d. h. deklarierte Mitgliedschaften, die sich in juristisch verbindlichen Dokumenten wie Ausweisen niederschlagen. Zur Binnendifferenzierung dieser Art von Texten eignet sich die Frage, ob die Mitgliedschaft freiwillig ist und wieder aufgekündigt werden kann. In diesem Zusammenhang kommen Gesellschaftstypen zur Sprache, und zwar speziell die Konzepte der Erlebnis- und Wissensgesellschaft. Während in traditionellen Gesellschaften der Beruf ein besonders wesentliches Merkmal war, gelten nun soziale Milieus als zentrale Kategorien. Diese entsprechen v. a. Zielgruppen im Sinne potenzieller Kunden (Sinus-Milieus). Anders als bei offiziell deklarierten Mitgliedschaften drückt sich die Zugehörigkeit hier durch demonstrativen (Non-)Konformismus im Sinne des doing membership aus. Dabei sind alltagsästhetische Schemata relevant, die sich u. a. in der Beschriftung von Alltags utensilien und der materiellen Gestaltung von Texten manifestieren. Der 3. Abschnitt behandelt Gruppentexte i. e. S. Dabei kommen zunächst kollektiv re-aktualisierte Texte wie Parteilieder und Glaubensbekenntnisse zur Sprache, ferner für Gruppen verbindliche Referenztexte wie Manifeste und Resolutionen. Anschließend geht es um Texte, die mehrere Personen (meist in ihrer Berufs- und Funktionsrolle) gemeinsam erstellen. Dabei wird auch die Frage behandelt, welche Bedeutung der Verlust des Publikationsprivilegs für Berufsschreiber und die Technik als neu hinzugekommene Instanz bei der Textproduktion haben. Der Mediennutzung ist der 4. Abschnitt gewidmet. Hier geht es einerseits um den mehr oder weniger kompetenten Gebrauch von technischen Medien und Schrift, ferner um auf Zielgruppen zugeschnittene Presseorgane und TV-Kanäle. Diese umfassen jeweils viele verschiedene Rubriken, Text- und Sendungstypen wie Magazine, Shows und Serien. Diese abstrakten Größen erscheinen jedoch als viel weniger relevant für geteiltes Wissen als die Kenntnis von Medienpersonen wie Kolumnenschreibern, Ansagern, Moderatoren, Schauspielern und auch Figuren aus fiktionalen Welten. 1 Einleitung 2 Deklarierte und demonstrierte Gruppenzugehörigkeit 3 Gruppen als Produzenten von Texten 4 Mediennutzung und Wissenskollektive 5 Literatur
DOI 10.1515/9783110296136-008
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1 Einleitung Die Kategorie Gruppe spielt in der Textlinguistik kaum eine Rolle. Selbst Produzent und Rezipient erfahren im Allgemeinen keine besonders differenzierte Betrachtung (vgl. Adamzik 2016: Kap. 4.3.). Der Ausdruck Gruppentext ist (im Gegensatz zu Gruppensprache) außerordentlich selten (4 Treffer in Cosmas im August 2015). Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die Größen Text und Gruppe unter verschiedenen Gesichtspunkten in ein Verhältnis zu setzen. Dabei muss es um ganz unterschiedliche Arten von Gruppen gehen, von direkt miteinander interagierenden Kleingruppen bis hin zu Gliederungen, die die Menschheit in zwei Großgruppen aufteilen. Abgesehen von Frauen und Männern wird die von der ,Normalitätʻ abweichende Gruppe häufig einfach mit einem Negationselement gekennzeichnet: Onliner und Nonliner, Muttersprachler und Nicht-Muttersprachler, Juristen und Nicht-Juristen usw. Bei den Analphabeten ist die positive Form sogar ganz unüblich. Die allgemeinste Dichotomie ist natürlich Mitglied und Nicht-Mitglied. Man benutzt sie bevorzugt, wenn es um Gruppierungen geht, bei denen die Mitgliedschaft offiziell, d. h. mittels eines Textes, geregelt ist, kann sie aber auch in anderen Fällen anwenden im Sinne der Aussage ,Individuum x gehört einer irgendwie bestimmten Gruppe an oder nichtʻ. Das macht zugleich deutlich, wie sehr Gruppenbildung eine kognitive Operation mit nur relativer Verbindlichkeit ist; sie arbeitet mit teilweise bloß rhetorisch oder diskursiv gültigen Kategorien. Bei Urteilen über die Zugehörigkeit von Individuen zu Gruppen handelt es sich gleichfalls sehr häufig um perspektivenabhängige Zuschreibungen. Es erscheint mir daher sinnvoll, in diesem Beitrag nicht von vorgegebenen Gruppendifferenzierungen auszugehen, sondern Texte und Textsorten danach zu unterscheiden, welche Bedeutung ihnen für soziale Gruppen(bildung) zukommt.
2 Deklarierte und demonstrierte Gruppenzugehörigkeit Jedes Individuum findet sich von Geburt an diversen Gruppen zugeordnet und hat in der Regel auch nicht die Möglichkeit, solche Zugehörigkeiten im Laufe des Lebens zu ändern. Die Eigenschaften, aufgrund derer die ,Mitgliedschaftʻ in diesen Gruppen festgelegt wird, sind – in unserer Bezugsgesellschaft – in offiziellen Dokumenten mit juristischer Verbindlichkeit festgehalten, und zwar zunächst in der Geburtsurkunde. Diese enthält auf jeden Fall den Namen sowie Geburtsdatum und Geburtsort. Man gehört also unweigerlich einem bestimmten Jahrgang und damit zu verschiedenen Zeiten bestimmten Altersgruppen an. Die Angaben in solchen Dokumenten hängen vom jeweiligen Rechtssystem und sich verändernden Gesetzen ab. In Deutschland trat 2009 ein neues Personenstandsgesetz in Kraft, das es möglich macht, in der Geburtsurkunde auf Angaben
Texte, Textsorten
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zum Geschlecht und zu den Eltern zu verzichten. Fakultativ ist ohnehin eine Angabe zur Religion (bei der es sich nur um Gemeinschaften handeln kann, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind). Bis 1876 wurden die Urkunden dagegen von den Kirchen ausgestellt, die auch die entsprechenden Register führten. Die Frage, welche Gruppen(zugehörigkeiten) eine Rolle spielen, kann also selbstverständlich immer nur relativ zu einem Gesellschaftssystem beantwortet werden und variiert historisch und kulturell sehr stark. Aus textlinguistischer Sicht stellt sich damit zunächst die Frage, welche Texte es in einer Bezugsgesellschaft gibt, in denen die Gruppenzugehörigkeit von Individuen offiziell festgehalten wird. In dem uns vertrauten Bezugssystem sind das sehr viele. Dabei lassen sich mindestens drei Unterarten unterscheiden. Erstens nämlich diverse Urkunden, Ausweise und dergleichen, die sich im Besitz der betroffenen Personen (oder ihrer Angehörigen) befinden und die man teilweise bei sich tragen bzw. bei bestimmten Gelegenheiten vorlegen muss. Zweitens alle Arten von Listen, in denen eingetragen wird, welchen Personen entsprechende Dokumente ausgestellt wurden. Für Deutschland ist zunächst das Personenstandsregister zu erwähnen, das Ehe-, Lebenspartnerschafts-, Geburten- und Sterberegister umfasst. Daneben gibt es u. a. das Melderegister sowie Verzeichnisse von Mitgliedern, Mitarbeitern, Angehörigen, Kunden … von Bildungseinrichtungen, Krankenkassen, Versicherungen, Banken, Verkehrsbetrieben, Firmen, Bibliotheken, Parteien, Verbänden, Vereinen usw. Drittens ist an die Texte zu denken, die reglementieren, wie diejenigen der ersten beiden Typen zustande kommen, also Metatexte, nämlich Gesetze, Satzungen, Statuten und Ähnliches (natürlich sind nur einzelne Teile dieser Texte relevant). Die wichtigste Binnendifferenzierung bei Texten, die offizielle Mitgliedschaften begründen oder feststellen, ergibt sich aus der Frage, inwieweit die Personen die Wahl haben, ob sie der Gruppe zugehören wollen oder nicht. Keine (legale) Wahl hat man bei den Angaben im Personenstands- und Melderegister, also bei Angaben, die in Personalausweise/Identitätskarten und Pässe eingehen und die man in allen möglichen Formularen eintragen muss. Beschränkt ist die Wahl etwa bei Krankenkassen, Banken sowie Wohnsitzen, Schulen und natürlich den Organisationen, bei denen man arbeitet. Das bedeutet v. a., dass man unter konkurrierenden Anbietern immer wieder wechseln kann oder muss, die Zugehörigkeit ist also (potenziell) nur temporär. Dies zieht wiederum zwei andere Arten von Texten nach sich, nämlich solche, in denen um Mitglieder geworben wird bzw. man sich um Mitgliedschaft bewirbt (z. B. Einbürgerungsgesuch, Aufnahmeantrag). Nur temporär ist die Mitgliedschaft ohnehin für die Gruppen, denen man im Prinzip ganz freiwillig, aber immer noch offiziell beitritt, von Vereinen und Parteien bis zu Newsgroups. Dem allen stehen gegenüber Gruppen, bei denen die Mitgliedschaft nicht auf einen förmlichen Akt zurückgeht, dessen Ergebnis man nachlesen, d. h. objektiv verifizieren kann. Diese können relativ stabil sein (z. B. längerfristige Nachbarschaftsgemeinschaften) oder auch mehr oder weniger ephemer (z. B. Cliquen oder das Publikum einer Theateraufführung).
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Deklarierte Mitgliedschaften, zumal solche, die man nicht aufkündigen kann, sollten ganz besonders wichtigen Gruppendifferenzierungen entsprechen. Hier kommt nun allerdings gerade aus aktueller Sicht die Bedeutung verschiedener Gesellschaftstypen zum Tragen. Die Vielfalt der in der Soziologie unterschiedenen Gesellschaftstypen kann hier nicht näher thematisiert werden (vgl. als grobe Übersicht Schäfers 2013: Kap. IV.5). Eine elementare Differenzierung, die die Besonderheit der gegenwärtigen Verhältnisse hervorheben will, besteht in der Trennung in traditionelle und posttraditionelle Gesellschaften. Zu den ersten werden üblicherweise gerechnet die Stände- oder Feudalgesellschaft, bei der die Zugehörigkeit wesentlich durch die Geburt festgelegt ist, und die Klassengesellschaft des industriellen Zeitalters. Für das nachindustrielle Zeitalter spricht man von Schichtengesellschaft. Hier spielt der Beruf, und zwar als persönlich erworbene Eigenschaft, die zentrale Rolle für die Gruppenzuordnung. In allen diesen Gesellschaftstypen stellen die deklarierten Gruppenzugehörigkeiten, insbesondere Familie, Religion sowie Bildung und Beruf, die wiederum stark vom Geschlecht abhängen, tatsächlich sehr wichtige Ordnungskategorien dar. Für die jüngsten Formen der Vergesellschaftung gilt dies nun gerade nicht mehr. Es ist aber auch nicht klar, wie man sich auf diese beziehen soll. In der Einleitung des Glossars der Gegenwart heißt es: An Versuchen, die Gegenwart auf einen Begriff zu bringen, herrscht kein Mangel: Sie wurde und wird beschrieben als Risiko-, Erlebnis-, Multioptions-, Kontroll- oder Netzwerkgesellschaft, als reflexive Moderne, Post- oder Post-Postmoderne […] (Bröckling et al. 2004, 9)
Das zentrale Stichwort für diesen Modernisierungsprozess ist Individualisierung. Statt Ständen, Klassen, Schichten, denen man quasi nicht entkommen kann, gelten als besonders relevante Gruppen jetzt soziale Lagen und Milieus (vgl. Hradil 1987). An die Stelle von Beziehungsvorgaben tritt dabei die Beziehungswahl, wie Gerhard Schulze, der ,Erfinderʻ der Erlebnisgesellschaft, ausführt (vgl. Schulze 1992: Kap. 4). Die empirische Studie, die seinem Werk zugrunde liegt, betrifft die Mitte der 1980er Jahre und als Erleichterung der (für soziale Milieus entscheidenden) Binnenkommunikation führt er das Telefon an (vgl. ebd.: 177). Außerdem ist die Bezugsgröße die saturierte Wohlstandsgesellschaft: „Der Weg von der Pauperismuskrise zur Sinnkrise läßt sich auch als Weg von der Überlebensorientierung zur Erlebnisorientierung beschreiben“ (ebd.: 55). Diese Ausrichtung an einer von wirtschaftlichen Nöten freien Welt hat Schulze viel Kritik eingetragen. Darüber orientiert der Kommentar im Jahr 2005 zur Neuausgabe, in dem Schulze allerdings am Kern seiner Analyse festhält. Der gegenwärtige Krisenkonsens mit seiner Bildsprache – ,Absturzʻ, ,Globalisierungsverliererʻ, ,Nachmittag des Wohlfahrtsstaatsʻ, ,Entsolidarisierungʻ, ,Raubtierkapitalismusʻ und so fort – verdeckt den Tatbestand, dass die Leitvorstellung des schönen [bzw., wie es auch oft heißt: gelungenen] Lebens ungebrochen ist und nach wie vor die Lebensentwürfe und Beziehungen der Mehrheit prägt. (Schulze 22005: VII)
Texte, Textsorten
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Das „augenblicklich populärste zeitdiagnostische Label“ (Bittlingmayer/Tuncer 2010, 347) ist allerdings der Ausdruck Wissensgesellschaft. Er hat auch einen besonders offiziellen Status, da politische Akteure die Wissensgesellschaft als eine Realität ausgeben, auf die man das Regierungshandeln abstellen müsse. Das obige Zitat aus dem Glossar der Gegenwart ist zwar gekürzt, Wissensgesellschaft erscheint in der Liste aber tatsächlich nicht (kommt jedoch in diversen Artikeln zur Sprache). Das Konzept ist auch außerordentlich umstritten (vgl. z. B. Kübler 2009, Engelhardt/Kajetzke 2010). Bittlingmayer/Tuncer (2010, 347) kommen zu dem bündigen Schluss, es sei unmöglich, „eine allgemeine Aussage darüber, ob es ,die Wissensgesellschaftʻ gibt (oder ob sie ihre Schatten voraus wirft) vernünftig [zu] treffen“. Der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog wusste dagegen schon 1997: Die einfache Wahrheit ist heute doch: Niemand darf sich darauf einrichten, in seinem Leben nur einen Beruf zu haben. Ich rufe auf zu mehr Flexibilität! In der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts werden wir alle lebenslang lernen, neue Techniken und Fertigkeiten erwerben und uns an den Gedanken gewöhnen müssen, später einmal in zwei, drei oder sogar vier verschiedenen Berufen zu arbeiten. (http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/ Reden/1997/04/19970426_Rede.html, 20.7.2012)
Der 1959 von Peter Drucker eingeführte Begriff Wissensarbeiter (knowledge workers) sollte ursprünglich einmal auf einen neuen beruflichen Sektor (v. a. neben dem der Dienstleistungen) hinweisen. Welche Berufsgruppen zu den Wissens- bzw. Informationsarbeitern gehören sollen, ist aber höchst unklar. Manche denken „fast ausschließlich [an] das Management“ (Kübler 2009, 23), für andere „bilden die Medienwirtschaft und die elektronische Industrie […] wesentliche Teilsegmente der Informationswirtschaft“ (ebd.: 66). Wie nicht zuletzt das Zitat von Herzog zeigt, kann man inzwischen allerdings nicht mehr daran vorbeisehen, dass alle von den sog. Herausforderungen der Wissensgesellschaft betroffen sind. Die größte Herausforderung besteht nämlich darin zu akzeptieren, dass das Wissen der Wissensgesellschaft sich durch seine besonders kurze Haltbarkeit auszeichnet. Das betrifft nicht nur das berufliche, sondern auch das schulische Lernen, wo v. a. das Lernen gelernt werden soll: Das abrufbare Wissen ist zweitrangig, da ohnehin rasch veraltet. Was zählt, ist die Kompetenz, sich in der entgrenzten ,Wissensgesellschaftʻ zurechtzufinden, das heißt Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden, Pfade durch den Informationsdschungel schlagen und sich fortwährend auf Neues einstellen zu können. (Tuschling 2004, 155)
Die digitale Kommunikationstechnik belegt dies besonders eindrücklich, denn wir haben uns inzwischen daran gewöhnt, dass ständig neue Apparate und Programme auf den Markt kommen, so dass wir unablässig umlernen, aber auch zwischen Anbietern wählen müssen. Da digitale Technik auch in (nahezu) allen Berufen eine zentrale Rolle spielt, eine besonders große Expertise aber bei den nicht-professionellen
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Hackern liegt, verliert die berufliche Erstausbildung tatsächlich erheblich an Gewicht. Für soziologische Modelle kommt Schäfers zu dem Schluss: Die wichtigste Differenz zu früheren Ansätzen liegt darin, dass für die neu konstituierten sozialen Lagen nicht mehr der Beruf das entscheidende Kriterium für die Entstehung sozialer Ungleichheit ist. Nicht mehr die von außen vorgenommene[n] Zuordnung[en] sind entscheidend, sondern handlungstheoretische Analysen. (Schäfers 2013, 189)
Bei diesen Analysen geht es um Einstellungen, Werthaltungen, Lebensstile usw., also wesentlich darum, wie sich die Menschen verhalten, besonders wie und mit wem sie kommunizieren. Das wirkt sich auch auf die Frage aus, wie die Bevölkerungsstruktur dargestellt wird. Für die Feudalgesellschaft ist die Ständehierarchie in Form einer Pyramide geradezu emblematisch. Der seit dem Industriezeitalter übliche bürokratisch-statistische Zugang schlägt sich in Tabellen nieder, die man allerdings heute meist (auch) in Balken-, Tortendiagramme oder Ähnliches umsetzt. Die Arbeit mit dem Konzept sozialer Milieus hat dagegen eine neue Darstellungsform hervorgebracht, die das Sinus-Institut inzwischen als Kartoffeldiagramm (Abb. 1) bezeichnet (für einen Vergleich von Untersuchungen sozialer Milieus aus den 1980ern s. Schulze 1992: Kap. 7.10). Diese Darstellungsform spiegelt den Tatbestand wider, dass „Milieustrukturen nicht eindeutig identifizierbar sind“ (vgl. ebd.: 210). Zwar spielen deklarierte Mitgliedschaften für soziale Milieus eine gewisse Rolle, man kann Milieus aber nicht offiziell beitreten.
LiberalIntellektuelle 7%
KonservativEtablierte 10%
Sozialökologische 7%
Bürgerliche Mitte 13% Traditionelle 13%
Expeditive 8% AdaptivPragmatische 10%
Hedonisten 15%
‣ Soziale Lage
Performer 8%
Prekäre 9%
Grundorientierung
‣
Abb. 1: Kartoffeldiagramm (nach http://www.sinus-institut.de/sinus-loesungen/ sinus-milieus-deutschland/ )
© SINUS
Texte, Textsorten
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Die Milieus werden vom Sinus-Institut in einem Koordinatensystem sozialer Lagen (Schichtenkategorien in der Vertikalen) und sog. Grundorientierungen (Tradition, Modernisierung/Individualisierung sowie Neuorientierung in der Horizontalen) situiert. Sie selbst stellen jedoch geometrisch unordentliche, eben kartoffelähnliche Gebilde dar, die sich teilweise überlappen. Das Unordentliche drückt sich auch darin aus, dass man mit relativ schnellen Verschiebungen rechnen muss. Von den jeweils zehn in den Jahren 2009 und 2015 unterschiedenen Sinus-Milieus stimmen nur die Bezeichnungen für zwei überein (Bürgerliche Mitte mit 15% gegenüber 14% und Hedonisten mit 11% gegenüber 15%). Ungefähr da, wo 2009 Konsum-Materialisten (12%) eingeordnet wurden, steht dagegen z. B. jetzt das Milieu Prekäre (9%). Aufschlussreich ist der Kontext, aus dem diese Modelle stammen. Das Sinus-Institut ist ein privatwirtschaftliches Unternehmen, das auf Markt- und Zielgruppenforschung spezialisiert ist. Als Spezialist für psychologische und sozialwissenschaftliche Forschung und Beratung entwickelt das Sinus-Institut Expertisen und Strategien für Unternehmen und Institutionen in den Bereichen Konsum, Ökologie, Kultur und Politik mit besonderem Fokus auf: – Wertewandel – Lebenswelten (Sinus-Milieus®) – Alltagsästhetik – soziokulturelle Strömungen, Trends und Zukunftsszenarien Viele Unternehmen und Non-Profit-Organisationen arbeiten mit den Forschungs- und Beratungstools von Sinus – z. B. mit den Sinus-Milieus® – weil sie helfen, den soziokulturellen Wandel, die Struktur der Gesellschaft und die Psychologie der Bürger und Verbraucher besser zu verstehen. (http://www.sinus-institut.de/de/unternehmen/sinus-sociovision.html; )
War früher der Beruf das wesentlichste Merkmal für die Gruppenzuordnung, so ist es jetzt in erster Linie der Mensch als potenzieller Kunde. Dies ist umso bemerkenswerter, als der Begriff des ,Kundenʻ sich weit über den Bereich der Verkaufsbeziehungen ausgeweitet hat. ,Kundenorientierungʻ wird heute als Anspruch an die Beziehung zwischen Staat und Bürger, zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Arzt und Patient, zwischen Arbeitsamt und Arbeitslosem, ja sogar zwischen Polizei und Straftäter herangetragen.[…] Mag die Kundenrhetorik hier auch skurril oder zynisch erscheinen, so liegt ihr doch eine folgenschwere Ambivalenz zu Grunde: Derartige Beziehungen asymmetrischer Macht, aber auch Verpflichtung werden als Verhältnis wechselseitiger Freiwilligkeit fingiert. Dies macht sie im Prinzip aufkündbar. (Voswinkel 2004, 149)
Aber auch, wo die Beziehungen nicht aufkündbar sind, verlieren sie viel von ihrer bindenden Kraft. Die Änderungen der Regelung für Geburtsurkunden zeigen besonders deutlich, dass sogar das, was man früher für ,naturgegebenʻ oder schicksalhaft, jedenfalls in der Regel das gesamte (Erwachsenen-)Leben bestimmend hielt, heute als kontingent erscheint. In solchen Fällen heißt es charakteristischerweise, man gehöre ,nur auf dem Papierʻ bestimmten Gruppen an. Papier als materieller Träger dekla-
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rierter Mitgliedschaften ist allerdings nur für eine relativ kurze historische Periode typisch. Heute geben v. a. die vielen Plastikkarten, die man bei sich trägt, Auskunft darüber, zu welchen Gruppen man gehört, und auf diesen ist der – nur maschinenlesbare – Chip besonders wichtig. Im vorindustriellen Zeitalter spielen dagegen die strikten Kleiderordnungen eine besondere Rolle und in vielen schriftlosen Kulturen sind Körperbemalungen, Tätowierungen und andere Körpermodifikationen gängige Mittel der Markierung von Gruppenzugehörigkeit. Heute haben wir nun die Freiheit, ganz individuell zu entscheiden, welchen Gruppen wir zugehören oder wo wir mitspielen wollen. Diese Individualisierung wird aber „in paradoxer Weise zur uniformen Ungleichartigkeit“ (Schulze 1992, 77). Das liegt nicht nur daran, dass es ein ausgeprägtes Bedürfnis gibt, irgendwo dazuzugehören und sich dementsprechend dem Lebensstil der Wahlgruppe anzupassen. Das doing membership ist vielmehr unausweichlich, weil wir nicht nur wählen können, sondern müssen. Ganz frei sind wir allerdings längst nicht: So müssen z. B. Mitarbeiter vieler Firmen Kleidung tragen, die sie als solche ausweist. Zumindest in der Freizeit können wir uns aber kleiden, wie wir wollen. Viele unterwerfen sich dabei dem Markenterror. Diejenigen, die das entschieden ablehnen, müssen aber auch irgendetwas anziehen (andernfalls geben sie sich als Nudisten oder Nacktivisten zu erkennen). Je origineller und sinnträchtiger die Wahl, desto sicherer, dass man schnell Nachahmer findet. Denn: „Nichts ist normaler als der Anspruch, etwas Besonderes zu sein“ (ebd.: 119). Nonkonformismus erweist sich damit als „avancierteste Form der Anpassung“ (Bröckling et al. 2004, 14). Auch hier gilt die Formel Man kann nicht nicht kommunizieren, und es zeigt sich, wie wichtig es ist, Gruppenzugehörigkeit als Zuschreibung zu begreifen. Dabei „arbeiten wir mit Techniken der Abstraktion, der Zusammenfassung und Bedeutungsgeneralisierung, um wachsender Differenzierung Herr zu werden: ,E-Musikʻ und ,U-Musikʻ, ,sportlich-legereʻ und ,extravaganteʻ Kleidung, ,normaleʻ Lebensläufe und ,ausgeflippteʻ (die durch solche semantische Reduktion unversehens normalisiert werden) – gegen den Wirbel objektiver Pluralisierung behaupten wir uns mit semantischer Entpluralisierung.“ (Schulze 1992, 77)
Aus textlinguistischer Sicht ist es nun besonders bedeutsam, in welchem Ausmaß Konsumentscheidungen, aber auch Wertvorstellungen, Überzeugungen und andere Zeichen für Gruppenzugehörigkeit demonstrativ, und zwar auch sprachlich, zur Schau gestellt werden. Während man nämlich herkömmlich bei Texten an Objekte denkt, die auf einem dafür eigens vorgesehenen Zeichenträger erscheinen, findet sich Schrift mittlerweile auf allen möglichen Gebrauchsgegenständen. Die Hersteller nutzen jede Möglichkeit, ihre Markenzeichen anzubringen, so dass die Verbraucher als Kunden erkennbar sind. Firmen, aber auch Interessengruppen und (Nicht-Regierungs-)Organisationen verteilen Geschenke in Form von Kugelschreibern, Schreibblöcken, Regenschirmen, Taschen usw. mit diversen Botschaften. V. a. aber sind Kleidungsstücke zu einem beliebten Textträger geworden und werden in dieser Gestalt
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schon verkauft oder von den Eignern entsprechend ausgestattet. Denkt man an die These, dass die Aufkündbarkeit von Mitgliedschaft besonders wichtig geworden ist, so verblüfft am meisten, wie sehr Tätowierungen derzeit als Lifestyle-Phänomen fungieren, denn diese wird man ja nicht so schnell wieder los. Solche alltagsästhetischen Schemata betreffen nun auch die Gestalt von Texten und haben in der textlinguistischen Diskussion insofern einen Niederschlag gefunden, als man dort eine Umorientierung anmahnt und v. a. fordert, erstens Bilder und zweitens die Materialität von Texten ernst zu nehmen. Das Aussehen schriftlicher Texte habe sich etwa aufgrund neuer technischer Möglichkeiten in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt, so dass unter den Bedingungen computergestützter, digitaler Textproduktion sowohl von den Produzenten wie den Rezipienten zunehmend auch design- und bildbezogene Kompetenzen erwartet würden, die über eine sprachlich zu bestimmende Textkompetenz hinausgingen. (Steinseifer 2011, 164 f.)
Dies kann durchaus zur Gruppendifferenzierung genutzt werden: Die einen möchten sich als Leute zu erkennen geben, die immer auf der Höhe der technischen Gestaltungsmöglichkeiten sind, die anderen der Form keine ungebührliche Bedeutung zukommen lassen oder auch ökologisch handeln, wenn nicht schon ihr Geldbeutel sie daran hindert, großen Aufwand zu treiben. (Adamzik 2016, 154)
Das Problem ist aber auch hier, dass man nicht die Wahl hat, nicht zu wählen, d. h. irgendwelche Schrifttypen, -größen, -farben, Papierarten usw. muss man benutzen. Ob darin nun eine besondere Botschaft steckt oder man das erstbeste genommen hat – so wie vielleicht jemand als einziges sauberes T-Shirt das mit dem Emblem einer Fußballmannschaft gefunden hat, die er gar nicht kennt –, das lässt sich nicht eindeutig voraussagen. In dem Maße, in dem die Wahlmöglichkeiten steigen, vergrößern sich also auch die Interpretationsspielräume.
3 Gruppen als Produzenten von Texten Nachdem bisher v. a. von Texten die Rede war, an die man eher selten denkt, soll jetzt die zentrale Frage danach thematisiert werden, wer an der Produktion und Rezeption von Texten beteiligt ist. Begonnen sei dabei mit einem Typ, der ebenfalls Ausdruck demonstrierter Gruppenzugehörigkeit ist, bei der aber ein Kollektiv einen gruppenspezifischen Text gemeinsam re-aktualisiert. M. W. hat nur Ernst Ulrich Große (1974 und 1976) diese in seinem frühen Typologisierungsversuch ausdrücklich berücksichtigt. Er unterscheidet nämlich als eine Großklasse dominant gruppenindizierende Texte und bespricht dabei Gruppenlieder. Zu dieser Klasse gehören Schlachtrufe, Nationalhymnen, Vereins- und Parteilieder, aber auch Gebete und Glaubensbekenntnisse, gemeinsam geleistete Gelöbnisse und Fahneneide sowie Parolen und Losun-
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gen, die auf Demonstrationen skandiert werden. Als Kleinformen davon lassen sich gruppenspezifische Grußformeln betrachten. In allen diesen Fällen geht es immer noch um die – freiwillige oder unfreiwillige – Übernahme eines schon bestehenden Textes, um die Anpassung an eine Gruppe. Im größten Gegensatz dazu stehen Texte, die von einer Gruppe gemeinsam neu hervorgebracht werden. Dies ist eine der Lesarten von Gruppentext, die in Cosmas belegt ist, und zwar im (sozial-)pädagogischen Kontext. Gruppenarbeit mündet ja teilweise in die Herstellung von Texten. Das kann wie das gemeinsame Basteln sowohl dazu dienen, sich zusammen kreativ zu betätigen, als auch dazu, sich über Positionen und Prozesse in einer Kleingruppe klar zu werden und zu verständigen. Diese Texte erreichen normalerweise kein außenstehendes Publikum. Das Gegenteil gilt für Gruppentexte in einem emphatischen Sinne, nämlich solche, in denen eine bestimmte Überzeugung formuliert wird und sich eine Gruppe damit als solche konstituiert. Dafür gibt es keinen Beleg in Cosmas, weil man so etwas gewöhnlich ein Manifest nennt. Charakteristisch sind diese für künstlerische, politische oder auch religiöse Gruppen. Manifeste müssen nicht von einer Gruppe formuliert sein, sondern können auch von einem Individuum stammen wie z. B. das HackerManifest von 1986. Die Gleichgesinnten berufen sich aber darauf; insofern handelt es sich um eine Art Gründungsurkunde. Ein ähnlicher, allerdings weniger prominenter Status kommt öffentlich verbreiteten Erklärungen oder Resolutionen zu, die u. U. von vielen Mitstreitern unterschrieben werden wie z. B. die 2004 verbreitete Resolution zur Wiederherstellung der Einheitlichkeit der deutschen Rechtschreibung. Offiziellen Status haben Resolutionen (z. B. von Organen der UNO) oder Chartas, die von Staaten unterzeichnet werden wie z. B. die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen. Mit diesen legen sich die Unterzeichner auf ein bestimmtes Verhalten fest. Es handelt sich also um einen Unterfall von Abkommen oder Verträgen. Dieser Prototyp kommissiver Texte ist zugleich ein Prototyp von Gruppentexten, da mehrere Parteien als Illokutionsträger auftreten, dies ist eine wesentliche Bedingung für solche Sprechakttypen. Unter den bislang genannten Beispielen fehlt der Kommunikationsbereich der Wissenschaft. Diesen behandelt der Kunsthistoriker Wolfgang Kemp (2009) in dem einzigen mir bekannten Beitrag, der Gruppentexte im Titel führt. Gegenstand seines Essays ist die Publikationsform Sammelband, die er als „eine Neuschöpfung des Zeitraums nach 1968“ (ebd.: 1) bezeichnet. Deren Ursprung sieht er bei Gruppen, die ,eine Mission verfolgtenʻ (vgl. ebd.: 4), und zwar v. a. in der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik. Diese bestand „aus einem kleinen Kreis von Bestimmern in Konstanz und Bielefeld“ (ebd.: 3), den sog. Reformuniversitäten. Sie produzierten keine kollektiv erarbeiteten Einzeltexte, sondern eben Sammelbände, in denen jedoch die intensive Diskussion über vorab ausgetauschte Manuskripte dokumentiert worden sei. Dem Sammelband attestiert Kemp eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte, allerdings auch einen Niedergang des Konzepts. Sehr viele Herausgeber versagten nämlich im Laufe der Zeit „bei der Auswahl der Beiträge und der Ausrichtung der Texte auf ein
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gemeinsames Ziel oder eine arbeitsteilige Behandlung des Stoffes hin“ (ebd.: 6) und böten nurmehr Sammlungen von nicht koordinierten Einzelbeiträgen. Am (derzeitigen) Ende sieht er eine fundamental veränderte Vorstellung von wissenschaftlicher Arbeit auch im geisteswissenschaftlichen Bereich, in deren Zentrum die Gruppe steht: Nachwuchsgruppen, Forschergruppen, Exzellenzcluster, Kollegs, Forum junge Wissenschaft, das alles und mehr sind die Organisationsformen von Wissenschaft der Gegenwart − und waren 1968 gänzlich unbekannt, ebenso wie der Sammelband (ebd.: 4).
Auf nahezu verlorenem Posten stehe diesen gegenüber der ,Einzelforscherʻ, der sich diesen Namen nicht selbst gegeben hat, da er das Wort Forscher für ausreichend hielt. Der Einzelforscher wird in den Reports der Institute und Fachbereiche unter ,Fernerʻ mitgeführt, im Grunde ist er eine unproduktive Kostenstelle. Die Verhältnisse haben sich also grundlegend gewandelt: Die Gruppe ist die bestimmende und vermögende Realität, der Forscher das nicht mehr lange geduldete Relikt. (ebd.: 5)
Kemp schlägt freilich einen weiten Bogen und knüpft auch an die Rede vom Tod des Autors an, also an die poststrukturalistische Intertextualitätsdebatte, nach der dem Autor nur noch eine „Restfunktion“ zuzubilligen ist: Er wirkt als eine Art Dispatcher oder Anthologist, wenn er die multiplen Ströme und Stränge der Kollektive Sprache und Literatur koordiniert, das heißt der große Vortäuscher des Monolithischen und Ursprünglichen ist auch allein agierend ein Agent des Gruppentextes. (Kemp 2009, 2)
Kemp legt es auf die Pointierung an; man muss aber nicht gleich Sprache und Literatur selbst zu handelnden Kollektiven erklären, um den einsam schaffenden und nur aus sich selbst schöpfenden Künstler oder Wissenschaftler als Zerrbild auch vergangener Zeiten zu erkennen. Wissenschaft existiert wie Kunst nur im und als Diskurs. Insofern sind also irgendwelche Gruppen bei der Herstellung und v. a. der Überlieferung von Texten tatsächlich immer beteiligt. Geht man dem genauer nach, so stößt man allerdings auf eine große Vielfalt von Beteiligungsrollen. Da das Gesamtfeld hier nicht genauer ausgeführt werden kann, sei eine Übersicht über wichtige Differenzierungen eingeschaltet (Abb. 2). Unterschieden sind darin Typen von Rollen, in denen Individuen als Textproduzenten handeln. Sie gehören damit aber auch immer den entsprechenden Gruppen an, und meist lassen sich auch die zugehörigen Rezipientengruppen unmittelbar hinzudenken.
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Rollen
Beispiele
Berufsrollen
Schriftsteller, Wissenschaftler, Verleger, Lektor, Typograf, Drucker, Buchbinder, Buchhändler, Übersetzer, Journalist, Lehrer, Schauspieler, …
Funktionsrollen
(Ko-)Autor, Reihenherausgeber, Tagungsveranstalter, Dekan, Projektleiter, Kommissionsmitglied, Mäzen, Seminarleiter, Vorgesetzter, …
Sprachteilhaberrollen
Mehrsprachige, Muttersprachler, Fremdsprachler, wer Fachsprachen / Rechtssprache / Jargons / … beherrscht
Diskursrollen
Experte, Laie, Zitierautorität, Wortführer im Diskurs, Außenseiter, Linker, Feminist, Anglizismenbekämpfer, Lobbyist, …
Filter- und Verbreitungsrollen
Herausgeber, Gutachter, Rezensent, wer einen Text zitiert / im Unterricht behandelt / auf eine Literaturliste setzt / in eine Bibliografie aufnimmt / …
… Abb. 2: Produzentenrollen (nach Adamzik 2016, 149)
Näher eingehen möchte ich hier auf die Berufs- und Funktionsrollen. Ist nämlich auch der Beruf nicht mehr das entscheidende Kriterium für die Gesellschaftsstruktur, so gehört er doch sicherlich zu den wichtigsten Kriterien dafür, welche Arten von Texten man regelmäßig produzieren und rezipieren muss. Schriftsteller und Journalisten, aber auch Wissenschaftler sind geradezu über die Texte definiert, die sie veröffentlichen. Gleichwohl stellen diese nur einen kleinen Ausschnitt dessen dar, was zu ihrem typischen Textsortenrepertoire gehört. Publikationen sind das Endprodukt eines komplexen Prozesses, an dem viele beteiligt sind. Besonders offenkundig ist das bei den naturwissenschaftlichen Aufsätzen, bei denen Hunderte von Personen als Autoren zeichnen (können). Ko-Autorschaft kann aber ebenso der tatsächlich intensiven Zusammenarbeit von Mitarbeiter- oder Redaktionsteams bzw., wie es in der DDR charakteristischerweise hieß, eines Autorenkollektivs entsprechen. Inwieweit es sich um Gruppen handelt, die ein gewisses Wir-Bewusstsein haben, lässt sich nur für den Einzelfall entscheiden, wird aber nicht selten (u. a. in Vorworten) metakommunikativ thematisiert. Hinzu kommen nun all die Texte, die die Kooperation organisieren. Man denke v. a. an die Unzahl von Rundschreiben, Formularen und Unterlagen, die man produzieren bzw. ausfüllen muss, damit es überhaupt zu einem (mit Drittmitteln finanzierten) Forschungsprojekt, -verbund oder gar einem Exzellenzcluster kommt. Die Anträge müssen ferner evaluiert werden, wobei Personen in ihrer Funktionsrolle handeln. Hierzu wie in der Selbstverwaltung insgesamt werden mittelfristig kleinere oder größere Gruppen gebildet, die direkt miteinander interagieren, nämlich Ausschüsse, Kommissionen, Beiräte, kurz Gremien aller Art. Sie sind in der Regel nach bestimmten Quoten zusammengesetzt, d. h. außer der Mitgliedschaft im Gremium sind gleichzeitig auch noch andere Gruppenzugehörigkeiten relevant. Zu den wesentlichen Aufgaben dieser Gruppen gehört es, bestimmte Texte zu erarbeiten und zu ver-
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abschieden. Genauer gesagt durchlaufen Texte dieser Art – insofern sie eine besondere rechtliche Verbindlichkeit haben – eine ganze Kette von Instanzen, wobei sie kontinuierlich abgeändert werden (können). Da es immer wieder um dieselbe Art von Texten geht, bilden sich bei ihrer Besprechung und Veränderung leicht Formulierungsroutinen aus, und zwar auch solche, die für ein bestimmtes Gremium spezifisch sind; diese muten Neumitglieder mitunter geradezu geheimsprachlich an. Das belegt besonders gut, dass es unter textlinguistischen Gesichtspunkten nicht sinnvoll ist, jeweils nur einen bestimmten Typ von Gruppenformation zu betrachten. In Gremien repräsentiert man in der Regel zugleich eine bestimmte Berufsgruppe und hierarchische Position, ggf. aber auch eine Nation oder Region, sein Geschlecht usw. Der letzte die Berufsrolle tangierende Aspekt, der hier angesprochen werden soll, führt uns zu den neueren technischen Entwicklungen. Konnten nämlich bis vor nicht allzu langer Zeit Texte nur unter Beteiligung professioneller Akteure publiziert werden, so hat sich dies mit dem Internet als Verbreitungsmedium grundlegend verändert. Dies erlaubt es jedem Amateur, als Autor aufzutreten und seine Kreationen, Erkenntnisse und Ansichten einer Weltöffentlichkeit anzubieten. Allerdings lassen auch gedruckte und von etablierten Verlagen vertriebene Texte sehr unterschiedliche Grade professioneller Gestaltung erkennen. Man kann also Texte professionell gestalten, ohne entsprechend ausgebildet zu sein, aber auch einen bestimmten Beruf haben und für diesen charakteristische Texte unprofessionell gestalten. Kemp (2009, 5) identifiziert wieder die Publikationsform Sammelband als rekordverdächtig für die „Unterbietung aller editorischen Standards“ und führt ein eindrückliches Beispiel an. Solche lassen sich allerdings gleichfalls für Monografien und Zeitschriftenhefte beibringen. Aussichtsreiche Konkurrenten um den Spitzenplatz findet man verständlicherweise nicht zuletzt bei interdisziplinären Unternehmungen. So sieht Straub (2007, 230) im Bereich Interkultureller Kommunikation die besondere Gefahr eines „überbordenden Dilettantismus“. Was folgt nun aus dem Verlust des Publikationsprivilegs für Berufsschreiber und der enorm gestiegenen Relevanz digitaler Technik für den Komplex Texte und Gruppen? Gilt die „Gesetzmäßigkeit“, die der (u. a. für Titanic schreibende) Max Goldt so formuliert haben soll: Je moderner das Kommunikationsmittel, desto weniger geprüft gehen die Meldungen heraus (vgl. Kemp 2009, 5)? Dass den Neuen Medien und denen, die sie benutzen, gern die Verantwortung für Sprach- und Kulturverfall zugeschrieben wird, ist allgemein bekannt. Es gibt m. W. aber keine empirischen Untersuchungen, die einem entsprechenden Einfluss der Technik auch auf Verlagspublikationen nachgehen. Ein voraussehbares Detailergebnis solcher Studien wäre, dass selbst bei sehr gut redigierten Büchern die Technik als hinzugekommene Instanz (vgl. Adamzik 2016: Kap. 4.3.4.) relativ oft an falschen Worttrennungen erkennbar ist, denn diese werden erst in einer sehr späten Phase endgültig vorgenommen, können also nur im letzten Korrekturgang auffallen. Selbstverständlich gibt es jedoch keinen zwingenden Zusammenhang zwischen dem Einsatz technischer Medien und inhaltlicher sowie sprachlicher Qualität. Wohl
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aber ein sehr wesentliches (neues) Kriterium für Gruppendifferenzierung, die Frage nämlich, welche technischen Medien Personen benutzen, wie gut sie sie beherrschen und in welchem Ausmaß ihnen inhaltliche und formale Standards und Normen wichtig sind. Das führt auf zwei technische Lesarten des Ausdrucks Gruppentext. Cosmas liefert einen Beleg, der sich auf das im Jahr 2005 von der Universität Zürich als Weltneuheit präsentierte Textverarbeitungssystem Tendax bezieht; es erlaubt, dass mehrere Leute gleichzeitig an einem Text arbeiten. Das ist das Grundprinzip von Wikis und verdeutlicht die gestiegene Relevanz kollaborativen Schreibens. Googlet man den Ausdruck Gruppentext, so erweist sich eine andere Lesart als derzeit wichtigste. Vielen stellt sich nämlich die Frage, wie sie mit einem bestimmten Gerät oder Programm einen Text an eine Gruppe verschicken können.
4 Mediennutzung und Wissenskollektive Da dem Themenfeld Gruppe und Neue Medien spezielle Artikel dieses Bandes gewidmet sind, gehe ich auf diesen Komplex nicht weiter ein. Stattdessen soll die Frage behandelt werden, inwiefern eigentlich Texte oder Textsorten gruppendifferenzierende Funktion haben und ob nicht Größen anderer Abstraktionsstufe eine mindestens ebenso wichtige Rolle spielen (vgl. dazu näher Adamzik 2010a und b). Ich folge dabei Schulze (1992, 224) mit seinem „Modell der abgestuften Kollektivitätsgrade“. Er rechnet am einen Extrempol mit gänzlich individuell-subjektivem und dyadischem Wissen. „Über diesen Minimalfall der Kollektivität hinaus sind beliebig hohe Kollektivitätsgrade denkbar“ (ebd.: 225), am anderen Pol stehen also gattungsspezifische Wissensmuster (d. h. solche, über die alle Menschen verfügen). Vereinfachend unterscheidet er drei Niveaus: das Makro-Niveau der Gesamtgesellschaft, das Meso-Niveau von überregionalen sozialen Milieus und das Mikro-Niveau von lokal eingegrenzten Milieus, Nachbarschaften und Kleingruppen. Betrachtet man die historische Entwicklung […] mit diesen Kategorien, so scheint die Annahme plausibel, daß der Trend von den beiden Enden zur Mitte tendiert. […] Ausgedünnt erscheint sowohl das allen gemeinsame Wissen als auch das wenigen gemeinsame. Zugenommen hat dagegen das Wissen mittlerer Kollektivitätsstufe (ebd.: 268).
Dies lässt sich besonders gut an den technischen Medien verdeutlichen: Ende der 1950er Jahre wussten (in unserer Bezugsgesellschaft) wohl alle, was Telefone und Fernseher sind (und wie man damit umgeht), auch wenn längst nicht alle Haushalte damit ausgestattet waren. Man hatte aber keine Wahl: Für das Telefon war die Post zuständig, und es gab nur einen Fernsehsender. Heute ist deren Menge wohl für niemanden mehr überschaubar, die Wahl eines Telefonanbieters ist zu einem relevanten Alltagsproblem geworden und die Benutzung der ,intelligenten Apparateʻ stellt für nicht wenige Menschen eine echte Barriere dar.
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Zum Allgemeinwissen gehört heute sicher, dass es Computer, Internet und mobile Multifunktionsgeräte gibt – man sieht das ja überall. Dass eine Differenzierung die Bevölkerung in Onliner und Nonliner zweiteilt, wurde schon in der Einleitung erwähnt. Es braucht nicht näher erläutert zu werden, dass das technische Wissen auch bei den Computer- und Internetnutzern sehr unterschiedlich verteilt ist. Außerdem stellt z. B. die Wahl eines Betriebssystems, Browsers oder einer Suchmaschine für manche eine Art Glaubensfrage dar. Gruppen differenzieren sich hier also zunächst nach dem Gebrauch von Medien im technischen Sinn. Die erste Subdifferenzierung ergibt sich dann nach den konkurrierenden Anbietern, die man dabei wählt. Die jeweiligen Nutzer praktizieren teilweise auch Binnenkommunikation, insofern sie z. B. in Foren ihre Erfahrungen austauschen und einander bei auftretenden Problemen helfen. Wegen des sehr schnellen Wandels von Anbietern, Gerätetypen, Diensten und Anwendungen handelt es sich jedoch um relativ instabile Gruppen. Das Prinzip ist bei den traditionellen Medien gleich. Die binäre Unterscheidung ist weltweit gesehen immer noch sehr wichtig, in hochentwickelten Gesellschaften erhebt man jetzt die Quote der funktionalen Analphabeten bzw. unterscheidet verschiedene Niveaus der Lesefähigkeit (vgl. Grotlüschen/Riekmann 2012). Die Menge des Angebots an massenmedialer Druckpresse ist nicht überschaubar. Einige Medien fungieren aber durchaus längerfristig (auch) als Gruppensymbol. Das zeigt die folgende Auflistung von Schulze, die sich, wie erwähnt, auf die Mitte der 1980er Jahre bezieht, teilweise aber heute genau gleich gilt: Spiegel, Zeit, Stadtmagazin, überregionale Zeitungen sind Medien der oberen Bildungsschichten; Bildzeitung, Abendzeitung, Anzeigenblätter, Goldenes Blatt oder Frau im Spiegel haben ihre Kunden dagegen in den unteren Bildungsschichten. Dort nimmt auch das Fernsehen eine besonders wichtige Stellung ein. Gleiche Medien werden von den Bildungsschichten unterschiedlich genutzt. So haben höher Gebildete mehr Interesse an Politik, Kultur, Wirtschaft und gesellschaftlichen Prozessen, weniger Gebildete sind offener für regionale und lokale Themen, Werbung, Sonderangebote und lebenspraktische Information (Schulze 1992, 191 f.).
Relativ stabil sind große überregionale Zeitungen sowie sog. Publikums- oder General-Interest-Zeitschriften. Eine extreme Differenzierung zeigt sich dagegen im Bereich der sog. Special-Interest-Zeitschriften. Die Vielfalt ist hier so groß und wahrscheinlich auch so instabil, dass Special-Interest-Angebote in der Medienwissenschaft und -linguistik meist nur kurz erwähnt, aber nicht genauer charakterisiert werden (vgl. z. B. Straßner 1997, 25 und 85 oder Burger/Luginbühl 2014, 221 und 364). Das hat wesentlich damit zu tun, dass man in der Medienlinguistik meist von einem bestimmten Medium ausgeht und dafür dann Subklassifizierungen vorschlägt oder erprobt. Wählt man jedoch als Ausgangspunkt die Kategorie Gruppe, dann müssen ganz verschiedene Medien gleichzeitig in den Blick genommen werden, denn alle benutzen ja diverse Medien nebeneinander. Diesem Ansatz folgen im Prinzip Künzler/Jarren:
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Die verschiedenen Medien leisten einen je unterschiedlichen Beitrag zur Herstellung von öffentlicher oder privater Kommunikation. Special-Interest-Zeitschriften und tendenziell Online-Medien wie Blogs und/oder soziale Netzwerke wenden sich an bestimmte Zielgruppen mit spezifischen Themeninteressen und stellen dadurch Themenöffentlichkeit her. Periodisch erscheinende Zeitungen (Tageszeitungen), Radio, Fernsehen und Online-Nachrichtenportale mit einem universellen Themenangebot richten sich hingegen an ein grosses, heterogenes und disperses Publikum und stellen massenmediale Öffentlichkeit her. (Künzler/Jarren 2010, 219; Hervorhebungen K. A.).
Diese Zweigliederung in Themen- vs. massenmediale Öffentlichkeit ist jedoch extrem grob. Sie führt gerade nicht auf Gruppen im Sinne von sozialen Lagen oder Milieus. Entsprechende Zuordnungen sind aber gerade im Hinblick auf Massenmedien besonders üblich. Im Auftrag der Hersteller angefertigte Profile von Zeitschriftenpersönlichkeiten, d. h. Lesern, ergaben folgende Beispiele. Der Stern-Leser wird als ,kritischer Rationalistʻ gesehen. Er ist informationsorientiert, sucht nach Standpunkten und Meinungen, nicht nach Mitgefühl und Miterleben. Der Hörzu-Leser ist ein ,sicherheitsorientierter Konservativerʻ. […] Er ist Traditionen verpflichtet und hält sich an gesellschaftliche Normen. Der auf einen Blick (Freizeit- und Fernseh-Illustrierten)-Leser ist ein ,gefühlsbetonter Mitmensch von nebenanʻ. […] Lebensfreude als Alltagserlebnis ist ihm am schönsten, wenn sie mit Freunden, Bekannten oder der Familie erlebt wird. […] (Straßner 1997, 57)
Straßner verzichtet in seiner Darstellung zu Zeitschriften fast durchgängig auf irgendwelche Nachweise für die referierten Forschungsergebnisse. Die Beispiele lassen aber unschwer die Bedeutung der Erlebnisorientierung und der (Sinus-)-Milieus erkennen. Labitzke (2009, 59) weist denn auch explizit darauf hin, dass die Forschung, die „im Auftrag der Anbieter“ erfolgt, Zielgruppen „häufig anhand der Sinusmilieus differenziert“. Denn die Anbieter benötigen „für jedes einzelne Format sowie die eingebetteten Werbeblöcke eben diese Nutzungsdaten“. Gegenstand ihrer Untersuchung ist das Tagesprogramm von RTL, Sat.1 und ProSieben. Sie wählt also auch nur ein Medium und mit den privaten Anbietern das Segment aus, das gern als Unterschichtsfernsehen charakterisiert wird (vgl. ebd.: 15 und 305; vgl. auch Schulze 2005: XVIf.). Gleichwohl behält sie den Gesamtkontext im Blick und zeigt in besonders überzeugender Weise auf, wie gesamtgesellschaftliche Entwicklungen sich mit sozialen Milieus und Feinkategorisierungen von Fernsehformaten, Genres und Genrefamilien in Beziehung setzen lassen. In diesem Zusammenhang bemängelt sie auch, dass in der Kommunikations- und Medienforschung die Themen den „Hauptgegenstand der Untersuchung [bilden], während strukturelle Aspekte, die sich über Genre- und Formatgrenzen hinweg ähneln, kaum mit einbezogen werden“ (ebd.: 22). So ist für das Tagesprogramm (zwischen 10 und 18 Uhr) das Submedium Sprechfernsehen (im Gegensatz zu Film) charakteristisch (vgl. ebd. z. B. 30 f.). Zwischen 2001 und 2005 werden allerdings die täglichen Talkshows durch die sog. Gerichtsshows abgelöst (vgl. ebd.: 16), denen wiederum Sendungen mit Coaching-Elementen folgten (vgl. ebd.: 306 ff.).
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Die Frage nun, welche Kategorien eigentlich für die Gruppendifferenzierung (besonders) relevant sind, ist umso schwieriger zu beantworten, als die Terminologie in diesem Bereich außerordentlich vielfältig und umstritten ist. So benutzen viele den Ausdruck Textsorten in einem extrem unspezifischen Sinne, rechnen Bücher und Zeitschriften dazu ebenso wie (wissenschaftliche) Aufsätze und Zeitungsartikel, gleichermaßen Hypertexte, Telefonate, Chats sowie Briefe und E-Mails. Andere möchten Textsorte dagegen für thematisch, funktional, situativ und strukturell spezifizierte Einheiten, also Einheiten sehr niedrigen Abstraktionsgrades (z. B. Einbürgerungsurkunde) reservieren, wieder andere sehen für Zwischenstufen spezielle Termini vor (vgl. Adamzik 2016: Kap. 8.1.). Ich halte es für illusorisch, hier zu einer Vereinheitlichung zu kommen, es scheint mir aber wichtig, verschiedene Ebenen sachlich aus einanderzuhalten. Bislang habe ich den Ausdruck Anbieter (aus der Kundenrhetorik) übernommen und mich dabei auch auf Fernsehsender und Presseorgane (einzelne Zeitungs- und Zeitschriftentitel) bezogen. Im ökonomischen Sinne sind diese aber natürlich nicht die Anbieter, das sind vielmehr Verlage/Verlagsgruppen bzw. Medienkonzerne. Diese verfügen über eine sehr breite Palette von Medien und Medienprodukten, da sie versuchen, möglichst viele Zielgruppen und soziale Milieus zu bedienen. General-InterestOrgane zeichnen sich ohnehin durch innere Diversität in Form der Rubriken aus, die, wie oben gesehen, verschiedene Zielgruppen jeweils bevorzugen, zumal ja ohnehin niemand solche besonders heterogenen Textsammlungen vollständig rezipiert. Außerdem ergänzen sie ihr Angebot durch Beilagen für Special-Interest-Gruppen. Die Internet-Auftritte erhöhen die Möglichkeiten zielgruppenspezifischer Ansprache weiter. Ebenso haben die einzelnen Fernsehkanäle (die man im Deutschen meist selbst Programme nennt) ein Tages- und Wochenprogramm, das sehr verschiedene Sendungstypen, -formate, -genres … umfasst. Diese Klassifizierungseinheiten sind ebenso wie die Pressetextsorten (Nachricht, Bericht, Kommentar usw.) jedoch recht abstrakt und unscharf. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass ihre genaue Bestimmung für die wissenschaftliche Beschreibung ein nicht unerhebliches Problem darstellt (vgl. Burger/Luginbühl 2014: Kap. 8). Die Einheiten, auf die sich das Publikum bezieht, dürften dagegen neben Kanälen eher Sendungen und v. a. Akteure sein. Beides hängt eng zusammen, denn die meisten Sendungen haben (wie Kolumnen in der Druckpresse) seriellen Charakter. Es handelt sich also nicht um Einzeltexte, sondern um wiederkehrende Einheiten, die einen bestimmten Sendeplatz zugewiesen bekommen. Speziell beim Sprechfernsehen sind sie oft nach den Moderatoren, Show-, Quiz-, Talk- oder sonstigen Mastern benannt. Bei den eigentlichen Serien sind es einerseits Schauspieler, andererseits aber auch Figuren, die sozusagen zum gemeinsamen ,Bekanntenkreisʻ gehören. Gemeinsam bekannt bedeutet zunächst, dass Personen und Figuren als Referenten und damit als (nicht neu einzuführender) Kommunikationsgegenstand in Frage kommen. Schon in der Frühzeit des Fernsehens hat man allerdings bemerkt, dass die Face-to-Face-Illusion, die etwa ein Nachrichtensprecher erzeugt, zur Ausbildung von
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parasozialen Beziehungen führt: Medienpersonen werden tatsächlich wie persönlich Bekannte imaginiert (vgl. Bonfadelli et al. 2010, 594 f.). Als Studiopublikum und -gast oder auch Laiendarsteller treten Mitglieder der Zielgruppen inzwischen aber auch in direkten Kontakt zu den Medienpersonen und zueinander. Schließlich gibt es auch noch Fangemeinden besonders für daily-Formate, die sich nicht nur in Foren austauschen können, sondern sogar zu eigens für sie organisierten Events eingeladen werden – im Sinne von Triff deine Stars. Selbstverständlich fungieren auch Einzeltexte als gruppendifferenzierende Referenzen, insbesondere Bücher, Filme, Videoclips, Songs oder auch Sendungsepisoden, die für bestimmte Gruppen Kultstatus erlangt haben. Wer diese nicht kennt und Anspielungen oder andere intertextuelle Referenzen nicht entschlüsseln kann, bleibt aus der Ingroup der Kenner/Eingeweihten ausgeschlossen. Genauso wird man als Kulturbanause qualifiziert, wenn man die entsprechenden Autoren, Texte usw. des Hochkulturschemas nicht kennt. Gegenüber all dem, so ein Fazit, scheint mir die Kenntnis von Textsorten, Formaten usw. – außer im professionellen Sektor – von höchst nachgeordneter Bedeutung für Gruppenbildungen zu sein.
5 Literatur Adamzik, Kirsten (2010a): Texte im Kulturvergleich. Überlegungen zum Problemfeld in Zeiten von Globalisierung und gesellschaftlicher Parzellierung. In: Martin Luginbühl/Stefan Hauser (Hg.): MedienTextKultur. Linguistische Beiträge zur kontrastiven Medienanalyse. Landau, 17–41. Adamzik, Kirsten (2010b): Was heißt Kultur im akademischen Kontext? In: Marina Foschi Albert u. a. (Hg.): Text und Stil im Kulturvergleich. München, 137–153. Adamzik, Kirsten (2016): Textlinguistik. Grundlagen, Kontroversen, Perspektiven. Berlin/Boston. Bittlingmayer, Uwe/Hidayet Tuncer (2010): Die Wissensgesellschaft. Eine folgenschwere Fehldiagnose? In: Engelhard/Kajetzke (2010), 347–358. Bonfadelli, Heinz/Otfried Jarren/Gabriele Siegert (Hg.) (2010): Einführung in die Publizistikwissenschaft. Bern. Bröckling, Ulrich/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.) (2004): Glossar der Gegenwart. Frankfurt a. M. Burger, Harald/Martin Luginbühl (2014): Mediensprache. Eine Einführung in Sprache und Kommunikationsformen der Massenmedien. Berlin/New York. Drucker, Peter Ferdinand (1959): Landmarks of Tomorrow. New York. Engelhardt, Laura/Anina Kajetzke (Hg.) (2010): Handbuch Wissensgesellschaft. Theorien, Themen und Probleme. Bielefeld. Große, Ernst Ulrich (1974): Texttypen. Linguistik gegenwärtiger Kommunikationsakte. Theorie und Deskription. Stuttgart u. a. Große, Ernst Ulrich (1976): Text und Kommunikation. Eine linguistische Einführung in die Funktionen der Texte. Stuttgart u. a. Grotlüschen, Anke/Wibke Riekmann (Hg.) (2012): Funktionaler Analphabetismus in Deutschland. Ergebnisse der ersten leo. – Level-One Studie. Münster.
Texte, Textsorten
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Svend F. Sager
9. Nonverbale Kommunikation Abstract: Versteht man das Thema Sprache in sozialen Gruppen im Sinne von Kommunikation in sozialen Gruppen, so geraten auch andere kommunikative Mittel als die verbale Sprache in den Fokus der Betrachtung. In diesem Sinne soll es im Folgenden um den Bereich der nonverbalen Kommunikation gehen. Die Frage die dabei entsteht, ist die, ob und in welchem Maße der Gebrauch nonverbaler Kommunikationsmittel als gruppenspezifisch angesehen werden kann, oder ob man davon ausgehen muss, dass er eher allgemeinen soziokulturellen oder generell anthropologischen Bedingungen unterliegt. Um sich diesen Fragen methodisch-theoretisch sinnvoll nähern zu können, ist es notwendig, zu bestimmen, was genau unter dem Begriff der nonverbalen Kommunikation zu verstehen ist und welcher spezifische Gruppenbegriff der Untersuchung zu Grunde gelegt werden kann. Nach einer Unterscheidung in face-toface Gruppen und Vergemeinschaftungsformen wie Primär- oder Peergruppen bzw. Szenen/Milieus/Subkulturen, wird auf der Basis einer Systematik der kinesischen Displays sowie anhand einzelner konkreter Beispiele reflektiert, ob und inwieweit es sich hierbei um gruppenspezifische Formen nonverbaler Kommunikation handeln kann.
1 Der Begriff der nonverbalen Kommunikation 2 Der Begriff Gruppe 3 Gibt es eine gruppenspezifische nonverbale Kommunikation? 4 Fazit 5 Literatur
1 Der Begriff der Nonverbalen Kommunikation 1.1 Nonverbale Kommunikation – ein problematischer Begriff In den folgenden Reflexionen soll es ganz im Sinne der Zielsetzung des vorliegenden Handbuchs um die Frage gehen, ob und in welchem Maße die nonverbale Kommunikation gruppenspezifisch ist. Um diese Frage in der einen oder anderen Hinsicht beantworten zu können, ist es aber zunächst einmal notwendig, einige grundlegende Begrifflichkeiten zu klären, so dass ein akzeptabler Rahmen für eine hinreichende Beantwortung der Fragestellung vorhanden ist. Dazu gehört vor allem die Klärung der beiden zentralen Begriffe der nonverbalen Kommunikation und der Gruppe. Wenn man von nonverbaler Kommunikation spricht, ist dies im Grunde genommen eine unklare Redeweise. Denn nonverbal kann Vieles und sehr Verschiedenes bedeuten. Das Problem ist darin zu sehen, dass es für wissenschaftliche Zwecke geneDOI 10.1515/9783110296136-009
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rell ungünstig ist, den zu betrachtenden Bereich begrifflich negativ fassen zu wollen. Besser ist es also, anstatt von nonverbaler Kommunikation zu sprechen, genauer zu bestimmen, was man positiv darunter verstehen will. Dies ist insofern auch notwendig, als verschiedene Autoren in der Vergangenheit den Bereich des Nonverbalen unterschiedlich weit gefasst und definiert haben (etwa Mehrabien 1972; v. Cranach 1973; Scherer/Wallbott 1979; Wallbott 1982; Argyle 1985; deVito/Hecht 1990; Delhees 1994; Knapp/Hall 1997; Kühn 2002; Poggi 2007; Richmond et al. 2011).Was also soll im Folgenden genau unter dem Begriff der nonverbalen Kommunikation verstanden werden?
1.2 Zur systematischen Einordnung nonverbaler Kommunikation Ausgangspunkt für eine präzisere Bestimmung der nonverbalen Kommunikation ist der Begriff des Verhaltens, wie er in Ethologie bzw. Humanethologie verwendet wird. Verhalten kann mit Tembrock (1992, 18) als „organismische Interaktion mit der Umwelt auf der Basis eines Informationswechsels im Dienste der allgemeinen Fitness“ verstanden werden. Dabei unterscheidet Tembrock grundsätzlich drei Formen von Umwelt, mit denen interagiert werden kann: die physikalische Umwelt (etwa eine Kletterer in einer Bergwand) und die Umwelt lebender Individuen entweder einer anderen Art (etwa Mensch und Hund) oder die Umwelt der Individuen derselben Art (also Mensch zu Mensch), was dann als soziale Umwelt und Sozialverhalten bezeichnet wird. Nur Letzteres ist hier von Interesse. Auch ein solches Sozialverhalten dient, wie es in der Definition heißt, der allgemeinen Fitness. D. h. Menschen verhalten sich stets nach der obersten oder eben grundlegensten Maxime: Handle so, dass du sozial erfolgreich bist! (Sager 2004, 175 ff.) Was im Einzelnen dann als sozialer Erfolg zu definieren ist und wie er konkret, durch welches Verhalten erreicht wird, und wie er sich dann letztlich für den Einzelnen manifestiert, ist von Situation zu Situation und von Gruppe zu Gruppe durchaus verschieden. Das Streben aber danach, sozial erfolgreich zu sein, sich in der jeweiligen Situation zu qualifizieren, ist, wie unten deutlich werden dürfte, ein fundamentales Verhaltensprinzip auch für den hier betrachteten Gegenstandsbereich der nonverbalen Kommunikation in Gruppen. Ein solches sozial qualifizierendes Verhalten bzw. ein Verhalten, das nach diesem sozialen Erfolg ausgerichtet ist, kann sich auf unterschiedliche Weise konkret manifestieren: Es kann ein verbales Verhalten oder ein nonverbales Verhalten sein. Nonverbales Verhalten ist in immer komplexerer Weise in der aufsteigenden Evolutionslinie der Tiere bis hin zum Menschen bei allen Lebewesen festzustellen. Erst auf der evolutionären Stufe des Menschen kommt eine zweite grundsätzliche Form des Verhaltens dazu: das verbale Verhalten. Verbales Verhalten lässt sich nun weiterhin in die Bereiche der syntaktischsemantischen Äußerungen wie den damit verbundenen verschiedenen Formen der
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Prosodie (also Tonhöhe, Akzent, Tempo, Stimmregister etc.) untergliedern. Daneben gibt es weitere Formen akustischer Äußerungen, auf die aber erst weiter unten eingegangen werden soll. Dieses verbale Verhalten ist nun grundsätzlich mit dem nonverbalen Verhalten aufs Engste verbunden und verquickt, wobei das nonverbale Verhalten des Menschen seine ganz charakteristische, artspezifische Ausprägungen besitzt. Beschränkt man sich also in diesem Sinne auf den Menschen, so lässt sich dieser Verhaltensbereich des Nonverbalen im engeren Sinne weiter untergliedern in ein (nonverbales) Gebrauchs- und ein Kommunikationsverhalten, wobei häufig der Unterschied nicht leicht zu erkennen und zu bestimmen ist. Sitzt bspw. eine Person in einem Raum, steht dann auf und schließt ein Fenster, so ist dies zunächst ganz eindeutig als ein Gebrauchsverhalten zu bestimmen, durch das ein bestimmter Nutzen aufgrund einer Manipulation von Umwelt zu erreichen versucht wird. Gebrauchsverhalten dient in diesem Sinne grundsätzlich der Ausnutzung oder Ausbeutung einer Umwelt im Sinne der verschiedenen Funktionskreise des Lebens (Nahrungs-, Schutz-, Komfort-, Bewegungsverhalten etc.). Wurde aber nun die oben genannte Person vorher von jemandem aufgefordert, das Fenster zu schließen, was diese Person aber eigentlich gar nicht will, so kann die besondere Art und Weise, wie sie das Fenster schließt (etwa betont langsam oder mit einem Knall oder dgl.) durchaus ein kommunikativer Akt sein. Denn durch einen solchen Akt des Gebrauchshandelns wird gleichzeitig auch dem Interaktionspartner die innere Haltung dem Fensteröffnen gegenüber zum Ausdruck gebracht. Und somit stellt dies durchaus eine Form von nonverbaler Kommunikation dar. Aber auch in Lehr-Lern Zusammenhängen kommen solche charakteristischen Verquickungen von Gebrauchs- und Kommunikationsverhalten vor – etwa wenn der Lehrmeister dem Lehrling zeigt, wie ein bestimmtes Werkstück geschliffen oder bearbeitet werden soll. Typisches und ausschließlich nonverbales Kommunikationsverhalten ist es dagegen, wenn eine Person – um mit dem oben entwickelten Beispiel weiterzumachen – ihrem Gegenüber etwa durch Hand- und Kopfbewegungen deutlich macht, dass nicht sie, sondern der Partner selber das Fenster zuzumachen hat. Dies könnte etwa durch ein Kopfschütteln oder durch das Äußern bestimmter Laute wie >ä ä< oder dgl. realisiert werden. Damit wären zwei der für das nonverbale Kommunikationsverhalten möglichen Unterbereiche angesprochen worden: einmal der Bereich der vokalen oder akustischen Kommunikation – also einer nichtverbalen aber lautlichen Kommunikation, zu der nun auch die oben genannte Prosodie, also ein Teil der verbalen Kommunikation gerechnet werden kann. Akustische Kommunikation spaltet sich auf in einen Teil, der zum verbalen Verhalten gehört, der Prosodie, und einen Teil, der zum nonverbalen Verhalten gehört, dem vokalen Verhalten. Dieses wiederum kann weiter untergliedert werden in Artikulationen, das sind zwar silbische, gleichwohl nicht wirklich semantische Äußerungen – etwa >boeijpuh< oder dgl. – und Expressionen, das sind nicht silbische, nichtsemantische lautliche Äußerungen wie Lachen, Husten, Glucksen
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oder dgl. Dabei steht das Lachen auf der Grenze zur Artikulation, da es ja durchaus silbisch realisiert sein kann (hahaha, hohoho, hihihi). Der andere Bereich, der im o. g. Beispiel eine Rolle spielte, ist der der Kinsesik, also der verschiedenen Formen der Körperbewegung von Kopf, Händen und Armen, dem Rumpf usw. Diese Körperbewegungen lassen sich grob in fünf Bereiche gliedern. Die Motorik, die Taxis, die Haptik, die Position und die Lokomotion. Darauf soll ausführlicher unten eingegangen werden. Neben diesen beiden Bereichen der nonverbalen Kommunikation gibt es noch einen dritten Bereich, die hier als Figuretik bezeichnet werden soll und die gesamte körperliche Erscheinung eines Menschen betrifft. Dazu gehören einerseits die verschiedenen Formen der Körpermanipulation wie Haar- und Barttracht, Körperbemalungen (Make Up) oder Körperveränderungen wie Tatoos, Piercing etc. Dazu gehören des Weiteren auch alle Gegenstände, die am Körper getragen werden wie Kopfbedeckungen, ablegbarer Schmuck, Kleidung, Stöcke, Taschen oder sonstige die Person schmückende oder charakterisierende Gegenstände (etwa Füller, Armbanduhr und dgl.) Die gesamten hier gemachten Unterscheidungen lassen sich in folgender Übersichtsdarstellung (Abbildung 1) anschaulich zusammenfassen. Verhalten Nonverbales Verhalten
Verbales Verhalten
Nonverbale Kommunikation Akustische Kommunikation
Verbale Äuϐerung Prosodie
Artikulation
Morphem Lexem Phrase
Vokales Display
Gebrauchsverhalten
Figuretik KörperKörpermanipulation ausstattung
Expression
Motorik Taxis Haptik
Tonhöhe Akzent Tempo Stimmregister
Abb. 1
Kinesik
Position Lokomotion
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Aus diesen Überlegungen heraus lassen sich folgende begriffliche Unterscheidungen ableiten, die den Gegenstand, um den es hier geht, präzise zu bestimmen erlauben: Unter Kinesik oder kinesischen Displays ist die Menge der körperlichen Bewegungen bzw. Veränderungen von Körperpositionen zu verstehen, die im Sinne der Kommunikation eingesetzt werden – also alles aktive Körperverhalten mit semiotischem Charakter. Nonverbale Kommunikation umfasst über die Kinesik hinaus auch sowohl alle nichtverbale akustische Kommunikation im Sinne von prosodischem (auch paraverbalem Verhalten genannt) und vokalem Display sowie die Phänomene der Figuretik also spezifische Körpermanipulationen und alle Mittel der Körperausstattung. Das vokale Display kann weiterhin in silbisch realisierte Artikulationen sowie die nichtsilbisch realisierten Expressionen unterschieden werden.Nonverbales Verhalten schließlich umfasst alle Formen der Kinesik, Figuretik und Akustik sowie das nichtkommunikative (natürlich nonverbale) Gebrauchsverhalten. Diese genauen, abgrenzenden Begriffsbestimmungen sind vor allem auch deshalb notwendig, weil verschiedene Autoren zum Thema nonverbale Kommunikation die Grenzen des Gegenstandsbereichs durchaus unterschiedlich setzen. Für manche Autoren (etwa v.Cranach 1973; Wallbott 1982; Argyle 1985; Delhees 1994; Burgoon et al. 1996; Andersen 1999) gehört zur nonverbalen immer auch die vokale Kommunikation, manche dagegen grenzen diese speziell aus (etwa Mehrabian 1972; Scherer/Wallbott 1979; Patterson 1983;deVito/Hecht 1990; Knapp/Hall 1997; Kühn 2002; Poggi 2007; Richmond et al. 2011). Andere Autoren beziehen auch die Bereiche der Figuretik mit in das Feld der nonverbalen Kommunikation (etwa Wallbott 1982; Argyle 1985; deVito/Hecht 1990; Delhees 1994; Burgoon 1996; Knapp/Hall 1997; Andersen 1999; Kühn 2002; Richmond et al. 2011). Und schließlich gibt es Autoren (etwa Wallbott 1982; Patterson 1983; deVito/Hecht 1990; Delhees 1994; Richmond et al. 2011), die auf dem Prinzip der sogenannten Kanaldifferenz (also der verschiedenen Sinnesbereiche) argumentieren und für die gehören zur nonverbalen Kommunikation dann auch noch weitere sensorische Bereiche dazu wie die olfaktorische, gustatorische und thermale Kommunikation und, wenn es wieder über den Bereich des Menschen hinaus geht (etwa Tembrock 1975), die elektrischen Kommunikation – also alle Signalbereiche, in denen sich Lebewesen untereinander austauschen. Gerade die letztgenannten Bereiche der olfaktorischen, gustatorischen, thermalen wie elektrischen Kommunikation sollen hier ausgeklammert bleiben, da sie zwar z. T. auch durchaus im menschlichen Bereich relevant sind, sich einer methodisch exakten Dokumentation und Analyse im hier behandelten Sinne allerdings weitgehend entziehen – und mit Sicherheit auch nicht gruppenspezifisch sind. Wenn im Weiteren hier von nonverbaler Kommunikation gesprochen wird, so ist damit im engeren Sinne also nur die Kinesik gemeint. Die nonverbale, vokale Kommunikation im Sinne der vokalen Displays sowie die Figuretik sollen hier ausgeklammert bleiben. Nonverbale Kommunikation im Sinne einer Kinesik, also eines kommunikationsrelevanten Körperverhaltens, lässt sich, wie bereits erwähnt, nach Sager (2009) in
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fünf große Bereiche unterteilen, die die einzelnen semiotisch relevanten körperlichen Displays betreffen: Motorik, Taxis, Haptik, Position und Lokomotion. Unter Motorik sind im Gegensatz zur Motalität (Sager 2001, 1069) die sogenannten Willkürbewegungen zu verstehen, die in den verschiedenen körperlichen Bereichen möglich werden. Das sind im Einzelnen die Mimik (Bewegungen des Gesichts), die Gestik (Bewegungen der Arme und Hände) und die Pantomimik (zusammenhängende Bewegungen des gesamten Körpers, also von Kopf, Rumpf, Becken und Beinen). Unter Taxis, einem Konzept, das aus der Ethologie stammt (Kühn 1919; Lorenz 1974, 344), versteht man die körperliche Ausrichtung (im Wesentlichen auf andere Sozialpartner). Hier kann im Einzelnen unterschieden werden zwischen Blickorientierung, Kopforientierung und Rumpforientierung – drei Bereiche der Orientierung, die völlig unabhängig voneinander ablaufen können. Der Bereich der Haptik betrifft die verschiedenen Formen der Körperberührung, wobei im Einzelnen hinsichtlich Kopfberührungen, Hand-, Armberührungen, Rumpfberührungen sowie Bein- und Fußberührungen unterschieden werden kann. Dabei lässt sich dann noch weiter differenzieren zwischen dem berührenden und dem berührten Körperteil, wobei im Prinzip alle Kombinationsmöglichkeiten möglich sind. Unter Position soll hier die in der Regel länger anhaltende statische Körperhaltung verstanden werden. Körperpositionen hängen eng mit der Pantomimik (aus dem Bereich der Motorik), also den zeitlichen Veränderungen des ganzen Körpers sowie der Taxis, also der relativen Ausrichtung des Körpers auf andere, zusammen. Bei der Position lässt sich genauer unterscheiden zwischen einer Körperlage, also der speziellen Relation des Körpers zum jeweiligen Untergrund (sitzend, stehend liegend etc.), und der Körperhaltung, also der Relation zwischen den verschiedenen Körperabschnitten (Kopf, Rumpf, Beinen) im Sinne der Pantomimik. Unter Lokomotion schließlich ist die Körperfortbewegung zu verstehen, also die Veränderung hinsichtlich des räumlichen Ortes, an dem der Körper sich jeweils befindet. Hier ist weiter zu untergliedern einmal in die Proxemik, also das relative Distanzverhaltens zum Sozialpartner. Weiter kann unter Lokomotion das gefasst werden, was hier Movation genannt werden soll – ein Phänomengebiet, das im Weiteren der Bewegungswissenschaft zuzurechnen ist (Roth/Wilimczik 1999; Wollny 2010) und u. a. bereits sehr detaillierte Beschreibungen der Fortbewegung geliefert hat (Troje 2002; cf. hierzu auch den Internetauftritt des Bio Motion Lab), das aber im Bereich der Nonverbalen Kommunikationsforschung bisher nicht thematisiert wurde.
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2 Der Begriff Gruppe 2.1 Zwischenüberlegung Bevor nun im Einzelnen der Überlegung nachgegangen werden kann, ob und wenn ja, in welchem Ausmaß ein solches nonverbales oder jetzt präziser gesagt: kinesisches Display gruppenspezifisch ist oder sein kann, muss bestimmt werden, was hier unter Gruppe zu verstehen ist. Wie bereits der Einleitung zu diesem Handbuch entnommen werden kann, ist der Gruppenbegriff in der Sozialforschung durchaus vielfältig. Wenn eine solche wie immer definierte Gruppe die Bedingungen und Voraussetzungen für ein konkretes Verhalten darstellen soll, dann muss im Einzelnen geklärt werden, ob man die Gruppe als einen dem Verhalten vorausgehenden Faktorenkomplex ansieht oder aber die Sichtweise vertritt, dass die Gruppe als solche erst durch das Verhalten im Sinne einer Wirklichkeitskonstruktion entsteht (cf. hierzu zusammenfassend Patzelt (1987,42–71) bzw. grundlegend (Schütz/Luckmann 2003). Je nachdem, wie diese Frage zu beantworten ist, wird man zu unterschiedlichen Einschätzungen hinsichtlich der oben gestellten Frage nach der Gruppenspezifik nonverbaler Kommunikation gelangen.
2.2 Der Gruppenbegriff Welcher Gruppenbegriff kann also der Betrachtung zu Grunde gelegt werden? Oder anders gefragt: Welche Gruppen können wie Einfluss auf das kinesische Display, also auf kommunikatives Verhalten wie Motorik, Taxis, Haptik, Position und Lokomotion überhaupt haben? Dabei kommt ein Problemkomplex in den Blick, der schon früh in der Forschung zur nonverbalen Kommunikation thematisiert und behandelt wurde – nämlich die Frage, wie und wodurch kann grundsätzlich ein solches kommunikatives Verhalten bestimmt werden: durch die Natur oder die Kultur? Die möglichen alternativen Antworten dieser „nature-nurture Debatte“ lauten: Es sind anthropologischkonstitutionelle Bedingungen oder es sind kulturell-soziale Voraussetzungen, die das nonverbale Kommunikationsverhalten beeinflussen und bestimmen. Bereits die frühen Pioniere auf diesem Gebiet wie etwa Darwin Ende des 19. Jahrhunderts und Efron in den 1930er Jahren haben die unterschiedlichen Seiten dieser Antwortalternative behandelt und reflektiert. Heute kann man davon ausgehen, und dies ist vor allem in den umfangreichen kulturvergleichenden Studien der Humanethologen begründet (etwa Eibl-Eibesfeldt 1984), dass beide Komponenten gleichermaßen eine Rolle spielen und menschliches Verhalten stets eine Natur-Kultur Verschränkung aufweist (Neumann 1979,12), die sich bis in das nonverbale Verhalten hineinzieht. Auszugehen ist also von einem grundsätzlichen Erklärungskonzept, das besagt: Es gibt fundamentale Schemata und
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Formen des Verhaltens (etwa die Schemata von Hoch-Tief, Offen-Geschlossen, NahFern), die sich dann jeweils in unterschiedlichen sozio-kulturellen Umgebungen und Rahmen unterschiedlich ausprägen bzw. unterschiedliche spezifische Formen hervorbringen. Vor diesem Hintergrund muss genauer der relevante Gruppenbegriff betrachtet werden, der einen möglichen Rahmen für kulturspezifische Modifikationen grundlegender konstitutionell angelegter Verhaltensmuster darstellt. Zwei Kriterien müssen erfüllt sein, damit nonverbale Kommunikation im hier betrachteten Sinne zustande kommen bzw. sinnvoll und wirksam ablaufen kann: Zum einen müssen sich die betreffenden Kommunikationspartner ungehindert und direkt sehen können, zum anderen muss zur Zeit der Kommunikation eine aktuelle und gleichzeitige leibliche Präsens vorhanden sein. Diese beiden Bedingungen sind in der heutigen Zeit durchaus getrennt zu betrachten. Denn einerseits gibt es Kommunikationsformen, in denen ein ungehinderter Sichtkontakt besteht, andererseits muss damit nicht automatisch auch eine gleichzeitige aktuelle Leibpräsenz am Ort der Kommunikation vorliegen. Ein solcher Fall liegt bspw. bei einer Videokonferenz bzw. den verschiedenen Formen von Life Chats mit Videokontakt vor. Der ungehinderte Sichtkontakt ermöglicht in entsprechenden Kommunikationsereignissen dann, Formen der Gestik, Mimik, Pantomimik und Position sowie der Taxis – also von Blick-, Kopf- und Rumpforientierung – wahrzunehmen und zu beurteilen. Er erlaubt dagegen nicht die Mittel der Haptik, also der körperlichen Berührung, sowie der Lokomotion in Form von Proxemik und Movation, also der ortsabhängigen Distanzregelung und der Fortbewegung zu realisieren. Dazu ist auf jeden Fall eine gleichzeitige Leibpräsenz vor Ort notwendig. Dies hat Einfluss auf die Bestimmung von dem, was unter einer Gruppe im hier vorliegenden Problemzusammenhang verstanden werden soll. Die unmittelbarste und direkteste Gruppe, die man sich in dem Sinne vorstellen kann, ist die jeweils aktuell zusammentreffende face-to-face Gruppe – also eine Ansammlung von Individuen, die mehr oder weniger zufällig bzw. systematisch an einem bestimmten Ort zusammenkommt und von einer Größe ist, die es jedem einzelnen Mitglied der Gruppe noch ermöglicht, Sichtkontakt zu allen anderen zu haben und zu allen anderen im Rahmen angemessener Aktionen direkt eine körperliche Nähe herzustellen (cf. hierzu Fisch 1987, 151). Eine solche Gruppe soll als F-Gruppe bezeichnet werden. F-Gruppen beanspruchen einen relativ kleinen und begrenzten Raum innerhalb dessen die Mitglieder aufeinander orientiert kommunizieren. Dabei erzeugen sie das, was Sager (2000,552 ff.) in Bezug auf das taxische Display einen Displayzikel genannt hat. Das ist ein gedachter Kreis, an dessen Peripherie die Mitglieder einer F-Gruppe sich aufhalten, um optimalen Sichtkontakt zu allen anderen herzustellen. F-Gruppen, deren Mitglieder sich intuitiv an einem Displayzirkel orientieren, überschreiten erfahrungsgemäß nicht eine bestimmte Größe. Liegen keine äußeren orts- und raumbedingten Voraussetzungen vor, wie bspw. feste Sitzordnungen oder dgl. dürften Gruppen ab 7
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Personen stark der Tendenz ausgesetzt sein, den vorhandenen Displayzirkel zu teilen (Fisch 1987,151). F-Gruppen im hier gemeinten Sinne sind also kleine Ansammlungen von Personen, die zum Zweck einer gemeinsamen aufeinander orientierten Kommunikation zusammenkommen, und über einen begrenzten Zeitraum abhängig von Thema, Intention und sozio-kulturellen Rahmenbedingungen zusammenbleiben. Solche Gruppen und natürlich das Verhalten in ihnen sind geprägt von den situativen Umständen, also dem natürlichen oder institutionellen Ort, den damit zusammenhängenden Regeln, Konventionen Werten und Standards, dem Ziel der Interaktion sowie den beteiligten Personen, ihrem sozialen Status, ihrer individuellen Ausstrahlung und ihrem dadurch bedingten aktuellen Rang in der Gruppe. Von hier aus und von solchen Überlegungen gelangt man auch zu den eigentlichen in den Sozialwissenschaften betrachteten und behandelten Gruppen wie etwa den Primär- und Sekundärgruppen, den Peergruppen, Szenen, Milieus und Subkulturen. Denn je nachdem, welchen sozio-kulturellen Hintergrund, welches Weltverständnis, welche Konventionen und Regeln, welche Normen, Werte und Standards die Mitglieder der aktuellen F-Gruppe besitzen, wird dies direkten Einfluss auf ihr Verhalten und ihre Kommunikation haben.
F-Gruppe vor Ort
Örtliche Bedingungen Institutionelle Bedingungen Gruppenspezifische Bedingungen Kulturelle Bedingungen Anthropologische Bedingungen Abb. 2
Die Abbildung 2 zeigt, wie man sich die Abhängigkeiten des Verhaltens in einer aktuelle F-Gruppe vor Ort, die aus einem oder mehreren Displayzirkeln besteht, vorzustellen hat. Je nachdem, ob die Gruppe auf einer Picknickdecke im Park, in Sprechzimmer eines Arztes oder im Standesamt zusammenkommt, stets fordern der spezielle Ort und seine institutionellen Bedingungen sowie die an der Gruppe beteiligten Personen in ihrem Rang und Status ein jeweils unterschiedliches Verhalten.
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Sind Ort und Zusammensetzung der F-Gruppe darüber hinaus noch durch eine spezielle Gruppe im o. a. Sinne von Primär- oder Sekundärgruppe bestimmt, so kommen dann natürlich die in dieser Gruppe geltenden Normen zum Tragen. Diese Gruppen, die einer Auffassung zufolge, wie es etwa von Schäfer (2013, 108) definiert wird, aus einer bestimmten Anzahl von Mitgliedern bestehen, „die ein gemeinsames Ziel verfolgen und für die Erreichung dieses Ziels dauerhaft in einem relativ kontinuierlichen Kommunikations- und Interaktionszusammenhang stehen“ , sollen hier der Einfachheit halber gegenüber der F-Gruppe als S-Gruppen bezeichnet werden. Weiterhin ist das ganze Geschehen natürlich in einen größeren kulturellen Zusammenhang eingebettet – ein japanischer Männerbund unterscheidet sich sicherlich von einer Gemeinschaft von Benediktinermönchen, obwohl beide spezielle Männergruppen darstellen. Und schließlich wird das Ganze umrahmt von den grundlegenden konstitutionell bedingten anthropologischen Verhaltensmustern, die dem Menschen zu Eigen sind. Diese gelten über die Kulturen hinweg gleichermaßen als anthropologische Grundkonstanten, die dem Menschen ein bestimmtes Verhalten nahelegen. So gibt es immer wieder Situationen sozialer Begegnung, die in allen Kulturen gleich sind, und in denen Angst oder Freude, Trauer oder Wut etc. erlebt und verarbeitet werden und dabei von letztlich allen Menschen in der immer wieder gleichen Weise durch spezifische Verhaltensmuster umgesetzt werden. Es gibt nun verschiedene personelle Zusammensetzungen innerhalb einer F-Gruppe: Entweder sind alle Mitglieder der F-Gruppe auch Mitglied in ein- und derselben S-Gruppe. Oder aber die Mitglieder der F-Gruppe gehören zwei oder mehreren S-Gruppen an. Entweder ist die F-Gruppe also ein internes Treffen einer S-Gruppe oder aber mehrere S-Gruppen treffen in einer F-Gruppe aufeinander, was dann zu spezifischen Formen der gegenseitigen Gruppenrepräsentation und Gruppenstilisierung führen kann. Und hier dürften dann auch die Bedingungen für ein gruppenspezifisches Gepräge nonverbaler Kommunikation liegen. In dem Zusammenhang sind als relevante und interessante S-Gruppen vor allem Peer- und Bezugsgruppen aber etwa auch Szenen wie sie von Hitzler/Bucher/Niederbacher (2005) beschrieben werden, für den vorliegenden Problemzusammenhang der nonverbalen Kommunikation von Bedeutung. Szenen, so definieren die Autoren, sind „Thematisch fokussierte kulturelle Netzwerke von Personen, die bestimmte materiale und/oder mentale Formen der kollektiven Selbststilisierung teilen und Gemeinsamkeiten an typischen Orten und zu typischen Zeiten interaktiv stabilisieren und weiterentwickeln.“ (Hitzler/Bucher/Niederbacher 2005, 20) Für die folgenden Überlegungen ist im Sinne dieser Definition spezifischer S-Gruppen vor allem von Bedeutung, dass diese Gruppen sich durch die Kommunikation selbst manifestieren, Gruppe hier also zu verstehen ist als Folge der Kommunikation. Dass dann natürlich eine so definierte und konstituierte Gruppe wiederum für neue Mitglieder aber auch für die alten gleichsam den unhintergehbaren und nicht problematisierbaren und damit vorgegebenen Rahmen der Kommunikation darstellt,
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ist dann natürlich verständlich. Aber wie Hitzler/Bucher/Niederbacher (2005, 21 ff.) erläutern, ist die Existenz solcher Gruppen immer auch an eine „ständige kommunikative Vergewisserung“ gebunden, bei der – für F-Gruppen typisch und selbstverständlich – die verschiedenen gruppenspezifischen Symbole, Zeichen, Rituale sowie Verhaltensstereotypien und –muster sinnlich erfassbar zum Tragen kommen. Damit inszenieren die Gruppenmitglieder sich und ihre Zugehörigkeit zur Gruppe (tun also das, was die Gruppe „fordert“) und sie konstituieren gleichzeitig und sozusagen beiläufig die S-Gruppe selbst und das damit zusammenhängende Wir-Gefühl (Fisch 1987,1 53).
3 Gibt es eine gruppenspezifische nonverbale Kommunikation? Vor diesem Hintergrund einer Gruppendefinition und der Skizzierung der Zusammenhänge von Gruppe und daraus folgendem Verhalten sowie dem im Abschnitt 1. näher bestimmten Begriff der nonverbalen Kommunikation kann nun der oben gestellten Frage nachgegangen werden, ob, wie und in welchem Ausmaß es eine gruppenspezifische nonverbale Kommunikation gibt. Eine solche Kommunikation muss nun genauer auf ihre Gruppenspezifik hin geprüft werden. Und dazu soll die in Abschnitt 1. erläuterte Systematik herangezogen werden. Es ist also genauer zu prüfen, ob und inwieweit das verschiedene Verhalten in den Bereichen der Kinesik gruppenspezifisch sein kann.
3.1 Die fünf Bereiche der Kinesik In die fünf Bereiche der Kinesik – Motorik, Taxis, Haptik, Position und Lokomotion – gehören, wie bereits unter 1.2 dargestellt wurde, unterschiedliche Einzeldisplays. Die Motorik besteht aus den drei Unterbereichen: Mimik, Gestik und Pantomimik. Die Taxis gliedert sich in die Blick-, Kopf- und Rumpforientierung. Im Bereich der Haptik lassen sich Kopf-, Hand-, Arm-, Rumpf-, Bein- und Fußberührungen unterscheiden. Hinsichtlich der Position kann noch genauer zwischen Körperhaltung und –lage unterschieden werden. Die Lokomotion ist in die Proxemik und die Movation zu untergliedern. All diese Einzeldisplays aus den fünf Bereichen hängen auf unterschiedliche Art miteinander zusammen. So ist mit der Mimik aufs Engste die Blick- und Kopforientierung verknüpft. Bei der Gestik lässt sich zwischen einer Gestik mit und ohne Berührungen unterscheiden. Die Position hängt natürlich eng mit der Pantomimik und der Movation zusammen. Ebenso eng sind natürlich Position und Rumpforientierung mit einander verknüpft. Aus diesem Grund sollen im Folgenden nicht alle Bereiche der Kinesik systematisch besprochen werden. Es werden vielmehr
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die zentralen Displaybereiche behandelt, wobei die Verknüpfungen von einem zum anderen Bereich bei Bedarf angesprochen werden. Von den verschiedenen Bereichen sind die ersten beiden der Motorik – die Mimik und die Gestik – relativ gut ausgearbeitet. Zur Pantomimik, also den Ganzkörperbewegungen und den damit zusammen hängenden Körperhaltungen gibt es dagegen weniger und das z. T. nur andeutungsweise bzw. recht spekulativ. Die Taxis ist in ihrer Gesamtheit einerseits zu grundlegend, andererseits zu unspezifisch, als dass sie wirklich relevant für die Frage nach der Gruppenspezifik der Kinesik wäre. Auf sie wird entsprechend nicht weiter eingegangen. Zur Proxemik und Movation ist ebenfalls nicht viel bzw. nur andeutungsweise etwas zu sagen. Die im Folgenden behandelten Einzelbereiche stellen mit Berücksichtigung entsprechender Querverbindungen somit die zentralen und wichtigsten Bereich der nonverbalen Kommunikation dar, die jetzt in exemplarischer Weise auf ihre Spezifik hinsichtlich einer besonderen Ausprägung in Gruppen betrachtet werden sollen.
3.1.1 Mimik Mit der Mimik haben sich vor allem Eibl-Eibesfeldt (1984) von Seiten der Humanethologie und sehr ausführlich Ekman/Friesen/Hager (2002) im Rahmen des sogenannten FACS, des Facial Action Coding System, befasst. Für beide Richtungen gilt gleichermaßen, dass sie die Mimik als einen Verhaltensbereich betrachten, der stark von konstitutionellen und von anthropologischen Bedingungen abhängig ist. Im Rahmen der Ethologie wird vor allem in dem Zusammenhang auf die Analogie der menschlichen Mimik mit der subhumaner Primaten (etwa der Schimpansen) verwiesen. Affen wie Menschen zeigen in bestimmten emotional ähnlich geprägten Situationen übereinstimmende mimische Muster – etwa für Ärger, Freude oder Frustration. In diesem Zusammenhang geht es um die beiden für alle kinesischen Displays gleichermaßen relevanten Bereiche: die äußerliche Realisierung des Displays, die ein bestimmtes wahrnehmbares Muster körperlicher Ausprägung hervorruft, und die mit diesem Muster zusammenhängende kommunikative Funktion. Will man kinesische Displays beschreiben und im Weiteren unter der hier relevanten Fragestellung ihrer möglichen Gruppenspezifik analysieren, so muss man einerseits sagen, um welches Muster oder Schema körperlicher Konfiguration es sich genau handelt, und andererseits, welche sozial-kommunikative Funktion damit realisiert wird. Das FACS ist ein äußerst detailliert ausgearbeitetes System, das zunächst der genauen Beschreibung der Mimik dient. Um zu verstehen, wie dieses Codiersystem funktioniert, muss man wissen, dass die menschliche Mimik auf der Basis von (je nach anatomischer Definition) etwas über zwanzig (nämlich 21 bis 23) verschiedenen Muskeln funktioniert (Hjörtsjö 1969; Ekman/Friesen/Hager 2002). Das Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Muskeln erzeugt das, was wir als Mimik im Gesicht wahrnehmen. Ziel der Mimikbeschreibung durch das FACS ist eine verlässliche und
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objektive Methode zur Erfassung der sichtbaren Veränderungen im Gesicht als Grundlage für die funktionale Bestimmung dieser speziellen Displays. Dabei wird so vorgegangen, dass bestimmte AUs, sogenannte action units, unterschieden werden. Eine AU ist die durch einen oder mehrere mimische Muskeln hervorgerufene erkennbare und deutlich unterscheidbare momentane Veränderung im Gesicht. Sie entspricht damit dem, was Birdwhistell (1952), einer der Pioniere der nonverbalen Kommunikationsforschung, ein Kinem genannt hat. Das FACS beschreibt nun insgesamt 44 AUs: 12 im Obergesicht und 32 im Untergesicht. Dabei wird jeweils die Kombination der beteiligten Muskeln genannt, durch ein Foto und einen Film die jeweilige AU dokumentiert und ihre genauere Art der Realisierung, die Intensität und mögliche Varianten beschrieben. Die Frage, die nun entsteht, ist die, was bedeuten diese Mimiken, welche Funktion haben sie. Hier hat die nonverbale Kommunikationsforschung schon früh deutlich machen können, dass Mimik ganz wesentlich im Zusammenhang von und in Verbindung mit Emotionen auftritt (cf. Ekman 1972; Ekman 1981; Eibl-Eibesfeldt 1984, 551 ff.). Vor allem spielen hier die sogenannten Basisemotionen eine zentrale Rolle. Das sind im Einzelnen, je nach Autor (Ekman 1981; Argyle 1985) mit folgenden Termini bezeichnete Emotionen: Freude, Trauer, Wut/Ärger, Ekel/Abscheu, Schmerz, Angst/ Furcht, Überraschung und Interesse und ihre jeweiligen Kombinationen. Neben diesem reinen Ausdrucksverhalten bzw. Affektverhalten tritt Mimik allerdings auch noch als sogenanntes Epiphänomen (etwa bei Anstrengung oder sprachlicher Artikulation) auf, ebenso bei kognitiven Prozessen (etwa ein angestrengtes oder nachdenkliches Gesicht machen), bei Bewertungen (die Nase rümpfen), zur Beziehungsdefinition (freundliches Anlächeln oder der sogenannte Augengruß, ein Hochziehen der Brauen (Eibl-Eibesfeldt 1984, 570 ff.)), zur Situationsmarkierung (ein strenges Gesicht machen) oder bei einer Relevanzhochstufung im Gespräch (ebenfalls Hochziehen der Augenbrauen). Das funktionale Spektrum ist also relativ breit gefächert, wobei alle diese Varianten letztlich alle wieder auf die Konfigurationen der Basisemotionen zurückführbar sind. Und diese Grundmimiken sind – weitgehend unabhängig von Kultur und Gruppenzugehörigkeit – gleichermaßen und übereinstimmend einsetzbar und interpretierbar. Das verweist darauf, dass Mimik insgesamt wie spezielle Mimiken im Einzelnen wohl kaum gruppenspezifisch im hier definierten Sinne sein können. Denn in jeder beliebigen Gruppe dürften dieselben Emotionen und die daraus entstehenden spezifischen Beziehungssituationen entstehen und entsprechend mimisch gleich verarbeitet werden. Lediglich könnte man unter Umständen sagen, dass in bestimmten Gruppen zur jeweiligen Selbstinszenierung der Gruppenmitglieder bestimmte Emotionen oder Haltungen kultiviert werden – etwa Wut und Aggression oder eine gewisse snobistische Überheblichkeit, die immer wieder zu den gleichen Mimiken – etwa den hochgezogenen Augenbrauen oder den herabgezogenen Mundwinkeln führt. Aber eine wirkliche Gruppenspezifik der Mimik kann man das sicherlich nicht nennen.
Nonverbale Kommunikation
181
3.1.2 Gestik Die Gestik weist wie die Mimik die Problematik der Unterscheidung von Ausdruck und Funktion auf. Auch hier muss es zunächst darum gehen, die einzelnen Gesten genau zu definieren und zu beschreiben. Was also ist eine Geste? Gesten sind mit Sager (2005, 2001) als Zeitgestalten zu definieren, d. h. sie verlaufen in der Zeit auf eine bestimmte charakteristische Weise ab, haben einen Anfang, ein Ende und einen oder mehrere Höhepunkte. Das lässt sich im Schema von Abbildung 3 (Sager 2005, 28) zusammenfassen: SfP1
A Anfang
Onset
SfPn Kern
E Offset
Ende
Abb. 3
Die Geste beginnt von einem Anfangspunkt (A) aus, entwickelt sich über einen Onset zum Kern, der aus einem oder mehreren Signifikanzpunkten (SfP1 . . . SfPn) besteht und läuft dann über die Phase des Offset zum Endpunkt (E). Diese idealtypische Ablaufstruktur ist in der Realität allerdings nicht immer in vollem Umfang gegeben. Gesten können z. B. direkt aus einem Signifikanzpunkt in eine andere Geste übergehen, so dass durchaus bei einzelnen Gesten On- oder Offset fehlen können, oder eben auch Anfangs- bzw. Endpunkt. Entscheidend für Gesten sind vor allem die Signifikanzpunkte. Das sind die Positionen von Arm und Hand im Gestenverlauf, die die eigentliche semiotische Relevanz beinhalten, das also, was die Geste funktional repräsentiert. Um eine Geste optimal zu dokumentieren, muss man ihren oder ihre Signifikanzpunkte erfassen. In Sager (2005) ist ein komplexes Beschreibungssystem entwickelt, das ähnlich wie das FACS für Mimiken eine detaillierte Beschreibung der Signifikanzpunkte von Gesten erlaubt, und damit Grundlage für die weitere und differenzierte Bestimmung möglicher Funktionen darstellt. Diese System beruht darauf, die spezielle Arm-Hand Haltung zu beschreiben, und zwar auf der Grundlage einerseits der drei Körperebenen (Sagittal-, Frontal- und Horizontalebene) sowie andererseits nach dem Prinzip der Drehpunkte, die eine Bewegungsfreiheit in den jeweiligen Angelpunkten der Gelenke ermöglichen. Dadurch entsteht eine Tabelle von Bewegungsart und Bewegungsort (Abbildung 4), die die insgesamt 36 systematischen Freiheitsgrade beider Arme und Hände erfasst (Sager 2005, 40).
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Svend F. Sager
Schulter Hebung
Oberarm
Ellenbogen
Hand
Elevation Delevation
Schwenkung Spreizung
Anteversion Retroversion Abduktion
Abduktion
Adduktion
Adduktion
Radiale Abduktion Ulnare Abduktion Pronation
Innenrotation
Drehung
Auϐenrotation Beugung
Supination Flexion Extension
Flexion Extension
Abb. 4
Darüber hinaus lassen sich, wie Abbildung 5 zeigt, die Positionen bzw. Freiheitsgrade der Hände in einem dreidimensionalen Schema von Spreizen, Staffeln und Strecken erfassen, Spreizen gespreizt
Staffeln gestuft
geschlossen
gleichmäϐig
offen
Strecken
parallel
Abb. 5
Dies führt zu 7 systematischen Handformen (Faust, Staffelhand, Hohlhand, Kralle, Spreizstaffelhand, Streckhand und Spreizhand) (Sager 2005, 42 f.). Diese Unterscheidungen eröffnen die Möglichkeit, die jeweiligen Signifikanzpunkte einer Geste detailliert in Form von komplexen Tabellen zu erfassen, wie es Abbildung 6 zeigt, (Sager 2005, 44).
Nonverbale Kommunikation
Rechter Arm Schultergelenk
Nullposition
Linker Arm Heben
Nullposition
Nullposition
Spreitzen
Nullposition
Nullposition
Schwenken
Nullposition
Oberarmgelenk
Abduktion
Spreitzen
Nullposition
Ellenbogengelenk
Auβenrotation Flexion
Drehen Beugen
Innenrotation Flexion
(leichte) Supination
Drehen
Nullposition
Beugen
(leichte) Flexion
Handgelenk Hand
Nullposition
Ulnare Abduktion Zeigehand
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Spreitzen
Nullposition
Streck-/Hohlhand
Abb. 6
Auf dieser Grundlage lassen sich dann aus dem Kontext der Gestenverwendung die jeweiligen spezifischen kommunikativen Funktionen bestimmen und mit bestimmen Gestenrealisierungen verknüpfen. Hinsichtlich der funktionalen Systematisierung von Gesten gibt es bereits ausführliche Untersuchungen und Darstellungen (Scheflen 1976; Argyle 1985; McNeill 1992; Müller 1998), die letztlich alle in der Tradition der von Efron (1972) in den 1930/40er Jahren durchgeführten Pionierarbeit stehen. Die auf Efron zurückgehenden und vor allem durch Ekman und Friesen (1972) in die Forschungstradition und Forschungsdiskussion eingebrachten Gestentypen sind vor allem die Illustratoren, die sprachliche Akte unterstützen oder ihnen widersprechen, die Adaptoren, die körperliche Bedürfnisse befriedigen und mit Berührungen, also der Haptik zu tun haben, und die Embleme, die direkt verbal übersetzbar sind und eine lexikalisierte Bedeutung besitzen, was so für die anderen Gesten nicht gilt. Fasst man diese Arbeiten im Sinne Müllers (1998), die vor allem auch die drei von Bühler (1933) in die Diskussion gebrachten Funktionen der Kommunikation (Darstellung, Appell, Ausdruck) berücksichtigt, zusammen, so sollen jetzt hier im vorliegenden Zusammenhang folgende Gestenfunktionen unterscheiden werden: Zu den eigentlichen Gesten zählen die Illustrativen Gesten, die Objekte, Eigenschaften oder Handlungen abbilden, die Performativen Gesten, die Illokutionen darstellen, die Phatischen Gesten, die Beziehungen markieren und gestalten, die Diskursiven Gesten, die die Rede segmentieren und strukturieren und die Denotativen Gesten, die auf etwas verweisen. Zu den Adaptoren, bei denen es sich um manipulative Gesten handelt, gehören Autoadaptoren (Selbstberührungen), Sozioadaptoren (Fremdberührungen), Objektadaptoren (Berührung und Manipulation von Gegenständen) und Pseudoadap toren (pantomimische Manipulation von Objekten). Und schließlich gehören dazu die Embleme, eine große Anzahl klar Bedeutung tragender Handzeichen. Inwieweit sind nun solche Gesten mit diesen hier unterschiedenen Funktionen gruppenspezifisch? Auch in diesem Zusammenhang lässt sich wie schon bei der
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Svend F. Sager
Mimik feststellen, dass diese Funktionen sicherlich in allen Gruppen gleichermaßen realisiert werden und in entsprechenden Situationen auftreten, in denen die Gruppenmitglieder sich entsprechenden Anforderungen gegenüber gestellt sehen. Zudem lässt sich grundsätzlich feststellen, dass sich das gestische Verhalten letztlich aus einem Gebrauchsverhalten herleiten lässt. D. h. die Art und Weise, in der wir Menschen uns mit unseren Armen und Händen in Bezug auf bestimmte praktische und konkrete Aufgaben mit der Welt auseinandersetzen und die Dinge handhaben, ist die gleiche, wie wir Arme und Hände kommunikativ und zeichenhaft einsetzen. So wie wir uns bspw. mit vorgehaltenen Händen gegen äußere Einflüsse schützen (etwa Zweige, die uns ins Gesicht schlagen könnten) so heben wir auch die Hände, um etwas abzulehnen oder zu negieren oder uns vor kommunikativen „Anstürmen“ abzugrenzen. Um etwas aufzusammeln und festzuhalten breiten wir die Arme aus und umschließen dieses (etwa einen großen Gegenstand) genauso wie wir unsere Kommunikationsbereitschaft zu Anderen durch offene Arme, in die wir letztlich auch unser Gegenüber schließen, zum Ausdruck bringen. Dieses Prinzip lässt sich durchgängig durch alle Gesten beobachten. Hier liegen also grundlegende anthropologische Bedingungen über alle Kulturen hinweg vor, wie wir Gestik realisieren. Auf der anderen Seite zeigen bereits die Arbeiten von Efron, dass es kultur- und gruppenspezifische Unterschiede in der Art und Realisierung der Gestik gibt. So hatte Efron ja die Gestik von ostjüdischen Einwanderern (aus Litauen und Polen) sowie süditalienischen Einwanderern (aus Neapel und Sizilien) untersucht und verglichen (Efron 1972, 65). Müller (1998, 56 ff.) fasst nun diese Ergebnisse in ihrem Kapitel „Gestik als Natur oder Kultur“ prägnant zusammen: „Die Gesten der Ostjuden und Süditaliener, die die amerikanische Kultur nicht übernehmen und die an ihrer kulturellen Identität festhalten, unterscheiden sich deutlich sowohl in ihren raumzeitlichen als auch in ihren kommunikativen Eigenschaften voneinander.“ (Müller 1998, 58) Ähnliches lässt sich feststellen, wenn man die von Morris (1997) herausgegebene Sammlung von Gesten betrachtet, in der eine Fülle von detailliert beschriebenen und zeichnerisch dokumentierten Gesten und Bewegungen aufgelistet sind, die stets auch immer hinsichtlich ihrer Herkunft und ihrem Verbreitungsgebiet bestimmt werden. So zeigt sich denn in dem Zusammenhang, dass viele Gesten eben spezifisch kulturell determiniert und entsprechend nur in einem bestimmten Kulturraum anzutreffen sind.
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Abb. 7a
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Abb. 7b
So ist bspw. eine Variante (Abbildung 7a) des „Kinn hochschnippen“(mit der Bedeutung: Nein), bei dem die Fingerrücken einer Hand mehrmals über die Unterseite des Kinns fahren, auf den mediterranen Raum beschränkt – südlich von Neapel und Sizilien, Sardinien aber auch Malta und Korfu (Morris 1997, 136). Die „Geweih“ Geste (Abbildung 7b), bei der mit nach vorne gerichtetem Handrücken die Spitzen der kleinen Finger in die Ohren gesteckt, währen die übrigen Finger seitlich abgespreizt werden, ist eine sexuelle Beleidigung die in Syrien, Saudi-Arabien und im Libanon verbreitet ist und meint: Deine Frau ist dir untreu (Morris 1997, 197). Bei diesen Gesten wird aber bereits deutlich, dass es sich hier um Embleme im eigentlichen Sinne handelt und die sind stets, da sie auch eindeutige gleichsam lexikalisierte Bedeutungen besitzen, immer kultur- und gruppenabhängig. Und hierhin gehören dann vor allem, was den Bereich der Haptik mit einschließt, die verschiedenen Formen der Begrüßung und Verabschiedung. Mit solchen kinesischen Displays liegen eindeutig gruppenspezifische Formen der Gestik vor.
Abb. 8
186
Svend F. Sager
Gerade in jugendlichen Szenen ist hier eine reiche Kultur von Begrüßungs- und Verabschiedungsformen entstanden. Von dem einfachen Handgeben über verschiedene Formen des Abklatschens, die Fäuste-aneinander-stoßens oder des Schulterrempelns gibt es eine Vielzahl von z. T. höchst komplexen nonverbalen Begrüßungsritualen (Abbildung 8). Für diese gilt eindeutig das oben erwähnte szenedefinierende Merkmal, dass durch sie es zu einer ständigen kommunikativen Vergewisserung des szenespezifischen Ingroup Status kommt. Generell lässt sich also für die Gestik sagen, dass sie einerseits natürlich Ausdruck eines allgemeinen kulturübergreifenden Verhaltens darstellt. Andererseits ist gerade die doch auch sehr stark willkürgesteuerte Gestik ein Bereich, der dem Einfluss von Gruppennormen und Gruppenhaltungen stark ausgesetzt ist, so dass speziell hier und dabei vor allem im Bereich der bedeutungstragenden Embleme eine durchaus vorhandene Gruppenspezifik im Sinne eines identitätsstiftenden Verhaltens zu erkennen ist. Für die Gestik gilt in diesem Sinne, was Müller (1998, 60) hinsichtlich der Ergebnisse Efron mit Bezug auf Boas, dessen Lehrer feststellt: „Boas interpretiert die Untersuchungsergebnisse Efrons dann auch dahingehend, dass menschliches Verhalten auf biologischen Dispositionen zwar aufruht, aber wesentlich durch die soziale und geographische Lebenswelt geprägt ist.“
3.1.3 Pantomimik Die Pantomimik soll hier im engen Zusammenhang mit dem Bereich betrachtet werden, mit dem sie auch zusammen auftritt: der Körperhaltung. Körperbewegung und Körperhaltung stehen in einem ähnlichen Zusammenhang wie Gestenbewegung und Signifikanzpunkte einer Geste. Nur das zeitliche Verhältnis von Körperbewegung und Körperhaltung ist etwa anders – nämlich i. d. R. längerfristig. Auch in diesem Bereich muss wieder unterschieden werden zwischen Ausdruck und Inhalt. Hinsichtlich des Ausdrucks lässt sich zumindest bei der Position, also des festen über eine bestimmte Zeit andauernd gehaltenen Zustand des Körpers, unterscheiden zwischen Lage und Haltung. Mit Lage ist hier, wie bereits festgestellt, die Relation des Körpers zum Untergrund gemeint. Man kann sich dem entsprechend in einer stehenden, sitzenden, hockenden, knienden oder liegenden Lage befinden. Mit Haltung dagegen ist die jeweilige Relation der verschiedenen Körperabschnitte gemeint – also die Relation zwischen Kopf, Rumpf, Armen und Beinen. Hier lassen sich jeweils für die einzelnen Körperabschnitte unterschiedliche Haltungen unterscheiden, die sich letztlich dann miteinander zu einer bestimmten Gesamthaltung verbinden: Kopf (aufrecht, zur Seite gelegt oder gedreht, nach unten gebeugt, nach hinten gestreckt, nach vorne oder hinten geschoben); Rumpf im Sinne des Verhältnisses Schultern und Becken (gleichgerichtet, verdreht, lateral geknickt, ventral gebeugt, dorsal gestreckt); Rumpf-Arme Relation (anliegend, abspreizend, in die Hüfte gestemmt, vor dem Bauch zusammengelegt, vor der Brust verschränkt, nach
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oben gereckt); Beine (gestreckt, gleichstehend, angewinkelt, gespreizt, geknickt, versetzt, übereinander geschlagen). Aus der Kombination aller dieser Komponenten ergibt sich ein jeweiliges Körperschema der Position, das mehr oder weniger lange gehalten wird und danach in ein anderes Schema übergeht. Zu dieser Thematik hat es bereits in den 1950er Jahren eine groß angelegte, interkulturell ausgerichtete Studie von Hewes (1957) gegeben, der davon ausgeht, dass die dem Menschen biologisch möglichen, unterschiedlichen Positionen in der Größenordnung um Tausend liegen (Hewes 1957, 123). Auf der Basis von Darstellungen in Form von Bildern oder Skulpturen hat Hewes Positionen aus 480 verschiedenen Kulturen zusammengetragen, 34 davon aus der Vergangenheit. Dabei beschränkte er sich lediglich auf die oben genannten Lagen sitzend, hockend, kniend und stehend wobei er dann an die dreihundert verschiedene Stellungen zusammengetragen und in Zeichnungen wie der unten stehenden Abbildung 9 dokumentiert hat (nach Hewes 1957, 125).
121
121
122
126.5
127
127
123
128
123.5
129
124
130
125
130
125
131
126
132
132
Abb. 9
Die Frage die jetzt natürlich wieder entsteht, ist die nach der kommunikativen Funktion dieser Körperhaltungen und Bewegungen. Hewes selbst machte allerdings weniger zu dieser Fragestellung Aussagen als vielmehr zu der Tatsache, dass diese unterschiedlichen Haltungen eben stark kulturell bzw. auch geschlechtsspezifisch bestimmt sind. Zur Funktion von Körperhaltungen haben sich ebenfalls schon in den 1950er Jahren Sarbin/Hardyck (1953) (zitiert nach Argyle (1985, 256 ff.)) geäußert, wobei deren Ergebnisse noch recht spekulativ und ad hoc erscheinen, wenn auch die generelle Tatsache sicher zutrifft, dass Körperhaltungen sowohl Emotionen wie innere Haltungen und Stimmungslagen als auch interpersonelle Einstellungen zum Ausdruck bringen können, worauf auch spätere Arbeiten hingewiesen haben – etwa
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Argyle (1985, 259), der im Anschluss an Mehrabian zwei wichtige funktionale Dimensionen von Haltungen unterscheidet: die Unmittelbarkeit und die Entspanntheit. Scheflen hatte in den 1960 und 1970er Jahren die Körperhaltung speziell im Zusammenhang mit der sozialen Ordnung untersucht (Scheflen 1976) und dabei u. a. auch die Relationen zu den verbalen Äußerungen thematisiert (Scheflen 1976, 57 ff.). Er sah weiterhin in der Körperhaltung einen „Indikator für kommunikative Einheiten“ und hat in dem Zusammenhang grundlegende Unterscheidungen hinsichtlich der Funktionalität von Haltungen gemacht, die jeweils mit unterschiedlich langen Teilen der Rede in Verbindung stehen (Scheflen 1964): Das Argument, was einem Satz oder eben auch einem Argument in der Rede entspricht, die Position, die mehrere solcher Argumenthaltungen verbindet – etwa über einen ganzen Redebeitrag hinweg und schließlich die Präsentation, die wiederum die gesamte Darstellung einer Person über einen längeren Zeitraum betrifft – etwa während bestimmter Gesprächsphasen des Zuhörens oder Selberredens oder der Abgewandtheit bzw. Zugewandtheit zu anderen Personen. In neuerer Zeit wurden, wie Kühn (2002, 178) bemerkt, Körperhaltungen vor allem funktional hinsichtlich ihrer geschlechtsspezifischen Funktionalität untersucht und mit Macht, Dominanz und Status assoziiert, so etwa bei Mühlen-Achs (1998, 45 ff.), die etwa die typisch männlichen bzw. typisch weiblichen Steh- oder Sitzhaltungen betrachtet und funktional untersucht. Stellt man in dem Zusammenhang auch hier die Frage nach der Gruppenspezifik eines solchen kommunikativen Verhaltens, so wird man sagen können, was ja Hewes bereits festgestellt hat: Einerseits werden Körperhaltungen natürlich von den physisch-biologischen Möglichkeiten des Menschen überhaupt bestimmt und entsprechend seinem Bewegungsverhalten und seiner körperlichen Präsenz in der Welt eingesetzt. Andererseits sind sie stark kulturabhängig – etwa die unterschiedlichen Formen des Sitzens oder Hockens z. B. in Europa oder Asien bzw. Afrika. Insofern sind Körperhaltungen also weniger gruppenspezifisch bestimmt, sondern, wie es etwa auch Scheflen (1976, 94) betont, unauslöschlich durch die ethnische Herkunft geprägt. Höchsten ließen sich bestimmte Formen des lässigen Dastehens als Ausdruck bestimmter szenetypischer Verhaltensweisen charakterisieren, oder bspw. das Hocken an bestimmten Orten und Plätzen in einer an sich stuhlorientierten Sitzgesellschaft, wie es für Jugendliche durchaus charakteristisch ist. Andererseits könnte man unter Umständen sagen, dass bestimmte Positionen – etwa das betonte Herausstrecken der Brust mit entsprechend ‚breitschultrig‘ gewinkelten Armen oder eine besonders gerade und straffe Körperhaltung charakteristisch für bestimmte Gruppen wie Bodybuilder oder Tänzer und Sportler sind. Aber das sind letztlich nur vage Andeutungen von Möglichkeiten, die eher spezifische Sonderfälle, weniger eine wirkliche Gruppenspezifik betreffen – zumal hier denn auch ein vager Gruppenbegriff vorliegt.
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3.1.4 Proxemik und Movation Proxemik und Movation gehören wie festgestellt in den Bereich der Lokomotion, also der Körperfortbewegung. Bei der Proxemik, einem von Hall seit den 1950 und 60er Jahren relativ differenziert ausgearbeiteten Bereich, handelt es sich um die Distanzregulierungen, die Partner in Interaktionen und Gesprächen intuitiv aushandeln. Seit Hall (1966) werden allgemein auch heute noch vier verschiedene Distanzzonen unterschieden: Intimdistanz, Persönliche Distanz, Soziale Distanz, Öffentliche Distanz. Diese wurden von Sager (2000) hinsichtlich ihrer Relevanz für ein Gesprächsverhalten in die verschiedenen Kontaktbereiche untergliedert: Intim-, Kopf-, Hand-, ArmGesprächs- und Kommunikationskontakt. Für die hier betrachteten F-Gruppen sind dabei vor allem die Bereiche von Intim- bis Gesprächskontakt relevant – also Distanzen, in denen eine körperliche Berührung möglich ist oder auch real stattfindet, bis hin zu solchen Distanzen, bei denen die Partner sich nicht mehr berühren, gleichwohl aber noch in normaler Stimmlage und Lautstärke miteinander reden können. In diesem Sinne kann man grundsätzlich davon ausgehen, dass solche Formen der Kommunikation stark kulturell geprägt sind, wie es ja schon Efron hinsichtlich der Gestik festgestellt hat (s. o.). So unterscheidet man bspw. Kontaktkulturen und Distanzkulturen. Zu den Kontaktkulturen gehören, wie Roeder (2003, 55) feststellt, Araber: Irak, Kuwait, Saudi Arabien, Syrien, Vereinigte ArabischeRepublik; Latein Amerikaner: Bolivien, Kuba, Equador, El Salvador, Mexiko, Paraguay, Peru, Puerto Rico, Venezuela; Südeuropäer: Frankreich, Italien, Türkei. Zu den Distanzkulturen rechnet er Asiaten: China, Indonesien, Japan, Phillipinen, Thailand; Nordeuropäer: England, Deutschland, Niederlande, Norwegen, Schottland; Amerikaner, Australier, Inder und Pakistani. In dem Zusammenhang lässt sich feststellen, dass eine Gruppenspezifik hinsichtlich der Distanzregulierung eher nicht vorhanden sein dürfte. Vielmehr muss man davon ausgehen, dass das Verhalten durch die jeweils kulturspezifisch vorherrschende Regelung geprägt ist. Daneben kann man unter bestimmten Voraussetzungen annehmen, dass es vielleicht Tendenzen geben könnte, die von der Art und Zielsetzung der Gruppe abhängen, die das Distanzverhalten bestimmen bzw. beeinflussen. So wird bspw. in körperbetonten Therapiegruppen der direkte körperliche Kontakt sicher enger und mehr vorhanden sein, als etwa in politischen Gruppen, die sich der Verfolgung bestimmter Ideen oder Ziele verschrieben haben und in denen die Gruppenmitglieder auch weniger durch emotionale Bindungen aneinander zum Gruppenhandeln motiviert sind. Was die Movation betrifft, also die Körperfortbewegung, so ist hierzu mit Sicherheit bisher am wenigsten bekannt. Ähnlich wie bereits zur Körperhaltung lässt sich hier lediglich spekulieren, ob und wenn ja, welche Formen der Bewegung, also des Gehens bzw. Laufens so charakteristisch sind, dass sie bestimmten Gruppen als typisch zugeordnet werden könnten. Manche Jugendliche bspw. zeigen einen besonders lässigen, weichen Gang, andere wieder eher eine straffe, dynamische Art der Fort-
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bewegung. Aber ob sich so etwas auf die Mitgliedschaft in einer Gruppe zurückführen lässt oder ob es sich hierbei um ganz individuelle und persönliche Verhaltenseigenschaften handelt, bleibt letztlich Spekulation und ist so auch noch nicht untersucht worden. Die bisherige Forschung konzentrierte sich bisher eher auf geschlechtsspezifische und emotionale Aspekte, die sich in der Art des Gangs zeigen (Troje 2002). Dabei gilt dann das, was auch schon im Zusammenhang mit der Mimik oder auch der Körperhaltung gesagt wurde: Es handelt sich hierbei vor allem um unbewusstes Ausdrucksverhalten, das z. T. auch von der menschlichen Anatomie (etwa dem weiblichen vs. männlichen Becken) beeinflusst ist. Wirkliche Gruppenspezifik im Bereich der Fortbewegung dürfte, wenn nicht Studien der Zukunft das Gegenteil beweisen sollten, reine Spekulation bleiben.
4 Fazit Im Bereich nonverbaler Kommunikation, also dem, was hier als Kinesik definiert und beschrieben wurde, ist eine wirkliche Gruppenspezifik nur sehr bedingt festzumachen. Tritt kinesisches Display im Zusammenhang mit einem Ausdrucksverhalten auf, ist es eher universell und anthropologisch bedingt – dies gilt besonders für die Mimik aber durchaus auch für Köperhaltungen und Körperbewegungen. Am wenigsten gilt dies vielleicht für die am stärksten auch der Willkürmotorik unterworfene Gestik. Diese dürfte am ehesten kulturabhängig sein. Das gilt einmal für die Gestik allgemein wie natürlich besonders für die Embleme, die ja geradezu als Gesten mit einer klar definierten kulturell spezifischen Bedeutung definiert werden. Allerdings ist die Gestik und in dem Sinne auch die Proxemik – also das Distanzverhalten – mehr generell kulturspezifisch bzw. ethnisch geprägt und weniger auf eine spezielle Gruppenspezifik zu beziehen. Gesten mit und ohne Körperberührungen wie eben enge oder weite Distanzen gelten also für einen ganzen Kulturbereich oder bestimmte Ethnien und weniger für bestimmte Gruppen innerhalb dieser Ethnien oder Kulturen. Generell ließe sich in dem Zusammenhang sagen, dass die Mitglieder bestimmter S-Gruppen wie eben alle Mitglieder einer bestimmten Ethnie oder wie eben alle Menschen unabhängig von Ethnie und Kultur ein bestimmtes nonverbales kommunikatives Verhalten in Bezug auf bestimmte konkrete Situationen und Problemlagen zeigen. Das bedeutet im Einzelnen, dass sie je nach Zugehörigkeit zu einer Ethnie oder Kultur bzw. generell als Menschen in bestimmten Situationen auf Verhaltensstrategien zugreifen, die viel grundlegender sind, als es ihnen durch die Zugehörigkeit zu einer speziellen S-Gruppe nahe gelegt wird. Man könnte in dem Zusammenhang höchsten feststellen, dass die Zugehörigkeit zu bestimmten S-Gruppen – also Primär- oder Peergruppen bzw. Szenen/Milieus/Subkulturen – die Einzelnen dazu bringt, bestimmte emotionale oder interpersonelle Grundhaltungen einzunehmen (etwa männliche Dominanz und Souveränität in türkischen Straßengangs), die dann
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zu entsprechendem kinesischen Display führen. Insofern wäre nicht das kinesische Display selbst gruppenspezifisch, sondern eher die innere Haltung, aus der heraus es gezeigt wird.
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Jannis Androutsopoulos
10. Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit Abstract: Die soziolinguistisch orientierte Mehrsprachigkeitsforschung untersucht mehrsprachige Praktiken und Repertoires in privaten, öffentlichen und institutionellen Handlungsbereichen. Gegenwärtige soziokulturelle Wandelprozesse wie Mobilität, Globalisierung und Digitalisierung führen in ihrer Zusammenwirkung zu neuen Rahmenbedingungen für mehrsprachige Kommunikation und zu einer Umstrukturierung von sprachlichen Repertoires, Praktiken und Einstellungen. Mehrsprachigkeit betrifft heute die Kommunikation im privaten Alltag genauso wie in nationalstaatlichen Institutionen und transnational agierenden Unternehmen und dringt dadurch in die Mitte von herkömmlich als monolingual gedachten Gesellschaften ein. In der jüngeren Fachdiskussion führen diese Entwicklungen zu einer kritischen Reflexion früherer Forschungszugänge. Mit neuen Konzepten wie Languaging, Polylingualität (polylingualism), Metrolingualität (metrolingualism) und Translingualität (translanguaging) wird versucht, mehrsprachige Kommunikation von den Sprechern und ihren Praktiken her zu denken. Der Beitrag stellt Stand und Entwicklung der aktuellen internationalen Diskussion vor und fasst ausgewählte Ergebnisse neuerer Forschungsarbeiten zusammen. 1 Einleitung 2 Theoretische Entwicklungen 3 Ausgewählte Konzepte und Zugänge 4 Methoden der gesellschaftlichen Mehrsprachigkeitsforschung 5 Räume gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit 6 Fazit 7 Literatur
1 Einleitung „Einsprachigkeit ist heilbar“ lautete in den 1990-er Jahren ein schlagendes Motto der europäischen Mehrsprachigkeitsforschung (Nelde 1997). Dass Mehrsprachigkeit den Normalfall sprachlicher Kommunikation darstellt, ist aus sprachwissenschaftlicher und -didaktischer Sicht keine neue Feststellung. Bereits in den 1970-ern stellte Mario Wandruszka, der die Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Mehrsprachigkeit eingeführt hat, fest: „Schon in unserer Muttersprache sind wir also mehrsprachig. Nach der regional, sozial, kulturell eng begrenzten Sprache unserer Kindheit ist die transregionale, transsoziale Kultursprache, die wir in der Schule lernen, schon gewissermaßen unsere erste Fremdsprache.“ (Wandruszka 1975, 321). Nicht alle DOI 10.1515/9783110296136-010
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Beobachtungen Wandruszkas treffen heute noch zu, und an der gängigen Begrifflichkeit hat sich Einiges geändert. Aber auch heutige Einstiege in das Thema Mehrsprachigkeit klingen ähnlich. So schreibt Brigitta Busch (2013, Rückumschlag): „Jeder Mensch ist mehrsprachig. Wir alle pendeln täglich zwischen mehreren Sprechweisen (Dialekt, geschriebene Sprache, Umgangssprache, Fachsprache…) und begegnen (in der Schule, in Medien, auf Reisen…) einer Vielzahl von Sprachen.“ Verändert hat sich in den letzten Jahrzehnten jedoch die alltägliche Erfahrung mit Sprachenvielfalt, auch in einem amtlich nach wie vor einsprachigen Land wie Deutschland (Hinnenkamp 1997). Zieht man alle sprachlichen Praktiken des Alltags in Betracht, so wird deutlich: Einsprachigkeit gerät als gesellschaftliche Normallage ins Schwanken, Mehrsprachigkeit nimmt eine zunehmend wichtige Rolle in Sprachgebrauch und Sprachbewusstheit. Festmachen lässt sich die zunehmende Normalität von Mehrsprachigkeit heute an zahlreichen Momenten ihres Auftretens dort, wo man sie früher nicht erwartet hätte: Die vielsprachigen Straßen- und Ladenschilder in größeren und kleineren Städten; die Selbstverständlichkeit, mit der manche Menschen in Städten wie Berlin oder Hamburg davon ausgehen, nur auf Englisch (je nach Stadtteil vielleicht auch auf Türkisch) auskommen zu können; die Ausgaben der Tagesschau in arabischer Sprache; die Zunahme universitärer Lehrveranstaltungen in anderen Sprachen als Deutsch, und zwar nicht nur in den einschlägigen Fremdsprachenphilologien; nicht zuletzt der vielsprachige Strom von Meldungen und Kommentaren in unseren Online-Netzwerken. Durch die komplexe Wechselwirkung von Migration, Mobilität und Digitalisierung werden Erscheinungsformen von Mehrsprachigkeit vielfältiger und allgegenwärtiger. Vor allem stellen sie nicht mehr nur eine Angelegenheit der „Anderen“, der Minderheiten- und Migrantengruppen dar. Mehrsprachigkeit ist kein Nischenphänomen mehr (Hinnenkamp 1997), sondern in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die Erforschung dieser Entwicklungen ist Gegenstand der gesellschaftlichen Mehrsprachigkeitsforschung (nachfolgend auch GeMS), die sich als Pendant zum fachgeschichtlich ihr vorausgehenden Gebiet der individuellen Mehrsprachigkeitsforschung versteht. Liegt der Fokus der letzteren auf dem Erwerb und der Kompetenz von zwei oder mehreren Sprachen beim Individuum, so fragt GeMS nach der Rolle und Bewertung mehrsprachiger Praktiken und Repertoires in gesellschaftlichen Handlungsfeldern und Interaktionszusammenhängen. Die Forschungsentwicklung der letzten Jahre ist geprägt durch neue Konzepte, Zugänge und Schwerpunkte, die in diesem Kapitel kritisch vorgestellt werden. Die nachfolgende Diskussion ist in vier Teile gegliedert: Die beiden folgenden Abschnitte beschreiben den sich gegenwärtig vollziehenden Paradigmenwechsel der neueren GeMS von sprach- zu sprecherorientierten Zugängen. Er wird am ehesten erkennbar in neuen Dachbegriffen, die in den 2000-er Jahren aufgekommen sind. Sieben davon werden diskutiert: Languaging, polylingual languaging, metrolingualism, translanguaging, Sprachrepertoires, Superdiversität und new speakers. Neben ihrer Bestimmung gilt es zu klären, inwiefern sie
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neue Phänomene einerseits, neue theoretische Perspektiven andererseits zum Ausdruck bringen. Der nächste Schritt (Abs. 4) bietet eine Übersicht über ausgewählte empirische Methoden. Anschließend (Abs. 5) werden drei Räume mehrsprachiger Kommunikation vorgestellt: Mehrsprachigkeit in Organisationen, Mehrsprachigkeit in der Stadt und vernetzte Mehrsprachigkeit.
2 Theoretische Entwicklungen Noch in den 1990-er Jahren war die gesellschaftliche (terminologisch auch ‚soziale‘ oder ‚kollektive‘ genannt) Mehrsprachigkeitsforschung theoretisch und methodisch von sprachsoziologischen Zugängen geprägt. Forschungsübersichten aus dieser Zeit lassen sich grob vier Schwerpunkte entnehmen (vgl. Clyne 1997, Lüdi 1996, Riehl 2014). Erstens geht es um Entstehungsfaktoren gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit, darunter Migration, Kolonialismus, Grenzziehungen, Sprachinseln und Verbreitung internationaler Sprachen. Daraus geht u. a. die in der europäischen Soziolinguistik etablierte, sprachpolitisch bedeutsame Unterscheidung zwischen autochthoner und migrationsbedingter Mehrsprachigkeit hervor. Zweitens werden sprachliche Entwicklungsprozesse in mehrsprachigen Gemeinschaften untersucht, u. a. Sprachwechsel (language shift), Spracherhalt (language maintenance) und Sprachtod (language death). Diese werden in Europa bei autochthonen Minderheitensprachen untersucht, Sprachwechsel auch bei migrationsbedingter Mehrsprachigkeit. Das früher vorhersehende Modell der intergenerationellen Entwicklung bilingualer Gemeinschaften (Mackey 2005) ist ein Drei-GenerationenZyklus, der von bruchstückhafter Kompetenz der Zweitsprache bzw. dominanten Sprache des Aufnahmelandes in der Nachfolge von Migration über eine mehr oder minder ausgewogene Kompetenz in beiden Sprachen mit ausgeprägtem Code-Switching bis hin zur Dominanz der ehemaligen Zweitsprache bei gleichzeitigem Verlust der ehemaligen Herkunftssprache reicht. Dass dieser Kreislauf in Wirklichkeit nicht immer so funktioniert, zeigen u. a. Dirim/Auer (2004) am Beispiel des Türkischen in Hamburg, das bei vielen türkischstämmigen SprecherInnen der 3. Generation und darüber hinaus erhalten bleibt. Einen dritten Schwerpunkt bilden einzelne Faktoren des Spracherhalts, darunter die Soziodemografie der Minderheitengemeinschaft, das Verhältnis von Endogamie und Exogamie, der rechtliche und wirtschaftliche Status der Minderheitensprache, das Maß ihrer institutionellen Unterstützung. Sie sind gerade in Europa mit seinen zahlreichen Regional- und Minderheitensprachen in Forschung und Sprachpolitik von Bedeutung und im EU-Projekt „Euromosaic“ exemplarisch für einzelne Minderheitensprachen dokumentiert (Nelde et al. 1996).
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Schließlich geht es um Vorgänge der Sprachwahl und des Code-Switching in der mehrsprachigen Kommunikation. Dabei wird Sprachwahl auf der Ebene der Domäne bzw. Situation verortet und als eine mehr oder weniger bewusste Entscheidung für eine Sprache verstanden, die noch vor einem Kommunikationsereignis fällt und dieses prägt. Als wichtigste Determinante gilt die Domäne der Kommunikation, die sich als Konstellation von Ort, Rollenbeziehung und Thematik bestimmen lässt (Werlen 2004), mit der Unterstellung, dass Domänen Konventionen und Erwartungen nach sich ziehen, die in der Regel eingehalten werden. Ein einfaches Beispiel könnte lauten: Auf der Arbeit spricht man Deutsch, zu Hause Griechisch. Auch einzelne Komponenten einer Domäne (Schauplatz, Gesprächspartner bzw. ihre Rollenbeziehung, Medium der Kommunikation) sind einschlägig untersucht worden. Die Orientierung Mehrsprachiger an domänenspezifischen Normen ist der Hauptgrund für jene Spielart des Code-Switching, die John Gumpertz bereits in den 1970-er Jahren als situatives Code-Switching bezeichnet hat (Gumperz 1972). Sein Pendant, das metaphorische Code-Switching, hat Gumperz hingegen so definiert, dass ein Wechsel der Interaktionssprache innerhalb ein und desselben Ereignisses Assoziationen aus einer anderen Domäne, die dort geltenden Rollenbeziehungen usw. nach sich zieht. Später wurde es bei Gumperz und Anderen als konversationelles Code-Switching weiter untersucht und verfeinert (Gumperz 1982). Die Arbeiten von Gumperz bilden die Basis für die soziolinguistische Code-Switching-Forschung, die wiederum von der grammatischpsycholinguistisch orientierten Code-Switching-Forschung zu unterscheiden ist. Möchte man diese Forschungsphase prägnant (und vereinfachend) charakterisieren, so bietet sich die Metapher der „Vogelperspektive“ an: Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit wird auf recht abstrakter Ebene typologisiert, juristische und andere Rahmenbedingungen werden untersucht, Einflussfaktoren auf die Entwicklung von Minderheitensprachen klassifiziert, typische mehrsprachige Situationen beschrieben. Die Lage europäischer Minderheitensprachen ist eingehend erforscht, während Mehrsprachigkeit und Migration längere Zeit untererforscht blieben oder auf Phänomene des ungesteuerten Deutscherwerbs reduziert wurden. Auffallend ist auch, dass zentrale Konzepte aus dieser Phase forscherseitige Erwartungen von Gleichförmigkeit nahelegen: Domänen prägen die Sprachwahl, Angehörige von Generationen verhalten sich mehr oder weniger ähnlich zueinander usw. Die Leitvorstellung ist weniger ein In- und Miteinander als ein Nebeneinander von Sprachen, was wiederum der gesellschaftspolitischen Leitidee des Multikulturalismus, eines gleichberechtigten Nebeneinander von einzelnen ethnischen und kulturellen Gruppen (vgl. Welsch 2010), entspricht. Die neue, im Laufe der 2000-er Jahren einsetzende Forschungswelle wird sichtbar an zahlreichen terminologischen Neuprägungen wie Polylingualität, Metrolingualität und Translingualität, die sich vom Leitbegriff der Multilingualität (multilingualism) explizit abgrenzen. Bevor im nächsten Abschnitt auf eine Einzeldiskussion eingegangen wird, sind einige ihnen gemeinsame theoretische Eckpunkte zusammenzufassen
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(vgl. Auer 2007, Canagarajah 2013, Heller 2007, Juffermans 2015, Makoni/Pennycook 2007, Otsuji/Pennycook 2010). Zu verzeichnen ist eine Abwendung von zwei zentralen Prämissen der bisherigen Mehrsprachigkeitsforschung bzw. Sprachwissenschaft schlechthin: Das in der deutschen Romantik verwurzelte Ideal einer festen Entsprechung zwischen Sprache, Volk und Territorium einerseits, die durch den Strukturalismus des 20. Jahrhunderts fachlich etablierte Vorstellung von Sprachen als in sich geschlossenen, klar voneinander abgegrenzten Einheiten andererseits. In ihrer Zusammenwirkung führen sie zum Begreifen von Einsprachigkeit als Normalfall, so dass Mehrsprachigkeit als ein Nebeneinander von Entitäten wie „Deutsch“ und „Englisch“ oder auch als „Mischung“ von Bestandteilen solcher Entitäten wahrgenommen wird. Aus Sicht der neueren GeMS-Forschung werden Einzelsprachen hingegen als sprachideologische Konstrukte verstanden, die erst durch Praktiken der sprachlichen Reflexion, des Sprechens über Sprache(n), hervorgebracht werden (Heller 2007, Mekoni/Pennycook 2007). In metasprachlichen Diskursen werden Grenzen zwischen Sprachen forciert und einzelne Äußerungen relativ zu diesen Grenzen bewertet. Beispiele sind der immer wieder geäußerte Vorstoß, Fremdsprachen auf deutschen Schulhöfen zu verbannen oder der Fall, dass ein iranischer Musiker während einer Aufführung in Deutschland sein Werk auf Englisch vorstellt und dabei von Mitgliedern des Publikums aufgefordert wird, „gefälligst Deutsch zu sprechen“.1 Solche Fälle zeigen, das die Reifizierung sprachideologischer Konstrukte zu vermeintlich „objektiven“ Grenzen reale Folgen im Alltag haben kann, und dass Mehrsprachigkeit stets von gesellschaftlichen Machtverhältnissen geprägt ist. Zurückgewiesen wird in der neueren Diskussion eine Mehrsprachigkeitsforschung, die sich (oft nur implizit) an der Sprachideologie des Nationalstaates (Auer 2007) orientiert, Einzelsprachen als „objektiv“ gegebene Größen annimmt und der Strukturbeschreibung von Sprachkontakt empirische Priorität einräumt. Sie wird abgelöst von einer Wende zu Praktiken des Sprechens im weitesten Sinn (also auch des Schreibens und Gebärdens) und von dem Versuch, gesellschaftliche Mehrsprachigkeit im Zusammenhang von sprachlichen Ressourcen, Praktiken und Ideologien zu denken. So plädiert Monica Heller (2007) für ein Verständnis von Sprache „as a set of resources which circulate in unequal ways in social networks and discursive spaces, and whose meaning and values are socially constructed within the constraints of social organizational processes, under specific historical conditions“ (Heller 2007, 2). Eine Neubestimmung des Gegenstands als Mehrsprachigkeit „von unten“ prägt beispielsweise das Konzept der Metrolingualität: „Rather than the policy-oriented,
1 Vgl. Süddeutsche (14.10.2010): http://www.sueddeutsche.de/karriere/deutschpflicht-auf-demschulhof-deutsch-macht-friedlich-1.1011661 sowie Kölner Stadt Anzeiger (01.03.16): http://www. ksta.de/kultur/konzert-in-der-koelner-philharmonie-abgebrochen--reden-sie-doch-gefaelligstdeutsch---23646344
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top-down approaches to multiculturalism that look at ethnic groups in terms of rights, entities and social groupings, the attempt here is to get at everyday practices [at] small-scale local encounters“ (Pennycook/Otsuji 2015, 9). Zentral ist dabei der analytische Schwenk von der Leitfrage der Sprachkontaktforschung („how distinct codes are switched and mixed“) hin zu einer sprecherorientierten Perspektive: „how language users manipulate the resources they have available to them“ (Otsuji/Pennycook 2010, 241). Die soziolinguistisch ausgerichtete GeMS unterscheidet sich sowohl vom klassifizierenden Gestus der sprachsoziologischen Mehrsprachigkeitsforschung als auch von der mikrolinguistisch-strukturellen Ausrichtung der Sprachkontaktforschung. Elemente aus interaktionaler Soziolinguistik und Ethnografie werden kombiniert, um den Umgang von Sprecherinnen und Sprechern mit heterogenen semiotischen Ressourcen in der Erreichung ihrer interaktionalen Ziele in komplexen sozialen Räumen festzuhalten. Schwerpunkte liegen auch auf der Bedeutung heterogener Ressourcen für soziale Identitäten und Beziehungen sowie der Spannung zwischen „policies“ und „practices“, also zwischen Praktiken des mehrsprachigen Kommunizierens und sprachpolitischen Richtlinien der Organisationen, in denen sie ausgetragen werden (Heller 2007, Pietikäinen/Piirainen-Marsh 2009). Das Interesse gilt dabei nicht nur Mustern der sozio-geografischen Verteilung von Sprachen, sondern auch flexiblen, fluiden, auch marginalen und unerwarteten Beziehungen zwischen Sprache, Raum und Gesellschaft. In diesem Zuge werden auch bislang kaum beachtete Randbereiche mehrsprachiger Praxis wie der informelle Erwerb kleinster Elemente einer Sprache und die sprachliche Grenzüberschreitung (language crossing, Quist/Jørgensen 2007) theoretisch und empirisch konturiert. Die Annahme, mehrsprachige Kommunikation setze vollständige Kompetenz in zwei oder mehreren Sprachen voraus, wird durch die neuere Forschung zurückgewiesen: „In translingual practice, one can adopt language resources from different communities without „full“ or „perfect“ competence in thjem“ (Canagarajah 2013, 10). Ein zentraler Moment der GeMS-Forschung ist die kritische Aufmerksamkeit auf das Verhältnis zwischen Sprache und Macht. Das Interesse daran wächst in dem Maße, in dem Mehrsprachigkeit nicht mehr als geordnetes Verhältnis zwischen Sprachen, Gruppen und Domänen begriffen wird, sondern als Grundlage und Ergebnis interaktionaler Prozesse der Machtaushandlung. In einer mehrsprachigen Gesellschaft drücken sich Machtverhältnisse u. a. darin aus, dass sprachliche Ressourcen asymmetrisch verteilt sind und der Zugang zu sozialem Gehör (voice, Blommaert 2005) von der Beherrschung ganz bestimmter Sprachregister abhängt. Ein solches Machtgefälle wird z. B. durch die fachliche wie alltägliche Privilegierung des „Muttersprachlers“ konstituiert. Ein Beispiel: Vielen nach Deutschland Zugezogenen dürfte z. B. das Kompliment: „Sie sprechen aber gut Deutsch!“ vertraut sein. Zwar mag es als Lob intendiert sein und auch so wahrgenommen werden, präsupponiert aber die unhinterfragte Macht des Sprechers, sprachliche Fertigkeiten des „Anderen“ aufgrund indexikaler Alteritätszeichen (z. B. Akzent, aber auch Nachname oder
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schlicht Aussehen) zu beurteilen. In der Reifizierung von Nationalsprachen sieht die neuere GeMS-Forschung die Grundlage für Praktiken der Ausgrenzung und Abwertung sprachlicher Fertigkeiten, die dem Ideal der perfekten Beherrschung einer in sich „abgeschlossenen“ Sprache nicht entsprechen. Aus eben diesem Grund werden auch scheinbar technisch-neutrale Termini wie „Mischsprachen“ oder „Sprachmischungen“ als ideologisch geprägt entlarvt. Damit gehören zum Gegenstandsbereich einer kritischen GeMS-Forschung nicht zuletzt auch die Performativität metasprachlicher Begriffe und die diskursive Macht von Linguistinnen und Linguisten, auf die institutionelle Auf- und Abwertung sprachlicher Praktiken einzuwirken. Schließlich sind es von der Sprachwissenschaft ausgehende Unterscheidungen, die den schulischen und letztlich den gesamtgesellschaftlichen Blick auf über sprachliche Kompetenzen prägen, darunter nicht zuletzt das Kompetenzideal des Muttersprachlers, der Blick auf Sprache als „Eigentum“ eines Volks, Metaphern des „Hybriden“ bzw. „Gemischten“. Teile der aktuellen Mehrsprachigkeitsforschung sind also ausgesprochen reflexiv bzw. selbstreferenziell, indem sie nicht nur wechselnde Konstellationen des Mehrsprachigen in der Gesellschaft, sondern auch eine Kritik der fachlichen und alltäglichen Begrifflichkeit anpeilen. Die Diskussion sollte erkennen lassen, warum und inwiefern hier tatsächlich von einem Paradigmenwechsel gesprochen werden kann – eine Wende von einer nationalsprachlich und strukturalistisch geprägten zu einer post-strukturalistischen Perspektive auf Mehrsprachigkeit. In großen Teilen der internationalen englischsprachigen Diskussion wird in diesem Zuge auch der Dachbegriff Multilingualität (multilingualism) zurückgewiesen und verschiedentlich abgelöst. Auch wenn hier (wie bei Busch 2013) der Dachbegriff Mehrsprachigkeit weiter verwendet wird, so ist er ausdrücklich im Licht dieser kritischen Diskussion zu betrachten.
3 Ausgewählte Konzepte und Zugänge Ein Schlüsselwort dieses Paradigmenwechsels ist Languaging, ein ins Deutsche noch nicht passend übersetzter Begriff, der in der europäischen Soziolinguistik mit dem dänischen Soziolinguisten Jens Normann Jørgensen verbunden ist, dessen Ursprung Ofelia García und Li Wei (2014) jedoch auf die biologische Kognitionstheorie und die Übersetzungswissenschaft zurückverfolgen. Der Begriff Languaging ist kein bloßes Synonym für „Sprachgebrauch“ bzw. „Sprache in Gebrauch“. Vielmehr bildet er einen Gegensatz zur Vorstellung, dass eine bestimmte Sprache „da“ ist und von Sprechern bloß zum „Gebrauch“ gebracht werden muss. Languaging konnotiert einen Blick auf Sprache als fortwährend entwickelte, permanent in der Entstehung begriffene Ressource der interaktionalen Sinnbildung. Erst durch Sprachlichkeit werden individuelle Kognition wie soziale Welt diskursiv konstruiert. Damit wird Languaging zum zentralen Begriff einer Mehrsprachigkeitsforschung, die nicht von Einzelsprachen
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ausgeht, sondern Sprachlichkeit als Praktik zwischen und über Einzelsprachen bzw. einzelnen Registern begreift und Grenzen zwischen Sprachen allenfalls als Ethnokategorien aus Sicht der Sprecher/innen behandelt (Canagarajah 2013). Der von Jørgensen geprägte Begriff der Polylingualität (Polylanguaging, poly-lingual languaging) überträgt das Languaging-Konzept auf multilinguale Verhältnisse, so wie diese bei Jugendlichen in multiethnischen urbanen Räumen zu beobachten sind (Jørgensen 2008, Jørgensen et al. 2011). Polylingualität wird verstanden als Dachbegriff für multilinguale Praktiken einerseits, normative Haltungen zum Gebrauch mehrerer Sprachen andererseits. Jørgensen entwickelt das Konzept durch eine Gegenüberstellung zu zwei anderen normativen Orientierungen zur Mehrsprachigkeit (Jørgensen et al. 2011, meine Übersetzung): Die Norm der doppelten (oder mehrfachen) Einsprachigkeit: Menschen, die zwei (oder mehr) Sprachen beherrschen, sollten zu jeder Zeit eine, und nur eine, Sprache verwenden und jede ihrer Sprachen auf einer Weise verwenden, die sich vom Gebrauch dieser Sprache unter Einsprachigen grundsätzlich nicht unterscheidet. Die bilinguale (oder multilinguale) Norm: Menschen, die zwei (oder mehr) Sprachen beherrschen, sollten zu jeder Zeit ihre Sprachkompetenz auf die Bedarfe und Möglichkeiten der jeweils laufenden Interaktion, einschließlich der Sprachfertigkeiten ihrer Gesprächspartner, anpassen. Die polylinguale Norm: Sprachverwender greifen zurück auf alle sprachlichen Elemente, die ihnen zur Verfügung stehen, um ihre kommunikativen Ziele möglichst gut zu erreichen, und zwar unabhängig davon, wie gut sie die betreffenden Sprachen kennen; dabei wissen Sprachverwender, und setzen dieses Wissen auch ein, dass einige dieser Elemente aus Sicht anderer Sprecher nicht zusammengehören.
Die Abfolge der drei Normorientierungen spiegelt gewissermaßen den gesellschaftlichen Einstellungswandel gegenüber Mehrsprachigkeit in den letzten Jahrzehnten wider, aber auch synchron können sie je nach Land bzw. Handlungsbereich unterschiedliche Geltung haben. Die Norm der doppelten Einsprachigkeit liegt der noch heute verbreiteten Vorstellung zugrunde, man könne eine andere Sprache nie so „perfekt“ beherrschen wie die eigene Muttersprache, sowie der Forderung, jeweils eine und nur eine Sprache zu gebrauchen. Die bilinguale Norm beruht auf der doppelten Prämisse einer gleichmäßig „vollständigen“ Beherrschung einzelner Sprachen einerseits, ihrer sauberen Trennung im Sprachgebrauch andererseits. Uriel Weinreich, der Pionier der Sprachkontaktforschung, brachte seine normative Vorstellung vom „idealen“ Bilingualen so zum Ausdruck: „[The ideal bilingual] switches from one language to the other according to appropriate changes in the speech situation (interlocutors, topics, etc.), but not in an unchanged speech situation, and certainly not within a single sentence“ (Weinreich 1953, 73). Verglichen damit weist die „polylinguale Norm“ ein emanzipatorisches Potenzial auf, sofern sie Praktiken des Umgangs mit Elementen aus verschiedenen Sprachen
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legitimiert, die „gegen den Strich“ vorherrschender Erwartungen gehen. Wer z. B. im türkischen Gemüseladen ein bestimmtes Nahrungsmittel mit einem türkischen Wort erfragt, ohne Sprecher des Türkischen zu sein, handelt im Sinne einer polylingualen Norm. Man denke auch an italienische Restaurants, deren Kellner italienische Begrüßungen und andere Gesprächsformeln verwenden, auch wenn sie nicht aus Italien stammen und das Italienische „eigentlich“ nicht beherrschen (Redder/Scarvaglieri 2013). Mit dem Konzept des polylingualen Sprechens werden solche Praktiken besser erfasst als in einem Zugang, in dem sie bereits forscherseitig als „unecht“ eingeschätzt werden. Nicht zuletzt verweist Jørgensens polylinguale Norm auf die sprach ideologische Basis aller sprachlichen Praktiken: Sprecher machen Gebrauch von ihrem soziolinguistischen Wissen, indem sie z. B. unterstellen, dass bestimmte Praktiken in bestimmten Kontexten unerwartet oder gar unerwünscht sind, und dieses Kalkül bildet die Basis für sprachliche Entscheidungen, die je nach Kontext als symbolischer Widerstand oder Aufmerksamkeitsgewinnung gedeutet werden. In diesem Lichte lässt sich z. B. das bekannte Werbeslogan der Berliner Stadtreinigung We kehr for you nicht bloß als „Sprachmischung“ betrachten, sondern als Ergebnis einer polylingualen kommunikativen Kompetenz bzw. leserseitiger Kompetenzerwartungen. Das von den australischen Soziolinguisten Amy Otsuji und Alastair Pennycook geprägte Konzept der Metrolingualität (metrolingualism) stellt die Großstadt als Raum gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit in den Mittelpunkt (Otsuji/Pennyccook 2010, Pennycook/Otsuji 2015). Ein Vorläufer ist das Konzept der Metroethnizität (Maher 2010). Darunter versteht Maher ein „soziales Spiel“, das eindeutige ethnische Zuordnungen unterwandert. Metro-ethnische Phänomene sind Praktiken des Umgangs mit ethnischen Identitäten und ihren semiotischen Signifikanten, die mit der Ästhetik der Transgression und der Verwischung herkömmlicher ethnischer Grenzen arbeiten. In Anlehnung daran entwickeln Otsuji und Pennyccook Metrolingualität als Dachbegriff für kreative sprachliche Praktiken, in denen kulturelle, geschichtliche, politische Grenzen überschritten werden. Sie ist “a product of modern and often urban interaction, describing the ways in which people of different and mixed background use, play with and negotiate identities through language“ (Otsuji/Pennycook 2010). Märkte, Gastronomie und Unternehmen stellen charakteristische Räume der Herausbildung solcher Interaktionsformen dar, in denen herkömmliche Vorstellungen davon, welcher Gruppe eine bestimmte Sprache „gehöre“, überwunden werden. Metrolinguale Kommunikation ist geprägt durch eine Abwechslung sprachlicher Ressourcen, die keiner fixen Entsprechung zwischen Sprache, Nation und Territorium folgt, sondern sich an situativ ausgehandelten Identitätsorientierungen und Interaktionspartnern ausrichtet. Metrolingualität bezeichnet also keine „neue Sprache“, kein systemhaftes Gebilde mit festen Grenzen und Merkmalen, sondern eine Art Remix, einen kontinuierlichen Misch-Prozess, in welchem die normative Erwartung eindeutiger Zuordnungen allenfalls sprachreflexiv-distanzierend zitiert wird. Der mit der kubanisch-amerikanischen Forscherin Ofélia García (2009) und dem bangladesisch-amerikanischen Linguisten Sureth Garanjanara (2013) verbun-
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dene Begriff der Translingualität (translanguaging) versteht sich als Dachbegriff für „multiple discourse practices in which bilinguals engage in order to make sense of their bilingual worlds“ García 2009, 45). Auf kognitiver Ebene setzt Translanguaging eine „dynamische Bilingualität“ voraus, bei der die beteiligten Sprachen ein einziges System mit integrierten Ressourcen bilden (García/Li 2014, 14). Allerdings geht es in der Translanguaging-Forschung nicht primär um eine empirische Überprüfung neurokognitiver Strukturen, sondern um sprachliche Praktiken, die vorwiegend in mehrsprachigen Bildungsräumen untersucht werden. Dabei bringt der Translingualitätsbegriff zwei neue Akzente ins Spiel: die Überwindung von Grenzen zwischen Modalitäten von Sprache bzw. Medialitäten von Kommunikation einerseits, den Aspekt der sprachlichen Reflexion als Bestandteil mehrsprachiger Praxis andererseits. Translinguale Praktiken führen verschiedene Ressourcen aus dem semiotischen Repertoire zusammen: Handlungen des Lesens und Schreibens, Notierens, Diskutierens, Singens usw., die mitunter mit unterschiedlichen Medien vollzogen werden, aber in der Verfolgung bestimmter interaktionaler Ziele miteinander verzahnt sind. Diese sequenzielle Verzahnung von Handlungen in unterschiedlichen Modalitäten gehärt zum Gegenstandsbereich einer translingualen Analyse (vgl. Lytra 2014). Der Aspekt der translingualen Reflexion kommt z. B. im Klassenzimmer dadurch zustande, dass SchülerInnen Fachbegriffe in ihren verschiedenen Sprachen einander erklären, so dass fachliches Verständnis und Lernen translingual vollzogen bzw. gefördert werden. Durch die Einbindung dieser beiden Aspekte deckt Translingualität eine weit größere Bandbreite an sprachlichen Praktiken ab als das Konzept des Code-Switching (García/Li 2014, 20 f.), darunter Praktiken des Übersetzens und Dolmetschens. Insgesamt ist Translanguaging als Dachbegriff zu verstehen, der auf sprachliche, semiotische, mediale und disziplinäre Grenzüberschreitungen abhebt und Verfahren der Vermittlung zwischen und in mehreren Sprachen in den Mittelpunkt rückt. Anders als die vorangehenden Begriffe ist Superdiversität kein linguistisches, sondern ein sozial-anthropologisches Konzept. Nach Steven Vertovec (2007) entwickelt sich im Zuge von weltweiten Migrationsbewegungen und digitalen Kommunikationstechnologien eine neue Größenordnung ethnisch-gesellschaftlicher Diversität, die zunächst in Großstädten sichtbar wird. Am Beispiel Londons arbeitet Vertovec verschiedene Faktoren heraus, die bei der Entstehung superdiverser Gesellschaften zusammenwirken: Herkunftsland bzw. -kultur, Migrationskanäle, Rechtsstatus der Migranten, ihr Humankapital und Zugang zum Arbeitsmarkt, Lokalität, Transnationalität und Reaktionen der lokalen Institutionen und der einheimischen Bevölkerung (Vertovec 2007, 1049). Dabei betont Vertovec, dass diese Faktoren heutzutage in einer (für Großbritannien bzw. Nord-West-Europa) noch nie dagewesenen Größenordnung und Verdichtung auftreten und miteinander interagieren, mit dem Ergebnis, dass früher überschaubare Strukturen migrationsbedingter Diversität destabilisiert werden. Bis auf die Feststellung, dass die Anzahl der in der superdiversen Metropole London gesprochenen Sprachen rapide steigt, geht Vertovec kaum auf sprachliche Aspekte ein. Trotzdem sind seine Ideen unter Soziolinguisten auf fruchtbaren Boden
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gestoßen. So stellen Blommaert/Rampton (2011) fest, dass gesellschaftliche Superdiversität mit einem Verlust an der Vorhersagbarkeit des Sprachverhaltens einhergeht. Die großflächigen Muster der Zuordnung von Sprachen an Gruppen und Territorien, die im Mittelpunkt der älteren Mehrsprachigkeitsforschung stehen und eine Grundlage für sprachpolitische Entscheidungen bilden, verlieren in einer globalisierten Welt an Geltung. Die Autoren entwerfen eine Frageliste für eine „Linguistik der Superdiversität“, die folgende Ausgangspunkte umfasst: Die Verwendung und Funktion verschiedener Sprachen im urbanen Raum sind nicht nach starren Zuordnungen von Einzelsprachen zu sozialen Gruppen oder Domänen vorwegzunehmen, sondern ethnografisch zu untersuchen. Dabei ist zu fragen, wie einzelne Äußerungen und Texte im sozialen Raum sprachliche Spuren der transnationalen Wanderung ihrer Autor/ innen bzw. Sprecher/innen mit sich tragen und wie Kommunikation unter Bedingungen von nicht-geteiltem Hintergrundwissen gelingen kann bzw. tatsächlich gelingt. Ferner sind Konsequenzen der gesellschaftlichen Superdiversität für die sprachliche Sozialisation von Menschen und die Entwicklung neuer indexikaler Ordnungen in superdiversen Räumen zu untersuchen (Blommaert/Rampton 2011). Gute Beispiele liefert hier die Untersuchung von Dirim/Auer (2004) über den Gebrauch des Türkischen in Hamburg. Sie zeigt, wie in bestimmten Stadtteilen Hamburgs Elemente des Türkischen zum alltäglichen sprachlichen Repertoire von Nicht-Türkischstämmigen gehören. Auch das in den 1970-er Jahren von John Gumperz eingeführte Konzept des Sprachrepertoires gewinnt in der neuen GeMS an Bedeutung. Unter Sprachrepertoire versteht man die Gesamtheit der sprachlichen Wahlmöglichkeiten eines Individuums bzw. einer Sprachgemeinschaft (Gumperz 1982, Pütz 2004). Der Repertoirebegriff galt in erster Linie der Beschreibung der in einer Gemeinschaft gemeinsam geteilten sprachlichen Ressourcen und der konventionalisierten Wahl zwischen ihnen, etwa im situativen Code-Switching. Neuere Zugänge stellen das Individuum in den Mittelpunkt, und anstelle der gemeinschaftlichen Beständigkeit sprachlicher Selektionen aus einem Repertoire werden die Flexibilität und Veränderlichkeit sprachlicher Repertoires sowie die individuellen Lernprozesse, die zu ihrer Erweiterung bzw. Umstrukturierung führen, hervorgehoben (vgl. Blommaert/Backus 2012, Busch 2012, 2013, 2014, Androutsopoulos 2014). Im Zuge globaler Mobilität verändern sich sprachliche Repertoires mit den transnationalen Wanderungen der Sprecher/innen und ihrer Nutzung digitaler Kommunikationstechnologien. Daraus ergeben sich schnellere, mitunter nur kurzlebige Veränderungen im Repertoire. Einem Repertoire können auch einzelne (v. a. lexikalische) Sprachmittel oder gar bloße rezeptive Kenntnisse einer Sprache angehören. Bei solchen stark asymmetrischen Verteilungen spricht man von „verkürzten“ bzw. „abgeschnittenen“ Repertoires (Blommaert/Collins/Slembrouk 2005, Blommaert/Backus 2012). Insgesamt wird das Verhältnis von Sprachrepertoires, Mobilität und Kommunikationstechnologien neu gewichtet und konturiert, nicht zuletzt mit Blick auf Sprachlernprozesse jenseits der institutionellen Sprachvermittlung (Androutsopoulos 2014, Busch 2013).
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Die Hinwendung zu individuellen Sprachbiografien vor der Folie gesellschaftlicher Machtverhältnisse kommt auch beim neueren, in der europäischen Minderheitensprachforschung entstandenen Begriff der Neusprecher zum Tragen. Neusprecher (new speakers) werden definiert als Erwachsene, die sich ihren Weg in eine für sie neue Sprache anbahnen (O’Rourke/Pujolar 2015). Der Gegenstandsbereich beschränkte sich zunächst auf autochthone europäische Minderheitensprachen, die durch Zugezogene bzw. institutionelle Unterstützung neue Sprecher gewinnen. Er wird tendenziell erweitert auf Menschen, die durch Mobilität und Flucht Zuzug zu einem Land finden und sich Zugang zu den dort vorherrschenden Repertoires verschaffen. Diese Forschung hat mit den bereits skizzierten Zugängen das Interesse an kommunikativen Praktiken und biografischen Entwicklungen gemein, außerdem das Bestreben, das unhinterfragt privilegierte Konstrukt des Muttersprachlers zu hinterfragen. Ein konkreter Forschungsgegenstand sind so genannte „Mudas“, d. h. Wendepunkte in der Sprachbiografie (Pujolar 2015): Wie wird man als Erwachsener zum Sprecher einer neuen Sprache? Welche Praktiken und Gefühle formen die Position der Sprecherschaft? Welche biografischen Momente sind für die Hinwendung zu einer neuen Sprache bedeutsam? Nicht Kompetenzmessungen vor dem Ideal „nativer“ Sprachfertigkeiten stehen dabei im Vordergrund, sondern Wege des Sich-Vertrautmachens mit bzw. Sich-Zurechtfindens in einer neuen Sprache im Erwachsenenalter.
4 Methoden der gesellschaftlichen Mehrsprachigkeitsforschung Mit der Wende von großflächigen Tableaus zu individuellen Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit und vom Sprachkontakt zu Praktiken des mehrsprachigen Alltags gehen methodische Umorientierungen einher, die insgesamt zu einer stärkeren qualitativethnografischen Ausrichtung der soziolinguistischen GeMS führen (vgl. Beiträge in Gardner/Martin-Jones 2012, Pavlenko/Blackledge 2004). Statistisch operierende „top-down“-Zugänge, die Fragen der individuellen Kompetenz oder sprachstrukturellen Phänomenen den Vorrang geben und sprachlichen Praktiken wenig Beachtung schenken, werden mehrheitlich abgelehnt. In weiten Teilen der referierten Forschung ist die linguistische Ethnographie die Methode der Wahl wenn es darum geht, Sprecherinnen und ihre Praktiken im Alltag zu verfolgen und ihre eigenen Perspektiven auf Mehrsprachigkeit als fortwährenden Prozess der Selektion, Kombination, Aushandlung sprachlicher Mittel zur Erreichung interaktionaler Ziele zu verstehen. Mit Pennycook / Otsuji (2015, 13) gesprochen: „To understand multilingualism from below, we need sociolinguistic ethnographies of language in use that include local understandings of language and do not impose pregiven understandings of language and multilingualism. From this perspective, then, multilingualism from below is about how people get along“.
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Typisch für linguistisch-ethnographische Zugänge ist die Erhebung unterschiedlicher, als komplementär gedachter Datensätze unter Einbeziehung der sozialen Akteure und ihrer Perspektive. Darin können die Wende zu „Mixed methods“ der Datenerhebung und -analyse und das gesteigerte Interesse für Geschriebene-Sprache-Daten als Kennzeichen der neuen GeMS-Forschung betrachtet werden, beispielsweise in der Untersuchung von Sprachlandschaften, Online-Kommunikation, Mehrsprachigkeit am Arbeitsplatz oder Kommunikation im Unterricht (vgl. Abs. 5 sowie Weber/De Saint Georges 2012, Sebba 2012). Die Orientierung zu Geschriebene-Sprache-Daten findet Impulse in der größtenteils sprachdidaktisch verorteten Forschung zur Multiliteralität bzw. Mehrschriftlichkeit (Martin-Jones/Jones 2001, Riehl 2014). Allerdings fokussiert die GeMS-Forschung nicht nur, ja nicht primär den Erwerb von Mehrschriftlichkeit in institutionellen Kontexten, sondern untersucht schriftliche Praktiken in einer Vielzahl von Räumen und Sprachen, darunter solchen ohne orthographische Kodifizierung (Blommaert 2008, Juffermans 2015). Teil des analytischen Methoden-Mix sind qualitative Mikroanalysen nach dem Languaging-Zuagang. In einer Languaging-Analyse nach Jørgensen sind die Analyseeinheiten weder „ganze“ Sprachen noch vorab definierte Strukturen (z. B. Sätze), sondern semiotische Elemente (features), die indexikale Assoziationen zu ideologisch konstruierten „Sprachen“ bzw. sozialen Gruppen oder Aktivitäten aufweisen können. So zeigen Jørgensen et al. (2011) an gesprochensprachlichen und digitalgeschriebenen Beispielen wie schwierig es sein kann, polylinguale Äußerungen in distinkte „Sprachen“ zu segmentieren (s. auch Auer 2007). Mehrsprachige Äußerungen zeichnen sich ihnen zufolge durch eine Kombination und Überlagerung von Elementen unterschiedlicher Sprachen, die unerwartete Kookkurrenzen aufweisen und mehrfache soziale Assoziationen auslösen können. In einem polylingualen Zugang geht es analytisch nicht darum, einzelne „Sprachen“ in einer Äußerung eindeutig zu bestimmen, sondern die indexikalen Polyvalenzen einzelner Sprachmittel zu erkennen, ihre Verbindungen und Überlagerungen im Diskurs aufzuzeigen und auch danach zu fragen, über welche Wege diese Sprachmittel an neue Sprechergruppen kommen und wie polylinguale Momente interaktional ausgehandelt werden. Was dabei alles als „features“ im Sinne Jørgensens aufzufassen ist, bleibt allerdings recht vage. Methodisch stellt sich außerdem die Frage, ob ein Languaging-Zugang Sprachdeskriptoren wie „Deutsch“ und „Englisch“ als Teil der wissenschaftlichen Metasprache völlig umgehen kann. Auch Verfechter von Languaging-Zugängen räumen ein, dass dies in der praktischen Datenarbeit unmöglich ist (Canagarajah 2013, Juffermans 2015, Androutsopoulos et al. 2013). Vielmehr geht es darum, sich ihres epistemologischen Status als sprachideologische Konstrukte bewusst zu bleiben und nicht in eine fachliche Reifizierung distinkter Sprachen zurückzufallen. Qualitative Analysen interaktionaler oder diskursanalytischer Prägung werden in der neueren GeMS-Forschung mit quantitativen, bisweilen auch psycholinguistischexperimentellen Verfahren kombiniert. Anschauliche Beispiele für einen solchen Methoden-Mix bietet die Repertoireforschung. Hier wird die introspektive Einschät-
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zung individueller Sprachressourcen nach Fertigkeitsgrad, Formalitätsgrad und Modalität (vgl. Blommaert/Backus 2012) in zwei Richtungen erweitert: Erstens auf narrative sprachbiografische Interviews (Busch 2012, Pennycook/Otsuji 2015), die oft kombiniert werden mit Sprachporträts, die ProbandInnen in vorgelegte Körperschablonen hinein malen und im anschließenden Interview erläutern. Busch (2012, 2013), die diese in der Sprachdidaktik etablierte Methode popularisiert hat, zeigt, wie sich mittels Sprachporträts tiefe Einblicke in subjektiv erlebte Verbindungen von Sprachen und Identitäten in der individuellen Sprachgeschichte gewinnen lassen. Zweitens, indem Repertoires durch eine quantitative Analyse der individuell gewählten Sprachen über längere Zeiträume hinweg rekonstruiert werden. Androutsopoulos et al. (2013) leisten dies für Beiträge im sozialen Netzwerk Facebook und zeigen, dass sprachliche Praktiken in sozialen Netzwerken nicht einfach ein vorhandenes Repertoire abbilden, sondern dieses auch aktiv verändern, etwa wenn Sprecher infolge von Mobilität sich eine neue Sprache zu eigen machen (vgl. auch Androutsopoulos 2014, Beiträge in Androutsopoulos/Juffermans 2014). Ein anderes Verfahren sind Tagebucherhebungen, die neben Sprachen auch Modalitäten und Medien erfassen. De Bres/Franziskus (2014) dokumentieren an einer solchen Studie mit Studierenden der Universität Luxemburg die zahlreichen, auch unerwarteten Verbindungen von Sprachen im Alltag. Auch das von Li Wei (2011) vorgeschlagene Verfahren der „Momentanalye“ (Moment analysis) hat zum Ziel, translinguale Praktiken über Modalitäten und Modalitäten sprachlicher Kommunikation hinweg zu erfassen. Das Verfahren fokussiert auf „Momente“, definiert als „spontaneous, impromptu and momentary actions and performances of the individual“ (Li Wei 2011, 1224). Im Mittelpunkt stehen dabei Handlungen bzw. Ereignisse mit besonderer Bedeutung für die beteiligten Menschen und Konsequenzen für ihre Folgehandlungen: Das Verfahren „aims to capture what appears to be spur-of- the-moment actions that are semiotically highly significant to the actors and their subsequent actions, what prompted such actions and the consequences of such moments including the reactions by other people“ (ebd. 1222). Freilich lassen sich solche „Momente“ nur auf Basis ethnografischen Wissens identifizieren, und ihre Analyse schließt Folgehandlungen mit ein, um zu zeigen, welche interaktionale Bedeutung einzelnen Momenten von den Beteiligten beigemessen wird. Innovativ bei diesem Zugang ist die Bestrebung, die Abwechslung von Sprachen im Fluss des Alltags, über Situationen, Modalitäten und Medien hinweg, festzuhalten.
5 Räume gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit Mehrsprachigkeit wird in kommunikativen Räumen gelebt, verhandelt und bewertet. Blommaert/Collins/Slembrouk (2005), die die Begriffe Raum (space) und Größenordnung (scale) in die soziolinguistische Mehrsprachigkeitsforschung eingeführt haben,
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verstehen unter Raum nicht bloß einen Schauplatz (setting) für kommunikative Aktivitäten, sondern ein dynamisches Gefüge von Rahmenbedingungen, das semiotische Praktiken sowohl beschränkt als auch ermöglicht. Anders als der Domänenbegriff (Werlen 2004) hebt der Raumbegriff auf ein Wechselspiel zwischen Handlungen und ihren Rahmenbedingungen ab. Räume sind sowohl strukturierende Determinanten gesellschaftlichen Handelns als auch Ergebnisse solchen Handelns. Dabei können Räume auf unterschiedlichen Größenordnungen geprägt sein und unterschiedliche lokale, aber auch global reichende Bindungen aufweisen (vgl. auch Busch 2013, 135 ff.). Ein türkischer Gemüseladen in einer deutschen Großstadt ist z. B. ein multi- und translokal geprägter Raum, dessen Praktiken mindestens zwei normative Zentren in Kontakt zueinander bringen. Demgegenüber ist ein deutsches gymnasiales Klassenzimmer ein monozentrischer, nationalsprachlich geprägter Raum, auch wenn die Repertoires der beteiligten Akteure weitere Möglichkeiten mehrsprachiger Verständigung eröffnen. Je nach Raum werden sprachliche Ressourcen anders bewertet, Kompetenzen anders eingeschätzt: „spaces are characterized by sets of norms and expectations about communicative behaviour – orders of indexicality.“ (Blommaert et al. 2005, 203). Raum wird damit zu einer Schlüsselkategorie einer dynamischen Mehrsprachigkeitsanalyse, die nicht auf eine Aufstellung von Korrespondenzen zwischen Sprachwahl und Handlungsfeld beschränkt bleibt, sondern auch Bewegungen von Sprechern und Sprachen mit einschließt. Akteure betreten unterschiedliche Räume, handeln nach den dort geltenden Ordnungen, prägen und verändern diese handelnd: „it is important to see where precisely the trajectory starts and where it ends, across which spaces flows occur, and what particular spaces are connected in networks, knowing that the spaces themselves have an influence on what people can do and can become in them.“ (ebd.).
5.1 Kommunikation in Organisationen Ein Kennzeichen der neueren Mehrsprachigkeitsforschung ist ihre verstärkte Hinwendung zu Institutionen bzw. Organisationen, die mit qualitativ-ethnografischen Verfahren als Räume mehrsprachlicher Praktiken beforscht werden. Eine Auswahl umfasst mindestens folgende Räume (vgl. auch die Sammelbände Meyer/Apfelbaum 2010, Angouri 2014): – Märkte und Supermärkte (Pennycook/Otsuji 2015, Otsuji/Pennycook 2010, Franziskus/Gilles 2012) – Gastronomie und Einzelhandel (Pennycook/Otsuji 2015, Redder/Scarvaglieri 2013) – Migrantische Call-Shops (Sabate i Dalmau 2014) – Flughäfen (Cadler/Mar-Molinero 2014) – Multinationale Konzerne (Angouri/Miglbauer 2014)
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– Krankenhäuser und andere Einrichtungen der Gesundheitsversorgung (Bührig/ Meyer 2004, Mondada 2007, Moyer 2011) – Seniorenheime (Pauli et al. 2013) – Bildungseinrichtungen der sekundären und tertiären Ebene, einschließlich des Sprachunterrichts für Minderheitengruppen (Lytra/Martin 2009, Busch 2014, Haberland/Lønsmann/Preisler 2013, Juffermans 2015) Für diese Schwerpunktsetzung sind mehrere Beweggründe nachvollziehbar: Generell sind große Teile von sprachlicher Interaktion im spätmodernen Alltag durch Institutionen bzw. Organisationen vorstrukturiert. Das gilt auch für Praktiken, die zunächst einen informell-ungezwungenen Anschein haben, beispielsweise Gespräche im Café oder Diskussionen auf Facebook. (Androutsopoulos et al. 2013) Auch der öffentliche Raum der Stadt ist institutionell geregelt, was sich nicht zuletzt in der amtlichen Gestaltung der sprachlichen Landschaft niederschlägt (vgl. Abs. 5.2). Wichtig ist ferner, dass im Zuge der gesellschaftlichen Superdiversität keine öffentliche bzw. privatwirtschaftliche Einrichtung gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit gänzlich unberührt bleibt, so dass die tatsächlichen sprachlichen Praktiken am Arbeitsplatz eine Sprachenvielfalt gewinnen, die mit der Sprachpolitik der jeweiligen Organisation bzw. Institution vielfach nicht übereinstimmt. In der Gesundheitsversorgung gibt es einen wachsenden Bedarf an Vermittlungsleistungen für anderssprachige Klienten, der in der Personalstruktur nicht abgebildet wird (Pauli et al. 2013, Meyer/Apfelbaum 2010). In global agierenden deutschen Konzernen ist Englisch die organisationsinterne Verkehrssprache, im mündlichen Austausch wird aber auch Deutsch gesprochen. Hier stellt sich mit dem Stichwort „policies and practices“ die Frage, wie nationalstaatliche Organisationen auf mehrsprachige Bedarfe und Praktiken vorbereitet sind (Moyer 2011). Unter „policing“ versteht man dabei aus der Praxis heraus wachsende Regelungen, die nicht explizit festgehalten sind, aber den kommunikativen Umgang in einer Organisation vereinheitlichen und erwartbar machen (Pitikäinen/ Piirainen-Marsh 2009). Ein Ertrag dieser Forschung ist die Rekonstruktion von Verfahren mehrsprachiger Kommunikation. Dazu gehören: – Techniken und Einsatzorte des informellen Dolmetschens, z. B. im Krankenhaus (Bührig/Meyer 2004) oder im Seniorenheim (Pauli et al. 2013); – Praktiken der rezeptiven Mehrsprachigkeit (lingua receptiva, ten Thije/Rehbein 2013), wobei die Interaktionspartner in ihrer jeweils bevorzugten Sprache sprechen und die vom Partner gewählte Sprache verstehen, wie das routinemäßig im skandinavischen Sprachraum geschieht; – Praktiken des aside talk, des dyadischen Wechsels in eine gemeinsame Sprache auf einem kommunikativen Nebenschauplatz am Rande einer größeren Aktivität, z. B. einer Teambesprechung oder Redaktionssitzung, die in einer anderen Sprache geführt wird (Angouri/Miglbauer 2014);
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– Code-Switching als kommunikative Ressource (Holmes/Stubbe 2004), beispielsweise in der Forschung von Mondada (2007), wo Code-Switching das wichtigste Mittel von Ärzten darstellt, um Beteiligungsrollen ihrer Gesprächspartner (Mitglieder des Operationsteams einerseits, per Videokonferenz zugeschaltete Studierende andererseits) voneinander zu unterscheiden. – Techniken der translingualen Verständigung bei Sprechern mit wenig oder kaum überlappenden Sprachrepertoires, beispielsweise in Luxemburgischen Supermärkten, an denen Arbeitskräfte aus Frankreich und Deutschland zusammenarbeiten und sich verständigen müssen, was v. a. durch einen pragmatisch-interaktionalen Schwerpunkt auf einzelne Inhaltswörter gelingt (Franziskus/Gilles 2012). Eine (in der Forschungsliteratur noch ausstehende) Systematisierung dieser Praktiken verspricht Einsichten in die Art und Weise, wie Mehrsprachigkeit unter den komplexen institutionellen und medialen Rahmenbedingungen der professionellen Kommunikation funktioniert. Es geht weder um eine ausschließlich formorientierte Beschreibung von Code-Switching (Fokus auf Sprachkontakt) noch darum, einzelne Institutionen auf die in ihnen legitimen Sprachen zu reduzieren (Fokus auf Sprachpolitik), sondern aufzudecken, durch welche Diskursstrategien Verständigung in heterogenen Räumen erzielt wird. In diese Fragestellung sind nicht zuletzt die transmodalen und transmedialen Vorgänge von Kommunikation am Arbeitsplatz, mit ihren je spezifischen Verhältnissen von Genres, Interaktionskonstellationen und Kommunikationsformen, zu integrieren.
5.2 Mehrsprachigkeit in der Stadt Schon seit Anbeginn der modernen Soziologie gilt die Stadt als jener soziale Raum, der die Ausdifferenzierung von Sozialwelten mit ihren jeweils distinkten Lebensweisen genauso ermöglicht wie die Begegnung von Vertretern unterschiedlicher Lebenswelten. Großstädte sind Zufluchts- und Konzentrationsorte für Migranten und Gelenkstellen in der transnationalen Vernetzung diasporischer Populationen. Aus sprachlicher Perspektive wird die Großstadt zum Schauplatz der parallelen Existenz zahlreicher Sprachen (Ehlich 2011, Mackey 2005), welche im jeweils eigenen Land oft den Status einer Amtssprache oder offiziellen Sprache haben, in einer fremden Großstadt aber als Minderheiten- bzw. Migrantensprache fungieren. Dieses Muster der parallelen Diversität hat das Nachdenken über Mehrsprachigkeit in der Stadt lange Zeit geprägt, darin wird die konzeptionelle Parallele zwischen Multilingualität und Multikulturalität gut erkennbar. Für die aktuelle Mehrsprachigkeitsforschung ist der urbane Raum jedoch gerade auch für sein Potenzial bedeutsam, über eine parallele Diversität hinausgehende Begegnungen zu ermöglichen, die sich auf die Ausdifferenzierung mehrsprachiger
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Repertoires und die Erprobung neuer kommunikativer Praktiken jenseits normativer Sprache-Nation-Entsprechungen auswirken können. Solche überschreitende Momente fokussieren das Konzept der Metrolingualität und die Diskussion um Superdiversität. So lässt sich beispielsweise in Hamburg beobachten, dass Ghanaer muslimischen Glaubens türkische bzw. arabische Wörter lernen, um in der türkischen Schlachterei ihres Viertels Halal-Fleisch bestellen zu können.2 Selbst wenn in städtischen Interaktionen Deutsch die dominante Kommunikationssprache darstellt, spielen Elemente aus anderen Sprachen eine teils informationsorientierte, teils identitätsstiftende Rolle. Allerdings sind Städte neben der kreativen Überwindung sprachlicher Grenzen auch durch neue Dynamiken der Exklusion gekennzeichnet (vgl. Busch 2013, 80 ff.). Beispielsweise sind Migrantinnen und Migranten bei der Wohnungssuche in einer Stadt wie Hamburg mit großen Problemen und teils rassistischen Stereotypen konfrontiert (Breckner et al. 2013), was nicht zuletzt auf die spezifischen Ressourcen des Deutschen in ihrem Repertoire zurückgeht, sofern sie sich in einem Markt behaupten müssen, in dem bestimmte Register des Deutschen valorisiert, andere stigmatisiert werden. Ein Ausweg kann dabei die Inanspruchnahme von Dienstleistungen in englischer oder arabischer Sprache, sofern sie von ethnisch spezialisierten Maklern angeboten werden. Gesellschaftliche Superdiversität hat eine Zunahme an multilingualer Komplexität zu Folge, bei der das symbolische Kapital sprachlicher Ressourcen mit der Ausdifferenzierung der urbanen Dienstleistungsökonomie zusammenhängt. Ein wichtiges Teilgebiet der neueren GeMS-Forschung ist die Linguistic landscapes-Forschung (Shohamy/Gorter 2009, Juffermans 2015, Pappenhagen/Redder/ Scarvaglieri 2013, Weber/Horner 2012,). Die LL-Forschung fragt danach, wie sprachliche Vielfalt den öffentlichen Raum konstituiert. Ausgangspunkt war die Hypothese, dass die ethnolinguistische Vitalität einer Sprachminderheit daran bestimmt werden kann, wie stark ihre Sprache im öffentlichen Raum präsent ist. Frühe Forschungsarbeiten konzentrieren sich auf die Untersuchung von Sprachflächen im öffentlichen Raum, typische Analysegegenstände sind Straßenschilder, Ladenschilder, Plakate, Beschilderung in Flughäfen und auf Bahnhöfen usw. Die öffentliche Sprachlandschaft wird als Ergebnis der Zusammenwirkung amtlicher und privat-kommerzieller Schilder begriffen. Konkrete Analysefragen sind u. a. welche Sprache wie oft in den dokumentierten Schildern verwendet wird, ob es sich um amtliche oder kommerzielle Schilder handelt, ob die beteiligten Sprachen parallel (d. h. propositional sich wiederholend) oder komplementär gesetzt und wie sie durch Mittel der Typografie und Farbgebung voneinander unterschieden werden. Im Vergleich zwischen Bezirken einer Stadt bzw. ganzen Städten miteinander werden auf dieser Basis Schlüsse gezogen über die Dominanzverhältnisse zwischen lokalen, nationalstaatlichen und globalen Sprachen.
2 Das Beispiel ist Kasper Juffermans (Luxemburg) zu verdanken.
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Die inzwischen in zahlreichen Städten in der ganzen Welt durchgeführte LLForschung operierte zunächst durch photographische Dokumentation und Schilderanalyse. Das Interesse galt eher großflächigen Mustern der Sprachenverteilung in Bezirken, wobei die Forschenden die zu vergleichenden Bezirke nach sozio-ökonomischen Indikatoren unterscheiden, die Sprachen auf Schildern nach eigenen Kriterien kodieren und zählen. In der Weiterentwicklung gewinnt die LL-Forschung ein stärkeres ethnografisches Element, indem z. B. Anwohner und Ladeninhaber einbezogen werden, die Forschenden durch ihr Stadtteil führen und ihnen die sprachliche Landschaft durch die Augen der Anwohner nahe bringen. Zu verzeichnen ist eine Loslösung von der Kodierung und Zählung, eine Orientierung an der Materialität, Multimodalität und Platzierung von Artefakten im Raum (s. Beiträge in Shohamy/ Gorter 2009). Kategorien für eine feinere semiotische Analyse von ortsgebundenen Zeichen im öffentlichen Raum schlägt Auer (2010) vor: Granularität (wie der Grad des Details auf Schildern verschiedene Interaktionsabstände definiert), Materialität (wie die Beschaffenheit eines Schildes auf seine institutionelle Autorität verweist) und Adressivität (wie Schilder verschiedene Adressatentypen mit unterschiedlichen Handlungsrollen definieren).
5.3 Vernetzte Mehrsprachigkeit Mit der globalen Ausbreitung digitaler Kommunikationsformen in den letzten zwanzig Jahren hat sich auch mehrsprachige Kommunikation online als Praktik bzw. Forschungsgegenstand etabliert. Große Teile dieser Forschung fragen nach Erscheinungsformen von Code-Switching im Netz und arbeiten in Anlehnung an vorwiegend handlungsfunktionale Ansätze aus der interaktional-soziolinguistischen Forschung (vgl. Androutsopoulos 2013). Im Überblick zeigt sich dabei, dass alle typischen Diskursfunktionen des konversationellen Code-Switching auch in digital-sprachlichen Daten aus Foren, Chats oder Emails belegt werden können, ihre genaue Ausprägung variiert dabei nach virtueller Gemeinschaft, Öffentlichkeitsgrad und digitaler Kommunikationsform, insbesondere mit Blick auf Synchronität. Allerdings lässt diese Forschung auch erkennen, dass Code-Switching online nicht auf ein Abbild konversationell-gesprochener Mehrsprachigkeit reduziert werden kann und sich daher durch eine direkte Übertragung von Modellen, die zur Beschreibung gesprochener Interaktion entstanden sind, nicht restlos beschreiben lässt. Androutsopoulos (2013) arbeitet zwei Faktoren fest, die zu besonderen Ausprägungen von Mehrsprachigkeit online führen: Schriftsprachlichkeit und Planung. Die in der digitalen Kommunikation verfügbaren Planungsmöglichkeiten führen beispielsweise dazu, dass einzelne Beiträge mehrsprachig zusammengesetzt werden, etwa um in einem Beitrag auf mehrere vorausgehende Beiträge zu reagieren. Dabei kann Variation in der Schreibweise, ganz im Sinne eines translingualen Zugangs, als zusätzliches Kontextualisierungsmittel eingesetzt werden, etwa um soziale Stilisierungen oder Sprachspiele zu gestalten. Mehr-
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sprachigkeit online kann also nicht als bloßes Abbild mehrsprachiger Mündlichkeit verstanden werden, sondern als Rekontextualisierung sprachlicher Repertoires und Praktiken unter den Rahmenbedingungen digitaler Kommunikation. Diese Analyserichtung entwickeln Androutsopoulos et al. (2013) weiter mit dem Dachbegriff der vernetzten Mehrsprachigkeit, der drei Rahmenbedingungen für mehrsprachige Kommunikation in sozialen Netzwerken hervorhebt: Digitale Schriftlichkeit, Rückgriff auf semiotische Netzressourcen und Orientierung an vernetzten Publika (vgl. auch Androutsopoulos 2015). Eine andere Stoßrichtung entwickelt sich im Kontext der soziolinguistischen Superdiversitätsforschung. Die geschichtliche Zusammenwirkung von Globalisierung und Digitalisierung führte zu einer Aneignung digitaler Kommunikationstechnologien bei MigrantInnen und transnational mobilen Menschen bzw. Netzwerken (Blommaert/Rampton 2011). Die durch Online-Kommunikation bewirkte Zerdehnung sprachlicher Interaktionen über Zeit- und Raumgrenzen hinweg leistet hier eine entscheidende Unterstützung gesellschaftlicher Mobilität. Wichtig ist hierbei, dass digitale Kommunikationstechnologien nicht als bloße Hilfsmittel, sondern überhaupt erst als Ermöglicher gesellschaftlicher Superdiversität betrachtet werden (Androutsopoulos/ Juffermans 2014). Aus dieser Perspektive sind in gegenwärtigen sozialen Medien drei Ausprägungen digitaler Superdiversität zu verzeichnen (vgl. Beiträge in Androutsopoulos/Juffermans 2014). Erstens zeigt sich auch hier die aus urbanen Räumen bekannte Offenheit der Sprachwahl. In vielen digitalen Netzwerken ist es unmöglich zu bestimmen, welche Sprachen innerhalb eines Kommentarstroms überhaupt noch aufkommen werden. Ein zweiter Aspekt ist die beschleunigte globale Zirkulation semiotischer Ressourcen. Drittens eröffnen sich neue Möglichkeiten der translingualen Auseinandersetzung mit Sprache und Identität durch semiotisch-mediale Mittel. Ein Beispiel sind die phonetischen Synchronisationen, die in der Netzkultur unter dem Stichwort „Buffalaxed“, benannt nach dem ersten weltweit populären Video dieser Art, bekannt sind (Leppänen/Häkkinen 2011). Dabei werden fremdsprachige Videos mit ähnlich klingenden, aber semantisch absurden Entsprechungen untertitelt, wobei auch interkulturelle Stereotype aufgegriffen werden. Zuordnungen von Sprachen zu ethnischen Gruppen bzw. Identitäten werden in digitalen Kommunikationsräumen weniger eindeutig, kontextspezifischer und offen für metasprachliche Reflexion und Aushandlung. Androutsopoulos (2006) untersucht Ethno-Portale in Deutschland als Räume, in denen eine eindeutige Entsprechung zwischen Herkunftssprache und ethnischer Identität nicht aufrechtzuerhalten ist, sondern Sprachwechsel und -mischung werden interaktionsspezifisch flexibel eingesetzt, um verschiedene diskursiv relevante Identitäten zu bejahen oder zu verneinen. Es ist also nicht so, dass z. B. eine deutsch-griechische Identität immer nur durch die griechische Sprache zum Ausdruck gebracht wird, manchmal geschieht dies ausgerechnet durch Code-Switching. In anderen Online-Räumen ist jedoch zu beobachten, dass die komplexen mehrsprachigen Praktiken des transnational-migrantischen Alltags durch weitgehende Einheitlichkeit abgelöst werden. Im senegale-
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sischen Migrantenportal Seneweb (McLaughlin 2014) werden Französisch und Wolof vorgezogen, andere afrikanische Sprachen sowie gemischtes Sprechen bleiben hingegen unsichtbar. Es ist also nicht so, dass heterogene sprachliche Repertoires direkt in der digitalen Kommunikation abgebildet werden. Im Gegenteil werden in virtuellen Räumen spezifische sprachliche Regimes (Busch 2013) aufgestellt, die mitunter eine Rückbesinnung auf traditionelle indexikale Ordnungen bzw. Hierarchien von Sprachen beinhalten.
6 Fazit Im Mittelpunkt der neueren gesellschaftlichen Mehrsprachigkeitsforschung steht die Veränderung des begrifflichen Gerüsts und damit des fachlichen Denkens über Mehrsprachigkeit. Die Fokusverschiebung hin zu mehrsprachigen Praktiken in einzelnen Räumen stellt herkömmliche Vorstellungen über die Verteilung von Sprachen in mehrsprachigen Gesellschaften radikal in Frage. Ein Kennzeichen der aktuellen Diskussion ist ferner die Hinwendung zum Individuum, jedoch unter anderen Vorzeichen als die kompetenzzentrierte individuelle Mehrsprachigkeitsforschung. Angesichts der ausdifferenzierten Erfahrungen und Kommunikationswege in einer von Migration und Mobilität geprägten Welt verliert die früher in der Soziolinguistik zentrale Gemeinschaftlichkeit ihre Prägekraft, und Individualität wird gewissermaßen neu entdeckt. Dies geht mit der empirischen Beobachtung einher, dass sprecherspezifische Besonderheiten aufs Ganze betrachtet mehr ins Gewicht fallen als für Gruppen oder Ethnien spezifische Gemeinsamkeiten (vgl. Androutsopoulos et al. 2013). Insofern wirkt ein individualisierender Blick auf mehrsprachige Praktiken auch als Korrektiv gegen pauschale, von außen an die Sprecher herangetragene Erwartungen über die „typische“ sprachliche Performanz bestimmter ethnischer Gruppen (vgl. Androutsopoulos et al. 2013). Freilich ist die aktuelle Wende der GeMS-Diskussion alles andere als abgeschlossen. Vieles ist theoretisch und methodisch noch in Fluss. Die zahlreichen neuen Dachbegriffe sind nicht scharf voneinander abgegrenzt, teilweise stark auf bestimmte Räume beschränkt und durch geringe empirische Evidenz gestützt. Das Potenzial von Mixed-Methods-Zugängen ist noch ausbaufähig, besonders wenn es darum geht, hoch komplexe Verhältnisse von Sprachen, Modalitäten und Medialitäten in ihren flüchtigen Kombinationen und Sequenzierungen im Alltag zu erfassen. Die Ausweitung der forschungsleitenden Perspektive von Code-Switching im Gespräch zu mehrsprachigen Praktiken im Alltag macht es überhaupt erst möglich, diese Verhältnisse ins Visier zu nehmen. Neue Methodenzugänge werden erforderlich sein, um sie systematisch zu rekonstruieren.
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11. Code-switching und Gruppenkonstellationen Abstract: Die Verfügbarkeit von mehr als einem Code (Sprache, Varietät) innerhalb einer wie auch immer konstituierten Gemeinschaft ist für Menschen in allen Erdteilen eine Selbstverständlichkeit. Bereits 1982 notiert Grosjean die vielzitierte Schätzung, wonach rund die Hälfte der Erdbevölkerung bilingual sei. Romaine (2004, 388) hält fest, dass es auf der Welt über 30 Mal so viele Sprachen wie Länder gibt, „or in other words, that bilingualism or multilingualism is present in practically every country in the world, whether it is officially recognized or not“. Die letzten Dekaden sind geprägt von gesellschaftlichen Prozessen wie Globalisierung und Migration, die dazu führen, dass Menschen, Sprachen und Kulturen über den Planeten wandern und in immer neuen Konstellationen nebeneinander und miteinander leben. Vor diesem Hintergrund erscheint selbstverständlich, dass multilinguale Praktiken wie das Codeswitching einen festen Bestandteil des sprachlichen Repertoires darstellen und als Mittel genutzt werden, um Gruppenzugehörigkeit zu signalisieren, um die eigene(n) Identität(en) sichtbar zu machen oder auch um die Kommunikation zu erleichtern. Wie diese sprachlichen Praktiken mit verschiedenen Gruppenkonstellationen zusammenhängen und welche Wirkung sie darin entfalten, ist Thema dieses Beitrags. Nach einer Begriffsbestimmung wird die Verwendung von Code-switching in der Gruppe aus drei verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Zunächst geht es darum, auf welche Weise Code-switching Ausdruck von Identität und Gruppenzugehörigkeit sein kann. Danach wird diskutiert, wie Code-switching als gruppeninterne Praktik eingesetzt wird. Zuletzt rückt die Wirkungsweise von Code-switching bei der (Neu)Bildung oder der Transformation bereits bestehender Gruppen in den Blickpunkt. 1 Code-switching – Begriffsbestimmung 2 Code-switching als Ausdruck von Identität und Gruppenzugehörigkeit 3 Code-switching in der gruppeninternen Interaktion 4 Code-switching als Mittel zur Gruppenkonstitution 5 Literatur
1 Code-switching – Begriffsbestimmuung In der Sprachkontaktforschung gehört der Begriff Code-switching (im Weiteren auch in der gängigen Abkürzung CS) zu den etablierten und am häufigsten genutzten Begriffen. Gleichzeitig gibt es unterschiedliche Konzeptionen darüber, wie die aus Sprachkontakt resultierenden Phänomene erfasst werden können. Das führt im DOI 10.1515/9783110296136-011
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Weiteren dazu, dass der Begriff unterschiedlich definiert und gebraucht wird, wobei sich die soziopragmatisch und die sprachstrukturell ausgerichtete Forschung hierin voneinander unterscheiden. Die erstere setzt in den Mittelpunkt die kommunikative Funktionalität der Phänomene innerhalb eines sozialen und interaktionalen Kontextes. Diese fasst Gumperz (1982, 61) so zusammen: „Speakers […] build on their own and their audience’s abstract understanding of situational norms, to communicate metaphoric information about how they intend their words to be understood“. In einer mehrfach variierten Definition wird das CS beschrieben als „the use of more than one language (code, linguistic variety, dialect or register) in the course of a single communicative episode (conversation, conversational/interactional episode, particular genre)“ (Heller 1988, 1, Eastman 1992, 16, Heller/Pfaff 1996, 594, Auer 1998, 1, Auer 2009a, 491). Aus struktureller Sicht wiederum interessiert die materielle Zusammensetzung der Sprachkontaktphänomene. So beschreibt Muysken (2007, 315) die von Sprachkontakt geprägte Rede als „a way of speaking which shows evidence of substantial amounts of morpho-syntactic and/or lexical material from at least two different languages“ (s. auch Myers-Scotton 1997, 217; 2004, 106). Ein weiterer wichtiger Unterschied innerhalb der Sprachkontaktforschung besteht darin, dass unter dem Begriff CS unterschiedlich spezifizierte Phänomene erfasst werden. Eine Forschungslinie setzt Code-switching als Oberbegriff und unterscheidet mehrere Untertypen wie classic CS, composite CS usw. (Myers-Scotton 2009). Eine weitere Linie setzt den Begriff Code-mixing als Oberbegriff und zieht Code-switching höchstens als eine (fakultative) Bezeichnung eines seiner Untertypen in Betracht (Muysken 2000). Innerhalb einer dritten Forschungslinie werden die beiden Begriffe Code-switching und Code-mixing kontrastierend verwendet, um mit ihnen zwei sich voneinander unterscheidende Phänomene zu bezeichnen (Auer 1998). In Überblicksdarstellungen bildet das Code-switching häufig den Ausgangspunkt zur Auseinandersetzung mit Sprachkontakt. Dabei wird explizit von einem „common-sense approach“ ausgegangen (Gardner-Chloros 2009, 7) und CS in einem weiten Sinne definiert als „the ability on the part of bilinguals to alternate effortlessly between their two languages“ (Bullock/Torribio 2009, 1). Sich einer solchen Sicht anzuschliessen, ist auch für die Zwecke dieses Beitrags sinnvoll. Im Fokus der Aufmerksamkeit steht hier der Zusammenhang zwischen dem Einsatz von mehr als einer Varietät einerseits und dem Ausdruck von Gruppenzugehörigkeit, der Steuerung der gruppeninternen Interaktion usw. andererseits. Auf sprachstrukturell ausgerichtete taxonomische Unterscheidungen zwischen intrasententiellem und intersententiellem CS, zwischen insertionalem und alternationalem CS etc. wird an dieser Stelle nur verwiesen. Solche Kategorien vertiefter zu verfolgen, würde zu weit führen. Auch die Diskussionen rund um die sog. grammatischen constraints und um die Stichhaltigkeit eines in Zusammenhang mit ihnen häufig formulierten Universalität-Postulats sind vom Thema dieses Bandes zu weit entfernt, um weiter darauf einzugehen. Im Beitrag werden des Weiteren sowohl das Code-switching als auch das Code-mixing (wie von Auer 1998; 1999 definiert) miteinbezogen. Denn während die Abgrenzung dieser Phänomentypen bei der empiri-
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schen Datenanalyse sinnvoll ist, wäre der Ausschluss des Code-mixing – eine Spielart von Sprachkontakt, die meist einen gruppenspezifischen Sprachstil konstituiert – für unsere Thematik nicht zielführend. Die Unterscheidung zwischen den beiden Phänomenen basiert auf dem unterschiedlichen pragmatisch-kommunikativen Gewicht des einzelnen CS und auf der unterschiedlichen Frequenz der Code-Wechsel in der Rede. Für unsere Zwecke werden beide Phänomene unter dem Oberbegriff Code-switching zusammengefasst, worauf an dieser Stelle explizit hingewiesen sei.
2 Code-switching als Ausdruck von Identität und Gruppenzugehörigkeit Dass Sprachkompetenz in mehr als einer Varietät das Spektrum der kommunikativen Mittel erweitert und neue Möglichkeiten eröffnet, liegt auf der Hand. Der Einsatz von CS hat denn auch ein reges Forschungsinteresse auf sich gezogen, wobei bereits die frühen Publikationen das Verhältnis zwischen CS und Gruppenzugehörigkeit in den Mittelpunkt stellten. Eine der bedeutenden Forschungslinien betrachtet den Einsatz von CS aus der Makroperspektive und geht von der Prämisse aus, dass in einer mehrsprachigen Gemeinschaft die verschiedenen Varietäten mit unterschiedlicher sozialer Bedeutung behaftet sind. Die Wahl einer bestimmten Varietät kann Zugehörigkeit oder Ausschluss signalisieren. Wegweisend ist in diesem Zusammenhang das Konzept eines we-code bzw. eines they-code, wie von Gumperz (1982, 66) postuliert. Der we-code wird mit dem informellen Austausch innerhalb der In-group assoziiert, während der they-code die formelleren und weniger persönlichen Beziehungen zur Out-group repräsentiert. Bereits an dieser Stelle warnt jedoch Gumperz (1982, 66) vor einer automatischen Bedeutungszuschreibung bei der Interpretation einer bestimmten Code-Wahl, denn „this association between communicative style and group identity is a symbolic one: it does not directly predict actual usage“. Das tatsächliche Verhältnis zwischen Code-Wahl und Code-Bedeutung „is in large part a matter of discourse context, social presuppositions and speakers‘ background knowledge“ (Gumperz 1982, 66). Ähnlich betont Heller (1988, 83), dass die blosse Verfügbarkeit von mehr als einer Varietät keineswegs zwangsläufig zum Einsatz von CS führen muss. Dass die Codes in einer mehrsprachigen Gemeinschaft verschiedene soziale Kategorien repräsentieren, bringt es mit sich, dass mehrere Varianten der Code-Wahl und verschiedene Spielarten von CS infrage kommen, wobei diese gruppenintern eine unterschiedliche Interpretation erfahren können. CS kann eingesetzt werden, um beispielsweise den gemeinsamen Hintergrund zu betonen oder aber – genau umgekehrt – um in einem antagonistischen Akt Zugehörigkeit zur Out-group auszudrücken. In einigen Fällen kann gerade die Vermeidung von CS die Gruppenidentität definieren, sei es durch die kategorische Wahl nur einer der verfügbaren Varietäten, wodurch die Interaktion einen eindeutigen Rahmen erhält, sei es durch den Verzicht
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auf ansonsten übliche CS-Praktiken, um den Eindruck mehrdeutiger Gruppenzusammengehörigkeit zu umgehen. In anderen Fällen wiederum kann CS eingesetzt werden, um gezielt Ambiguität herzustellen. Diese erlaubt es, die nicht vorhandenen Gemeinsamkeiten zu überspielen und eine neutrale Basis für die Interaktion zu schaffen. Auch hier ist der Einsatz von CS jedoch nie ein eindimensionaler Verweis auf die soziale Bedeutung der Codes. Das CS übernimmt weitere kommunikative Funktionen innerhalb der Gruppeninteraktion. Heller (1988) beschreibt die Funktionsweise eines solchen CS am Beispiel einer französisch-englischsprachigen Firma in Montreal und fasst den Ablauf einer Interaktionsepisode folgendermassen zusammen: Once the participants use code-switching to neutralize the tension between French and English, they can all participate in the meeting. Further, codeswitching becomes available as a conversation management device (Albert uses English to include Bob, Bob uses French to enter the conversation, Claude uses French to gain his boss’ ear) and as a device for managing interpersonal relations (Bob uses French to make peace between Claude and Albert). (Heller 1988, 90)
Die beiden Dimensionen der sozialen Bedeutung einer Varietät und der kommunikativen Relevanz der einzelnen Code-Wechsel kommen hier zusammen (wie übrigens in jeder Interaktionsepisode, in der CS zum Einsatz kommt). Ähnlich ausgerichtet wie Gumperz‘ Unterscheidung zwischen einem we-code und einem they-code ist Myers-Scottons Markednessmodell. Das Modell basiert auf der Annahme, dass „all linguistic code choices are indexical of a set of rights and obligations holding between participants in the conversational exchange“ (MyersScotton 1988, 152). Auf dieser Basis kann die Wahl einer Varietät „unmarkiert“ sein und das Einverständnis mit dem status-quo bedeuten, während die „markierte Wahl“ dazu auffordert, die „Rechte und Pflichten“ der Teilnehmer zu überdenken und wichtige Aspekte der Gruppenkonstellation zu revidieren. Das von den Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft geteilte Wissen um die Stellung einer Varietät als „markierte“ oder „unmarkierte“ Wahl ermöglicht es, die Code-Wahl zu interpretieren, wobei Aspekte wie Identität und Gruppenkonstellation immer eine zentrale Rolle spielen. Ein Beispiel zeigt, wie CS dazu genutzt wird, um Gruppenzugehörigkeit zu signalisieren und sich gegenüber dem Gesprächspartner neu zu positionieren. Die zwei wiedergegebenen Begegnungen finden vor dem Tor eines Fitnessclubs in Nairobi statt. Die unmarkierte Code-Wahl in diesem Kontext ist Swahili, der Türsteher und die Besucherin gehören jedoch beide der ethnischen Gruppe der Luyia an, die weitere, eigene Varietäten spricht. Beispiel 1 (aus Myers-Scotton 1988, 169) Gatekeeper (to young woman stopped in the middle of the gate) (Swahili): Ingla kwa mlango mmoja tu. (Enter by using only one gate.) Young woman (looks behind her and sees another car pulled up so that she cannot move easily) (Swahili): Fungua miwili. Siwezi kwenda revas! Kuna magari mengine nyuma. (Open both. I can’t reverse! There are other cars behind me.) (Seeing the situation, the gatekeeper very grudgingly opens both gates.)
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Young woman (driving by the gatekeeper, she says to him) (Swahili): Mbona wewe mbaya sana leo? (Why are you so difficult today?) (She says to her companions in the car – in English – ‘The man is a Luyia.’ She determines this by his pronunciation.) (Several hours later, she drives through the gate as she leaves.) Young woman (to gatekeeper) (Maragoli, a Luyia variety): Undindiyange vutwa. (You were being unkind to me.) Gatekeeper (Swahili; Maragoli): Pole, simbere nikhumany ta. (Sorry. I didn’t know it was you.)
Das CS von der neutralen Varietät Swahili zur „markierten Wahl“ Maragoli bei der zweiten Begegnung ist – gemäss eigener Aussage der Frau – explizit als Bemühung intendiert, ethnische Zusammengehörigkeit anzuzeigen und die Beziehung auf eine andere Ebene zu stellen. Die Antwort des Türstehers zeigt nicht nur, dass er ihre Intention entschlüsselt hat. Der Türsteher signalisiert sein Einverständnis, indem er selbst mit einem CS die neue Varietät übernimmt. Gleichzeitig äussert er die auf dem ersten Blick etwas irreführende Behauptung, er hätte nicht gewusst, dass sie es sei (zwischen den beiden hat bislang keine persönliche Bekanntschaft bestanden). Der Inhalt der Äusserung zusammen mit dem CS wird jedoch von der Frau interpretiert als „I didn‘t know you were of my ethnic group“ (Myers-Scotton 1988, 169). Dieses Beispiel zeigt, wie ein blosser Code-Wechsel die Dimension der ethnischen Zugehörigkeit ins Spiel bringen und zwei scheinbar disparate Menschen in Mitglieder der gleichen Gruppe verwandeln kann. Durch das CS rückt die Gruppenzugehörigkeit ins Zentrum der gegenseitigen Positionierung (zum Konzept der Positionierung Lucius-Hoene/ Deppermann 2004). Noch komplexer gestalten sich die Verhältnisse in sozialen Gruppen, deren Identität durch mehrere Varietäten zugleich repräsentiert wird. Dies ist der Fall in vielen Sprachgemeinschaften Afrikas, die sich gleichzeitig durch die Sprache(n) einer bestimmten ethnischen Gruppe, durch die regionale lingua franca (z. B. Swahili) und durch Englisch, eine Sprache, die Bildung und Weltoffenheit symbolisiert, repräsentiert sehen (s. hierzu u. a. die Arbeiten von Carol Myers-Scotton, Christopher Stroud). Dies ist der Fall in Gruppen mit Migrationshintergrund, die sich durch die Sprache des Ursprungslandes und durch die Sprache des Aufnahmelandes repräsentiert sehen (s. hierzu u. a. die Arbeiten von Peter Auer, Ad Backus, Inci Dirim, Rita Franceschini, Penelope Gardner-Chloros, Volker Hinnenkamp, Shana Poplack, Rosemarie Tracy, Li Wei). Dies ist auch der Fall in Sprachgemeinschaften auf Sprachinseln (s. hierzu u. a. Nina Berendt, Claudia-Maria Riehl, Joe Salmons). In solchen Fällen etablieren sich manchmal gruppeninterne Sprachgebrauchsmuster, bei denen das häufige Wechseln der Varietäten im Vordergrund steht. Dadurch behalten alle relevanten Codes ihre Präsenz, das CS wird zum Bestandteil eines gruppeninternen Sprachstils, der die Gruppenidentität zum Ausdruck bringt. In der Beschäftigung mit derartigen Stilen wurden jedoch auch Forscherstimmen laut (u. a. Meeuwis und Blommaert, Stroud, Gafaranga), die dazu auffordern, das Konzept dessen, was ein Code (und dementsprechend auch CS) ist, grundsätzlich zu überdenken. Sie regen an, eine eurozentrische
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Sicht auf die monolektale Gruppe als den neutralen ‚Normalfall‘ durch die Erkenntnis zu ersetzen, dass sich die Sprachgemeinschaften überall auf der Welt kulturell unterscheiden. Dies kann durchaus auch unterschiedliche Auffassungen dessen beinhalten, welches Gewicht den einzelnen Codes und den CS-Praktiken innerhalb einer Gemeinschaft zukommt. So schlagen Meeuwis und Blommaert (1998) auch eine „monolektale Sicht auf Code-switching“ vor, während Gafaranga (2007, 305) anstelle von Code den Begriff „medium of bilingual conversation“ einführt. Als wegweisende Erkenntnis hierzu darf gelten, dass ohne Berücksichtigung der emischen Sicht der Gruppenmitglieder kein substantieller Einblick in die soziale Bedeutung ihrer (multilingualen) Sprachpraktiken möglich ist. Eine ganz besondere Gruppenkonstellation ergibt sich, wenn der Zugang zur Gruppe über Sprachen erfolgt, die im Erwerb nicht allen Mitgliedern auf gleicher Ebene zugänglich sind. So kommt es vor, dass sich in Stadtvierteln mit hohem Migrationsanteil in jugendlichen peer groups als Gruppensprache eine der Migrationssprachen etabliert, wobei auch Jugendliche ohne Migrationshintergrund diese erwerben (Franceschini (2012) spricht von einem „unfokussierten Spracherwerb“). Diese Sprachkenntnisse können unterschiedlich elaboriert sein. Zuweilen genügt das Anzeigen passiver Kompetenz. Zuweilen erwerben die autochthonen Jugendlichen aber nicht bloss die andere Sprache, sondern sogar einen spezifischen, von CS geprägten Sprachstil, der die Rede jünger Migrant/innen der zweiten Generation oft auszeichnet (für Beispiele s. Francheschini 1998, 2012). Den Sprachgebrauch einer solchen ‚gemischten‘ Jugendgruppe in Hamburg haben Dirim/Auer untersucht und in der Monographie „Türkisch sprechen nicht nur die Türken“ (2004) ausführlich beschrieben. Wie sich deutsche Jugendliche durch das Ausweisen von Sprachkompetenz im Türkischen die Mitgliedschaft in der peer group sichern, zeigt das nächste Beispiel. Beispiel 2 (aus Dirim/Auer 2004, 161) Maike: ist sie eigentlich älter Cansel: nee [die is Maike: [ Cansel: [kardeş Öznur: [kardeş Öznur: he is sie Maike: ja, Cansel:
Das CS zum Türkischen, das Maike in der Fortsetzung ihrer Frage vollzieht, dient einzig als Demonstration dessen, dass sie die im Deutschen nicht existierende lexikalische Differenzierung zwischen abla ‘ältere Schwester‘ und kardeş ‘jüngeres Geschwister‘ beherrscht. Inhaltlich ist die Ergänzung der Frage nicht notwendig, denn Cansel ist bereits dabei zu antworten. Das CS hat hier einen ganz anderen Zweck. Es beweist, dass „ein wichtiges Zugehörigkeitskriterium [zur peer group] erfüllt ist, nämlich tür-
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kische Sprachkompetenz“ (Dirim/Auer 2004, 160). Diese dient gewissermassen als Eintrittskarte, die anscheinend immer wieder vorgewiesen werden muss, um sich die Gruppenzugehörigkeit zu sichern. In einer solchen Gruppe kann der Zugang zu einem zweiten Code aber durchaus in ganz anderer Weise nützlich sein. Das Türkische fungiert z. B. als Geheimcode, wie bei Thomas und Ferhan auf einer Busfahrt mit Jugendlichen ohne Türkischkenntnisse (ausführlich Dirim/Auer 2004, 168 f.). Noch einen Schritt weiter geht das CS zu einer Sprache, die keinem der Gruppenmitglieder „gehört“. Dieses von Rampton (1995) als crossing beschriebene Phänomen ist ebenfalls charakteristisch für multilinguale, urbane jugendliche peer groups, kann jedoch auch in anderen Gruppenkonstellationen auftreten (s. die Beispiele in Christen et al. 2010, Kap. 4.2.8). Hier wird zu Varietäten gewechselt, die dem sprachlichen Hintergrund von keinem der Beteiligten entsprechen, oder wie Rampton (1995, 280) es formuliert: „Crossing […] focuses on code alternation by people who are not accepted members of the group associated with the second language they employ“. Es handelt sich dabei um spielerisch eingestreutes CS in liminalen, informellen Momenten. Und trotz der ‚Fremdheit‘ der beteiligten Varietäten dient das crossing meist zur Bekräftigung der Gruppenzusammengehörigkeit und -solidarität (Rampton 1995, 228). Das folgende Beispiel aus einem Gespräch unter Kollegen beim Deutschschweizer Polizeinotruf illustriert dies. Beispiel 3 (aus Christen et al. 2010, 90; POL steht für Polizist 1 bzw. 2) 01 POL 1: ; („Guten Tag“) 02 POL 2:
04 POL 1: („Nein, nein“) 05 POL 2: nö:t? („Nicht?“) 06 POL 1: aber der pirmin sött glaub CHO gell? („Aber Pirmin sollte, glaube ich, kommen, nicht wahr?“) ((...))
Die Begrüssung von POL 1 in Zeile 1 erfolgt wie unter Deutschschweizern üblich in Schweizerdeutsch, sie enthält aber weder eine Selbstidentifikation noch die übliche Nennung des Polizeikommandos. Dies zeigt, dass POL 1 – vermutlich dank der Displayanzeige – bereits weiss, wer am anderen Ende der Leitung steht, sodass er gleich einen informelleren Ton anschlägt. Diese spielerische Art wird von seinem Kollegen nicht nur übernommen, sondern auch auf eine höhere Stufe gehoben. Das CS in Z. 2 zum Italienischen und in Z. 3 zu einer Standardsprache, die lernersprachliche Defizite nachahmt, demonstriert Informalität und eine Herausforderung von Normen, wie sie im freundschaftlichen Umgang unter Kollegen erlaubt sind. Mit dem Normenverstoss exponiert sich der Sprecher gewissermassen, dies signalisiert gleichzeitig Vertrauen und stärkt so das Solidaritätsgefühl. Danach kehren die beiden Polizisten zum Schweizerdeutschen zurück, zur in diesem Kontext „unmarkierten“ Varietät.
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In den unterschiedlichen Gruppenkonstellationen lassen sich also verschiedene Spielarten von CS beobachten. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie das Verhältnis zwischen der eigenen Identität und der Gruppenzugehörigkeit zum Ausdruck bringen und meist zum Gruppenzusammenhalt beitragen.
3 Code-switching in der gruppeninternen Interaktion Wenn eine wie auch immer geartete Gruppe über mehrere Varietäten verfügt, kommt in der Interaktion häufig CS als Erweiterung der kommunikativen und stilistischen Ressourcen vor. Zunächst kann grundsätzlich festgehalten werden, dass die vielen kommunikativen Funktionen von CS, die in der Forschungsliteratur thematisiert und mit Beispielen belegt worden sind, immer auch einen Bezug zur Gruppenkonstellation aufweisen. Denn erst der kurz- oder langfristige Zusammenschluss von Bilingualen ermöglicht es, dass ein stilistisch-funktionales CS überhaupt zum Einsatz kommt. Die Funktionalität von CS reicht dabei von einem CS zur Markierung von Zitaten, über CS als Mittel zur Gesprächssteuerung, CS zur Verstärkung von Aussagen, CS zur Markierung von Kontrast bis hin zu CS als Sprachspiel u. v. m. (für die Darstellung verschiedener Funktionstypen s. Gumperz 1982; Poplack 1988; Dirim/Auer 2004; Tracy/ Lattey 2010; Christen et al. 2010; Petkova 2016). Die Funktionsweise von CS zwischen Französisch und Elsässer Dialekt bei der Wiedergabe lustiger oder derber Geschichten wird von Gardner-Chloros (2013, 171 f.) mit einem Beispiel illustriert. Hier wird Mme Huck aufgefordert, eine Anekdote zu erzählen, die sie offenbar bereits mehrfach zum Besten gegeben hat und die sich im Bekanntenkreis grosser Beliebtheit erfreut. Bereits die Aufforderung dazu enthält CS: „Vous me ferez d’Grumbeere?“ („Erzählen Sie mir die Kartoffel?“). Darauf erzählt Mme Huck, wie sie als Kind ihre pausenlos schwangere Mutter danach fragt, warum diese einen so grossen Bauch hat. Beispiel 4 (aus Gardner-Chloros 2013, 172; Übersetzung M. P.) Madame Huck: „Mamma, ich versteh’s nitt! Du bisch imm’r dick . . . un hasch imm’r a so dick’r Buch”. „Ja mädl s’kummt vun d’Grumbeere. . .” („Mama, ich verstehe das nicht. Du bist immer dick und hast immer einen so dicken Bauch“, „Ja, Mädchen, das kommt von den Kartoffeln“) Speaker 2: Vum Grumbeere esse… („Vom Kartoffel-Essen”) Mme Huck : Ja! Et ça c’était . . . ah bon! Bon, les patates, hein (Lachen) („Ja. Und das war’s… na gut. Gut, die Kartoffeln, he“)
Der Elsässer Dialekt steht hier für den Eintritt in den Erzählmodus und unterstreicht zudem die humoristische Note der Geschichte. Das Französische signalisiert das Verlassen des (objektiven) Erzählmodus und markiert den Wechsel zu einer anderen Ebene, auf der wir die innere Stimme des Kindes hören (das Verhältnis zwischen
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diesen beiden Ebenen wird von Gumperz (1982, 80 f.) als „personalization vs. objectivization“ – hier in umgekehrter Reihenfolge – beschrieben). Insofern haben wir es in diesem Beispiel mit einer recht komplexen kommunikativen Funktionalität des CS zu tun. Die Fähigkeit, nicht nur sämtliche Redeteile zu verstehen, sondern auch die kommunikative Bedeutung des CS richtig zu interpretieren, ist jedoch an das Wissen um die gruppeninternen Sprachpraktiken der Elsässer Sprachgemeinschaft gebunden. Der Dialekt ist ein essentielles Element bei der Wiedergabe von Scherzen und Anekdoten, ein Umstand, der – wie Gardner-Chloros (2013, 171) ausführt – von den Elsässer SprecherInnen immer wieder explizit betont wird. Ganz andere Fragen stellen sich im Zusammenhang mit CS für fachspezifische Ausdrücke, wie es innerhalb von Berufsgruppen zum Einsatz kommt. Ein solches CS scheint in diglossischen Sprachgemeinschaften sehr verbreitet zu sein, es verweist auf den Umstand, dass fachrelevante Informationen schriftlich festgehalten und häufig in der entsprechenden Varietät diktiert oder zitiert werden (für Beispiele u. a. Häusermann/Buhofer 1982; Christen et al. 2010). Aber auch im Allgemeinen stammen Fachausdrücke häufig aus einem anderen Code (viele Termini in Wissenschaft und Technik z. B. aus dem Englischen). Es darf nun die These aufgestellt werden, dass ein CS für solche Ausdrücke je nach Gruppenzugehörigkeit ganz unterschiedlich wahrgenommen wird. Aus der internen Sicht, für die Mitglieder der Berufsgruppe, haben diese Ausdrücke einen Status, der sie in die Nähe von Entlehnungen stellt, von etablierten Formen also, die einen festen Bestandteil des Lexikons darstellen (sofern sie nicht gänzlich als Entlehnungen empfunden werden). Daraufhin deutet der Umstand, dass z. B. unter Deutschschweizer Polizeibeamten des Öfteren standardsprachliche Ausdrücke wie „häusliche Gewalt“, „getrennt lebend“, „gilt als Anzeige“ ohne jede prosodische Markierung in die ansonsten dialektale Rede einfliessen (Christen et al. 2010, Kap. 4.2.3). Für Gruppenexterne dürfte es sich dagegen um auffällige CodeWechsel halten und die fremde Herkunft des transferierten sprachlichen Materials dürfte viel deutlicher ins Bewusstsein dringen. Ein Vorschlag dafür, wie der unterschiedliche Status derartiger Elemente theoretisch gefasst werden kann, findet sich in Petkova (2012). Solche Fragen sind bislang wenig erforscht und verdienen sicherlich weitere Aufmerksamkeit. Der Vergleich zwischen ganzen Sprachgemeinschaften ist, wie Gardner-Chloros (2009, 60) schreibt, „the best way to elucidate the contribution of typological factors on the one hand, and sociolinguistic ones on the other, to the patterns of CS in different communities“. Da in der Forschung meist innerhalb einer spezifischen Sprachgemeinschaft Daten erhoben werden, sind solche Vergleiche bislang selten durchgeführt worden (Gardner-Chloros 2009, 60). Die Schweiz mit ihren vier Landessprachen und ihrem vergleichsweise kleinen Territorium eignet sich gut, um hier einen Vorstoss zu machen. Ein aktuelles Forschungsprojekt (sms4science.ch) macht den Einsatz von CS innerhalb unterschiedlicher Sprechergruppen zum Thema. Anhand eines Korpus von 26 000 SMS in den vier Landessprachen der Schweiz werden unterschiedliche Aspekte des CS in den Blick genommen. Die Ergebnisse des Projekts legen den
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Schluss nahe, dass die CS-Praktiken von Sprachgruppe zu Sprachgruppe unterschiedlich gehandhabt werden. Tab. 1: Das Vorkommen von CS im Korpus des Projekts sms4science.ch. Nach Cathomas et al. 2015, 60.
Gesamtanzahl SMS
Deutschsprachiges Korpus
Französischsprachiges Korpus
Italienischsprachiges Korpus
Rätoro manisches Korpus
10‘706
4‘619
1‘471
1‘120
13%
23%
57%
Anteil der SMS, die CS enthalten 22%
Zwischen den untersuchten Subkorpora sind deutliche Unterschiede auszumachen. Diese beziehen sich auf die Verhältnisse zwischen den Sprachen, in denen CS auftritt, aber auch auf die Anteile struktureller Muster und die Anteile realisierter Sprechakte (nicht in der Tabelle erfasst). Als bemerkenswert streichen die Autor/innen den auffälligen Unterschied zwischen den SMS-Anteilen im französischsprachigen und im rätoromanischen Korpus heraus (Cathomas et al. 2015, 61). Die Erklärung dafür suchen sie in den linguistischen Verhältnissen und in der jeweiligen Kontaktsituation: Im rätoromanischen Korpus enthalten zwei Drittel der Nachrichten Elemente aus anderen Sprachen, was den Status des Rätoromanischen als kleine Sprache in Bezug auf die Nachbarssprachen mit starkem Kontakt zum Deutschen markiert. […] Das französischsprachige Korpus ist mit 13% an CS-Nachrichten ein Spiegel einer linguistischen Region mit vergleichbar geringerem Kontakt zu anderen linguistischen Varietäten. (Cathomas et al. 2015, 72)
Wenn hier die Rede von „Kontakt zu anderen Varietäten“ ist, so darf natürlich nicht vergessen werden, dass es dabei immer um die Spracherzeugnisse von Menschen, also letztlich um Kontakt zu Sprechern und Sprechergruppen geht. Insofern geben diese Resultate die Wechselwirkungen zwischen dem Selbstverständnis einer Sprechergruppe – nicht zuletzt auch bezüglich ihrer linguistischen Offenheit – und ihrem Sprachverhalten (als CS-Einsatz im Genre SMS) wieder. Die Resultate des Projekts ermöglichen so einen Einblick in die sprachlichen Praktiken grösserer Gruppen, die in Vergleich zueinander gesetzt werden können. Weitere Annäherungen an solche Fragen finden sich in Poplack (1988), Androutsopoulos/Hinnenkamp (2001); s. auch Gardner-Chloros (2009, 60–63). Es lässt sich also zusammenfassen, dass das CS auch ein Bestandteil von gruppeninternen sprachlichen Praktiken ist. Diese werden jedoch von Gruppe zu Gruppe unterschiedlich wahrgenommen und gehandhabt.
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4 Code-switching als Mittel zur Gruppenkonstitution Während die vorangehenden Kapitel den Einsatz von CS in bereits bestehenden Gruppen betrachteten, rückt nachfolgend die Funktion von CS als Mittel zur Konstitution neuer Gruppen in den Blick. Eine der ‚klassischen‘, von vielen Forschenden und in unterschiedlichen sozialen Kontexten beschriebenen kommunikativen Funktionen von CS besteht darin, die Redeadressierung neu auszurichten, um z. B. eine Person anzusprechen, die die bisher verwendete Sprache nicht beherrscht oder nicht bevorzugt. Gumperz (1982, 77) spricht hier von addressee specification, Dirim/Auer (2004, 169–171) von einem „CS zur Adressatenwahl“ mit dem expliziten Hinweis, dass dieses dazu dient, die Teilnehmerkonstellation zu verändern. Ein CS in Fällen, „when a speaker turned to someone standing aside from a group of conversationalists“ (Gumperz 1982, 77), ermöglicht nicht nur dem Aussenstehenden, dem Gespräch, von dem er bislang ausgeschlossen war, zu folgen. Es kann seine „Ratifizierung“ als neuen Interaktionsteilnehmer anzeigen und in diesem Sinne das footing (Goffman 1979) verändern. Goffman beschäftigt sich mit den vielen Facetten einer Gruppenkonstellation und mit den verschiedenen Rollen der Teilnehmer/innen darin. Er zeigt auf, dass die blosse Zweiteilung in ‚Hörer‘ vs. ‚Sprecher‘ bei Weitem nicht ausreicht, um die Vielschichtigkeit der Interaktion zu erfassen. Unter den beiden Kategorien participations status und participation framework (zur Definition s. Goffman 1979, 11) fasst er die möglichen Hörer- und Sprecher-Rollen zusammen. Der Status aller Beteiligten kann sich dabei ändern, die Rollen können zu jedem Zeitpunkt neu besetzt werden. Damit verändert sich auch das footing der Interaktion und bereits Goffman (1979, 4 f.) weist auf den häufigen Einsatz von CS zu solchen Zwecken hin. Das CS kann den Einschluss einer neuen Person in die Teilnehmerkonstellation einleiten (s. Gumperz 1982, Kap. 2, Bsp. 22). Die verschiedenen Codes können aber auch für ganze Teilnehmerkonstellationen stehen, deren Wechsel mittels CS angezeigt wird. Das nächste Beispiel illustriert dies. Hier beendet der Schweizer Fernsehmoderator Rainer Maria Salzgeber das Interview mit einem zugeschalteten Korrespondenten. Mit diesem spricht er Standardsprache, wobei er mit dem Rücken zum Studiopublikum steht und seinen Gesprächspartner auf einem grossen Bildschirm an der gegenüberstehenden Wand anschaut. Die Beendigung des Interviews wird u. a. durch ein CS zu Schweizerdeutsch angezeigt. Beispiel 5 (aus dem Korpus „Fernsehübertragung Euro 08“, eigenes Datenmaterial) Salzgeber: also, wir hätten nichts dagegen, wenn wir nichts sehen würden. (...) („Vielen Dank an Werner Van Gent nach Istanbul“)
Das CS, begleitet durch weitere Kontextualisierungshinweise wie die Drehung des Körpers und die Ausrichtung hin zu einer neuen Fernsehkamera, signalisiert die Veränderung des footing und damit auch der Teilnehmerkonstellation. Auf den bisherigen Gesprächspartner wird nun in der dritten Person referiert („Vielen Dank an
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Werner Van Gent…“), der Moderator wendet sich ausschliesslich an das Publikum im Studio und vor dem Fernseher, das durch eine andere Varietät, das Schweizerdeutsche, repräsentiert wird. Selbstverständlich bestehen in einem medialen Produkt wie der Fernsehsendung komplexe Adressierungsverhältnisse. Das Fernsehpublikum ist zwar unsichtbar, kann aber als primärer Adressat gelten und verliert seinen Ratifizierungsstatus somit zu keinem Zeitpunkt. Das Beispiel zeigt insofern einen gewissermassen inszenierten footing-Wechsel und somit eine besonders augenfällige, ja plakative Funktionsweise des CS. Ein CS zur Veränderung der Gruppenkonstellation kann aber durchaus in die entgegengesetzte Richtung wirken: Es kann Nicht-Sprecher einer Varietät ausschliessen (s. die Beispiele in Dirim/Auer 170 f.). Ein solches exclusive CS (Myers-Scotton 1988) wird meist als Verstoss gegen das Höflichkeitsgebot empfunden, wobei es gleichzeitig sichtbar macht, dass die Beherrschung einer Sprache als kulturelles Kapital (Bourdieu 1983, 190) gelten und dadurch die Machtverhältnisse innerhalb der Gruppe steuern kann. In mehrsprachigen Gemeinschaften, wie sie z. B. in Afrika verbreitet sind, kann dennoch sowohl der Einschluss als auch der Ausschluss bestimmter Personen durch CS zur Varietät einer anderen ethnischen Gruppe durchaus als unmarkiert, als ‚normal‘ gelten, wie Myers-Scotton (1988) erläutert. Doch auch hier sind häufig Machtmechanismen im Spiel: Exclusive switching there normally is to an ethnic language. Those who accept such switching may do so because ethnic identity and giving priority in social relations to affinity with ethnic brethren are facts of life in many parts of Africa. Switching which is indexical of these facts simply seems unmarked to many. But not all agree. And, not surprisingly, it seems to be members of the larger, more powerful groups who do more exclusive switching. (Myers-Scotton 1988, 175)
Um die Verhältnisse innerhalb einer konkreten Interaktionsepisode zu beurteilen, sind allerdings Hintergrundwissen und ein Blick auf den Interaktionsverlauf notwendig. Denn während die Vorstellung von der Existenz unterschiedlicher sozialer Kategorien der Interaktion vorausgeht und in diese eingebracht wird, können solche Kategorien durchaus uminterpretiert und neu ausgehandelt werden. Jeder Code und jedes CS kann mit weiteren, neuen sozialen Bedeutungen aufgeladen werden. Auch hier gilt, dass die Makroperspektive allein zu kurz greift und nur beschränkte Erklärungskraft besitzt. Und nicht zuletzt kann ein CS auch dazu dienen, um eine Gruppe anders zu definieren und gewissermassen zu transformieren. Dies ist z. B. der Fall, wenn sich Studierende vor einer universitären Veranstaltung auf Deutsch unterhalten und bei Unterrichtsbeginn beispielsweise ins Englische oder Französische wechseln. Dabei verwandelt sich die Gruppe von informell plaudernden Kommilitonen zu Seminarteilnehmenden. Diese bereits 1972 von Blom/Gumperz als situatives CS beschriebene Spielart von CS begleitet und zeigt Änderung des Kontextes an. Die gleichen Personen bilden im Rahmen des neuen Kontextes eine sich neu definierende Gruppe: von Nachbarn, die über den Strassenverkehr plaudern, hin zu Zuhörern eines wissen-
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schaftlichen Vortrags, von Freunden, die das nächste Wochenende planen, hin zu Diskussionsteilnehmern in einer Radiosendung etc. Wie die vorangehenden Ausführungen gezeigt haben, wird Code-switching eingesetzt sowohl um Gruppen zu konstituieren und zu definieren, als auch um die gruppeninterne Interaktion zu steuern. Viele dieser Praktiken stehen seit längerem im Fokus der Forschung, andere werden durch den technischen Fortschritt bei der Datenerhebung und -auswertung besser fassbar, wiederum andere entstehen durch gesellschaftliche Veränderungen und sind erst dabei, das Forschungsinteresse auf sich zu ziehen. So ist ein CS innerhalb virtueller Gemeinschaften, beispielsweise in den social media (zusammengefasst unter dem Begriff computer mediated communication), ein verbreitetes Phänomen, dem sich die Forschung erst nähert (hierzu s. die Arbeiten von Jannis Androutsopoulos). Das Phänomen CS gehört zu vielen Facetten des kommunikativen Lebens, kommt in verschiedenen Sprecher- und Sprachkonstellationen vor und scheint auch den Wandel der gesellschaftlichen Strukturen mitzumachen und zu begleiten. Die Beschäftigung damit wird sicherlich noch lange im Blickpunkt einer Forschung stehen, die sich für das Verhältnis zwischen Sprachgebrauch und sozialen Gruppen interessiert.
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Jens Runkehl
12. Gruppe in der Forschung zu Neuen Medien (Web 2.0) Abstract: Die unverändert anhaltende Diversifikation der Neuen Medien ist es, welche den Ereignishorizont und die Irritationen gegenwärtiger gesellschaftlicher Diskurse fortwährend belebt und zu neuen Perspektiven und Standpunkten herausfordert. Während das Radio 38 Jahre benötigte um eine gesellschaftliche Penetration von 50 Millionen Teilnehmern zu erzielen, waren es beim Fernsehen nur noch 13 Jahre. Im Internet schrumpft diese Zeitspanne auf vier Jahre zusammen. Die Parameter Diffusion und Akzeleration treten als bestimmende Konstanten des Web 2.0 eindrucksvoll hervor. Die Forschung zu diesem Gegenstandsgebiet hat seit der Jahrtausendwende reichhaltige Erkenntnisse zutage gefördert; die unverändert produktive Weiter-/Neuentwicklung interaktiver Plattformen und kommunikativer Möglichkeiten wird diesen Prozess auch künftig lebendig halten. Neben innovativen Sprachgebrauchsmustern und veränderten kommunikativen Praktiken treten dabei zunehmend Aspekte in den Fokus, wie, ob und wozu die neuen und unterschiedlichen kommunikativen Optionen von den Nutzern – als differenziert spezifizierbare Entitäten – angeeignet und habitualisiert werden. Die Relevanz der Kategorie Gruppe bzw. Netzwerk ist spätestens mit der globalen Überwachung durch die Geheimdienste (mit den Stichworten Snowden, NSA, Prism etc.) und der ökonomisierten Ausbeutung von Daten (Schmidt/ Cohen 2008) in das öffentliche Bewusstsein übergetreten: Die digitale Welt hat sich inzwischen bemerkenswert konsolidiert. Die Netzwerkebene wird oft als Dschungel voller geheimnisvoller Wesen dargestellt, aber sie wird in Wirklichkeit von wenigen Unternehmen gesteuert und überwacht. (Lanier 2014, 434). Bisherige Einsichten bieten unter dem Blickwinkel der Gruppe bzw. des Netzwerks zahlreiche Ansatzpunkte für fruchtbares Potenzial, das es gilt offenzulegen. Sprachliche Interaktion im Netz wird dabei mehr denn je bedingt durch die Auseinandersetzung mit den sie bestimmenden sozialen wie medialen Parametern. Diese wiederum weisen im Hinblick auf theoretische Fundierungen und terminologische Apparate eine fachübergreifende Extension auf. Demzufolge sind die Erträge dieser Forschung aus den Nachbardisziplinen für eigene Untersuchungen fruchtbar zu machen. Aus der Perspektive der germanistischen Linguistik spannen hier insbesondere die Medien- und Kommunikationswissenschaften wie auch Soziologie und Sozialpsychologie ein ergiebiges Panorama auf, welche aktuelle Fragen für die Entwicklung von Sprache und Kommunikation begleiten sollten, um neue Erkenntnisse umfassender würdigen zu können. Dieser Beitrag präsentiert bisherige Forschungsbemühungen der Sprachwissenschaft vor dem Hintergrund gruppenspezifischer Akzente in Form eines konziDOI 10.1515/9783110296136-012
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sen Kondensats, um Entwicklungslinien/-desiderate sichtbar werden zu lassen. Es schließen sich Hinweise zu den o. g. Nachbardisziplinen an, die als Leseanregung für die Entwicklung potenziell-interdisziplinär angelegter Forschungsfragen verstanden werden sollen. Schließlich folgt die Präsentation ausgewählter Bereiche aus sprachwissenschaftlichen Teildisziplinen mit Hinweisen zu möglichen Forschungspotenzialen. 1 Bisherige Forschung zu Neuen Medien 2 Erträge aus den Nachbardisziplinen 3 Perspektiven auf die Kategorie ‚Gruppe‘ 4 Anschlussüberlegungen 5 Literatur
1 Bisherige Forschung zu Neuen Medien Die beginnende Forschung zur deutschsprachigen Internetkommunikation war zunächst darauf bedacht, die innovativen Potenziale kommunikativer Interaktion unter den neuartigen Besonderheiten der Netzkommunikation (Multimodalität, Interaktivität) zu verstehen und beschreiben. In den Kern der Beobachtungen rückte dabei die Identifikation der Variation des internetspezifischen Sprachgebrauchs, die Beschreibung und Dokumentation ihres Formenbestands mit einer damit einhergehenden Typologisierung und Interpretation. Erste Überblicksarbeiten (Runkehl/ Schlobinski/Siever 1998) wurden durch Folgeforschung (hier exemplarisch z. B. Beißwenger 2001 für Chat-, Ziegler/Dürscheid 2002 für Mail-Kommunikation) immer weiter ausdifferenziert und boten damit zunehmend feinkörnigere Einsichten. Ein zentraler Ertrag von Forschungsfragen sprachwissenschaftlicher Provenienz ist hier die Einsicht, dass sich der Sprachgebrauch in den Neuen Medien durch das KochOesterreich-Paradigma (Koch/Oesterreicher 1985) modellieren lässt. Dabei wird zwischen der skalaren Ebene des konzeptionellen sprachlichen Ausdrucks sowie den dichotomen Möglichkeiten, zwischen mündlicher oder schriftlicher Realisierung wählen zu können unterschieden. Im Kontext der gegenwärtigen technischen Evolutionsstufe zeigt sich, dass hier eine Weiterentwicklung zu verzeichnen ist. So verwirklicht bspw. das Netzwerk WhatsApp die Nutzung/Bündelung beider Medialitäten (Abb. 1, rechtes Beispiel). Zu Beginn der Forschung in den Neuen Medien (zunächst: Web 1.0) war der Blick auf die unterschiedlichen Kommunikationspraxen und ihre sprachlichen Realisierungen gerichtet. Deutungsmuster vermieden pauschalierende Urteile über Sprachgebrauchsmuster (dagegen: Crystal 2001). Die Bedeutung von Gruppen- bzw. Netzwerkinteraktion war nicht von Anbeginn ein Schwerpunkt. Eine Veränderung war dem medialen Umbruch der Netzkonzeption vom Web 1.0 zum Web 2.0 geschuldet. Die Größe und Zugänglichkeit verfügbarer Daten veränderte sich fundamental, die
Gruppe in der Forschung zu Neuen Medien (Web 2.0)
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Analyse von Sprachdaten verschob sich zunehmend zugunsten quantitativer Analysen.
Abb. 1: Integration ikonischer Zeichen in symbolischer Kommunikation (links) und Kombination medialer Mündlichkeit/Schriftlichkeit bei WhatsApp-Nachrichten (rechts).
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Erträge aus den Nachbardisziplinen
2.1 Medien-/Kommunikationswissenschaft Die Entwicklung des Web 2.0 – verstanden als Social Web – geht einher mit der skalaren Verschiebung zweier Parameter (nach Gerhards/Klingler/Trump 2008): a) Dem Gestaltungsgrad (Papsdorf 2013, 182) und b) dem Kommunikationsgrad. Der Gestaltungsgrad transformiert private zur öffentlichen Kommunikation (E-Mail 1:1 vs. Facebook 1:n). Die Evolution des Kommunikationsgrades beschreibt dabei die ursprüng-
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lich passiv/unproduktiv-betrachtende Nutzung (Homepage lesen, Daten abrufen) hin zu einer aktiv-gestaltenden (Posting verfassen/kommentieren, Daten bereitstellen). Einhergehend mit diesem Paradigmenwechsel rücken Interaktionsprozesse von Gruppen/Netzwerken vermehrt in das Zentrum der Forschung. Dabei wird die Auseinandersetzung über das begriffliche Verständnis von Interaktion/Interaktivität (Bieber/Leggewie 2004) umso bedeutender. Gleichzeitig wurde das Verständnis und die sie konstituierenden Variablen von Massenmedien bzw. Massenkommunikation verändert. Traditionelle Modellierungen (Maletzke 1963; hierzu kritisch: Schönhagen 2004, 60 ff.) weisen insbes. das Problem auf, wonach Parameter wie Einwegkommunikation (Sender → Empfänger), Manipulation (auch „Freiheitsgrade der Gestaltungs- und Interpretationsspielräume in der Kommunikation für Produzenten und Rezipienten“; Habscheid 2005, 58) oder Publikumsdispersität zu hinterfragen und weiterzuentwickeln sind. Dadurch werden mediale und interaktionale Strukturen insbesondere von Sozialen Netzwerke transformiert: „From Mass Communication to Mass Self-communication“ (Castells 2009, 58). Verschiedene Umstände tragen dabei eine besondere Bedeutung, welche die Konstituierung, Nutzung, Manipulation sowie Habitualisierung kommunikativer Gruppen- und Netzwerkbildung nachhaltig beeinflusst haben: a) Die im Web 2.0 wesenskonstitutive Anlage des Verbindens, b) die Mobilisierung (Höflich 2011, 2014) internetbasierter Interaktion und damit einhergehend c) das permanente Vernetztsein von Individuen, Gruppen und Netzwerken (Steinmaurer 2016). Die Mobilkommunikation hat bewirkt, dass Aufmerksamkeit und Empathie von Menschen in kommunikativen Settings aufgespalten werden. Nutzer mobiler Artefakte sind (potenziell) kommunikativ immer gleichzeitig offline und online. Dieses Arrangement zieht Konsequenzen im Hinblick auf die kognitive Wahrnehmung der Mediennutzer mit sich, die sich dadurch auszeichnen können, dass sie mitunter als „mobile kommunikative Inseln“ agieren (Höflich/Roll/Kirchner 2014). Gleichzeitig zeigt der mediale Umbruch vom Handy zum Smartphone insofern Veränderungen in den Sprachgebrauchsmustern, als das sich mit der Einführung von Smartphones und der damit einhergehenden Verringerung der Tastaturfläche zum Tippen von Nachrichten z. B. die durchschnittliche Buchstabenzahl pro Nachricht um rund 2/3 verringerte (Rudder 2016, 75). Die nunmehr konstitutiv vorhandene immerwährende Verfügbarkeit des Einzelnen an die sozialen Entitäten seiner Wahl (Individuen/Gruppen/Netze) führt zu einer quantitativen wie auch qualitativen Verformung mobiler Kommunikation, die insbesondere den Faktor Zeit akzentuiert: Nie ist so viel in so kurzer Zeit schriftbasiert kommuniziert worden, wie zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Daraus entwickelt sich ein breiter Horizont an Anschlussforschung, welche Fragen nach der psychosozialen Belastbarkeit oder der inhaltlichen Relevanz ansteigender Kommunikationsmengen aufwirft und diskutiert. Die Steigerung der Kommunikationsmenge pro Zeiteinheit darf jedoch Ursachen und Folgen nicht vermengen:
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Steigerung der Kommunikationsmenge wird durch Technik ermöglicht, aber nicht erzwungen. Der wahrnehmbare Steigerungszwang resultiert daher nicht aus der Technik selbst, sondern aus der durch sie ermöglichten Gegenwartsschrumpfung, d. h. aus der beschleunigten Veränderung der Kommunikations- und Handlungskontexte. (Rosa 2005, 120 FN 11; Hervorhebungen i. O.)
Zu unterscheiden ist die durch mobile Technik potenziell mögliche Anreicherung eigener Beziehungen mit akzelerierten Kommunikaten pro Zeiteinheit von der tatsächlichen realisierten Mediengebrauchsnutzung des Einzelnen. Aus der Beobachtung resultiert als mögliche Konsequenz ein Paradoxon in der Ausgestaltung von Beziehungen, die ihrerseits insbesondere Auswirkungen auf Gruppen- und Netzwerkanalysen im Web-2.0-Kontext zeitigen können: Der raumzeitlich flexibel agierende Kommunikator verlässt zunehmend langfristige Verbindlichkeiten und trägt so zu einer möglichen Fragmentierung und Destabilisierung von Identitäten und Beziehungen bei. Rosa (2005) argumentiert, dass das Erlebte erst dann zu einer in der Persönlichkeit verankerten Erfahrung wird, wenn sie Bestandteil des narrativen Musters der eigenen Biografie wird. Wo Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft immer wieder neu und situativ verknüpft und gedeutet werden, ändert sich auch die Konzeption dessen, wer man war, ist und sein wird, stets aufs Neue. Ausprägungen und Gewichtung der Identitätsparameter ändern sich von Situation zu Situation: Wer man ist, hängt davon ab, mit wem man es gerade zu tun hat […] und in welcher Gesellschaftssphäre man sich gerade engagiert; es wird unklar, welche Identitätsdimension […] zentral und welche peripher sind. Kohärenz und Kontinuität des Selbst werden somit kontextabhängig, flexibel konstruiert, seine Stabilität beruht nicht mehr auf substanziellen Identifikationen. (Rosa 2005, 371 f.)
Vor dem Hintergrund a) abnehmender Verbindlichkeit und b) zunehmender Flexibilität sowohl bei der Eigenschaftszuschreibung von Personen und Gruppen als auch bei der digitalen Kommunikation unter Abwesenden erodieren Aspekte der Nachhaltigkeit hinsichtlich der sozial-kommunikativer Belastbarkeit unter prospektivzeitdiagnostischer Perspektive. Sprachliche Verhaltensweisen und regelgebundene kommunikative Muster können sich auflösen oder machen neuartigen Gebräuchen und Verhaltensweisen Platz. Ein Diskussionsansatz zu dieser Diagnose, wird in der Modellierung von Resonanz (Rosa 2016) erkannt. Aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive besteht ein grundlegendes Interesse an der Beobachtung und Beschreibung (reziproker) interaktiver/kommunikativer Prozesse sowie den zugrundeliegenden Strukturen des Informationsaustausches unter Rückgriff des Gebrauchs von Zeichensystemen (Burkart 2002). Die aus Perspektive der Linguistik prototypische Verwendung symbolischer Zeichen wird im Umfeld Neuer Medien aufgebrochen, indem ikonische Additive (Smileys/Emojies; Maier-Borst 2015; vgl. auch Abb. 1, linkes Beispiel) genutzt oder multimodale Kommunikationsarrangements (z. B. Meme; Boie 2015) mittels Kopplung von Sprache/Ton/ Bild/Video (zu einer Bildlinguistik: Diekmannshenke/Klemm/Stöckl 2011) genutzt werden. Verschiedene Angebote konzentrieren sich dabei auf spezifische (Text-)Bild-
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(Flickr, Tumblr, Snapchat) oder (Text-)Video-Kombinationen (Instagram, Vine) . Zahlreiche Beobachtungen deuten dabei auf eine Migration des Zeichengebrauchs weg von statisch-symbolischen Zeichenarrangements hin zur Akzentuierung von Bildund Videokommunikation. Ferner gehen bisherige Modellierungen menschlicher Kommunikation (Auer 1999) vom prototypischen Szenario der Mensch-Mensch-Interaktion aus. Für webbasierte Kommunikationsabläufe müssen dagegen künftig auch Formen der MenschAvatar- (humanbasierte Stellvertreterkommunikation; Misoch 2013, Quandt/Kröger 2013) bzw. Mensch-Agent-Kommunikation Berücksichtigung finden. Dies erfordert auch die Beachtung, Einbindung und theoretische Konzeptualisierung algorithmischdeterminierter Kommunikationsentitäten, die eine Vielzahl interaktiver Abläufe generieren und beeinflussen. Hierzu zählen Auswahloptionen bei der Einrichtung von Konten; so etwa die Deklaration des eigenen Beziehungsstatus‘ oder die wählbaren Geschlechtsoptionen, welche bei Facebook seit 2014 auf über 50 angestiegen sind (Rudder 2016, 205). Damit wollen Systembetreiber (z. B. Google, Apple) die Kontrolle über die von den Nutzern verwendeten Inhalte monopolartig regulieren. In einer weiteren Evolutionsstufe sollen zudem Applikationen auf mobilen Geräten nicht nur durch passive Dienstbereitstellung Nutzerinteraktion ermöglichen; vielmehr werden diese (z. B. mittels Geo-Targeting) aktiv-initiierte Kommunikation ermöglichen. Damit wird das interaktionale Kommunikationsnetz erneut erweitert: Nicht nur die kommunikative Richtung von Ego zu (bekanntem) Alter ist maßgeblich. Vielmehr treten durch die sich verändernden Beziehungen der Netzwerkkommunikation von (unbekannten) Alteri zu Ego wesentlich in den Fokus, welche oftmals Formen von ungeplant-regressiver Kommunikation (z. B. Shitstorms; Steinke 2014) in das Zentrum des Interesses rücken. Hierdurch werden nicht zuletzt die in gesellschaftlichen Kontexten direkter Kommunikation fest verankerten Interaktionsrituale (Goffman 1986) tangiert.
2.2 Soziologie/Netzwerktheorie Das Konzept der Gruppe referiert auf eine distinkte Anzahl von Gruppenmitgliedern, welche über eine bestimmte zeitliche Distanz zwecks Erreichung eines Gruppenziels in einem kontinuierlichen Kommunikations- und Interaktionsprozess verbunden sind, welcher wiederum ein Wir-Gefühl generiert. Erforderlich hierfür sind gemeinsam geteilte Normen sowie die Verteilung vorhandener Aufgaben (zum Aspekt Rollendifferenzial: Schäfers/Lehmann 2016, Schäfers 1999). Im Kern des Gruppengedankens stehen damit die jeweilig handelnden Akteure und ihnen zuordenbaren Merkmale bzw. Merkmalskombinationen. Demgegenüber reflektiert der Begriff des sozialen Netzwerks die Struktur und Qualität von Beziehungen (Stegbauer 2016). Diese werden abgebildet über Knoten (die üblicherweise Personen, jedoch auch andere Entitäten bezeichnen können) und den
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zwischen diesen Knoten befindlichen (endlichen) Kanten. Die Netzwerkforschung hat sich insbesondere durch die Neuen Medien katalytisch weiterentwickelt (Schnegg 2010, Ziegler 2010). Die Einbindung und Fruchtbarmachung eines netzwerktheoretisch fundierten Beschreibungsinventars (z. B. zu Beziehungen: Haas/Malang 2010, Avenarius 2010; Positionen und Akteure: Albrecht 2010, Scheidegger 2010, Henning 2010) wird die Aufgabe aktueller und gegenwärtiger Forschung insbesondere in den Sprachwissenschaften sein. Auswirkungen ergeben sich dabei bspw. aus den sich verändernden Konsequenzen bspw. für die Bindungsstärke von Beziehungen und einer daraus resultierenden Verbindlichkeit für Regeln und Rollen. Dies lässt sich an folgendem Beispiel illustrieren:
B
B
A >Kumpelige Clique
Stabile Beziehung
Netz assimilierter Paare
passive< Wahlkampfhelfer/Multiplikatoren)
[A]
>Camp Obama< (hauptamtliche Mitarbeiter) kontrolliert & distribuiert Informationsfluss, weitet eingehende Daten aus [E] und [G] Daten mittels >Micro Targeting< aus.
[B]
Distribuiert >offziellen< Informationfluss, sammelt dabei Informationen über Online-Nutzer.
[C]
Generieren Wähler- und wahlkampfrelevante Informationen
[D]
Pflegen Informationen über Wähler aus E) in Wahlkampfdatenbank ein
[F]
Stehen – zwecks Aktivitätssteigerung – in kompetetivem Verhältnis zueinander
[G]
Kommentiert, postet, >liked< Informationen, multipliziert damit Reichweite
[E]
Machen Telefonanrufe, klopfen an Haustüren von nicht registrierten Wählern.
Abb. 5: Kommunikative Vernetzung von Akteuren im politischen Wahlkampf
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Mögliche Forschungsansätze/Desiderata: Interessens-/Gruppenspezifische Variation der inhaltlichen Adressierung, Evolution vorhandener/neuer Textsorten, Veränderung etablierter Kommunikationsmodellierungen (weg von Top-down-Prozessen).
4 Abschließende Überlegungen Die Darstellung unterschiedlicher gesellschaftlicher Bereiche sollte verdeutlichen, dass das Konzept der Gruppe in den Neuen Medien eng mit jenem des Netzwerks verknüpft ist. Die für Gruppen bestimmenden Parameter (inhaltliche Fokussierung, temporale Festigkeit des Zusammenhalts) sind mit den Varianten der Beziehungsoptionen auf der Folie von Netzwerkkonzeptualisierungen zu korrelieren. Diese spezifische Gemengelage bedingt, dass Gruppenbildung zwischen den Polen von Festigkeit und Volatilität oszillieren kann. Die Stratifikation von Merkmalsbündeln und ihre jeweilige Einordnung in dieses skalare Verhältnis wird dabei von den je spezifischen Anforderungen/Erwartungen der Emittenten determiniert. Die in den einzelnen Bereichen (gesellschaftliche Milieus, ökonomische Zielgruppen, politische Klientele) je spezifischen sprachlichen Ausformungen können dabei als Spiegel innovativer gesellschaftlicher Entwicklungen/Veränderungen dienen. Die Analyse von Big Data wird in den verschiedensten Bereichen der Kategorie Gruppe bzw. Netzwerk neue, mithin genauere Beschreibungen ermöglichen. Vorliegende quantitative Datenanalysen aus dem englischsprachigen Raum geben dabei eine erste Interpretationsfolie: Das Schreiben bleibt. Es mutiert, es repliziert sich auf seltsamen Wegen, es findet unerwartete Überlebensnischen, und wie alles Lebendige stinkt es manchmal. Aber seien Sie sich darüber im Klaren, dass wir heute, was das Schreiben angeht, eine kambrische Explosion erleben, kein Massensterben. Die Sprache ist heute vielfältiger als je zuvor, auch wenn sie oft direkt von der Wandtafel abgeschrieben ist – Diversität fördert nämlich eine Kunst und bedroht sie nicht. (Rudder 2016, 81).
Diese Beobachtung korreliert mit den qualitativ und (wenngleich nicht so umfänglichen) quantitativen Datenbefunden deutschsprachiger Forschung. Eine kulturkritische Perspektive kann dabei als Indiz interpretiert werden, dass diffusen Besorgnissen über die Gründe von Sprachwandelprozessen in der Bevölkerung vor dem Hintergrund entsprechender Analysen mit belastbaren Argumenten begegnet werden kann. Sprache und Kommunikation differenziert sich – durch die anhaltende Weiterentwicklung gesellschaftlicher Gruppen/Milieus – weiterhin aus. Die sprachwissenschaftliche Forschung steht hier einem Feld gegenüber, welches reichhaltige Potenziale eröffnet.
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III Einzelanalysen zum Sprachgebrauch in sozialen Gruppen
Miriam Morek/Uta Quasthoff
13. Sprachliche und diskursive Praktiken unter Kindern Abstract: Gegenstand des Beitrags sind Interaktionen in Peergroups von Kindern bzw. Präadoleszenten und ihre Rolle für den Erwerb von diskursiven Fähigkeiten im Bereich des ‚situationsangemessenen Sprachgebrauchs‘. Der Blick richtet sich dabei auf kommunikative Gattungen, besonders das Erzählen, als zentrale Praktiken der Identitätsbildung von Cliquen mit unterschiedlichen Kommunikationskulturen. Aus gesprächsanalytischer Perspektive werden die besonderen Anforderungen an das Erzählen in Gruppen von Gleichaltrigen herausgearbeitet und systematisch auf ihre Funktionalität für peergroup-spezifische Zwecke wie Unterhaltung, Gruppenkonsolidierung und Statusaushandlung bezogen. Auf Basis exemplarischer Gesprächsausschnitte aus der Studie „DisKo“ wird vorgeführt, welche speziellen Anforderungen die sequenzielle Einbettung und der Zuschnitt auf kommunikative und interaktive Erfordernisse der Peergroup stellen und welche Ressourcen sie erfordern. Aus diskurserwerbsorientierter Perspektive wird schließlich die Rolle von Peer-Interaktionen als Erwerbskontext für Kontextualisierungsfähigkeiten diskutiert. 1 Einleitung: Gruppeninteraktionen unter Kindern 2 Kommunikative Gattungen in präadoleszenten Peergroups 3 Kontextualisierung von Gattungen in der Gruppeninteraktion am Beispiel des Erzählens 4 Erwerb von Kontextualisierungskompetenz unter Gleichaltrigen 5 Anhang: Transkriptionskonventionen 6 Literatur
1 Einleitung: Gruppeninteraktionen unter Kindern Als ‚Peergroups‘ werden in der Entwicklungspsychologie sowie der (Kinder- und Jugend-)Soziologie Gruppen von etwa Gleichaltrigen gefasst, die regelmäßigen direkten Kontakt pflegen, etwa bei gemeinsamen Freizeitaktivitäten, und meist im Umfeld von Bildungsinstitutionen entstehen, aber auf einem freiwilligen Zusammenschluss beruhen (Ecarius et al. 2011; Breidenstein 2008; vgl. auch Neuland/Schobinski, i. d. B.). Peergroups „konstituieren sich üblicherweise als Kleingruppen mit informellen Beziehungen“ (Ecarius et al. 2011, 125). Sie stellen für Kinder und Jugendliche die neben der Familie wichtigsten, durch enge persönliche Bindungen gekennzeichneten „Primärgruppen“ dar und gelten als zentrale Sozialisationsinstanz (Harring et
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Miriam Morek/Uta Quasthoff
al. 2010).1 Die kommunikativen Praktiken in der Peergroup unterscheiden sich sehr wesentlich von anderen Interaktionskontexten (z. B. Familie, Unterricht). Sie bringen besondere kommunikative Anforderungen mit sich, aber auch besondere Potenziale für den Ausbau kommunikativer Fähigkeiten. Spätestens mit Eintritt in den Kindergarten beginnen Kinder, Interaktionen mit Gleichaltrigen zu etablieren und – ohne das Zutun erwachsener Gesprächspartner in Person von Eltern oder ErzieherInnen – sprachlich miteinander zu handeln. Im Vorschulalter steht dabei zunächst die Gestaltung von Interaktionsbeziehungen als solchen im Vordergrund: Das Initiieren und Aufrechterhalten interaktiven Kontakts, die Organisation des Sprecherwechsels, das wechselseitige, sequenzielle Aufeinander-Reagieren und das Eröffnen von Themen und Aktivitäten (z. B. Komor 2010; OʼNeill et al. 2009). Die selbständige Beherrschung dieser Aufgaben wird in der Peergroup angebahnt. Sprachliche (und nicht-sprachliche) Verfahren zur Herstellung bzw. Beschränkung des Zugangs zu einer Interaktionsgruppe stellen dabei für das einzelne Kind eine zentrale Ressource dar, um überhaupt als Mitglied einer (z. B. Spiel-)Gruppe wahrgenommen und anerkannt zu werden. Empirische Untersuchungen zur frühen Interaktion unter Kindern haben gezeigt, dass im Alter zwischen 3 und 6 Jahren z. B. Rollenspiele (Bose 2003), Reim- und Klatschspiele, Sprachspiele (Stude 2013) und Verfahren der Aushandlung von Positionen und Dissens (Arendt 2015; Zadunaisky Ehrlich/Blum-Kulka 2010) genutzt werden, um Gemeinschaft zu etablieren und Positionen auszuhandeln. Dabei bringen Kinder interaktive Muster hervor, die sich in dieser Form nur in Abwesenheit von Erwachsenen etablieren (Stude 2013). Ab dem Grundschulalter bis zur Präadoleszenz (ca. 12/13 Jahre) werden dann Prozesse der sozialen Differenzierung innerhalb der jeweiligen Peer-Kultur zunehmend wichtiger (Breidenstein 2008; Corsaro 2011). Die eigene Gruppe muss als Gruppe – also in ihrer Gruppenidentität mit geteilten Wissensbeständen, Normen, Werten und Handlungspraktiken – fortwährend im Sinne des doing peer-group (Schmidt 2004) konsolidiert und nach außen abgegrenzt werden. Antizipation und Aushandlung wechselseitiger Erwartungen an Einstellungen und Verhalten der Peers rücken nun stärker in den Blick, ebenso wie der soziale Vergleich untereinander und das Bemühen um Selbstdarstellung, soziale Anerkennung und Status des Einzelnen innerhalb der Peergroup (Brinthaupt/Lipka 2002). Sprache wird dabei für die Gruppenkommunikation immer zentraler. Sie konstituiert und begleitet nun seltener Spielaktivitäten, sondern wird vermehrt zum Vehikel von thematischer Kommunikation, von „doing conversation“ (Blum-Kulka et al. 2004,
1 Teilweise werden „Peergroups“, „Freundesgruppen“ (Breidenstein 2008, 945) und „Cliquen“ (Scherr 2010) differenziert. Diese Unterscheidung betrifft im Wesentlichen lediglich die Stärke des Zusammenhalts und die Dauerhaftigkeit der Beziehungen (Scherr 2010, 73–75). Im vorliegenden Beitrag werden die Begriffe ‚Clique‘ und ‚Peergroup‘ synonym verwendet.
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309). Die sprachlichen Praktiken, die bei Kindern am Übertritt zur weiterführenden Schule zu beobachten sind, nähern sich denjenigen an, die für adoleszente Peergroups beschrieben wurden. Dazu zählen: Erzählen von Geschichten (NeumannBraun et al. 2002; Georgakopoulou 2005; Spreckels 2006) und Witzen, Lästern und Klatsch (Goodwin 2006; Walther 2014), verbale Duelle (z. B. ‚Dissen‘, Deppermann/ Schmidt 2001; Schmidt 2004), scherzhafte Provokationen und Frotzeleien (Branner 2003; Walther 2014) sowie bewertende und sprachspielerisch verfremdende Praktiken medienbezogener Kommunikation (Maybin 2006; Schlobinski et al. 1993). Während ethnographisch und ethnomethodologisch orientierte Arbeiten von Peer-Interaktionen auf die Beschreibung vorfindlicher kommunikativer und interaktiver Strukturen und deren Funktion für das doing peer-group fokussieren, sind gerade in jüngerer Zeit auch Arbeiten entstanden, die zusätzlich der Frage nach der Rolle von Peer-Interaktionen für den Erwerb pragmatischer und diskursiver Fähigkeiten nachgehen (z. B. das Themenheft der Zeitschrift Discourse Studies von Blum-Kulka und Snow 2004; Cekaite et al. 2014; Morek 2014, 2015b; Stude 2013, vgl. Abschnitt 4). Der vorliegende Beitrag führt diese beiden Forschungsperspektiven zusammen: Er setzt Ausprägungen und Funktionen sprachlichen Agierens in der Clique systematisch in Bezug zu den Anforderungen und Erwerbsaufgaben, die sich damit jeweils dem einzelnen Kind stellen. Fokussiert wird dabei auf kommunikative Gattungen bzw. speziell auf das Erzählen als besonders verbreitete Praktik in präadoleszenten Cliquen (Morek 2014; Quasthoff/Morek 2015). Ausgehend von den empirisch rekonstruierbaren Funktionen und Anforderungen des Erzählens in präadoleszenten Peergroups werden speziell Herausforderungen und Ressourcen des Erwerbs von Kontextualisierungskompetenz als der Fähigkeit zum „situationsangemessenen Sprachgebrauch“ herausgearbeitet.
2 Kommunikative Gattungen in präadoleszenten Peergroups Geht man von einem sozialkonstruktivistischen Grundverständnis aus, dann existieren (Peer)Gruppen nicht – wie in der klassischen korrelativen Soziolinguistik impliziert (z. B. Labov 1972) – als statische, prädeterminierte Gebilde, sondern sind „social creations“ (Eckert 2000, 34) ihrer Mitglieder, die im regelmäßigen Zusammenkommen und Miteinander-Handeln hervorgebracht werden. Dadurch werden kulturelle Alltagskonzepte in Form von gemeinsamen (sprachlichen und nicht-sprachlichen) Praktiken, unter Nutzung habitualisierter Repertoires, (re)produziert: „people come to develop and share ways of doing things, ways of talking, beliefs, values – in short, practices – as a function of their joint engagement in activity.“ (ebd., 35). In diesem Sinne lassen sich Peergroups als communities of practice (ebd.) verstehen. Eine solche Perspektive eröffnet den Blick auf die
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a) Rolle sprachlicher und diskursiver Praktiken für die Gruppe und die Anforderungen an die Partizipation des Einzelnen in der Gruppe, b) Charakteristika der Praktiken einzelner Gruppen im Vergleich zu anderen (z. B. anderen Cliquen, familialen oder unterrichtlichen ‚Praxisgemeinschaften‘), c) sprachlich-kommunikativen Erwerbsgelegenheiten, die in der regelmäßigen Partizipation an habitualisierten Peer-Interaktionen (in bestimmten Gruppen) liegen. Einen besonderen Typus sprachlicher Praktiken stellen „kommunikative Gattungen“ dar. Gattungen sind verfestigte, zur Bearbeitung rekurrenter kommunikativer Probleme herausgebildete sprachlich-interaktive Lösungsverfahren (vgl. Luckmann 1989; Günthner/Knoblauch 1996), die i. d. R. einen gewissen Komplexitätsgrad aufweisen (Günthner/Christmann 1996, 327). Sie umfassen also ‚größere‘, d. h. global organisierte sprachliche Strukturen oberhalb der Ebene einzelner Äußerungen (wie z. B. Erzählungen, Erklärungen, Argumente) (Hausendorf/Quasthoff 1996). Einige solcher Gattungen, die für die Ingroup-Kommunikation unter Peers in der mittleren und späten Kindheit besonders zentral sind, wurden in Abschnitt 1 bereits angeführt. Ähnlich wie Gattungen verfestigte Lösungen rekurrenter Kommunikationsprobleme sind und bestimmten kommunikativen Zwecken dienen, lassen sich soziale Kontexte wie Peer-Interaktion i. S. „sozialer Veranstaltungen“ (Luckmann 1989) funktional unter dem Gesichtspunkt betrachten, welche gesellschaftlichen Zwecke typischerweise im Rahmen dieses Aktivitätstyps erfüllt werden. Für die Peer-Interaktion in Cliquen liegen diese Zwecke in der Reproduktion und Stabilisierung der Gruppenkultur, in der Aushandlung von Statusrollen sowie in der Abgrenzung nach außen – jeweils vollzogen im Rahmen unterhaltsamer und vergnüglicher Kommunikationspraktiken (vgl. Neumann-Braun et al. 2002; Schmidt 2004) . Vergleichende Arbeiten zu kommunikativen Mustern in unterschiedlichen Peergroups (Prä-)Adoleszenter zeigen allerdings, dass diese übergeordneten Zwecke ihrerseits wiederum in jeder Gruppe individuell ausgestaltet und umgesetzt werden (Schlobinski et al. 1993; Eder 1990; Morek 2014, 2015a). So zeigen sich z. B. gruppenabhängige Unterschiede in den jeweils aktualisierten Repertoires kommunikativer Gattungen. Befunde aus dem Projekt „Diskursive Praktiken von Kindern in außerschulischen und schulischen Kontexten“2 (DisKo) deuten dabei auf Varianzen in Abhängigkeit vom sozialen Milieu hin: In Gruppen von sozial weniger privilegierten Schülerinnen und Schülern dominierten ‚lokal‘ organisierte sprachliche Praktiken, die jeweils nur das Herstellen von Bezügen zum situativen Kontext oder zwischen unmittelbar aufeinander folgenden Einzeläußerungen erfordern (z. B. ,Sprüche klopfenʼ, Kommentierungen der Situation; scherzhafte Beleidigungen und Frotzeleien). Demgegenüber fanden sich komplexere, also ‚globale‘ Zusammenhänge
2 Gefördert von der DFG (Qu 34/13-1)
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versprachlichende Praktiken deutlich ausgeprägter in Gruppen sozial privilegierter Kinder (Morek 2014), darunter auch Praktiken wie Erklären und Argumentieren, die für Unterrichts- und Schulerfolg zentral sind. Die jeweils typischerweise in einer Gruppe praktizierten kommunikativen Gattungen und ihre spezifische Art der Durchführung machen die (kommunikative) Kultur einer Gruppe aus (vgl. Coupland et al. 2005, 67). Daneben bestimmt auch die rekurrente Bearbeitung spezifischer Gesprächsthemen (z. B. PC-Spiele, Pferde, Mitschüler, Mode) die Kommunikationskultur einer Gruppe mit (vgl. dazu auch Heller 2012, 109– 114). Themen und Gattungen sind also Teil der spezifischen Gruppenidentität, die lokal immer wieder durch den speziellen Typ der jeweiligen Gruppen-Interaktionen reproduziert wird. Unter Gesichtspunkten des Erwerbs kommunikativer Fähigkeiten bedeutet dies zugleich, dass Kindern in ihren Peergroups u. U. sehr unterschiedliche Erwerbskontexte zur Verfügung stehen. Als zentral für das habitualisierte kommunikative Repertoire von Cliquen per se hat sich das Erzählen erwiesen (z. B. Branner 2003; Goodwin 2006; Maybin 2006; Schmidt 2004; Spreckels 2006). Es kann in seinen jeweiligen Ausprägungen verschiedene gruppenkonstituierende Funktionen in der Clique übernehmen, z. B. Klatschen oder Lästern über Nicht-Gruppenmitglieder, Wiederauflebenlassen gemeinsamer Erlebnisse und Erinnerungen, spielerisches Ausmalen fiktiver Szenarios, Selbstdarstellung und Statusbeanspruchung, Aktualisieren gruppeninterner Normen. Für die gesellschaftlichen Zwecke der Reproduktion von Gruppenkultur und der Statusaushandlung ist das Erzählen besonders geeignet, weil es das Teilen von Erfahrungen und Bewertungen ermöglicht und durch die sprachliche Schaffung erzählter Welten besonderes Potenzial für Selbstdarstellung in sich birgt (Lucius-Hoene/Deppermann 2004; Bamberg 2012; Quasthoff 2013). Häufig wird in Peergroups auch kollaborativ erzählt (Quasthoff 1980a), werden gemeinsam geteilte Geschichten nur angedeutet (Georgakopoulou 2005) oder ganze Serien mehrerer aufeinanderfolgender Erzählungen mit denselben oder ähnlichen Themen und Pointen realisiert (Morek 2016).
3 Kontextualisierung von Gattungen in der Gruppeninteraktion am Beispiel des Erzählens Unter gesprächsorganisatorischen Gesichtspunkten ist das Platzieren von Erzählungen innerhalb von Gesprächen eine anspruchsvolle Aufgabe, wie Sacks (1971) schon früh gezeigt hat. Dabei allerdings hob er vor allem auf die Tatsache ab, dass Erzählungen i. d. R. aus ‚mehr als einem Satz‘ bestehen und ihre Produktion somit den normalen Sprecherwechselmechanismus für die Dauer des Erzählens außer Kraft setzt (Wald 1978). Zu diesem Zweck werden v. a. sog. story prefaces, „Aufmacher“ (Quasthoff 1980b) eingesetzt (z. B. ‚Mir ist gestern was Schreckliches passiert‘), die eine solche längerfristige Übernahme des Rederechts durch den Erzähler vorbereiten. Zugleich
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müssen Erzählungen jedoch nicht nur in ihrer Globalität für die Gesprächsteilnehmer/innen ausgeflaggt werden, sondern sie müssen als ein bestimmter Typ von Aktivität erkenn- und interpretierbar gemacht werden: sie müssen also gattungsmäßig als narrative Aktivität kontextualisiert werden (Auer 1992; Quasthoff et al. 2017). Bei dieser vorbereitenden Einbettung von Erzählungen werden Kinder in der Erwachsenen-Kind-Interaktion vom erwachsenen Gesprächspartner dialogisch unterstützt (Hausendorf/Quasthoff 1996; Kern/Quasthoff 2005). Beispielsweise stellen Erwachsene erzählträchtige Fragen (z. B. ‚Wie war es heute beim Training?‘), fordern explizit zum Erzählen auf und/oder ratifizieren die Erzählwürdigkeit von angedeuteten Erlebnissen mit Hilfe entsprechender Zuhöreraktivitäten (z. B. ‚echt?‘, ‚oh!‘). In solchen Gesprächsaktivitäten, die Erzählraum schaffen, offenbart sich u. a. das Erwerbspotenzial von Erwachsenen-Kind-Interaktionen (Hausendorf/Quasthoff 1996). Sind Kinder und Jugendliche unter sich, fallen entsprechende unterstützende Gesprächsaktivitäten i. d. R. weg, so dass eine mögliche Erwerbssupportivität der narrativen Peer-Interaktion unter Kindern lange nicht in den Blick geriet. Für Mehrpersoneninteraktionen unter (prä)adoleszenten Peers lässt sich zum Beispiel beobachten, dass Erzählungen so gut wie immer selbstinitiiert werden (müssen) und die Bedingungen dafür in der Gruppe eher widrig statt supportiv zu sein scheinen. Längeres monologisches Rederecht wird kaum eingeräumt (Schmidt 2004, 249), das Erzählen von Geschichten durch Einzelne wird tw. kaum zugelassen (Bausch 1994), sondern es finden sich eher kollaborativ von mehreren Gruppenmitgliedern getragene Geschichten (Branner 2003). Vor diesem Hintergrund stellt die Kontextualisierung längerer Äußerungen (Quasthoff 2009) eine ganz zentrale Aufgabe – und Kompetenz (vgl. Abschnitte 3 und 4) – dar, wenn es um die interaktiv erfolgreiche Lancierung von Gattungen (z. B. Erzählungen) in Peer-Interaktionen geht. Kontextualisierung verstehen wir dabei im zweifachen Sinne (Morek 2016): als gesprächsorganisatorische Aufgabe der lokal passenden Einbettung einer Diskursaktivität in den laufenden Gesprächskontext (sequenzielle Kontextualisierung) und als angemessener Zuschnitt einer Diskursaktivität auf die kommunikativen und interaktiven Bedingungen und Normen eines bestimmten sozialen Kontexts bzw. einer sozialen Veranstaltung in einer konkreten community of practice (soziale Kontextualisierung). Die konversationsanalytische, auf die lokal-sequenzielle Platzierung sprachlicher Aktivitäten gerichtete Frage ‚why that now?‘ (Schegloff/Sacks 1973, 76), die die Kontextualisierung im sequenziellen Sinne betrifft, wird also ergänzt um die Frage ‚why that here?‘ (‚Warum hier in unserer Gruppe/Runde/Familie?‘). Die angemessene Platzierung von Erzählungen in der Peergroup setzt damit die folgenden Anforderungen an eine erfolgreiche Kontextualisierung: Erstens muss eine narrative Diskurseinheit sequenziell passend in den lokalen Kontext der laufenden Interaktion eingebettet werden. Es muss thematische Kohärenz zum bestehenden Gesprächsfokus etabliert bzw. das Abweichen oder Rele-
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vantsetzen eines neuen Themas kenntlich gemacht werden (Kern/Quasthoff 2005). Zugleich muss den übrigen Gesprächsteilnehmerinnen die prospektive Übernahme der Gesprächsrolle als Erzähler und die Aktivität des Rekonstruierens zurückliegender Ereignisse als solche kenntlich gemacht werden (Projektion von Globalität und Gattung: Quasthoff et al. 2017). Zweitens müssen Inhalt, Typ und Ausgestaltung der Erzählung zugeschnitten werden auf die antizipierten und tatsächlichen Erwartungen und Reaktionen der Zuhörer/innen und somit letztlich auf die übergeordneten kommunikativen und interaktiven Zwecke der sozialen Zusammenkunft in der (jeweiligen) Peergroup. Was als interaktiv angemessene Platzierung, Vertextung und sprachlich-formale Umsetzung (Quasthoff 2009) einer Erzählung im Kontext der Peergroup gilt, ist also abhängig von situierten praxisbezogenen Normen der spezifischen kommunikativen Kultur einer konkreten Gruppe. Die sequenzielle Kontextualisierung stellt dabei das Scharnier dar, das die Passung einer aktuell durchzuführenden Diskurseinheit zu den übergeordneten Anforderungen der Zwecke der sozialen Veranstaltung in einer Gruppe wesentlich herstellt: Die Projektion von Globalität und Gattungsorientierung als Teil der sequenziellen Kontextualisierung hat bspw. in der Clique nur Erfolg, wenn die projizierten Ansprüche auf das Rederecht mit der speziellen wettbewerblichen Organisation des Sprecherwechsels in der Peer-Interaktion vereinbar sind. Darüber hinaus muss die sequenziell angekündigte Gattung sowie ihr Thema zum präferierten Repertoire der jeweiligen Cliquenkultur gehören, also attraktiv für die ZuhörerInnen sein und zu den rekurrent relevant gesetzten kommunikativen und interaktiven Zwecken der Gruppe passen. Misslingt diese Gestaltung der Schnittstelle, kommt es gar nicht zur Durchführung des globalen Redebeitrags und damit zu der Möglichkeit, mittels einer Erzählung einen aktiven Beitrag zur Peer-Interaktion zu leisten. Zwei Beispiele aus dem Korpus der DisKo-Studie sollen im Folgenden die mit der sequenziellen und sozialen Kontextualisierung beim Erzählen in Cliquen verbundenen Anforderungen veranschaulichen.
3.1 Erfolgreiche Kontextualisierung Der folgende Gesprächsausschnitt repräsentiert eine erfolgreiche Erfüllung der Kontextualisierungsanforderungen für das (monologische) Erzählen in der Clique. Er ereignet sich während des gemeinsamen Pizza-Essens in einer fünfköpfigen Mädchengruppe (ohne Anwesenheit der Forscher). Die Mädchen sind im Alter zwischen 10 und 11 Jahren. Laufendes Gesprächsthema sind vergangene gemeinsame Erlebnisse auf dem Weihnachtsmarkt. Luna erinnert an einen Vorfall, wo jemandem eine Schale mit Chili con Carne aus der Hand gefallen ist (Z. 168–170). Daran anschließend platziert Nele eine konversationelle Erzählung über ihre waghalsige Fahrt mit dem Autoscooter (Z. 177–194).
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Beispiel (1): Autokarussell auf dem Weihnachtsmarkt (C2w, DisKo)3, Lu: Luna, Bl: Blanca, Ne: Nele, So: Sophia 168 Lu: im TOPF ist die umgefallen; 169 und dann war das (.) die EIne frau GANZ voll mit chili con carne; 170 und die war HEIß, 171 Bl: JA172 Ne: warst du daBEI; 173 Bl: JA. 174 (3.5) → 175 Ne: ((steht auf)) → 176 Ne: ((beißt in Pizza, hockt sich auf Stuhl, sieht Luna an)) → 177 wa‘ WEISST_du noch auf_m AUto äh aufm WEIHnachtsmarkt-= → =dieses AUtokaru‘ karussell? 178 Lu: oa::::::: 179 So: ((lacht)) 180 Lu: (oh MANN) → 181 Ne: ((lacht)) 182 Lu:
→ 183 Ne: ich (ja) AUCH;= → 184 =auf EINmal- °h → 185 ((hockt sich ein wenig zusammen)) → 186 mein AUto-= → 187 =ich saß da so DRIN? → 188
→ 189
→ 190
191 Lu:
→ 192 Ne: ich so-= → 193 =!SCHEI!ße.= → 194 [ich fahr gleich irgendwoREIN; ] 195 Lu: [(und isa und) ( )] 196 So:
198 Lu: JA, 199 aber Isa und ich SO; 200 BR:::::::::: 201 [((zeigt mit flacher Hand Fahrtroute)) ] 202 Bl: [auf_m Weihnachtsmarkt ham wir uns doch dieses baGUETTE] gekauft=ne? 203 Em: HM_hm,
3 Die Transkripte folgen dem Gesprächsanalytischen Transkriptionssystem GAT 2 (Selting et al. 2009). Die Notationskonventionen sind im Anhang zusammengestellt.
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Wie leistet Nele die sequenzielle Einbettung ihrer narrativen Diskurseinheit und den Zuschnitt auf die Kommunikationskultur ihrer Clique? Sequenzielle Kontextualisierung: Als Gesprächsteilnehmerin aktiv wird Nele zunächst, indem sie sich mit einer Nachfrage („warst du daBEI;“, Z. 172) in Lunas kurze Schilderung des Chili-Vorfalls einbringt. Nach einer kurzen Schweigephase (Z. 174) ergreift sie erneut das Wort. Dabei nutzt sie spezifische multimodale und verbale Ressourcen für die Erlangung peerseitiger Aufmerksamkeit: Sie erhebt sich von ihrem Stuhl, nimmt sodann wieder in leicht zusammengekauerter Position Platz und sucht den Blickkontakt mit Luna (Z. 175–176), an die sie ihren Redebeitrag bilateral adressiert: Mit der durch „WEISST du noch“ eingeleiteten Frage (Z. 177) etabliert sie einen gemeinsamen Referenzpunkt (‚Autokarussell‘) in der geteilten Erinnerung, der a) auf das laufende Gesprächsthema ‚Weihnachtsmarkterlebnisse‘ aufsetzt und b) eine Ratifizierung von Luna erwartbar macht. Letzteres leistet die adressierte Freundin auch mit der gedehnten Interjektion („oa:::::::“, Z. 178), mit der sie nicht nur anzeigt, dass sie das angedeutete Erlebnis tatsächlich (wiederer)kennt, sondern zugleich dessen affektiv bedeutsamen, erzählenswerten Charakter bestätigt. Luna wird also von Nele interaktiv in die Etablierung eines neuen inhaltlichen Fokus involviert; Relevanz und Erzählwürdigkeit des ‚Autokarussell-Vorfalls‘ werden kollaborativ hergestellt. Sodann kann Nele direkt in die Rekonstruktion des narrativen Kerns, des Höhepunkts, einsteigen (genretypisch eingeleitet mit „auf EINmal“ in Z. 184). Soziale Kontextualisierung: Der – gelungene – Zuschnitt der lancierten Erzählung auf die übergeordneten Zwecke des informellen Beisammenseins unter Peers sowie auf die Kommunikationskultur der (spezifischen) Clique wird also bereits in der Art der sequenziellen Kontextualisierung deutlich. Er offenbart sich darüber hinaus in der Wahl des Themas bzw. der Geschichte sowie deren narrativer Vertextung und formaler Ausgestaltung: Erzählt wird eine Geschichte, die zum einen ein gemeinsames Erlebnis aus dem gruppeninternen kollektiven Gedächtnis aufleben lässt. Zum anderen repräsentiert sie als ‚Missgeschick-Geschichte‘ mit der Protagonistin als Opfer widriger Umstände zugleich einen Typus Geschichte, der zum gängigen kommunikativen Haushalt dieser Gruppe gehört (vgl. dazu unter genderspezifischen Gesichtspunkten auch Branner 2003, 226 f.). Essenz der formalen Ausgestaltung in der narrativen Rekonstruktion dieser ‚geteilten Geschichte‘ (Georgakopoulou 2005) ist das replaying (Goffman 1974, 504), d. h. das performative, multimodale Inszenieren einer ‚dramatischen‘ Situation. So spielt Nele das Autoscooter-Fahren nach, indem sie beispielsweise Sitzhaltung, Lenkbewegungen und das Ruckeln des Fahrzeugs körperlich und onomatopoetisch in Szene setzt (Z. 188–190). Dabei vermittelt sie ihre Gedanken und Empfindungen als Protagonistin mittels prosodisch markierter Redewiedergabe (z. B. singendes ‚düü::düDü::::‘ für unbeschwertes, argloses Fahren, Z. 188; „ich so-= =!SCHEI!ße.“, Z. 192 f.). Dadurch
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ermöglicht sie den Zuhörenden den mit- und nachfühlenden Nachvollzug des Erzählten und liefert eine amüsante Performance. Insgesamt bedient das Erzählen dieser Geschichte somit trefflich die peergrouptypischen Zwecke sowohl der Unterhaltung als auch der Gruppenkonsolidierung und Selbstdarstellung (hier: als Teilnehmerin des gemeinsamen Weihnachtsmarktbesuchs, mutige Autoscooter-Fahrerin und überdies auch amüsante Erzählerin). Dass Nele ihre Geschichte insgesamt sequenziell und sozial angemessen kontextualisiert hat, zeigt sich an dem interaktiven Erfolg, den sie erntet. Er wird sichtbar an den sequenziellen Reaktionen anderer Gruppenmitglieder: Nach Neles Entfaltung der waghalsigen Autoscooter-Fahrt mitsamt drohendem Crash („ich fahr gleich irgendwoREIN;“, Z. 194) treten Sophia und Luna als Zuhörerinnen in Erscheinung, die gleichsam in die Rolle von Ko-Erzählerinnen wechseln. Sie demonstrieren Kenntnis des gemeinsame Erlebnisses (Sophia) und ergänzen ihre eigene Erlebnisperspektive in Form einer Minimalerzählung (Luna). Auch der weitere Gesprächsverlauf offenbart, dass die Platzierung dieser Weihnachtsmarkterzählung durch Nele sich für den lokalen Gesprächskontext als einflussreich und somit interaktiv erfolgreich erweist, insofern Blanca an weitere gemeinsame Aktivitäten während des gemeinsamen Weihnachtsmarktbesuchs erinnert (Z. 202).
3.2 Gescheiterte Kontextualisierung Betrachten wir nun zum Vergleich der Kontextualisierungspraktiken eine Sequenz aus derselben Mädchengruppe. Die Mädchen stehen im Kreis; zunächst wird in scherzend-frotzelnder Weise über ‚Jungs‘ gesprochen (Z. 4–7). Wenig später (Z. 23) versucht ein anderes Gruppenmitglied (Blanca), eine Diskurseinheit über ein zurückliegendes Erlebnis, nämlich einen Schwimmbadbesuch, zu platzieren – dies jedoch ungleich weniger erfolgreich als Nele in Beispiel 1. Beispiel (2a): Schwimmbad (C2w, DisKo), Ne: Nele, So: Sophia, Lu: Luna, Bl: Blanca 004 Ne: wenn sie alle DOOF findet, 005 So: alle JUNgen leute.= 006 Ne: =ach [SO. ] 007 So: [al ]le MÄNNlichen geschöpfe. 008 Lu:
] 009 Bl: [] 010 Bl: KÖNNT ihr das; ((stellt sich auf ihre Zehenspitzen)) 011 Ne:
012 Lu: NEle was ist da DRI_IN;> 013 So: ((balanciert auf ihren Zehen)) 014 Bl: ‘hm‘hm d‘ also du stehst (...) 020 Bl: ja ich kann_s !OH!ne festhalten. 021 ((Gemurmel mehrerer Mädchen, unverständlich, ca. 3 sec.))
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→ → → → → → →
022 023
Bl:
024
025 026 027 028 029 030 031 → 032 033 034 035 036 037 038 039 040 041 042 043
Ne: Bl: Ne: Bl: Bl: Ne: Bl: Lu: Lu: Bl: Ne: Lu: Ne:
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[((Gemurmel)) ] [ ((tritt einen Schritt aus dem Kreis zurück, streicht sich die Haare hinter die Ohren)) =in MÜNchen:::da waren wir ja im SCHWIMMbad, °hh und da ga‘ wa‘ ga:[::b_s-