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German Pages 563 [564] Year 2022
Handbuch Mehrsprachigkeit HSW 22
Handbücher Sprachwissen
Herausgegeben von Ekkehard Felder und Andreas Gardt
Band 22
Handbuch Mehrsprachigkeit Herausgegeben von Csaba Földes und Thorsten Roelcke unter Mitarbeit von Nicole Roelcke
ISBN 978-3-11-062016-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-062344-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-062020-7 Library of Congress Control Number: 2022936824 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Csaba Földes/Thorsten Roelcke Vorwort IX
I
Theoretische und methodische Aspekte
Thorsten Roelcke 1. Viel- und Mehrsprachigkeit
3
Andre Gövert/Amra Havkić/Julia Settinieri 2. Mehrsprachigkeit: Aspekte von Forschung und Messung Brigitta Busch 3. Minderheitensprachen
29
57
Dominic Busch 4. Soziales und Kulturelles in der Sprache
83
II Historische Gesichtspunkte Jana-Katharina Mende 5. Geschichte von Mehrsprachigkeit in Deutschland
107
Jana-Katharina Mende 6. Geschichte von Mehrsprachigkeit in Europa und in der Welt Csaba Földes 7. Geschichte des Deutschen als Lingua franca in Europa
131
153
Jörg Meier 8. Geschichte von Deutsch als Fremdsprache (nicht nur) im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts in Deutschland 171 Friederike Klippel 9. Geschichte des Fremdsprachenunterrichts in Europa und darüber hinaus in der Welt 193
VI
Inhalt
III Soziale und regionale Aspekte Sara Hägi-Mead 10. Der amtlich deutschsprachige Raum im Kontext von Mehrsprachigkeit(en) 219 Elin Fredsted 11. Autochthone Minderheiten im deutschen Sprachraum Csaba Földes 12. Deutschsprachige Minderheiten in der Welt
241
267
Yazgül Şimşek 13. Mehrsprachigkeit in Ballungsräumen am Beispiel von Berlin
291
IV Erwerb von Mehrsprachigkeit Annick De Houwer 14. Entwicklung von Mehrsprachigkeit: Kindheit und frühe Jugend Stefanie Bredthauer 15. Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht
317
339
Anja Binanzer 16. Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an Schulen des deutschen Sprachraums 353
V Gestaltung und Management von Mehrsprachigkeit Marijana Kresić Vukosav 17. Kulturelle Identität in plurikulturellen Kontexten
383
Rosemarie Tracy 18. Gemischtsprachiges Sprechen: Formen, Funktionen, Dynamik Klaus Schubert 19. Mehrsprachiges Übersetzen und Dolmetschen Till Dembeck 20. Mehrsprachigkeit in der Literatur
443
429
399
Inhalt
VII
VI Domänen von Mehrsprachigkeit Tilo Weber 21. Mehrsprachigkeit in der internationalen Politik: UNO und EU Gabriele Kniffka 22. Mehrsprachigkeit im Berufs- und Erwerbsleben
471
495
Winfried Thielmann 23. Mehrsprachigkeit in der Wissenschaft und in der akademischen Bildung Sachregister
543
517
Csaba Földes und Thorsten Roelcke
Vorwort Sowohl in der Wissenschaft als auch für die Öffentlichkeit wird immer deutlicher, dass das kulturelle Phänomen Mehrsprachigkeit in einer sich globalisierenden Welt, besonders in vermehrt plurizentrischen Gesellschaften, eine ausgesprochen wichtige Rolle spielt: Immer mehr Menschen mit unterschiedlicher Herkunft und verschiedenen Sprachen kommen miteinander in Kontakt und kommunizieren. Auch oder gerade bei der internationalen Dominanz des Englischen oder einiger anderer Sprachen wie des Arabischen, des Chinesischen oder des Hindi, deren Bedeutung aufgrund demografischer und ökonomischer Entwicklungen kontinuierlich wächst, gibt es zahlreiche Kontexte, in denen diese Sprachen gemeinsam oder zusammen mit weiteren Sprachen verwendet werden. Dies gilt beispielsweise für Gesellschaften, die von Zuzugsbewegungen betroffen sind (wie diejenigen großer Metropolen, etwa New York, Mumbai oder Berlin), oder im Bereich der regionalen Anwendung von Wissenschaft und Technik (zum Beispiel im Reiseverkehr, in Krankenhäusern oder in der Pflege). Angesichts der zunehmenden Internationalisierung und Globalisierung, vermehrter Migrationsbewegungen mit dem Ziel Europa und einer stärkeren Beachtung von Multi- bzw. Plurikulturalität stellt Mehrsprachigkeit mithin ein eminent wichtiges Thema für Deutschland, Österreich und die Schweiz dar, dessen Bedeutung auch künftig mit Sicherheit weiter steigen wird. Vor diesem Hintergrund setzt sich der vorliegende Band aus der Handbuchreihe Sprachwissen das Ziel, bereits bestehende und neu gewonnene Erkenntnisse zum Thema Mehrsprachigkeit unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Sprachraumes und der deutschen Sprache miteinander in Verbindung zu bringen und in ihrem Zusammenhang systematisch verfügbar zu machen. Er versteht sich somit zum einen als Nachschlagewerk für sprachwissenschaftlich vorgebildete Personen und zum anderen als Referenzwerk für Expertinnen und Experten im Themenfeld Mehrsprachigkeit selbst. Mit seiner Ausrichtung auf den deutschsprachigen Raum bildet der Band nicht allein sprachlich, sondern auch inhaltlich eine wichtige Ergänzung zu dem eher international ausgerichteten Handbook of Multilingualism and Multilingual Communication (Hg. Peter Auer/Li Wei; Berlin/New York 2009), aber auch zum Beispiel dem in Erarbeitung befindlichen Handbuch Mehrsprachigkeit. Interdisziplinäre Zugänge zu Mehrsprachigkeit und sozialer Teilhabe (Hg. İnci Dirim/Jörg Meier; im Ersch.), welches sich stärker didaktischen und partizipatorischen Aspekten widmet. Das vorliegende Handbuch umfasst eine Bandbreite sowohl der individuellen als auch der gesellschaftlichen und der institutionellen Mehrsprachigkeit. Der erste der sechs thematischen Schwerpunkte, die der Band setzt, wendet sich theoretischen und methodischen Gesichtspunkten der Erforschung von Mehrsprachigkeit zu: Dabei wird ein Bogen von begrifflichen Grundbestimmungen über die wissenschaftliche Erfassung von Ausprägungen und Erwerb von Mehrsprachigkeit bis zum wechselseitigen https://doi.org/10.1515/9783110623444-202
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Vorwort
Verhältnis von Sprache, Kultur und Gesellschaft geschlagen. In Beitrag 1 bestimmt Thorsten Roelcke (Berlin) unter dem Titel „Viel- und Mehrsprachigkeit“ zunächst verschiedene Konzepte von Mehr- und Vielsprachigkeit (einschließlich des Deutschen als Erst-, Zweit- und Fremdsprache) und bringt diese in einen konzeptionellen Zusammenhang. Beitrag 2, verfasst von Andre Gövert, Amra Havkić und Julia Settinieri (Bielefeld/Paderborn), trägt den Titel „Mehrsprachigkeit: Aspekte von Forschung und Messung“ und gibt eine Übersicht über Ansätze und Methoden der Mehrsprachigkeitsforschung, wobei insbesondere der Erwerb von Mehrsprachigkeit in den Vordergrund gerückt wird; eine ausführliche Bibliographie zum Thema rundet den Beitrag ab. „Minderheitensprachen“ bilden das Thema von Beitrag 3: Brigitta Busch (Wien) widmet sich hierin nach einer Erörterung des Begriffs der Minorisierung vor allem politischen und juristischen Aspekten sowie diversen Rahmenbedingungen der Erforschung von Minderheitensprachen. Beitrag 4 schließt den ersten Schwerpunkt des Bandes ab: Dominic Busch (München) beschäftigt sich darin unter dem Titel „Soziales und Kulturelles in der Sprache“ mit verschiedenen Gesellschafts- und Kulturbegriffen, um hieraus letztlich über den cultural turn der Betrachtung von Mehrsprachigkeit hinaus eine inter-, wenn nicht transdisziplinäre Forschungsrichtung zu begründen. Der zweite Schwerpunkt des vorliegenden Bandes liegt auf historischen Gesichtspunkten. Dabei finden zum einen Entwicklungen von Mehrsprachigkeit im deutschen Sprachraum selbst und zum anderen die Vermittlung des Deutschen als Fremdsprache innerhalb und außerhalb des deutschen Sprachraums sowie der Gebrauch der deutschen Sprache als Lingua franca in Europa Berücksichtigung. So trägt JanaKatharina Mende (Halle) in Beitrag 5 unter dem Titel „Geschichte der Mehrsprachigkeit in Deutschland“ und in dem hieran anschließenden Beitrag 6 unter dem Titel „Geschichte der Mehrsprachigkeit in Europa und in der Welt“ zentrale Forschungsergebnisse zusammen und entwirft so einen wichtigen Beitrag zur europäischen wie globalen Sprachengeschichte. Dieses Bild wird aus Sicht der deutschen Sprachgeschichte von Csaba Földes (Erfurt) in Beitrag 7, „Geschichte des Deutschen als Lingua franca in Europa“, um den Gesichtspunkt einer prominenten Verwendung der deutschen Sprache im internationalen historischen Kontext vervollständigt. Da die Geschichte von Mehrsprachigkeit oft auch eine Geschichte der Sprach- bzw. der Fremdsprachendidaktik darstellt, beschäftigen sich Beitrag 8, „Geschichte von Deutsch als Fremdsprache (nicht nur) im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts in Deutschland“ von Jörg Meier (Innsbruck), und Beitrag 9, „Geschichte des Fremdsprachenunterrichts in Europa und darüber hinaus in der Welt“ von Friederike Klippel (München), mit der vielfältigen historischen Entwicklung der Fremdsprachendidaktik im deutschen Sprachraum und darüber hinaus. Soziale und regionale Aspekte bilden den dritten thematischen Schwerpunkt des vorliegenden Bandes. Den Beginn macht hier Sara Hägi-Mead (Wuppertal) mit Beitrag 10 unter dem Titel „Der amtlich deutschsprachige Raum im Kontext von Mehrsprachigkeit(en)“ und arbeitet dabei den offiziellen und nicht offiziellen Gebrauch der deutschen Sprache in Deutschland, in Österreich, in der Schweiz und in Liechtenstein
Vorwort
XI
sowie in anderen Ländern, in denen das Deutsche auch unter politischen Gesichtspunkten eine besondere Rolle spielt, auf. Wird das Deutsche einerseits außerhalb des deutschen Sprachgebiets unter verschiedenen Bedingungen als Minderheitensprache verwendet, so findet sich andererseits auch der Gebrauch von anderen Minderheitensprachen innerhalb des deutschen Sprachgebiets; diese sind Gegenstand der Studie von Elin Fredsted (Flensburg) in Beitrag 11 „Autochthone Minderheiten im deutschen Sprachraum“, wobei hier ein Schwerpunkt auf sprachliche Minderheiten in Schleswig gesetzt wird. Beitrag 12 mit dem Titel „Deutschsprachige Minderheiten in der Welt” von Csaba Földes (Erfurt) ist daraufhin wiederum dem Deutschen als Minderheitensprache unter ganz unterschiedlichen Bedingungen außerhalb des deutschen Sprachgebiets gewidmet – in Europa (am Beispiel von Italien und Ungarn) und Übersee (am Beispiel von Chile und Namibia). Beitrag 13 von Yazgül Şimşek (Münster) beschäftigt sich mit dem Thema „Mehrsprachigkeit in Ballungsräumen am Beispiel von Berlin“ und zeigt einmal mehr, wie weit und wie stark Mehrsprachigkeit innerhalb des deutschen Sprachraums tatsächlich verbreitet ist. Sie schließt damit den Kreis der Diskussion regionaler und sozialer Ausprägungen von Mehrsprachigkeit. Der Erwerb von Mehrsprachigkeit bildet den Schwerpunkt des vierten Abschnitts. Dabei werden sowohl die individuelle Mehrsprachigkeitsentwicklung als auch der Fremdsprachenunterricht an Schulen näher betrachtet. Den Beginn macht dabei Annick De Houwer (Erfurt) mit Beitrag 14 „Entwicklung von Mehrsprachigkeit“, in welchem sie insbesondere „Kindheit und frühe Jugend“ in Augenschein nimmt und dabei Faktoren und Verlauf von Mehrsprachigkeitsentwicklung erörtert. Unter dem Titel „Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht“ diskutiert dann Stefanie Bredthauer (Köln) in Beitrag 15 verschiedenartige didaktische Ansätze, die mehrsprachige Kompetenzen von Lernenden gezielt in den fremdsprachlichen Unterricht einbeziehen. Beitrag 16, verfasst von Anja Binanzer (Hannover), beschäftigt sich im Anschluss mit der konkreten Situation von „Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an Schulen des deutschen Sprachraums“ und berücksichtigt dabei sowohl die fremdsprachliche Situation der Schülerinnen und Schüler mit jeweils eigenem kulturellen und sprachlichen Hintergrund als auch die Ausbildung von Lehrkräften an Hochschulen der deutschsprachigen Länder. Mehrsprachigkeit wird oft nicht ungesteuert gelebt oder umgesetzt, sondern unterliegt einer bestimmten Gestaltung oder folgt einem bestimmten Management. Der fünfte Abschnitt des vorliegenden Bandes ist daher einer solchen Gestaltung und dem spezifischen Management von Mehrsprachigkeit gewidmet und beginnt mit Beitrag 17 von Marijana Kresić Vukosav (Zadar): Unter dem Titel „Kulturelle Identität in plurikulturellen Kontexten“ erörtert die Autorin das komplexe Verhältnis von Sprache, Kultur und Identität und exemplifiziert deren Verflechtung am Beispiel von Personen mit kroatischer Herkunft in Deutschland. In Beitrag 18 diskutiert dann Rosemarie Tracy (Mannheim) unter dem Titel „Gemischtsprachiges Sprechen: Formen, Funktionen, Dynamik“ deutsch-englische Kontaktphänomene und exemplifiziert daran die Entwicklung und die Gestaltung von Äußerungen, die Elemente mehrerer Sprachen in
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Vorwort
sich vereinen bzw. miteinander verbinden. „Mehrsprachiges Übersetzen und Dolmetschen“ ist im Anschluss hieran das Thema von Klaus Schubert (Hildesheim) in Beitrag 19; der Autor erläutert, wie mehrsprachige Ausgangstexte hinsichtlich bestimmter Rezipientenkreise in andere Sprachen gemittelt bzw. übersetzt werden. Die verschiedenen Spielarten innerer und äußerer „Mehrsprachigkeit in der Literatur“ sind das Thema von Till Dembeck (Luxemburg) in Beitrag 20: Hier wird gezeigt, wie Mehrsprachigkeit literarisch gestaltet wird und dabei auch eine ganz eigene ästhetische Funktion erfüllt. Den sechsten und letzten Themenschwerpunkt des vorliegenden Bandes bilden verschiedene Domänen von Mehrsprachigkeit. Beitrag 21, verfasst von Tilo Weber (Liberec), beschäftigt sich dabei unter dem Titel „Mehrsprachigkeit in der internationalen Politik: UNO und EU“ mit dem Gebrauch verschiedener Sprachen in internationalen Institutionen (die ihrerseits Mehrsprachigkeit im politischen Diskurs und an politischen Institutionen propagieren), während sich Beitrag 22, „Mehrsprachigkeit im Berufs- und Erwerbsleben“ von Gabriele Kniffka (Freiburg), der weit verbreiteten Mehrsprachigkeit im beruflichen Alltag auch und gerade im deutschsprachigen Raum widmet. Winfried Thielmann (Chemnitz) wirft zum Schluss in Beitrag 23 einen durchaus kritischen Blick auf „Mehrsprachigkeit in der Wissenschaft und in der akademischen Bildung“ und betont dabei deren epistemische, didaktische, soziale usw. Bedeutung gegenüber dem einseitigen Gebrauch einer Lingua franca wie des Englischen. Die Herausgeber des Bandes danken Ekkehard Felder und Andreas Gardt für die Einladung und die Aufnahme des vorliegenden Bandes in die Reihe „Handbücher Sprachwissen“, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags Walter de Gruyter, insbesondere Carolin Eckardt, für die sehr gute und professionelle Betreuung während der gesamten Entstehung des Bandes, Nicole Roelcke für die genaue und geduldige Redaktion der Manuskripte sowie insbesondere allen Autorinnen und Autoren für die hervorragende Zusammenarbeit. Ohne das gute Zusammenspiel aller Beteiligten wäre der vorliegenden HSW-Band nicht das, was er hoffentlich auf lange Zeit sein wird – ein Referenz- und Nachschlagewerk für alle Sprachinteressierten, die sich in Forschung und Lehre mit dem faszinierenden Phänomen der Mehrsprachigkeit auseinandersetzen und dieses in Theorie und Praxis weiter erfolgreich bearbeiten und gestalten möchten. Erfurt und Berlin im Frühjahr 2022
Csaba Földes und Thorsten Roelcke
I Theoretische und methodische Aspekte
Thorsten Roelcke
1. Viel- und Mehrsprachigkeit Abstract: Der Gebrauch von mehreren Sprachen durch einzelne Personen oder durch menschliche Gemeinschaften ist eine kommunikative Erscheinung, deren Vielfalt linguistisch und didaktisch in Vergangenheit und Gegenwart immer größere Beachtung findet. Um dieser Erscheinung gerecht zu werden, bedarf es einer Terminologie, welche die wesentlichen Facetten der Verwendung verschiedener Sprachen berücksichtigt. Zu diesen Facetten gehören neben der Unterscheidung zwischen einzelnen Personen und menschlichen Gemeinschaften insbesondere auch diejenige zwischen Einzelsprachen und sprachlichen Varietäten, Mono- und Plurizentrik des Sprachengebrauchs sowie die temporären wie institutionellen Erwerbsbedingungen für einzelne Sprachen. Diesen Facetten nach lassen sich innere und äußere sowie mono- und plurizentrische Viel- und Mehrsprachigkeit im Erst-, Zweit- und Fremdsprachenerwerb unterscheiden. Diese Konzepte im terminologischen Umfeld von Mehrsprachigkeit lassen sich dabei in einem gemeinsamen terminologischen System fassen, das für linguistische und didaktische Analysen wie Initiativen Orientierung bietet. 1 2 3 4 5 6 7
Regionale Sprachenvielfalt Gesellschaftliche Vielsprachigkeit Individuelle Mehrsprachigkeit Individueller Spracherwerb Allgemeiner Sprachpluralismus Fazit (Terminologie) Literatur
1 Regionale Sprachenvielfalt In der Linguistik wird im Allgemeinen zwischen einzelnen Sprachen (einer oder mehrerer Sprachfamilien) und sprachlichen Varietäten (einer einzelnen Sprache selbst) unterschieden. Diese Unterscheidung lässt sich mit Blick auf das Deutsche gut exemplifizieren, aber auch problematisieren: Es gehört dem engeren Kreis der germanischen Sprachen an, zu dem auch das Englische, das Niederländische oder die skandinavischen Sprachen gehören; diese germanischen Sprachen sind wiederum Mitglieder der indogermanischen oder auch: indoeuropäischen Sprachfamilie, die darüber hinaus unter anderem die italischen (romanischen), slawischen, iranischen und indischen Sprachen umfasst (vgl. Fritz/Meier-Brügger 2020). Die deutsche Sprache selbst stellt kein einheitliches Gebilde dar, sondern präsentiert sich in diversen sprachlichen Varietäten, die unter anderem die Standardsprache sowie verschiedene Gruppen- und Fachsprachen, aber auch zahlreiche Mundarten umfassen. https://doi.org/10.1515/9783110623444-001
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Thorsten Roelcke
Die Problematik einer solchen Unterscheidung zwischen einzelnen Sprachen und sprachlichen Varietäten besteht in der Unsicherheit hinsichtlich ihrer Abgrenzungskriterien, beispielsweise im Falle der Gewichtung von sprachlich-strukturellen gegenüber kommunikativ-pragmatischen Aspekten: So werden etwa das Niederländische und das Deutsche aus kommunikativ-pragmatischer Sicht als zwei verschiedene Einzelsprachen sowie das Westniederdeutsche und das Ostoberdeutsche als zwei dialektale Varietäten des Deutschen aufgefasst, obwohl das Westniederdeutsche sprachlich-strukturell dem Niederländischen (Niederfränkischen) näher steht als dem Ostoberdeutschen. Trotz oder gerade wegen dieser definitorischen Abgrenzungsproblematik erscheint die Unterscheidung zwischen und damit letztlich die Verbindung von einzelnen Sprachen und sprachlichen Varietäten im Rahmen einer Modellierung von Mehrsprachigkeit und verwandten Konzepten sinnvoll (dies ist insbesondere auch deshalb der Fall, weil sie eine Grundlage schafft, die oft separate Diskussion um eine innere und eine äußere Mehrsprachigkeit einander anzuschließen). Mehrsprachigkeit erscheint hier zunächst als Terminus im weiteren Sinne, dem im Folgenden ein Terminus im engeren Sinne sowie weitere Termini untergeordnet werden. Äußere Mehrsprachigkeit (terminologisch genauer: Vielfalt an einzelnen Sprachen bzw. Sprachenvielfalt) ist in zahlreichen Regionen dieser Erde verbreitet. Bekannt für sprachliche Vielfalt ist etwa der Raum West- und Zentralafrikas südlich der Sahara, in dem seit der Kolonialzeit neben zahlreichen indigenen Sprachen auch europäische Sprachen wie Englisch, Französisch und Deutsch Verwendung finden. Aus globaler Sicht ist die Vielfalt an verschiedenen Sprachen um den Äquator herum am größten und nimmt jeweils nach Norden und Süden hin ab (Gavin u. a. 2013); hierfür können evolutionsbiologische und soziokulturelle Faktoren verantwortlich gemacht werden (Gavin u. a. 2017). Im eurasischen Raum bildet das unwegsame Gebirge des Kaukasus zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer ein Gebiet, das durch eine große Zahl verschiedener Sprachen gekennzeichnet ist (vgl. Carling 2019). In Europa selbst ist die Vielfalt an einzelnen Sprachen und Sprachfamilien (nicht allein mit Blick auf die Entstehung diverser nationaler Literatursprachen; vgl. Gardt 2000) im Vergleich dazu weniger ausgeprägt (vgl. Kortmann/van der Auwera 2011); sie findet hier insbesondere im Hinblick auf Sprachminderheiten wie beim Sorbischen im Osten Deutschlands oder beim Deutschen in Südtirol (Italien) oder im Elsass (Frankreich) Beachtung (vgl. etwa Hinderling/Eichinger 1996; zu sprachlichen bzw. deutschsprachigen Minderheiten vgl. auch B. Busch, Beitrag 3, Földes, Beitrag 12 und Fredsted, Beitrag 11 in diesem Band). Innere Mehrsprachigkeit (vgl. Wandruszka 1979; terminologisch genauer: Vielfalt an sprachlichen Varietäten bzw. Varietätenvielfalt) zeigt sich ebenfalls in verschiedenen Bereichen. Hierzu zählen mit Blick auf das Deutsche zum einen die Mundarten, die von großen Dialekträumen wie dem Hoch- oder Oberdeutschen über kleinere wie das Alemannische oder Schwäbische bis zu einzelnen Stadt- und Ortsmundarten (etwa in Stuttgart oder in Bad Cannstatt) reichen und ein Nebeneinander zahlreicher Dia
Viel- und Mehrsprachigkeit
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lekte begründen; das Gebiet mit der größten Binnendifferenzierung stellt dabei – bedingt durch die Unzugänglichkeit des Geländes und der damit verbundenen geringen regionalen (wie auch sozialen) Mobilität der Bevölkerung – der Schwarzwald im Südwesten der Bundesrepublik dar (extreme geografische und sprachliche Isolation können darüber hinaus zur Ausbildung rezenter Mundarten führen – vgl. zum Beispiel die oberdeutschen Dialekte am Südhang der Alpen im Tessin). Das Verhältnis zwischen einzelnen Mundarten und der Standardsprache ist dabei im deutschen Sprachraum insofern geographisch fallend, als der alltägliche Gebrauch des Standards von Norden nach Süden abnimmt. Eine innere Mehrsprachigkeit zeigt sich ebenfalls im Bereich der beruflichen Kommunikation. Im Unterschied zum Nebeneinander von Mundarten ist dabei in der Regel kein Neben-, sondern ein Miteinander verschiedener Varietäten – in diesem Falle insbesondere Fachsprachen – anzusetzen: Im Zuge einer zunehmenden Dynamisierung, Differenzierung und Dezentralisierung der Kommunikation im Beruf (Roelcke 2017) werden in der modernen Arbeitswelt neben der Standardsprache oft mehrere Varietäten in ein und demselben Bereich verwendet – so etwa innerhalb einer niedergelassenen Praxis für Augenheilkunde die Fachsprachen der Medizin, der Pflege, der Physik, der Elektronischen Datenverarbeitung und solche aus Recht und Verwaltung (vgl. etwa Busch/Spranz-Fogasy 2015). Hinzu kommt hier wie auch in anderen Berufen der Gebrauch des Englischen, der sich sowohl auf den einen oder anderen fachlichen wie auch auf den allgemein- bzw. standardsprachlichen Bereich beziehen kann und die berufliche Kommunikation wiederum in Richtung äußerer Mehrsprachigkeit öffnet. Die eingangs erwähnte Problematik einer Unterscheidung zwischen einzelnen Sprachen und sprachlichen Varietäten spiegelt sich in einem Ansatz wider, der in dem Fach Deutsch als Fremdsprache eine gewisse Prominenz erlangt hat – dem sog. DACHL-Prinzip, nach dem sprachliche (sowie kulturelle, soziale und politische) Unterschiede zwischen Deutschland, Österreich, Liechtenstein, Luxemburg und der Schweiz zum Untersuchungsgegenstand und Ausgangspunkt didaktischer Ansätze gemacht werden – nicht zuletzt auch, um einem wie auch immer gearteten Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik Deutschland entgegenzuwirken (vgl. dazu auch Hägi-Mead, Beitrag 10 in diesem Band). Nationalität und Regionalität zeigen hier ein Spannungsverhältnis, das es produktiv zu gestalten gilt. Die Unterscheidung zwischen äußerer und innerer Mehrsprachigkeit wird bis hier primär in Bezug auf einzelne Regionen getroffen, indem die Zahl verschiedener Sprachen oder Varietäten in bestimmten Gebieten betrachtet wird. Dabei bleibt ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt zunächst außer Acht – die Frage, ob diese Sprachen und Varietäten regional getrennt (nebeneinander) oder gemischt (miteinander) verwendet werden. Eine getrennte äußere Mehrsprachigkeit findet sich etwa in unwegsamen Gebieten wie dem Kaukasus, eine gemischte äußere Mehrsprachigkeit in Gebieten wie West- und Zentralafrika, in denen zahlreiche Bevölkerungsgruppen in einem sozialen, kulturellen und ökonomischen Austausch leben; in beiden Fällen wäre äußere Sprachenvielfalt anzunehmen. Entsprechendes gilt für die getrennte innere
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Thorsten Roelcke
Mehrsprachigkeit wie etwa im Schwarzwald (früherer Jahrhunderte) und die gemischte innere Mehrsprachigkeit, die zum Beispiel im modernen Berufsleben und dessen vielfältigen kommunikativen Anforderungen zu beobachten ist; hier ist jeweils innere Sprachenvielfalt anzusetzen. Ein weiterer Gesichtspunkt, der bei der Unterscheidung zwischen (gemischter) äußerer und innerer Mehrsprachigkeit zu beachten ist, besteht in der Frage, ob deren Mischung bzw. deren Miteinander innerhalb menschlicher Gemeinschaften (Gruppen bzw. Gesellschaften) oder innerhalb des Sprachen- bzw. Varietätengebrauchs einzelner Personen erfolgt. Diese Unterscheidung hat im wissenschaftlichen Sprachgebrauch bereits ihren terminologischen Niederschlag gefunden: So wird Mehrsprachigkeit innerhalb von Gesellschaften in der Regel als Vielsprachigkeit (engl.: multilingualism), diejenige einzelner Personen als Mehrsprachigkeit (im engeren Sinne; engl.: plurilingualism) bezeichnet. Wird dabei zwischen äußerer und innerer Mehrsprachigkeit (im weiteren Sinne) unterschieden, ergeben sich vier Typen: erstens äußere und zweitens innere Vielsprachigkeit sowie drittens äußere und viertens innere Mehrsprachigkeit.
2 Gesellschaftliche Vielsprachigkeit Vielsprachigkeit liegt also dann vor, wenn in einer bestimmten Gesellschaft verschiedene Einzelsprachen oder Sprachvarietäten gebraucht werden. Aus dieser Perspektive heraus besteht Vielsprachigkeit letztlich so gut wie immer und überall. Denn es gibt kaum eine Zeit oder einen Raum, in dem nur genau eine sprachliche Varietät Verwendung findet. Äußere Vielsprachigkeit besteht dabei im Gebrauch verschiedener Einzelsprachen innerhalb einer bestimmten Gesellschaft (vgl. zum Folgenden auch die Beiträge im Abschnitt „Living in a multilingual society“ in Auer/Wei 2009, 445–553). Kulminationspunkte einer solchen äußeren Vielsprachigkeit stellen zahlreiche Großstädte dar, die durch einen nachhaltigen Zuzug und das gemeinsame Leben von Personen aus verschiedenen Ländern und Regionen auch eine entsprechende Vielfalt des urbanen Sprachengebrauchs zeigen (zur Mehrsprachigkeit in Ballungsräumen vgl. auch Şimşek, Beitrag 13 in diesem Band) und damit im Allgemeinen auch Zentren interkultureller Kommunikation (vgl. Fäcke/Meißner 2019; Földes 2003; Piller 2017) darstellen (zu Sozialem und Kulturellem in der Sprache sowie zur kulturellen Identität in plurikulturellen Kontexten vgl. auch D. Busch, Beitrag 4, Kresić Vukosav, Beitrag 17 und Dembeck, Beitrag 20 in diesem Band). Ein anderes Beispiel stellt hier der Sprachgebrauch in der Wissenschaft dar, der sich nach der Abkehr vom Lateinischen des Mittelalters und der frühen Neuzeit (vgl. Roelcke 2014) insbesondere vom 18. bis ins 20. Jahrhundert durch ein Neben- und Miteinander diverser Einzelsprachen auszeichnet; zu denken ist hier insbesondere an europäische Nationalsprachen wie Italienisch, Französisch und Deutsch sowie später auch Englisch, Russisch und andere (zur Ge-
Viel- und Mehrsprachigkeit
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schichte von Mehrsprachigkeit in Deutschland und Mehrsprachigkeit in Europa und der Welt vgl. auch Mende, Beiträge 5 und 6 in diesem Band). Ein Ausdruck des politischen Willens zu äußerer Vielsprachigkeit stellt das Sprachenrecht der Europäischen Union dar, welches zuletzt 24 gleichrangige Vertrags- und Amtssprachen vorsieht (vgl. Luttermann/Luttermann 2020, 18 f.; zur Mehrsprachigkeit in der internationalen Politik vgl. auch Weber, Beitrag 21 in diesem Band): – seit 1957: Deutsch, Französisch, Italienisch, Niederländisch; – seit 1973: Dänisch, Englisch, Irisch/Gälisch; – seit 1981: Griechisch; – seit 1986: Portugiesisch, Spanisch; – seit 1995: Finnisch, Schwedisch; – seit 2004: Estnisch, Lettisch, Litauisch, Maltesisch, Polnisch, Slowakisch, Slowenisch, Tschechisch, Ungarisch; – seit 2007: Bulgarisch, Rumänisch; – seit 2013: Kroatisch. Diesem politischen Willen steht der tatsächliche Gebrauch von wenigen Arbeits- bzw. Verfahrenssprachen (des Deutschen, Englischen und Französischen) gegenüber – die ideelle Plurizentrik weicht reeller Mono- oder Oligozentrik. Ein hiermit vergleichbares, wenn nicht stärker ausgeprägtes Bild zeigt sich in der wissenschaftlichen Kommunikation, die insbesondere im natur-, zunehmend aber auch im geisteswissenschaftlichen Bereich von einem oligozentrischen (oft den kanonischen Schulfremdsprachen entsprechenden) zu einem monozentrischen Sprachgebrauch des Englischen als internationaler Lingua franca (vgl. Thielmann, Beitrag 23 in diesem Band) tendiert (vgl. Abb. 1). Die damit verbundenen Herausforderungen können durch eine gezielte Verbindung von echter (gleichberechtigter, symmetrischer, horizontaler) Mehrsprachigkeit und dem (übergeordneten, asymmetrischen, vertikalen; vgl. zum Paar horizontale und vertikale Mehrsprachigkeit Harshav 2011) Gebrauch einer Lingua franca überwunden werden (vgl. Abb. 2).
S2 LF S1
S4 S2
S3
S4
S3 Abb. 1: Echte Mehrsprachigkeit (links) vs. Gebrauch einer Lingua franca (rechts) (vgl. Roelcke im Ersch.); S = Sprache, LF = Lingua franca
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Thorsten Roelcke
S2 S1
LF
S4
S3 Abb. 2: Verbindung von echter Mehrsprachigkeit und dem Gebrauch einer Lingua franca (vgl. Roelcke im Ersch.); S = Sprache, LF = Lingua franca
Die internationale Reichweite des Englischen als Lingua franca (zur Geschichte des Deutschen als Lingua franca in Europa vgl. Földes, Beitrag 7 in diesem Band) stellt Hochschulen, die nicht im englischen Sprachraum angesiedelt sind, vor erhebliche sprachenpolitische Herausforderungen hinsichtlich der akademischen Lehre und Selbstverwaltung (vgl. Hochschulrektorenkonferenz 2019; Hettinger 2019). In diesem Zusammenhang steht auch eine intensive fachliche und öffentliche Diskussion um das Deutsche als Wissenschaftssprache (neben dem Englischen). Die wesentlichen Argumente für sprachliche Vielfalt im wissenschaftlichen Bereich werden dabei bereits von Ehlich (2006; vgl. Roelcke 2020a, 245f.) zusammengefasst. Als Gründe für eine Förderung von wissenschaftlicher Vielsprachigkeit und damit letztlich auch für eine Förderung von individueller Mehrsprachigkeit im Bereich der Wissenschaft (vgl. hierzu unten) können hiernach insbesondere genannt werden (vgl. Roelcke im Ersch.): 1. Fachliche Viel- bzw. Mehrsprachigkeit verhindert einerseits die sprachliche Hegemonie einer oder einiger weniger privilegierter Einzelsprachen und verringert andererseits die Gefahr einer Pidginisierung oder Kreolisierung der Fachkommunikation aus anderen sprachlichen Kontexten heraus. 2. Fachliche Viel- bzw. Mehrsprachigkeit trägt zu einer Intensivierung wissenschaftlicher, technischer und institutioneller Kommunikationsprozesse und somit auch zu einer Intensivierung der Genese und des Transfers von Wissen und Fähigkeiten selbst bei; dabei wird zudem die Sprachgebundenheit von Fachkommunikation im Sinne einer nominalistischen Sprachkonzeption bewusst gehalten. 3. Fachliche Viel- bzw. Mehrsprachigkeit erlaubt eine engere Verflechtung zwischen Wissenschaft, Technik und Institutionen einerseits und der Gesellschaft bzw. den Gesellschaften, in denen die einzelnen Sprachen verwendet werden, andererseits. Der Zugang der gesellschaftlichen Basis zu fachlichen Inhalten wird hierdurch erleichtert, wenn nicht sichergestellt; gerade in demokratischen Gesellschaften darf und muss ein solcher Transfer als Grundrecht angesehen werden. 4. Neben dem demokratisch geforderten Zugang zu Wissen ist fachliche Viel- bzw. Mehrsprachigkeit aber auch Grundlage für die Wahrnehmung einer wechselseitigen Verantwortung zwischen Wissenschaft, Technik und Institutionen sowie den einzelnen Gesellschaften, in denen sie jeweils einzelsprachlich betrieben werden; dies gilt sowohl in ethischer und juristischer als auch finanzieller Hinsicht, da
Viel- und Mehrsprachigkeit
5.
6.
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die fachlichen Vertreter oft aus der Gesellschaft gestellt und von dieser finanziert werden. Eine enge Verflechtung von fachlicher Kommunikation und gesellschaftlicher Teilhabe verhindert, dass Wissen und Fähigkeiten zunehmend einer sprachlich und fachlich kompetenten Elite vorbehalten bleiben; fachliche Viel- bzw. Mehrsprachigkeit leistet also einen wichtigen Beitrag gegen eine Re-Arkanisierung (Ehlich 2006, 28) von wissenschaftlichem, technischem und institutionellem Wissen. Die sprachliche Rückgebundenheit von Wissenschaft, Technik und Institutionen, die sich insbesondere in einer fachlichen Viel- bzw. Mehrsprachigkeit widerspiegelt, lässt im Weiteren verschiedene Zugänge zur Generierung und zum Transfer von Wissen im Sinne von unterschiedlichen Fachkulturen und innerfachlichen Perspektivierungen zu; damit wird der fachliche Reichtum aufrechterhalten und gefördert.
Um an dieser Stelle noch einmal auf den Terminus Lingua franca selbst zurückzukommen (zur Terminologie vgl. auch Földes, Beitrag 7 in diesem Band): Lingua franca bezieht sich ursprünglich auf eine Mischsprache auf romanischer Grundlage mit insbesondere arabischen Elementen, die zur Zeit des Mittelalters und der früheren Neuzeit vorwiegend im östlichen Mittelmeerraum in Verkehr und Handel Verwendung fand. Dieser Sprachkontakt ist ein bekanntes Beispiel für die Herausbildung einer sog. Pidginsprache, eine Sprache, die sich (oftmals in einem kolonialen Kontext – etwa in Südamerika) auf der Grundlage einer dominierenden Sprache herausbildet und dabei unter Umständen Erscheinungen anderer Sprachen integriert, um sich dann unter Umständen im weiteren Verlauf zu einer selbstständigen Einzelsprache weiterzuentwickeln. Die Termini Pidgin und Kreol werden in der Wissenschaft unterschiedlich verwendet. Im sprachwissenschaftlichen Kontext wird deren Grenze im Allgemeinen zwischen einer noch vorläufigen (vereinfachten) und dabei bestehenden Normen zuwiderlaufenden Zweit- bzw. Fremdsprache und einer voll ausgebildeten, regelbasierten Erstsprache gezogen (Holm 1988; Holm/Michaelis 2009). Eine echte Verbindung verschiedener Einzelsprachen zu neuen Zweit- und Erstsprachen wird als äußere Sprachenmischung bezeichnet (zu Erst-, Zweit- und Fremdsprache vgl. Abschnitt 4); ein struktureller Austausch verschiedener Sprachen oder Varietäten aufgrund räumlicher Nachbarschaft und gesellschaftlichen Austausches wird demgegenüber unter dem Terminus Sprachkontakt untersucht (vgl. Földes 2010; Riehl 2004).
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FAC HEN HS AC ITERATURPR R L P
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EN
diensprsache
– alltäglicher, – arbeitspraktischer, – wissenschaftlicher – literarisch-künstler. Verkehr
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Thorsten Roelcke
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GS
Abb. 3: Innere Mehrsprachigkeit des Deutschen (Henne 1986, 218)
Innere Vielsprachigkeit besteht im Unterschied zu äußerer Vielsprachigkeit nicht im Gebrauch verschiedener Einzelsprachen, sondern in demjenigen verschiedener Sprachvarietäten innerhalb einer bestimmten Gesellschaft (wobei die Grenze zwischen beiden als fließend betrachtet werden muss). Im deutschen Sprachraum gilt dies sowohl hinsichtlich verschiedener nationaler Varianten und zahlreicher Dialekte als auch mit Blick auf die Standard- und die Umgangssprache sowie diverse Gruppenund Fachsprachen (vgl. hier etwa das Modell der „inneren Mehrsprachigkeit“ – im Sinne einer inneren Vielsprachigkeit – im Deutschen von Henne 1986, 218; Abb. 3). Dabei ist indessen weniger an ein Nebeneinander verschiedener Dialekte als vielmehr an ein solches diverser sozialer, funktionaler und medialer Varietäten bzw. Register wie Standard- und Umgangssprache, geschriebener und gesprochener Sprache, Jugendsprachen sowie wissenschaftlicher, technischer und institutioneller Fachsprachen zu denken. Der gemeinsame, konkurrierende Gebrauch der (geschriebenen oder gesprochenen) Standardsprache und eines (meist gesprochenen) Dialekts ist über den deutschen Sprachraum unterschiedlich ausgeprägt: Während die Akzeptanz gegenüber dem Dialektgebrauch im öffentlichen Bereich innerhalb der Bundesrepublik Deutschland von Norden nach Süden zunimmt, ist das Schwyzerdütsch im Nachbarland Schweiz die gesprochene Varietät des gesamten gesellschaftlichen Lebens (und damit entgegen landläufiger Meinung jedoch nur bedingt ein Dialekt), die geschriebene deutsche Standardsprache stellt dagegen eine Varietät dar, die oft sogar als eine fremde Sprache empfunden wird (vgl. Kellermeister-Rehbein 2014; vgl. auch Hägi-Mead, Beitrag 10 in diesem Band). Im Ganzen scheint die Kleinräumigkeit von Dialekten im deutschen Sprachraum rückläufig: Durch die steigende regionale und soziale Mobilität der Menschen kommt es zu einem sprachlichen Ausgleich mit größeren Dialekträumen, und durch Mischung entstehen Stadt- oder (wie etwa in Großbritannien oder unter der Arbeiterschaft im Ruhrgebiet) überregionale Gruppensprachen; solche Fälle sind als innere Sprachenmischung zu bezeichnen.
Viel- und Mehrsprachigkeit
Berufskontext des Produzenten
Berufskontext des Produzenten
Beruflicher Textproduzent
.................................
Beruflicher Antwortrezipient
.................................
Gemeinsamer Berufskontext
Beruflicher Text
Berufliche Antwort
Allgemeinsprache Fachsprache 1
Berufskontext des Rezipienten
.................................. ..................................
11
Berufskontext des Rezipienten
Lorem ipsum Beruflicher Textrezipient Beruflicher Antwortproduzent
Bildungssprache Fachsprache 2
Fachsprache 3
Abb. 4: Modell beruflicher Kommunikation (Roelcke 2020a, 21)
Besonders deutlich tritt der Gebrauch verschiedener Sprachvarietäten innerhalb einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe in der beruflichen Kommunikation in Erscheinung (einen Forschungsüberblick zum Thema „Mehrsprachigkeit und Arbeitswelt“ geben Coray/Duchêne 2017). Nach Roelcke (2020a, 18–23; 2020b) werden im Beruf meist neben der Allgemein- bzw. Standard- und der sog. Bildungssprache mehrere Fachsprachen gesprochen und geschrieben (vgl. Abb. 4) – so zum Beispiel in einer Kraftfahrzeugwerkstatt neben den technischen Fachsprachen der Mechanik und der Elektronik auch diejenigen der Elektronischen Datenverarbeitung –, wodurch der im Bereich der sprachlichen Bildung übliche Ansatz einer eigenen Berufssprache (vgl. Efing 2014) obsolet erscheint. Das moderne Berufsleben zeichnet sich dabei in einigen Bereichen durch eine Dynamisierung, Differenzierung und Dezentralisierung der Kommunikation aus, indem diese eine Zunahme der Entwicklungsgeschwindigkeit, eine Aufgliederung in einzelne Disziplinen sowie eine Zunahme an verschiedenen fachlichen Einflüssen zeigt, die nicht alleine wissenschaftlich, technisch oder institutionell, sondern eben auch sprachlich und kommunikativ zu bewältigen sind (Roelcke 2017; vgl. zu Mehrsprachigkeit im Berufs- und Erwerbsleben sowie in Forschung und akademischer Ausbildung Kniffka, Beitrag 22 und Thielmann, Beitrag 23 in diesem Band).
3 Individuelle Mehrsprachigkeit Mehrsprachigkeit besteht dann, wenn im Unterschied zu der Vielsprachigkeit ganzer Gemeinschaften einzelne Personen verschiedene Einzelsprachen oder Sprachvarietäten verwenden. Noch vor einigen Jahrzehnten insbesondere als problematisch hinsichtlich Lernaufwand, Entwicklung von Sprachgefühl und Entstehung von sprachlichen Barrieren angesehen gilt Mehrsprachigkeit inzwischen mit Blick auf Erweiterung von Kommunikationskompetenz und kognitiven Ressourcen als ein „Bil-
12
Thorsten Roelcke
dungsziel“ (Dittmann/Giblak/Witt 2015), das über persönliche Vorteile hinaus auch gesellschaftliche Teilhabe verspricht – eine These, die es letztlich „postideologisch“ (Lippert 2020) weiter zu erörtern gilt. Infolge vielfältiger gesellschaftlicher Prozesse hat sich Mehrsprachigkeit zu einem wichtigen Bereich der Bildungspolitik einzelner Länder entwickelt (Busch 2017; Dannerer/Mauser 2018); dies gilt auch für die Europäische Union, deren Bürgerinnen und Bürger jeweils mindestens zwei Fremdsprachen erwerben sollen. Wie im Falle von äußerer und innerer Vielsprachigkeit ist auch hier zwischen äußerer und innerer Mehrsprachigkeit zu unterschieden. Äußere Mehrsprachigkeit besteht im Gebrauch verschiedener Einzelsprachen durch einzelne Personen. Im Falle zweier Sprachen je Person ist auch von Zweisprachigkeit oder Bilingualismus die Rede (eine Übersichtsdarstellung zur Mehrsprachigkeitsforschung unter besonderer Berücksichtigung von Zweisprachigkeit liegt mit Müller u. a. 2011 vor, vgl. hier auch den Abschnitt zu Definitionen, 15–46). Allgemein verbreitete Szenarien einer äußeren Mehrsprachigkeit sind unter anderem die folgenden (vgl. zur Mehrsprachigkeit in den Bereichen Bildung und Beruf die Beiträge in den Abschnitten „Staying bilingual“ und „Acting multilingual“ in Auer/Wei 2009, 153–275, 277–443): 1. Verwendung zweier oder mehrerer Sprachen innerhalb von vielsprachigen Gemeinschaften (vgl. oben); 2. Gebrauch zweier oder mehrerer Sprachen in Familien, in denen beide Elternteile oder die Großeltern bzw. andere nahe Verwandte verschiedene Einzelsprachen beherrschen; 3. Erwerb von kanonisierten Schulfremdsprachen wie Latein, Griechisch und Hebräisch oder Englisch, Französisch, Russisch, Spanisch, neuerdings Chinesisch; 4. Kommunikation im Beruf, sofern neben dem Englischen oder einer anderen Sprache als Lingua franca weitere Einzelsprachen zum Einsatz kommen.
Innere Mehrsprachigkeit besteht im Gebrauch verschiedener Sprachvarietäten bei einzelnen Personen. In Analogie zur äußeren Mehrsprachigkeit können auch hier diverse und dabei verbreitete Szenarien innerer Mehrsprachigkeit unterschieden werden: 1. Verwendung zweier oder mehrerer Varietäten innerhalb bestimmter Gemeinschaften (vgl. oben); 2. Gebrauch zweier oder mehrerer Varietäten in Familien, in denen beide Elternteile oder Verwandte verschiedene Varietäten (wie etwa unterschiedliche Dia- oder Soziolekte beherrschen); 3. Kommunikation im Beruf, sofern hier neben einer berufsspezifischen Fachsprache auch andere sprachliche Varietäten eingesetzt werden. Während der Erwerb mehrerer Sprachen (und Varietäten) Gegenstand des folgenden Kapitels ist, sei hier zunächst ein näherer Blick auf die äußere und innere Viel- wie Mehrsprachigkeit innerhalb beruflicher Kommunikation geworfen (vgl. zum Folgenden auch Roelcke im Ersch.). Äußere und innere Vielsprachigkeit lassen sich in Form einer Matrix darstellen, bei der verschiedene Einzelsprachen in der Vertikalen und di-
Viel- und Mehrsprachigkeit
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verse Sprachvarietäten in der Horizontalen abgetragen werden (vgl. Abb. 5). Dabei ist jedoch zu beachten, dass diese Darstellung die unterschiedliche Bedeutung, die diesen einzelnen Sprachen und sprachlichen Varietäten in verschiedenen kommunikativen Kontexten zukommt, nicht berücksichtigt. Einzelsprache n Einzelsprache 2 Einzelsprache 1 Allgemeinsprache
Bildungssprache
Fachsprache 1
Fachsprache 2
Fachsprache n
Abb. 5: Äußere und innere Vielsprachigkeit beruflicher Kommunikation (vgl. Roelcke im Ersch.)
Im Falle der Kommunikation innerhalb der Europäischen Union und deren drei Arbeitssprachen (vgl. oben) lässt sich dies mit Blick auf den Bereich des Rechts exemplifizieren, indem Englisch, Französisch und Deutsch der äußeren sowie etwa die juristischen Fachsprachen des Völker- und des Steuerrechts sowie die Fachsprache der Elektronischen Datenverarbeitung der inneren Vielsprachigkeit zugeordnet werden (vgl. Abb. 6). Deutsch Französisch Englisch Allgemeinsprache
Bildungssprache
Fachsprache Völkerrecht
Fachsprache Steuerrecht
Fachsprache EDV
Abb. 6: Äußere und innere Vielsprachigkeit in der Europäischen Union: Beispiel (vgl. Roelcke im Ersch.)
Äußere und innere Mehrsprachigkeit lässt sich nun auf der Grundlage einer solchen Darstellung von Vielsprachigkeit erfassen, wobei indessen nicht einzelne Sprachen und Varietäten, sondern individuelle sprachliche Kompetenzen angesetzt werden (vgl. Abb. 7): Sprachkompetenzen in den einzelnen Sprachen sowie Allgemeine Sprachkompetenz (ASK, im Sinne von Cummins’ 1979 erstmals propagierten und 2008 zusammengefassten basic interpersonal communicative skills, BICS), Allgemeine Fachsprachenkompetenz (AFK – vgl. Roelcke 2020a, 184–191 – im Sinne einer bildungssprachlichen Kompetenz bzw. im Sinne von Cummins’ cognitive academic language
14
Thorsten Roelcke
proficiency, CALP) sowie diverse fachsprachliche Kompetenzen (FSK). – Die breite Diskussion um Konzepte wie Bildungssprache, Schulsprache, BICS und CALP sowie Allgemeine Fachsprachenkompetenz kann an dieser Stelle nicht wiedergegeben werden (vgl. hierzu im Weiteren Kniffka/Roelcke 2016, 41–58; Morek/Heller 2012). Sprachkompetenz n Sprachkompetenz 2 Sprachkompetenz 1 ASK (BICS)
AFK (CALP)
FSK 1
FSK 2
FSK n
Abb. 7: Äußere und innere Mehrsprachigkeit beruflicher Kommunikation; ASK = Allgemeine Sprachkompetenz, AFK = Allgemeine Fachsprachenkompetenz, FSK = (Spezielle) Fachsprachenkompetenz
Die allgemeine Matrix äußerer und innerer Mehrsprachigkeit lässt sich wiederum anhand der Kommunikation innerhalb der Europäischen Union exemplifizieren. Hierbei sind jeweils eine individuelle Kompetenz in den drei Arbeitssprachen Englisch, Französisch und Deutsch sowie neben einer allgemeinen Sprach- und einer allgemeinen Fachsprachenkompetenz spezifische fachsprachliche Kompetenzen im Völker- und im Steuerrecht sowie im Bereich der Elektronischen Datenverarbeitung anzusetzen (vgl. Abb. 8).
Englische SK Französische SK Deutsche SK ASK (BICS)
AFK (CALP)
FSK Völkerrecht
FSK Steuerrecht
FSK EDV
Abb. 8: Äußere und innere Mehrsprachigkeit in der Europäischen Union: Beispiel; SK = Sprachkompetenz, ASK = Allgemeine Sprachkompetenz, AFK = Allgemeine Fachsprachenkompetenz, FSK = (Spezielle) Fachsprachenkompetenz
Die sprachlichen Kompetenzen von einzelnen Individuen hinsichtlich einzelner Sprachen im Allgemeinen sowie in Bezug auf deren einzelne sprachliche Varietäten im Be-
Viel- und Mehrsprachigkeit
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sonderen können und dürfen nicht pauschal als gleich hoch angenommen werden: Diese können vielmehr ausgesprochen stark voneinander differieren und hängen dabei davon ab, ob die einzelnen Sprachen als Erst-, Zweit- oder Fremdsprache erworben wurden und welcher Grad an sprachlicher bzw. fachsprachlicher Bildung dabei jeweils erzielt wurde. Bevor solche Kompetenzen im Rahmen dieses allgemeinen Modells sprachlichen Pluralismus von einzelnen Personen und ganzen kommunikativen Gemeinschaften berücksichtigt werden, bedarf es näherer Erläuterungen zum Spracherwerb und zur Sprachdidaktik.
4 Individueller Spracherwerb Mehrsprachigkeitsforschung war und ist in einem hohen Maße von Beobachtungen und Überlegungen geprägt, wie sich Menschen einzelne Sprachen (oder auch deren Varietäten) aneignen – so denn auch in den Beiträgen des Bandes „Mehrsprachigkeit und Sprachenerwerb“ (Roche/Terassi-Haufe 2018), unter dem diverse Aspekte beider Erscheinungen zusammengeführt werden (vgl. auch Roche 2013). Dabei wird im Allgemeinen zwischen Sprachlernen (engl.: language learning) und Spracherwerb (engl.: language acquisition) unterschieden. Der Erwerb von Sprache gilt dabei als implizit (ungesteuert und unbewusst), das Erlernen einer Sprache demgegenüber als explizit (gesteuert und bewusst). Auch wenn es hierbei erhebliche graduelle Unterschiede gibt, erscheint diese Unterscheidung im Sinne zweier Pole der Sprachaneignung (engl.: language appropriation) nach wie vor sinnvoll und kann dabei wiederum auf die Aneignung einzelner Sprachen (etwa des Deutschen als Erst-, Zweit- und Fremdsprache) oder sprachlicher Varietäten des Deutschen selbst (zum Beispiel der Umgangs-, der Allgemein- oder Standardsprache und einzelner Fachsprachen) bezogen werden. – Bei der folgenden Abbildung (Abb. 9) ist indessen zu beachten, dass die hier genannten Pole aus empirischer Sicht zunehmend verschwimmen und vielmehr mit einer zweckabhängigen und situationsbezogenen „funktionalen Mehrsprachigkeit“ (Haider 2010, 207) sowie einem flexiblen Wechsel zwischen Sprachen und Varietäten, einem code-switching oder gar translanguaging (García/Wei 2014; vgl. auch Földes 2020) zu rechnen ist.
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Thorsten Roelcke
Sprachaneignung (language appropriation)
Spracherwerb (language acquisition)
Sprachlernen (language learning)
implizit (ungesteuert & unbewusst)
explizit (gesteuert & bewusst) äußere Mehrsprachigkeit
Erstsprache
Zweitsprache
Fremdsprache
innere Mehrsprachigkeit (gesprochene) Umgangssprache
(geschriebene) Standardsprache
Fachsprachen
Abb. 9: Sprachaneignung zwischen den Polen Spracherwerb und Sprachlernen (Beispiele grau unterlegt)
Moderne Spracherwerbstheorien sind sich im Allgemeinen darüber einig, dass die Personen, die sich eine Sprache aneignen (also erlernen oder im oben genannten engeren Sinne erwerben), diesen Prozess aktiv gestalten und nicht nur passiv begleiten. Dabei gelingt die Aneignung einer Sprache oder deren Varietät unter ganz verschiedenen Umweltbedingungen und benötigt jeweils einen entsprechend einschlägigen sprachlichen Input. Weniger Einigung herrscht in der Forschung demgegenüber in Hinblick auf die Gewichtung der persönlichen und pragmatischen Voraussetzungen, die hierbei gegeben sind bzw. gegeben sein müssen. Nativistische Ansätze (die insbesondere auf Noam Chomsky 1981 zurückzuführen sind) gehen von einer hohen persönlichen Prädisposition mit einem angeborenen Sprachwissen (Bestehen einer sog. Universalgrammatik) aus, welches im Rahmen der Sprachaneignung – etwa bzgl. der Wortstellung – spezifiziert wird (Entwicklung einzelsprachlicher Grammatiken durch sog. Parametrisierung). Diese These des sog. Nativismus wird zum einen dadurch gestützt, dass sich einzelne Individuen einzelne Sprachen trotz unzureichenden Inputs und fehlender Korrekturen aneignen (und dies im Falle von Erstsprachen phylogenetisch verhältnismäßig früh); zum anderen wird sie durch sprachvergleichende Studien bestätigt, die sog. cross-linguistische Ähnlichkeiten zutage treten lassen. Interaktionistische Ansätze (die vor allem auf Jerome Bruner 1983 zurückgehen) betonen demgegenüber die Bedeutung von pragmatischen Voraussetzungen, die in Form von sprachlichen Äußerungen als sog. Input die allgemeinen Lernmechanismen des Menschen zur Aneignung von Sprache anregen. Dieser Ansatz des sog. Interaktionismus fasst Sprache als eine spezifische Form von sozialem Verhalten auf, die nicht
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Viel- und Mehrsprachigkeit
durch eine prädisponierte Grammatik, sondern durch eine genetische Prädisposition zu sozialer Interaktion gefördert wird. Deren (ontogenetisch relativ frühe und hohe) Entwicklungsgeschwindigkeit und Flexibilität kann in diesem Rahmen durch einen menschlichen Instinkt zum Gebrauch von Sprache (Pinker 1994) erklärt werden. Nativistische wie interaktionistische Ansätze haben insbesondere den Erwerb einer ersten Sprache im Kindesalter im Auge, sind aber auch mit Blick auf den Erwerb weiterer Sprachen im Kindes- oder einem späteren Lebensalter von Bedeutung. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass der (zunächst) ungesteuerte und unbewusste Erwerb von Sprache(n) seit dem Kindesalter (Erstsprache; engl.: first language, L1) meist in einer höheren Geschwindigkeit und mit einem nachhaltigeren Ergebnis erfolgt als derjenige, welcher erst zu einem späteren Lebensalter einsetzt und dabei eher gesteuert und bewusst (Fremdsprache; engl.: foreign language, Ln) oder eher ungesteuert und eher bewusst (Zweitsprache; engl.: second language, L2) erfolgt (zur Entwicklung von Mehrsprachigkeit in der Kindheit und in der frühen Jugend vgl. auch De Houwer, Beitrag 14 in diesem Band). Entsprechend groß ist das wissenschaftliche und das öffentliche Interesse an Übersetzung und Dolmetschen sowie gemischtsprachigem Sprechen (vgl. Schubert, Beitrag 19 und Tracy, Beitrag 18 in diesem Band) sowie am fremdsprachlichen Unterricht (vgl. zur Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht Bredthauer, Beitrag 15 und zu Deutsch als Fremd- und als Zweitsprache an Schulen im deutschen Sprachraum Binanzer, Beitrag 16 in diesem Band), der inzwischen auch historische Gesichtspunkte umfasst (vgl. zur Geschichte des Deutschen als Fremdsprache im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts im deutschen Sprachraum Meier, Beitrag 8 sowie zur Geschichte des Fremdsprachenunterrichts in Europa und in der Welt Klippel, Beitrag 9 in diesem Band). Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Erst-, Zweit- und Fremdsprachen seien im Folgenden am Beispiel des Deutschen näher erläutert (zu weiteren Gemeinsamkeiten und Unterschieden vgl. auch Ahrenholz 2017; Kniffka/Siebert-Ott 2012; Rösch 2011 sowie Tab. 1). – Das Deutsche ist für rund 100 bis 120 Millionen Menschen Erstsprache; davon leben etwa 100 Millionen in Europa, insbesondere in Deutschland, Österreich und in der Schweiz. Diese Menschen haben die deutsche Sprache nach der Geburt (daher u. a. auch der nurmehr veraltete Terminus Muttersprache) zunächst weitgehend ungesteuert und unbewusst erworben und verwenden es in der Regel ohne Probleme beim Sprechen und Hören sowie in der größeren Zahl der Fälle beim Schreiben und Lesen; Deutsch als Erstsprache gilt hier darüber hinaus als die Sprache, in der gedacht und geträumt wird. – Das Deutsche wird als Fremdsprache in nicht-deutschsprachigen Ländern erworben und verwendet. Rund 150 Millionen Menschen sprechen weltweit Deutsch als Fremdsprache (DaF) – die meisten davon in Europa, aber auch in Nord- und Südamerika, in Asien oder in Afrika. Weltweit lernen derzeit nach Angaben des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland (2020) gut 15 Millionen Menschen Deutsch als Fremdsprache, davon etwa 75 % in der Schule und 25 % an
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Thorsten Roelcke
Hochschulen und anderen Einrichtungen der Erwachsenenbildung. Dabei stellt das Deutsche nur in der geringeren Zahl der Fälle die erste Fremdsprache dar – bei ca. 70 % ist es die zweite oder dritte Fremdsprache, die sog. Tertiärsprache. Der Erwerb einer solchen Tertiärsprache folgt spezifischen Bedingungen, da in der Regel auf mehrsprachige Kenntnisse und Fähigkeiten zurückgegriffen werden kann. Deutsch als Zweitsprache (DaZ) schließlich wird von Personen innerhalb des deutschen Sprachraums nicht als Erstsprache verwendet. Dies ist insbesondere bei Menschen mit einem sog. Migrationshintergrund der Fall, welche als Kinder, Jugendliche oder Erwachsene die deutsche Sprache zunächst einmal ungesteuert im Alltagsleben erwerben; hinzu kommt teils ein gesteuertes Sprachlernen im Rahmen von Schulunterricht in Vorbereitungsklassen oder Integrationskursen an Volkshochschulen usw.
–
Der Erwerb echter Mehrsprachigkeit im Sinne einer (mehr oder weniger umfangreichen) Beherrschung mehrerer fremder Sprachen ist ein vielschichtiger Prozess, der von zahlreichen Faktoren abhängt. Hierzu gehören nach einem Modell von Hufeisen (2004) neurophysiologische Faktoren (generelle Spracherwerbsfähigkeiten, Alter usw.), emotionale Faktoren (Motivation, Lernangst, sprachliche Nähe/Distanz, kulturelle Einstellung, Lern- und Lebenserfahrungen usw.), kognitive Faktoren (Sprachund Metasprachbewusstsein, Wissen um Lerntypen und Strategien usw.), fremdsprachenspezifische Faktoren (individuelle Erfahrungen im Sprachen- und Fremdsprachenlernen, interlanguages der vorgängigen und nachfolgenden Sprachen, d. h. spezifische sprachliche Strukturen, die sich während des Erwerbs bzw. des Lernens ausbilden, usw.) sowie linguistische Faktoren (Strukturen von betreffenden Erst- und Fremdsprachen – zu insbesondere im Kontext von Schule relevanten fremden Sprachen und deren Strukturen vgl. Colombo-Scheffold u. a. 2010; Krifka u. a. 2014; Leontiy 2013). Müller u. a. (2009, 15) unterscheiden hier die Pole „simultan/sukzessiv – natürlich/gesteuert – kindlich/erwachsen“ und gehen im Folgenden auf weitere der genannten Faktoren ein. Der Prozess des Erwerbs echter Mehrsprachigkeit umfasst dabei mehrere Etappen von der Aneignung der Erstsprache über die einer ersten Fremdsprache zu der weiterer Fremdsprachen und ist dabei mit einer entsprechenden Progression des Strategieerwerbs verbunden (vgl. Abb. 10; unter dem Abschnitt „Becoming bilingual“ erfassen die Beiträge in Auer/Wei 2009, 13–152 Sprachenerwerb in verschiedenen Etappen des menschlichen Lebens).
Viel- und Mehrsprachigkeit
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Tab. 1: Deutsch als Fremd- und Zweitsprache im Vergleich (vgl. Steinacher 2007; Hahn/Schöler 2013, 29) Deutsch als Fremdsprache
Deutsch als Zweitsprache
Vermittlung im Ausland (partiell im deutschsprachigen Raum)
Vermittlung im deutschsprachigen Raum
Vermittlung als Standardsprache
Vermittlung in einer nicht-standardsprachlichen (ggf. dialektalen) Form
Schul- und Erwachsenenbildung mit Richtlinien, Bildungsplänen, Orientierung am Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (GER), gut ausgebautem Prüfungssystem und fundierter Lehrkräfteausbildung
Schulbildung teils mit Bildungsplänen und Lehrkräfteausbildung, aber ohne Prüfungssystem; Erwachsenenbildung in Integrationskursen mit Rahmencurricula, Zulassung von Lehrwerken und Lehrkräften mit DaZ-Qualifikation und eigenem Prüfungssystem
Erstsprache meist gut ausgebildet
Erstsprache nicht immer gut ausgebildet
Fremdsprache als Sprache der Arbeits- bzw. Freizeitwelt (zeitlich begrenzt)
Zweitsprache als Lebenssprache (zeitlich weitgehend unbegrenzt)
Erstsprache als didaktische Arbeitssprache möglich; DaF als Zielsprache (Sprachunterricht)
Zweitsprache als didaktische Arbeits- und Zielsprache (Sprach- und Sachunterricht)
Lerngruppen in der Regel homogen
Lerngruppen oft heterogen (Erstsprachen, Lernerfahrung, Schriftspracherwerb, Alter, Motivation, Fremdsprachenkenntnis)
Erhaltung der sprachlichen und kulturellen Identität der Lernenden
Änderung der sprachlichen und kulturellen Identität der Lernenden
Erwartungen und Motivation der Lernenden unterschiedlich (Schulfach)
Diffuse psychische Situation der Lernenden (Kulturschock, Kontrollverlust, Angst usw.)
Lernen insbesondere über Lesen und Schreiben
Lernen insbesondere über Hören und Imitation
Aufbereitung von Regeln in systematisch und linear geeigneter Progression
Bildung von Regeln ohne Fehlerkorrektur (fließend Sprechende mit fossilierten Fehlern)
Anwendung der Sprache als Simulation (Rollenspiele)
Anwendung der Sprache in realer Kommunikation
Ziel: Bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt (gute Benotung)
Ziel: Gesellschaftliche und berufliche Integration (Unterstützung der eigenen Kinder)
Ergebnis: Qualität in Lesen und Schreiben, eher passive als aktive Sprachbeherrschung
Ergebnis: Qualität in Kommunikation und Hörverstehen, geringere Schreibkompetenz
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Thorsten Roelcke
L3 Erweiterung der Spracherwerbs- und Lernstrategien L2
Erweiterung der Sprachkompetenz kognitiver Spracherwerb interkulturelle Kompetenz kommunikative Kompetenz lernstrategische Kompetenz L1
s rb we
Pr og res sio nd es Mu tte rsp rac he n-
Mehrsprachigkeit
r iee teg ra St es nd sio res og Pr
un dF rem ds pr ac he ne rw erb s
Ln
Kognitiver Spracherwerb Konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit L1 Spracherwerb gesteuert und ungesteuert
Abb. 10: Pyramide der Mehrsprachigkeit (nach Hahn/Schöler 2013)
5 Allgemeiner Sprachpluralismus Gesellschaftliche Vielsprachigkeit, individuelle Mehrsprachigkeit und individueller Sprachenerwerb können abschließend in ein gemeinsames Konzept von Sprachpluralismus überführt werden; auch hierbei ist zwischen äußerem und innerem Sprachpluralismus zu unterscheiden. Sprachpluralismus meint dabei den individuellen Sprachenerwerb im Sinne individueller Mehrsprachigkeit und damit Teilhabe an gesellschaftlicher Vielsprachigkeit. Ausgangpunkt ist hierbei eine allgemeine Matrix äußerer und innerer Vielsprachigkeit, die den gesellschaftlichen Rahmen bildet, an welchem einzelne Personen (mehr oder weniger) partizipieren (vgl. Abb. 11). Diese Matrix setzt verschiedene Einzelsprachen an, die jeweils wiederum aus verschiedenen Sprachvarietäten bestehen (neben der Allgemein- und der Bildungssprache etwa regionale, soziale, funktionale und mediale Varietäten). Dabei ist zu beachten, dass individuelle Mehrsprachigkeit als Teilhabe an gesellschaftlicher Vielsprachigkeit in starkem Maße von gesellschaftlichen Faktoren abhängt, die im Rahmen einer Soziolinguistik des Sprachpluralismus zu analysieren sind.
Viel- und Mehrsprachigkeit
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Einzelsprache n Einzelsprache 2 Einzelsprache 1 Allgemeinsprache
Bildungssprache
Sprachvarietät 1
Sprachvarietät 2
Sprachvarietät n
Abb. 11: Gesellschaftliche (äußere und innere) Vielsprachigkeit (allgemeine Matrix)
Einzelne Personen verfügen nicht über einzelne Sprachen oder deren sprachliche Varietäten, sondern über Kompetenzen, die sich auf solche Sprachen und deren Varietäten beziehen. Insofern leitet sich aus der allgemeinen Matrix gesellschaftlicher Vielsprachigkeit eine allgemeine Matrix individueller Mehrsprachigkeit (vgl. Abb. 12) ab, welche in Analogie hierzu die entsprechenden Kompetenzen in einzelnen Sprachen und sprachlichen Varietäten umfasst (neben einer allgemeinen Sprachkompetenz im Sinne von BICS und einer allgemeinen fachsprachlichen Kompetenz im Sinne von CALP etwa dialektale, soziolektale, funktiolektale oder mediolektale Kompetenzen).
Sprachkompetenz n Sprachkompetenz 2 Sprachkompetenz 1 ASK (BICS)
AFK (CALP)
SVK 1
SVK 2
SVK n
Abb. 12: Individuelle (äußere und innere) Mehrsprachigkeit (allgemeine Matrix); ASK = Allgemeine Sprachkompetenz, AFK = Allgemeine Fachsprachenkompetenz, SVK = Sprachvarietätenkompetenz
Der individuelle Erwerb individueller Mehrsprachigkeit in Entsprechung zu gesellschaftlicher Vielsprachigkeit ist von Mensch zu Mensch verschieden und kann (zumindest grob) in einer Matrix erfasst werden (wobei innerhalb einzelner Bereiche verschiedene Kompetenzausprägungen sowie zwischen den einzelnen Bereichen fließende Übergänge anzunehmen sind). Hierbei werden Erst-, Zweit- und Fremdspracherwerb in die allgemeine Matrix individueller Mehrsprachigkeit eingetragen, sodass sich eine spezifische Konstellation ergibt, die im Weiteren hinsichtlich einzelner Kompetenzstufen (etwa derjenigen des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens –
22
Thorsten Roelcke
Europarat 2001; Council of Europe 2020) zu differenzieren wäre. Dies sei im Folgenden anhand einiger Beispiele gezeigt. Das erste Beispiel besteht in dem individuellen (äußeren und inneren) Spracherwerb einer Tochter türkischer Einwanderer in Berlin, die bis in ihr Erwachsenenalter eine Reihe sprachlicher Varietäten der türkischen, deutschen und englischen Sprache erwirbt (vgl. Abb. 13): Die Frau erwirbt unbewusst und ungesteuert im Kreise ihrer Familie eine allgemeine Sprachkompetenz im Türkischen (als Standardsprache, es könnte auch ein Dialekt oder eine Variante im deutschen Sprachraum sein) und verwendet diese Sprache als Erstsprache. Das Deutsche erwirbt sie zunächst im Umgang mit Kindern und Jugendlichen einerseits und im Umgang mit Erwachsenen ihres Stadtteils andererseits; sie erwirbt dabei zwei sprachliche Varietäten, zum einen die Allgemeinsprache und zum anderen das sog. Kiezdeutsch – oder vielleicht besser: die (deutschbasierte) Kiezsprache (mehr oder weniger) unbewusst und ungesteuert, sodass hier jeweils ein Zweitspracherwerb anzusetzen ist (zu Kiezdeutsch vgl. Wiese 2012). Eine allgemeine Fachsprachenkompetenz im Sinne von Bildungssprache erwirbt die Tochter türkischer Einwanderer (unter Voraussetzung eines sprachsensiblen Fachunterrichts eher) bewusst und gesteuert beim Besuch der Primar- und Sekundarstufe Berliner Schulen, sodass hier eher der Erwerb einer (inneren) Fremd- als einer Zweitsprache anzusetzen ist (vergleichbar dem Erwerb der Schriftsprache neben dem Schwyzerdütschen im Norden der Schweiz; bei Ausbleiben eines sprachsensiblen Fachunterrichts ist eher von einem Zweitspracherwerb auszugehen). Die englische Sprache schließlich wird von der Frau im Rahmen des regulären Schulunterrichts als Fremdsprache erworben; wird von dem Gebrauch des Englischen etwa in der internationalen Gamersociety ausgegangen, wäre hier ggf. auch ein Zweitspracherwerb anzunehmen, der in eine Spezialisierung reicht.
Englische SK
FS
–
–
(ZS)
–
Deutsche SK
ZS
FS
ZS
–
–
Türkische SK
ES
–
–
–
–
ASK (BICS)
AFK (CALP)
Kompetenz Kiezdeutsch
Kompetenz Gamersociety
SVK 3
Abb. 13: Individueller (äußerer und innerer) Sprachenerwerb (Beispiel: Tochter türkischer Einwanderer in Berlin); SK = Sprachkompetenz, ASK = Allgemeine Sprachkompetenz, AFK = Allgemeine Fachsprachenkompetenz, SVK = Sprachvarietätenkompetenz; ES = Erstsprache, ZS = Zweitsprache, FS = Fremdsprache.
Das Beispiel äußerer und innerer Mehrsprachigkeit innerhalb der Europäischen Union (vgl. oben, Abb. 8) lässt sich nun hinsichtlich des individuellen Spracherwerbs eben-
Viel- und Mehrsprachigkeit
23
falls konkretisieren, wobei in den folgenden zwei Beispielen (vgl. Roelcke im Ersch.) der Übersichtlichkeit und Einfachheit halber nur zwischen dem Erwerb der Erst- und dem Erwerb von fremden Sprachen unterschieden wird. Bei dem ersten Beispiel (vgl. Abb. 14) geht es um einen Justiziar, der in der Bundesrepublik Deutschland geboren und aufgewachsen ist; er hat Rechtswissenschaften studiert und konnte nebenher einschlägige Kenntnisse in der Elektronischen Datenverarbeitung erwerben. In der Schule hat er Englisch und Französisch gelernt und seine Kompetenz der englischen Sprache im akademischen Kontext (insbesondere im Rahmen eines entsprechenden Auslandsstudiums) weiterentwickelt. Angesichts dieser Biografie umfasst seine individuelle Mehrsprachigkeit sämtliche Kompetenzen im Deutschen als Erstsprache (ES) und im Englischen als Fremdsprache (FS); im Französischen liegt eine Allgemeine Sprach-, nicht aber eine Allgemeine Fachsprachenkompetenz in der Fremdsprache vor. Er beherrscht die drei Arbeitssprachen der EU somit nur partiell. Das zweite Beispiel (vgl. Abb. 15) geht von einer Justiziarin aus, die in der Italienischen Republik geboren und dort aufgewachsen ist. Sie weist einen Lebenslauf auf, der demjenigen ihres deutschen Kollegen entspricht, gebraucht jedoch nicht Deutsch, sondern Italienisch als Erstsprache und hat sich während ihrer Schulausbildung erweiterte Kompetenzen im Französischen aneignen können. In diesem Falle besteht somit keine Sprachkompetenz in der Arbeitssprache Deutsch, während hinsichtlich des Französischen eine Allgemeine Fachsprachenkompetenz hinzukommt. Ein wichtiger Unterschied zur individuellen Mehrsprachigkeit des deutschen Kollegen besteht bei derjenigen der Justiziarin aus Italien indessen darin, dass sie über die gesellschaftliche Vielsprachigkeit der EU hinaus über weitere Kompetenzen in einer Einzelsprache als Erstsprache verfügt (hier kursiv gesetzt), die nicht Arbeits-, jedoch Amtssprache der Europäischen Union ist.
Englische SK
FS
FS
FS
FS
FS
Französische SK
FS
–
–
–
–
Deutsche SK
ES
ES
ES
ES
ES
ASK (BICS)
AFK (CALP)
FSK Völkerrecht
FSK Steuerrecht
FSK EDV
Abb. 14: Individueller (äußerer und innerer) Sprachenerwerb in der Europäischen Union: Beispiel 1 – Justiziar aus Deutschland; SK = Sprachkompetenz, ASK = Allgemeine Sprachkompetenz, AFK = Allgemeine Fachsprachenkompetenz, FSK = (Spezielle) Fachsprachenkompetenz; ES = Erstsprache, FS = Fremdsprache.
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Thorsten Roelcke
Englische SK
FS
FS
FS
FS
FS
Französische SK
FS
FS
–
–
–
Deutsche SK
–
–
–
–
–
Italienische SK
ES
ES
ES
ES
ES
ASK (BICS)
AFK (CALP)
FSK Völkerrecht
FSK Steuerrecht
FSK EDV
Abb. 15: Individueller (äußerer und innerer) Sprachenerwerb in der Europäischen Union: Beispiel 2 – Justiziarin aus Italien; SK = Sprachkompetenz, ASK = Allgemeine Sprachkompetenz, AFK = Allgemeine Fachsprachenkompetenz, FSK = (Spezielle) Fachsprachenkompetenz; ES = Erstsprache, FS = Fremdsprache
6 Fazit (Terminologie) Angesichts der Vielzahl und der Vielfalt von einzelnen Sprachen und sprachlichen Varietäten erscheint eine übergreifende Terminologie bzw. Konzeption von Bedeutung, um über diese in Wissenschaft und Öffentlichkeit möglichst präzise und eindeutig kommunizieren zu können. Hier ist jeweils zwischen einer äußeren Lesart bzw. Variante, die sich auf verschiedene Einzelsprachen bezieht, und einer inneren Lesart bzw. Variante, welche Varietäten innerhalb einer einzelnen Sprache umfasst, zu unterscheiden, wobei jeweils fließende Übergänge anzunehmen sind. Vor dem Hintergrund des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs im Allgemeinen wird hier mit dem Terminus Sprachenvielfalt auf die regionale Verbreitung von einzelnen Sprachen und sprachlichen Varietäten Bezug genommen. Demgegenüber bezieht sich Vielsprachigkeit auf die Mehrzahl von Sprachen und Varietäten innerhalb einer menschlichen Gemeinschaft (Gruppe oder Gesellschaft), während Mehrsprachigkeit auf den Gebrauch verschiedener Sprachen und Varietäten bei einzelnen Personen referiert. Die individuelle Aneignung von einzelnen Sprachen und sprachlichen Varietäten lässt sich anhand des Erwerbs von Erstsprache, Zweitsprache und Fremdsprache erfassen. Ein zusammenfassendes Modell dieser Erscheinungen erlaubt eine übergreifende Konzeption von Sprachpluralismus, welche hier unter besonderer Berücksichtigung von fachlicher bzw. beruflicher Kommunikation vorgestellt wird. Zum Abschluss seien die zentralen Termini und deren Definitionen noch einmal alphabetisch zusammengefasst: Erstsprache Fremdsprache
Ungesteuert und unbewusst angeeignete Sprache oder Varietät. Gesteuert und bewusst angeeignete Sprache oder Varietät.
Viel- und Mehrsprachigkeit
Kreol-Sprache Mehrsprachigkeit Pidgin-Sprache Sprachaneignung Sprachenmischung Sprachenvielfalt Spracherwerb Sprachkontakt Sprachlernen Sprachpluralismus Vielsprachigkeit Zweitsprache
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Verselbständigte Pidgin-Sprache (als Erstsprache verwendet). Gebrauch verschiedener Sprachen oder Varietäten bei einzelnen Personen (engerer Sinn). Vereinfachte Sprache auf Basis einer etablierten Sprache (als Zweitsprache verwendet). Erwerb oder Erlernen von Sprachen oder Varietäten. Verbindung mehrerer Sprachen oder Varietäten zu neuen Sprachen (Pidginisierung und Kreolisierung). Bestand an verschiedenen Sprachen oder Varietäten in einer bestimmten Region. Ungesteuerte und unbewusste Aneignung von Sprachen oder Varietäten. Struktureller Austausch von Sprachen oder Varietäten durch gesellschaftliche Nachbarschaft. Gesteuerte und bewusste Aneignung von Sprachen oder Varietäten. Individueller Erwerb von individueller Mehrsprachigkeit, Teilhabe an gesellschaftlicher Vielsprachigkeit. Gebrauch verschiedener Sprachen oder Varietäten innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft. Ungesteuert und (eher) bewusst angeeignete Sprache oder Varietät.
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Thorsten Roelcke
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Viel- und Mehrsprachigkeit
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2. Mehrsprachigkeit: Aspekte von Forschung und Messung Abstract: Der vorliegende Beitrag gibt einen Einblick in unterschiedliche Definitionen, Formen und Forschungsfacetten von Mehrsprachigkeit sowie in Methoden ihrer Erforschung. Angesichts der Aktualität und Breite des Themenfeldes geht er dabei notwendigerweise perspektivisch und selektiv vor. So bezieht er kognitive Aspekte stärker in die Betrachtung ein als sozio-interaktionale, wodurch die Darstellung quantitativer Methoden die der qualitativen überwiegt. Auch fokussieren wir stärker den Erwerb als den Gebrauch mehrerer Sprachen, was wiederum der gewählten eher kognitiven Ausrichtung entspricht. Dabei werden sowohl ungesteuerte als auch gesteuerte Aneignungskontexte in den Blick genommen. Ein besonderer Schwerpunkt der Darstellung liegt auf Mehrsprachigkeit als Ressource. 1 2 3 4 5 6
Einleitung Mehrsprachigkeit Forschungsüberblick Methoden der Erforschung von Mehrsprachigkeit Trends und Desiderata Literatur
1 Einleitung Mehrsprachigkeit kann in der globalisierten Welt schon lange nicht mehr als etwas Exotisches, sondern vielmehr als der Normalfall angesehen werden (vgl. bspw. Aronin/Hufeisen 2009, 109 f.; Schneider 2015, 9–11; vgl. auch Lippert 2020, die sich kritisch mit dieser These auseinandersetzt), was in vielen Gegenden der Welt ohnehin bereits lange der Fall war. So wird bspw. im BMBF-Forschungsschwerpunkt Sprachliche Bildung und Mehrsprachigkeit (Koordinierungsstelle für Mehrsprachigkeit und sprachliche Bildung 2020, 9) mit Blick auf das Deutsche festgestellt, dass anstelle der sechs ursprünglichen „‚Anwerbeländer[…]‘ von ‚Gastarbeitern‘“ nunmehr zwischen ca. 190 Herkunftsländern von Migranten und Migrantinnen zu unterscheiden sei, aus denen eine noch größere Anzahl von Sprachen mitgebracht wurde. Gleichwohl stellen der mehrsprachige Erwerb sowie das Feld der Mehrsprachigkeitsdidaktik, ebenso wie linguistische oder sprachenpolitische Perspektiven auf das Themenfeld, aktuell noch vergleichsweise wenig erforschte Gegenstände dar (vgl. Lippert 2020 für einen kurzen historischen Abriss, die drei Phasen der Bilingualismusforschung nachzeichnet). Auch der gesellschaftliche Blick auf Mehrsprachigkeit ist dabei im Laufe der Zeit immer wieder Wandlungen unterlegen. So kann Mehrsprachigkeit aktuell (zumindest https://doi.org/10.1515/9783110623444-002
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in den Augen der meisten Eltern) sicherlich als „ein erstrebenswertes Ziel schulischer Bildung“ bzw. als „sinnvolle Investition“ (Fürstenau/Gomolla 2011, 13) angesehen werden. Die gymnasiale Schullaufbahn sieht den Erwerb von zwei oder drei Fremdsprachen vor und auch die Anzahl bilingualer Kindertagesstätten und Schulen steigt beständig an. Diese Entwicklung ist nicht zuletzt auch Ausdruck der Sprachenpolitik der EU: Im Rahmen ihrer Bemühungen zur Förderung der Mobilität und interkulturellen Verständigung hat die EU den Sprachenerwerb zu einer wichtigen Priorität erklärt und finanziert zahlreiche Programme und Projekte in diesem Bereich. Die EU betrachtet die Mehrsprachigkeit als ein wichtiges Element der Wettbewerbsfähigkeit Europas. Zu den Zielen der EU-Sprachenpolitik gehört deshalb, dass jeder europäische Bürger zusätzlich zu seiner Muttersprache zwei weitere Sprachen beherrschen sollte. (Iskra 2021)
Gleichzeitig wird die migrationsbedingte, familiäre Mehrsprachigkeit von Kindern und Jugendlichen häufig ganz anders wahrgenommen und „eher als eine Behinderung denn als eine Zusatzkompetenz ausgelegt“ (Fürstenau/Gomolla 2011, 13). Hier zeigt sich offensichtlich ein Widerspruch in der Bewertung schulischer vs. lebensweltlicher Mehrsprachigkeit, den es bspw. im Rahmen soziolinguistisch angelegter Studien (vgl. Abschnitt 3, insbesondere 3.1 und 3.2) genauer zu untersuchen gilt. Mehrsprachigkeitsforschung wird bereits seit dem frühen 20. Jahrhundert, insbesondere aber seit Mitte des 20. Jahrhunderts, in dem verstärkt auch Arbeitsmigration in den Fokus der Forschung tritt, betrieben (vgl. Ballweg 2019 für einen Überblick). Dabei lässt sich im Laufe der Zeit insgesamt ein Wandel von einer Orientierung am Ideal des native speakers, verbunden mit einer geringen Fehlertoleranz sowie einer eher defizitorientierten Sichtweise, hin zu einer funktionalen und ressourcenorientierten Sicht auf Mehrsprachigkeit feststellen (z. B. Meisel 2003; Tracy 2007; Fürstenau/ Gomolla 2011). Mehrsprachigkeit stellt aus funktionaler Perspektive dabei eine Art Trainingsprogramm für das Gehirn dar, das im Vergleich zu Monolingualen bspw. sprachanalytische Kompetenzen erhöht (Akbulut 2020), den beschleunigten Erwerb weiterer Sprachen ermöglicht (Klieme 2006; Hesse/Göbel 2009) oder auch Alzheimer einige Jahre aufhalten kann (Craik/Bialystok/Freedman 2010). Mehrsprachigkeitsforschung (wie Fremdsprachenforschung generell) kann grundsätzlich theoretisch (vgl. Legutke 2016 für einen Überblick), historisch (vgl. Klippel 2016 für einen Überblick) oder empirisch (vgl. Schramm 2016 für einen Überblick) angelegt sein, wobei wir im Folgenden auf empirische Ansätze fokussieren. Empirische Mehrsprachigkeitsforschung wiederum rekurriert auf eine Vielzahl von Bezugsdisziplinen, insbesondere auf Linguistik (u. a. Psycholinguistik, Neurolinguistik, Soziolinguistik, Korpuslinguistik), Psychologie, Soziologie und Pädagogik, deren Zugriffe sie spezifiziert. Sie bedient sich dabei sowohl qualitativer als auch quantitativer Methoden, was triangulative Designs einschließt (vgl. Lado/Sanz 2017 für einen Überblick).
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Mehrsprachigkeit: Aspekte von Forschung und Messung
Der vorliegende Beitrag diskutiert zunächst zentrale Begrifflichkeiten im Forschungsfeld Mehrsprachigkeit, um im Anschluss einen Überblick über aktuelle Forschungsgebiete sowie -methoden zu geben. Abschließend werden weiterführende Perspektiven und Desiderata diskutiert.
2 Mehrsprachigkeit Der Begriff Mehrsprachigkeit kann sich zunächst auf Personen (individuelle Mehrsprachigkeit) oder auf Systeme, d. h. entweder Institutionen (institutionelle Mehrsprachigkeit, z. B. in der UNO) oder Territorien (territoriale/gesellschaftliche/lebensweltliche Mehrsprachigkeit, z. B. in der Schweiz), beziehen (Haider 2010, 207; Kniffka/SiebertOtt 2012, 168–169). Individuelle Mehrsprachigkeit, die zumeist im Zentrum der Mehrsprachigkeitsforschung steht, kann ebenfalls ganz unterschiedliche Ausprägungen annehmen. Die Charakterisierung individueller Mehrsprachigkeit kann anhand von Kriterien wie dem Modus der Sprachaneignung, der Anzahl der Sprachen oder auch dem jeweiligen Grad der Sprachbeherrschung erfolgen. So können zwei oder mehrere Sprachen zunächst entweder von früher Kindheit an gleichzeitig (simultan) oder im Verlauf des Lebens nacheinander (sukzessiv) erworben werden. Von Bi-, Tri- oder Multilingualität im engeren Sinne spricht man dabei nur in Bezug auf den simultanen Erwerb; im weiteren Sinne werden diese Termini aber auch auf den sukzessiven Erwerb angewandt. Die Sprachaneignung kann dabei im Rahmen von schulischem oder außerschulischem Sprachunterricht (gesteuert) oder als Familien- und/oder Umgebungssprache im Alltagsleben (ungesteuert/natürlich) erfolgen, wobei selbstverständlich auch Kombinationen denkbar sind. Eine weitere im deutschen Sprachraum gängig getroffene Unterscheidung im Forschungsfeld Mehrsprachigkeit bezieht sich darauf, ob die einzelnen Sprachen jeweils als Erst-, Zweit- oder Fremdsprache erworben wurden (vgl. Rösch 2011, 11; Ahrenholz 2017 für eine Übersicht). Dabei wird davon ausgegangen, dass sich diese Erwerbstypen qualitativ voneinander unterscheiden können. Von einer Erstsprache (Language 1 = L1) wird in der Regel dann gesprochen, wenn der ungesteuerte Erwerb dieser Sprache spätestens bis zum dritten Lebensjahr einsetzt. Später beginnender ungesteuerter Erwerb wird als früher Zweitspracherwerb (Beginn/age of onset im 3.–6. Lebensjahr), Zweitspracherwerb von Kindern (einsetzend im 6.–12./15. Lebensjahr) bzw. von Jugendlichen und Erwachsenen (ab dem 12./15. Lebensjahr beginnend) bezeichnet. Zweitsprachen werden dabei immer (zumindest auch) ungesteuert, d. h. im natürlichen Lebensweltzusammenhang, erworben und sind entsprechend von großer Bedeutung für Identität und gesellschaftliche Partizipation der Sprecher und Sprecherinnen. Im Vergleich dazu werden Fremdsprachen in unterrichtlichen Zusammenhängen zu Bildungszwecken erlernt, können häufig freiwillig gewählt und abgewählt werden und spielen im Leben der Lerner und Lernerinnen meistens keine tragende
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Rolle (vgl. jedoch Kramsch 2009, die auch dem Fremdsprachenlernen durchaus eine identitätsbezogene Relevanz zuspricht). Sowohl Zweit- als auch Fremdsprachen werden häufig als L2 bezeichnet, um sie primär von einer L1 abzugrenzen. Unter einer Tertiärsprache (L3) versteht man analog weitere Sprachen, die sich eine Person aneignet. Für das Deutsche ist hier insbesondere die Konstellation des Deutschen als Fremdsprache nach dem Englischen als Fremdsprache bedeutsam (DaFnE). Weitergeführt werden kann die Reihe mit Ln oder Lx. In der Beantwortung der Frage, ab welchem Grad von Kompetenz in den beteiligten Sprachen eine Person als zwei- bzw. mehrsprachig bezeichnet werden kann, herrscht in der Forschung breiter Konsens darüber, dass grundsätzlich dann von Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit gesprochen werden kann, wenn jemand mehr als eine Sprache regelmäßig nutzt und problemlos zwischen den Sprachen wechseln kann, wenn die Situation es erfordert (Lüdi 1996, 234; Apeltauer 2001, 628). Somit hat sich definitorisch im Forschungsdiskurs eine Mittelposition durchgesetzt, die zwischen zwei Extremen einer Skala liegt, die entweder „native-like control of two languages“ (Bloomfield 1935, 56) fordert oder aber bereits die Fähigkeit, einige vollständige Sätze bilden zu können (Haugen 1953, 7), als ausreichend erachtet (vgl. ausführlicher Lippert 2020, 1171–1173). Diese Definitionen sind nicht unkritisch zu betrachten, denn sie differenzieren bspw. nicht nach Fertigkeiten oder Domänen, sondern beziehen sich primär auf die Ausprägung produktiver Fertigkeiten. Mehrsprachigkeit kann jedoch durchaus auch in rezeptiver Form vorliegen, wenn bspw. Familien- bzw. Herkunftssprachen zwar verstanden, jedoch nicht gesprochen werden. Ferner gibt es eine Gruppe von Autoren und Autorinnen, die auch die Nutzung unterschiedlicher Sprachvarietäten (z. B. Dialekte, Soziolekte) zu sog. innerer Mehrsprachigkeit (Wandruszka 1979) zählen und diese von äußerer Mehrsprachigkeit, die sich auf den Gebrauch unterschiedlicher Sprachen bezieht, unterscheiden (Ossner 2008). Diese Sichtweise, in der nahezu jeder Mensch als mehrsprachig gelten kann, strebt nach einer Normalisierung von Mehrsprachigkeit. Generell lässt sich in diesem Zusammenhang ein Paradigmenwechsel von eher normativ geprägten Fragen nach dem Grad der Beherrschung der unterschiedlichen Sprachen (ausgedrückt bspw. in Konzepten wie un-/balancierter Mehrsprachigkeit und Sprachendominanz) hin zu einer deskriptiv-funktionalen Betrachtungsweise (funktionale Mehrsprachigkeit; Haider 2010, 207) beobachten, die durch soziolinguistische Perspektiven komplementiert wird. Zudem kann Mehrsprachigkeit unstrittig als ein Kontinuum betrachtet werden und wird zunehmend ganzheitlich modelliert (vgl. z. B. die Konzepte der multi-competence bei Cook 1991 oder des translanguaging bei García/Wei 2014).
3 Forschungsüberblick Mehrsprachigkeitsforschung ist durch eine große Bandbreite gekennzeichnet, da unbegrenzt viele verschiedene Sprachenkonstellationen Gegenstand des Forschungs-
Mehrsprachigkeit: Aspekte von Forschung und Messung
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interesses sein können (vgl. Abschnitt 2). Im Folgenden werden wir daher exemplarisch auf ausgewählte, unseres Erachtens aktuell besonders relevante Forschungsfelder eingehen.
3.1 Sprachenpolitik Mehrsprachigkeitsforschung ist (wie alle humanwissenschaftlichen Forschungsgebiete) immer auch stark gesellschaftspolitisch geprägt, in diesem Fall vor allem migrationspolitisch. Aktuell kann man hier beobachten, dass im Fachdiskurs tendenziell eine „politische und ideologische Vorstellung einer offenen und multikulturellen Gesellschaft“ (Lippert 2020, 1178) an Bedeutung gewinnt, was einerseits zur Anerkennung und Aufwertung von Minderheitssprachen führen kann, andererseits aber auch die Gefahr birgt, durch das Ausblenden von Schwierigkeiten den Erwerb bzw. Erhalt von Mehrsprachigkeit als etwas jedermann mühelos Mögliches zu stilisieren. Gelingen Erwerb bzw. Erhalt dann nicht, kann dies als Scheitern empfunden und teilweise sogar mit einem Mangel an kognitiven Fähigkeiten assoziiert werden, was aus fachlicher Sicht weder sachlich angemessen noch politisch wünschenswert erscheint (s. genauer die Diskussion ebd., 1173–1193). Spolsky (2017, 5) differenziert das Forschungsfeld der language policy in practices, beliefs and ideologies sowie management, wobei der Begriff der Sprachenpolitik im deutschsprachigen Raum tendenziell auf den drittgenannten Aspekt verengt wird. Auf Ebene der practices befassen sich aktuell zahlreiche Studien damit, Mehrsprachigkeit (und hier insbesondere home languages) zunächst einmal zu erfassen und sichtbar zu machen (vgl. z. B. Chlosta/Ostermann/Schroeder 2003; Ahrenholz/Maak 2013), um sie dann in einem zweiten Schritt institutionell möglichst optimal fördern zu können (vgl. z. B. Koordinierungsstelle für Mehrsprachigkeit und sprachliche Bildung 2020). Im Unterschied zu nationalen oder internationalen Schulleistungsstudien oder auch Zensusdaten, die in der Regel die Variable Migrationshintergrund (mit Blick auf den Grad der Bildungsbenachteiligung) oder auch die Nationalität von Schülerinnen und Schülern erfassen, ermöglichen Daten zur individuellen Mehrsprachigkeit grundsätzlich einen tiefergehenden, ressourcenorientierten Blick. Sie nehmen bspw. nicht nur alle Sprachen von Schülern und Schülerinnen in den Blick, sondern fragen differenziert danach, welche Sprachen wann und mit wem gesprochen werden, wie unterschiedliche Fertigkeiten im Verhältnis zueinander ausgeprägt sind und welche Sprache(n) am liebsten gesprochen werden (Sprachenrepertoire, Sprachkompetenz, Sprachenwahl, Sprachendominanz, Sprachenpräferenz; vgl. Chlosta/Ostermann/Schroeder 2003, 44). Welchen Stellenwert einzelne Sprachen in einer Gesellschaft (z. B. im Schulsystem) haben, hängt unter anderem damit zusammen, welcher wirtschaftliche und kulturelle Einfluss einer Sprache zugesprochen wird oder auch über wie viele Sprecher und Sprecherinnen sie in einer Region oder auch weltweit verfügt (Kniffka/Siebert-Ott
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2012, 165). Aktuelle sprachenpolitische Fragen, die auf Ebene des managements in den Bundesländern ganz unterschiedlich gelöst werden, sind bspw. die Integration von Herkunftssprachen in das Schulsystem (vgl. z. B. die Regelungen für das Bundesland Nordrhein-Westfalen: https://bass.schul-welt.de/16253.htm) oder auch die Vorgaben zur Fremdsprachenfolge an Schulen. Hier wird insbesondere der frühe Fremdsprachenbeginn in der Grundschule immer wieder kontrovers diskutiert (vgl. bspw. das Themenheft Frühes Fremdsprachenlernen der Zeitschrift Fremdsprachen Lehren und Lernen 46 (2) 2017 für einen Überblick).
3.2 Einstellungen, Emotionen und Identität Solchen Entscheidungen zugrunde liegen beliefs and ideologies, Einstellungen von Menschen Sprachen gegenüber, wodurch sich ein weiteres, breites Forschungsfeld eröffnet. Zunächst spielen dabei die Einstellungen der Sprecher und Sprecherinnen selbst eine Rolle, die verschiedene Sprachen, die sie sprechen, nicht nur funktional, sondern auch emotional unterschiedlich bewerten. Dewaele (z. B. 2008; 2013) beschäftigt sich bspw. schon seit vielen Jahren im Rahmen unterschiedlicher Studien mit der Frage, welche Emotionen Mehrsprachige mit ihren unterschiedlichen Sprachen verbinden. Auch in gesteuerten Erwerbskontexten spielen Emotionen eine wichtige Rolle, wobei sich das Forschungsinteresse in den letzten Jahren von einem starken Fokus auf foreign language anxiety hin zu foreign language enjoyment verschoben hat (vgl. Dewaele/Li 2020 für einen Überblick). Emotionen sind weiter für die Identitätsbildung Mehrsprachiger von hoher Relevanz (vgl. einführend Kramsch 2009; Darvin/Norton 2019). Aus Perspektive der language-related emotions (Pavlenko 2012, 458) ist der L2-Erwerb durch Emotionen „powerfully motivated“ (ebd.), die sich auf eine gewünschte Identität beziehen (ebd.). Ein Beispiel hierfür bildet das sogenannte passing (Marx 2002; Piller 2002). Beim passing handelt es sich um den (performativen) Versuch, temporär und situationsbezogen als L1-Sprecher bzw. -Sprecherin wahrgenommen zu werden. Jedoch besitzen L2-Sprecher und -Sprecherinnen durchaus nicht immer den Anspruch, als L1-Sprecher bzw. -Sprecherin betrachtet zu werden; ihnen reicht es bspw. aus, nicht unmittelbar als L2-Sprecher bzw. -Sprecherin einer bestimmten Gruppe erkannt zu werden, oder sie verzichten bewusst auf passing als Strategie (Piller 2002, 194 f.) bzw. markieren andersherum z. B. über einen Akzent in der L2 gezielt ihre Zugehörigkeit zu einer L1Gruppe (Błaszczak/Żygis 2014). Insbesondere für den institutionellen Zweitspracherwerb spielt es zudem eine Rolle, welche Einstellungen Erzieher und Erzieherinnen, Lehrer und Lehrerinnen, Eltern usw. den Sprachen von Kindern und Jugendlichen entgegenbringen. So wurde im Rahmen des HUBE-Projekts (Herkunftssprachlicher Unterricht in Hamburg – Eine repräsentative Studie zur Bedeutung aus Elternsicht) am Beispiel der Stadt Hamburg untersucht, welche Einstellungen Eltern zu einem möglichen Herkunftssprachenunter
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richt ihrer Kinder haben, wie ihr Informationsstand zum Thema ist und welche Angebote sie warum (nicht) nutzen (Lengyel/Neumann 2016; 2017), um auf dieser Datengrundlage wiederum bildungspolitische Empfehlungen geben zu können. Andere Studien eruieren die Rolle mehrsprachiger Lehrer und Lehrerinnen und die Sichtweise schulischer Akteure und Akteurinnen auf die damit verbundenen Potenziale und Herausforderungen (für einen Überblick siehe Georgi/Ackermann/Karakaj 2011). Weitere Studien beschäftigen sich mit der Wahrnehmung mehrsprachig aufwachsender Schüler und Schülerinnen durch Lehrkräfte bzw. angehende Lehrkräfte (u. a. Binanzer/Gamper/Köpcke 2015; Maak/Ricart Brede 2019). Des Weiteren wird untersucht, wie stark sich Eltern an ihren Interpretationen der Erwartungen von Bildungseinrichtungen orientieren (Bezcioglu-Göktolga/Yagmur 2018; Ballweg 2022). Binanzer/Jessen (2020) fokussieren wiederum die Einstellungen der Schüler und Schülerinnen selbst zu ihrer Mehrsprachigkeit.
3.3 Spracherwerb Mehrsprachige Erwerbsverläufe gestalten sich generell sehr individuell und werden von ganz unterschiedlichen Faktoren beeinflusst, von denen die wenigsten manifest und ohne Weiteres zu Forschungszwecken erfassbar wären. Unterschiedliche Theorien und Modelle, die dies versuchen, gehen dabei in ihren Erklärungsansätzen entweder eher vom Individuum (kognitivistische Faktorenmodelle) oder von der Gesellschaft (soziokulturelle Ansätze) aus, wobei sie einander teilweise auch radikal widersprechen. Ein konsensuelles Grundmodell mehrsprachigen Erwerbs scheint wissenschaftlich noch in weiter Ferne zu liegen. In der Einführungsliteratur zur Mehrsprachigkeit findet man zu Hypothesen, Theorien und Modellen einerseits solche, die sich vor allem auf den bilingualen Erstspracherwerb oder auf sukzessiven Zweitspracherwerb bzw. den Erwerb einer dritten Sprache nach L1 und L2 beziehen. Aufgrund der diversen Kontexte wird an dieser Stelle lediglich auf die gängigsten Erwerbstheorien und -modelle verwiesen. Forschungsgegenstände in den vielfältigen Sprachaneignungskontexten umfassen vor allem die Bereiche der Sprachtypologie, der Beschreibung von Rahmenbedingungen für den Spracherwerb oder auch der kognitiven Vorteile Mehrsprachiger im Vergleich zu Monolingualen. Studien fokussieren u. a. Erwerbsgeschwindigkeit und ultimativ erreichten Sprachstand sowie das Verhältnis der einzelnen Sprachen zueinander. Hier stehen bspw. Fragen der Sprachdominanz, der Interaktion und der Speicherung mehrerer Sprachen im Fokus (vgl. Ballweg 2019, 266–269 für einen Überblick). Forschungsarbeiten zum bilingualen Erstspracherwerb befassen sich insbesondere mit der Erforschung von Repräsentationen mehrerer Sprachen im Gehirn. So entstanden Modelle und Hypothesen, die die Speicherung von Sprachen im Gehirn (mentales Lexikon) und die Vernetzung und Aktivierung bzw. Unterdrückung dieser zu
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erklären versuchen (vgl. Riehl 2014 für einen Überblick). Weiterhin liegt eine Vielzahl von Modellen und Hypothesen vor, die sich auf den Faktor Alter (vgl. Grotjahn/Schlak 2013 für einen Überblick) und die frühe Phase des simultanen Mehrsprachigkeitserwerbs beziehen. In der Forschung zum sukzessiven Zweitspracherwerb bilden oft allgemeine (psychologische) Lerntheorien (wie Behaviorismus, Nativismus, Kognitivismus) die Bezugsgrundlage. Aus behavioristischen Ansätzen entwickelte sich die Kontrastivhypothese (Fries 1945; Lado 1957). Aus nativistischen Lerntheorien und der von Chomsky postulierten Universalgrammatik entstand die Identitätshypothese (Dulay/Burt 1974). Kognitivistische Ansätze brachten weitere Hypothesen hervor, wie die bis heute einflussreiche Interlanguage-Hypothese (Selinker 1972), das Monitormodell mit seinen fünf Hypothesen (Spracherwerbs-/Sprachlern-Hypothese, Input-Hypothese, Affektiver-FilterHypothese, Monitor-Hypothese und Erwerbssequenz-Hypothese) nach Krashen (1982) sowie die Teachability-Hypothese bzw. die später erweiterte Processability-Theorie nach Pienemann (1998; 2005). Oft gemeinsam rezipiert und auf unterschiedliche kognitive Aspekte bezogen werden neben Krashens Input-Hypothese (1985) auch die Output-Hypothese von Swain (1985), die Aufmerksamkeitshypothese (vgl. Schmidt 1990; Robinson 1995) und die Interaktionshypothese nach Long (1996). Eine weitere zu kognitivistischen Ansätzen zählende Theorie ist die Associative-Cognitive-Creed-Theory (ACCT), welche einen Forschungsrahmen darstellt, in dem die unterschiedlichen Einflussfaktoren des Zweitspracherwerbsprozesses aus kognitiver Perspektive zusammengebracht werden sollen, was sich vor allem auf den Einfluss von Input-Faktoren sowie den Zusammenhang von explizitem und implizitem Wissen bezieht (vgl. Ellis 2007). Neben den bereits genannten Positionen entwickelte sich in den letzten Jahren auch der soziokulturelle Ansatz im Bereich der Zweitspracherwerbsforschung, demzufolge die Aneignung einer L2 nicht nur ein kognitiver Prozess ist, sondern insbesondere eingebettet in soziokulturellen Kontexten stattfindet, in denen Lernende in der L2 interagieren. Konzepte soziokultureller Theorien gehen auf die Theorie der psycholinguistischen Entwicklung des menschlichen Bewusstseins von Vygotski (1978) zurück. Einen historischen Überblick über Modelle und Hypothesen der Zweitsprachaneignung und deren prominenteste Vertreter und Vertreterinnen von 1945 bis 2008 geben Mitchell/Myles/Marsden (2013). Eine Übersicht zu Modellen, die spezifisch den Drittspracherwerb beschreiben, gibt Roche (2013) in seiner Einführung in die Mehrsprachigkeitsforschung. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie Faktoren der Interaktion der Sprachen und die Dynamik und Flexibilität von Mehrsprachigkeitssystemen in den Vordergrund stellen und vor allem Erkenntnisse über Einflüsse und Interdependenzen der beteiligten Sprachen sowie Präferenzen und Synergien in den Erwerbsprozessen, u. a. auch die hohe Individualität des Spracherwerbs- und Sprachlernprozesses, in den Blick nehmen (ebd., 167 f.). Zu nennen wären hier bspw. das Foreign Language Acquisition Model (FLAM) von Groseva (1998), das in Anlehnung an die Kontrastiv-Hypothese der strukturellen Verwandtschaft zwischen den Sprachen eine wichtige Rolle zuschreibt, das Rollen
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Funktions-Modell von Williams und Hammarberg (1998), welches ebenfalls u. a. die Relevanz der etymologischen Verwandtschaft oder Distanz von Sprachen beim multiplen Sprachenlernen betont, das Dynamische Modell des Multilingualismus (DMM) von Herdina und Jessner (2002), das den Erwerb einer Fremdsprache nach dem bilingualen Erwerb auf individueller Ebene charakterisiert, das Biotisch-ökologische Modell des Multilingualismus von Aronin und ÓLaoire (2004), das die Identität des individuellen mehrsprachigen Sprechers betont, das Faktorenmodell von Hufeisen (2010), das das sukzessive multiple Sprachenlernen beschreibt, sowie das Konzept der Dominant Language Constellation (DLC) von Aronin (2016), welches die für eine Person bedeutsamsten Sprachen fokussiert und die Dynamik von Mehrsprachigkeit nicht nur aus der Perspektive sprachlicher Gegebenheiten betrachtet, sondern auch soziale, physiologische, kulturelle und materielle Faktoren miteinbezieht. Allen genannten Ansätzen gemein ist die Tatsache, dass sie, betrachtet man sie einzeln, die Komplexität des Sprachaneignungsprozesses in all seinen Facetten nicht gänzlich beschreiben können, sondern einen ausgewählten Aspekt beleuchten, wodurch sie einander häufig auch sinnvoll ergänzen können. Sprachkompetenz kann jedoch nicht nur auf-, sondern auch wieder abgebaut werden, was sich bspw. durch Wortfindungsstörungen im Sprachgebrauch äußern kann. Produktive Fähigkeiten scheinen hierfür grundsätzlich anfälliger als rezeptive zu sein. Dieses Phänomen kann sowohl Erst- als auch Zweitsprachen betreffen. Der graduelle Vorgang des Sprachabbaus (language attrition) kann nach Köpke/Schmid (2004, 5) als „the non-pathological decrease in proficiency in a language that had previously been acquired by an individual“ definiert werden (für einen Überblick zum Thema vgl. Schmid/Köpke 2019). Insbesondere mit Blick auf die Frage, wie Herkunftssprachen wiedererlernt bzw. erhalten werden können, etabliert sich language attrition als ein zunehmend produktives Forschungsfeld (Park 2018, 249).
3.4 Sprachgebrauch Eine bedeutsame Rolle für den Erhalt von Minderheitensprachen spielt die family language policy, welche kindliche Erstspracherwerbsforschung und language policy miteinander verbindet (King/Fogle 2017). Klassisch wird family language policy als die offene und explizite Planung des Sprachgebrauchs in Familien definiert (King/Fogle/ Logan-Terry 2008); mittlerweile wird diese Planung jedoch auch als verdeckt, implizit und als immer neu ausgehandelt angenommen (King/Fogle 2017, 322 f.). Das Forschungsfeld umfasst sowohl Einstellungen zu Sprachen, Sprachpraktiken als auch „efforts to modify or influence those practices through any kind of language intervention, planning or management“ (ebd., 318; vgl. analog auch Abschnitt 3.1). In diesem Zusammenhang lassen sich unterschiedliche Strategien beobachten, von denen exemplarisch einige vorgestellt werden. Im Minority-language-at-home-Ansatz (mL@H) wird in der Familie nur eine Sprache gebraucht, und zwar die Sprache, die
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nicht die Umgebungssprache ist (Barron-Hauwaert 2004, 169). Im Unterschied dazu wird der sog. Time-and-place-Strategie folgend bspw. nur am Wochenende eine Sprache und unter der Woche die andere Sprache gesprochen (ebd., 175). Eine weitere Strategie stellt der Besuch einer internationalen Schule dar (King/Fogle/Logan-Terry 2008, 914). Für Familien, in denen beide Elternteile verschiedene Erstsprachen sprechen, empfiehlt Ronjat (1913), basierend auf den Ergebnissen seiner Studie, das Prinzip one person, one language, d. h., dass jedes Elternteil nur eine Sprache (in der Regel seine Erstsprache) mit dem Kind spricht (King/Fogle/Logan-Terry 2008, 914). Jedoch wird kaum eine der angesprochenen Strategien in Reinform verwendet. Inwiefern diese Strategien zu einem erfolgreichen bilingualen Erwerb beitragen, ist laut King/ Fogle/Logan-Terry (2008, 916) von verschiedenen Faktoren wie dem Alter, der konsistenten Sprachwahl sowie dem Kontext abhängig. So können weitere Strategien zur Unterstützung des mehrsprachigen Erwerbs in Familien und dessen Erhalt hilfreich sein, indem z. B. Gelegenheiten zum Einsatz der Sprache(n) geboten werden, die Notwendigkeit des Erwerbs und Gebrauchs sichtbar gemacht wird, ggf. Aufenthalte im Zielsprachenland ermöglicht werden u. a. Im Alltag ist immer wieder zu beobachten, dass Menschen zwischen zwei oder mehr Sprachen oder Sprachvarietäten hin- und herwechseln. Dieses Phänomen wird häufig code-switching genannt (für die Perspektive des translanguaging sei an dieser Stelle auf García/Wei 2014 verwiesen). Code-switching kann als „the use of more than a language or language variety in the same interaction“ (Wei 2012, 360) definiert werden, wobei weiter danach differenziert werden kann, ob der Sprachenwechsel an Satz- oder Wortgrenzen oder sogar innerhalb von Wörtern stattfindet. Dabei erfolgen die Wechsel keineswegs willkürlich, sondern nach den Regularitäten der jeweils verwendeten Sprachen (Peterson 2015, 49–52). Aus diesem Grund kann code-switching auch als Beleg einer hohen Kompetenz in beiden Sprachen und keinesfalls als Kompetenzdefizit gewertet werden. Code-switching erfüllt eine Vielzahl an diskursiven Funktionen, die von der Herstellung sozialer Identität, über Inklusions- und Exklusionsprozesse (Jessner/Allgäuer-Hackl 2019, 39) bis hin zu Emotionen (Pavlenko 2012) reichen können. Appel und Muysken (1987, 118–120) unterscheiden in diesem Zusammenhang referentielle, direktive, expressive, phatische, metalinguistische und poetische Funktionen von code-switching.
3.5 Didaktik Wenngleich mehrsprachiger Erwerb, wie eingangs bereits dargelegt, ein sehr gängiges Phänomen darstellt, steckt die Mehrsprachigkeitsdidaktik noch im „Korsett des institutionell verankerten monolingualen Fremdsprachenunterrichts“ (Eggensperger 2019, 402) und bahnt sich ihren Weg primär im Rahmen von Projekten. Auch gängigere Ansätze wie die im Folgenden kurz vorgestellten können daher noch nicht durchgängig als empirisch abgesichert gelten.
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Einen Ansatz zur Überwindung des „monolingualen Habitus der multilingualen Schule“ (Gogolin 1994) stellt das Konzept der Durchgängigen Sprachbildung dar, deren Anliegen „der kumulative Aufbau von bildungssprachlichen Fähigkeiten“ (Gogolin/Lange 2010, 14) ist. Dieser Aufbau erfolgt kontinuierlich über intra- und interinstitutionelle Vernetzung. Vertikale Verbindungen bestehen darin, den Aufbau bildungssprachlicher Kompetenzen von der Kindertagesstätte bis in den Beruf hinein zu fördern, da „Bildungssprache […] auf den einzelnen Stufen der Bildungsbiographie schrittweise entwickelt und ausgebaut“ (Gogolin/Lange 2011, 119) wird. Horizontale Verbindungen bestehen über alle Sozialisationskontexte wie Elternhaus, außerschulische Bildungseinrichtungen (bspw. Bibliothek oder Museen), schulische Einrichtungen sowie über alle Fächer (vgl. einführend auch Tajmel/Hägi-Mead 2017 zum sprachbildenden Fachunterricht) und Sprachen hinweg. Vorschläge, Mehrsprachigkeit im deutschsprachigen Raum stärker auch curricular zu verankern, liefern in diesem Zusammenhang bspw. die Tertiärsprachendidaktik (Bartelheimer 2019) oder das Curriculum Mehrsprachigkeit (Reich/Krumm 2013). Einen weiteren Ansatz, Mehrsprachigkeit stärker in den Schulalltag einzubringen, stellt die Forschung zur language awareness dar (vgl. Luchtenberg 2017 für einen Überblick; zum Bereich des im anglophonen Raum verbreiteten Zweigs der critical language awareness vgl. Fairclough 1992). Das Konzept bezieht sich auf „explizites (Sprach-)Wissen über Sprache und bewusste Wahrnehmung und Sensibilität beim Sprachlernen, -lehren und -gebrauch“ (Gürsoy 2010, 1), was kognitive, affektive, soziale sowie Macht-Dimensionen einschließt (Luchtenberg 2017, 151). Neuere Entwicklungen für den Unterricht sind dabei insbesondere auf kognitiver sowie affektiver Ebene entstanden. Auf kognitiver Ebene sind Konzepte erarbeitet worden, die Sprachbewusstheit sowie positiven Transfer bereits erworbener Sprachen auf weitere fördern sollen und somit die Auffassung von Mehrsprachigkeit als Ressource konkretisieren. Ein Beispiel stellt die Interkomprehensionsdidaktik dar, welche darauf abzielt, „eine fremde Sprache hörend und/oder lesend [zu] verstehen, ohne diese qua Unterricht, Selbstunterricht oder mit ihren Sprechern in Interaktion erworben zu haben“ (Meißner 2016, 234; vgl. einführend z. B. Oleschko 2011; Hufeisen/Marx 2014). Affektive Ansätze sind im Unterschied dazu bestrebt, Mehrsprachigkeit in der Schule zunächst überhaupt sichtbar zu machen und anerkennend wertzuschätzen. Als Beispiel sprachenbiographischen Arbeitens sind in diesem Zusammenhang insbesondere Sprachenportraits sehr bekannt geworden. Hierbei werden die Sprachenbiographien von Lernenden erfasst, indem diese Körpersilhouetten anmalen und schriftlich kommentieren, wobei jeder Sprache eine Farbe zugeordnet wird (Krumm 2002, 197).
4 Methoden der Erforschung von Mehrsprachigkeit Spezifisch für den Forschungskontext Mehrsprachigkeit angepasste oder sogar eigens entwickelte Methoden liegen bislang eher wenige vor. So wird bspw. auch in Bezug
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auf die im BMBF-geförderten Forschungsschwerpunkt Sprachliche Bildung und Mehrsprachigkeit (2013–2020) angesiedelten 21 Projekte berichtet (Koordinierungsstelle für Mehrsprachigkeit und sprachliche Bildung 2020, 7–9), dass viele zunächst Instrumente entwickeln mussten. Gerade mit Blick auf bildungspolitische Fragestellungen stellt die Güte dieser Instrumentarien jedoch ein zentrales Desiderat dar, denn: Je größer das Interesse von Untersuchungen daran ist, Zusammenhänge zwischen Einflüssen zu klären, die verschiedene Instanzen der Erziehung und Bildung (Familie, vorschulische Einrichtungen, die Schule oder Bereiche des informellen und nonformalen Lernens) auf die Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten besitzen, desto genauer muss die Auskunft darüber sein, welche Art der sprachlichen Praxis hier oder da gepflegt wird. Bildungsrelevant ist nicht nur die Quantität des sprachlichen Inputs […], sondern auch die Qualität der Begegnung mit Sprache, die die Lernenden erfahren. (ebd., 8)
Erfasst werden sollten dabei neben Quantität und Qualität des Inputs auch der Sprachgebrauch, Sprachkompetenzen (was Mediation einschließen kann), Sprachbewusstheit usw. Die bisher angewandten Methoden zur Erforschung von Sprachaneignungsprozessen in all ihren unterschiedlichen Aspekten und Faktoren fallen sehr vielseitig aus, angefangen mit Tagebuchstudien zum Erstspracherwerb, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts gängig waren, bis hin zur Erhebung schriftlicher und mündlicher Sprachdaten mittels weniger oder stärker kontrollierten Elizitierungsverfahren (vgl. Underhill 1987, 44–87; Mackey/Gass 2005, 43–99 für einen Überblick) in den letzten Jahren. Wie sprachliche Daten im Rahmen solcher Studien genau erhoben und analysiert werden können, wird in den folgenden Abschnitten dargestellt.
4.1 Analyse von Sprachdaten Sprachdaten können in ganz unterschiedlichen Formen vorliegen. Generell können mündliche oder schriftliche, monologische oder interaktionale, natürliche oder stark elizitierte Daten voneinander unterschieden werden. Ferner können Erwerb oder Gebrauch von Sprachen fokussiert werden. Wenn der Erwerbsprozess von Sprechern und Sprecherinnen untersucht werden soll, spricht man auch von Lernersprachenanalysen (vgl. einführend Ahrenholz 2014; Dimroth 2019). Diese können ganz unterschiedliche Formen annehmen und Zielsetzungen verfolgen. So können Analysen von Sprachdaten bspw. unterschiedliche linguistische Teilebenen in den Blick nehmen (vgl. die Basisqualifikationen bei Ehlich 2012 für einen Überblick). Sowohl Untersuchungen zum bilingualen Erstspracherwerb als auch zum (frühen) Zweitspracherwerb oder zur Fremdsprachenaneignung im Erwachsenenalter fokussieren mit Abstand am häufigsten morpho-syntaktische Gegenstände, aber auch alle anderen Teilebenen werden untersucht. Dabei nehmen Lernersprachenanalysen aktuell grundsätzlich eine eher prozess- und ressourcenorientierte Sicht auf sprachliche Äu-
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ßerungen ein und gehen damit über die reine Identifikation und Klassifikation von Fehlern deutlich hinaus. Liegen lernersprachliche Daten in mündlicher Form vor, müssen sie für die Analyse zunächst transkribiert werden, bspw. mit Hilfe von Transkriptionstools wie f4 (https://www.audiotranskription.de/f4) oder EXMARaLDA (https://exmaralda.org/ de/), wobei die Transkriptionen unterschiedlichen Konventionen folgen können, wie bspw. GAT II oder HIAT (vgl. Selting u. a. 2009 bzw. Rehbein 2004). Phonetische Transkriptionen hingegen nutzen in der Regel IPA- oder SAMPA-Konventionen, akustische Analysen können z. B. in PRAAT (https://www.fon.hum.uva.nl/praat/download_win. html) durchgeführt werden. Die Palette der Datenerhebungsmethoden bewegt sich dabei in einem Spannungsfeld von Natürlichkeit versus Kontrolle (vgl. genauer Riemer/Settinieri 2010, 765–768). Während Forschung ihren Analysen einerseits möglichst authentische Daten zugrunde legen möchte, um externe Validität zu gewährleisten, ist sie andererseits darauf angewiesen, dass das jeweils zu erforschende Phänomen in den Daten auch tatsächlich vorkommt und isolierbar ist (interne Validität). Dabei spielt auch die Frequenz des jeweiligen Phänomens eine Rolle. Einen gewissen Ausgleich zwischen Kontrolle und Natürlichkeit versuchen Profilanalysen herzustellen, die eine fokussierte Form der Lernersprachenanalyse darstellen, indem sie quasi-natürliche schriftliche oder mündliche Daten auf Grundlage eines Profilrasters selektiv auf ausgewählte Erwerbsindikatoren hin untersuchen. Sprachliche Äußerungen können so festgelegten Profilstufen zugeordnet werden, um Rückschlüsse auf sprachliche Erwerbsverläufe ziehen zu können. Bekannte profilanalytische Verfahren für das Deutsche als Zweitsprache gehen bspw. auf Clahsen (1986) oder Grießhaber (z. B. 2013) zurück. Diese nutzen insbesondere unterschiedliche Satzmodelle als Sprachstandsindikator. Auch im Bund-Länder-Projekt FörMig (FörMigKompetenzzentrum 2013) sind mehrere profilanalytische Verfahren entwickelt worden, die die Sprachkompetenzen von Schülern und Schülerinnen in ihren verschiedenen Sprachen (u. a. im Türkischen und Russischen sowie im Deutschen) jeweils an den Übergängen zwischen Schultypen einschätzen helfen sollen. Während HAVAS 57 (Reich/Roth 2007) zwischen KiTa und Grundschule angesiedelt ist, können Der Sturz ins Tulpenbeet (Reich/Roth/Gantefort 2008) und der Fast Catch Bumerang (Reich/ Roth/Döll 2009) im Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe bzw. von der Sekundarstufe in den Beruf eingesetzt werden. Als Grundlage der Analyse elizitieren die Verfahren die mündliche (HAVAS) bzw. schriftliche (Tulpenbeet) Erzählung einer Bildergeschichte oder ein Bewerbungsschreiben sowie eine Bauanleitung (Bumerang), wodurch sie auch unterschiedliche Analyseschwerpunkte setzen. Die am stärksten kontrollierte Form der Elizitierung von Lernersprache stellen Tests dar (vgl. einführend z. B. Porsch 2014). Diese können ad hoc für spezifische Forschungsinteressen konzipiert werden, z. B. in Form von Hördistinktionstests, Elicitedimitation-Tests oder Grammatikalitätsurteilen. Es liegen aber auch eine Reihe standardisierter allgemeiner Sprachstandstests sowie Teilkompetenztests für unterschied
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liche Zielgruppen vor (vgl. Jeuk/Settinieri 2019 für einen Überblick). Tests beziehen sich in aller Regel auf genau eine Sprache und würden bspw. Formen von translanguaging in der Auswertung eher sanktionieren als honorieren. Und auch hinsichtlich der Normierung von Tests stellt die Mehrsprachigkeit von Testteilnehmern und -teilnehmerinnen eine Herausforderung dar. Während es mit Sicherheit testtheoretisch unfair wäre, Mehrsprachige an einer monolingualen Normgruppe zu messen, erscheint es häufig genauso wenig möglich, eine mehrsprachige Referenzgruppe zu definieren, da die individuelle Variation in den Erwerbsverläufen einfach zu hoch ist (vgl. auch 3.3). Grundsätzlich erscheint es daher angemessener, mehrsprachigen Erwerb eher an individuellen und kriterialen als an sozialen Normen zu messen und dabei zu versuchen, möglichst alle Sprachen einer Person in die Betrachtung einzubeziehen. Um eine gewisse Repräsentativität zu erzielen, werden Sprachdaten häufig auch in Form größerer Korpora zusammengestellt. Wenn diese sorgfältig transkribiert, annotiert und kontextuell kommentiert werden (vgl. einführend z. B. Mempel/Mehlhorn 2014), können sie darüber hinaus der Scientific Community zur Mehrfachverwertung zur Verfügung gestellt werden (wie bspw. die Korpora zu gesprochener Sprache mehrsprachiger Kinder in der CHILDES-Datenbank: https://childes.talkbank.org/access/ Biling/; vgl. zur Einführung in die multilinguale Korpusanalyse auch Granger 2012; Schmidt/Wörner 2012; Wulff 2017). Inwiefern Korpora tatsächlich als repräsentativ für eine bestimmte Sprecher- und Sprecherinnengruppe in einer spezifischen Interaktionssituation gelten können und inwiefern Sprachdaten aus unterschiedlichen Korpora miteinander verglichen werden können, muss allerdings im Einzelfall kritisch geprüft werden (Gablasova/Brezina/McEnery 2017). Auch Studien zum mehrsprachigen Gebrauch basieren in der Regel auf Korpora.
4.2 Beobachtung Beobachtungen stellen eine weitere Möglichkeit zur Erforschung bestimmter Forschungsgegenstände dar. Sie sollten zielgerichtet, methodisch kontrolliert und intersubjektiv nachvollziehbar sein. Des Weiteren können empirische Beobachtungen in verdeckte vs. offene, teilnehmende vs. nicht-teilnehmende, strukturierte vs. unstrukturierte sowie Selbst- vs. Fremdbeobachtung unterteilt werden (vgl. Ricart Brede 2014, 138). Alle genannten Formen weisen je eigene Vor- und Nachteile auf. Die meisten Beobachtungen sind aus ethischen und rechtlichen Gründen offen. Offene Beobachtungen können aber das sog. Beobachtungsparadoxon (vgl. Labov 1971) hervorrufen, das eine Verhaltensveränderung der Untersuchungsteilnehmenden und die damit einhergehende Beeinträchtigung der Natürlichkeit der zu beobachtenden Situation beschreibt. Dem kann bei teilnehmenden Beobachtungen nur durch eine möglichst große Zurückhaltung des Beobachtenden sowie eine längere Eingewöhnungszeit während der Feldbeobachtung entgegengewirkt werden.
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Spezifisch im Bereich der Mehrsprachigkeitsforschung können Beobachtungen zur Erforschung unterschiedlicher Gegenstände eingesetzt werden, wobei sowohl Lernende als auch Lehrende beobachtet werden können. Lernende werden oft hinsichtlich ihrer lernersprachlichen Kompetenzen im Kontext von Sprachdiagnostik, aber auch in sozialer Interaktion beobachtet. Ebenso wie verbale können auch paraverbale sowie nonverbale Zeichen wie Mimik und Gestik Gegenstand der Beobachtung sein (vgl. z. B. Tomasello u. a. 2005), weshalb zunehmend auf videographische Daten zurückgegriffen wird. Lehrende hingegen werden im Rahmen von Unterrichtsbeobachtungen bspw. hinsichtlich ihrer methodisch-didaktischen Kompetenzen oder ihres sprachlichen Inputs beobachtet (vgl. Krumm 2010). Videografierte Beobachtungen bieten dem Forschenden die Möglichkeit, sich bestimmte Passagen im Analyseprozess unbegrenzt anzuhören bzw. anzuschauen. Dies stellt einen deutlichen Vorteil gegenüber Beobachtungen ohne digitale Aufzeichnungen dar, da letztere „nach ihrem Verstreichen unwiederbringlich der Vergangenheit angehören“ (Ricart Brede 2014, 139). Neben den genannten Vorteilen liegen die Nachteile von Beobachtungsverfahren vor allem in der intensiv benötigten Vorbereitung der Beobachtenden und der korrekten Anwendung der Beobachtungsysteme durch diese. Hier wird insbesondere vor Wahrnehmungs-, Interpretations-, Erinnerungsund Wiedergabeschwierigkeiten gewarnt (vgl. Greve/Wentura 1996; Bortz/Döring 2006), die je nach Instrument unterschiedlich ausgeprägt sein können. Insbesondere sollten auch linguistische Kenntnisse und linguistisch-analytische Fähigkeiten der Beobachtenden trainiert werden (Döll 2019, 574 f.). Eine weitere methodische Einschränkung von Beobachtungen besteht darin, dass diese immer nur das äußerlich Wahrnehmbare bzw. Beobachtbare erforschen können.
4.3 Befragung und Introspektion Um zu erforschen, wie Menschen ihre mehrsprachigen Repertoires nutzen, d. h., mit wem sie wann und warum welche Sprachen sprechen, ist es in aller Regel erforderlich, sie zu befragen, da eine dauerhafte Beobachtung zu aufwändig wäre und zudem, wie bereits erläutert, an der Oberfläche verbliebe. Dazu kommen sowohl schriftliche Fragebögen als auch mündliche Einzel- oder Gruppen-Interviews in Frage (vgl. Daase/Hinrichs/Settinieri 2014 für einen Überblick). Beide Grundformen kämpfen dabei mit üblichen Methodenproblemen der Befragung, wie bspw. ungenauem Erinnerungsvermögen oder auch sozialen Effekten (vgl. z. B. Brosius/Koschel/Haas 2008, 99–103). Gerade die sozialen Effekte sind in der Erforschung von Mehrsprachigkeit relevant; das Sprachprestige einer Sprache etwa kann dazu beitragen, dass Interviewte nicht preisgeben möchten, dass sie eine bestimmte sprachliche Form oder Sprache nutzen, wodurch u. U. Diskrepanzen zwischen Beobachtungen und Selbstauskünften entstehen können. Aus diesem Grund ist es wichtig, den sozialen Kontext zu kennen
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und Interviews bspw. durch ein Mitglied der Community führen zu lassen (Codó 2008, 159). Soll im Rahmen eines Interviews ein Sprachwechsel elizitiert werden, empfiehlt Codó (ebd., 160) zudem, über Themen zu sprechen, die mit der anderen Sprache verbunden sind, wie Geschichten aus der Kindheit. Alternativ wird vorgeschlagen, auf Gruppeninterviews zurückzugreifen, wodurch sich die Personen freier fühlen, es ggf. zu mehr code-switching kommt und eventuell sogar Themen diskutiert werden, die der Forschende nicht antizipieren konnte (ebd., 163). Eine weitere wichtige Frage ist die nach der Interviewsprache; hier wird empfohlen, die Teilnehmenden nach Möglichkeit die Sprache selbst wählen zu lassen, damit sie ihre Gedanken uneingeschränkt formulieren können (ebd., 166). Darüber hinaus können spezifische Herausforderungen der Befragung von Kindern hinzukommen. Ahrenholz/Maak (2013, 76) empfehlen hier eine Begleitung der Befragung von Schülern und Schülerinnen durch Studierende (die im Idealfall auch die Sprachen der Schüler und Schülerinnen sprechen sollten) oder auch das Einholen von Informationen bspw. zur eigenen Staatsangehörigkeit bei den Eltern in Form einer die Befragung vorbereitenden Hausaufgabe (in Anlehnung an Chlosta/Ostermann 2006, 62). Einige Fragen (z. B. zur Migrationsgeschichte der Familie) können Eltern sicherlich besser als Kinder beantworten, wobei auch hier begleitende Dolmetscher und Dolmetscherinnen die Datenqualität erheblich verbessern können. So können fehlende oder ungenaue Angaben, wie bspw. Marokkanisch oder Afrikanisch als Herkunftssprachen (Beispiel aus Chlosta/Ostermann/Schroeder 2003, 47, vgl. auch 61–63), dezimiert werden. Um bspw. einen Einblick in kognitive Prozesse (bspw. Aufmerksamkeit und Sprachbewusstheit) mehrsprachiger Personen während einer Aufgabenbearbeitung zu erlangen, werden introspektive Verfahren eingesetzt. Introspektion fungiert hierbei als Oberbegriff, welcher sowohl die zeitgleiche Verbalisierung von Gedanken (Lautes Denken) als auch die nachzeitige Verbalisierung von Gedanken (Retrospektion) umfasst. Eine Sonderform des retrospektiven Interviews verkörpert der stimulated recall, bei welchem ein Stimulus als Gedächtnisstütze dient (vgl. Bowles 2019, 31; für einen Überblick über introspektive Verfahren vgl. Gass/Mackey 2017; Aguado/Finkbeiner/ Tesch 2018). Forschungsmethodologische Herausforderungen von introspektiven Verfahren stellen hierbei insbesondere eine mögliche Reaktivität, d. h. eine Veränderung der kognitiven Prozesse durch eine weitere gleichzeitige Aufgabe, beim Lauten Denken sowie mögliche Veridikalitätsprobleme, d. h., ob die genannten Gedankengänge vollständig und wahrheitsgetreu berichtet werden, bei retrospektiven Verfahren dar, welche die Validität von introspektiven Daten gefährden könnten (vgl. Bowles 2010; 2019 für einen Überblick).
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4.4 Physiologische Messung Seit den 1990er Jahren ist in der Mehrsprachigkeitsforschung auch ein Anstieg an psycholinguistischen Studien zu verzeichnen (vgl. Kroll/Gerfen/Dussias 2008). Viele psycholinguistische Methoden setzen hierbei auf physiologische Messungen: Physiologische Messungen dienen der objektiven Erfassung und Quantifizierung bestimmter Merkmale physiologischer Prozesse in unterschiedlichen Organsystemen des Körpers mittels entsprechender Messgeräte. Die erhobenen Merkmale (z. B. Herzschlagfrequenz) werden als physiologische Indikatoren (‚physiological indicator‘) oder Biosignale (‚bio signal‘) bezeichnet. Meist werden mehrere Biosignale integriert erfasst und ausgewertet (z. B. Hirnaktivität und Blickbewegungen). (Döring/Bortz 2016, 501)
Im Folgenden sollen beispielhaft Messungen von elektrodermalen- und Augenaktivitäten vorgestellt werden. Für die Messungen von Hirnaktivitäten verweisen wir an dieser Stelle auf Kroll/Gerfen/Dussias (2008) und Abutalebi/della Rosa (2008). Selbstauskünfte von mehrsprachigen Personen zeigen, dass sie Tabu- und Schimpfwörter in ihrer Erstsprache als emotionaler wahrnehmen als in später gelernten Sprachen (Harris 2004). Eine Möglichkeit, diese subjektiven Erfahrungen zu quantifizieren, bildet die Messung der elektrodermalen Aktivität. Hierbei wird das Schwitzen der Fingerspitzen oder an den Handflächen einer Person via Messung des transienten Anstiegs der elektrischen Leitfähigkeit der Haut gemessen. Der transiente Anstieg in Folge eines Stimulus erfolgt 1 bis 1,5 Sekunden nach Auslösung des Stimulus, dauert ca. 2 bis 6 Sekunden an (ebd., 225) und wird als skin conductance response (SCR) bezeichnet. Ein Problem bei der Nutzung von SCR ist, dass die Messkurve mit zunehmender Gewöhnung der Untersuchungsteilnehmenden an die Aufgabe immer flacher wird (ebd., 235). Ein weiteres in den letzten Jahren sehr populär gewordenes Verfahren ist das eyetracking, die […] online registration of a participant’s eye-movement behavior, in particular (a) their eye fixations (i. e., where and for how long a participant is looking) and (b) their saccades or eye movements (i. e., where the eyes move next). (Godfroid/Boers/Housen 2013, 489)
Eye-tracking gilt nach Rayner (2009, 1474) in der Psychologie und Psycholinguistik als „gold standard“ der Forschung und erfährt auch in der Zweitspracherwerbsforschung zunehmend Beachtung (vgl. Godfroid/Winke/Conklin 2020, 245; vgl. auch Godfroid 2020). Sein besonderes Potenzial liegt in der Vielseitigkeit der Anwendungen; so können sowohl der geschriebene, der gesprochene als auch der multimodale Sprachgebrauch untersucht werden (vgl. Godfroid/Hui 2020, 277). Godfroid/Winke/Conklin (2020, 245) betonen allerdings die Relevanz der Methodentriangulation, um die Daten besser interpretieren zu können, da eye-tracking zwar zeige, wohin die Personen wie lange schauen, jedoch nicht, warum (vgl. Godfroid/Hui 2020, 280). Eine Fragestellung aus dem Bereich der Mehrsprachigkeitsforschung, die gut mittels eye-tracking zu be-
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arbeiten ist, ist bspw., ob Wörter aus zwei Sprachen parallel aktiviert werden (vgl. Kroll/Gerfen/Dussias 2008). Self-paced-reading (SPR) ist eine weitere Methode, die Augenaktivitäten misst. Einen typischen Anwendungsbereich bildet die Verarbeitung von Sätzen in der L2 (vgl. Jegerski 2014, 20). Hierbei werden Stimulussätze in Wörter oder Phrasen, sogenannte displays, segmentiert (Kroll/Gerfen/Dussias 2008, 124). Die Geschwindigkeit, in der die displays erscheinen, wird von den Versuchsteilnehmenden selbst bestimmt, daher auch die Bezeichnung als self-paced-reading. Beim SPR wird die Lesedauer der einzelnen displays gemessen. Eine längere Lesedauer weist auf größere Schwierigkeiten bei der Verarbeitung von Informationen hin (vgl. ebd.). Ein Vorteil von SPR ist, dass es ausreicht, einen Laptop mit entsprechender Software (bspw. die Shareware PsychoPy, s. https://www.psychopy.org/index.html) zu besitzen, um ein SPR-Experiment durchzuführen, sodass man die Experimente relativ günstig und ortsunabhängig durchführen kann (vgl. Jegerski 2014, 43). Eine Einschränkung der Methode besteht darin, dass durch die Segmentierung in Wörter und Phrasen eine unnatürliche Lesesituation entsteht, die darüber hinaus eine zusätzliche kognitive Last darstellen kann (vgl. ebd., 44).
5 Trends und Desiderata Da die Aneignung und Verwendung mehrerer Sprachen von zahlreichen miteinander interagierenden Faktoren beeinflusst wird, verläuft sie hoch individuell, was es Forschenden grundsätzlich erschwert, Strukturen und Muster zu erkennen sowie diese systematisch zu untersuchen. So konstatiert auch Reich (2005, 152) im Kontext der Sprachdiagnostik, dass es für die Bewertung der Sprachkompetenzen Mehrsprachiger keine „richtige Norm“ gebe, da Mehrsprachige eine derart heterogene Gruppe darstellen, dass es schwerfalle, einschlägige Bezugsgruppen festzulegen. Jede weitere Sprache, die jemand erwirbt, potenziert dabei die Faktorenkomplexion. So erscheint verständlich, dass Mehrsprachige in vielen Fällen durch die vereinfachende Brille der Zweit- oder Fremdsprachigkeit betrachtet oder sogar mit Einsprachigen verglichen werden. Diese Sichtweise führt jedoch häufig zu verfälschten oder sogar abwertenden Schlussfolgerungen. Aronin/Jessner (2014, 58; vgl. auch Lengyel 2017, 170) fordern daher zu Recht: In practice, multilingualism is still often approached from a bilingual or even monolingual perspective, and its appropriate study is frequently avoided, due to perceived difficulties. […] multilingualism is a separate field of study with its own populations to study and research methods to employ.
Bereits relativ breit erforscht erscheinen in diesem Zusammenhang Formen früher Mehrsprachigkeit sowie Sprachgebrauch und Spracheinstellungen in mehrsprachigen Familien. Auch zum frühen Fremdsprachenbeginn liegen bereits einige Studien vor. Als bislang weniger intensiv beforscht können bspw. die historische Mehrsprachig-
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keitsforschung, der akzidentelle Erwerb von Mehrsprachigkeit (z. B. durch Medienkonsum) oder auch die Entwicklung der Mehrsprachigkeit älterer Kinder und Jugendlicher gelten (vgl. Franceschini 2009, 35 f.). Auch sehr grundsätzliche Fragen nach der Rolle expliziter Instruktion im (mehrsprachigen) Spracherwerb bzw. die Frage nach ihrer Effizienz scheinen nach wie vor alles andere als geklärt zu sein und werden von Vertretern und Vertreterinnen unterschiedlicher theoretischer Positionen sehr unterschiedlich bewertet (vgl. VanPatten/Willams 2014 für einen Überblick). Schließlich erscheinen einige besonders interessante Aneignungskontexte großes Potenzial für ein tieferes Verständnis von Mehrsprachigkeit zu bergen. Hier wären bspw. individuelle und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit außerhalb der westlichen Welt (vgl. Ballweg 2019, 269), Mehrsprachigkeit am Arbeitsplatz (z. B. in Dienstleistungsunternehmen, der Technologiebranche oder auch im internationalen Sport) oder auch diskontinuierliche Erwerbsverläufe im Kontext von Mehrfachmigration (Bukus 2020) zu nennen. Weitere neue und umfangreiche Forschungsfelder entstehen durch den digitalen Wandel (z. B. Formen multimodaler und multimedialer Messenger-Kommunikation; Nutzung digitaler Tools im mehrsprachigen Alltag). Für all diese spezifischen Forschungsgegenstände, -kontexte und -perspektiven gilt es, in interdisziplinärer Kooperation und unter Berücksichtigung fachspezifischer ethischer Grundsätze (vgl. Viebrock 2015; DGFF 2019) gegenstandsangemessene Methoden zu entwickeln (bzw. weiterzuentwickeln). Ausbaupotenzial scheinen hier aus der kognitiven Perspektive dieses Beitrags aktuell insbesondere die Psycholinguistik sowie die Computerlinguistik zu bieten, wobei auch klassische sozialwissenschaftliche Methoden weiterhin eine zentrale Rolle spielen.
Danksagung: Herzlich danken möchten wir Sandra Ballweg und Mareike Müller für ihre sehr hilfreichen Anregungen zu früheren Versionen dieses Beitrags.
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Brigitta Busch
3. Minderheitensprachen Abstract: Der Begriff Minderheitensprache ist weniger eindeutig, als er auf den ersten Blick erscheinen mag. So verschieden die Situationen sind, auf die sich der Begriff bezieht, so bezeichnet er doch immer ein asymmetrisches, hierarchisches Verhältnis zu dem, was als ‚Normalität‘ hergestellt wird. Der Dichotomie Minderheits-/Mehrheitssprache liegen sprachideologische Annahmen zugrunde, die davon ausgehen, dass Sprachen und Sprachgemeinschaften voneinander scharf abgrenzbar und Sprecher und Sprecherinnen diesen Kategorien klar zuordenbar sind. Mit dem Konzept Minorisierung wird deutlich gemacht, dass es um Prozesse des othering geht, aber auch um Kämpfe um Anerkennung und Aushandlung von Rechten. Der Gegenstand Minderheitensprache wird nicht zuletzt durch sich wandelnde Diskurse, Sprachpolitiken und Rechtsinstrumente gebildet. Wie eine auf die Sprecher und Sprecherinnen orientierte Konzeption von Sprachenrechten aussehen kann, wird am Beispiel des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten ausgeführt. Der letzte Teil des Beitrags widmet sich aktuellen Sichtweisen und Themen der Minderheitensprachforschung. 1 2 3 4
Zum Begriff Minderheitensprache Minderheitensprachen in Politik und Recht Minderheitensprachforschung Literatur
1 Zum Begriff Minderheitensprache 1.1 Relationalität des Begriffs Minderheitensprachen sind sowohl als Gegenstand wissenschaftlicher Beschäftigung als auch als politisch-rechtlicher Begriff nicht so einfach zu fassen, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Die Kategorie Minderheitensprache wird dadurch geschaffen, dass eine binäre Opposition, ein begrifflicher Gegensatz zu einer Kategorie Mehrheitssprache konstruiert und damit eine Hierarchisierung, eine asymmetrische Differenzmarkierung vorgenommen wird. Die Konzepte Minderheitensprache und Sprachminderheit sind außerhalb der ideologischen Rahmung durch die Geschichte von Nationalismus und Nationalstaat, wie Heller (2006, 7) zugespitzt formuliert, nicht denkbar: „Linguistic minorities are created by nationalisms which exclude them.“ Aus poststrukturalistischer Warte lässt sich sagen, dass Minderheitensprache das ausgeschlossene Andere, das konstitutive Außen darstellt, durch das die hierarchisch übergeordnete Kategorie Mehrheitsprache als Normalität konstituiert wird und sich ihrer inneren Homogenität https://doi.org/10.1515/9783110623444-003
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versichern kann. Mit der Benennung der Kategorie Minderheitensprache wird aber zugleich ausgeschlossen und unsichtbar gemacht, was sich dieser binären Opposition entzieht. Das wären zum Beispiel Menschen, die sich dem Sowohl-als-auch oder dem Weder-noch zuordnen. Mit dem Begriff Minderheitensprache wird eine Sprache also in Relation zu einer anderen gesetzt, wobei das Verhältnis Mehrheit/Minderheit jeweils skalar auf einen bestimmten Referenzrahmen bezogen wird. In der Regel handelt es sich dabei um politisch-rechtliche Rahmen, beispielsweise ein Staatswesen, eine regionale Entität, eine Gemeinde, einen Ortsteil oder aber einen supranationalen Zusammenschluss wie die Europäische Union. So hat Deutsch in Italien den Status einer Minderheitensprache, in der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol wird Deutsch aber von einer Mehrheit der Bevölkerung gesprochen und ist als Amtssprache dem Italienischen gleichgestellt. In 13 Gemeinden der Provinz bildet die deutsche Sprachgruppe eine Minderheit gegenüber der ladinischen oder der italienischen, darunter in der Landeshauptstadt Bozen (Landesinstitut für Statistik Bozen 2012, 10). Der skalare Charakter des Begriffs Minderheitensprache hat nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Dimension. So wurde Russisch, das in der gesamten Sowjetunion eine dominante Stellung innehatte, in vielen nach 1989 unabhängig gewordenen Nachfolgestaaten, etwa im Baltikum, zu einer Minderheitensprache. Der Begriff Minderheitensprache verweist auf ein Verhältnis der Ungleichheit, wobei a priori offenbleibt, worauf sich die Asymmetrie bezieht: ob auf die Zahl derer, die sie sprechen, die Verteilung von Macht und sozioökonomischen Ressourcen oder den rechtlichen Status. Die Zahl allein ist nicht ausschlaggebend. Ungleiche Machtverhältnisse, wie sie durch Kolonialisierung geschaffen wurden, haben vielfach dazu geführt, dass Sprachen, die in einem bestimmten Kontext von einer numerischen Minderheit gesprochen werden, eine dominante Stellung zukommt, was sogar zur Verdrängung von mehrheitlich gesprochenen Sprachen aus dem öffentlichen Raum führen kann.
1.2 Problematische Zählbarkeit von Sprachen Der Begriff Minderheitensprache setzt als (stillschweigende) Vorannahme voraus, dass Sprachen homogene, voneinander abgrenzbare, zählbare Einheiten bilden. Dieser Annahme wird heute widersprochen, die Vorstellung von abgrenzbaren Einzelsprachen als sprachideologisches Konstrukt problematisiert (Gal 2006). Bereits Bachtin stellte mit seinem Konzept der Heteroglossie die Vorstellung in Frage, Sprachen als in sich geschlossene, einheitliche Systeme zu betrachten. Die einheitliche Sprache ist Bachtin (1979, 164) zufolge nicht etwas Gegebenes (dan) sondern eine Vorgabe (zadan), und sie steht im Gegensatz zur Realität der Heteroglossie, zur „tatsächlichen Redevielfalt“. Neben den zentripetalen Kräften, die eine verbal-ideologische Zentralisierung anstreben, werden gleichzeitig auch zentrifugale Kräfte der Dezentralisierung und sprachlichen Differenzierung wirksam.
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Am Beispiel des südslawischen Raums lässt sich nachvollziehen, wie zentrifugale Prozesse der Dezentralisierung umschlagen und zu solchen einer neuen Zentralisierung werden können: Subzentren, die sich in Abgrenzung zu einem ursprünglichen Zentrum herausbilden, werden zu neuen Zentren der sprachlich-ideologischen Vereinheitlichung und diese werden ihrerseits wieder durch entgegengesetzt wirkende Kräfte in Frage gestellt (Busch 2010). Sprachwissenschaftlich wird der südslawische Raum als Sprachkontinuum beschrieben, das sich von den Alpen bis zum Schwarzen Meer erstreckt. Die Segmentierung in unterschiedliche Sprachen war in Abhängigkeit von den jeweiligen politischen Zentren durch extralinguistische Faktoren bestimmt, Phasen der Divergenz und der Konvergenz wechselten einander ab. Das hatte zur Folge, dass die Definition, was als Sprache, was als Varietät oder Dialekt gesehen wurde, entsprechend den politischen Kräfteverhältnissen variierte. Bis zum Zweiten Weltkrieg waren es drei politisch anerkannte Sprachen (Slowenisch, Serbokroatisch und Bulgarisch), mit der Gründung der Teilrepublik Makedonien im Jahr 1944 kam eine vierte dazu. Die Zusammenfassung der dort gesprochenen südslawischen Varietäten zu einer offiziellen Standardsprache, die als Makedonisch bezeichnet wurde, war ein Kompromiss zwischen der serbischen Seite, welche die makedonischen Dialekte als serbisch, und der bulgarischen, die sie als bulgarisch beanspruchte. Dabei wurden Argumente sprachlicher Verwandtschaft und Distanz ins Feld geführt, mit denen territoriale Begehrlichkeiten verbunden waren. Zum heutigen Zeitpunkt werden sieben südslawische Standardsprachen unterschieden; zählt man Burgenlandkroatisch, das in Österreich den Status einer anerkannten Volksgruppensprache hat, hinzu, sind es acht. Auch kam es im Zuge der politischen Grenzziehungen und sprachlichen Abgrenzungen in den 1990er Jahren im Raum des ehemaligen Jugoslawiens zur Umkehr von Minderheits-/Mehrheitsverhältnissen wie beispielsweise in Slowenien, wo BosnischKroatisch-Serbisch heute den Status einer Minderheitensprache hat. Was als Minderheitensprache bezeichnet wird, ist das Ergebnis von Kämpfen um Anerkennung. Diese sieht Bourdieu (1990, 95) als Sonderfall der Klassifizierungskämpfe, der Kämpfe um das Monopol der Macht über das Sehen und Glauben, Kennen und Anerkennen, über die legitime Definition der Gliederung der sozialen Welt und damit über die Bildung und Auflösung sozialer Gruppen.
Historisch gesehen war Sprache nicht immer primärer Marker für Zugehörigkeiten. Es standen, um beim makedonischen Beispiel zu bleiben, über einen langen Zeitraum religiös begründete Kategorisierungen im Vordergrund, unabhängig von Siedlungsgebiet, Ethnizität oder Sprache. Muslime wurden als ‚Türken‘ gezählt, orthodoxe Christen, unabhängig davon, ob sie slawische, romanische, albanische oder griechische Varietäten sprachen, als ‚Griechen‘ (Irvine/Gal 2000, 65). Erst im Zuge der Bildung von Nationalstaaten wurde Sprache zum essenziellen, ‚objektiven‘ Marker für ethnische Zugehörigkeit. Angesichts dessen, dass heute die Orientierung an Stilgemeinschaften vermehrt in den Vordergrund rückt, scheint es ungewiss, ob Sprache auch in Zukunft diese zentrale Rolle als Differenzmarker spielen wird. Im Artikel zum
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Stichwort Sprachminderheiten im Handbuch Soziolinguistik beschreibt Eichinger (2006, 2474) Sprachminderheiten heute primär als gesellschaftliche Interessengruppen, die mit dem sprachlichen Argument auf politisches Gehör hoffen.
1.3 Kategorisierung von Sprechern und Sprecherinnen Bei Minderheiten-/Mehrheiten-Verhältnissen geht es immer wieder um Zahlen von Sprechern und Sprecherinnen, an die die Zuerkennung bestimmter Rechte geknüpft wird. Solche Zahlen geben Anlass zu heftigen Debatten, weil sie keine objektiven Größen sind, sondern die ihnen zugrunde liegenden Kategorisierungen ebenso wie die Erhebungs- und Zählweisen von gesellschaftlichen Machtverhältnissen und sprachideologischen Annahmen geprägt sind. Das Zählen von Sprechern und Sprecherinnen für politisch-administrative Zwecke geht auf den internationalen Statistikkongress im Jahr 1857 zurück, wo die Frage, ob ethnische Identität erhoben werden sollte, erstmals breiter diskutiert wurde (Arel 2002). Eine direkte Frage nach Selbstzuschreibungen wurde verworfen und Sprache als verlässlichster ,objektiver‘ Marker für Zugehörigkeit festgelegt. Ausgehend von der Annahme, dass für jeden Menschen eine einzige Sprache die dominante sei, vermied man hybride Kategorien und reihte auch Personen, die zwei oder mehr Sprachen nannten, als monolingual ein. Wenn Zahlen über Sprecher und Sprecherinnen erhoben und veröffentlicht werden, kommen bis heute oft statistische Auswertungsmechanismen zum Tragen, die Personen mit einem komplexen Sprachrepertoire nach dem Prinzip „ein Sprecher, eine Sprache“ gewissermaßen monolingualisieren (Busch 2021). Das Bemühen, die Einwohner und Einwohnerinnen eines Landes entlang sprachlicher Kriterien quantifizierbaren Kategorien zuzuordnen, ist Ausdruck von historisch verfestigten Diskursen, denen zufolge sowohl Sprache als auch Identität fixe Kategorien darstellen. Ausgeblendet wird die Komplexität von sprachlichen Praktiken, von subjektiven Erfahrungen und von Prozessen der Identifizierung; was prozesshaft ist, wird verdinglicht (Jaffe 2012). Aus Warte der linguistischen Anthropologie lässt sich die diskursive Verdinglichung und Verknüpfung von Sprache und Identität als Prozess der Registrierung (enregisterment) verstehen. Registrierung (Agha 2007; Spitzmüller 2013) beschreibt sprachideologische Prozesse der Typisierung bzw. Stereotypisierung, durch die bestimmte Merkmale des Sprechens herausgehoben und mit bestimmten ‚Typen‘ von Akteuren und Akteurinnen verknüpft werden. Ausgewählte Variationen im Sprachgebrauch werden durch ideologische Aufladung als emblematische Merkmale gewertet, durch die Sprecher und Sprecherinnen als einer bestimmten Personengruppe zugehörig ‚erkannt‘ werden können. Als ‚sozial registriert‘ gilt ein Repertoire, wenn indexikalische Verknüpfungen gesellschaftlich so weit verfestigt sind, dass aus einem wahrgenommenen Sprachgebrauch direkt auf einen bestimmten Personentypus geschlossen wird, dem bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden, wenn Sprach-
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gebrauch und Verhaltensweisen also als ‚natürliche‘ Eigenschaft einer bestimmten Gruppe interpretiert werden, als für sie ikonisch. Prozesse der Registrierung und Typisierung unterliegen der Skalierung, d. h., sie können sich beispielsweise auf „die Slawen/die Slawinnen“ ebenso beziehen wie auf „die Slowenen/die Sloweninnen“ oder die Bewohner und Bewohnerinnen der benachbarten Talschaft. In allen Fällen werden Personentypen und Verhaltenstypen durch Registrierung an eine bestimmte Sprachgebrauchsform gebunden und über das Register miteinander verknüpft. Einmal registriert üben solche diskursiven Kategorisierungen jedoch reale Macht aus: Sie geben in einem hohen Maß vor, als was wir von anderen wahrgenommen und identifiziert werden und wie wir uns selbst als Subjekt erfahren. Sie üben Butler (2006) zufolge performative Macht aus und schreiben sich durch subjektives Erleben ebenso wie durch ritualisierte Praktiken des Alltagslebens als Habitus in den Körper ein. Aus dieser Sicht warnt May (2012) davor, ethnische Zugehörigkeit ausschließlich als soziales Konstrukt zu werten. Durch die – mit anderen der Gruppe geteilte – Dimension des Erlebens und der Teilhabe an sozialen Praktiken werde sie zugleich zu einer materiellen, gelebten Realität. Gerade wenn es um Sprachminderheiten geht, so wird dieses subjektive Erleben nicht selten durch Erfahrungen von Diskriminierungen und sozioökonomischer Marginalisierung, von Sprech- und Sprachverboten geprägt. Hinter solchen Verboten steht eine Politik, die sprachliche bzw. ethnische Homogenisierung zum Ziel hat, und die Vorstellung, dass es so etwas wie (als scharfe Linie gedachte) Sprachgrenzen gibt, die mit Staatsgrenzen oder anderen territorialen Abgrenzungen in Übereinstimmung zu bringen sind. In der Geschichte haben solche Wahnvorstellungen immer wieder zu systematischen Verfolgungen, Vertreibungen und sogar Massenmorden geführt. Solche existenzbedrohenden Politiken und damit verbundene Traumata können langfristig zu Sprachaufgabe und Verdrängung von Minderheitensprachen führen. Als Antwort darauf kann sich aber auch ein verstärkter Sprachaktivismus herausbilden – oft auch erst in der Folgegeneration. Erst in jüngster Zeit entsteht Forschung dazu, welche Auswirkungen auf Spracheinstellungen und -praktiken die transgenerationale Weitergabe solcher Traumata hat (Betten 2010 für die zweite Generation jüdischer Emigranten und Emigrantinnen in Israel; Wutti 2013 für Slowenischsprachige in Kärnten; Skrodzka u. a. 2020 für Lemken in Polen).
1.4 Terminologie und Taxonomie Problematisch ist der Begriff Minderheitensprache auch, weil er einerseits in Bezug auf sehr unterschiedliche Situationen verwendet wird und andererseits eine Vielzahl von weiteren Begriffen in Umlauf ist, um Situationen sprachlicher Asymmetrie bzw. sprachlicher Minorisierung zu bezeichnen. Im aktuellen Palgrave Handbook of Minority Languages and Communities findet sich folgende Definition:
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For the most part, the concept of „minority language communities“ is used to describe numerically inferior groups of people who speak a language different from that of the majority in a given country, who are in a non-dominant position and, to some extent, who seek to preserve their distinct linguistic identity. (Hogan-Brun/O’Rourke 2019, 2)
Die Autorinnen geben zu bedenken, dass unterschiedliche Definitionen, was eine Minderheit ausmacht, in unterschiedlichen Rechtsverständnissen begründet sind. Definitionen, die auf Allgemeingültigkeit abzielen, erweisen sich, wie schon Nelde, der lange Zeit die europäische Minderheitensprachforschung prägte, festgehalten hat, als wenig praktikabel. Abgesehen von universellen Benachteiligungs- oder Unterdrückungsmechanismen seitens dominanter Mehrheiten hinke, wie er pointiert formuliert, jeder Vergleich: Was haben Schwedisch in Finnland, Kornisch im südwestlichen Großbritannien, Jiddisch in Flandern (Antwerpen), slowakische Romanisprecher und nordkanadische Inuiten gemeinsam? (Nelde 2003, 30)
Um der Vagheit des Sammelbegriffs Minderheitensprachen zu begegnen, werden immer wieder Versuche unternommen, spezifische Minderheits-/Mehrheitskonstellationen zu typisieren. So unterteilen Extra/Gorter (2001) die innerhalb der Europäischen Union (EU) gesprochenen Minderheitensprachen in regionale Minderheitensprachen (regional minority languages) und Sprachen von migrantischen Minderheiten (immigrant minority languages), wobei sie einräumen, dass die Kriterien, nach denen autochthon und allochthon voneinander abgegrenzt werden, problematisch sind. Die sogenannten regionalen Minderheitensprachen unterteilen sie wiederum in fünf Kategorien: solche, die nur in einem Teilgebiet eines EU-Staates gesprochen werden (z. B. Bretonisch in Frankreich); solche, die in mehr als einem Staat gesprochen werden (z. B. Sami in Schweden und Finnland); solche, die in einem Staat eine Minderheitensprache sind, in einem anderen (benachbarten) die dominante Amtssprache (z. B. Albanisch in Italien); zwei Sprachen mit speziellem Status (Irisch und Luxemburgisch); und schließlich nichtterritoriale Sprachen (Romani, Jiddish). Unterschieden wird, wie Eichinger (2006, 2474 f.) diskutiert, unter anderem auch nach räumlicher Verteilung der Sprache: Sprachen, die ihr Hauptverbreitungsgebiet in einem anderen Staat haben; Sprachinseln in zufälliger Streuung außerhalb des Hauptverbreitungsgebiets; Sprachen, die nicht in einem Nachbarstaat gesprochen werden. In beiden, eher willkürlich wirkenden Taxonomien wird eine Form von Sprachideologie deutlich, die eine feste Verbindung zwischen Sprache und Territorium annimmt und der (zunehmenden) Mobilität von Sprechern und Sprecherinnen nicht gerecht zu werden vermag. Aufgrund des (rechtlichen) Status, der Minderheitensprachen eingeräumt wird, unterscheidet Janich (2004, 485) zum Beispiel zwischen Staaten, wo Minderheitensprachen nicht anerkannt sind (z. B. Bretonisch in Frankreich), wo Minderheitensprachen toleriert oder geschützt werden (z. B. Walisisch in Großbritannien), wo sprachliche Autonomie mit einem gewissen Maß an politischer Auto
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nomie einhergeht (z. B. Ladinisch in Italien), Staaten mit sprachlichem Föderalismus (z. B. Schweiz, Belgien) und Staaten mit institutionalisierter Mehrsprachigkeit (z. B. Luxemburg). Außer Acht bleibt dabei, dass auch innerhalb eines Staates Minderheitensprachen oft unterschiedlich behandelt werden und dass der rechtliche Status allein noch wenig darüber aussagt, welche Rechte tatsächlich wahrgenommen werden können. Staaten, die Sprachminderheiten anerkennen, tun dies in der Regel, indem sie in ihrer Gesetzgebung taxativ und in Form geschlossener Listen jene anführen, die Anerkennung gefunden haben. So werden in Österreich zum jetzigen Zeitpunkt Sprachen von sechs Gruppen durch das Volksgruppengesetz (in unterschiedlichem Ausmaß) geschützt: Slowenisch, Burgenlandkroatisch, Ungarisch, Tschechisch, Slowakisch (seit 1992) und Romani (seit 1993). Die Österreichische Gebärdensprache wird zwar seit 2005 in der Verfassung anerkannt, ist aber nicht mit vergleichbaren Rechten wie sogenannte Volksgruppensprachen ausgestattet. Ungeachtet der unterschiedlichen regionalen Verbreitung gelten in der Schweiz Französisch, Italienisch und Rätoromanisch neben Deutsch als Landessprachen. Deutschland erkennt derzeit vier nationale Minderheiten an: die dänische Minderheit, die friesische Volksgruppe, die deutschen Sinti und Roma und das sorbische Volk. Bereits an dieser Aufzählung sieht man, dass der Terminus Minderheitensprache nicht in allen Situationen Verwendung findet. Neben den bereits oben genannten sind oder waren in Politik und Administration noch weitere Termini in Gebrauch, darunter Regionalsprachen, weniger verbreite Sprachen, Sprachen ethnischer Gruppen oder Volksstämme, Nationalitätensprachen, bedrohte Sprachen, indigene Sprachen, Migrationssprachen, Diasporasprachen, Herkunftssprachen (heritage languages). Versuche, eine über einen Staat hinaus gültige, einheitliche Terminologie für typisierte Konstellationen zu schaffen, erweisen sich als wenig zielführend (Rein 2018). Der Begriff Minderheitensprache ebenso wie andere mehr oder weniger synonym verwendete Termini sind in hohem Maß mit territorial und nationalstaatlich geprägten Sprachideologien besetzt und suggerieren etwas Gegebenes, Statisches. Um zu verdeutlichen, dass es sich um Prozesse von othering, von Hierarchisierung, Marginalisierung, aber auch von Kämpfen um Anerkennung und Aushandlung von Rechten handelt, wird daher zunehmend der Begriff Minorisierung bevorzugt. Es sind soziohistorische Prozesse von Wissensproduktion, die formen, wie wir Minderheitensprachen (oder minorisierte Sprachen) konzeptualisieren, zählen, bewerten und diskutieren. Das gilt sowohl für politisch-rechtliche Diskurse (Abschnitt 3) als auch für wissenschaftliche (Abschnitt 4). Minderheitensprachen sind nicht ein Gegenstand, der schon vorhanden ist, sondern werden (immer wieder anders) diskursiv als Gegenstand konstituiert. Im Sinn von Foucault (1981) sind Diskurse Praktiken, die nicht Gegenstände identifizieren, sondern etwas zum Gegenstand machen, es ,objektivieren‘, und damit zugleich ihre eigene Erfindung verschleiern.
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2 Minderheitensprachen in Politik und Recht 2.1 Rechtsdiskurse Im internationalen Recht spielen Rechte von (Sprach-)Minderheiten erst seit dem Ende des Ersten Weltkriegs eine Rolle, als multiethnisch verfasste Staatswesen wie die österreich-ungarische Monarchie und das Zarenreich zerfielen und in Mittel- und Osteuropa neue Nationalstaaten entstanden. Wie de Varennes/Kuzborska (2019) anführen, wurden in der Folge den besiegten oder neu gegründeten Staaten multi- bzw. bilaterale Verträge oder unilaterale Deklarationen auferlegt, die unter dem Begriff Minderheitenverträge unter dem Schirm des Völkerbundes zusammengefasst werden. Der Grundgedanke war, Staatenlosigkeit zu vermeiden, indem den durch die neuen Grenzziehungen entstandenen Minderheiten die Staatsbürgerschaft garantiert wurde – daher der noch heute im europäischen Rechtsdiskurs gebräuchliche Begriff nationale Minderheiten. Durch die Garantie von Minderheitenrechten sollte Ängsten innerhalb der Minderheiten begegnet und vermieden werden, dass sie ihre sogenannten ‚Mutterstaaten‘ um Schutz anrufen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden über einige Jahrzehnte Minderheitenrechte ausgeklammert und sogar der Begriff Minderheiten in internationalen Rechtsinstrumenten vermieden, was unter anderem damit begründet wurde, dass das Naziregime die Minderheitenfrage missbraucht hatte, um Annexionen und die Errichtung von Marionettenstaaten zu rechtfertigen. In den Vordergrund rückte nun der Schutz individueller Rechte und Freiheiten, die in Gegensatz zu den eher kollektiv gefassten Minderheitenrechten des Völkerbundes gestellt wurden. Sowohl die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Vereinte Nationen 1948) als auch die (individuell einklagbare) Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europarat 1950) beschränken sich ausgehend vom Gleichheitsgrundsatz darauf, Diskriminierung zu verbieten, unter anderem eine solche aufgrund von Sprache oder Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit. Ausnahmen waren Minderheitenbestimmungen in Friedensverträgen wie jenen mit Italien für Deutschsprachige in den Provinzen Bozen und Trentino oder dem österreichischen Staatsvertrag von 1955, der Rechte der slowenischen und kroatischen Minderheit festschreibt. Einen neuen Schub der politischen Beschäftigung mit minorisierten Sprachen brachten die antikolonialen Bewegungen in den 1950er und 60er Jahren im globalen Süden sowie die daran anknüpfenden sozialen und regionalen Bewegungen in Europa und Nordamerika, die Sprach- und Minderheitenrechte einforderten. Dieser Sprachaktivismus fand nur bis zu einem gewissen Grad Niederschlag in internationalen Rechtsinstrumentarien. Ein wichtiges internationales Abkommen über die Rechte von indigenen Bevölkerungsgruppen war die Indigenous and Tribal Peoples Convention der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organization 1989). Nach derzeitigem Stand wurde sie erst von 24 Staaten, darunter zahlreichen lateinamerikanischen, ratifiziert. In Europa ist diese Konvention besonders im Hinblick
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auf Samisprachen relevant, wobei unter den nordischen Ländern bisher nur Norwegen beigetreten ist. Die ILO-Konvention hat innerhalb der internationalen Rechtsinstrumente, die sich mit Minderheitensprachen beschäftigen, insofern eine Ausnahmestellung, als sie von Gruppenrechten ausgeht. Bestimmungen bezüglich Minderheitensprachen finden sich in weiteren internationalen Rechtsdokumenten. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Vereinte Nationen 1966) beinhaltet einen Artikel zu sprachlichen Rechten von Angeklagten vor Gericht sowie einen zum Recht von Minderheiten auf ihre eigene Kultur, Religion und Sprache. Auch die UN-Kinderrechtskonvention (Vereinte Nationen 1989) hält, über das Diskriminierungsverbot hinaus, explizit das Recht von Kindern fest, die eigene Minderheitensprache zu verwenden und zu pflegen, und verpflichtet Bildungseinrichtungen, dem Kind die Achtung vor seiner Sprache und seinen kulturellen Werten zu vermitteln. Im Rahmen ihrer Mission zur Bewahrung des kulturellen Erbes und kultureller Diversität setzt sich die UNESCO für den Erhalt sogenannter bedrohter Sprachen ein und hat mehrere Konventionen ausgearbeitet, deren Bedeutung allerdings eher symbolisch als rechtlich bindend ist (de Varennes/Kuzborska 2019). Mit dem Ende der Ost-West-Blocklogik, die die politische Landkarte nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt hatte, kam es zu neuen Grenzziehungen in Mittel- und Osteuropa und in der Folge zu neuen Minderheits-/Mehrheitsverhältnissen. Damit im Zusammenhang stehende Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen, insbesondere im ehemaligen Jugoslawien, brachten in den 1990er Jahren Minderheitenfragen auf die internationale politische Tagesordnung. In der Folge richtete die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa im Hinblick auf Konfliktprävention das Amt des Hochkommissars für nationale Minderheiten ein und formulierte die Haager Empfehlungen zur Bildung (OSCE 1996) sowie die Osloer Empfehlungen die sprachlichen Rechte nationaler Minderheiten betreffend (OSCE 1998).
2.2 Europäische Rechtsinstrumente In dieser Phase der politischen Neuordnung und aufbrechender Nationalismen legte der Europarat zwei richtungsweisende Regelwerke mit Bezug auf Minderheitensprachen bzw. Sprachminderheiten zur Unterzeichnung auf: einerseits die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen (Council of Europe 1992; im Folgenden Charta), andererseits das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten (Council of Europe 1995; im Folgenden Rahmenübereinkommen). Während die Entstehung der Charta in die 1970er Jahre mit ihren verstärkt auftretenden regionalen Bewegungen zurückweist, war jene des Rahmenübereinkommens von der Sorge um die neu aufgeflammten nationalen Konflikte geprägt. Beide Regelwerke sind 1998 in Kraft getreten. Die Charta wurde bisher von 25 der 47 Mitgliedstaaten des Europarats ratifiziert, das Rahmenübereinkommen von 39. Beiden Regelwerken nicht beigetreten ist unter anderem Frankreich, dessen Verfassung Französisch als die Sprache der Repu-
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blik definiert. Die Anwendung sowohl der Charta als auch des Rahmenübereinkommens wird von unabhängigen Experten- und Expertinnenkomitees überwacht, die die von den Vertragsparteien regelmäßig vorgelegten Berichte prüfen – ein Umstand den sich, in Form eigener Berichte, Akteure und Akteurinnen der Zivilgesellschaft bzw. Sprachaktivisten und -aktivistinnen zunutze machen können. Aus juristischer Sicht stellen de Varennes/Kuzborska (2019) die Frage, wer die Inhaber und Inhaberinnen von Sprachenrechten sind, und unterscheiden zwei Zugänge in internationalen Rechtsinstrumentarien: einen, den sie als menschenrechtlichen bezeichnen und der auf individuelle sprachliche Bedürfnisse und Rechte zielt (wie im Fall der Rahmenkonvention), und einen, in dem es um den Schutz von Sprachen als Objekte geht (wie im Fall der Charta). Diese unterschiedliche Orientierung erklärt auch, warum der Europarat fast gleichzeitig zwei Abkommen, die sich mit Fragen von Minderheitensprachen beschäftigen, verabschiedet hat. Die Charta definiert, was als Regional- und Minderheitensprache in ihren Anwendungsbereich fällt: „[R]egional or minority languages“ means languages that are: (i) traditionally used within a given territory of a State by nationals of that State who form a group numerically smaller than the rest of the State’s population; and (ii) different from the official language(s) of that State; it does not include either dialects of the official language(s) of the State or the languages of migrants. (Council of Europe 1992, Art. 1)
Die meisten Maßnahmen setzen die Definition eines geographischen Anwendungsbereichs voraus. In einem gewissen Ausmaß können aber auch nicht territorial gebundene Sprachen unter den Schutz der Charta gestellt werden; explizit genannt werden Romani und Jiddisch. Problematisch an dieser engen Definition haben sich die Unterscheidung in autochthone und allochthone Sprachen und der Ausschluss von Dialekten der Amtssprache(n) erwiesen. Nach welchen Kriterien wird festgelegt, ob eine Sprache autochthon ist? Ist es eine Präsenz von soundso viel Jahren oder Generationen im Siedlungsgebiet, sind es Ursprünge, die in eine mythische Vergangenheit verlegt werden? Warum werden Sprachen mit eigener Grammatik, eigenem Lexikon und eigenen pragmatischen Regeln, wie es die Gebärdensprachen sind, nicht zu den Minderheitensprachen gezählt? Wer bestimmt, ob und unter welchen Umständen ‚etwas‘ als Sprache oder als Dialekt zu gelten hat? Rigide Kategorisierungen, die scheinbar dazu dienen, Ordnung herzustellen, erweisen sich in der Praxis als sprachideologisches Minenfeld (Karlander 2018) oder, in Bourdieus (1990) Terminologie, als immer neue Kämpfe um Visionen und Divisionen und die Gliederung der sozialen Welt. Jeder Vertragsstaat definiert selbst, für welche Sprachen und in welchem Ausmaß die Charta Anwendung findet. Sie funktioniert nach einem À-la-carte-Prinzip, d. h., Staaten müssen aus 68 konkreten Maßnahmen, die den Gebrauch von Regional- und Minderheitensprachen in Bereichen wie Bildung, Justiz, Verwaltung, Medien oder Kultur regeln, mindestens 35 auswählen, wobei ein großer Spielraum besteht, für welche Maßnahmen sie sich entscheiden. Um nur ein Beispiel zu nennen: In Bezug auf
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den Grundschulunterricht kann eine Verpflichtung nur einen stundenweisen Unterricht der Minderheitensprache bei genügender Anzahl von Anmeldungen umfassen oder aber die Verwendung der Minderheitensprache als Unterrichtssprache. Im Wesentlichen haben die Unterzeichnerstaaten jene Bestimmungen ausgewählt, die dem Status quo zur Zeit der Ratifizierung entsprochen haben. In den letzten Jahren hat sich der Experten- und Expertinnenausschuss verstärkt auf die Zielbestimmungen in Art. 7 der Charta, der seitens der Staaten eine großzügige Auslegung fordert, berufen und diese dahingehend interpretiert, die Stigmatisierung bislang nicht anerkannter Sprachen zu überwinden (Ramallo 2018). Im Unterschied zur Charta verzichtet das Rahmenübereinkommen bewusst auf eine Definition des Begriffs nationale Minderheit. Es wurde als dynamisches, sich durch Auslegung weiter entwickelndes Instrument konzipiert, das nicht durch statische Vorgaben eingeengt wird. Tragendes Prinzip ist das Recht auf freie Selbstidentifikation, das auch mehrfache Zugehörigkeiten einschließt und „das Recht impliziert, situationsgebunden zu entscheiden, wann man sich einer nationalen Minderheit zugehörig fühlt und wann nicht“ (Beratender Ausschuss 2016, Abs. 11). Konsequenterweise werden Minderheiten nicht als ‚gegeben‘ betrachtet, sondern als Ergebnis sich wandelnder geteilter Praktiken, als communities of practice. Vertragsstaaten haben jedoch die Tendenz, einschränkende Kriterien zu definieren oder in geschlossenen Listen anzugeben, welche Bevölkerungsgruppen unter den Schutz des Rahmenübereinkommens gestellt werden. Solche Listen umfassen oft ein breiteres Spektrum als jene für die Charta. Die Tschechische Republik beispielsweise erkennt im Rahmen der Charta die Sprachen Polnisch und Slowakisch sowie in geringerem Ausmaß mährisches Kroatisch, Deutsch und Romani an. In Bezug auf das Rahmenübereinkommen führt Tschechien 14 nationale Minderheiten an, darunter die vietnamesische, die auf Arbeitsmigration zur Zeit des Realsozialismus zurückgeht. Obwohl einzelne Bestimmungen des Rahmenübereinkommens, beispielsweise das Recht auf topographische Aufschriften in einer Minderheitensprache, an die Voraussetzung geknüpft sind, dass es sich um ein traditionelles Siedlungsgebiet handelt, in dem Angehörige der Minderheit in einer beträchtlichen Zahl leben, führt der Beratende Ausschuss (2016, Abs. 29–34) aus, dass weder Staatsangehörigkeit oder Aufenthaltsdauer noch territoriale Verbreitung oder das Erreichen eines bestimmten prozentuellen Bevölkerungsanteils als Kriterien herangezogen werden dürfen, um die Anwendung des Rahmenübereinkommens per se einzuschränken. Der Beratende Ausschuss legt den Staaten nahe, Bestimmungen des Rahmenübereinkommens stufenweise auf weitere Personengruppen auszudehnen. Das Rahmenübereinkommen zielt dabei nicht auf Sonderrechte für bestimmte Gruppen, sondern auf Politiken, die sich an die Gesellschaft als Ganzes richten.
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2.3 Ein sprecher- und sprecherinnenorientierter Zugang zu Sprachenrechten 2.3.1 Sprachenrechte unter dem Rahmenübereinkommen Der für das Monitoring und die Implementierung des Rahmenübereinkommens zuständige Beratende Ausschuss legte im Jahr 2012 in einem ausführlichen Kommentar seine Positionen in Bezug auf Sprachenrechte (Beratender Ausschuss 2012) dar (im Folgenden: Kommentar). Ein genauerer Blick auf dieses Dokument lohnt sich insofern, als es von der essenzialisierenden Verknüpfung von Sprache, Identität und Territorium abrückt und darauf abzielt, Sprachenrechte radikal aus der Perspektive der Sprecher und Sprecherinnen von Minderheitensprachen zu fassen. Was das Dokument auszeichnet, ist, dass es auf empirischen Grundlagen beruht, nämlich den Factfinding-Missionen und ausführlichen Stellungnahmen des Beratenden Ausschusses zur Lage von Minderheitensprachen in sehr unterschiedlichen Kontexten. Die Konzeption von Sprachenrechten, wie sie der Europäischen Rahmenkonvention und deren Auslegung durch den Beratenden Ausschuss zugrunde liegt (Roter/ Busch 2018), beruht auf drei einander bedingenden und ergänzenden Grundsätzen: (1) auf dem Recht, Differenz auszudrücken, und dem Recht auf Anerkennung von Differenz – Foucault (2007, 85) nennt es „das Recht auf Anderssein“; (2) auf der Herstellung eines gleichberechtigten Zugangs zu Ressourcen und Rechten trotz Differenz; und (3) auf der Notwendigkeit von sozialer Interaktion über Differenz hinweg. Diese Dimensionen entsprechen in etwa Bühlers (1934) Unterscheidung zwischen drei Funktionen sprachlicher Äußerungen: der expressiven, mit der sich der Sprecher und die Sprecherinnen positionieren, der darstellenden, die sich auf den Inhalt einer Äußerung bezieht, und der appellativen, dem Einwirken auf das Gegenüber in der Interaktion. Der Kommentar geht davon aus, dass Sprache ein wesentliches Element dafür ist, wie Menschen sich positionieren und von anderen positioniert werden, wie ihnen der Zugang zu Rechten und Ressourcen – wie Bildung, Arbeit, Information, Rechtsprechung – offensteht oder verschlossen bleibt und wie sie sich im öffentlichen Raum und Diskurs repräsentiert sehen.
2.3.2 Freies Bekenntnis Das Prinzip des freien Bekenntnisses zu einer Minderheit wird im Kommentar dahingehend präzisiert, dass es den Einzelnen zusteht, Zugehörigkeit zu mehreren Gruppen geltend zu machen und Sprachenrechte situations- und kontextspezifisch in Anspruch zu nehmen oder nicht. Die Inanspruchnahme darf nicht an den Nachweis sprachlicher Kompetenzen gebunden werden. Damit wird möglichen Folgen vorangegangener Assimilationspolitiken Rechnung getragen, Prozesse der Sprachrevitalisierung sollen erleichtert werden. Als unzulässig werden Regelungen bewertet, die
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den Genuss von Rechten davon abhängig machen, dass sich Personen exklusiv und dauerhaft zu einer Sprachgruppe bekennen, wie das beispielsweise in Südtirol der Fall ist, wo eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst an das Bekenntnis zu einer der Sprachkategorien Deutsch, Italienisch oder Ladinisch gebunden ist. Der Zwang, sich zu einer Gruppe zu bekennen, wird ebenso abgelehnt wie Fremdzuschreibungen aufgrund von Herkunft oder ‚Muttersprache‘; vielmehr gilt die Teilnahme an geteilten Praktiken als Beleg für Zugehörigkeit. In vielen Ländern werden Statistiken zu Erstsprache oder Sprachgebrauch herangezogen, um den Umfang und den Geltungsbereich von Minderheitenrechten zu bestimmen. Im Kommentar wird hervorgehoben, dass Befragungen zu statistischen Zwecken anonym sein müssen, nicht nur vorgegebene Kategorien umfassen dürfen und – besonders wichtig – Mehrfachnennungen zulassen und in Statistiken ausweisen sollen. Ausgegangen wird explizit davon, dass Sprache und Identität keine statischen Kategorien sind, sondern sich im Verlauf des Lebens verändern und viele Menschen ihren Lebensalltag in mehr als einer Sprache organisieren. Mit der Orientierung auf Sprachenrechte als individuelle Rechte, die intersubjektiv und in Gemeinschaft mit anderen wahrgenommen werden, wird der zunehmenden Mobilität und damit einhergehenden demographischen Veränderungen Rechnung getragen. In Kärnten beispielsweise ist seit Jahrzehnten eine (manchmal nur vorübergehende) Abwanderung aus den als traditionelles Siedlungsgebiet der slowenischen Minderheit geltenden ländlichen Randregionen in regionale Zentren oder größere Ballungsgebiete zu beobachten. Der Kommentar unterstreicht, dass solche Veränderungen nicht mit einem Verlust der sprachlichen Rechte einhergehen dürfen. Im Bildungsbereich beispielsweise sollen zum einen Angebote in Minderheitensprachen auf Zielorte der Migration ausgeweitet werden, zum anderen in Abwanderungsgebieten durch großzügige Handhabung von Mindestschüler- und -schülerinnenzahlen sichergestellt werden, dass Rechte nicht ausgedünnt werden.
2.3.3 Anerkennung von Differenz, Gleichberechtigung trotz Differenz, Interaktion über Differenz hinweg In Bezug auf die Anerkennung von Differenz wird von den Staaten verlangt, die notwendigen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Personen, die sich Minderheiten zurechnen, ihre kulturellen, insbesondere sprachlichen Praktiken bewahren und weiterentwickeln können. Diese Bestimmungen implizieren ein Verbot assimilierender Politiken, wie sie in Sprachverboten oder exorbitanten Quotenregelungen, die den Gebrauch von Minderheitensprachen beschränken, zum Ausdruck kommen. Sprachideologien, die Minderheitensprachen und damit auch ihre Sprecher und Sprecherinnen abwerten, können beeinflussen, wie diese sich selbst wahrnehmen, und dazu führen, dass Minderheitensprachen versteckt oder aufgegeben werden. Das Assimilationsverbot impliziert dem Kommentar zufolge auch, dass konkrete Maßnahmen er-
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griffen werden, um die Funktionalität von Minderheitensprachen über die Privatsphäre hinaus zu erhalten und auszubauen und ihr Prestige zu stärken. Um ein Beispiel aus dem Bildungsbereich herauszugreifen, weist der Kommentar darauf hin, dass die Attraktivität der Minderheitensprache ein wesentlicher Faktor ist, ob Eltern ihre Kinder zum Unterricht von oder in Minderheitensprachen anmelden. Der Kommentar hebt zudem die Bedeutung des Rechts hervor, Personennamen in einer Minderheitensprache zu führen, da deren willkürliche Anpassung an die Mehrheitssprache oder Verballhornung als Verletzung der persönlichen Integrität erlebt werden kann. Ausführlich beschäftigt er sich mit den oft weitreichenden Auswirkungen von Namensänderungen in Bezug auf persönliche Dokumente oder Besitztitel. Das Recht, sich in der eigenen Sprache auszudrücken, ist nur von symbolischem Wert, wenn voller Zugang zum sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Leben nur oder vorwiegend in einer anderen Sprache (jener der Mehrheit) möglich ist. Deshalb werden, so der Kommentar, Maßnahmen, die der Herstellung eines gleichberechtigten Zugangs zu Ressourcen und Rechten trotz Differenz dienen, als unerlässliches Komplement zu jenen gesehen, die das Recht auf Differenz sichern. Wenn eine Minderheitensprache auf den privaten Bereich reduziert wird, so wird sie von den Sprechern und Sprecherinnen tendenziell als Einschränkung erlebt, die sie innerhalb enger sozialer und geographischer Grenzen fixiert. Sprache darf, so der Kommentar, nicht zu einem gatekeeper im Zugang zu Bildung, Arbeitsmarkt, Wohnen, Gesundheit, Rechtsprechung, Medien und Verwaltung werden – weder durch Einschränkung der Funktionalität von Minderheitensprachen noch durch Einschränkung des Zugangs zur Mehrheitssprache oder einer ortsüblichen Verkehrssprache. Der Kommentar gibt auch zu bedenken, dass Benachteiligungen aufgrund von Sprache, im Sinn von Intersektionalität, durch solche aufgrund von Geschlecht, Hautfarbe, Alter oder Klasse verstärkt werden können. Insbesondere in Ländern, in denen nach dem Zerfall größerer staatlicher Gebilde Minderheits-/Mehrheitsverhältnisse umgekehrt wurden, können neue Nationalsprachen zu Hürden werden, und zwar nicht nur für Sprecher und Sprecherinnen der ehemals dominanten Sprache, zum Beispiel Russisch, sondern auch für solche kleinerer Minderheitensprachen, für die die ehemals dominante Sprache die Verkehrssprache, oft auch die Bildungssprache war. Als unzulässige Hürde kritisiert der Kommentar unter anderem die Benachteiligung von Schülern und Schülerinnen mit Migrationshintergrund im Bildungswesen oder exorbitante Anforderungen an Kenntnisse in einer offiziellen Sprache als Voraussetzung zur Erlangung von Sozialleistungen, Aufenthaltsberechtigung oder Staatsbürgerschaft. Um strukturellen Benachteiligungen entgegenzuwirken, nennt der Kommentar neben Regelungen zur Verbesserung des Status von Minderheitensprachen auch Maßnahmen wie die Bereitstellung von Information in Minderheitensprachen, die Befähigung von öffentlich Bediensteten, in Minderheitensprachen zu kommunizieren und die Bereitstellung von Dolmetsch- und Sprachmittlungsdiensten. Traditionelle Zugänge zu Sprachenrechten konzentrieren sich in der Regel auf Maßnahmen, die der Bewahrung kultureller Identität dienen sollen oder auf ein Ver-
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bot von Diskriminierung zielen. Es ist, wie der Kommentar hervorhebt, eine Besonderheit des Rahmenübereinkommens, dass es nicht nur diese beiden Dimensionen von Sprachenrechten kennt, sondern unter den Titeln interkultureller Dialog und wirkeffektive Teilnahme auch eine dritte einführt. Gefordert werden Politiken, die sprachlicher Diversität gerecht werden und die Kooperation zwischen Personen, die sich unterschiedlichen Gruppen zurechnen, auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit fördern. Sprachpolitiken sollen sicherstellen, dass die in einer Gesellschaft gesprochenen Sprachen im öffentlichen Raum präsent, hörbar und sichtbar sind, damit der multilinguale Charakter der Gesellschaft für alle erfahrbar wird und sich jede Person als integraler Teil der Gesellschaft wahrnehmen kann. Das gilt, so der Kommentar, auch für Minderheitenangehörige außerhalb traditioneller Siedlungsgebiete oder für Einwohner und Einwohnerinnen, die die Staatsbürgerschaft des Landes nicht besitzen. Sichtund Hörbarkeit sprachlicher Diversität soll sich im linguistic landscape, also beispielsweise auf Ortstafeln, aber auch in den Medien und im Bildungsbereich widerspiegeln. Für den Bildungsbereich wird hervorgehoben, dass es zu keiner sprachlich argumentierten Segregation kommen darf, dass Bildung in Minderheitensprachen oder offiziellen Sprachen keine einander ausschließende Wahl sein soll und dass Behörden ermutigt werden sollen, bi- oder multilinguale Bildungsmodelle zu ermöglichen, die für Schüler und Schülerinnen ungeachtet ihres sprachlichen Hintergrunds attraktiv sind, gerade auch für Kinder, die zwei- oder mehrsprachig aufwachsen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein sprecher- und sprecherinnenorientierter Zugang zu Sprachenrechten, wie ihn das Rahmenübereinkommen wählt, nicht Sprachen oder Sprachgemeinschaften als Ausgangspunkt nimmt, sondern die Bedürfnisse, Interessen und Aspirationen der einzelnen Sprecher und Sprecherinnen. Er erkennt die Verschiedenheit individueller sprachlicher Praktiken und Ressourcen und den heteroglossischen Charakter sprachlicher Repertoires an. Er geht von situativen Identifikationsakten aus, in denen Einzelne ihre Differenz zu und ihre Identifikation mit Anderen zum Ausdruck bringen, und nimmt kollektive Identitäten, denen die Einzelnen zugeordnet werden, nicht als gegeben an, sondern als Ausdruck gemeinsamer Praktiken. Anstatt eine naturgegebene Verknüpfung zwischen Sprache und Territorium anzunehmen, wird dem Rechnung getragen, wie Sprecher und Sprecherinnen sich in ihrem Alltag in unterschiedlichen sozialen Netzwerken und Räumen bewegen, die durch spezifische Sprachregime gekennzeichnet und begründet werden.
3 Minderheitensprachforschung 3.1 Paradigmenwechsel Wie im Rechtsdiskurs haben sich auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Minderheitensprachen in den letzten Jahrzehnten neue Schwerpunktsetzungen herauskristallisiert, um gesellschaftlich-politischen Entwicklungen Rechnung zu tragen.
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Ihrerseits hat die Minderheitensprachforschung wesentlich dazu beigetragen, grundlegende Fragestellungen und Konzepte der Sprachwissenschaft, insbesondere der Soziolinguistik (man denke beispielsweise an die Forschung zu Mehrsprachigkeit oder Sprachideologien), zu vertiefen, nicht zuletzt, weil gerade im Umgang mit Sprachminderheiten ungleiche Machtverhältnisse, Hierarchien und Ausschlüsse besonders deutlich zutage treten. Im Rahmen dieses Beitrags kann kein umfassender Überblick über das breite und äußerst heterogene Feld der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Minderheitensprachen gegeben werden, vielmehr sollen einige rezentere Entwicklungslinien nachgezeichnet werden. Ein weitgehender Konsens besteht heute darüber, dass eine grundsätzliche Trennung zwischen Minderheitensprachen, die als autochthon bzw. allochthon bezeichnet wurden, wenig sinnvoll ist. Wohl aber hat sich die Forschung zu diesen beiden Bereichen über lange Zeit in eigenen Strängen entwickelt. Die Forschung zu regionalen Minderheitensprachen war besonders produktiv in Bezug auf Regionen, in denen einflussreiche sprachaktivistische Bewegungen entstanden sind, es zu Sprachkonflikten kam oder Einrichtungen geschaffen wurden, welche die Aufwertung von Minderheitensprachen oder regionaler Zweisprachigkeit befördert haben. Zu nennen wären beispielsweise Wales, Katalonien, Korsika, Irland, Siedlungsgebiete der Sami oder Gebiete Kanadas mit französischer Minderheitensprache. Als verwandtes Feld hat sich ausgehend von der linguistic anthropology die wissenschaftliche Beschäftigung mit indigenen Sprachen gebildet. Während sich die traditionelle Sprachinselforschung für Varietäten, die sich in Sprachenklaven erhalten haben, interessiert, wendet sich das Interesse an Diasporasituationen heute vermehrt multilingualen urbanen Räumen zu. Parallel zu den in den 1960er und 70er Jahren einsetzenden sozialen und politischen Bewegungen, wie der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung, kolonialismuskritischen und feministischen Bewegungen oder der Einforderung von Rechten für Regional- und Minderheitensprachen, hat sich Forschung zu mit Sprache verknüpften Ungleichheiten entwickelt, die mit Namen wie John Gumperz, William Labov, Dell Hymes oder Joshua Fishman verbunden ist. In Bezug auf Regional- und Minderheitensprachen eröffnete Fishmans (1964) Artikel Language Maintenance and Language Shift as a Field of Enquiry ein damals neues Feld. Er entwickelt darin das Konzept der Domänen von Sprachgebrauch und fasst das Forschungsprogramm in der Frage‚ wer mit wem und wann welche Sprache spricht. Um die damals im deutschsprachigen Raum rezipierten Wissenschaftsdiskurse nachzuzeichnen, bietet sich als Beispiel der von der Österreichischen Rektorenkonferenz (1989) herausgegebene Bericht Lage und Perspektiven der Volksgruppen in Österreich an. Entstanden ist er als Reaktion auf eine damals drohende Einschränkung des zweisprachigen (deutsch-slowenischen) Schulwesens in Kärnten. Übergeordnetes Thema ist auch in diesem Bericht die Frage nach Faktoren, die Spracherhalt und ‚Sprachvitalität‘ begünstigen beziehungsweise der Sprachverschiebung und dem ‚Sprachverfall‘ Vorschub leisten. Diskutiert wird, dem damaligen Forschungsstand entsprechend, ob sich individuelle Bilingualität positiv oder negativ auswirkt; ob eine
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kritische Masse an Sprechern und Sprecherinnen erforderlich ist, um eine günstige Prognose für den Spracherhalt stellen zu können; welche Folgen die Funktionsteilung zwischen der Minderheitensprache als gesprochener Haus- und Intimsprache und der Mehrheitssprache als Sprache der öffentlichen und schriftlichen Kommunikation hat; welche Folgen ein unvollständiger, ‚dysfunktionaler‘ Spracherwerb zeitigt; inwieweit häufiges code-switching Ausdruck sprachlicher Defizite ist; welche Auswirkungen eine starke dialektale Gliederung der Minderheitensprache hat. Mit Blick auf Sprachpraktiken der einzelnen Sprecher und Sprecherinnen werden Begriffe wie Sprachbewusstsein, Sprachloyalität, Selbstverachtung oder Selbsthass diskutiert. Ausgegangen wird im Bericht der Österreichischen Rektorenkonferenz von der Dichotomie Minderheits-/Mehrheitssprache, die das damalige Forschungsparadigma gekennzeichnet hat. Mit dieser dichotomen Sichtweise verbunden ist die Annahme, dass die Gruppe der Sprecher und Sprecherinnen einer Minderheitensprache als homogene Sprachgemeinschaft gedacht werden kann, eine Erwartung, die zugleich als Forderung nach Herstellung von Homogenität an die Sprecher und Sprecherinnen herangetragen wird. Hier setzt die Kritik an, dass mit der Homogenitätsannahme andere Formen von Benachteiligung ausgeblendet werden, insbesondere solche aufgrund von Klasse, Gender, sexueller Orientierung oder race. Jaffe (2012, 83) konstatiert im wissenschaftlichen wie im politischen Diskurs a movement away from static/essentialist models of identity and language towards process-oriented models of identification and communicative practice; an emphasis on linguistic repertoires rather than languages as fixed and bounded codes and a focus on the role those repertoires play within participatory frameworks of democratic practice in the public sphere.
Nicht Minderheitensprachen als Gegenstand stehen im Mittelpunkt der neueren Forschung, sondern das Interesse an Prozessen der Minorisierung, also daran, durch welche Machtmechanismen Sprecher und Sprecherinnen in einen untergeordneten Status versetzt und wie solche Herabsetzungen erfahren werden. Mit dem Repertoirekonzept werden sprachliche Praktiken und Positionierungen jenseits der Dichotomie Mehrheit/Minderheit erkundet. Dabei wird das Repertoire nicht einfach als eine Art Werkzeugkasten verstanden, sondern als heteroglossischer Möglichkeitsraum: Unterschiedliche Sprachen, Sprech- und Ausdrucksweisen treten einmal in den Vordergrund, dann wieder zurück, mischen sich oder verschränken sich zu etwas Neuem. Im sprachlichen Repertoire spiegelt sich das synchrone Nebeneinander unterschiedlicher sozialer Räume, an denen Sprecher und Sprecherinnen teilhaben, und es verweist diachron auf unterschiedliche Zeitebenen, rückwärts auf Momente, in denen es sich konstituiert und umgeformt hat, und nach vorne auf das, was bevorsteht und worauf man sich einstellt (Busch 2021).
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3.2 Spracherleben Wie in anderen Bereichen der Angewandten Sprachwissenschaft rückt auch in der Minderheitensprachforschung das Interesse an der Perspektive des erlebenden, sozial positionierten und sich situational positionierenden Subjekts verstärkt in den Vordergrund. Dieser Fokuswechsel stützt sich zum einen auf phänomenologische Zugänge, die Sprache primär als leibliche, intersubjektive Geste hin zum Anderen verstehen (Merleau-Ponty 1966), zum anderen auf poststrukturalistische Konzeptionen der Subjektwerdung in und durch Sprache, wie sie von Foucault (2007) und Butler (2006) vertreten werden. Um dem subjektiven Spracherleben nachzugehen, bieten sich in methodologischer Hinsicht biographisch bzw. (auto)ethnographisch orientierte Zugänge an. In jüngeren Arbeiten wird das Biographische weniger als ein auf Kontinuität und Konsistenz ausgerichtetes rekonstruktives Unternehmen verstanden denn als ein Verweis auf Brüche und Diskontinuitäten, die der Vorstellung eines linearen Lebensentwurfs und eines selbst-identen Subjekts entgegenstehen. Thematisiert werden solche Bruchstellen oft in Erzählungen von Momenten emotional gelebter Erfahrungen von othering entlang der Achsen von Selbst- und Fremdwahrnehmung, Zugehörigkeit oder Ausschluss, sprachlicher Macht oder Ohnmacht. Es handelt sich dabei häufig um Momente, in denen einem bewusst wird, dass das eigene sprachliche Repertoire nicht ‚passt‘ oder als nicht ‚passend‘ bewertet wird, also um Erfahrungen sprachlicher Minorisierung (Busch 2021). Zunächst waren es oft autobiographische bzw. autofiktionale literarische Texte, die herangezogen wurden, um die leiblich-emotionale Erlebensdimension solcher Erfahrungen auszuloten (Kramsch 2003). Als ebenso produktiv für die Erkundung der Erlebensperspektive in Kontexten sprachlicher Minorisierung erweist sich die Analyse biographisch orientierter Interviews, wie sie, um nur einige zu nennen, Tschernokoshewa (1999) für Sorbisch, Treichel (2004) für Walisisch, Betten (2010) für das Deutsch der zweiten Einwanderergeneration in Israel, Bernard/Moïse (2019) für Französisch in Kanada oder Thüne (2019) für das Spracherleben der im Zuge der Kindertransporte nach England gekommenen jüdischen Flüchtlinge durchgeführt haben. Auch eigenes Spracherleben wurde zum Gegenstand wissenschaftlicher Beschäftigung, wobei ein Impuls dafür nicht zuletzt von Derridas (1997) Essay Die Einsprachigkeit des Anderen ausging. So schreibt Boudreau (2016) darüber, wie sie die Stigmatisierung ihres akadischen Französisch als Sprachunsicherheit erlebt hat, eine Stigmatisierung, die in Hierarchien zwischen der Metropole Frankreich, dem regionalen Machtzentrum Québec und dem peripheren Nordosten Kanadas begründet ist. Choi (2017) setzt sich mit methodologischen Fragen der Autoethnographie auseinander, indem sie zwischen einem Narrativ in der ersten Person über ihren durch multiple Ortswechsel charakterisierten Lebenslauf und einer analytischen, sozialkritischen Argumentation wechselt. Beginnend mit ihrem Aufwachsen in einer koreanischen Einwandererfamilie in den USA kreist ihre Arbeit um Fragen sprachlicher Minorisierung, um Authentizität, Legitimität und Verkennung.
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Die (auto)biographisch und (auto)ethnographisch orientierte Forschung trägt dazu bei, dass anstelle der Konzepte von Identität oder multiplen Identitäten vermehrt die Frage tritt, wie sich Subjekte gegenüber anderen und der Welt positionieren bzw. wie sie positioniert werden. Je nach theoretisch-methodologischer Ausrichtung liegt das Augenmerk eher auf der situationalen Interaktion oder auf der Ebene von Sprachideologien. In seinem skalaren Modell, das zeigt, wie Interaktionspartner und -partnerinnen sich nicht nur zueinander positionieren, sondern auch gegenüber metasprachlichen und metapragmatischen Diskursen, die bestimmte Sprachen oder Sprechweisen mit bestimmten typisierten Personengruppen verknüpfen, führt Spitzmüller (2013) beide Perspektiven zusammen. Gerade in gesellschaftlichen Konstellationen, die durch ein hierarchisches Verhältnis Minderheit/Mehrheit gekennzeichnet sind, treten Sprachideologien und ihre formierende Wirkung auf das Subjekt deutlich zutage, wie Jaffe (2008, 57) in Bezug auf Korsika und Diskurse von language endangerment ausführt: „Discourses become constitutive frames for the lived experience of identity through language“.
3.3 Sozioökonomische Rahmenbedingungen Der Wandel im wissenschaftlichen Diskurs von Annahmen fixer Beziehungen zwischen Sprache, Territorium und Identität hin zum Blick auf sprachliche Praktiken und Prozesse der Positionierung spiegelt, wie Heller (2008) darlegt, fundamentale gesellschaftliche Umbauprozesse wider, die mit Begriffen wie Globalisierung, Mobilität, Superdiversität, Spätkapitalismus oder new economy nur unzulänglich gefasst werden. Heller arbeitet dieses Zusammenspiel am Beispiel von Französisch in Kanada heraus, insbesondere in jenen Regionen wie Ontario und New Brunswick, wo Französischsprachige in der Minderheit sind. Sie unterscheidet zwischen fallweise komplementären, fallweise rivalisierenden Diskurssträngen, einem traditionalistischen, einem modernistischen und einem postmodernen, die ihrerseits mit ruralen, industriellen und postindustriellen Gesellschaftsformationen verbunden sind. In letzterer werden Französischkenntnisse als Kompetenz und Ressource umgedeutet, die auf lokalen, nationalen und globalen Sprachmärkten als Expertise, Distinktionsgewinn und Authentizitätsmerkmal kapitalisiert werden können. Zu dieser Entwicklung, die unter dem Titel Kommodifizierung von Sprache gefasst wird, gibt es gerade im Bereich Minderheitensprachen eine umfangreiche Forschung, die sich unter anderem mit Sprach- und Kulturindustrie, Tourismus oder der Vermarktung lokaler Produkte beschäftigt. Nicht selten wurden im Zuge der Kommodifizierung Anstöße aus Jugendkulturen wie etwa dem Rap oder der Kommunikation in sozialen Medien aufgegriffen. Während in der frühen Linguistic-landscape-Forschung von der Sichtbarkeit von Minderheitensprachen auf deren Vitalität geschlossen wurde, so gilt das Interesse heute eher der Frage, wie im öffentlichen Raum Sprachenpolitiken verhandelt und mit welchen visuellen Mitteln Minderheitensprachen materiell erfahrbar gemacht werden (Gorter/Marten/
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Van Mensel 2019). Auch wenn Kommodifizierung oft als Chance für periphere Regionen sowie Sprecher und Sprecherinnen von Minderheitensprachen gewertet wird, so werden Fragen des legitimen Zugangs und der gerechten Verteilung von Ressourcen und Profiten dadurch nicht beantwortet (Pietikäinen/Kelly-Holmes/Rieder 2019). In den letzten Jahrzehnten hat ein Diskurs, der Multilingualismus und sprachliche Diversität in den Vordergrund rückt, die frühere Bilingualismus-Forschung abgelöst, die sich noch mit der Stigmatisierung und Pathologisierung von Zweisprachigkeit auseinandersetzen musste. Der Diskurs, der Multilingualismus als Wert an sich zelebriert, wird nun aber seinerseits einer kritischen Prüfung unterzogen, weil er die Gefahr birgt, soziale Ungleichheiten und Machtverhältnisse auszublenden (Duchêne 2020). Multilingualismus, so die Kritik, ist nur dann im Sinn von Distinktion, Produktivität und Kreativität kapitalisierbar, wenn es der ‚richtige‘ ist. Auf dem Sprachenmarkt anerkannt wird eine Form von Mehrsprachigkeit, die Standardvarietäten beinhaltet, situationsadäquat angereichert mit Elementen aus lokalen Varietäten, die als Authentizitätsverweise und Stilmittel fungieren. Dabei ist es erforderlich, kompetent und flexibel zwischen verschiedenen sozialen Räumen bzw. scales mit ihren unterschiedlichen Sprachregimen hin- und herwechseln zu können (Canagaradjah 2016). Die Verantwortung, sich diese Kompetenzen anzueignen, wird in der neoliberalen Gesellschaft dem oder der Einzelnen aufgebürdet. Einer solchen Elite-Mehrsprachigkeit steht eine andere, defizitär konnotierte, gegenüber, die Sprecher und Sprecherinnen mit abgewerteten Akzenten, Varietäten und ‚Mischungen‘ lokal und sozial fixiert. Sprachliche Diversität ist kein neutraler Begriff, sondern geht, wie Piller (2016) zeigt, mit sprachlicher Stratifizierung, Unterordnung und konkreten Benachteiligungen einher.
3.4 Heterogenität anerkennen Mit der Abkehr von einer dichotomen Gegenübersetzung Minderheit/Mehrheit geht auch die Kritik einher, Minderheitensprachen nach dem Modell von Staats- oder Nationalsprachen zu konzipieren. Konkreten Niederschlag findet diese Infragestellung in der Debatte um Modelle der Standardisierung minorisierter Sprachen, wie sie in einem von Lane/Costa/De Korne (2018) herausgegebenen Sammelband beispielsweise für Limburgisch, Scots oder Kven in Europa, Zapotec in Mexiko, isiXhosa in Südafrika oder Inuitsprachen in Kanada diskutiert werden. Standardisierungsprozesse, oft im Zusammenhang mit Revitalisierungsprojekten, finden in einem Spannungsfeld statt: Auf der einen Seite steht die Hoffnung auf eine Aufwertung, eine Statusverbesserung und eine Legitimierung von Forderungen nach Sprachenrechten, auf der anderen die Sorge um eine Einschränkung von Diversität und der damit verbundenen Abwertung lokal und sozial verorteter sprachlicher Praktiken. Diese Sorge kann sich als Angst vor einer doppelten Stigmatisierung gegenüber zwei Normsystemen äußern, denen man nicht zu genügen meint (De Korne 2021). Standardisierungsprojekte beruhen, wie Gal
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(2018) zeigt, auf Ideologien der Differenzierung, einem Metadiskurs von Vergleichen und hierarchischen Kontrasten, mit dem Vorstellungen von Sprecher- und Sprecherinnen-Typen konstruiert werden. In der aktuellen Soziolinguistik wird Standardisierung weniger als Implementierung eines Top-down-Projekts gesehen denn als ein von einer Vielzahl von Akteuren und Akteurinnen getragenes, fortschreitendes Projekt mit offenem Ausgang. Für Romani, die europäische Minderheitensprache mit der größten Zahl an Sprechern und Sprecherinnen, sind zwei parallele Prozesse zu beobachten. Einerseits wurde, um der Stigmatisierung entgegenzuwirken, in den 1990er Jahren der Versuch unternommen, basierend auf einem vom französischen Linguisten Courthiade entwickelten Schriftsystem einen internationalen Standard als allgemeingültige Norm durchzusetzen – ein Projekt, das unter den verstreut lebenden, an unterschiedliche Varietäten und Schriftsysteme gewöhnten Gruppen auf geringe Akzeptanz stieß. Parallel dazu findet, nicht zuletzt durch Sprachkontakte im urbanen Milieu und (schriftliche) Kommunikation in sozialen Medien, eine spontane De-facto-Annäherung von ‚unten‘ statt (Busch 2012). Mit Bezug auf Korsisch plädiert Jaffe (2008) im Sinne einer Polynomie, die unterschiedliche sprachliche Praktiken und Stile als gleichwertig anerkennt, für sprachliche Variabilität, die Raum lässt für Nichtstandardformen, regionale Dialekte, non-native Varietäten und Akzente oder die Verwendung von ‚Mischungen‘. Hinterfragt wird die Folie, auf der politische und wissenschaftliche Diskurse über Sprachminderheiten stillschweigend gedacht wurden: beispielsweise Katalanisch als ‚weiß‘ (Khan/Gallego Balsà 2021), Französisch in Akadien als der paternalistischen Rollenverteilung verpflichtet (LeBlanc 2019), Sami als heterosexuell (Bergman/Lindquist 2014). Ursprünglich aus der westeuropäischen Sprachminderheitenforschung stammend, hat sich der Begriff new speaker etabliert, um jene wachsende Zahl von Menschen zu bezeichnen, die wichtige Sprache(n) ihres täglichen Gebrauchs nicht in der primären Sozialisation erworben haben, sondern während der Schulzeit oder als Erwachsene (Soler/Darquennes 2019). Die Anerkennung, dass Lerner- und Lernerinnengruppen sprachlich heterogen zusammengesetzt sind, stellt das traditionelle Minderheitenschulwesen vor neue Herausforderungen. Da diesen Schulen Kompetenz im Umgang mit Mehrsprachigkeit zugeschrieben wird, werden sie auch für Schüler und Schülerinnen mit einem komplexen sprachlichen Repertoire attraktiv. Jaffe (2012) spricht in diesem Zusammenhang davon, dass sich die bilinguale Schule hin zu einer bi-plurilingualen Schule entwickelt. Um der Verbundenheit zu Minderheitensprachen jenseits von Sprachkompetenz- und Abstammungsnachweisen Rechnung zu tragen, gewinnen Konzepte von language reclamation und von metalinguistic communities an Bedeutung. Ersteres wird als ein Prozess der Eigendefinition und gemeinschaftlicher Selbstermächtigung gesehen, der nicht auf eine idealisierte monolinguale Norm abzielt, sondern sich an vielfältigen sprachlichen Praktiken orientiert und neue Sprecher und Sprecherinnen willkommen heißt (De Korne 2021). Der Begriff metalinguistic communities bezieht sich auf Situationen, in denen Menschen ihre Verbundenheit mit ei-
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ner minorisierten oder bedrohten Sprache (wie Jiddisch) nicht primär über den Gebrauch dieser Sprache als Träger semantischer Bedeutungen definieren, sondern die Sprache eher selbstreferenziell als symbolischen, ideologischen Marker einsetzen. Metalinguistic communities geht es darum, öffentliche Wertschätzung für die minorisierte Sprache einzufordern und affektive Verbundenheit mit der Vergangenheit zum Ausdruck zu bringen, um sich selbst in der Gegenwart zu verorten (Avineri/Harasta 2021).
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4. Soziales und Kulturelles in der Sprache Abstract: Sprache wird häufig als untrennbar verwoben mit und als Bestandteil von Gesellschaften und Kulturen verstanden. Dennoch haben die Sprachwissenschaften bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Sprache aus dieser Gemengelage als zentralen Gegenstand herausgetrennt und somit auch die Eigenständigkeit der Disziplin ermöglicht. Den in benachbarten geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen initiierten cultural turn adaptierend haben die Sprachwissenschaften bis zur Jahrtausendwende eine kulturelle Öffnung erfahren. In Reaktion auf die Writing-CultureDebatte sowie den postcolonial turn ist in den Sprachwissenschaften später ein Abrücken von Kulturbegriffen sowie eine Flucht in das fachinterne Paradigma der Mehrsprachigkeit zu beobachten. Spätere Weiterentwicklungen des Kulturbegriffs werden von den Sprachwissenschaften nur verhalten mitverfolgt, sollen hier aber hervorgehoben werden. Das Ringen um eine Inklusion von Sozialem und Kulturellem in die sprachwissenschaftliche Forschung und Theoriebildung ist auch ein Ringen um das (inter)disziplinäre Selbstverständnis des Fachgebiets. 1 2 3 4 5 6
Die künstliche Isolierung des Phänomens Sprache Ein Intermezzo sprachwissenschaftlicher Kulturbegeisterung Writing Culture und Postkolonialismus Neuorientierungen Versuch einer Positionsbestimmung Literatur
1 Die künstliche Isolierung des Phänomens Sprache Sprache und Sprechen werden häufig als „kulturelle Praktiken“ (Günthner 2013, 347) verstanden und Verständnisse von der „Sprachlichkeit von Kultur“ sowie der „Kulturalität von Sprache“ (Linke 2015, 24) deuten auf eine konzeptionelle Untrennbarkeit von Sprache gegenüber Sozialem und Kulturellem hin. „Kultur ist Kommunikation“ (Hall 1959, 94) erwuchs schon früh zum Credo einer sich interdisziplinär verstehenden Erforschung interkultureller Kommunikation. Dennoch stellt eine Operationalisierung und Integration von Sozialem und Kulturellem in die Sprachwissenschaften bis heute eine epistemologisch begründete Herausforderung dar, der insbesondere zunächst seit dem cultural turn und später in Reaktion auf die Writing-Culture-Debatte auf sehr unterschiedliche Weise begegnet worden ist. Der vorliegende Beitrag zeichnet diese Entwicklung nach. Dabei wird beschrieben, mit welchen Strategien Kulturbegriffe auf welche Weise so modifiziert werden, dass sie sich in bestimmte sprachwissenschaftliche Modelle einpassen lassen können sollen. Kultur und die ihr unterstellten Effekte können entsprechend ganz unterschiedlich konzipiert sein, was die Annahme bestähttps://doi.org/10.1515/9783110623444-004
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tigt, dass Kulturverständnisse nicht nur im Alltagsleben, sondern auch in ihrer wissenschaftlichen Operationalisierung kulturell geprägt und kultureller Diversität und kulturellem Wandel unterworfen sind (Földes 2007, 24). Abschließend wird nach Motiven für epochale Hin- und wieder Abwendungen der Sprachwissenschaften gegenüber Aspekten von Kultur gesucht. Sprache, Kultur und Soziales werden dabei als deliberative Begriffskategorien verstanden, die in einem institutionalisierten, an Disziplinen orientierten und mit Machtstrukturen durchzogenen Wissenschaftsbetrieb einer stetigen Verhandlung unterliegen.
1.1 Die Isolierung der Sprachwissenschaft Konrad Ehlich zufolge haben erst die europäischen Wissenschaften, basierend auf einem Interesse an trennscharfen Begriffen, die Verständnisse von Sprache und Kultur ihren Alltagsbedeutungen entnommen und zu trennbaren Konzepten transformiert, die jedoch dadurch an Beschreibungsadäquatheit eingebüßt haben (Ehlich 2006, 52). Ehlich spricht von einem in Europa seit der Antike vorherrschenden, kanonischen Sprachverständnis, nach dem sich Völker gegeneinander durch unterschiedliche Sprachen abgrenzten. Mit etabliert wird dabei der Trugschluss einer Existenz klarer Grenzen, sprachlicher Homogenität sowie flächendeckender Einsprachigkeit (ebd., 54). Das ab der frühen Neuzeit aufkommende Kulturkonzept reiht sich in dieses kanonische Vorverständnis ein und führt es – vielfach bis heute – fort. Die imperialistischen Ideen eines ethnozentrischen Europas führten dazu, dass Sprache und Kultur als singuläres Überlegenheitsmerkmal konstruiert werden konnten. Nur diese ideologischen Scheuklappen konnten überhaupt dazu führen, dass sich die Sprachwissenschaft und ihr Verhältnis zu Kultur maximal von der Lebenswirklichkeit einer vielsprachigen und vielkulturellen Welt entfernt und isoliert haben. Es kommt zu einer Biologisierung von Sprache und einer Materialisierung von Kultur, auf die auch erste Ansätze in Anthropologie und Volkskunde zunächst aufbauen mussten (ebd., 56 ff.).
1.2 Strukturalismus nach de Saussure Die Ferdinand de Saussure zugeschriebenen und als Wendepunkt in der Sprachwissenschaft verstandenen Arbeiten (de Saussure u. a. 1931) können zunächst als Kritik an den Junggrammatikern und deren Verständnis von Sprache als einem Produkt aus menschlicher Physiologie und Psychologie verstanden werden. Sprache sollte stattdessen als eine eigenständige und inhärent schlüssige Struktur aufgefasst und beschrieben werden. Nicht zuletzt mit de Saussures Verständnis der langue und den für ihre Beschreibung ausgewiesenen Betrachtungsweisen der syntagmatischen und der paradigmatischen Anordnung sowie der Abgrenzung der langue gegenüber der parole wurde das Interesse an Sprache als einem eigenständigen System noch weiter ver
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stärkt. Auch die zeichentheoretische Klarstellung der Arbitrarität zwischen signifiant und signifié untermauerte die Isolierung des Phänomens Sprache (Auer 2013, 31 ff.). Den Strukturalismus de Saussures beschreibt Ehlich als Vertreibung der Kultur aus dem wissenschaftlichen Verständnis von Sprache. Die Wende und eine Rehabilitierung von Kultur im Anschluss an diesen Strukturalismus wurde vor allem außerhalb der Disziplin der Linguistik, in geisteswissenschaftlichen Nachbarfächern, angestoßen (Ehlich 2006, 60). Erst nachdem Noam Chomsky die strukturalistischen und isolationistischen Ideen im sprachwissenschaftlichen Strukturalismus auf die Spitze getrieben hatte, setzte aufbauend auf ersten Hinweisen auf den Handlungsaspekt von Sprache, wie beispielsweise bei Karl Bühler, eine Rückführung des Phänomens Sprache in ihre sozialen Zusammenhänge ein (Auer 2013, 34 ff.).
2 Ein Intermezzo sprachwissenschaftlicher Kulturbegeisterung 2.1 Der cultural turn und sein Widerhall Der cultural turn und nicht zuletzt zuvor bereits der interpretive turn (BachmannMedick 2006) in den Geistes- und Sozialwissenschaften nehmen ihren Ausgang in einer verstärkten Rezeption sprachwissenschaftlicher Ansätze, insbesondere der Einsichten in die Arbitrarität von Zeichen im Sinne der Semiotik. Debatten um die SapirWhorf-Hypothese stellten die epistemologische Integrität der gesamten Academia in Frage, doch erst nach der Übernahme dieser relativierenden Reflektionen durch die Philosophie, die Ethnologie und später die Anthropologie beginnt auch die Linguistik über die Rolle von Sprache für die menschliche Erschließung von Welt und Kultur nachzudenken. Dass Kultur überhaupt durch die Sprachwissenschaften untersucht werden kann, setzt umgekehrt voraus, dass eine zunächst interdisziplinäre Kulturforschung den Kulturbegriff auf eine Weise konstruiert und operationalisiert, der die Mikro-Ebene sozialer Interaktion als Ort der Genese und Manifestation von Kultur identifiziert und festlegt (Asante/Gudykunst 1989, 10).
2.2 Linguistische Pragmatik als Kontaktpunkt für Kultur Einen Einbezug von Kultur in die sprachwissenschaftliche Forschung eröffnete in breiterem Ausmaß der Aufwuchs der Subdisziplin der Pragmatik. Auch wenn es hier zentral um den Einbezug von Kontext und kontextbezogenem Wissen in das Sprachverstehen geht, wird jedoch nie eine direkte Brücke zwischen Sprache und Kultur als Kontext geschlagen. Stattdessen konzentriert sich die Pragmatik auf die Beziehung
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zwischen Zeichen und Zeicheninterpretanten als kognitiven Prozess (Verschueren 1995, 2), wobei der vermeintliche kulturelle Kontext höchstens vom Interpretanten imaginiert und als Wissen mit eingebracht wird. Erst interdisziplinäre Weiterentwicklungen fokussierten später den Handlungscharakter von Sprache, beriefen sich hier also quasi auf die Grundlagen der Sprechakttheorie und versuchten diese mit Methoden der Gesprächsanalyse, der Sprechaktanalyse oder auch der linguistischen Anthropologie empirisch sozialforschend zu belegen (Auer 2013, 17).
2.3 Kultur in der Sprache als Werte vs. als Wissen Mit dem Umweg über die Interpretanten erscheinen mögliche Integrationen von Kultur in sprachwissenschaftliche Modelle von Beginn an als dynamisch angelegt; Kultur emergiert immer erst im konkreten Kommunikationsprozess. Die Operationalisierung von Kulturen als Werten vs. als Wissen erscheint insbesondere für eine Nachzeichnung der Problematik einer Integration von Kultur in eine sprachwissenschaftliche Forschung als besonders fruchtbar und soll im Folgenden detaillierter diskutiert werden. Bolten sieht eine Operationalisierung von Kulturen als Wissen vs. als Werten in unterschiedlichen Paradigmen und Schulen verortet, durch die auch der jeweils unterstellte Einfluss von Kultur auf die Interaktion ganz unterschiedlich modelliert wird. Während die anglo-amerikanische sprachwissenschaftliche Forschung zur interkulturellen Kommunikation dazu tendierte, Kulturalität und Kulturspezifik als unterschiedliche und spezifische Formen von Wissen zu definieren (Bolten 2007, 187), orientierte sich die deutschsprachige Forschung zur interkulturellen Wirtschaftskommunikation in ihren frühen Jahren primär an Ansätzen, die Kulturen in Form unterschiedlicher Normen und Werte konzipierten, die auf einer versteckten Ebene unterhalb der geschriebenen und gesprochenen Sprache lagerten und wirkten (ebd., 183). Dass der Einfluss von Kultur auf sprachliche Kommunikation über lange Zeit dominierend im Sinne von Kultur als einem spezifischen Wissen gleichgesetzt wurde, führt Haas auf die Dominanz der US-amerikanischen Disziplin der Speech Communication zurück. In ihr seien die Wurzeln für ein Verständnis zu finden, nach dem auch interkulturelle Kommunikation prinzipiell im Sinne eines einfachen Sender-Empfänger-Modells verstanden werde, das lediglich noch um den Faktor Kultur erweitert werde. Kultur und kulturelles versprachlichtes Wissen beeinflussen aus dieser Sicht vor allem das Wahrnehmen der Menschen: Sie sehen und nehmen wahr, was sie auf der Grundlage ihres kulturspezifischen Wissens tendenziell bereits kennen. Anhänger der Sapir-Whorf-Hypothese, die stärkeren Einfluss auf Beschreibungsansätze aus dem Bereich der Kulturanthropologie hatte, verstehen demgegenüber Kultur und ihre Kategorisierungen auch als etwas, das nicht nur das Wahrnehmen des Menschen, sondern auch sein Denken beeinflusst. Um solche Verständnisse operationalisieren und beschreiben zu können, werden vielfach Metaphorisierungen von Kulturen als spezifischen Werten und Wertmustern verwendet (Haas 2009, 64 f.).
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2.4 Kulturen als kognitiv verinnerlichte Werte Bond/Zegarac/Spencer-Oatey (2000) merken kritisch an, dass es mit einem sprachwissenschaftlichen Theorierahmen und den darin zur Verfügung stehenden empirischen Mitteln zur Analyse schwierig ist, kulturelle Werte zu identifizieren. Es ist demnach völlig unklar, wie sich diese Werte in der Kommunikation manifestieren sollen, es sei denn, Individuen thematisieren diese Werte explizit. Diese Problematik sehen die Autoren auch darin begründet, dass Werte eigentlich etwas sind, was Individuen verinnerlichen können, aber nicht ganze Kulturen. Dass dennoch zahlreiche Studien aus Sicht dieser Herangehensweise verfasst worden sind, führen die Autoren auf die hohe Anzahl prominenter Arbeiten aus dem Bereich der Sozialpsychologie zu kulturellen Werten zurück, zu denen nicht zuletzt auch Hofstedes (1980) Studie zu zählen ist (Bond/Zegarac/Spencer-Oatey 2000, 53). Sprachwissenschaftlichen Arbeiten, die Kulturen als Werte operationalisieren und integrieren, geht es häufig darum, die kulturelle Relativität von zuvor als kulturunabhängig oder kulturuniversalen Annahmen in pragmatischen Modellen, die meist der analytischen Sprachphilosophie entspringen, zu belegen.
2.4.1 Interaktionale Pragmatik Clyne (1994) legt eine empirische Arbeit vor, in der auf exemplarische Weise die kulturellen Wertedimensionen Hofstedes (1980) mit sprachlicher Kommunikation verknüpft werden, um auf diese Weise kulturelle Differenzen aufdecken zu können. Clyne greift den Begriff der Sprachbünde aus der Prager Schule auf und begründet parallel dazu einen Begriff der Kommunikationsbünde, dem zufolge sprachenübergreifende Wertegemeinschaften im Sinne von Hofstede gemeint sein sollen – die jedoch gleichzeitig auch ähnliche Strategien der Manifestation dieser Werte in ihren jeweils unterschiedlichen Sprachen entwickelt haben (Clyne 1994, 177). Clyne versucht in der Folge, kulturelle Wertorientierungen aus sprachlichen Äußerungen direkt herauszulesen. Der sprachwissenschaftliche Beitrag Clynes besteht in einer Relativierung der zuvor als universal angesehenen Konversationsmaximen nach Grice (1975).
2.4.2 Interkulturelle Pragmatik Neben der stärker interaktionalen Ausrichtung der intercultural pragmatics gegenüber den cross-cultural pragmatics relativiert erstere außerdem die positive und prominente Heraushebung von Kultur als Erklärungsvariable für interkulturelle Kontaktsituationen. So waren Vertreter der cross-cultural pragmatics bewertend von einem naiven Ideal des permanenten und ungebrochenen Verständigungswillens aller Interaktanten ausgegangen. Vertreter der intercultural pragmatics sehen neben kulturspe-
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zifischem Wissen vor allem emotional motivierte Haltungen und Orientierungen der Akteure als maßgeblich für die Gestaltung konkreter Situationen. Anstelle von permanenter Kooperation, leicht erschließbarem Kontext, knüpfbaren Beziehungen und allseitiger Höflichkeit müsse auch mit chaotischen, konfliktorientierten und experimentellen Handlungsformen gerechnet werden (Kecskes 2016, 407). Entgegen einer kritischen Haltung der Diskurstheorie, nach der Kontexte den Handlungsspielraum von Akteuren weitgehend vorgeben, verstehen Vertreter der intercultural pragmatics die Handelnden als frei entscheidende und gestaltende Subjekte. Diese greifen bei ihren Orientierungen und Handlungsentscheidungen auf ihr kulturspezifisches Wissen zurück und entscheiden in der Situation, wie sie dieses Wissen einbringen und inwieweit sie sich auf eine Neugestaltung der Situation im Sinne von kulturellen Vermischungen und Synergien einlassen (ebd.). Die Operationalisierung kultureller Normen durch sprachwissenschaftliche Verfahren konnte nicht annähernd in dem Maße vorangetrieben und ausdifferenziert werden, wie es im Hinblick auf Konzepte von Kulturen als Wissen der Fall war. Gründe hierfür mögen in der ohnehin traditionell stärker kognitiv ausgerichteten sprachwissenschaftlichen Forschung liegen, die sich von diesem Paradigma trotz der vielen emanzipatorischen Versuche, die mit der Einführung der Pragmatik und später einer kulturrelativen Perspektive einhergingen, nicht lösen konnte. Wierzbicka (2006) hatte mit dem Konzept der kulturellen Scripts, die auf kulturellen Normen aufbauten und mit Hilfe der natural semantic metalanguage kultur- und sprachenübergreifend erklärbar und nachvollziehbar gemacht werden sollten, einen Ansatz begründet, der die Annahme kultureller Werte mit deren Umsetzung in die Sprache mittels kulturellen Wissens verknüpfte. Diese Verknüpfung ist mit Herausforderungen verbunden: Wie sollen Werte im Sprechen und Handeln identifiziert werden können, solange sie nicht von den Sprechern selbst explizit verbalisiert werden, was letztlich nur in den wenigsten Fällen geschieht? Wierzbicka operationalisiert daher den sprachlichen Umgang mit Werten als eine Form von Wissen: Kulturelle Skripts beinhalten verinnerlichte Anweisungen dazu, wie sprachliche Interaktion so gestaltet werden kann, dass kulturelle Normen berücksichtigt und interpersonale Beziehungen somit nicht geschädigt, sondern gepflegt werden können.
2.5 Kulturen als (Kontext-)Wissen 2.5.1 Kontrastive Pragmatik Die internationale Disziplin der cross-cultural pragmatics firmierte im deutschsprachigen Raum eher als kontrastive Pragmatik. Kultur beeinflusst sprachliche Interaktion nach diesem Ansatz in Form eines (kultur-)spezifischen Wissensvorrats. Für die sprachliche Interaktion von besonderer Relevanz sind in diesem Wissensvorrat vor
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allem Regeln dazu, wie bestimmte sprachliche Handlungen zu kommunizieren sind (Kecskes 2016, 402).
2.5.2 Pragmalinguistik vs. Soziopragmatik Mit dem Begriff der Pragmalinguistik bezeichnete man die Fortführung der bisherigen pragmatischen Forschung, die sich auf die Untersuchung kommunikativer Handlungen in interpersonalen Kontexten konzentriert hatte. Eine Beschäftigung mit Aspekten der Soziopragmatik implizierte demgegenüber die Annahme, dass kontextspezifische Aspekte nicht nur situativ, sondern durchaus auch sozial und kulturell konstruiert und damit teilweise standardisiert und konventionalisiert zum Tragen kommen können. Entsprechend sind Kontexte nicht nur situationsspezifisch, sondern auch kulturspezifisch, was in der Folge bedeuten musste, dass die Pragmatik keine kulturuniversalen Regeln identifizieren konnte, sondern dass grundsätzlich von kulturell unterschiedlichen und spezifischen Formen der sprachlichen Umsetzung sozialen Handelns ausgegangen werden musste (Kecskes 2016, 404). Mit der Rolle von (fehlendem) Kulturwissen und einem möglichen, dadurch ausgelösten sociopragmatic failure argumentierte Thomas (1983) für die kulturelle Relativität der Konversationsmaximen nach Leech (1983). Blum-Kulka/Olshtain (1984) relativierten das kulturuniversal angelegte Konzept zur Beschreibung sprachlicher Höflichkeit durch direkte vs. indirekte Strategien nach Brown/Levinson (1987).
2.5.3 Ethnographie der Kommunikation: text in context Die Ethnographie der Kommunikation nach Hymes (1979, 39) bemüht sich ebenfalls um eine Einbettung sprachlicher Kommunikation in einen (kulturellen) Kontext. Dabei verfolgt sie jedoch zunächst ein kognitionstheoretisches Interesse und fragt danach, inwieweit Sprache mit menschlicher Kognition verknüpft ist: Ist Sprache überhaupt gedanklich hintergehbar? Und wie sehr formt Sprache unser Denken? Die Ethnographie der Kommunikation bleibt jedoch bei der Trias aus Kognition, Sprache und Kontext. Es geht ihr nicht um eine (linguistische) Kulturforschung, sondern um eine Präzisierung der Beschreibung des Sprachgebrauchs. In ihm sollen Regelmäßigkeiten aufgespürt werden und auf diese Weise eine Systematik menschlicher Interaktion erstellt werden. Die Ebenen der Sprachbeschreibung erweiternd führt Hymes die Kategorie der Sprechmuster sowie das Prinzip der Sprechökonomie als Nullform ein (ebd., 40), gegenüber der jeder Abweichung kontextbezogen eine bedeutungstragende Funktion zukomme (ebd., 47).
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2.5.4 Interaktionale Soziolinguistik: talk in interaction Ähnlich wie die Ethnographie der Kommunikation versteht auch die interaktionale Soziolinguistik Sprache und Handeln als untrennbar verbunden. Verstehen und Verständigung werden jedoch nicht nur qua Referenz auf einen gemeinsamen Kontext, sondern vor allem durch interaktive Aushandlung zwischen beteiligten Akteuren hergestellt (talk in interaction). Sprache und Sprechen werden dabei vor allem als kulturelle Praktiken verstanden, mit denen Menschen soziale Handlungen durchführen. Diese Praktiken sind meist stark ritualisiert, so dass auch hier wieder kulturspezifisches Wissen zum Zuge kommt. Gumperz (1982) untersuchte auf dieser Grundlage Gespräche zwischen Sprechern unterschiedlicher kultureller Hintergründe in institutionellen Kontexten und zeigte, dass in modernen Gesellschaften unterschiedliche Kommunikationstraditionen mit kulturell divergierenden Kontextualisierungskonventionen aufeinandertreffen (in der Folge vgl. z. B. auch Auer/Di Luzio 1992).
2.5.5 Funktionale Pragmatik Auch die funktionale Pragmatik in ihrer Anwendung auf Forschungsfelder interkultureller Kommunikation vor allem durch Konrad Ehlich und Jochen Rehbein (vgl. z. B. 1985) integriert Kultur in sprachwissenschaftliche Modelle qua Operationalisierung als Kontext. Letzterem wird aber eine deutlich stärkere strukturierende und wirklichkeitsgenerierende Rolle zugeschrieben als von Seiten der zuvor genannten Schulen. An die Stelle konstruktivistisch motivierter Gestaltungsfreiräume treten Strukturen und Prozesse der Produktion und der Reproduktion sozialer Wirklichkeit, durch die das Lebensumfeld des Menschen determiniert wird (Ehlich 1996, 184). Im sprachlichen Handeln treten Ehlich zufolge Handlungszwecke als Muster in Erscheinung, die jedoch nur scheinbar kultur- und kontextuniversal sind (ebd., 188). Unter Mustern verstehen Ehlich und Rehbein tieferliegende Kategorien, die erst auf unterschiedliche Weise sprachlich realisiert werden müssen. Entsprechend können Muster in der Analyse auch nur qua Interpretation erschlossen werden (ebd.). Interkulturelle Kontexte sind durch Wissensasymmetrien seitens der Sprecher über diese Muster gekennzeichnet, wodurch Machtungleichgewichte entstehen (Rehbein 1985, 19). Kommunikative Strategien im Umgang mit dieser Wissensverteilung fasst Rehbein später unter dem Begriff des kulturellen Apparats zusammen (Rehbein 2006).
2.6 Wem gehört die Kulturgrammatik? Neben unterschiedlichen metaphorischen Fassungen von Kultur und den damit verbundenen Versuchen einer Integration von Kultur in die sprachwissenschaftliche For-
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schung finden sich zahlreiche Versuche, Kultur selbst als eine grammatische Kategorie zu etablieren. So argumentierte bereits Edward T. Hall, dass die kulturelle Ordnung von Interaktion nicht nur einer Sprache ähnlich, sondern letztlich eine Sprache sei (Murray 2010, 220): There is an underlying, hidden level of culture that is highly patterned – a set of unspoken, implicit rules of behavior and thought that controls everything we do. This hidden cultural grammar defines the way in which people view the world, determines their values, and establishes the basic tempo and rhythms of life. (Hall 1983, 6)
Moosmüller erscheint der Anspruch auf eine Kulturgrammatik methodisch kaum einzulösen zu sein, denn er würde aus ethnologischer Sicht erfordern, dass jedwede Situation einzeln auf die Gültigkeit der in einer Kulturgrammatik aufgestellten Regeln überprüft werden müsste (1997, 184 ff.). Theoretisch verankert war dieses Anliegen innerhalb der sich auch im Anschluss entwickelnden kognitiven Anthropologie, die von einer vergleichsweise unmittelbaren Beschreibbarkeit von Kulturalität ausging, die von der Kulturanthropologie aber zugunsten stärker interpretativer Ansätze zunehmend verworfen wurde und mit deren Ablösung somit auch die Argumentationen um die Möglichkeit einer Kulturgrammatik immer mehr ausgehöhlt wurden (Moosmüller 1997). Dennoch können die minutiösen Beschreibungs- und Erfassungsversuche der Ethnographie der Kommunikation, der interaktionalen Soziolinguistik und der funktionalen Pragmatik in der Tradition dieses Anliegens gesehen werden (Murray 2010, 220). Adrian Holliday (2013) greift die Idee einer grammar of culture auf und umgeht die damit verbundene Herausforderung präziser Interaktionsbeschreibung, indem er die Regeln seiner Kulturgrammatik möglichst allgemein formuliert und in diese Regeln den interpretativen Weltzugang der Akteure bereits mit einbaut: Letztere sollten im interkulturellen Kontakt entsprechende Barrieren und Chancen (blocks and threads) identifizieren.
2.7 Kulturforschung verlangt nach Transdiziplinarität Bolten (2007, 178 f.) zufolge mehrten sich zu Beginn der 1990er Jahre Forderungen nach einer Herauslösung der Erforschung interkultureller Kommunikation aus rein linguistischen Modellen, um einen ganzheitlichen sozialwissenschaftlichen Ansatz zu entwickeln, der erst dem Gegenstand gerecht werden könnte. Für Bolten haben die Nachbardisziplinen diese Einladung in den Folgejahren eventuell sogar etwas weitreichender angenommen als zunächst erhofft, so dass die sprachwissenschaftliche Erforschung interkultureller Kommunikation sich dem Stillstand näherte. Verstärkt wird diese Abwanderung Müller-Jacquier (2010, 1418) zufolge durch das Insistieren der Sprachwissenschaften, hier insbesondere der interkulturellen Germanistik, auf Beiträgen zur eigenen und internen Theoriebildung.
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3 Writing Culture und Postkolonialismus Der den Sprachwissenschaften abhandengekommene Kulturbegriff wurde in Nachbardisziplinen wie der Kulturanthropologie radikal umgekrempelt. Im Rahmen der Writing-Culture-Debatte wurde klargestellt, dass Kultur durch das (wissenschaftliche) Schreiben über sie erst konstruiert und in ihrer unreflektierten Essentialität auch noch zementiert würde (Clifford/Marcuse 1986). Konsequent wurde nun alles getan, um sich aus diesem Kreisschluss zu erheben, wobei postkoloniale Denkrichtungen sich mit dem Paradigma der Machtkritik als höherstehende und reflektierende Perspektive über Kultur anboten. Insbesondere in der Diskursforschung um interkulturelle Kommunikation sowie unter einzelnen Vertretern in der Fremdsprachendidaktik wurde anschließend dafür plädiert, alle essentialistischen Verständnisse von Kultur radikal hinter sich zu lassen und Kultur ausschließlich als diskursives Konstrukt zu verstehen, das nur in Machtdiskursen überhaupt eine Rolle spiele und dort strategisch instrumentalisiert werde. Scollon und Wong Scollon (1997, 116) hatten diese Orientierungen bereits früh einem implizit sehr dominierenden utilitaristischen Diskurs zugeschrieben. Adrian Holliday eröffnet gleichsam ein Rennen um die De-Essentialisierung von Kultur und wirft Mitstreitern vor, konstruktivistische Paradigmata zwar für sich zu beanspruchen, Essentialismen in ihren Publikationen durch Hintertüren jedoch immer wieder hereinzulassen, was Holliday als Neo-Essentialismus und später als Post-Positivismus (Holliday/ MacDonald 2019) bezeichnet.
3.1 Reaktion: Rückgang linguistischer Kulturforschung Auf die Versuche einer Integration von Kulturverständnissen in die sprachwissenschaftliche Forschung bzw. einer Öffnung der Sprachwissenschaften für Aspekte von Kultur haben diese Debatten eine erhebliche zügelnde Wirkung. Arbeiten, die sich um eine Operationalisierung und Integration von Kultur in ein sprachwissenschaftliches Forschungskonzept bemühen, sind in der Folge auf die einsetzende Kritik an essentialisierenden Paradigmen schlicht zahlenmäßig stark zurückgegangen (Meyer/Roeder 2015, 111). Földes bestätigt, „dass in der Konzeptualisierung und Explizierung von IKK die Linguistik kaum eine substantielle Rolle spielt“ (2007, 14).
3.2 Dennoch Festhalten an alten Kulturverständnissen Die Thematisierung von Kultur gerät zunehmend in Verruf, nicht zuletzt wahrscheinlich deshalb, weil diejenigen Publikationen, die weiterhin noch zumindest als thematisch relevant identifiziert werden, ausgerechnet diejenigen Kulturverständnisse aus Nachbardisziplinen fortführen, die im interdisziplinären Diskurs um Kultur doch
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schon als überkommen gelten, und somit nur die bereits bestehenden Vorbehalte gegenüber kulturalisierenden Paradigmen zusätzlich bestätigen. Meyer/Roeder (2015, 111) weisen darauf hin, dass allein schon Forschungssettings, die danach ausgewählt würden, dass Sprecher aus zwei verschiedenen nationalen Hintergründen aufeinandertreffen, bereits in ihrer Anlage den essentialistisch gedachten Kulturkontrast reproduzierten und diesen dann auch selbst bei höchster anschließender konstruktivistischer Selbstverpflichtung nicht mehr überwinden könnten. Einer ähnlichen Problematik unterliegt das jüngere Anliegen, den schwierigen Umgang mit dem Kulturbegriff durch einen paradigmatischen Rückzug auf den allgemeinen beziehungskonstituierenden Aspekt von Sprache in den Griff zu bekommen bzw. zu umgehen (Linke/Schröter 2017). Winkler (2018, 437) bemängelt jedoch, dass in den Beiträgen in Linke/Schröter (2017) die Relation zwischen Sprache und Beziehung in ähnlicher Form angegangen werde wie die Relation zwischen Sprache und Kultur in früheren Arbeiten. Einen Grund hierfür sieht Winkler (2018, 437) vor allem in einem auch hier wieder a priori definierten Verständnis von Beziehungen anstelle einer paradigmatischen Öffnung der Sprachwissenschaften für potentiell konstruktive und integrierende Konzepte aus Nachbardisziplinen. Ähnlich wie zuvor die Relation zwischen Sprache und Kultur wird somit die Relation zwischen Sprache und (zwischenmenschlicher) Beziehung gestaltet: Sprache und Beziehung sind untrennbar miteinander verknüpft und, mehr noch, jeder der beiden Begriffe inkorporiert gleichsam immer auch den anderen. Entsprechend können auf dieser Grundlage auch nur bestenfalls kulturkontrastive Arbeiten entstehen, die sich wiederum der oben genannten Kritik stellen müssen. Eine ähnliche Rückzugsstrategie auf sicheres linguistisch-intradisziplinäres Terrain wird durch eine Verschwenkung von ursprünglich als kulturwissenschaftlich operationalisierten Phänomenen auf das Paradigma der Mehrsprachigkeit vollzogen.
4 Neuorientierungen Wenn ein Rückgang sprachwissenschaftlicher Beschäftigung mit interkultureller Kommunikation seit der Jahrtausendwende beklagt wird, dann werden als Beispiele für diejenigen sehr wenigen Arbeiten, die doch noch zur interkulturellen Kommunikation vorliegen, meist ausschließlich solche Arbeiten angeführt, die in der Tat noch früheren essentialisierenden Kulturverständnissen folgen. Im folgenden Abschnitt werden demgegenüber einige Optionen für Neuorientierungen vorgestellt. Dabei werden alternative Verständnisse von Kultur erprobt, die sich nicht der Kritik der Essentialisierung aussetzen.
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4.1 Transzendierungen des Mehrsprachigkeitsparadigmas Auer schlägt mit dem Konzept des translanguaging vor, selbst das Verständnis von Mehrsprachigkeit aufzulösen. Mehrsprachigkeit assoziiert die Vorstellung voneinander distinkter und isolierter Sprachen. Methoden der Fremdsprachendidaktik knüpfen daran an und trennen streng zwischen Ausgangs- und Zielsprache. Auer plädiert dagegen am Beispiel des Fremdsprachenunterrichts für die Produktivität und Förderlichkeit eines fließenden Übergangs, bei dem Lerner im Lernprozess Ausgangs- und Zielsprache zugleich verwenden und vermischen dürfen. Auer sieht in der Konstruktivität dieses Konzepts eine Inadäquatheit des Verständnisses von Mehrsprachigkeit, das von einer nicht existierenden Isolation von Einzelsprachen für die Sprecher ausgeht (Auer im Druck, 2).
4.2 Stärkung des Kulturparadigmas durch Auslagerung Für eine Entwicklung kulturtheoretisch akzeptabler Kulturverständnisse für die Sprachwissenschaften reicht es nicht aus, Kultur als möglichst dynamisch und individuell konstruiert zu begreifen. Nicht nur Metaphern wie die von der Kultur als Text (über den Köpfen der Menschen), sondern auch die kognitiv-anthropologisch orientierte Metapher von der Kultur im Kopf (Günthner/Linke 2006, 16 f.) sind letztlich essentialisierende Vorstellungen von Kultur, bei denen der Forscher schon a priori zu wissen glaubt, was Kultur ist, woran man sie erkennen kann und wo man nach ihr suchen muss. Kulturtheoretische Ansätze werden stattdessen eine radikal heuristisch offene Haltung gegenüber der Frage nach der Beschaffenheit von Kultur einnehmen müssen, wenn sie sich dem alten Essentialismus-Vorwurf aus der Writing-Culture-Debatte entziehen wollen. In einem sozialwissenschaftlichen Paradigma, das die soziale Welt und die Forschung grundsätzlich als kommunikativ und interpretativ verfasst versteht, ist eine solche Offenheit nur möglich, indem man die Frage nach der Kulturdefinition in die Hände der beobachteten Akteure legt. Auch die Sprachwissenschaften halten hier einige Ansätze vor, die mit diesen kulturtheoretischen Bedingungen nicht nur mithalten können, sondern die dank ihres präzisen sprachbeschreibenden Instrumentariums den möglicherweise einzigen Weg zu einer angemessenen Erfassung von individuellen Kulturkonstruktionen im sozialen Diskurs vorhalten. Dem Essentialismusvorwurf entgehen können außerdem nur Konzepte, die eine bislang oft unterstellte Funktion, Wirkweise oder Rolle von Kultur nicht selbst verfolgen, sondern die für die Bearbeitung dieser Frage bestenfalls eine Strategie zur Auslagerung dieses Problems finden. Wichtig ist bei dieser Auslagerung eine konzeptionelle Gewährleistung dafür, dass Kultur – wenn sie auch nicht unmittelbar auf den Menschen wirkt – doch in irgendeiner Form eine mittelbare Relevanz für das Leben der Menschen hat. Diese mittelbare Relevanz muss methodisch nachvollziehbar sein. So konzipiert beispielsweise Metten (2014) eine kulturwissenschaftliche Linguistik,
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in der Kultur – wenngleich von Metten nicht zentral explizit thematisiert – letztlich als Form der Mediatisierung verstanden werden kann, die für einen interpersonalen Verständigungsprozess erforderlich ist. Im gegenwärtigen sprachwissenschaftlichen Spektrum häufig vertreten ist darüber hinaus die Möglichkeit, Kultur als Diskursgegenstand zu konzipieren.
4.2.1 Linguistic anthropology: Konstruktion von Identität Aus Sicht der linguistic anthropology, die Günthner (2013, 348) im Sinne der Sprachwissenschaften auch als anthropologische Linguistik bezeichnet, die dennoch aus sprachwissenschaftlicher Sicht als fremdes Terrain gelten und in die die Kulturforschung aus der Linguistik abgewandert sein mag, zeichnet beispielsweise Duranti (2003) nach, dass – unabhängig von disziplinären Verankerungen – eher von einer Verschiebung von Paradigmen gesprochen werden kann, zu denen sprachwissenschaftliche Ansätze jedoch auch weiterhin einen Beitrag leisten. Duranti geht von drei aufeinanderfolgenden Epochen in der linguistic anthropology aus, deren Arbeitsweisen jedoch aus allen drei Gebieten bis heute aktiv weiterverfolgt werden: In einer ersten Epoche in der Folge auf Franz Boas stand zunächst eine Sprachbeschreibung im Vordergrund, mit der letztlich die These von der sprachlichen Relativität untermauert werden sollte. Die zweite Epoche ist durch die Einflüsse der seinerzeit neu eingeführten sprachwissenschaftlichen Perspektive der Pragmatik geprägt: Neu war nun die Einbettung sprachlicher Handlungen in ihren Kontext. Die Sprachtheorie und Sprachbeschreibung profitierten auch hier durch den Zugewinn weitreichenderer Beschreibungskategorien im Bereich der parole. In einer dritten und jüngsten Epoche der linguistic anthropology sieht Duranti einen Forschungsfokus auf die Beschreibung von Identitätskonstruktionen, Narrationen und Ideologien. Mit Blick auf den Sprachgebrauch steht hier nun vor allem dessen konstruierende und zuschreibende Funktion und Wirkung im Vordergrund. Bemängelt werden mag dabei der ausbleibende Beitrag zu einer Erweiterung linguistischer Operationalisierung zugunsten von eher anthropologischen Erträgen.
4.2.2 Ethnomethodologie: membership categorization Die konzeptuelle Offenheit anstelle von vordefinierten sozialen und kulturellen Paradigmen sowie einen ausschließlichen Fokus auf die interaktive Wirklichkeitskonstruktion von Akteuren hat sich die Ethnomethodologie (Garfinkel 1967) zum zentralen Prinzip gemacht. Neben der bekannteren Sequenzanalyse hat sich auf dieser Grundlage mit dem Konzept der membership categorization analysis (MCA) (Sacks 1974) eine weitere gesprächsanalytische Umsetzung etabliert. Dabei wird angenommen, dass Interaktanten ihrem Kontext gemeinsam Sinn zuschreiben, indem sie Per-
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sonen und Objekte in Gesprächen Kategorien zuschreiben, die im Gespräch und darüber hinaus konstant bleiben: Die Aktanten vollziehen membership categorization. Hier liegt es nahe, kulturelle Zugehörigkeiten als Kategorien und somit Kultur als Kategorien bildende Instanz anzusehen. Schegloff (2002) als einer der Gründerväter der ethnomethodologischen Konversationsanalyse hatte sich gegen eine Identifizierbarkeit von Kultur im empirischen Material ausgesprochen. Es handele sich um eine abstrakte Kategorie, die nicht mehr dem Material entnommen, sondern bestenfalls eine unzulässige, von Forscherseite beigetragene Instanz sei. Dennoch wurde die MCA insbesondere in medienwissenschaftlichen Kontexten schon früh zur Kulturanalyse eingesetzt (Moerman 1988).
4.2.3 Identität als Kategorie Stokoe/Attenborough (2015) zeigen, wie soziale Identitäten durch die Selbst- und Fremdzuschreibung von Kategorien in der Interaktion hergestellt werden. Dass auch kulturelle Identitäten auf diese Weise konstruiert werden, zeigen Autorin und Autor am Beispiel von Zuschreibungen von genderspezifischen Rollen. Dass es sich dabei um identitätsrelevante Zuschreibungen handelt, zeige sich dabei im über längere Strecken beobachteten Gesprächsverlauf. Auch das Konzept der Mehrsprachigkeit kann in der Ethnomethodologie als diskursiv konstruierte Kategorie im Begriffsinstrumentarium neu platziert werden. Otheguy/García/Reid (2015) zufolge kann die Differenzierung distinkter Einzelsprachen und deren namentliche Bezeichnung ausschließlich als diskursive Konstruktion verstanden werden, weil ein Äquivalent in den Köpfen der Sprecher im Sinne distinkter Einzelsprachen nicht existiert. Partikulare (Einzel-)Sprachlichkeiten werden damit zu Kategorisierungen, die Menschen in der Interaktion zugeschrieben werden können. Hua (2015) sieht bereits in der im Alltagsleben von mehrsprachigen Sprechern permanent zu beobachtenden Technik des translanguaging die Aktivierung einer Kategorie kultureller Zugehörigkeit.
4.2.4 Ethnizität als Kategorie Bergmann (2010) bestätigt Schegloffs Bedenken, denen zufolge die Ethnomethodologie mit ihrem Instrumentarium abstrakte Phänomene, wie beispielsweise Ethnizität, nicht erfassen kann, weil nach ihren methodologischen Regeln nur das erfasst werden kann, was in der Interaktion explizit thematisiert wird. Jedoch kann die Ethnomethodologie durchaus erforschen, wie Akteure über Ethnizität im weitesten Sinne sprechen und sie auf diese Weise generieren. Bergmann schlägt dazu vor, Ethnizität in Form von Kategorisierungen im Sinne der membership categorization analysis zu operationalisieren (Bergmann 2010, 155). Bergmann geht es dabei darum, mit Hilfe des
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Ansatzes zu zeigen, wie flexibel und vielfältig kulturelle Identitäten sein können. Da sie nicht mehr sind als Zuschreibungen im aktuellen Gespräch, können Individuen permanent zwischen einer Vielzahl unterschiedlich gelagerter Identitäten wechseln. Rellstab (2014) zufolge werden Aspekte interkulturellen Kontakts, wie beispielsweise ein Fremdheitsaspekt, dadurch generiert, dass unterschiedliche Kategorien auf unvertraute Weise miteinander in Verbindung gebracht werden. So haben Kategorien wie Nationalität, Sprache oder Religion zunächst keine wertenden Inhalte. Wird die Kategorie Religion in einer Interaktion darüber hinaus aber mit der Kategorie Geschlecht in Verbindung gebracht, ruft diese Verknüpfung zunächst Befremden hervor. In Rellstabs Beispiel geht es um Schüler, die im Schulbuch mit Informationen über ein türkisches Mädchen an einer schweizerischen Schule konfrontiert werden, das nicht am Schwimmunterricht teilnehmen darf. Befremden kommt bei den Schülern auf, weil sich der Transfer über die Sonderrolle von Mädchen und Frauen im Islam nicht sofort erschließt (Rellstab 2014, 263).
4.2.5 Super-Diversität als Anlass für neue Erforschungen? Jüngst ist zudem das Konzept der Super-Diversität nach Vertovec (2007) für eine linguistische Kulturforschung operationalisiert worden. Blommaert/Rampton (2011) interpretieren die von Vertovec (2007) vorgeschlagene Beschreibungskategorie als Aufforderung, die gesamte sprachwissenschaftliche Forschung um Kultur und Interkulturalität vor dem Hintergrund einer enormen Steigerung der Diversität und der Komplexität von kultureller und sozialer Diversität neu durchzuführen und zu reflektieren. Dabei soll der Writing-Culture-Vorwurf aber nicht nur durch Komplexitätssteigerung überwunden werden. Stattdessen können Sprachwissenschaften, die diskursund machttheoretisch informiert und gegenüber poststrukturalistischen Konzepten, wie dem des translanguaging, sowie gegenüber ethnographischen Beobachtungen jenseits der Mikro-Ebene des Gesprächs offen sind, konkrete Manifestationen von SuperDiversität im Alltagsleben überhaupt erst identifizieren und beschreiben. Mehr noch, Jørgensen u. a. (2011) zufolge können sprachwissenschaftliche Ansätze den durch Super-Diversität hervorgerufenen kulturellen und sozialen Wandel beschreiben. Auer hält dagegen das Konzept der Super-Diversität für ein Verständnis des Phänomens von translanguaging für unzureichend. Super-Diversität thematisiert das vielschichtige Zusammenspiel von kulturellen Facetten und Zugehörigkeiten, beinhaltet aber keine Möglichkeit, daraus neu entstehende Phänomene sowie deren Wandel und Entwicklung, wie beispielsweise die Vermischung mehrerer (vermeintlicher) Ursprungssprachen, zu beschreiben (Auer in Druck, 18). Damit würde auch ein Zusammenhang zwischen einer aktuell beobachteten Zunahme von bzw. lediglich einem gesteigerten Bewusstsein für die Komplexität von Diversität mit Konzepten, wie dem des translanguaging, die eher auf epochenunabhängigen kognitiven Annahmen aufbauen, hinfällig.
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4.2.6 Membership categorization und moralische Bewertung Die wertende Funktion von Kategorisierungen, wie Bergmann (2010) sie bereits anspricht, lässt sich präziser operationalisieren, wenn der übergeordnete Sinnzusammenhang, der durch Kategorisierungen entsteht, übergeordnet als Diskurs verstanden wird. Erste Schritte finden sich hierzu in den gender studies, die die Konstruktion von Geschlecht als zentraler Kategorie des Wissenschaftsfachs durch den wissenschaftlichen Diskurs auch zugleich zum Gegenstand des Fachs erheben. Die Kategorie des Geschlechts materialisiere sich demnach gleichsam im Diskurs und werde von den Akteuren fortan nicht nur als gegeben, sondern als natürlich angesehen. Eine solche Gegenstandskonstruktion lässt sich parallel auch in der Kulturforschung sowie in Diskursen um Kultur für den Kulturbegriff beobachten (Busch 2013). Im Sinne der Ethnomethodologie können dabei nur diejenigen Hinweise für eine Rekonstruktion von Kulturverständnissen der Akteure hinzugezogen werden, die in der Interaktion auch tatsächlich expliziert werden. Der Ansatz ermöglicht es dabei, zu berücksichtigen, dass individuelle Kulturverständnisse von Akteuren zwar einerseits qua Diskursteilhabe Gemeinsamkeiten untereinander aufweisen werden, dass sie aber grundsätzlich zunächst individuelle und einmalige Konstruktionen sind. Dieser Zugang sichert die Handlungsrelevanz (Rellstab 2007) der identifizierten Kulturverständnisse für die Akteure ab (Busch 2015). Auch der wertende Charakter von Kategorisierungen lässt sich auf diese Weise weiter präzisieren. Mit den Kategorien im Sinne der MCA sind Sacks (1974, 221) zufolge kategoriengebundene Aktivitäten verknüpft. Zum Kategorienwissen der Akteure gehört also auch die Etablierung eines gemeinsamen Wissens darüber, was Mitglieder einer bestimmten Kategorie charakteristischerweise machen. Stokoe/Smithson (2002, 101) weiten das Konzept aus zu kategoriengebundenen Performanzen und beschreiben damit Aktivitäten, die an geschlechtsspezifische Kategorisierungen gebunden sind. Hester/Eglin (1997, 5) zufolge sind mit Kategorisierungen auch kategoriengebundene Eigenschaften verknüpft. Sowohl Aktivitäten als auch Eigenschaften führen zusammen mit Kategorisierungen in der Regel zu einem moralisch bewertenden Wirklichkeitsbild, das Busch (2010) am Beispiel von nationalen Kategorisierungen gezeigt hat.
5 Versuch einer Positionsbestimmung Die diachronen Nachzeichnungen im vorliegenden Beitrag decken ein durchaus schwieriges und spannungsgeladenes Verhältnis der Sprachwissenschaften im Hinblick auf die modellhafte Integration von Sozialem und Kultur auf. Letzteres steht permanent zur Disposition, auf der Kippe und ist eigentlich zu keinem Zeitpunkt gut in die Sprachwissenschaften integriert. Umgekehrt setzen diese Auseinandersetzungen auch die Sprachwissenschaften essentiellen Hinterfragungen aus, bei denen es um eine Wesensbestimmung der Sprachwissenschaften geht: Was ist der Forschungsge-
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genstand der Sprachwissenschaft? Ist das ausschließlich die Sprache, und kann diese im Zentrum einer Wissenschaft stehen? Ist Sprache de facto ein genauso abstraktes Konstrukt wie Kultur? Muss nicht eher der (sprechende) Mensch im Zentrum einer solchen Forschung stehen? Auch wenn es bei der Integration neuer Ansätze in die Sprachwissenschaften zur Bedingung gemacht wird, dass diese einen klaren Beitrag zur sprachwissenschaftlichen Theoriebildung leisten können und leisten, bleibt die Frage danach offen, wer wie beurteilt, ob ein Ansatz und seine Ergebnisse auch tatsächlich in einen Bereich innerhalb oder außerhalb der Sprachwissenschaften fallen. Dies bleibt letztlich definitorische und deliberative Ermessenssache, die aber durchaus beeinflusst ist von wissenschaftsdisziplinären Standeskämpfen (Wunderlich 1981, 26).
5.1 Der universale Anspruch der Sprachwissenschaft So sieht sich die Sprachwissenschaft bis heute häufig in ihrem Selbstverständnis als Einzelwissenschaft und beansprucht den Status einer Universalwissenschaft. Begründet wird dies mit dem Argument, dass ein Wirklichkeitszugang nur via Sprache möglich ist. Diese Begründung für die Alleinstellung der Sprachwissenschaft wird jedoch immer wieder durch den linguistic turn zahlreicher Nachbardisziplinen herausgefordert, die den Sprachwissenschaften häufig die präzise Beschreibung der Verbindungen und Einbettungen zwischen Sprache vs. Kultur und Sozialem abgenommen und den Sprachwissenschaften anschließend vorgelegt haben. Die Genese des Gedankens an eine Nicht-Anschlussfähigkeit der Sprachwissenschaft hat in der linguistischen Forschung dabei eine lange Tradition, die letztlich nicht auf einen einzelnen Autor zurückzuführen ist, am Ende jedoch in der Situation resultiert, in der die Linguistik für ein rückhaltloses Sich-Einlassen auf neue, interdisziplinär gelagerte Forschungsgegenstände weniger gut vorbereitet ist als benachbarte Disziplinen (Broschart 2007).
5.2 Kulturforschung als Bestandteil der Sprachwissenschaft Es ist zu beobachten, dass Kultur und Soziales immer dann in linguistischen Ansätzen berücksichtigt werden, wenn dieser Einbezug dazu dient, die Sprachbeschreibung zu verfeinern oder zu präzisieren. Es geht der Linguistik also selten darum, Beiträge zu einer interdisziplinär verstandenen Kulturforschung zu leisten. Hilfreich war der Einbezug von Kultur vor allem zu Zeiten, als man für die Pragmatik den Kontext entdeckte, der sich durch Begriffe wie Kultur und Soziales leichter erfassen ließ. Auch hilfreich war der Einbezug von Kultur, als es darum ging, kulturuniversalistisch gedachte Konzepte aus der Sprachphilosophie, wie sie sich vor allem im Nachgang zur Sprechakttheorie entwickelten, zu relativieren. Mit dem Argument kultureller Relativi-
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tät waren diese Konzepte vergleichsweise leicht anzugreifen, weil sie selbst nie empiriebasiert entwickelt worden waren. Diese Vorwürfe abwehrend ließen sich die versuchten Relativierungen jedoch immer auch als in dem universalen Konzept bereits enthalten begründen – die Kritik gegenüber der Sprachwissenschaft verpuffte. In jüngerer Zeit sind Überlegungen zur kulturellen Relativität zu einer Selbstverständlichkeit geronnen, von der beansprucht wird, sie werde ohnehin immer mitgedacht. Angesichts dessen erscheinen dann Konzepte wie Kultur und Soziales zu allgemein, zu verallgemeinernd und zu wenig präzise fassbar, als dass von ihnen noch ein weiterer Zugewinn an Präzision in der Sprachbeschreibung zu erwarten wäre. Dass die Sprachwissenschaften dennoch Instrumentarien bereithalten können, mit denen Kulturalisierungsprozesse besonders präzise empirisch identifiziert und beschrieben werden können, wurde in diesem Beitrag am Beispiel der membership categorization analysis gezeigt. Bedingung für die Fruchtbarkeit dieses Beispiels für die Kulturforschung war dabei jedoch nicht allein die analytisch scharfe Grundlage der Ethnomethodologie, sondern immer auch ein über Jahrzehnte angelegter paradigmatischer Öffnungsprozess und eine Suche nach Wegen zu einer Erfassbarkeit von Sozialem und Kultur durch dieses Paradigma.
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II Historische Gesichtspunkte
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5. Geschichte von Mehrsprachigkeit in Deutschland Abstract: Der deutschsprachige Raum war vom Mittelalter bis heute mehrsprachig. Der historische Überblick geht von der mittelalterlichen Mehrsprachigkeit zwischen Latein und Gemeinsprachen über die alt- und neusprachliche Renaissance zur Etablierung europäischer Standardsprachen im 18. und 19. Jahrhundert und schließt mit den Entwicklungen im 20. und 21. Jahrhundert. Dabei wird gezeigt, welche Sprachgemeinschaften und Sprecher und Sprecherinnen in welchen Sprachen agierten, welche Formen diese Sprachkontakte hatten und wie sie sich entwickelten. Besonderes Augenmerk liegt auf den unterschiedlichen historischen Formen von Mehrsprachigkeit wie schriftliche, mündliche, innere, äußere, aktive, passive, elitäre, allgemein gebräuchliche, vertikale und horizontale Mehrsprachigkeit. Einführend wird dazu eine Übersicht über die Ausrichtung und Probleme historischer Mehrsprachigkeitsforschung gegeben. Zusätzlich werden die metasprachlichen Positionen zu Mehrsprachigkeit in den verschiedenen Epochen skizziert und die Bewertung verschiedener Sprachen wie auch von Mehrsprachigkeit angeführt. 1 2 3 4 5 6
Historische Mehrsprachigkeitsforschung Das Mittelalter: Mehrsprachigkeit zwischen Latein, Volkssprachen und innerhalb der Volkssprachen Das 16. und 17. Jahrhundert: Von humanistischer Mehrsprachigkeit zu barockem Sprachpurismus Das 18. und 19. Jahrhundert: Ein- und Mehrsprachigkeit zwischen Verständigung und Nationalismus Das 20. und 21. Jahrhundert: Mehrsprachigkeit, Migration, Minderheitensprachen Literatur
1 Historische Mehrsprachigkeitsforschung Die Forschung zur Geschichte von Mehrsprachigkeit im deutschsprachigen Raum umfasst, welche Sprachen wann in Deutschland verwendet wurden, wer sie sprach und in welchen Texten und Kontexten diese Sprachen auf welche Weise in Kontakt kamen. Dabei folgt die Periodisierung der Mehrsprachigkeitsgeschichte soziokulturellen Epochen europäischer Geschichte, die mit dem Wandel von Mehrsprachigkeit verbunden sind, wobei jeweils neue Sprachen und Sprecher und Sprecherinnen in den Vordergrund rücken. Generell wird davon ausgegangen, dass eine Einzelsprache als Einheit ein theoretisches Konstrukt ist, das gerade in Bezug auf Mehrsprachigkeit nicht sinnvoll ist. In diesem Beitrag wird daher von Sprachen innerhalb eines Kontinuums ausgegangen, in dem sich Sprachen und Varietäten im Kontakt und im Wandel befinden. https://doi.org/10.1515/9783110623444-005
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Allgemein wird zur Forschung in Untersuchungen zur historischen Mehrsprachigkeit häufig bemerkt, wie wirkmächtig das Einsprachigkeitsparadigma nationalphilologischer Forschung in Bezug auf Periodisierung und Epochenverständnis ist. Maaß (2005, 7 f.) zeigt, wie die Unterscheidung der Renaissance in u. a. eine deutsche, eine italienische und eine französische Renaissance zu Missverständnissen bezüglich der Sprach- und Literatursituation führte, da sprachliche Grenzen in dieser Zeit so nicht existierten. Ähnliches gilt für andere Epochen, die vor allem innerhalb von Einzelphilologien beschrieben und konstituiert wurden. Eine Mehrsprachigkeitsgeschichte hinterfragt daher auch immer vorherrschende Sprach- und Sprachperiodenkonzeptionen. Für ein historisches Verständnis von Mehrsprachigkeit sind einige theoretische Anpassungen an aktuelle Mehrsprachigkeitsdefinitionen notwendig. Das liegt u. a. daran, dass sich Studien zur heutigen Mehrsprachigkeit oft auf mündliche Formen z. B. in Bezug auf kindlichen Mehrspracherwerb und Migration konzentrieren (vgl. dazu einführend Riehl 2015). Historisch soll Mehrsprachigkeit zunächst weiter gefasst und dann innerhalb der unterschiedlichen Kontexte konkretisiert werden. Mehrsprachigkeit umfasst laut Franceschini (2009, 33 f.) die Fähigkeit von sozialen Gemeinschaften, politischen, kulturellen, wirtschaftlichen Institutionen und Individuen, mehr als eine Sprache im täglichen Leben zu verwenden. Diese allgemeine Einordnung lässt Raum für unterschiedliche Mehrsprachigkeitsphänomene in der Geschichte und enthält Aspekte von individueller, sozialer und institutioneller Mehrsprachigkeit, die historisch vielfach miteinander verflochten sind. Erschwert wird die historische Mehrsprachigkeitsforschung durch die Quellensituation. Die allgemeinen Schwierigkeiten historischer Mehrsprachigkeitsforschung wurden von Boschung und Riehl in Bezug auf antike Multilingualität zusammengefasst und betreffen die problematische Rekonstruierung mündlicher Formen von Mehrsprachigkeit aus der historischen Distanz, die oft nur über Entlehnungen oder andere Sprachtransfers auf lexikalischer, semantischer, syntaktischer, morphologischer oder phonetischer Ebene sichtbar werden. Ein anderer Zugang führt über mehrsprachige Schriftzeugnisse (Urkunden, Briefe, Gesprächsaufzeichnungen, Münzen, Inschriften u. a.), insofern diese erhalten sind (vgl. Boschung/Riehl 2011, III). Neben Phänomenen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowie der unterschiedlichen Medialität von Quellen müssen weitere Aspekte mitreflektiert werden, um Mehrsprachigkeit in ihrer sozialen, individuellen und diskursiven (textuellen) Dimension (vgl. Busch 2013, 11) in historischen Kontexten zu konstruieren. Zu diesen Aspekten zählt alles, was den Status und die Wahrnehmung von Sprachen und ihren Sprechern und Sprecherinnen innerhalb eines mehrsprachigen Umfelds betrifft. U. a. gehören dazu die Standardisierung und Institutionalisierung von Sprachen, welche Stellung sie in Hinsicht auf Bildung oder Politik haben, ob sie als Amtssprache eines Staates gelten können, in welchen Domänen sie verwendet werden und welche Ressourcen (Wörterbücher, Grammatiken, Literatur) es in den Sprachen gibt. Außerdem fällt darunter die Spracheinstellung der Sprecher und Sprecherinnen wie auch die
Geschichte von Mehrsprachigkeit in Deutschland
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sprachideologische Bewertung von außen, also der Stand der Sprache im Vergleich zu anderen Sprachen innerhalb einer historischen Epoche im deutschsprachigen Raum. Eine generelle Problematik für eine Geschichte der Mehrsprachigkeit ergibt sich auch aus der (statistischen) Erfassung von Mehrsprachigkeit. Erst zum Ende des 19. Jahrhunderts gab es Befragungen, z. B. im Habsburger Reich, die mehrere Umgangssprachen erfassten. Im Falle von Deutschland wird auch heute die Sprache noch häufig über die Nationalität oder (angenommene) Ethnizität ermittelt (z. B. über Angaben wie dem ,Ausländeranteil‘ in der Bevölkerung u. Ä.). Das führt zu zahlreichen Problemen, nicht zuletzt, weil die Annahme, dass eine Nationalität für eine Sprache steht, irreführend sein kann, etwa bei einer türkischstämmigen kurdischsprachigen Person. Generell besteht das Problem, dass in statistischen Befragungen Kategorien wie Ethnizität, Nationalität und Sprache vermischt werden bzw. ideologisch monolingual anlegt sind, indem z. B. nach der ‚Muttersprache‘ gefragt wird (vgl. Humbert/Coray/Duchêne 2018, 6). Um Mehrsprachigkeitsphänomene akkurat benennen zu können, muss man zwischen vertikaler und horizontaler Mehrsprachigkeit unterscheiden. Damit können wechselseitige (Macht-)Verhältnisse zwischen Sprachen bzw. deren Sprecherinnen und Sprechern beschrieben werden. Horizontale Mehrsprachigkeit nach Harshav (2021) lässt sich als paralleler Sprachgebrauch zweier oder mehr Sprachen beschreiben. Er nennt als Beispiele einen (ausgewogenen) Bilingualismus in einer Region oder einer Person (z. B. mehrsprachige Personen mit Deutsch und Französisch im Berlin des 18. Jahrhunderts), Diglossie als klare Trennung zwischen verschiedenen Sprachdomänen und Sprachvarietäten und die Verwendung einer Lingua franca innerhalb unterschiedlicher sprachlicher Territorien (vgl. ebd.). Vertikale Mehrsprachigkeit beschreibt Hierarchien zwischen den Sprachen, die an der multilingualen Situation beteiligt sind. Dabei kann sich der Status auf die Institutionalisierung (Amtssprache, offiziell anerkannte [Minderheiten-]Sprache u. a.) oder die Standardisierung (Standardvarietät, Dialekt, Regiolekt, Soziolekt usw.) wie auch auf die Verwendungsdomänen (Bildungssprache, Umgangssprache) beziehen. Diesbezüglich kann auch eine elitäre sowie eine nicht-elitäre Mehrsprachigkeit unterschieden werden. Diese Dimensionen zeigen sich auch in Hinblick auf Bildung, sodass generell grob zwischen einer elitären Bildungsmehrsprachigkeit (Polyglossie) und einer nicht-elitären, gebräuchlichen Mehrsprachigkeit im Umgang aller, sozial nicht-privilegierter Bevölkerungsschichten unterschieden werden kann. Zugang zu bestimmten Mehrsprachigkeiten (insbesondere zu altsprachlichen Kenntnissen, Griechisch, Latein, Hebräisch) wurden offiziell reglementiert und schlossen bestimmte Gruppen (Frauen, Angehörige ‚unterer‘ Schichten) aus (vgl. Schreiner 1992, 101). Die Unterscheidung von innerer und äußerer Mehrsprachigkeit nach Wandruszka (1979) erlaubt die Beschreibung des sprachlichen Repertoires innerhalb einer Sprache (Standardvarietät, Dialekt, Soziolekt usw.) einer Person sowie ihrer Fähigkeit, weitere Einzelsprachen (mit ihren entsprechenden Subsystemen) zu erwerben. Auch die Unterscheidung zwischen rezeptiver und produktiver (oder auch aktiver und passiver) Mehrsprachigkeit bezieht sich auf die indivi
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duellen Fähigkeiten mehrsprachiger Personen(gruppen) und zeigt sich beispielsweise bei dem Phänomen der Interkomprehension zwischen ähnlichen Sprachen (z. B. Jiddisch und Hochdeutsch oder Niederländisch und Niederdeutsch). Ergänzend werden kurz die in der jeweiligen Zeit vorherrschenden Meinungen zu Mehrsprachigkeit skizziert, da die positive bzw. negative Haltung gegenüber Mehrsprachigkeit ebenfalls eine Rolle für die Entwicklung und Geschichte von Mehrsprachigkeit spielt.
2 Das Mittelalter: Mehrsprachigkeit zwischen Latein, Volkssprachen und innerhalb der Volkssprachen Das Mittelalter wird generell von der mediavistischen Forschung als mehrsprachige Epoche gesehen (vgl. Putzo 2011, 23), wobei es regional, sozial, kulturell und zeitlich heterogene Formen von Mehrsprachigkeit gibt. Der Beginn mittelalterlicher Mehrsprachigkeit mit Deutsch geht notwendigerweise mit dem Anfang der deutschen Sprache, dem Althochdeutschen, einher, ist also um 750 anzusetzen. Generell wird die Erforschung mittelalterlicher Mehrsprachigkeit dadurch erschwert, dass es sich in weiten Teilen – besonders im Falle von volkssprachlicher Mehrsprachigkeit – um ein mündliches Phänomen handelt, von dem es nur wenige schriftliche Zeugnisse gibt. Daher überwiegt die Forschung zur lateinisch-vernakularen Zweisprachigkeit in der Zeit (vgl. ebd., 3). Gleichzeitig bemerkt die Forschung: „Medieval multilingualism was broader than just secular vernacularization“ (Amsler 2011, 30). Die Sprachkontakte zwischen verschiedenen Sprachräumen, z. B. durch Reisen, Pilgerschaft, Migration, gelten dabei als unterschätzter Bereich mediavistischer Mehrsprachigkeit (vgl. dazu Classen 2016a). Die verflochtene Sprachsituation zwischen Latein, anderen alten Sprachen und entstehenden Vernakularsprachen innerhalb von Dialektkontinua kann hier aufgrund der Quellenlage nur fragmentarisch dargestellt werden. Mehrsprachigkeit im deutschsprachigen Gebiet des Mittelalters umfasste neben Latein hochdeutsche und niederdeutsche Sprachkontakte, die Kontakte zwischen germanischen und romanischen Sprachen an den Westgrenzen, den Kontakt zu skandinavischen Sprachen im Norden, die germanisch-slawischen Sprachkontakte im Osten bzw. im Zusammenhang mit der Ostkolonialisierung ab dem 12. Jahrhundert und Varietäten des Jiddischen (Putzo 2011, 18). Die verschiedenen Bereiche von Mehrsprachigkeit des Mittelalters unterteilt Putzo dabei in schriftliche und mündliche Mehrsprachigkeit mit Latein sowie schriftliche und mündliche Mehrsprachigkeit zwischen Volkssprachen und Dialekten. Die gelehrte Schriftlichkeit „zwischen Latein und Volkssprache(n)“ (ebd., 25) gehört zu den Bereichen, die am besten erforscht wurden, da es dazu die meisten erhaltenen schriftlichen Quellen wie etwa Übersetzungen aus dem Lateinischen (vgl. dazu ausführlicher Bärnthaler 1983 und Henkel 1988) oder lateinisch-volkssprachliche Mischtexte gibt (vgl. Putzo 2011, 25). Diese Form der vertikalen Mehrsprachigkeit steht nur Gelehrten,
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dem Klerus und ausgewählten Angehörigen des Adels zur Verfügung. Lateinische und deutsche Schriftlichkeit zeigt sich zunächst in Form von Glossaren oder deutschen Hilfstexten zu lateinischen Texten, dann auch in religiösen Texten wie den (alt)deutschen Gebets- und Bibelübersetzungen, darunter der Heliand sowie Otfrids gereimte Evangelienharmonie, die auch in der Forschung hervorgehoben werden (vgl. Ehlen 2011, 169). Schreiber und Schreiberinnen (vgl. dazu Mengis 2013) waren dabei generell mehrsprachig ausgebildet: In der Anfangszeit der Schriftlichkeit unserer europäischen Volkssprachen waren alle Schreiber mehrsprachig: schriftsprachlich sozialisiert im Lateinischen, ihre Muttersprache war die jeweilige gesprochene Sprache der Region (ein altfranzösischer, althochdeutscher, altsächsischer etc. Dialekt). (Boschung/Riehl 2011, IV)
Glaser (2016, 35) stellt anhand der lateinisch-althochdeutschen Mischprosa des St. Galler Mönchs Notker III. die Code-switching-Verfahren in seinen Übersetzungen vor und beschäftigt sich dabei explizit mit den multilingualen Praktiken im Schreiben von Notker III. Die mündlichen Kontakte zwischen Latein und Volkssprache(n), „in der verlorenen gesprochenen Sprache des Mittelalters“ (ebd.), die sicherlich zahlenmäßig umfangreicher waren, können jedoch aufgrund von fehlenden Quellen nur sehr bedingt nachvollzogen werden. Mögliche Sprechsituationen und Sprechgemeinschaften des Lateinischen mit Volkssprachen sowie Texte sind nach Putzo (2011, 26 f.)
Gerichtsverhandlungen, Konzilien, internationale Diplomatie, Handelsbegegnungen, die Kommunikation innerhalb der hierarchischen Kirchenorganisation, die Rezeption der lateinischen Liturgie durch Laien […], volkssprachige paraliturgische Texte […], lateinische oder zweisprachige Predigten für Laien, zweisprachige geistliche Spiele in der Situation ihrer Aufführung […], die gesprochene Volkssprache und das gesprochene Latein in der Lateinschule oder mündliche Disputationen im Universitätsbetrieb.
Die schriftlichen Kontakte zwischen verschiedenen Volkssprachen bilden die nächste Kategorie, hier ist besonders die weltliche Literatur ab dem 12. Jahrhundert eine mehrsprachige Gattung, die sich innerhalb von Europa wechselseitig beeinflusst (vgl. ebd., 28). Als typisches Beispiel nennt Putzo die Rezeption provenzalischer Trobadorlyrik durch die mittelhochdeutsche Minnelyrik (vgl. ebd.). Mündliche Kontakte zwischen verschiedenen Volkssprachen und Dialekten sind nur vermittelt nachweisbar, auch wenn sie zahlreich gewesen sein dürften. Putzo nennt als indirekte Beispiele mehrsprachiger Mündlichkeit die althochdeutsch-lateinischen Mustersätze in den Kasseler Gesprächen (Kasseler Glossen) und den Pariser Gesprächen, von denen angenommen wird, dass es sich um „Konversationsanleitungen für Reisende aus dem romanischen Sprachgebiet handelt“ (ebd., 29). Weitere Sprachlehrbücher als Dokumente mündlichen Sprachkontakts sind das Sprachlehrbuch Georgs von Nürnberg und das lateinisch-italienisch-tschechisch-deutsche Vocabulariom Quadrilingue Johanns von Mosbach, die aus dem 15. Jahrhundert stammen (vgl. ebd., 25–30).
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Die Formen von Mehrsprachigkeit zwischen Latein, entstehenden Volkssprachen und Dialekten sowie innerhalb der Volkssprach- und Dialektkontinua führen zu vertikalen Machtverhältnissen zwischen Latein als Sprache des Klerus und der Gelehrsamkeit und den (regionalen) Volkssprachen. Gleichzeitig zeigen sich innerhalb der Sprachkontakte zwischen Volkssprachen und Dialekten Formen von paralleler, horizontaler Mehrsprachigkeit, auch innerhalb des deutschsprachigen Raums und sogar darüber hinaus: Bloemendal beschreibt das mittelalterliche Varietätenkontinuum zwischen deutschen und niederländischen Dialekten, die jeweils anderen Sprachen zugeordnet werden konnten. Er schlussfolgert: The dialects spoken along the Rhine, from Basel to Rotterdam, were, certainly in the fifteenth and sixteenth centuries, not considered as different languages, such as „Alemanic“, „Deutsch“ or „Dutch“. (Bloemendal 2015, 3)
Vertikalität und Horizontalität sind auch durch das Medium der Schrift und die Überbetonung schriftlicher Quellen beeinflusst. Da im (Früh-)Mittelalter nur eine Minderheit überhaupt alphabetisiert war, überwog die mündliche Mehrsprachigkeit, die aber nicht mehr – oder nur schwerlich – rekonstruiert werden kann. Die Alphabetisierung bezog sich dabei zusätzlich auf das Lateinische, wie die Unterscheidung zwischen literatus für eine Person, die lateinische Schrift entziffern kann, und illiteratus zeigt (vgl. Amsler 2011, 10). Jedoch gibt es auch vielversprechende Ansätze in der Forschung, diese Umstände zu umgehen: Haubrichs (2011) verwendet sprachliche Spuren in Ortsnamen, um die mehrsprachige mittelalterliche Geschichte für den französischdeutsch-belgischen Grenzraum zu erschließen. Mehrsprachigkeitskenntnisse lassen sich bei unterschiedlichen Sprachgemeinschaften und Personengruppen nachweisen. Classen (2016b, 13) nennt mehrere Personengruppen, die nachweislich mehrsprachig waren bzw. mehrsprachig sein mussten. Die Notwendigkeit, das Leben mit mehreren Sprachen bestreiten zu müssen, war auch im Mittelalter der Hauptgrund für den Erwerb mehrerer Sprachen. Classen verweist auf Dokumente, die zeigen, dass mittelalterliche Herrscher auf die Kenntnisse mehrere Sprachen angewiesen waren: We know from numerous historical documents that medieval kings and other royalties were supposed to acquire or acclaimed of having learned a range of languages in order to be able to address their subjects in the respective tongues, but this does not tell us much with respect to their true understanding of those languages. Emperor Maximilian I (1459–1519), for instance, had artists include in his famous Ehrenpforte or Triumphbogen from 1515 that he commanded knowledge of seven languages which helped him much in political and military contexts. (ebd.)
Eine andere Gruppe umfasst Autoren und Autorinnen des Mittelalters, die unterschiedliche Schriftsprachen mit Französisch und Deutsch (Frühneuhochdeutsch) zur Verfügung hatten, wie etwa Elisabeth von Lothringen, Gräfin von Nassau-Saarbrücken (1395–1456) oder Eleonore von Schottland (1433–1480) (vgl. ebd.). Im Bereich der religiösen Literatur wäre hier auch Hildegard von Bingen (1098–1179) zu nennen, die
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mit der von ihr entwickelten Lingua Ignota, Latein und Mittelhochdeutsch ein ungewöhnliches Sprachrepertoire besaß (vgl. Connell 2016, 120). Neben der schriftlichen Mehrsprachigkeit von Literaten und Literatinnen war produktive und rezeptive mündliche Mehrsprachigkeit für die Bevölkerungsgruppen wichtig, die aus Handelsgründen reisen mussten oder auf Pilgerschaft gingen: „Contrary to many modern assumptions, people in the pre-modern age were already traveling heavily, whether as merchants, diplomats, artists, pilgrims, or scholars“ (Classen 2016b, 39). Am Beispiel des Pilgers Felix Fabri, der Deutsch, Italienisch und Latein sprach, und mehrere Berichte über seine Pilgerschaft verfasste, darunter das Gereimte Pilgerbüchlein, eine Beschreibung seiner Pilgerreisen mit dem Titel Fratris Felicis Fabri Evagatorium in Terrae sanctae, Arabiae et Aegypti peregrinationem und Das Deutsche Pilgerbuch (gedruckt 1556), zeigt Classen die Notwendigkeit von Mehrsprachigkeit einer Pilgerreise (2016a, 292–296). Mündliche Mehrsprachigkeit lässt sich als Form von code-switching in unterschiedlichen Textsorten nachweisen, Classen geht davon aus, dass in Predigten häufig zwischen Volkssprache und Latein gewechselt wurde (vgl. Classen 2016b, 40). Generell zeigen die Beispiele individueller Mehrsprachigkeit wie auch mehrsprachiger Gemeinschaften, dass es sich in vielen Fällen um eine schriftliche, elitäre Mehrsprachigkeit handelte bzw. nur wenige Menschen mehrsprachige Praktiken für ihr Leben benötigten. Gerade im Frühmittelalter ist Mehrsprachigkeit häufig ein Merkmal der Eliten, die aber durch die Quellenlage weitaus besser dokumentiert ist (vgl. Müller 2016, 117). Mehrsprachigkeit wird auch in der Literatur des Mittelalters thematisiert, jedoch nicht als solche benannt. Gleichzeitig ist die mittelalterliche Auffassung von Sprache immer eine mehrsprachige, wie Putzo argumentiert: Die mittelalterliche Wahrnehmung von Sprache muss, so zeigten die vorangehenden Abschnitte, per se mit Multilingualität verbunden gewesen sein: erstens im Sinne einer gleichzeitigen Präsenz mehrerer gesprochener und geschriebener Sprachen, zweitens im Sinne der prinzipiellen Einbettung von Schriftlichkeit und Bildungskultur in eine anderssprachige Tradition, dritten im Sinne der intellektuell-mentalen Abbildung des Abstraktums „Sprache“ auf eine Sprache, die niemals Muttersprache war. (2011, 23)
Zeugnisse von Sprachwahrnehmung und -bewertung finden sich in unterschiedlichen Formen in der Literatur des Mittelalters. Hugo von Trimberg kategorisierte Ende des 13. Jahrhunderts verschiedene hoch- und mitteldeutsche Varietäten, womit er eine Art innere Mehrsprachigkeit des Deutschen beschrieb, die den sprachlichen Normalfall darstellte (vgl. ebd., 20). Einsprachigkeit war schon im Mittelalter mit Religion verknüpft, indem sie an die heilige(n) Sprache(n) gebunden war, unter denen Latein die wichtigste war (vgl. dazu Borst 1957, 3 f.). Mehrsprachigkeit wird im mittelhochdeutschen Versroman Tristan (um 1210) von Gottfried von Straßburg zum Merkmal des Helden, der polyglott auf Deutsch, Irisch, Schottisch, Norwegisch u. a. kommunizieren kann (vgl. Classen 2016b, 14). Auch Beispiele für mehrsprachige Figurenrede und
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kommunikativen Sprachwechsel finden sich in Rudolfs von Ems Der guote Gêrhart (um 1220), in dem der Kaufmann Gêrhart international auf Französisch und Englisch kommuniziert (vgl. Classen 2016b, 17). Diese Formen von Mehrsprachigkeit sind dabei positiv konnotiert.
3 Das 16. und 17. Jahrhundert: Von humanistischer Mehrsprachigkeit zu barockem Sprachpurismus Die Renaissance ist eine Zeit der altsprachlichen und volkssprachlichen Mehrsprachigkeit (vgl. Maaß 2005, 10 f.). Altsprachliche Mehrsprachigkeit – Latein-, Griechischund in geringerem Umfang Hebräischkenntnisse – ergeben sich aus der Rückkehr zu den Quellen im Renaissancehumanismus (vgl. ebd.). In dem Sinne war auch das Sprachbewusstsein in der Renaissance zentral für das humanistische Erkenntnisinteresse und die Entstehung von Philologie (ebd., 9 f.). Meinungen der Forschung, die für die Zeit der Renaissance vorwiegend ein Nebeneinander von Latein und Volkssprache annehmen (vgl. Pott 2005, 77), sind daher nicht zuzustimmen. Das Verhältnis von alten und modernen Sprachen, Schriftlichkeit und Mündlichkeit sowie vertikaler und horizontaler Sprachverhältnisse wird im 16. und 17. Jahrhundert neu ausgerichtet. Sprachlich etablierten sich im Humanismus neben den alten Sprachen die Volkssprachen – oder volgare. Dieses Verhältnis formt die questione della lingua: „die Frage nach einer gemeinschaftlichen (literatur)sprachlichen Identität für alle Italiener“ (Maaß 2005, 12), wobei es entsprechende Entwicklungen für das Deutsche gibt. Ab dem 16. Jahrhundert kommt es dadurch zu einer Parallelität von Literatur in europäischen Volkssprachen und einer lateinischen, grenzüberschreitenden Literatur (vgl. ebd.). Im deutschsprachigen Raum bezieht sich dieses Nebeneinander ebenfalls auf Latein, Griechisch, Hebräisch sowie Deutsch. Innerhalb des deutschen Sprachraums entwickeln sich im 15. Jahrhundert überregionale schriftliche Varietäten, die sich durch die Weiterentwicklung des Buchdrucks nach 1400 weiterverbreiten konnten (vgl. von Polenz 1991, 99). Dadurch wurden die Voraussetzungen für eine schriftliche Zweisprachigkeit geschaffen. Gleichzeitig wies dieser erste Standardisierungsprozess regionalen oder sprachgemeinschaftsspezifischen Sprachen wie Jiddisch, Niederdeutsch und Friesisch eine nachrangige Position im Sprachensystem der frühen Neuzeit zu (vgl. ebd.). Die innere Mehrsprachigkeit im deutschsprachigen Raum unterscheidet jetzt auch Varietäten, die sich schriftlich und damit überregional durchsetzen konnten, und solche, die vorwiegend regional mündlich vertreten waren. Hier waren zum einen unterschiedliche Varietäten der Kanzleisprache prägend sowie im Bereich der Hanse eine niederdeutsche schriftsprachliche Variante (vgl. ebd., 160). Altsprachliche Mehrsprachigkeit ist die schriftliche Mehrsprachigkeit der Gelehrten, die nicht nur Ausdrucksmittel, sondern auch Gegenstand humanistischer Lehre
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ist, wie etwa die Sprachbeschreibungen und -reflexionen von Konrad Celtis (1459– 1508) zeigen (vgl. Pott 2005, 80). Der Einsatz und die Bedeutung von Latein, Griechisch und Hebräisch preist er z. B. in An Johannes Reuchlin oder Kapnion, Mittler der drei Sprachen und Philosoph (vgl. ebd.). Jedoch war schriftliche Mehrsprachigkeit in der frühen Neuzeit nicht mehr nur lateinisch dominiert, sondern mindestens zweisprachig lateinisch und deutsch, wobei Latein zwar nur in Ausnahmefällen als Erstsprache gelernt wurde (bekanntermaßen wuchs Michel de Montaigne mit Latein als ‚Muttersprache‘ auf), aber dennoch eine lebendige Rolle im sprachlichen Leben des Humanismus führte:
Latein wurde von den Humanisten nicht als ‚tote‘ Sprache empfunden. Von einem sich abzeichnenden ‚Niedergang‘ der lateinischen Kultur, der oft für das 16. Jahrhundert parallel zum propagierten ‚Siegeszug‘ der nationalsprachlichen Literaturen diagnostiziert wird, kann keineswegs gesprochen werden. Vielmehr kann man bis ins 17. Jahrhundert eine Parallelität von Nationalliteraturen und lateinischer Literatur mit europäischer Reichweite konstatieren. (Maaß 2005, 13)
Eine zentrale Sprachhandlung und Textsorte der Renaissance ist das Übersetzen bzw. die Übersetzung, die eine zentrale Position im humanistischen Sprachdenken und in den philologischen Bestrebungen der Zeit hatten (vgl. Mildonian 2008, 1397). Humanistische Übersetzungspraktiken und Übersetzungen erfüllten mehrere Funktionen, die für die Wahrnehmung von Mehrsprachigkeit in dieser Zeit relevant waren: Sie formten schriftlichen Sprachkontakt zwischen Latein und Vernakularsprachen und boten Reflexionsmaterial zu Sprachunterschieden und Kulturaustausch (vgl. ebd., 1398). Im deutschsprachigen Bereich diente die Übersetzung aus dem Lateinischen oder Italienischen außerdem der Weiterentwicklung der deutschen Schriftsprache durch aemulatio der Originaltexte (vgl. ebd., 1403). Die Gelehrten und Übersetzer wie Niklas von Wyle (1410–1479) oder Heinrich Steinhöwel (1410/11–1479) waren die mehrsprachigen Mittler humanistischer Literatur aus Italien (vgl. ebd.). Typisch für die Wörterbücher des 16. Jahrhunderts waren mehrsprachige Wörterbücher mit Latein, die die mehrsprachigen Praktiken des Übersetzens unterstützen konnten (vgl. Heinemann 2005, 268). Neben lateinischer Gelehrtensprache wurde in wenigen Fällen schon im 17. Jahrhundert Deutsch für wissenschaftliche Texte genutzt. Die Naturwissenschaftlerinnen Maria Cunitz (1610–1664) und Maria Sibylla Merian (1647–1717) verwendeten Deutsch für ihre Texte aus dem Bereich der Mathematik und Zoologie und machten sie dadurch zugänglicher (vgl. von Polenz 1994, 352). Auch die umgreifenden Sprachveränderungen der Reformation entstanden in einem mehrsprachigen Kontext zwischen Latein und unterschiedlichen deutschen Varietäten. Luther als Übersetzer war dabei selbst mehrsprachig und schrieb lange Zeit nur lateinisch, bevor er dann ins Deutsche wechselte. Auch die stärkere Hinwendung zur mündlichen, gesprochenen Sprache ist eine Forderung der Reformation, die u. a. von Luther in seinen Bibelübersetzungen wie auch in Predigten umgesetzt wurde (vgl. von Polenz 1991, 231). Mündliche und schriftliche Mehrsprachigkeit sind daher in der Reformationszeit stärker aufeinander bezogen. Es gab auch mündliche Mehrsprachig
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keit zwischen Latein und Deutsch, die zu Sprachmischungen in Form von code-switching führten (vgl. von Polenz 1991, 214). Ein bekanntes Beispiel dafür sind Martin Luthers Tischgespräche, in denen Luther fließend zwischen Deutsch und Latein wechselt und von denen schriftliche Aufzeichnungen vorliegen (vgl. Stolt 1964; Classen 2016b, 41). Während zum Ende des 15. Jahrhunderts die Landessprachen oder Gemeinsprachen vor allem in Bezug zum Lateinischen vertikal mehrsprachig verbunden sind, bilden sich im Laufe des nächsten Jahrhunderts vertikale Sprachbeziehungen unter ihnen selbst heraus. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts waren Italienisch, Spanisch und Französisch noch gleichermaßen einflussreich (vgl. von Polenz 1994, 59). Im 17. Jahrhundert kam es jedoch zu neuen hierarchischen Verhältnissen: Französisch etablierte sich im Laufe des 17. Jahrhunderts durch die politische und kulturelle Vormachtstellung des absolutistischen Frankreichs als „höfische Universalsprache“ (ebd., 64) und nahm damit im europäischen Sprachraum eine hervorgehobene Position ein. Neben der gelehrten Mehrsprachigkeit zwischen Latein und Vernakularsprache gab es auch zu der Zeit mehrsprachige Minderheiten, was oft religiös begründet war: [Es] wird auch sichtbar, dass die Bevölkerung des deutschsprachigen Raums zumindest teilweise mehrsprachig sein musste. Dies gilt für Minderheiten wie die Juden, die mit der Sprache der jeweiligen christlichen Mehrheit vertraut zu sein hatten, um in den verschiedensten alltäglichen Interaktionen – geschäftlicher, politischer, nachbarschaftlicher Art – handlungsfähig sein zu können. Ebenfalls gilt es für Menschen mit weiträumiger Mobilität: etwa Handwerksgesellen, fahrendes Volk, Kaufleute oder Menschen im Transportgewerbe. (Jancke 2005, 169)
Im Zusammenhang mit der Reformation konstatiert Maas, dass (mündliche) Mehrsprachigkeit konfessionell identitätsstiftend war, mit Niederdeutsch und Niederländisch für die Reformierten und Hochdeutsch für die Lutheraner (vgl. Maas 2014, 192). Der Erwerb von Fremdsprachenkenntnissen für die Ausübung eines Berufs, im Rahmen von Mobilität in der Ausbildung oder im Studium betraf in der frühen Neuzeit u. a. die kaufmännische Ausbildung. Der Nachwuchs deutscher Kaufleute wurde teilweise schon mit zwölf Jahren ins Ausland geschickt, lernte Italienisch in Venedig, Florenz oder Verona (vgl. Glück u. a. 2013, 57–61), bei Kaufleuten in Lyon Französisch (vgl. ebd., 64). Weitere wichtige Sprachen für die kaufmännische Ausbildung waren Niederländisch, Spanisch und Portugiesisch (vgl. ebd., 67–69). Im slawischen Sprachraum fand die Kommunikation hingegen auf Deutsch statt (vgl. ebd., 70). In weitaus geringerem Ausmaß wurden moderne Sprachen an Universitäten im Ausland gelernt, erst im Laufe des 16. Jahrhunderts wurden Fremdsprachenkenntnisse für das Jurastudium relevant (vgl. ebd., 94). Die Kavalierstour ermöglichte ebenfalls mehrsprachige Lernsituationen, besonders für Italienisch und Französisch (vgl. ebd., 96). In allen Fällen handelt es sich um vernakularsprachliche, mündliche und schriftliche Mehrsprachigkeit von Männern aus dem Adel oder dem entstehenden Bürgertum und damit um elitäre Bildungsmehrsprachigkeit. Zu den Geschlechterverhältnissen und Mehrsprachigkeit bemerkt Jancke für die frühe Neuzeit, dass gerade lateinische
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Schriftlichkeit als Marker für Männlichkeit innerhalb der Sprachgemeinschaft zu verstehen ist (2005, 171). Anhand von Autobiografien stellt sie Beispiele mehrsprachiger weiblicher Schriftlichkeit mit Latein, aber auch in verschiedenen Landessprachen wie Französisch, Deutsch u. a. vor (ebd.). Mehrsprachigkeit innerhalb des deutschen Sprachraums ist außerdem ein Merkmal konfessioneller Flüchtlinge, z. B. von Calvinisten und Calvinistinnen, die in Frankreich im Zuge der Gegenreformation verfolgt wurden (vgl. Maas 2014, 195), aber auch von Migranten und Migrantinnen aus den spanischen Niederlanden in den niederdeutschen Sprachraum und aus Böhmen in den sorbischen Sprachraum (vgl. ebd., 196). Generell finden sich zahlreiche slawische autochthone Minderheiten im deutschen Sprachraum, die teilweise zweisprachig waren mit Deutsch und verschiedenen westslawischen Sprachen wie Pomoranisch, Kaschubisch und Sorbisch (vgl. ebd., 214). Erste schriftliche Erwähnungen für Romanes als Sprache der Roma (vgl. dazu ausführlich Matras 2009) im deutschsprachigen Raum stammen aus dem 15. Jahrhundert (vgl. Maas 2014, 199). Jiddisch wurde in der frühen Neuzeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts von Juden und Jüdinnen gesprochen und mit hebräischen Buchstaben geschrieben (vgl. ebd., 219; zum Sprachkontakt zwischen Westjiddisch und Mittelhochdeutsch bzw. Frühneuhochdeutsch vgl. Weinreich 2008, 430). In Bezug auf innere Mehrsprachigkeit kann zumindest teilweise von einer Situation der Diglossie zwischen deutscher Schreibsprache und regionalen Varietäten ausgegangen werden (vgl. von Polenz 1994, 200). In Bezug auf vertikale und horizontale Mehrsprachigkeit zeigt sich eine Verschiebung im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts zugunsten einer Aufwertung der Vernakularsprachen sowie eine stärkere Identifizierung mit den jeweiligen Landessprachen. Das zeigt sich besonders in der Haltung gegenüber Mehrsprachigkeit, die sich von Beginn der Renaissance bis zur Barockzeit verändert. Im Humanismus dominierte zunächst ein altsprachliches Mehrsprachigkeitsideal, das als erstrebenswert galt, aber nur für eine Minderheit zugänglich war. Gleichzeitig findet sich, etwa bei Hans Sachs, ein Ideal der Einsprachigkeit: „[D]em Muttersprachler die Muttersprache, aber besser keine Vermischung der Sprachen“ (Pott 2005, 86). Außerdem zeigen sich in den sprachkritischen Äußerungen der Zeit (etwa bei Georg Rollenhagen [1542–1609] oder Theobald Hoeck [1573–1622]) auch die mehrsprachigen Sprachkonflikte zwischen Latein und Deutsch (vgl. ebd., 88 f.). In der Barockzeit überwiegt dann die Kritik an Mehrsprachigkeit, die sich am deutlichsten als Widerstand gegen das Französische, Forderung nach Sprachreinheit und Arbeit der Sprachgesellschaften an der Etablierung eines deutschen Standards greifen lässt (zum Französischen in Barock und Aufklärung vgl. Roelcke 2014a). Diese Kritik und die Forderung nach Sprachreinheit führen zu einer sprach- und kulturpolitisch motivierten Absage an Mehrsprachigkeit, worunter vorwiegend die Verwendung von Französisch oder Latein anstelle des Deutschen (in mündlichen und schriftlichen Kommunikationssituationen) sowie Sprachmischungen in der mündlichen Rede oder in Texten verstanden wurde (vgl. von Polenz 1994, 109; zu Latein, Hebräisch und Grie
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chisch vgl. Roelcke 2014b). Die Forderung nach Einsprachigkeit verstärkt sich im 18. und 19. Jahrhundert.
4 Das 18. und 19. Jahrhundert: Ein- und Mehrsprachigkeit zwischen Verständigung und Nationalismus Das 18. Jahrhundert markiert zahlreiche Veränderungen in Bezug auf Mehrsprachigkeit im deutschsprachigen Raum: Latein verliert im Laufe der Zeit immer stärker an Bedeutung, bleibt aber als Wissenschaftssprache in geringerem Umfang bis ins 19. Jahrhundert aktiv. In immer mehr Bereichen – Wissenschaft, Bildung, Literatur, Wirtschaft, Administration – wird Deutsch verwendet. So kommt es im 18. Jahrhundert zu einer Binnendifferenzierung des Deutschen, indem neue Sprachdomänen erschlossen werden, die zuvor von Latein (Wissenschaft) oder Französisch (Literatur, Kultur) besetzt waren (vgl. Kimpel 1985, 6). Die Weiterentwicklung der deutschen Sprache bildet damit ein einsprachiges Gegenmodell zur mehrsprachigen Gelehrtheit der Renaissance. Kimpel erklärt die sprachreformatorischen Bestrebungen zur Einsprachigkeit durch die Sprachsituation in Deutschland nach 1700, die er zwischen Provinzialismus und Fremdbestimmung durch regionale Unterschiede und Orientierung am lateinischen und französischen Vorbild sieht (vgl. ebd., 2). Zentral dafür ist, dass sich die Bestrebungen für eine deutsche Einsprachigkeit gegen Prestigesprachen wie Latein und Französisch richten und damit „ständeübergreifend und gesellschaftsintegrativ gemeint“ sind (ebd.). Eine einheitliche Sprache soll dann im Sinne der Aufklärung Zugang zu Kunst und Wissenschaft auf Deutsch ermöglichen (vgl. ebd., 3), als „universale Vermittlungsinstanz, um die neuen Realien klar und deutlich vorzustellen und diesseitsgläubig zu nutzen“ (ebd., 4). Die aufgeklärte, rationalisierte Annahme, dass jeder Mensch über eine Sprache (und nicht mehr) verfügt, begründet das moderne Einsprachigkeitsparadigma, das sich schon in der Barockzeit zeigt, aber besonders im 19. Jahrhundert immer stärker zur nationalen Identitätskonstruktion eingesetzt wird. Dabei zeigt die soziolinguistische Sprachsituation sowohl im 18. als auch im 19. Jahrhundert, dass viele Menschen im deutschsprachigen Raum mehrsprachig waren. Innerhalb des deutschen Sprachraums ist Französisch die wichtigste moderne Fremdsprache des 18. Jahrhunderts, die über die höfische Kultur des 17. Jahrhunderts in den deutschsprachigen Bereich – nach Preußen genauso wie in das Habsburgerreich – kam und diesen durch das französischsprachige Theater, die Literatur und Kultur nicht nur sprachlich, sondern auch kulturell dominierte (vgl. dazu ausführlich Brunot 1934, 531 ff.). Die Auseinandersetzung mit dem Französischen dominiert daher auch die Debatte um Fremdsprachigkeit.
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Weiterhin wird Latein im Wissenschaftsbereich und im Recht verwendet und ist wie auch Griechisch Teil der altsprachlichen Ausbildung (vgl. von Polenz 1994, 50). Moderne Fremdsprachen wie Französisch, Englisch und Italienisch konnten z. B. im Rahmen einer kaufmännischen Ausbildung an der Handelsschule gelernt werden (vgl. Gessinger 1985, 107). Englisch kam dabei als neue Fremdsprache im 18. Jahrhundert dazu (vgl. Fabian 1985, 178). Innerhalb des Deutschen werden in verschiedenen Regionen unterschiedliche Dialekte gesprochen. Bezüglich äußerer Mehrsprachigkeit gab es im deutschsprachigen Raum regionale Unterschiede, die sich aus den unterschiedlichen staatlichen, sprachlichen, kulturellen, ethnischen und sozialen Umständen ergaben. Mehrsprachigkeit mit Französisch ist jedoch fast überall als eine elitäre Form äußerer Mehrsprachigkeit vorhanden, die für eine gebildete Oberschicht am Hof und in den Städten typisch ist (vgl. von Polenz 1994, 51). Tatsächlich konkurrierte Französisch im schriftlichen Bereich noch lange mit dem Lateinischen, da das Deutsche als „noch nicht entwickelt genug“ galt (Mattheier 1997, 31). Im mündlichen Bereich wurde Französisch aktiv und passiv in folgenden Situationen verwendet: mit Menschen ohne Deutschkenntnisse, als Konversationssprache im Adel und im Bürgertum, in bestimmten offiziellen Situationen und im Theater bei der Aufführung französischsprachiger Stücke (vgl. ebd., 34). Generell zeigen sich also begrenzte Sprachdomänen wie Kultur, höfische Kommunikation für den Adel bzw. im Bürgertum für eine Zweisprachigkeit mit Französisch. Der Hochadel sprach im 18. Jahrhundert nicht nur Französisch, sondern auch Italienisch (vgl. ebd., 31). Formen schriftlicher Mehrsprachigkeit mit anderen Sprachen wie z. B. Deutsch mit Französisch haben aufgrund der höheren Alphabetisierungsrate besonders ab ca. 1800 durch zugänglichere Schulbildung zugenommen (vgl. Maas 2014, 140). Migrantengruppen wie Hugenotten und Hugenottinnen als französische Sprachgemeinschaft sind ebenfalls im deutschen Sprachraum für die Verbreitung und den Erhalt des Französischen verantwortlich (vgl. Mattheier 1997, 32). Das zeigt sich auch im Alltagsleben: Im Französischen Dom in Berlin wurde bis ins 20. Jahrhundert hinein ein Gottesdienst auf Französisch gehalten (vgl. Mass 1985, 159). Latein ist immer noch wichtiger Bestandteil der altsprachlichen Bildung, der Wissenschaft und Religion und wurde, wie Roelcke (2020, 12) zeigt, von Gelehrten der Zeit immer noch als europäische Lingua franca angesehen und verwendet. Sprachkenntnisse, besonders Latein- und Griechischkenntnisse, konnten ab dem 18. Jahrhundert dem sozialen Aufstieg von Männern aus dem (Klein-)Bürgertum in die Welt der Gelehrten dienen, wie die Sprachbiographien von Heinrich Jung-Stilling und Karl Philipp Moritz zeigen (Schreiner 1992, 101). Der Zugang zur lateinischen Sprache wurde kontrolliert, um den möglichen Aufstieg unterer Schichten zu erschweren (vgl. ebd., 102). Außerdem gibt es unterschiedliche Sprachgemeinschaften von Minderheitensprachen mit Deutsch, die im 18. und 19. Jahrhundert ebenfalls regional (weiterhin) existieren. Dazu gehören z. B. Sprecher und Sprecherinnen des Dänischen und Friesischen
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im Herzogtum Schleswig (vgl. Pedersen/Stolberg 2020, 20) oder des Niederdeutschen in einer Diglossie-Situation mit dem Hochdeutschen (vgl. Goltz/Kleene 2020, 175). Als aus dem Sprachkontakt zwischen Hoch- und Niederdeutsch entstandene Mischsprache gilt ab dem 17. bis ins 20. Jahrhundert Missingsch als Varietät eines schriftlichen Niederdeutsch (vgl. ebd., 199). Auch Romanes (vgl. Halwachs 2020) wurde im 18. und 19. Jahrhundert von Sinti und Sintize sowie Roma und Romnja, die meist mehrsprachig waren, im deutschsprachigen Raum gesprochen. Jiddisch wurde als Varietät des Westjiddischen im 18. Jahrhundert noch als Familiensprache und im Alltag von der jüdischen Bevölkerung, die ca. 1 % der Gesamtbevölkerung ausmachte, verwendet und mit hebräischen Buchstaben geschrieben (vgl. Maas 2014, 156–158). Mehrsprachigkeit zwischen Jiddisch, Hebräisch (vorwiegend im Bereich der Religion) und Hochdeutsch war typisch für die gebildete jüdische Oberschicht wie den Aufklärer und Vertreter der Haskalah Moses Mendelssohn (1729– 1786) (vgl. ebd.). Charakteristisch war ebenfalls, dass Texte auf Deutsch, aber mit hebräischen Buchstaben geschrieben wurden, wie etwa die Korrespondenz mit der Familie von Rahel Levin Varnhagen Ende des 18. Jahrhunderts illustriert (vgl. Varnhagen 2009, 9–13, 1052 f.). In Osteuropa, auch in deutschsprachigen Gebieten wie etwa in Galizien oder im habsburgischen Ungarn, war Jiddisch im 18. und 19. Jahrhundert als Sprache des Judentums verbreitet und auch die jiddische Literatursprache etablierte sich aus dieser Varietät (vgl. Maas 2014, 164). Die Gebärdensprachgemeinschaft gehörloser Menschen im deutschsprachigen Raum formierte sich ebenfalls in der Zeit: „Die Anfänge der Gruppe, die sich heute als DGS-Gemeinschaft bezeichnet, werden auf das 18. Jahrhundert datiert“ (Jaeger 2020, 432). Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurden die ersten sog. ‚Taubstummeninstitute‘ im deutschsprachigen Raum eingerichtet, wobei dort generell unterschiedliche Auffassungen über den Einsatz von Gebärdensprache und Lautsprache herrschten (vgl. ebd., 433). Im 19. Jahrhundert etablierten sich weitere Institute, die Ausbildung von Kindern aus ärmeren Familien wurde zumindest teilweise staatlich unterstützt, etwa in Sachsen ab 1806. Ab 1848 organisierten sich gehörlose Personen auch in verschiedenen Vereinen (vgl. ebd., 434 f.). Als multimodale Form von Mehrsprachigkeit gibt es kaum schriftliche Dokumente mit der Deutschen Gebärdensprache. In derselben Zeit entwickelte sich die Habsburger Monarchie zu einem mehrsprachigen Vielvölkerstaat. Sprachpolitisch wurde die Mehrsprachigkeit ab der Mitte des 19. Jahrhunderts institutionalisiert:
Dieser Staat, das Kaiserthum Oesterreich (bzw. ab 1867 die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder) war ein Verfassungsstaat, der dem 1848/49 vom Reichstag in Kremsier erarbeiteten Grundsatz der Gleichberechtigung aller im Reiche vereinigten Nationalitäten Rechnung trug. (Feichtinger 2020, 25)
Zu den angeführten Landessprachen gehörten neben Deutsch Italienisch, Ungarisch, Böhmisch (Tschechisch und Slowakisch), Polnisch, Ruthenisch (Ukrainisch), Serbisch und Kroatisch (in kyrillischer bzw. lateinischer Schrift) und Rumänisch. Für diese
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Sprachen wurden Übersetzungen von Gesetzestexten etc. angefertigt (vgl. Feichtinger 2020, 25). In der Schul- und Universitätsbildung setzte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die jeweilige Landessprache durch – nachdem es besonders im 18. Jahrhundert teilweise eine Deutschpflicht und Sprachverbote gab (vgl. ebd., 26). Die konkrete Sprachsituation zwischen mehreren Sprachen führte zu Spannungen im Laufe des sich entwickelnden Kulturnationalismus des 19. Jahrhunderts (vgl. ebd., 27). Konkrete Sprachsituationen innerhalb des Vielvölkerstaats werden zum Thema in Studien zu mehrsprachigen Städten (zu Lviv/Lemberg vgl. Ptashnyk 2016a; 2013; 2008 und Fellerer 2019; zu Prag vgl. Nekula 2008; zu Osijek Lukić 2019) und multilingualen Regionen (zu Galizien vgl. Woldan 2012 und Fellerer 2005; zu Böhmen und Mähren Petrbok 2017; zu Transsilvanien und Banat vgl. Berecz 2019 und zur Bukowina van Drunen 2019). Generell lässt sich sagen, dass die Forschung zu Mehrsprachigkeit und Macht in der Habsburger Monarchie methodisch und theoretisch modellbildend und dadurch ein wichtiger Grundstein historischer Mehrsprachigkeitsforschung ist (vgl. Rindler Schjerve 2003, 2). Innere Mehrsprachigkeit bildet sich im Laufe des 18. Jahrhunderts durch die Ausdifferenzierung eines deutschen Standards weiter aus und vergrößert dabei auch den Unterschied zwischen mündlichen Varietäten, Dialekten, Regiolekten und schriftsprachlichen Varietäten, zu denen u. a. die sich etablierende fachsprachliche Verwendung der deutschen Sprache gehört (vgl. dazu Seibicke 1985, 45 f.). Die Entwicklung deutscher Fach- und Wissenschaftssprache in der Aufklärungszeit wird im Mündlichen von Christian Thomasius (1658–1728) beeinflusst, der in Leipzig und Halle Vorlesungen auf Deutsch hielt, und im Schriftlichen von den Texten Christian Wolffs (1679–1754) (vgl. von Polenz 1994, 359 f.). Gleichzeitig war die Entwicklung der Wissenschaftssprache durch das Lateinische und Französische geprägt, besonders Thomasius vertrat keine sprachpuristische Position, sondern verwendete Sprachmischungen in seinen Vorlesungen (vgl. ebd.). Weitere Formen innerer Mehrsprachigkeit ergaben sich durch mehrsprachig geprägte Soziolekte wie die Studentensprache mit Latein und Deutsch (vgl. Objartel 1985, 32). Auch innere Mehrsprachigkeit nimmt im Laufe des 18. Jahrhunderts eine vertikale Form von Mehrsprachigkeit an, indem sich ein deutscher Standard entwickelt, der sich nach der Schriftsprache richtet. Die nationalistische Sprachpolitik des 19. Jahrhunderts, z. B. die des Jungen Deutschlands, richtet sich dabei explizit gegen Dialekte (und Minderheitensprachen wie etwa das Niederdeutsche) zugunsten einer einheitlichen deutschen Nationalsprache (vgl. Maas 2014, 151). Dieser Bewegung setzt sich die romantische Dialektliteratur entgegen, die die ‚ursprüngliche‘ Volksdichtung und -sprache bewahren will (vgl. ebd., 152), jedoch mit wenig Erfolg. Zusammengefasst zeigt sich für Formen von Mehrsprachigkeit im 18. und 19. Jahrhundert eine gleichzeitige nationalistische Einschränkung von Mehrsprachigkeit sowie eine Erweiterung der Formen von Mehrsprachigkeit durch die Etablierung von modernen Sprachen, von Minderheitensprachen wie Jiddisch oder Gebärdensprache, durch die bessere und zugänglichere Schulbildung allgemein und durch eine höhe
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re Alphabetisierungsrate. Allein dadurch gibt es mehr Quellen zur mehrsprachigen Sprachverwendung im 18. und 19. Jahrhundert. Weitere Faktoren charakterisieren ebenfalls die moderne Mehrsprachigkeit des 18. und 19. Jahrhunderts: – das horizontale Nebeneinander europäischer Nationalsprachen mit simultaner Einschränkung regionaler, dialektaler Mehrsprachigkeit; – die Urbanisierung als Ursache mehrsprachiger Nachbarschaften in Städten mit unterschiedlichen, migrierten Einwohnern wie Berlin, Wien, Prag, Lemberg usw.; – Nachweise nicht-elitär gelehrter Mehrsprachigkeit in Texten, die als Journale, Briefe oder andere private Textsorten mündlicher Kommunikation nahestehen (z. B. im erwähnten Briefwechsel von Rahel Levin Varnhagen).
Diese Faktoren sind Vorzeichen hyperdiverser Mehrsprachigkeit im 20. und 21. Jahrhundert. Die Wahrnehmung dieser sprachlichen Entwicklungen wird jedoch von der mehrsprachigkeitskritischen, Einsprachigkeit fordernden Sprachkritik der Zeit verdeckt. Die aufklärerische Forderung einer Universalsprache wird im 19. Jahrhundert zu einer exkludierenden nationalistischen Sprach- und Kulturkonzeption, die über die gemeinsame deutsche Sprache funktioniert und 1871 durch die Gründung des Deutschen Reichs eine staatliche Einheit erhält (vgl. von Polenz 1999, 413; zu Sprache und Nation im 19. Jahrhundert vgl. Gardt 2000). Die Gleichsetzung von Sprache, Nation und Identität führt zu dem bis heute dominierenden Einsprachigkeitsparadigma im deutschsprachigen Raum.
5 Das 20. und 21. Jahrhundert: Mehrsprachigkeit, Migration, Minderheitensprachen Der Ausgangspunkt der Sprachsituation im 20. Jahrhundert ist eine etablierte schriftliche und mündliche Standardvarietät des Deutschen, die durch mehrsprachigen Sprachwandel und Sprachkontakte immer weiter aufbricht (vgl. Eichinger 2016, 17). Gleichzeitig gilt Hinnenkamps Urteil zur Mehrsprachigkeit im deutschsprachigen Raum: „Ein kurzer Blick auf die Verhältnisse der letzten hundert Jahre genügt, um deutlich zu machen, daß diese nie einsprachig waren“ (1998, 139). Die zeitgeschichtlichen Ereignisse, besonders der Erste und Zweite Weltkrieg, die Shoah und die Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands beeinflussen die Entstehung und Entwicklung verschiedener Mehrsprachigkeitskonstellationen im deutschsprachigen Raum. Die gravierenden politischen Veränderungen führen dazu, dass sich die Bedingungen für Mehrsprachigkeit im Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts teilweise radikal ändern. Dementsprechend wird Mehrsprachigkeit in Bezug auf folgende Schwerpunkte skiz-
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ziert: Mehrsprachigkeit und NS-Zeit, Mehrsprachigkeit und Migration sowie Mehrsprachigkeit und Minderheitensprachen heute. Die nationalistische und rassistische Politik des Nationalsozialismus schränkte die Rechte und Möglichkeiten von Sprachminderheiten ein und verfolgte sie. Sprecher und Sprecherinnen von Minderheitensprachen wie Sorbisch oder Romani wurden stigmatisiert, verfolgt und ermordet. Sorbisch wurde verboten, Angehörige der sorbischen Minderheit wurden verfolgt und unterdrückt (vgl. Menzel/Pohontsch 2020, 233). Die Verfolgung und der Genozid deutscher Roma und Romnja, Sintize und Sinti war eng mit der Sprache verbunden: Die Romanikenntnisse von Nationalsozialisten mit vorgetäuschtem Forschungsanliegen dienten dazu, die Familienstrukturen von Roma und Romnja und Sintize und Sinti auszuspionieren, und waren Grundlage für Deportationen (vgl. Halwachs 2020, 274). Bis heute zeigt sich daher eine Spracheinstellung der Sinti und Sintize, die eine Sprachweitergabe an Außenstehende tabuisiert (vgl. ebd.). Orte erzwungener Mehrsprachigkeit waren die Lager der Nationalsozialisten im deutschsprachigen Raum und in besetzten Gebieten, besonders in Polen. Innere und äußere Formen von Mehrsprachigkeit prägten die soziolinguistische Situation in den Konzentrationslagern wie Oschlies (2004) beschreibt. Die nach dem polnischen Schriftsteller Tadeusz Borowski als „Krematoriumsesperanto“ bezeichnete Lagersprache war je nach Lager unterschiedlich und reflektierte die vorher nie dagewesene Grausamkeit in den Sprachen der Menschen im Lager wie auch die der Sprache der Nationalsozialisten (Jagoda/Kłodziński/Masłowski 1987, 241). Polnisch-deutsche Neologismen der mehrsprachigen lagerszpracha (Lagersprache) in Auschwitz wie begrüssung cugangów (Begrüssung der Neuzugänge), kacetlager (KZ-Lager) und micenab (Mützen ab) bezeugen die brutale Realität (vgl. ebd., 242 f.): „Die sprachlichen Kontakte im Lager waren von der unmenschlichen Situation geprägt und mit Brutalismen, mit ordinären Verwünschungen und Ausrufen gesättigt“ (ebd., 241). Erzwungene Mehrsprachigkeit kennzeichnete auch die Situation der Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen bis 1945 und displaced persons nach 1945 (vgl. Hinnenkamp 1998, 139 f.). Migrationsbedingte Mehrsprachigkeit im deutschsprachigen Raum existierte schon vor dem Zweiten Weltkrieg. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts migrierten polnischsprachige Arbeiter und Arbeiterinnen in das Rhein-Ruhr-Gebiet (zur heutigen Mehrsprachigkeit in der Region vgl. Cindark/Ziegler 2016); zur gleichen Zeit kamen auch zahlreiche jüdische Osteuropäer und Osteuropäerinnen in die Region, die häufig jiddischsprachig waren (vgl. Hinnenkamp 1998, 139). In der neugegründeten Bundesrepublik Deutschland wie auch in der Deutschen Demokratischen Republik wurden ab den 1960er Jahren mit sog. ‚Gastarbeiter‘-Abkommen Menschen aus verschiedenen Ländern für befristete Arbeit in Deutschland u. a. aus der Türkei, Marokko, Portugal, Italien, Tunesien und Jugoslawien für die BRD und aus Polen, Ungarn, Algerien, Kuba, Mozambik, Angola und China für die DDR angeworben (vgl. Maas 2014, 43 f.; Hinnenkamp 1998, 139). Die Abkommen führten zu verschiedenen Arten von Migration, neben temporärer Migration für einige Jahre auch zu einer permanenten Migration
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nach Deutschland oder Pendelmigration zwischen verschiedenen Ländern. In jedem Fall kam es zu Sprachkontakten zwischen Deutsch und anderen Sprachen. Die Forschung befasste sich damit zunächst unter dem Schlagwort ,Gastarbeiterkommunikation‘ und in Hinblick auf den ungesteuerten Erwerb des Deutschen als Zweitsprache (vgl. Kutsch/Desgranges 1985, 1). Gegen Ende des 20. und mit Beginn des 21. Jahrhunderts leben Sprecher und Sprecherinnen migrationsbedingter Minderheitensprachen im deutschsprachigen Raum, was zu zahlreichen unterschiedlichen Sprachkontakten mit Türkisch, Russisch u. a. führt (vgl. Ptashnyk 2016b, 69). Ein weiterer Typ migrationsbedingter Mehrsprachigkeit mit Russisch und Polnisch betrifft die Sprachsituation sog. Aussiedler und Aussiedlerinnen mit deutscher Familiengeschichte aus Russland oder Polen (vgl. Beyer/Plewnia 2020, 8). Seit der Ratifizierung der Europäischen Charta für Regional- und Minderheitensprachen (Europarat 1992) ist der Gebrauch im öffentlichen Bereich der Sprachen einiger autochthoner Minderheiten, Friesisch, Dänisch, Sorbisch und Romani, geregelt (vgl. Beyer/Plewnia 2020, 8). Niederdeutsch ist als Regionalsprache anerkannt (vgl. ebd.). Die Deutsche Gebärdensprache (DGS), die je nach Angaben zwischen ca. 80 000 und 395 000 Nutzer bzw. Nutzerinnen in Deutschland hat, ist als eigenständige Sprache in Deutschland anerkannt, gehört aber rechtlich gesehen nicht zu den Minderheitensprachen (vgl. Jaeger 2020, 439). Neben bestimmten mehrsprachigen Regionen wie Norddeutschland mit Niederdeutsch oder Sorbisch in der Lausitz finden sich die diversen und superdiversen Dimensionen heutiger Mehrsprachigkeiten vor allem in Großstädten und werden u. a. unter dem Schlagwort Metrolingualität verhandelt (vgl. Androutsopoulos 2018, 201). Hierbei spielen auch Kontakte zwischen innerer und äußerer Mehrsprachigkeit eine Rolle, also der binnensprachlichen Mehrsprachigkeit (vgl. Ptashnyk 2016b, 69 f.). Englisch spielt als internationale Kommunikationssprache in der Wirtschaft und Politik, als Lingua franca in Europa (neben Französisch als Arbeitssprache der EU) und als Sprache der internationalen Wissenschaftskommunikation eine besondere Rolle, die historisch in diesem Umfang einmalig ist (vgl. Görlach 2000, 1117 f.). Englisch wird in zahlreichen Bereichen (Werbung, Tourismus, Wirtschaft, Popkultur, Mediennutzung) in Deutschland verwendet (vgl. Ammon 2014, 44 f.) und ist damit Teil des sprachlichen Repertoires weiter Teile der Bevölkerung (vgl. dazu auch Eichinger 2016, 18–20). Innerhalb von Europa wird zwar eine Mehrsprachigkeitspolitik verfolgt, die aber in verschiedenen Ländern auf der individuellen Ebene unterschiedlich stark umgesetzt wird, sodass nicht alle EU-Bürger und -Bürgerinnen mehrsprachig sind bzw. unterschiedliche Sprachen erlernen; auch bei den Sprachkenntnissen dominiert das Englische (vgl. Gerhards 2010, 16 f.). Im sprachlichen Alltag treten Formen von Mehrsprachigkeit zum einen im Mündlichen in den unterschiedlichen mehrsprachigen Sprachgemeinschaften auf. Neben code-switching und anderen Formen des translanguaging – Sprachpraktiken und Sprachhandeln in zwei oder mehr Sprachen jenseits von festen Sprachgrenzen (vgl. García/Wei 2018, 2) – wirkt sich Mehrsprachigkeit auch auf das Deutsche aus, wie
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etwa der Ethnolekt Kiezdeutsch zeigt, der von vorwiegend mehrsprachigen jungen Sprechern und Sprecherinnen in Großstädten verwendet wird (vgl. Wiese 2012, 34; zu Ethnolekten generell vgl. Riehl 2016, 35–37). Im Schriftlichen erscheint Mehrsprachigkeit im Stadtbild in offiziellen und inoffiziellen Zeichen (Gegenstand der Linguistic-landscape-Forschung, vgl. dazu Blommaert 2013; Ziegler/Marten 2021), in der Alltagskommunikation in E-Mails, Textnachrichten usw. gerade im Schreiben online als neue Form von medialer, mehrsprachiger Schriftlichkeit (vgl. Androutsopoulos 2018, 211). Sowohl diese Schreibweise als auch generell das Schreiben in mehreren Sprachen wird in der mehrsprachigen Gegenwartsliteratur reflektiert (vgl. Dembeck/Parr 2017). Auch in der superdiversen Sprachenwelt des 21. Jahrhunderts werden bestimmte Sprachen wie Französisch und Englisch besonders valorisiert, während migrationsbedingte Minderheitensprachen oder Varietäten stigmatisiert werden (vgl. Androutsopoulos 2018, 210). Generell herrscht gerade im Bildungsbereich immer noch der von Gogolin (2013) in den 1990er Jahren diagnostizierte monolinguale Habitus. Typisch für die Mehrsprachigkeit des 20. und 21. Jahrhunderts sind: – eine immer weiter diversifizierte, unterschiedliche Sprachen und Varietäten umfassende Mehrsprachigkeit von Individuen in mehrsprachigen Sprachgemeinschaften in Großstädten; – Neuerungen in der deutschen Sprache durch Sprachkontakte in Großstädten (Kiezdeutsch); – Englischkenntnisse der Bevölkerung, partielle Zweisprachigkeit mit Englisch, vor allem über digitale Mediennutzung; – eine vorwiegend auf Einsprachigkeit ausgerichtete (Schul-)Bildung, damit einhergehende Abwertung (migrationsbedingter) Mehrsprachigkeit; – eine europäische Förderung von Mehrsprachigkeit innerhalb von Europa. Insgesamt finden sich im deutschsprachigen Raum im 21. Jahrhundert unterschiedliche diverse mehrsprachige Kontakträume, in denen historisch tradierte und neue mehrsprachige Sprachgemeinschaften leben. Die Geschichte von Mehrsprachigkeit im deutschsprachigen Raum kann aufgrund zahlreicher Forschungslücken nur fragmentarisch dargestellt werden und bietet ein weites Feld für zukünftige Forschungen.
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6. Geschichte von Mehrsprachigkeit in Europa und in der Welt Abstract: Beginnend mit antiker Mehrsprachigkeit gibt der Beitrag einen groben Überblick über historische Formen oraler und textueller Mehrsprachigkeit in verschiedenen Weltregionen – China, Russland, Indien und Südostasien, südliches Afrika und Nordafrika sowie Süd- und Nordamerika. Im zweiten Teil wird fokussiert die Geschichte europäischer Mehrsprachigkeit dargestellt. Zunächst wird die mittelalterliche Mehrsprachigkeit mit Latein als europäische Gemeinsamkeit und im Unterschied zur osteuropäischen Mehrsprachigkeit mit anderen religiösen Sprachen wie Altkirchenslawisch, Griechisch oder Hebräisch vorgestellt. Dann werden die historischen Entwicklungen zwischen Nationalsprachigkeit und innereuropäischer Mehrsprachigkeit gezeigt, die die Zeit ab dem 16. Jahrhundert bis zum 19. Jahrhundert umfassen. In dem Kontext wird auch die Rolle europäischer Sprachen als Kolonialsprachen beschrieben. Danach werden Sprachen mit europäischer Geschichte – Jiddisch, Ladino und Romani – dargestellt. Abschließend wird die historisch begründete Entwicklung von Mehrsprachigkeit in globalen Zusammenhängen skizziert. 1 2 3 4 5
Geschichte von Mehrsprachigkeit in der Welt und in Europa: Probleme und Einschränkungen Mehrsprachigkeit in der Welt: Historischer Überblick von der Antike bis heute Historische Mehrsprachigkeit in Europa Ausblick: Mehrsprachigkeit im global village Literatur
1 Geschichte von Mehrsprachigkeit in der Welt und in Europa: Probleme und Einschränkungen Der Titel dieses Beitrags ist vermessen: Der aktuelle Stand der Forschung bietet eine unendliche Fülle an Material und Untersuchungen zu historischen Formen von Mehrsprachigkeit in der Welt und den dort lebenden mehrsprachigen Gemeinschaften auf allen Kontinenten, die von oraler Mehrsprachigkeit in der Pazifikregion bis zur Mehrsprachigkeit im osteuropäischen Schtetl im 19. Jahrhundert reichen. Eine umfassende Darstellung in der Kürze dieses Artikels ist unmöglich. Im Sinne des vorliegenden Handbuchs konzentriert sich der Artikel daher auf zentrale Aspekte globaler und europäischer historischer Mehrsprachigkeit, die im deutschsprachigen Kontext relevant sind. Zunächst bietet ein Unterkapitel einen Überblick von der mehrsprachigen Antike bis zur heutigen Mehrsprachigkeit in verschiedenen Weltregionen. Dabei zeigen sich verschiedene koloniale und postkoloniahttps://doi.org/10.1515/9783110623444-006
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le Situationen in Regionen mit hoher Mehrsprachigkeit, die häufig auch von Sprachkonflikten geprägt sind und waren. Mehrsprachigkeit innerhalb von Europa wird historisch in Bezug auf Vernakularsprachen und Latein sowie andere religiöse Sprachen (bis ca. 1600) und Mehrsprachigkeit und Nationalsprachen (1600 bis 1900) behandelt. In einem Unterkapitel zu „europäischen Sprachen“ (vgl. Braese 2010) werden Sprachgemeinschaften von Sprachen mit einer mehrsprachigen, europäischen Geschichte wie Jiddisch, Romani und Ladino betrachtet. Historische Mehrsprachigkeit bezieht sich dabei, wie in Mende (Beitrag 5 in diesem Band) ausführlicher dargestellt, auf soziale, individuelle, institutionelle Mehrsprachigkeitsphänomene, die notwendigerweise textuell überliefert wurden. Der Aspekt textueller Überlieferung, der eine historische Betrachtung ermöglicht, benachteiligt gleichzeitig vorwiegend mündliche Formen historischer Mehrsprachigkeit. So kommentiert Franceschini (2013, 1), dass die Regionen mit der höchsten Sprachdiversität wie Papua-Neuguinea oder Nigeria gleichzeitig kaum schriftlich dokumentiert sind. Gleichzeitig ist auch der Stand der Forschung für verschiedene Epochen, Gebiete und Sprachen unterschiedlich. Generell gilt, wie Franceschini feststellt, dass explizit historische Forschung bzw. eine Geschichte der Mehrsprachigkeit auch global noch in den Kinderschuhen steckt (vgl. ebd.). Der Beitrag enthält also keine umfassende Darstellung zur Geschichte von Mehrsprachigkeit in der Welt, wie der Titel erhoffen lässt, sondern eine Zusammenfassung, die den Blick des Artikels zu Mehrsprachigkeit im deutschsprachigen Raum in diesem Band um eine europäische und globale Sicht erweitert.
2 Mehrsprachigkeit in der Welt: Historischer Überblick von der Antike bis heute 2.1 Mehrsprachigkeit in der Antike Mehrsprachigkeit zeigt sich weltweit seit der Antike, sodass trotz weniger Quellen Sprachkontakte, Funktionen von Sprachkontakt zwischen unterschiedlichen Sprachen sowie Sprechern und Sprecherinnen nachvollzogen werden können. Eine der ältesten Quellen mehrsprachiger Schriftlichkeit sind die mehrsprachigen Grammatiken und Wortlisten auf sumerischen Tontafeln, die für Verwaltungsprozesse gebraucht wurden (um ca. 2600 v. Chr.) (vgl. Franceschini 2013, 2). Auch die hethitischen Tontafeln in Keilschrift zeugen von „Mehrsprachigkeit der Kulturen des Alten Orients“ mit sumerisch-akkadischem Wortschatz und teilweise hethitischen Übersetzungen, wobei Akkadisch in der Zeit (2. Jahrtausend v. Chr.) als internationale Sprache der Diplomatie verwendet wurde (vgl. Dardano 2011, 50). Labrique beschreibt Mehrsprachigkeit mit Griechisch im antiken Ägypten anhand von Stelen (2011, 2 f.; zu lateinischen
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Sprachspuren in Ägypten siehe Adams 2009, 527). Ramón (2011, 27) erwähnt eine Beschreibung von Mehrsprachigkeit bei Homer und diskutiert Thesen zu anatolischgriechischen Sprachkontakten im 2. Jahrtausend v. Chr., die sich vorwiegend über Lehnwörter und lexikalische Gemeinsamkeiten ableiten lassen, aber nicht endgültig beweisbar sind (vgl. ebd., 32). Innerhalb des arabischen Sprachraums gibt es auch schon seit vorchristlicher Zeit Sprachspuren des Arabischen in Mesopotamien, Syrien u. a., in späterer Zeit bis heute existieren arabische Dialekte und modernes Standardarabisch bzw. die Sprache der Religion und Literatur in einer Diglossie-Situation (vgl. Rosenhouse 2013, 901). Im römischen Imperium herrschte vorwiegend eine Diglossie-Situation zwischen Latein und Umgebungssprachen, wobei Latein als offizielle Sprache und Schriftsprache fungierte. Das Griechische hatte durch seine weite Ausbreitung und seine kulturelle Dominanz eine besondere Rolle (vgl. Boschung/Riehl 2011, IV). Mehrsprachigkeit zwischen Latein und Griechisch war für die Mitglieder der römischen Reichsaristokratie notwendig und erwünscht (vgl. Eck 2011, 95). Auch griechische Sklaven und Sklavinnen im römischen Reich waren mehrsprachig (Franceschini 2013, 2). Im römischen Germanien ist Latein die einzige Schriftsprache, während in Gallien auch das Gallische als keltische Sprache für Inschriften verwendet wurde (Meißner 2011, 105). Die fragmentarischen Spuren antiker Mehrsprachigkeit mit Latein und den Sprachen eroberter Völker im römischen Reich nimmt Eck auf, indem er z. B. die Namenswahl eines thrakischen Soldaten untersucht, der in Mauretania Caesariensis gedient hat, seinen Kindern aber thrakische Namen gab (vgl. Eck 2011, 88). In Byzanz ist „die Mehrsprachigkeit eine nicht zu seltene Erscheinung des Alltags“, die aber „nur beiläufig Erwähnung findet“, wie Schreiner (2011, 125) vorsichtig formuliert. Beispiele wären etwa die slawisch-griechische Mehrsprachigkeit in Thessaloniki im byzantinischen Reich (vgl. ebd.). Dabei war das Griechische selbst schon mehrsprachig mit einer gelehrten, schriftsprachlichen Varietät und einer alltagssprachlichen Varietät (dimotike), die auch als Ausgangspunkt für Jean Psicharis Diglossiekonzept dienen (vgl. ebd., 127). Weitere Sprachkontakte mit Griechisch im byzantinischen Reich sind im Osten für Armenisch, Turksprachen und Persisch nachgewiesen (vgl. ebd., 130). Auch der Balkanraum entwickelte sich nach der Eroberung durch die turksprachigen Protobulgaren nach 681 zu einer mehrsprachigen Region mit südslawischen Sprachen und Griechisch (vgl. ebd., 133 f.). Besonders erwähnt wird auch die mehrsprachige Situation durch migrierende Minderheiten in den Städten des byzantinischen Reiches wie Konstantinopel (vgl. ebd., 135).
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2.2 Historische Mehrsprachigkeit in verschiedenen Weltregionen 2.2.1 Historische Mehrsprachigkeit in China Mehrsprachigkeit in China hat eine lange Geschichte, die jedoch nur teilweise dokumentiert werden kann. Bis 221 v. Chr. ist in China keine Mehrsprachigkeit nachweisbar, was allerdings vor allem an dem Quellenmangel liegt (vgl. Boltz 2018, 401). Für die frühe Geschichte Chinas, auch während der Han Dynastie (206 v. Chr. bis 25 n. Chr.), finden sich immer wieder Spuren des Sprachkontakts mit anderssprachigen Völkern, etwa den nomadisch lebenden Xiōngnú, jedoch gibt es wenige bis keine schriftlichen Nachweise (vgl. ebd., 402). Das änderte sich mit der nicht-chinesischen Qing-Dynastie: „Only with the demise of the Ming and the founding of the non-Chinese Manchu Qing dynasty did a genuine concern with the multilingual nature of the Chinese state again emerge“ (ebd., 423). Im 18. Jahrhundert erschienen mehrsprachige Wörterbücher mit Manju, Mongolisch, Chinesisch sowie Tibetisch und Uigurisch (vgl. ebd.). Auch die Kolonialzeit hat sprachliche Spuren hinterlassen. Die frühere portugiesische Kolonie Macau umfasst immer noch eine kleine, mehrsprachige Sprachgemeinschaft, die Portugiesisch, Kantonesisch und teilweise Englisch spricht, bis 1992 war Portugiesisch die einzige offizielle Sprache. Davor sprachen viele ein portugiesisches Kreol, Macanesisch (vgl. Lee/Li 2013, 819). Weitere Beispiele von historisch begründeter Mehrsprachigkeit mit chinesischen Dialekten/Sprachen finden sich in Indonesien und Malaysia mit Chinesisch als Minderheitensprache oder in Singapur mit einer größeren chinesischen Sprachgemeinschaft (vgl. ebd., 826 f.). Die chinesische Sprache kann in sieben Dialektgruppen unterteilt werden: Mandarin, Wu, Xiang, Gan, Hakka, Yue und Min, wobei sich die jeweiligen Sprachgemeinschaften untereinander nur teilweise verstehen können, die Interkomprehension ist eher vergleichbar mit verschiedenen Sprachen einer Sprachfamilie (vgl. ebd., 814). Es gibt 55 Minderheiten, deren Sprachen offiziell anerkannt werden sowie zahlreiche weitere (zwischen 80 und 100), die keinen speziellen Status haben. Einige der Sprachen haben eine lange schriftsprachliche Geschichte (Tibetisch, Mongolisch, Uigurisch, Koreanisch), andere haben keine oder eine relativ kurze schriftliche Tradition. Viele Angehörige von Minderheiten sind zwei- oder mehrsprachig (vgl. ebd., 815). Heute gibt es unterschiedliche, staatlich erwünschte Formen von Zweisprachigkeit (modernes Standardchinesisch und eine Minderheitensprache) sowie Mehrsprachigkeit mit Fremdsprachen, besonders Englisch (vgl. ebd., 816).
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2.2.2 Historische Mehrsprachigkeit in Russland Die Geschichte von Mehrsprachigkeit im heutigen Gebiet Russlands begann schon in der Zeit der Kiewer Rus ab 1000 n. Chr. mit ostslawischen, baltischen, finno-ugrischen Kontakten, die heute oft nur in Toponymen überliefert sind (vgl. Comrie 1981, 19). Mit der Eroberung Sibiriens und des Kaukasus kam Russisch in Kontakt mit zahlreichen weiteren Sprachen in äußerst heterogenen Regionen (vgl. ebd., 19 f.). Auch die Eroberung von westlichen Gebieten, Teilen der Ukraine und Polens im 17. und 18. Jahrhundert, führte zu Mehrsprachigkeit (vgl. ebd., 20). Diese Ausdehnung zeigt sich in den Sprachen des russischen Zarenreichs wie auch in der UDSSR (vgl. ebd.). Sprachpolitisch wurde Mehrsprachigkeit im Zarenreich oft unterdrückt, indem Minderheitensprachen bzw. die dominanten Sprachen eroberter Gebiete verboten waren bzw. kein rechtlicher Anspruch auf ihren Gebrauch bestand und stattdessen Russisch verwendet wurde (vgl. ebd., 21). Die sowjetische Sprachpolitik hingegen erkannte alle Minderheitensprachen an, die klar als autochthone Sprachen Russlands definiert waren, und ermöglichte offiziell kulturelle Bildung, Amtsgänge und den Gebrauch der Sprache in allen Lebenslagen, was oft mit einer ersten Verschriftlichung und Alphabetisierung von Minderheitensprachen einherging (vgl. ebd., 22). Gleichzeitig gab es auch hier später eine Bewegung hin zu weniger Sprachen und zu Russisch als Lingua franca (vgl. ebd., 27). Auch heute gibt es ein Spannungsverhältnis zwischen russischer Einsprachigkeit und Mehrsprachigkeit, besonders in ehemaligen sowjetischen Gebieten, wie Schlyter (2003) für Zentralasien zeigt. Zentralasien ist und war eine hochgradig mehrsprachige Region, ausgelöst durch hohe Mobilität der dort lebenden Menschen durch Nomadentum, Krieg, Handel, wirtschaftliche und politische Migration und sogar Deportationen (vgl. ebd., 157). Diese Mehrsprachigkeit unterlag im 20. Jahrhundert sowjetischer Sprachpolitik:
Soviet language policy was a radical reform programme which by no means reached its goals and which was modified and redefined several times during the Soviet era. Its course of development went from comprehensive reform work on local vernaculars to a multilingual modus vivendi between the all-union Russian language and other languages, at times accompanied by ideological and linguistically obscure visions of the ,rapprochement‘ (Russian sblíženie) and ,merging‘ (Russian slijanie) of nationalities. (ebd., 161)
Dabei umfasst diese Mehrsprachigkeit Sprachen unterschiedlicher Sprachfamilien, vorwiegend Turksprachen, indo-europäische, semitische Sprachen sowie unterschiedliche chinesische Dialekte (vgl. ebd., 159). Die Sprachkontakte zwischen diesen sehr unterschiedlichen Sprachen brachten auch Pidgin-Sprachen, wie etwa Kyahta zwischen zaristischen Russen und chinesischen Händlern oder die turko-chinesische Pidgin-Sprache Hezhou, hervor (vgl. ebd., 160).
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2.2.3 Historische Mehrsprachigkeit in Indien und Südostasien Südasien ist eine der mehrsprachigsten Gegenden der Welt: South Asia (India, Pakistan, Nepal, Bangladesh, Sri Lanka, Bhutan, and the Maldives) represents an astonishing array of linguistic diversity with four language families, and more than 650 languages as well as numerous geographical, social, ethnic, religious, and rural varieties or dialects. (Bhatia/Ritchie 2013, 843)
Indien hat eine lange und umfangreiche mehrsprachige Geschichte. Die hochgradig mehrsprachige Situation in Indien umfasst 23 offizielle Sprachen sowie zwischen 216 und 1500 Dialekte und Sprachvarietäten, die unterschiedlichen Status haben (vgl. ebd., 846). Historisch gibt es Verbindungen zu verschiedenen Literatur- und Sprachtraditionen: Urdu entstand im Kontakt mit der persischen und arabischen Tradition, Hindi aus dem Sanskrit (vgl. ebd., 847). Sanskrit hatte als Sprache der Schriften des Hinduismus und der klassischen Literatur hohes Prestige. Die Sprache hatte einen großen Einfluss auf andere, dravidische Sprachen, in denen sich zahlreiche Lehnwörter finden (vgl. ebd., 851). Außerdem galt sie als Statusmerkmal: In addition to this, Sanskrit become a marker of caste identity and, hence, gave rise to diglossic bilingualism through Brahmin speech in Dravidian languages, particularly in Tamil [...]. As a consequence, Sanskrit acquired functional/topical domains such as religion, philosophy, poetics, science, technology, and mathematics in Dravidian as well as Indo-Aryan-speaking areas; Sanskrit thus became the single most important marker of Indian culture – both in the north and in the south. (ebd.)
Persisch wurde als Sprache der türkischen Eroberer in Indien ab dem 12. Jahrhundert relevant und wurde ab dem 17. Jahrhundert zu einer wichtigen Quelle für Entlehnungen wie auch zu einer Kultur- und Prestigesprache im Mogulreich (bis 1858) der muslimischen Herrscher (vgl. ebd., 852). Der Kontakt mit dem Englischen begann in der Kolonialzeit und entwickelte sich über die Sprache der Kolonialmacht zu einer wichtigen Bildungssprache und schließlich zu einer Integration bzw. Vereinnahmung des Englischen in die linguistische Sprachlandschaft Indiens (vgl. ebd., 854). Im Zusammenspiel der verschiedenen Sprachen in Indien heute werden, wie Bhatia und Ritchie zeigen, jahrhundertealte Traditionen des Spracherhalts und Sprachwechsels wie auch Sprachkonflikte und Identitätsmerkmale wie Geschlecht, Religion, Kaste wirksam (vgl. ebd., 863 f.). Home language maintenance is yet another salient feature of Indian bilingualism. Pandit (1977) observed that a „second generation speaker“ in Europe and America gives up his native language in favor of the dominant language of the region; language shift is the norm and language maintenance an exception. In India language maintenance is the norm and shift an exception. (ebd., 864)
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Aufgrund der langen Geschichte von Mehrsprachigkeit sind die indische Sprachgeschichte und der Umgang mit Mehrsprachigkeit vorbildhaft für Studien zu Mehrsprachigkeit.
2.2.4 Historische Mehrsprachigkeit im Mittleren Osten und Nordafrika und im südlichen Afrika Die wechselreiche Geschichte des Mittleren Ostens und Nordafrikas ist ebenfalls durch Eroberungen geprägt und führte zu verschiedenen historischen Sprachkontakten mit den arabischen Eroberern ab dem 7. Jahrhundert, den mongolischen und türkischen Herrschern durch die Zurückdrängung des islamischen Herrschaftsbereichs oder auch durch europäische Kreuzzügler ab dem 12. Jahrhundert. Spätere Kontakte ergeben sich u. a. durch die Kolonialisierung. Innerhalb des islamischen Reiches gab es Mehrsprachigkeit mit Berbersprachen, Aramäisch, Latein und Griechisch (vgl. Rosenhouse 2013, 900). Viel Material gibt es zu lexikalischen Sprachkontakten zwischen Arabisch und anderen Sprachen (Berber, Französisch, Persisch) der Region (vgl. ebd., 904). Relativ spät hat sich mit der Gründung des Staates Israel modernes Hebräisch in der Region etabliert, wobei Hebräisch als Literatur- und Religionssprache generell in jüdischen Gemeinschaften global verankert ist. Die Sprachsituation in Israel war besonders im 20. Jahrhundert durch Migration aus verschiedenen Ländern hochgradig mehrsprachig. Bis heute hat Israel aufgrund der geographischen und politischen Situation zwei Amtssprachen, Hebräisch und Arabisch (vgl. ebd., 901 f.). In südafrikanischen Sprachgemeinschaften ist Mehrsprachigkeit auch aus historischen Gründen die Norm, wobei Kamwangamalu von folgender Unterscheidung ausgeht:
Extending Skutnabb-Kangas’ (1981) description of bilingualism to the case of multilingualism, two types of multilingualism can be distinguished in Southern Africa: elite multilingualism and natural multilingualism. (2013, 792)
Die Region im Süden des afrikanischen Kontinents teilt sich in die Länder Angola, Botswana, Eswatini, Lesotho, Malawi, Mosambik, Namibia, Südafrika, Sambia und Simbabwe und war im 19. Jahrhundert zwischen den deutschen, portugiesischen und britischen Kolonialmächten aufgeteilt (vgl. ebd., 791). Die Kolonialgeschichte zeigt sich in der heutigen Sprachsituation, da in vielen Ländern die ehemalige Kolonialsprache jetzt als Amtssprache fungiert (z. B. Englisch als offizielle Sprache neben Swati und Sesotho in Eswatini oder als alleinige Amtssprache in Malawi oder Botswana). Die ehemalig deutsch kolonialisierte Region in Namibia verwendet jetzt Englisch, in lusophonen Regionen erhielt sich das Portugiesische (vgl. ebd.).
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2.2.5 Historische Mehrsprachigkeit in Nord- und Südamerika In Nordamerika wurden bis zum 16. Jahrhundert hunderte verschiedene Sprachen gesprochen, die zu unterschiedlichen Sprachfamilien gehörten, wobei auch hier durch Handel und Sprachkontakte einige Sprechende mehrsprachig waren. Kontakt mit den europäischen Kolonialmächten führte auch zu mehr Sprachkontakt: „The result of this European contact was not so much the assimilation of the natives as their annihilation“ (Mackey 2013, 709). Die ursprünglichen amerikanischen Sprachen, die überlebten, sind heute Minderheitensprachen (vgl. ebd.). Mackey beschreibt die Ergebnisse historischer Mehrsprachigkeit im heutigen Nordamerika wie folgt: Als Ergebnis der Kolonialisierung gibt es im französischsprachigen Bereich um Quebec Mehrsprachigkeit mit Englisch, in Kalifornien mit Spanisch und Englisch. In einigen Gegenden haben sich zweisprachige Gemeinschaften mit Englisch und indigenen Sprachen erhalten. Die Mehrheit der 300 Mio. Englisch-Sprechenden in Nordamerika ist einsprachig (vgl. ebd., 710). Das koloniale Amerika umfasste verschiedene koloniale Sprachen wie Englisch, Niederländisch, Deutsch, Französisch, Schwedisch und Russisch (vgl. ebd., 708). Zahlreiche Menschen, die nach Amerika emigrierten, kamen aus mehrsprachigen Gebieten wie etwa aus Grenzgebieten des Habsburger Reichs, Flüchtlinge aus Uganda oder aus dem multinationalen Jugoslawien. Für andere waren die USA eine weitere Station ihrer Migration z. B. aus der Türkei über Deutschland (vgl. ebd.). Zahlen zu heutigen Mehrsprachigen in Nordamerika sind unzuverlässig, Mackey schätzt, dass zwischen 10 und 15 Prozent der Bevölkerung mehrsprachig ist, also ca. 80 Mio. Menschen (vgl. ebd., 718). Formen migrantischer Mehrsprachigkeit finden sich besonders in den hyperdiversen Großstädten (vgl. ebd., 711). Darüber hinaus sind zahlreiche Sprachgemeinschaften von (historischen) Minderheitensprachen belegt, die europäischen, asiatischen, arabischen Ursprungs sind, darunter etwa Chinesisch, Dänisch, Polnisch, Syrisch oder Jiddisch (vgl. ebd., 713). Die Kolonialgeschichte Südamerikas führte im 15. und 16. Jahrhundert sprachlich zu Sprachkontakt zwischen den Kolonialsprachen Spanisch und Portugiesisch mit zahlreichen indigenen Sprachen. Es wird angenommen, dass um 1492 über 2000 Sprachen im gesamten amerikanischen Gebiet gesprochen wurden (vgl. Escobar 2013, 725). Über die Sprachsituation vor der Kolonialisierung ist heute wenig bekannt. Allerdings kann teilweise von mehrsprachigen Sprachgemeinschaften ausgegangen werden, da z. B. die Inkas in den Andenregionen ihre Sprache, Quechua, als Hegemonialsprache in eroberten Gebieten verwendeten (vgl. ebd., 725, 727). Zahlreiche Sprachen starben aus, als ihre Sprachgemeinschaften von den Kolonisten ermordet wurden (vgl. ebd., 726). Größere Sprachgruppen, wie die Sprechenden von Nahuatl, Maya, Quechua, Aymara, Guarani und Mapudungun, überlebten und ihre Sprachen wurden teilweise von spanischen Missionaren, die auch die ersten Grammatiken schrieben, als Linguae francae gelernt (vgl. ebd.). In der Karibik finden sich neben Spuren indigener Sprachen auch umfangreiche Einflüsse von Mehrsprachigkeit mit afrikanischen Sprachen durch mehrsprachige Menschen, die versklavt und dorthin verschleppt wur
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den (vgl. Escobar 2013, 726; siehe zu Sprache und Sklaverei Arends u. a. 2017). Die verschiedenen Regionen wie Mexiko und Zentralamerika, in der Karibik oder in den Anden unterscheiden sich in ihrer Sprachpolitik in Bezug auf Mehrsprachigkeit und fördern indigene bzw. Minderheitensprachen unterschiedlich stark (vgl. Escobar 2013, 729–733).
3 Historische Mehrsprachigkeit in Europa In Europa, aus heutiger Perspektive immer noch unter dem Einsprachigkeitsideal verschiedener Nationalsprachen stehend, die nebeneinander existieren, waren in jeder Zeit immer zwei oder mehr Sprachen im Kontakt: In Europe, throughout history and throughout individual countries and the Continent as a whole, two or more languages have been in contact. Therefore, the term bilingualism is taken here in its broadest sense as a cover term for all situations, bilingual and multilingual. It would nevertheless be wrong to pretend that monolingual people are not found in Europe: they are numerous indeed, but they always live in societies and groups where different languages are present in their written and/or oral forms. (Tabouret-Keller 2013, 745)
Diese Sprachkontakte lassen sich in den verschiedenen Regionen und Ländern Europas grob in folgende Perioden fassen: nach der Antike eine Phase der Zwei- und Mehrsprachigkeit zwischen Latein und verschiedenen Vernakularsprachen sowie anderen religiösen Sprachen. Dann ein Neben- und Miteinander verschiedener Nationalsprachen, in denen kommuniziert und konkurriert wird und die im 18. und 19. Jahrhundert ein neues Sprachhierarchiesystem mit Französisch als Verkehrssprache bilden. Zuletzt eine global hyperdivers ausgerichtete Mehrsprachigkeit neben regionalen Mehrsprachigkeiten ab dem 20. Jahrhundert. In verschiedenen Ländern und sprachlichen Regionen vollziehen sich diese Entwicklungen unterschiedlich. Im Folgenden wird ein Überblick über Unterschiede und Gemeinsamkeiten gegeben.
3.1 Mehrsprachigkeit mit Latein in Europa Das europäische Mittelalter ist mehrsprachig: „Der Transfer zwischen 2 oder mehreren Sprachen ist eine kulturelle Konstante des europäischen Mittelalters“ (Putzo 2011, 11). Dabei ist die Mehrsprachigkeit zwischen Latein und Vernakularsprachen am einfachsten nachzuvollziehen, da Latein noch lange die Funktion als Schriftsprache beibehielt. Jedoch zeigen sich auch Beispiele für Mehrsprachigkeit zwischen verschiedenen Vernakularsprachen. Über das Verhältnis von Latein und Volks- oder Vernakularsprache wird ab dem Mittelalter auch Mehrsprachigkeit und Einsprachigkeit bewertet und beurteilt. Das zeigt sich u. a. darin, dass die Vernakularisierung selbst durch lateinische Schriften vorangebracht wurde:
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If we were to exaggerate slightly, we might state that the formation of European national cultures starts and ends with a treatise in Latin in praise of the vernacular, viz. Dante’s De vulgari eloquentia („On the Vernacular“, ca. 1300), the first manifest example of a work about the use of the vernacular, and Jacob Grimm’s inaugural lecture at Göttingen, De desiderio patriae („On the Longing for the Homeland“, 1830). (Bloemendal 2015, 1)
Latein war dabei besonders durch seine Funktion der Schriftlichkeit auf bestimmte Bevölkerungsgruppen beschränkt. Das Verhältnis zwischen Latein und volgare wird zu der Zeit u. a. auch am Geschlecht festgemacht, wie die heutige Forschung kritisch bemerkt. Dazu gehörte die Darstellung des volgare als ‚Muttersprache‘, da Frauen die Fähigkeit abgesprochen wurde, Lateinkenntnisse zu erwerben. Latein entsprach in der Vorstellung der ‚Vatersprache‘ (vgl. Gramatzki 2005, 200): „Das Volgare wird demnach [nach Dantes De vulgari eloquentia] als die von den Frauen vermittelte Sprache definiert, als ,Ammen-‘ bzw. ,Muttersprache‘“ (ebd., 201). Die Muttersprache, volgare, wird dabei der inneren, ,weiblichen‘ Sphäre zugeordnet, Latein und Griechisch dem ‚männlichen‘, außerfamiliären Bereich von Schule und Universität (vgl. ebd., 202). Dass diese Metapher nicht hält, zeigt sich auch an der realen Sprachsituation: Latein und Volkssprachen bildeten keine separaten Bereiche, sondern überlappten sich in diversen Sprachkontaktzonen:
However, there is a growing awareness that Latin and the vernacular did not take turns representing an old and new Europe, but rather coexisted together for centuries in overlapping and mutually influential communities. (Bloemendal 2015, 2)
In anderen europäischen Ländern gab es häufig eine stärkere volkssprachige Mehrsprachigkeit als in Deutschland. Im mittelalterlichen Frankreich wurden verschiedene Varietäten der langue d’oïl im Norden gesprochen (Franzisch, Normannisch, Champagnisch, Pikardisch, Wallonisch, Lorrainisch u. a.) und Varietäten der langue d’oc im Süden (Gaskognisch, Languedokisch, Provenzalisch, Dauphinisch u. a.) (vgl. Putzo 2011, 22). In Spanien existierten mit Kastilisch, Katalanisch, Portugiesisch, Galizisch, sephardisches Ladino und Arabisch ebenfalls zahlreiche Sprachen nebeneinander (vgl. ebd., 22 f.). Auch in Italien war die Sprachenvielfalt enorm, da sich dort das Lateinische „in untereinander nur bedingt verständliche […] Stadt- und Regionaldialekte entwickelt hatte“ (ebd., 23), dazu zählen etwa das Genuesische, Venezianische, Sizilianische und Pisanische. In Sizilien fanden sich außerdem die Sprachen verschiedener Eroberer: Griechisch, Arabisch, Kastilisch, Deutsch (vgl. ebd.). Auf den britischen Inseln wurden keltische, skandinavische und englische Dialekte gesprochen (vgl. ebd., 21). Auch im Mittelalter gibt es Mehrsprachigkeit zwischen Volkssprachen (d. h. ohne Latein), z. B. als Merkmal von Klassenunterschieden nach der normannischen Eroberung Englands, nach der die oberen Schichten Französisch lernen mussten (vgl. Franceschini 2013, 3). Auch in Skandinavien bestand Mehrsprachigkeit mit Latein und weiteren Volkssprachen, etwa Altschwedisch und Niederdeutsch (vgl. Höder 2020, 231).
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Mittelalterliche Mehrsprachigkeit in Ostmitteleuropa ist komplexer als das Verhältnis von Latein und Volkssprachen: Hier gab es schon auf der Ebene der ‚heiligen Sprachen‘ eine größere Vielfalt mit Latein, Griechisch, Kirchenslawisch, Altarmenisch und Hebräisch (vgl. Bömelburg/Daiber 2020, 14). Diese standen im Kontakt mit lange nicht verschriftlichten Volkssprachen, Tschechisch, Polnisch, Litauisch, Ukrainisch, und waren vorbildhaft für die Verschriftlichung dieser Sprachen ab dem 13. Jahrhundert (Tschechisch), 14. Jahrhundert (Polnisch) usw. (vgl. ebd., 15). Daneben wurden Jiddisch und als Handelssprache häufig Deutsch gesprochen (vgl. ebd., 14). Im mittelalterlichen Königreich Polen wurden neben Latein als Sprache des offiziellen und klerikalen Schriftverkehrs Polnisch, Tschechisch, Deutsch, Litauisch und andere ostslawische Sprachen sowie ihre Varietäten verwendet (vgl. Kopaczyk/Włodarczyk/ Adamczyk 2016, 17). Hier wurde Deutsch zu einer wichtigen Kommunikationssprache auch in nicht-deutschsprachigen Gebieten (vgl. ebd., 18). In Ungarn wurde Latein neben Ungarisch und anderen Volkssprachen verwendet (vgl. Mattheier 2000, 1100). Im Westen und Osten Europas wurde Französisch zu einer wichtigen überregionalen Sprache unter den Volkssprachen: Aside from Latin, the other medieval language of prestige, and the language central to this collection, was French. Perhaps French had an even better claim to being the international language of choice than did Latin. The Florentine notary Brunetto Latini wrote his Livres dou Tresor (1265) in French, because (in his words) French „est plus delitable et plus commune a tous langages“ (is sweeter and has more in common with all other languages). (Putter/Busby 2010, 2)
In (spät-)mittelalterlichen Sprachsituationen existierten also alte Sprachen, im Westen Latein, in Ostmitteleuropa neben Latein auch Kirchenslawisch, Griechisch u. a. neben zunächst mündlichen, dann stärker auch schriftlich verwendeten Varietäten von Volkssprachen (vgl. Amsler 2011, 22). Daneben begann Französisch schon im Mittelalter eine Sonderrolle in der europäischen Kommunikation einzunehmen. In Ostmitteleuropa war Deutsch die Sprache des Handels. Nationalsprachen und europäische Kommunikationssprachen entwickelten sich ab dem 16. Jahrhundert weiterhin parallel im europäischen Sprachraum.
3.2 Mehrsprachigkeit und Nationalsprachigkeit in Europa Nachdem die Renaissance zunächst einen Aufschwung der Mehrsprachigkeit gerade im Schriftlichen brachte, finden sich danach die ersten Monolingualisierungstendenzen in der Entwicklung einzelner Nationalsprachen. In der Renaissance entstand ein Mehrsprachigkeitsideal mit den alten Sprachen (Latein, Griechisch, Hebräisch), zu dem auch moderne (Volks-)Sprachen hinzukommen. Das zeigt sich u. a. darin, dass neben dem Lateinischen auch Griechisch als Schriftsprache an Bedeutung gewinnt (vgl. Maaß 2005, 11). Die Mehr- und Zweisprachigkeit zwischen Latein und Volkssprache wird in Italien, Frankreich und (in geringe
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rem Maße) im deutschsprachigen Raum zur Regel (vgl. Maaß 2005, 12). In der Zeit wurden die Volkssprachen auch in den sprachphilosophischen Abhandlungen explizit als Sprachen (linguae) bezeichnet, etwa bei Pietro Bembo (vgl. ebd., 13). Zahlreiche intertextuelle mehrsprachige Spuren des Lateinischen und Griechischen finden sich in volkssprachlichen Texten (vgl. ebd.). Auch intertextuelle Beispiele zwischen den Volkssprachen finden sich in der Renaissanceliteratur: Hoch (2005, 93) stellt die iberoromanische polyglotte Lyrik des 16. Jahrhunderts am Beispiel eines viersprachigen Gedichts vor, das ausschließlich aus Zitaten besteht, beginnend mit einem italienischen Ariosto-Zitat (dem Beginn von Orlando furioso) als Bestandteil der Centodichtung (vgl. ebd., 94). In Ost- und Ostmitteleuropa zeigt sich, wie auch schon für das Mittelalter, eine stark mehrsprachige, aber weniger geordnete Sprachkontaktsituation, was sich vor allem aus dem Fehlen einer übergreifenden Lingua franca, wie Latein in Westeuropa, ergab (vgl. Bömelburg/Daiber 2020, 16). In Litauen fanden im 16. Jahrhundert polnische Schriften starke Verbreitung (vgl. ebd.). Im 17. Jahrhundert wurde Latein durch die Jesuitenkollegs überregional relevant (vgl. ebd.). Besonders für den osteuropäischen Raum war außerdem das Neben- und Miteinander kyrillischer und lateinischer Schrift typisch (vgl. ebd., 17). In den jeweiligen Volkssprachen finden sich sowohl lateinische als auch kirchenslawische Spuren, auch lassen sich schriftsprachliche Kontakte verschiedener Volkssprachen in der Frühen Neuzeit nachvollziehen (vgl. ebd.). Mündliche Kontakte zwischen religiösen Sprachen und Volkssprachen und Volkssprachen untereinander waren weit verbreitet und können z. B. anhand von Sprachlehrbüchern nachvollzogen werden (vgl. ebd. 18). Übersetzungen zwischen Italienisch, Französisch und Latein dokumentieren schriftliche Kontakte zwischen diesen Sprachen (vgl. ebd.). Mehrsprachigkeit in Europa kann ab dem 17. Jahrhundert nur vor dem Hintergrund des Französischen als aufkommender Lingua franca und Prestigesprache verstanden werden, was von Argent/Rjéoutski/Offord (2014, 4) auch als „historische Frankophonie“ im Gegensatz zur aktuellen, postkolonialen Frankophonie bezeichnet wird. In vielen europäischen Ländern wurden die kulturellen und sprachlichen Einflüsse durch die Hugenotten und die französisch geprägte Aufklärung im 18. Jahrhundert wirksam. Gleichzeitig war Französisch die Sprache der Herrscher, die als aufklärerisch betrachtet werden wollten, und wurde generell als ,Sprache der Zivilisation‘ bewertet (vgl. ebd., 3). Mit dem Aufkommen des Bürgertums und dem gleichzeitigen Positionsverlust des Adels verlor Französisch im 19. Jahrhundert zumindest ein wenig seines sozialen Prestiges (vgl. ebd.), behielt aber teilweise bis ins 20. Jahrhundert seine Rolle als Kultur- und Bildungssprache (vgl. ebd.). Der französischen Sprache wurden dabei, wie im 17. und 18. Jahrhundert auch z. B. der deutschen Sprache, besondere Qualitäten zugeschrieben, die sie zu der ,besten‘, ,geeignetsten‘ universellen Sprache machten. Diese Zuschreibungen fanden vor allem in Absetzung zum Lateinischen statt wie etwa in der Abhandlung Avantages de la langue francaise sur la langue latine (1669)
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von Louis Le Laboureur (vgl. Argent/Rjéoutski/Offord 2014, 10). Das klingt auch in der bekannten, 1783 von der Königlichen Akademie der Wissenschaften gestellten Preisfrage, wie und warum die französische Sprache ihre universelle Position erhalten hat, an (vgl. ebd., 12). Antoine de Rivarol entwirft daraufhin 1784 in seiner Antwort De l’universalité de la langue française eine Vision Europas, in dem Französisch als Sprache des Kulturtransfers eine zentrale Rolle neben den Nationalsprachen spielt (vgl. ebd.). Auch in Ostmitteleuropa finden sich ab dem 16. und 17. Jahrhundert Sprachkontakte mit Französisch (vgl. Bömelburg/Daiber 2020, 18). Daneben zeichnet sich in den verschiedenen europäischen Ländern im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts eine Monolingualisierung im Zuge der Standardisierung von Einzelsprachen und ihrer Vereinnahmung als Nationalsprachen ab: Tabouret-Keller (2013, 751 f.) zeigt, dass die monolinguale Sprachpolitik in zahlreichen europäischen Ländern ihre Wurzel im 19. Jahrhundert hat. In den verschiedenen Sprachregionen Europas fand die Sprachstandardisierung zu unterschiedlicher Zeit statt: Kastilianisch entwickelte sich schon ab dem 13. Jahrhundert zu einer vorherrschenden Varietät in Spanien. Die weitere Entwicklung zur Standard- und Nationalsprache ging mit dem Beginn der Kolonialisierung durch Columbus einher. Das Kastilianische war Hofsprache und später Literatursprache im siglo de oro, was zu seiner Etablierung beitrug (vgl. Mattheier 2000, 1095). Die Accademia della Crusca setzte sich in Italien seit dem 16. Jahrhundert für eine Sprachnorm ein, die sich an der Literatursprache der Trecentisten orientierte. Im 19. Jahrhundert war die italienische Sprache ein wichtiger Teil nationaler Identität, wie sich z. B. bei dem romantischen Autor Alessandro Manzoni zeigte (vgl. ebd., 1097). Die Académie française wurde 1634 gegründet und war Vorbild für die Akademien anderer Länder als Form der Institutionalisierung von Nationalsprachen. In Frankreich wurde die Einsprachigkeit mit der Französischen Revolution zu einem Ausdruck liberaler Gleichheit und damit nachdrücklich gefordert und durchgesetzt (vgl. ebd., 1096). Die spanische Real Akademia entstand 1713 (vgl. ebd., 1095 f.). In England etablierte sich ab dem 17. Jahrhundert eine Standardvarietät über die Schriftsprache, die sich an der am Hofe üblichen Varietät orientierte. Erst im 19. Jahrhundert setzte sie sich in breiteren Gesellschaftskreisen durch (vgl. ebd., 1099). In Skandinavien entwickelten sich die Standardsprachen nach einer Anfangsphase ab der Reformation als Nationalsprachen im 19. Jahrhundert (vgl. ebd., 1102 f.). In Norwegen fand ein mehrsprachiger Abgrenzungsprozess zwischen Dänisch und Schwedisch statt, da Norwegen politisch seit dem 13. Jahrhundert von Schweden und Dänemark abhängig war. Dadurch konnte sich eine norwegische Standardsprache erst im 20. Jahrhundert entfalten. Im 19. Jahrhundert wurde sich, den schwedischen Einfluss abwehrend, am Dänischen orientiert (vgl. ebd., 1103). In Ostmitteleuropa war das 19. und 20. Jahrhundert entscheidend für die Herausbildung von Nationalsprachen, oft in einem mehrsprachigen Umfeld. Kamusella (2009, 104) stellt fest, dass die vernakularsprachige Literatur nach westeuropäischem Modell erst im 18. Jahrhundert in Zentraleuropa sichtbar wurde.
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Die tschechische Schriftsprache entwickelte sich über die Reformation in Anlehnung an die deutsche Kanzleisprache und wurde jahrzehntelang neben Deutsch und Latein verwendet, bis sich im 17. Jahrhundert Deutsch als Verwaltungssprache weitgehend durchsetzte (vgl. Kamusella 2009, 100–103). Im 18. Jahrhundert wurde Deutsch in den tschechischen Gebieten des Habsburgerreichs zur Schulsprache (vgl. ebd., 104). Die Kodifizierung des modernen Tschechisch begann mit der Wende zum 19. Jahrhundert und setzte sich im Laufe des Jahrhunderts weiter fort, wobei ein einsprachiger Nationalstaat erst im 20. Jahrhundert entstand und vorher Mehrsprachigkeit mit Deutsch innerhalb des multilingualen Habsburgerreichs vorherrschte (vgl. ebd., 107). Kanzleitschechisch wurde zu einer überregionalen Kommunikationssprache im slawischsprachigen Gebiet Zentraleuropas (vgl. ebd., 109). Die Entwicklung von Polnisch zu einer Nationalsprache geht einher mit dem Verschwinden einer staatlichen Einheit Polens durch die Teilungen im 18. Jahrhundert. Ab dem 15. Jahrhundert entstanden polnische Grammatiken, zunächst auf Latein und Deutsch, die erste polnischsprachige Grammatik wurde im 18. Jahrhundert geschrieben (vgl. ebd., 109). Im 16. Jahrhundert gab es schriftsprachliche Mehrsprachigkeit zwischen Polnisch und Tschechisch (vgl. ebd., 110). Im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts wurde Polnisch auch überregional in Teilen Russlands, Moldawien und in der Walachei als Kommunikationssprache verwendet (vgl. ebd., 113). Die erste polnische Teilung (1772) stärkte zunächst die Verwendung der polnischen Sprache als offizielle Sprache in Polen-Litauen (vgl. ebd., 115). Im russischen Teil, in dem größtenteils Sprecher und Sprecherinnen des Ruthenischen (Ukrainischen), Litauischen, Deutschen und Jiddischen lebten, blieb Polnisch eine offizielle Sprache (vgl. ebd., 116). Die polnische Sprache wurde im 19. Jahrhundert durch den fehlenden polnischen Staat zu einem nationalen Platzhalter (vgl. ebd., 117). In Ungarn entwickelte sich das Ungarische als Nationalsprache zwischen dem Einfluss von Latein als politisch neutraler Elitensprache und Deutsch, der offiziellen Sprache der Habsburger Monarchie (vgl. ebd., 130). Ungarn war im 16. Jahrhundert noch unter ottomanischem Einfluss, während in anderen Teilen der Region ein starker deutscher Einfluss bestand. Im protestantischen Siebenbürgen entstand im 16. und 17. Jahrhundert eine literarische Leitvarietät, die sich als Norm durchsetzte (vgl. Mattheier 2000, 1100). Im 18. Jahrhundert wurde im habsburgischen Teil eine weitere Schriftvarietät im Austausch mit Deutsch und Latein entwickelt (vgl. ebd.). Im 19. Jahrhundert wurde durch die Gründung der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, durch Grammatiken und durch die ungarische Literatur der Romantik die Nationalisierung der Sprache, auch in Abgrenzung zum Deutschen, betrieben (vgl. ebd.). Die Entstehung einer slowakischen Nationalsprache war ebenfalls begleitet von mehrsprachigen Sprachkonflikten und -kontakten mit Ungarisch, Deutsch, ‚Böhmisch‘ und Latein (vgl. Kamusella 2009, 131–135). Weitere Sprachen in Zentraleuropa, die sich im Laufe des 18., 19. und 20. Jahrhunderts zu Nationalsprachen im engeren Sinne herausbildeten, waren Weißrussisch und Ukrainisch innerhalb von russischen Sprachgebieten (vgl. ebd., 168), Litauisch (vgl. ebd., 187 f.), Lettisch und Estnisch (vgl.
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Kamusella 2009, 195), Rumänisch (vgl. ebd., 209), Serbisch und Kroatisch (vgl. ebd., 222–226). Ein besonderes Beispiel stellt Albanisch dar, dass bis ins 20. Jahrhundert hinein innerhalb eines mehrsprachigen Kontinuums existierte (vgl. ebd., 245). Das horizontale Mehrsprachigkeitsverhältnis zwischen europäischen Nationalsprachen war, wie in dem Überblick sichtbar wurde, nicht frei von Hierarchien. Neben der Dominanz des Französischen waren verschiedene Sprachen in unterschiedlichen Regionen als überregionale Kommunikationssprachen oder als staatliche, offizielle Sprachen relevanter als andere, stärker regional verhaftete Sprachen. Diese Hierarchien zeigten sich auch in Bereichen der Bildung, Wirtschaft, Schriftlichkeit sowie auf dem Publikations- und Literaturmarkt. Gleichzeitig geht die mehrsprachige Geschichte in Europa einher mit der ebenfalls mehrsprachigen Geschichte der von Europa ausgehenden Kolonialisierung in weiten Teilen der Welt. Europäische Sprachen, besonders Englisch, Französisch, Spanisch, aber auch Deutsch, Niederländisch, Italienisch und Portugiesisch, werden in den Kolonien zu Kolonialsprachen und greifen dadurch massiv in deren sprachliche Situation ein. Die Dominanz des Englischen im 20. Jahrhundert wie auch die Frankophonie des 20. Jahrhunderts sind eng mit den Kolonialgeschichten der Sprachen und England bzw. Frankreich als Kolonialmacht mit den damit zusammenhängenden Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen verbunden. Französisch wurden sprachhistorisch als Sprache der Kolonialmacht zivilisatorische Qualitäten zugesprochen: „French was presented as a medium through which culture, equality and justice could be transmitted“ (Argent/Rjéoutski/Offord 2014, 7). Mit dem Ende der Kolonialzeit in den 1950er und 1960er Jahren verschob sich die Bewertung hin zu Französisch als (internationaler) Bildungs- und Kultursprache, was auch durch verschiedene Bildungsinstitutionen weltweit unterstützt wurde und wird (vgl. ebd.). Französisch spielt ebenfalls immer noch eine große Rolle im Mittleren Osten und in Nordafrika: Some European languages also thrive in the MENA [Middle East and North Africa], despite twentieth-century political-cultural changes. French is still used in the countries previously under the French Protectorate (Morocco, Algeria, and Tunisia in NA) or Mandate (Lebanon). English has, however, begun replacing it there as elsewhere. (Rosenhouse 2013, 901)
Italienisch als ehemalige Kolonialsprache spielt nur noch eine untergeordnete Rolle (vgl. ebd., 901 f.). Die komplexe Geschichte der Sprachen in ehemaligen Kolonien wird in den verschiedenen Überblicksdarstellungen (vgl. oben) zu Süd- und Nordamerika, Nordafrika, Südafrika und Indien skizziert.
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3.3 Geschichte europäischer Sprachen Der Titel dieses Abschnitts bezieht sich auf die Mehrsprachigkeit der Sprachgemeinschaften, die durch Mobilität in Form von Migration, Nomadentum, aber auch Verschleppung, Deportation und Vertreibung mit verschiedenen Sprachen in Kontakt kamen. Bis heute zeigen sich in den Sprachen Jiddisch, Romani und Ladino Spuren von Sprachmischungen und Mehrsprachigkeit. Jiddisch ist dabei die europäisch-mehrsprachige Sprache par excellence: „Throughout most of their history, the Jews were a multilingual nation, both in fact and as part of their identity consciousness“ (Harshav 2021). Für Franceschini gehören Juden und Jüdinnen aufgrund akkumulierter Migration und Vertreibung zu einer der mehrsprachigsten Sprachgemeinschaften überhaupt: Among highly multilingual groups, we have to mention Jews as an outstanding multilingual community: Persecutions, expulsions, and opportunities have scattered the Jews around the world and they have protected their roots fiercely despite the influences of other languages and cultures. Such experiences have enabled Jews to be important mediators and translators, to be flexible, and to have a sense of relativity toward language and culture. […] In modern times, in Eastern Europe, for example, a repertoire could include languages from three different language groups: Semitic, Slavic and German. Hebrew and Aramaic were used alongside local dialects and the language of power (such as Polish, Russian, Czech, German, or today English). Yiddish can be traced back to the end of the first millennium as a fusion language of the Ashkenazim. (Franceschini 2013, 6)
Harshav (2021) gibt eine Übersicht über individuelle Mehrsprachigkeit innerhalb moderner jüdischer Sprachgemeinschaften, die die Kenntnis von fünf bis sieben, in manchen Fällen auch 13 oder 15 Sprachen umfassten, darunter Jiddisch, Hebräisch, Polnisch, Russisch, Deutsch, eventuell Französisch und Englisch. In speziellen Fällen konnte auch noch Latein, Griechisch oder Aramäisch hinzukommen. Weitere Sprachen der Umgebung konnten ebenfalls Teil des Repertoires sein. Jiddisch kategorisiert er als internalisierte Mehrsprachigkeit, deren Geschichte bis in das 10. Jahrhundert zurückgeht. Jiddisch wurde im slawischen Sprachraum durch Polnisch, Tschechisch, Ukrainisch etc. beeinflusst. Die ersten jiddischen Texte in Polen wurden im 16. Jahrhundert verfasst (vgl. ebd.). Daneben funktionierte Jiddisch auch als überregionale Kommunikationssprache zwischen verschiedenen, in Europa verteilt lebenden jüdischen Gemeinschaften (vgl. ebd.). Durch die mehrsprachige Geschichte des Jiddischen und seiner Sprecher und Sprecherinnen wurde es eine natürlich mehrsprachige Sprache, die sich über ihre Fähigkeit zur Aufnahme lexikalischer und grammatikalischer Einflüsse definieren lässt: Yiddish is by nature a multilingual language and its speakers are by definition multilingual (as poor as their grammar in other languages may be). The open borders of Yiddish, which allowed a massive influx of words from all its component languages and the modernization of the language in the modern age, also served as a bridge in the other direction. Yiddish speakers could easily
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adapt to speaking German (Yiddish minus Hebrew and Slavic words) and Yiddish speakers revived modern Hebrew. Thus, Yiddish was the bridge between the internal tradition and European culture, between internal and external multilingualism. (Harshaw 2021)
Ladino war die Sprache sephardischer Juden und Jüdinnen, die 1492 von der iberischen Halbinsel vertrieben wurden. Sie flohen nach Nordafrika und ins Osmanische Reich (vgl. Kamusella 2009, 317). In der Zeit kamen zahlreiche arabische, griechische und türkische Lehnwörter hinzu (vgl. ebd.). Ladino ist eine romanische Sprache mit zahlreichen Einflüssen aus dem Hebräischen und Aramäischen. Ladino-Sprecher und -Sprecherinnen in Spanien waren vor ihrer Vertreibung mehrsprachig und konnten u. a. Galicisch oder Kastilianisch. Texte schrieben sie meist auf Kastilianisch mit hebräischen Buchstaben (vgl. ebd.). Im 16. Jahrhundert wurden zahlreiche Werke in Ladino, wie etwa eine Übersetzung des Pentateuchs, in Konstantinopel gedruckt (vgl. ebd., 318). Ladino war eine europäische, multinationale Sprache: In Amsterdam entstand im 17. und 18. Jahrhundert ebenfalls eine lebendige Sprachgemeinschaft und dort wurde die erste Zeitung in Ladino veröffentlicht (vgl. ebd.). Das Ende des Osmanischen Reichs und die türkische Sprachreform 1928 führten dazu, dass Ladino in lateinischer Schrift geschrieben wurde (vgl. ebd., 319). Im 19. Jahrhundert wurde Französisch zur Bildungs- und Mittlersprache der Ladino sprechenden Juden und Jüdinnen im Osmanischen Reich (vgl. ebd.). Heute gibt es noch ca. 150 000 LadinoSprecher und -Sprecherinnen, von denen der Großteil in Israel lebt und mehrsprachig ist. Im Vergleich zu Jiddisch ist Ladino weitaus weniger institutionalisiert, da es z. B. kein Äquivalent wie das YIVO gibt (vgl. ebd., 320). Die Sprache Romani hat eine europäische Geschichte: Als Sprache versklavter Menschen in der Walachei, in Moldawien und Transsylvanien vom 14. bis ins 18. und 19. Jahrhundert war sie gezwungenermaßen im Kontakt mit den dominanten Sprachen Ungarisch und Rumänisch (vgl. ebd., 328). Die Sprachspuren im Romani zeigen Sprachkontakte, wahrscheinlich ab dem 11. Jahrhundert, mit Persisch, Kurdisch, Armenisch, Georgisch, Türkisch, Griechisch, Rumänisch, Ungarisch und Slawisch, was für die These spricht, dass eine Wanderung ausgehend von Indien nach Europa stattfand (vgl. ebd., 328). Als Minderheitengruppe hatten die Roma und Romnja keinen eigenen Staat und waren daher immer auf die sprachpolitischen Einschränkungen und Möglichkeiten innerhalb anderer Mehrheitsgesellschaften angewiesen und wurden dabei durchgängig diskriminiert (vgl. ebd.). Das zeigt sich auch in der Sprache: Nur in Ausnahmefällen konnte die Sprache als Bildungssprache, etwa in der Schule, verwendet werden, erst in den 1920er Jahren gab es eine romanisprachige Zeitung, die in der Türkei in arabischer Schrift erschien (vgl. ebd., 330). Dabei hatte Romani eine lange mündliche Tradition. Es gibt einige schriftliche Dokumente aus dem 16. und 18. Jahrhundert, eine umfangreichere Schriftlichkeit gab es erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl. ebd., 330). Im Zuge historisch-vergleichender Sprachstudien wurde die Sprache schon vorher, 1782 und 1844–45, grammatisch beschrieben (vgl. ebd., 330). Romani wird von ca. der Hälfte der Roma und
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Romnja weltweit gesprochen, meist neben einer oder mehreren anderen Sprachen (vgl. Kamusella 2009, 332). Erwähnenswert sind die historischen Kunstsprachen wie etwa Esperanto, die in einem europäisch-mehrsprachigen Umfeld entstanden (vgl. ebd., 335).
4 Ausblick: Mehrsprachigkeit im global village Studien unterschiedlicher mehrsprachiger Regionen prognostizieren trotz Globalisierung und Monolingualisierung in vielen Bereichen einen Anstieg bzw. eine Kontinuation hoher Bi- und Multilingualität durch das ,globale Dorf‘, in dem Spracherhalt durch Mediennutzung stark vereinfacht wird und eine sprachliche Assimilation nicht unbedingt notwendig ist. Großstädte werden dabei zu Konglomerationen superdiverser Sprachgemeinschaften, in denen Standard- und Nationalsprachen, regionale Varietäten und migrierte Sprachen in einem komplexen Gewebe durch Migration, Remigration, Integration zusammenkommen: „This is superdiversity. It is driven by three keywords: mobility, complexity and unpredictability“ (Blommaert 2013, 6). Städte sind dabei historisch gesehen immer Orte intensiven Sprachkontakts gewesen: „Cities have long been the chief locus of language contact, since they are in essence restricted areas dependent on long-term face-to-face interaction“ (Mackey 2005, 1304). Spätestens seitdem es schriftliche Quellen gibt, gibt es auch Belege für mehrsprachige Stadtgeschichte: „Plurilingual cities can be traced back at least to the invention of writing“ (ebd.). Besonders vielfältig war die Mehrsprachigkeit in Städten in Sprachkontaktzonen: „Border towns have had a history of plurilingualism. In Europe one can point to examples like Novi Sad, Andorra, Trieste, Strasbourg, and Saarbrücken“ (ebd., 1306). Während historische Mehrsprachigkeit immer auf schriftlichem Austausch, Migration, Reisen oder sprachlicher Integration innerhalb einer neuen Sprachsituation basierte, erlauben heutige Medien, insbesondere Formen wie die multimediale Kommunikation über soziale Netzwerke, aber auch Videotelefonie (exemplarisch wäre Skype) und die Möglichkeit, anderssprachige Fernseh-, Radio- und Filmangebote über das Internet abzurufen, mit Herkunftssprachen unkompliziert und kostengünstig in Kontakt zu bleiben: Thanks to the variety, multiplicity and universality of these new media of personal intercommunication, human speech, for the first time in history, has been liberated from the constraints of place, time and number. (Mackey 2013, 715)
Der mehrsprachige Kontakt zwischen verschiedenen Sprachgemeinschaften wird dadurch enorm erleichtert:
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Bilingualism/multilingualism is not new in the MENA, but multilingualism is now probably more common than before due to easier immigration and interlanguage contacts in the global village. (Rosenhouse 2013, 910)
Es bleibt eine Frage zukünftiger Mehrsprachigkeitsforschung, ob und wie sich Mehrsprachigkeit im globalen Dorf entwickeln wird. Unabhängig von der Form von Mehrsprachigkeit werden jedoch auch in Zukunft Einstellungen gegenüber Mehrsprachigkeit eine entscheidende Rolle für die Entwicklung spielen: The most interesting topics in the history of multilingualism are how attitudes toward multilingualism have changed over time, and how ideology, mainly nationalism, has forced people toward monolingualism. (Franceschini 2013, 2)
Hier bleibt die Frage offen, wie die Forschung diesem Thema historisch global gerecht werden kann.
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Csaba Földes
7. Geschichte des Deutschen als Lingua franca in Europa Abstract: Dieser Artikel bietet eine Übersicht zu den Funktionen des Deutschen als potenzielle und tatsächliche Lingua franca im Hinblick auf ihre Entstehung und Entfaltung im Wandel der Zeiten und arbeitet essenzielle regionale, chronologische sowie inhaltliche Aspekte dieses sprachenpolitischen Feldes heraus. Exemplarisch werden zwei wesentliche Domänen bzw. Handlungsfelder – Wissenschaftssprache und Arbeitssprache in der EU – erörtert. Dabei ist festzustellen, dass der vormals in manchen Regionen, wie z. B. in Ostmitteleuropa oder in der Hanse, beachtliche Internationalitätsgrad in der Verwendung der deutschen Sprache massiv zurückgegangen oder gar verschwunden ist. Während Englisch weltweit zunehmend zu einer mächtigen hyperzentralen Sprache avancierte, kann dem Deutschen der Status einer superzentralen Sprache zugestanden werden. Von einer echten Lingua-franca-Funktion der deutschen Sprache kann heute nicht mehr die Rede sein: Als solche fungiert Deutsch fast nur noch in der Kommunikation zwischen Sprechern verschiedener Muttersprachen innerhalb des deutschen Sprachraums. Der ,unmarkierte‘ Fall in der Sprachwahl ist in interlingualen kommunikativen Handlungen praktisch weltweit Englisch, indessen stellt Deutsch eine ,markierte‘ Wahl dar und beschränkt sich auf einige wenige spezifische Domänen wie z. B. auf internationale Germanisten- oder Deutschlehrertagungen.
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Anliegen und Ziele Konzeptgeschichte und Definitionsproblematik des Terminus Lingua franca Historischer Überblick: Deutsch als Lingua franca in Europa Exemplarische Domänen bzw. Handlungsfelder Schlussbemerkungen Literatur
1 Anliegen und Ziele Im Verlauf ihrer recht langen und wechselvollen Geschichte hat die deutsche Sprache verschiedene Stellungen in Ansehen und Gebrauch innegehabt und eine Reihe von Funktionen (als Muttersprache, Fremdsprache, Zweitsprache, Verkehrssprache, Schulsprache, Bildungssprache etc.) erfüllt. Dabei entwickelte sie sich innerhalb Europas als Teil einer europäischen Sprachen- und Kulturgemeinschaft. Es bestand immer schon, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität und in wechselnder Richtung, ein Kontakt bzw. ein Austausch zwischen Sprachen und Kulturen dieses Kontinents. Das Ziel dieses Artikels besteht darin, die Funktion der deutschen Sprache als potenzielle und tatsächliche Lingua franca im Hinblick auf ihre Entstehung und Entfalhttps://doi.org/10.1515/9783110623444-007
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tung im Wandel der Zeiten in den Blick zu nehmen und essenzielle regionale, chronologische und inhaltliche Aspekte dieses sprachenpolitischen Feldes herauszuarbeiten. Auf dieser Basis soll anschließend die Verwendung des Deutschen als Lingua franca in zwei exemplarischen Domänen bzw. Handlungsfeldern beleuchtet werden. Zunächst soll dazu eine Auseinandersetzung mit der Begrifflichkeit den Denk- und Argumentationsrahmen abstecken, um ein adäquates Eingehen auf das zentrale Anliegen zu fundieren. Die Sichtung der Forschungsliteratur ergibt, dass die Zahl von Veröffentlichungen, die in ihrem Titel die Lingua-franca-Thematik des Deutschen führen, nicht gering ist (vgl. die Bibliographie dieses Beitrags), diese jedoch in ihrem Inhalt eher auf die allgemeine Stellung der deutschen Sprache in der jeweiligen Region fokussieren, sodass gezielte empirische Studien umfassender und reliabler Art kaum zur Verfügung stehen.
2 Konzeptgeschichte und Definitionsproblematik des Terminus Lingua franca Die Konzeptualisierung von Lingua franca zeigt in der internationalen Forschungslandschaft erhebliche Differenzen; der Begriff kann nach unterschiedlichen Gesichtspunkten gefasst werden.
2.1 Historische Bezüge Ein Teil der Annäherungen weist in der wissenschaftlichen Literatur einen starken historischen Bezug auf. Beispielsweise stellte bereits Schuchardt (1909, 441) fest: Die L. fr. ist die aus romanischem Wortstoff gebildete Vermittlungssprache die im Mittelalter zwischen Romanen und Arabern, dann auch Türken aufkam und längs der ganzen Süd- und Ostküste des Mittelmeers verbreitet gewesen zu sein scheint.
Parijs (2013, 27) greift ebenfalls auf die Ursprünge zurück: Der Ausdruck „Lingua franca“ oder „Sprache der Franken“ bezeichnete ursprünglich eine Sprache oder Reihe von Dialekten, die auf dem Provenzalischen und anderen romanischen Sprachen basierte.
Etwas mehr Inhaltliches bietet Vikør (2004, 329), indem er ausführt, dass sich der Terminus auf Pidgin-Varietäten romanischer Sprachen bezieht, die der interlingualen Kommunikation dienten, und sich dann zu einem Hyperonym für die Bezeichnung derartiger Sprachen entwickelte. Bezüglich der Schreibung weist Brosch (2015, 73) auf eine Differenzierungsmöglichkeit hin, indem man für den ursprünglichen Ei-
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gennamen als fränkische Sprachvarietät große Anfangsbuchstaben („Lingua Franca“) verwendet, während er für die übertragene Bedeutung als Verkehrssprache die „Lingua franca“-Schreibung wählt.
2.2 Synthetisierende Zugänge Einige synthetisierende Zugänge versuchen, Eigenschaften und Funktion einer Lingua franca zu erfassen. Schuchardt (1909, 442) führt z. B. aus:
Die L. fr. wird von Geschlecht zu Geschlecht überliefert und nicht bloss von den Angehörigen des einen Volkes, sondern zwischen denen beider gesprochen; daher ist sie gefestigter und gleichmässiger, individuellen Schwankungen mehr entrückt. Im Wesen aber stimmt sie mit jener individuellen Sprechart überein, sie geht aus ihr hervor wie der Stamm aus der Wurzel. Die Not ist die Bildnerin solcher Sprachen, die man deshalb auch Notsprachen nennen könnte; sie haben zwar wichtige, aber keine sehr mannigfachen Aufgaben zu erfüllen; es sind vor allem Handelssprachen.
Diese und andere frühere Explikationen des Terminus werden z. B. dem Englischen als internationaler Lingua franca jedoch nicht mehr gerecht und müssen umformuliert bzw. erweitert werden; Schuchardt beschreibt doch eine Lingua franca als „gleichmäßig“ und ohne individuelle Unterschiede. Die englische Sprache ist heute vielmehr als „repertoire of world Englishes“ (Kachru 1996, 911) zu betrachten und unterliegt (mehr oder weniger starken) Schwankungen, weswegen sie nicht mehr als monolithisch gelten kann. Erfurt (2019, 479) behandelt „Lingua Franca“ als Verkehrssprache:
Dabei handelt es sich um eine für bestimmte Zwecke funktionierende Verkehrssprache, wie sie beispielsweise für die Häfen des Mittelmeerraums seit dem Mittelalter belegt ist.
Nach der Definition von Crystal (1992, 230) ist Lingua franca eine auxiliary language used to permit routine communication between groups of people who speak different native languages. […] Lingua francas are very common in heavy multilingual regions, such as West and East Africa.
Er verweist auf den Begriff „auxiliary language“ (Hilfssprache), den er so definiert: A language which has been adopted by a speech community for such purposes as international communication, trade, or education, though only a minority of the community may use it as a mother tongue. English is the most widely used auxiliary language, others include French, Spanish, Portuguese, German, Swahili, and Arabic. (ebd., 35)
Im Gegensatz zu Crystal bestimmt Smith (1976, 38) „auxiliary language“ als „language, other than the first language, which is used by nationals of a country for internal
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communication“, sodass nach dieser Interpretation eine Hilfssprache nur der nationalen Kommunikation (innerhalb eines Landes) dient. Im Vergleich dazu lässt sich „international auxiliary language“ wie folgt explizieren: Sie „is used by people of different nations to communicate with one another“ (Smith 1976, 38). Somit scheint sie inhaltlich dem Lingua-franca-Begriff zu entsprechen. Schließlich handelt es sich laut Gnutzmann (2019, 453) bei einer Lingua franca „um eine Hilfssprache, was ihrer ursprünglichen Verwendung als Kommunikationsmittel in bestimmten, eingeschränkten Kontexten entspricht“. Hier werden also „Lingua franca“ und „Hilfssprache“ teilweise synonym verwendet.
2.3 Kulturelle Bezüge Andere Zugriffe operieren mit kulturellem Bezug. Beispielsweise schreibt Firth (1996, 240): English is used as a ,lingua franca‘ – a ,contact language‘ between persons who share neither a common native tongue nor a common (national) culture, and for whom English is the chosen foreign language of communication.
Ein kultureller Aspekt wird mithin angeführt, denn Firth (ebd., 240 und 270) unterscheidet zwischen intranationaler und internationaler Lingua-franca-Kommunikation. Stärker interkulturalitätsbezogen argumentiert Clyne (2000, 83): A Lingua Franca is used in inter-cultural communication between two or more people who have different LIs other than the lingua franca. It is therefore intended as an intermediary code. LFs have long been the basis on which people of different linguistic and cultural backgrounds have been able to communicate.
2.4 Differenzierende Zugriffe Ammon (2001, 34) liefert eine differenzierende Begriffsarbeit: Im Hinblick auf die Gebrauchssituation bzw. die Sprachwahl bedeutet für ihn eine echte Lingua-francaVerwendung (oder Lingua franca im engeren Sinn) den Einsatz einer Sprache auch zwischen Nicht-Muttersprachlern verschiedener Sprachen zur Überbrückung von Kommunikationsschwierigkeiten. „Bei ‚interlingualer Kommunikation‘ ist die verwendete Sprache nie Muttersprache aller Kommunikanten“ (Ammon 2015, 27); ihr Gebrauch ist symmetrisch, da sie Fremdsprache für alle ist. Demgegenüber unterscheidet er eine asymmetrische Verwendung (oder auch unechte Lingua-franca-Kommunikation), die zwischen Muttersprachlern und Nicht-Muttersprachlern stattfindet, wenn also die Muttersprache mindestens eines, aber nicht aller Kommunikanten zum Einsatz kommt (Ammon 2001, 34; 2015, 27 und 2018, 77). Für das Deutsche führt Ammon (2001, 34) aus,
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dass es asymmetrisch oft an den nördlichen, teilweise auch den westlichen und südlichen Grenzen des deutschen Sprachgebiets gebraucht wurde. Nichtsdestotrotz kann eine unechte Lingua franca situationsspezifisch auch als echte Lingua franca fungieren, wenn an der betreffenden Kommunikationssituation keine Muttersprachler beteiligt sind. Im Hinblick auf die verwendete Sprache als Kode kann man nach Ammon (2018, 77) parallel von einer echten Lingua franca sprechen, „wenn es (so gut wie) keine Muttersprachler der betreffenden Sprache gibt“ und sie folglich nur als Fremdsprache gebraucht wird. Als unechte Lingua franca ist dagegen eine Sprache anzusehen, die sowohl Fremdsprachler als auch Muttersprachler hat und zur Kommunikation zwischen beiden dient. Ein Hyperonym für die beiden Begriffe könnte – wie Ammon (2015, 29) vorschlägt – „internationale Sprache“ sein. Somit weicht Ammon nicht wesentlich von früheren Definitionen ab, nimmt aber eine klare Trennung von asymmetrischem und Lingua-franca-Gebrauch einer Sprache zwecks genauerer Differenzierung vor.
2.5 Begriffsverwendung in diesem Beitrag In Anbetracht der Beitragsziele, nämlich zur Ermöglichung eines umfassenderen Überblicks dazu, ob bzw. inwiefern das Deutsche bis zum heutigen Tag als Verkehrssprache dient, ist es sinnvoll, sich an weiter gefassten Zugriffen, wie etwa an den Definitionen von Ammon (1991; 2001; 2015 und 2018), zu orientieren, indem also zwischen echten Linguae Francae bzw. echter Lingua-franca-Kommunikation sowie unechten Linguae Francae und unechter Lingua-franca-Kommunikation unterschieden wird. Obwohl der Fokus natürlich auf der echten (bzw. traditionellen) Lingua-franca-Kommunikation liegt, könnte die beschriebene Unterscheidung und die damit verbundene Ausdifferenzierung der Begriffe (und somit auch der Verwendung des Deutschen als Verkehrssprache im weiteren Sinn) dennoch sinnvoll sein (Ammon 2015, 34). Mit einer solchen Definition könnten auch kommunikative Situationen abgedeckt werden, in denen das Deutsche zwar als Verkehrssprache dient, sich jedoch auch Muttersprachler unter den beteiligten Personen befinden (z. B. als Arbeitssprache in der EU oder als Verkehrssprache zwischen Deutschen und Sprechern aus Ostmitteleuropa). Außerdem stützt sich ein nicht unwesentlicher Teil dieses Beitrags auf Ammons Werke, was eine Anlehnung an seine Konzeption zusätzlich nahelegt. Auch wäre es eine Möglichkeit, zunächst eine allgemeinere Definition zu formulieren, die eher in die Nähe des umfassenderen (aber auch unpräziseren) Konzepts der Verkehrssprache oder der Hilfssprache kommt. Während einige Definitionen, wie gesagt, genau festlegen, dass eine Lingua-franca-Verwendung nur dann gegeben ist, wenn die eingesetzte Sprache nicht die Muttersprache der Kommunikanten ist, spezifizieren manche Definitionen die Art der Verwendung (also ‚echt‘ oder ,unecht‘) hingegen erst gar nicht (z. B. Crystal 1992, 35 und Erfurt 2019, 479). Für Brosch (2015, 79) entspricht eine Verkehrssprache (vehicular language) bzw. der Gebrauch einer Verkehrssprache im Wesentlichen einer unechten/asymmetrischen Lingua-franca-Verwendung im Sinne von Ammon (2001, 34).
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Die nicht differenzierenden Definitionen fokussieren ausschließlich auf den Aspekt der erfolgreichen Kommunikation und der Funktion der Sprache als Hilfssprache. Dies könnte jedoch, terminologisch gesehen, etwas unpräzise sein.
3 Historischer Überblick: Deutsch als Lingua franca in Europa Es gab vielfältige Gründe für Entstehungsszenarien von Lingua-franca- und von asymmetrisch-dominanten Verwendungen der deutschen Sprache. Ihre Rolle als Verkehrssprache ist stark beeinflusst „durch regionale Expansion von Muttersprachlern des Deutschen oder durch politische und wirtschaftliche Ausdehnung oder Vormachtstellung deutschsprachiger Staaten“ (Ammon 2001, 32). Ein weiteres Motiv ergab sich daraus, dass Monarchen, Angehörige des Hochadels und Kirchen vielerorts deutschsprachige Kolonisten rekrutierten, um verödete Landschaften urbar zu machen und zu besiedeln. Ein Beispiel ist das Einladungsmanifest der russischen Zarin Katharina II. vom 22. Juli 1763, in dem sie ausländischen Siedlern eine Reihe von Privilegien in Aussicht stellte. Als Startpunkt der Ostbesiedlung galt die Verdrängung slawischer Sprachen ab dem 12. Jahrhundert mit der Einnahme von Regionen östlich der Elbe (Ammon 2001, 32). Dabei sprachen die deutschen Siedler Deutsch mit der slawischsprachigen Bevölkerung, was also zu einer asymmetrischen, d. h. nicht zu einer echten Lingua-francaSprachverwendung führte. Dank der mittelalterlichen Expansion in den Osten avancierte das Deutsche zur Lingua franca in mehreren Gebieten Ostmitteleuropas und des Baltikums (Ammon 2001, 32). Eine Sonderentwicklung (parallel zur Entwicklung des Hochdeutschen) stellte das (Mittel-)Niederdeutsche als Sprache der Hanse im Norden des deutschen Sprachraums dar. Die Hanse baute (ca. ab dem 13. Jahrhundert) ein ausgedehntes Handelsnetzwerk in Nordeuropa und im baltischen Raum aus, das von Brügge bis Nowgorod reichte (Darquennes/Nelde 2006, 62), und verschaffte dem Niederdeutschen eine sichere Position in diesem Netzwerk, das auch in Städten wie Stockholm, Kopenhagen etc. (ab dem 14. und 15. Jahrhundert) als Lingua franca diente (Ammon 2001, 32) – allerdings mit Ausnahme von Nowgorod, wo Russisch als Lingua franca verwendet wurde (Darquennes/Nelde 2006, 6). Die Ausbreitung der Hanse ermöglichte den Aufstieg des Deutschen zur Bildungssprache der Bourgeoisie und des Adels in Skandinavien. Es wurde auch in der Diplomatie und für den Abschluss von Verträgen verwendet (ebd., 62). Jedoch büßte die Hanse im 16. und 17. Jahrhundert ihre Stellung und ihr Gewicht in erheblichem Maße ein, da die Handelsrouten (bedingt durch Kolonisierung und das Heilige Römische Reich) in Richtung des Atlantischen Ozeans verschoben wurden (ebd.), was auch einen Stellungsverlust der deutschen Sprache mit sich brachte. Das Hochdeutsche entwickelte sich (aus dem mittleren und südlichen deutschsprachigen Raum stammend), angetrieben von Luthers Reformation, zur Lingua franca der mittleren und höheren Schichten in Norddeutschland, bis es schließ
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lich im Laufe des 19. Jahrhunderts als Muttersprache akzeptiert wurde (Ammon 2001, 32). Die Verbreitung der deutschen Sprache nach Osteuropa setzte durch den Aufstieg zum einen Preußens und zum anderen des Habsburger Reiches ein (zu den deutschsprachigen Minderheiten vgl. auch Földes, Beitrag 12 in diesem Band.) In Folge der polnischen Teilungen 1772, 1793 und 1795 kamen polnischsprachige Gebiete unter preußische Führung, sodass die Einwohner nach und nach auf die deutsche Sprache angewiesen waren (Ammon 2001, 32). Auch die nicht-deutschsprachige Bevölkerung der Habsburger Lande (südlich von Preußen bis zum Schwarzen Meer und zum Balkan) lernte Deutsch nach zunächst erbittertem Widerstand gegenüber der Verordnung von Kaiser Joseph II. im Jahr 1784, die Deutsch als alleinige Amtssprache vorschrieb. Im Ergebnis wurde Deutsch natürlicherweise Verkehrssprache bei interethnischen Kontakten sowie Bildungssprache, vor allem der privilegierten Schichten im Habsburger Reich (Ammon 2001, 33). Die josephinische Verfügung legte den Grundstein für späteren Bilingualismus und hohe deutsche Sprachkompetenz in Ungarn (Földes 1993, 218), was die Basis für das Lingua-franca-Potenzial zwischen diversen ethnischen Gruppen Ostmitteleuropas und Russen schuf (Ammon 2001, 33). Man kann feststellen: Ostmitteleuropa galt als die einzige Region, in der Deutsch längere Zeit und relativ häufig auch in alltäglichen Kontakten als echte Lingua franca bestand. Das Deutsche fungierte – insbesondere in den Ländern der einstigen K.-u.-k.-Doppelmonarchie – jahrhundertelang als die Lingua franca Nummer eins (Földes 1993, 217). Beispiele für die ehemals illustre Rolle des Deutschen als Lingua franca in ,Osteuropa‘ (gemeint waren Mittel- und Osteuropa) führt Ammon (1990, 68) an. Auch z. B. in Russland wuchs der Einfluss des Deutschen seit Beginn des 18. Jahrhunderts, angetrieben von Zar Peter dem Großen (Ammon 2001, 33). Im Zeitraum 1764–1767 kam dann unter Zarin Katharina II. ein erster großer Strom deutscher Siedler nach Russland (vor allem nach St. Petersburg und Umgebung):
Sie sollten als ,Kolonisten‘ mit besonderen Privilegien die Steppengebiete der unteren Wolga besiedeln, das Land im Westen wirtschaftlich stärken, damit die Expansion im Osten geführt werden konnte. Mitte des 19. Jahrhunderts gab es bereits über 3.000 deutsche Kolonien im europäischen Rußland, bis zum Ende des Jahrhunderts entstanden weitere Siedlungen auch in Sibirien, im Altai-Gebiet, in Kasachstan und Mittelasien. (Domaschnew 1993, 252)
Mit der wachsenden deutschsprachigen Bevölkerung nahm der Einfluss der deutschen Sprache in Russland zu. Deutsche Siedler trugen beispielsweise wesentlich zur Verwaltung des Landes, zur Belebung der russischen Industrie, des Bauwesens etc. bei (ebd.). Dies löste eine Motivation für das Interesse an der deutschen Sprache seitens der russischen Bevölkerung aus: Deutsch entwickelte sich nach und nach zur meistgelernten Fremdsprache in Russland (Ammon 2001, 33). Jedoch ist wohl kaum davon auszugehen, dass Deutsch auch innerhalb Russlands die Funktion einer Verkehrssprache in großem Stil erfüllte, vielleicht nur „zwischen Russen und anderen ost- und ostmitteldeutschen“ (Ammon 2001, 33) – gemeint ist offenbar: ost- und
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ostmitteleuropäischen – Sprecherkollektiven. Von 1924 bis 1941 verfügte ein Teil der deutschsprachigen Siedler über eine eigene „Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen“ am Unterlauf der Wolga (Ammon 2001, 33). Andere Russlanddeutsche zogen aus ganz Russland in das Wolgagebiet, um ihre (berufliche) Ausbildung zu absolvieren. Deutsche Dörfer in der Ukraine wurden in verschiedene Verwaltungsbezirke zusammengefasst, während sich in anderen Gegenden deutsche Dorfsowjets konstituierten (ca. 550 deutsche Dorfsowjets im Jahre 1929). Diese Maßnahmen ermöglichten eine Etablierung des Deutschen sowohl als Bildungssprache wie auch als Verwaltungssprache und als Sprache des Buchdrucks bzw. der Presse (Domaschnew 1993, 253). Der Erste Weltkrieg verursachte jedoch einen deutlichen Stellungsrückgang der deutschen Sprache in (Ostmittel-)Europa, aber auch darüber hinaus in der Welt. Es waren viele historisch-politische Geschehnisse, die dies begünstigt haben: Beispielsweise die Vertreibung vieler Russlanddeutscher aus Wolhynien während des Ersten Weltkriegs (ebd.). Danach wurden so gut wie alle nicht-deutschsprachigen ethnischen Gruppen in der Mitte und im Osten Europas dem (staatlichen) Einfluss der deutschsprachigen Länder entzogen (Ammon 2001, 34). Mehrheitlich polnischsprachige Gebiete im Osten von Preußen wurden Teil des neu entstandenen polnischen Staates und zahlreiche Sprach- bzw. ethnische Gruppen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie lösten sich von diesem Doppelstaat los und riefen eigene neue Staaten aus (Ammon 2001, 34). Das Gebiet, in dem Deutsch als Amtssprache fungierte, wurde somit signifikant verkleinert (Ammon 2001, 34). Auch nach dem Zweiten Weltkrieg gab es nochmals – besonders im Osten – eine merkliche Reduktion des Staatsgebiets von Deutschland. Ein weiterer Rückzug der deutschen Sprache liegt in den zahlreichen Deportationen russlanddeutscher Bewohner zu Beginn (Vertreibung der Deutschen aus der Ukraine, der Krim und dem Kaukasus in der Zeit des sog. deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts) und während des Zweiten Weltkriegs u. a. nach Sibirien und Zentralasien (Aufenthalt in Arbeitslagern) begründet. Hinzu kam die administrative Auflösung der Wolgadeutschen Republik durch Stalin (Domaschnew 1993, 254; Ammon 1991, 95), was eine Zwangsumsiedlung der dort lebenden Russlanddeutschen in weit auseinanderliegende Gebiete Richtung Osten zur Folge hatte. Die traumatischen Erschütterungen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts lösten für die deutsche Sprache eine drastische Abwertung aus; dazu gehörte u. a. der Wissenschaftsboykott der Alliierten gegenüber der deutschen Sprache bereits nach dem Ersten Weltkrieg (siehe unter 4.1), die Vertreibung und Ermordung vieler deutschsprachiger Intellektueller im Dritten Reich (Ammon 2011, 35) sowie der wirtschaftliche Ruin der deutschsprachigen Länder nach dem Zweiten Weltkrieg (ebd., 34). Dieser Weltkrieg bedeutete in mehrfacher Hinsicht einen besonders dramatischen Positionsverlust für die deutsche Sprache im internationalen Maßstab, was auch z. B. mit einer Identitätskrise der deutschen Minderheitenbevölkerung in der Sowjetunion und europaweit einherging (Domaschnew 1993, 254 f.). Insgesamt wurde die internationale Stellung der deutschen Sprache – und dabei besonders ihre Funktion als Lingua
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franca – radikal eingeengt. In vielen Ländern war folglich bis in die 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein, wie z. B. Domaschnew (1993, 255) für die Sowjetunion dokumentiert, ein merklicher Rückgang des Interesses an der deutschen Sprache zu verzeichnen. Jedoch ist das Lingua-franca-Potenzial nicht ganz erloschen, eine Arbeit von J. Prucha, die von Ammon (1990, 69) referiert wird, hat z. B. für 1965 festgestellt, dass in der Tschechoslowakei bei der Kommunikation mit Anderssprachigen auf Deutsch viel häufiger als auf andere Sprachen zurückgegriffen wurde. Eine 1989 von Ammon (1990, 70) durchgeführte Umfragestudie im Kreise von Intellektuellen belegt, dass „Deutsch nach wie vor als Lingua franca in Osteuropa [sprich: Mittel- und Osteuropa] dient“, besonders in Ungarn, in der Slowakei sowie im Baltikum und vor allem von den älteren Generationen und in eher informellen Situationen (ebd., 77 und 80). Bestimmte Fakten sprechen dafür, dass Deutsch in der Vor-Wende-Zeit als die am meisten beherrschte und geläufigste Verkehrssprache in Ostmitteleuropa fungierte (Földes 1993, 220). Die deutsche Sprache erlebte nach 1990 nicht zuletzt als Reflex auf die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands weltweit einen Aufschwung (Földes 1993, 221; 2000, 283), auch z. B. in Russland nahm die Anzahl der Deutschlernenden signifikant zu (vgl. Domaschnew 1993, 255). Für die Post-Wende-Zeit prognostizierte Ammon (1990, 80) – wenn auch vorsichtig – für „Osteuropa“ die Wahrscheinlichkeit, dass „Deutsch wegen der jetzt gegebenen Kontaktmöglichkeiten auch als Lingua franca wieder größeres Gewicht bekommt“. In Hinsicht auf die Situation im 21. Jahrhundert ist zu konstatieren, dass das Deutschlernen seit 1990 zwar zugenommen hat, noch mehr allerdings das Englischlernen. Ammon (2001, 39) hat vor zwei Jahrzehnten eine – seiner früheren Prognose widersprechende – Tendenz festgestellt: „Vor allem Englisch scheint sich seitdem als Lingua franca Ostmittel- und Osteuropas auszubreiten“. Nun lässt sich diese Beobachtung aus gegenwärtiger Sicht nachdrücklich bestätigen:
Heute ist Englisch in Ostmitteleuropa die vorherrschende Lingua Franca, wie fast überall in der Welt, gebietsweise allerdings auch Russisch und nur in der älteren Generation in sehr beschränktem Umfang noch Deutsch. (Ammon 2015, 34)
Das Funktionspotenzial des Deutschen liegt in den ca. 100 Millionen Muttersprachlern in Europa (knapp 20 Prozent der Gesamtbevölkerung) als stärkste europäische Sprache (Amtssprache in sieben europäischen Ländern). Jedoch wird Deutsch nur von 23,3 Prozent der Lernenden als (erste, zweite oder weitere) Fremdsprache erworben und fällt somit deutlich hinter das Englische (97,9 Prozent) zurück (Eurostat 2019). Eine echte (symmetrische) Lingua-franca-Verwendung der deutschen Sprache ist heute überaus selten, wohingegen die unechte bzw. asymmetrische Verwendung häufiger vorkommt und gleichzeitig das Ziel vieler Deutschlernenden darstellt, d. h., die Lernenden setzen sich vor allem zum Ziel, mit Bewohnern deutschsprachiger Länder zu kommunizieren (Ammon 2015, 34).
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4 Exemplarische Domänen bzw. Handlungsfelder 4.1 Deutsch als Wissenschaftssprache Grundlegend stellte Ammon (2001, 34) fest: In einer Domäne lässt sich der frühere Lingua-franca-Gebrauch von Deutsch jedoch nicht auf Ostmitteleuropa eingrenzen: in der Wissenschaft. Vor allem in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis hin zum Ersten Weltkrieg spielte Deutsch eine wichtige Rolle als internationale Wissenschaftssprache, ebenbürtig dem Englischen und vor dem Französischen. Es war selbstverständliche Sprache internationaler Konferenzen und Publikationsorgane und diente als Übersetzungssprache von Referatenorganen und Bibliographien auch außerhalb des deutschen Sprachgebietes.
Mithin hat die deutsche Sprache im Bereich der Wissenschaft – wie Ammon (1998, 2) formuliert – „Weltgeltung“ erlangt (neben dem Englischen und Französischen). Wie Mittelstraß/Trabant/Fröhlicher (2016, 22) konstatieren: Während das Französische gleichzeitig Sprache der internationalen Diplomatie, das Englische der internationalen Geschäftswelt, beide also wirkliche „Weltsprachen“ darstellten, hatte sich das Deutsche eine internationale Geltung in bestimmten wissenschaftlichen Disziplinen erworben, etwa in der Philosophie, der Logik, der Chemie, der Theologie und den Altertumswissenschaften. Der Erste Weltkrieg beschädigte die Stellung des Deutschen als internationale Wissenschaftssprache, der zweite Weltkrieg vollendete ihren Verlust.
Ein kursorischer Rückblick in die Historie führt einem vor Augen, dass im Mittelalter Latein die einzige Sprache der Wissenschaften war (Mittelstraß/Trabant/Fröhlicher 2016, 17). Der im Spätmittelalter beginnende und Jahrhunderte andauernde Ablösungsprozess vom Lateinischen als Wissenschaftssprache führte im 17. und 18. Jahrhundert über das Französische schließlich zu einer Hinwendung zur deutschen Sprache im Laufe des 19. Jahrhunderts (Ammon 1998, 1). Beachtlicher Stellenwert kam der deutschen Sprache hauptsächlich in den Naturwissenschaften zu, z. B. in der Biologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, gemessen an der Zahl deutschsprachiger Publikationen. Innerhalb der Zoologie hatte Deutsch sogar die Funktion als Lingua franca inne (Ammon 1998, 2); unter „Lingua franca“ wird an dieser Stelle jede beliebige Sprache verstanden, „die Sprechern verschiedener Sprachen zur Überbrückung ihrer Sprachdifferenzen dient“ (Ammon 1998, 2). Die Bibliographie in der Zeitschrift Zoological Record (1910) enthielt zum einen zahlreiche deutsche Veröffentlichungen und führte zum anderen deutsche Übersetzungen z. B. bei russischen, norwegischen oder portugiesischen Titeln an (Zoological Record 1910, 6, 10 und 14, zitiert in Ammon 1998, 2 f.). Einer noch prominenteren Position erfreute sich das Deutsche als Wissenschaftssprache in der Chemie (Ammon 1998, 2); ein Indiz dafür war z. B., dass der Erwerb des Deutschen (zumindest als Lesefähigkeit bzw. als rezeptive Kompetenzen) ca. in den 1930er Jahren vielerorts eine obligatori
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sche Studienkomponente in der Chemie in nicht-deutschsprachigen Ländern bildete (Ammon 1998, 3). Besonders hohen Rang genoss das Deutsche in den Nachbarländern des deutschen Sprachgebietes, z. B. in den skandinavischen Staaten, den Niederlanden und in den mittel- sowie ost- bzw. südosteuropäischen Staaten einschließlich des Baltikums. Es ging dabei nicht nur um die rezeptive, sondern auch um die produktive Verwendung der deutschen Sprache mit dem Ziel, auch international wahrgenommen zu werden (ebd., 4). Dieser Publikationsstrategie lag die Annahme zugrunde, dass die deutsche Wissenschaft eine Spitzenstellung in Europa innehatte. Die erhebliche Nachfrage nach deutschsprachiger Forschungsliteratur beweist, dass zumindest gute rezeptive Kenntnisse in Akademikerkreisen weithin vorhanden waren (Hagège 1996, 76). Hier könnte die Anzahl der Nobelpreisträger als Indiz für wissenschaftliche Leistung genannt werden: Man kann auf zahlreiche Preisträger aus nicht-deutschsprachigen Ländern mit intensivem Austausch mit dem deutschen Sprachraum vor allem im Zeitabschnitt von 1900 bis 1937 hinweisen (MacCallum/Taylor/Murray 1938, zitiert in Ammon 1998, 8 f.). Bis zum Ersten Weltkrieg wurde die Position des Deutschen in der internationalen Wissenschaftskommunikation zusätzlich dadurch unterstützt, dass in wesentlichen Fachgebieten die relevantesten Bibliographien, Annotationsdienste oder Datensysteme, derer sich Forscher weltweit bedienten, in Deutsch vorlagen (Ammon 1998, 10). Danach wurde durch die „alliierten Akademien der Wissenschaften gegen Deutschland und die mit ihm verbündeten Länder“ ein Wissenschaftsboykott verhängt (Reinbothe 2006, 11). Dies bedeutete einen Ausschluss deutscher und österreichischer Wissenschaftler aus internationalen Wissenschaftsverbänden und Vereinigungen bzw. es erfolgten Gründungen neuer wissenschaftlicher Gesellschaften, bei denen Deutschland nicht berücksichtigt wurde (ebd.). In diesem Zusammenhang richtete sich der Boykott nicht nur gegen deutschsprachige Forscher, sondern auch gegen Deutsch als internationale Wissenschaftssprache schlechthin (ebd.). Das führte naturgemäß zu einem Statusverlust und einem Rückgang bezüglich der Sprachverwendung im Allgemeinen, stattdessen stiegen allmählich Englisch und Französisch dominant auf (ebd., 11 f.). Reinbothe (2019, 2) erläutert, dass
der alliierte Boykott mit dem Verhalten der deutschen Wissenschaftler im Krieg [begründet wurde]. Nahezu alle deutschen Gelehrten hatten den von Deutschland und Österreich-Ungarn begonnenen Krieg unterstützt, die in Belgien und Frankreich von der deutschen Armee begangenen Kriegsverbrechen geleugnet und den deutschen Militarismus gerechtfertigt.
In naturwissenschaftlichen Disziplinen wie Physik, Chemie, Mathematik, Geographie, Biologie und Medizin spielte Deutschland bis dato eine führende Rolle, wie Reinbothe (ebd., 1) anmerkt. Diese waren vom Boykott besonders betroffen, nicht zuletzt wohl, weil sie auch für Kriegstechnik und Industrie von Relevanz waren. Dies bedeutete einen starken Motivationsschwund für Erwerb und Gebrauch der deutschen Sprache durch Anderssprachige, denn vieles deutet darauf hin, dass das Interesse für
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Deutsch in hohem Maße von der internationalen Reputation der Forschung im deutschen Sprachraum motiviert wurde (Ammon 1998, 5). Das Deutsche hat zwar eine markante Stellungseinbuße als Wissenschaftssprache bzw. als Lingua franca in der Wissenschaft durch den Ersten Weltkrieg erleiden müssen, blieb jedoch weiterhin eine Zeit lang eine nicht unwichtige Sprache in der Forschungskommunikation als Denk- und Darstellungsmedium, zumal in bestimmten Disziplinen. Auch während der NS-Zeit und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg sanken Funktion und Prestige der deutschen Sprache in der Wissenschaftskommunikation kontinuierlich weiter (Ammon 1998, 12; Krumm 2011, 99), gleichwohl ist eine gewisse Geltung des Deutschen in naturwissenschaftlichen Fächern mindestens bis zum Ende der 1970er Jahre erhalten geblieben. Ein Indiz dafür liegt z. B. in den Deutschkursen, die noch „weitgehend unumstrittener Bestandteil von PhD-Studien verschiedener Fachrichtungen“ an amerikanischen Universitäten waren (Ammon 1998, 12 f.). Resümierend gilt: Wenngleich Deutsch in wissenschaftlich eher periphereren Ländern stellenweise heute noch als nennenswerte akademische Verkehrssprache zählt, kann dies die Zurückdrängung des Deutschen z. B. aus den USA als wissenschaftlichem Zentrum der heutigen Welt nicht wettmachen (ebd., 14). Über die derzeitige Situation im Schatten des Englischen als lingua academica universalis kann man mit Spillner (2019, 241) feststellen:
In den letzten Jahren sind weltweit an den Universitäten auffällige Veränderungen eingetreten. Das Studienfach Germanistik und der Deutschunterricht sind in vielen Ländern durch die sogenannte ‚Globalisierung‘ (tatsächlich eher durch die englische Monolingualisierung) zurückgedrängt worden.
Gleichwohl kommen dem Deutschen neben der Germanistik in einigen weiteren Wissenschaftsdisziplinen nach wie vor internationale Funktionen zu, in erster Linie – wie Ammon (2019, 18) anmerkt – in Nischenfächern geisteswissenschaftlicher Provenienz wie Ältere Geschichte, Philosophie und Musikwissenschaft. (Zur Mehrsprachigkeit in der Forschung und in der akademischen Ausbildung vgl. auch Thielmann, Beitrag 23 in diesem Band.)
4.2 Deutsch als Arbeitssprache in der Europäischen Union Die Sprachenfrage spielte bereits zu Beginn der europäischen Integration eine Rolle. Die Ratsverordnung Nr. 1 (vom 15. April 1958) war die initiale sprachenpolitische Entscheidung innerhalb der ersten EU-Vorgängerorganisation: die Bestimmung von vier Amtssprachen (Deutsch, Französisch, Italienisch und Niederländisch; siehe Ammon 2015, 737 und Haselhuber 2019, 169 f.). Im Laufe der Zeit hat sich in deren Folge eine sog. Vollsprachenregelung durchgesetzt, bei der alle Sprachen im Prinzip gleichwertig sind, ohne eine Unterscheidung zwischen ‚größeren‘ und ‚kleineren‘ Sprachen,
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gemessen an der Größe der Sprechergemeinschaft bzw. der Zahl der Muttersprachler (siehe ausführlicher Ammon 2015, 737–757). Seitdem hat man es bei jedem neuen Beitritt mit einer wachsenden Anzahl von Amts- und Arbeitssprachen zu tun, gegenwärtig sind es 24 (Haselhuber 2019, 170). Bei aller demokratiefördernder Absicht könnte das erhebliche Volumen von Sprachen die Kommunikation innerhalb der EU verlangsamen bzw. verkomplizieren. In der sprachlichen Wirklichkeit haben sich verständlicherweise die Sprachen mit dem größten internationalen Kommunikationspotenzial durchgesetzt (ebd.). Zu Beginn der europäischen Integration galt Französisch als akzeptierte Lingua franca. Haselhuber (ebd., 171) kommentiert, dass Deutschland […] so kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dankbar für die Wiederaufnahme in die zivilisierte Welt [war], sodass ein sprachliches Auftrumpfen unangemessen gewesen wäre.
Burkert (1993, 55) weist dabei nach, dass Deutsch den zweiten Rangplatz einnahm; es war „in der Tagesarbeit gut verankert, deutsche Sprachkenntnisse waren bei den EG-Bediensteten breit gestreut“, was u. U. auf asymmetrische DeutschverwendungsSituationen und sogar auf eine gewisse Funktion als Lingua franca schließen lässt. Auch Haselhuber (2019, 171) belegt die bis 1970 wesentliche Stellung des Deutschen, die sich u. a. darin äußerte, dass ca. 40 Prozent der Originaltexte deutschsprachig waren. Ab 1973 wich Französisch als dominante Sprache durch den Beitritt des Vereinigten Königreichs sowie Irlands allmählich dem Englischen; dafür gab es sowohl sprachimmanente (signifikant höherer Gebrauch als Fremdsprache) als auch außersprachliche Faktoren (sprachlicher Generationenwechsel der EU-Beamten, Englisch als Sprache der neuen Technologien usw.) (vgl. ebd., 171–173). Die deutsche Sprache konnte und kann in diesen Punkten nicht mithalten. Seitdem bekleidet das Deutsche den dritten Rangplatz, beispielsweise arbeitet im Rat der Ausschuss der Ständigen Vertreter dreisprachig, der Kommission liegen zur Beschlussfassung alle Dokumente in drei Sprachen vor und im Wirtschafts- und Sozialausschuss wird neben Französisch und Englisch Deutsch gesprochen (Burkert 1993, 55). Was schon vor einem Vierteljahrhundert diagnostiziert wurde, nämlich, dass sowohl in der internen Sprachenpraxis der europäischen Institutionen als auch im externen Verkehr der europäischen Institutionen mit der Wirtschaft und den Bürgern viele Indikatoren auf einen Trend zum Bilinguismus (Englisch/Französisch) oder gar zum Monolinguismus (Englisch) hindeuten (ebd., 57), trifft nun dezidiert zu. Der Befund von Krumm (2011, 99) fällt ähnlich aus, und zwar, dass Deutsch innerhalb der EU-Institutionen „keineswegs als eine gefestigte europäische Sprache erscheint“. Die Fragebogen-Erhebungen von Schloßmacher (1994, 108, 112 und 115) dokumentieren für Anfang der 1990er Jahre, dass sich Beamte und Abgeordnete in den – damals noch – EG-Organen vor allem des Französischen und des Englischen bedienten und der Anteil der Deutschverwendung durch Fremdsprachler sowohl in der mündlichen als auch in der schriftlichen Kommunikation nur eine verschwindend geringe Rolle spielte, sodass von einer echten Lingua-franca-Funktion des Deutschen wohl kaum auszugehen ist.
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Es gehört auf ein anderes Blatt, dass die Sprachenpolitik der deutschsprachigen Staaten wie auch die Sprachilloyalität vieler Deutschsprachiger an dieser Situation wahrscheinlich nicht ganz schuldlos sind. Beispielsweise geht aus dem empirischen Projekt von Schloßmacher (1994, 118) hervor, dass hinsichtlich einer Arbeitssprachenregelung auch die deutschen Beamten nicht alle für Deutsch als Arbeitssprache stimmten. Földes (2000, 286 f.) und Ammon (2015, 60 f.) liefern dazu weitere konkrete Fallbeispiele und entsprechende Überlegungen. In einer empirischen Studie weist Quell (1997, 37) über die Wahl und über den Gebrauch von Sprachen in der Europäischen Kommission sowie über die bevorzugte bzw. gewünschte Arbeitssprache der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen nach, dass bei der Umfrage gerade die Deutschsprachigen mehr als alle anderen für Englisch als alleinige Verkehrssprache optierten. Dabei erhielt Deutsch die größte Unterstützung von den Anderssprachigen, für die Deutsch die am besten beherrschte Fremdsprache darstellte (Quell 1995, 39; vgl. auch Földes 2000, 284). Mit Ammon (2001, 40) lässt sich bilanzieren: Insgesamt wird Deutsch also in den Institutionen der EU nur in sehr geringem Maße asymmetrisch oder gar als Lingua franca verwendet, allenfalls von Niederländern und Dänen. Es wird in weit geringerem Maße gebraucht, als es von den Sprachkenntnissen her möglich wäre.
Tatsache ist, dass Deutsch die am meisten verbreitete Muttersprache in der EU ist (90 Millionen Sprecher in insgesamt fünf Mitgliedsstaaten – Deutschland, Österreich, Luxemburg, Belgien und Italien), hinzu kommt seine Rolle als Wirtschaftssprache, aber auch Deutschlands finanzieller Beitrag zur EU, was z. B. nach Haselhuber (2019, 176 f.) Gründe für eine Geltungssteigerung des Deutschen in der EU sein können. Auch die Daten von Darquennes/Nelde (2006, 68) legen nahe, dass offenbar auch die ökonomische Stärke eines Landes zum Prestige der gegebenen Sprache beiträgt. Aufgrund der erheblichen Wirtschaftskraft der deutschsprachigen Länder wird die deutsche Sprache für Lernende attraktiver. Haselhubers Vorschlag zielt auf einen „Sprachenkorb“ in der EU ab, bestehend aus Englisch, Deutsch, Französisch, Spanisch und Russisch. Aktuell beklagt er für die Deutschen dabei den „schäbige[n] Umgang mit der eigenen Sprache“ (2019, 179) und die Tatsache, dass „deutsche Beamte es bevorzugen, ihre Fremdsprachenkenntnisse unter Beweis zu stellen, anstatt auf gesicherter Rechtsgrundlage und mit gesundem Selbstbewusstsein ihre eigene Sprache zu sprechen“ (ebd., 179 f.), da all das der Wahl, der Verwendung und der Verbreitung des Deutschen auf europäischem Parkett, auch als EU-Arbeitssprache, zuwiderläuft. Die Vorliebe des international orientierten homo politicus gilt heute offenbar immer mehr der Globalsprache Englisch. (Zu Mehrsprachigkeit in der internationalen Politik vgl. auch Weber, Beitrag 21 in diesem Band.)
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5 Schlussbemerkungen Zusammenfassend ist festzustellen, dass der vormals in manchen Regionen beachtliche Internationalitätsgrad in der Verwendung der deutschen Sprache in den vergangenen Jahrzehnten massiv zurückgegangen ist. Während Englisch im Verlauf der Zeit zunehmend zu einer mächtigen hyperzentralen Sprache avancierte, kann dem Deutschen der Status einer superzentralen Sprache zugestanden werden (zur Terminologie vgl. Swaan 2001, 6 und Ammon 2019, 8). Englisch gilt europaweit gleichsam in allen Domänen als konkurrenzlose Megasprache, während Deutsch allenfalls als Nischensprache charakterisiert werden kann (Földes 2011, 54). Von einer weiträumigen (echten) Lingua-franca-Funktion der deutschen Sprache kann heute nicht mehr die Rede sein: Als echte Lingua franca figuriert Deutsch in der Kommunikation zwischen Sprechern verschiedener Muttersprachen fast nur innerhalb des deutschen Sprach- und Kulturraums. Der ,unmarkierte‘ Fall in der Sprachwahl ist in interlingualen kommunikativen Handlungen praktisch weltweit Englisch, indessen stellt Deutsch eine ,markierte‘ Wahl dar und beschränkt sich auf einige wenige spezifische Domänen wie z. B. auf internationale Germanisten- oder Deutschlehrertagungen. Dabei sind Stellung und Potenzial der deutschen Sprache nicht ganz zu unterschätzen, vor allem als unechte Lingua franca weist sie nach wie vor – wenn auch mit etwas abnehmender Tendenz – einen nennenswerten Aktionsradius auf. Dabei fungiert die Deutsch-Verwendung u. U. auch als eine Art Symbol gemeinsamer Gruppenzugehörigkeit (vgl. Ammon 2015, 39) im Sinne einer spezifischen Identität als Mitglied einer internationalen Community von Deutsch-Sprechern und Deutsch-Könnern.
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8. Geschichte von Deutsch als Fremdsprache (nicht nur) im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts in Deutschland Abstract: Wenngleich Deutsch als Fremdsprache bereits seit Jahrhunderten in verschiedenen Kontexten gelernt wurde, gibt es den ersten Lehrstuhl für Deutsch als Fremdsprache (DaF) erst seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, und im Gegensatz zu der seit langer Zeit als Wissenschaft etablierten Sprachwissenschaft wurde die Fremdsprachendidaktik in Deutschland ebenfalls erst in den 1960er Jahren als eine universitäre Disziplin begründet. Im Beitrag werden sowohl die Forschungssituation als auch die lange Geschichte von Deutsch als Fremdsprache (nicht nur) im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart behandelt. Dabei werden auch die verschiedenen Entwicklungen und neuen wissenschaftlichen Ausrichtungen von Deutsch als Fremdsprache und der Fremdsprachendidaktik – von der pragmatischen Wende über die interkulturelle Kompetenz auf dem Weg zur interkulturellen Fremdsprachenpädagogik bis zum Deutsch in allen Fächern und Gesamtsprachencurricula – in einem interdisziplinären Kontext behandelt. 1 2 3 4 5 6
Einleitung – Zur Forschungssituation Zur Geschichte der Fremdsprache Deutsch Die pragmatische Wende und die Valenzgrammatik Fremdsprachendidaktik und Deutsch als Fremdsprache auf dem Weg zur interkulturellen Fremdsprachenpädagogik Deutsch in allen Fächern und Gesamtsprachencurricula Literatur
1 Einleitung – Zur Forschungssituation Sowohl in der mediävistischen als auch in der sprachhistorischen Forschung ist die ältere Geschichte des Deutschen als Fremdsprache, abgesehen von einigen wenigen, zum Teil sehr speziellen Einzelstudien (vgl. z. B. Karnein 1976; Hetterich/Chirchmair 1989; Piirainen 1989; Šimečková 1994; Bellmann 1996; Schubert 1996; Kucharska 1998), lange Zeit nicht ausreichend untersucht worden. Auch die Fremdsprachendidaktik hat sich mit diesem Forschungsbereich kaum befasst, und Untersuchungen zur Geschichte des Fremdsprachenlernens beschäftigen sich in der Regel ausschließlich mit einzelnen Bereichen der Geschichte des Unterrichts, aber nicht mit historischen Dokumenten zum Fremdsprachenerwerb (vgl. z. B. Schröder 1980–1985; 1987–1995; 1992). Die wichtige Studie von Caravolas (1994) beschreibt die Geschichte des Fremdsprachenunterrichts in Europa zwischen 1450 und 1700, erfasst aber den germani
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schen und slawischen Sprachraum nur sehr fragmentarisch und behandelt den außerunterrichtlichen Fremdsprachenerwerb gar nicht. Für das 18. und 19. Jahrhundert gibt es einige Einzeluntersuchungen zur Geschichte des Fremdsprachenlernens, doch die Zeit davor wurde, bis auf wenige Ausnahmen, wenig erforscht (vgl. Glück 1997; 2000; vgl. auch die nicht publizierten Arbeiten von Bauer 1994 und Reder 1994). Unter Spracherwerbsgesichtspunkten wurden bis vor einigen Jahren weder zweioder mehrsprachige Lerngrammatiken, Sprachführer, Vokabulare und Wörterbücher (vgl. Claes 1975) noch die – gut erschlossene – grammatikographische und lexikographische Literatur untersucht (vgl. Moulin-Fankhänel 1994/1997). In der mediävistischen Komparatistik sowie in der Forschung zum Reisen und zum Korrespondenzwesen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit wurden einige Aspekte zwar indirekt erwähnt, aber nicht systematisch behandelt (vgl. z. B. Ertzdorff/Neukirch 1992; Heimann 1998; Bausinger/Beyrer/Korff 1999; Ohler 2004; vgl. dazu auch Schulz 2014). Auch in Untersuchungen zur Geschichte der Sprachkontakte und der Entlehnungen aus anderen Sprachen sowie zu den Anfängen sprachenpolitischen Verhaltens, zur Mehrsprachigkeit und Sprachmischung wurden der Erwerb und Gebrauch von Deutsch als Fremdsprache nicht bzw. nur am Rande erwähnt (vgl. zusammenfassend von Polenz 1994, 49–106; 2000, 209–228, 252–282; vgl. auch Besch u. a. 2001, bes. Kap XIX. und XX.; Goebl u. a. 1996/1997). Erst mit dem Buch von Helmut Glück Deutsch als Fremdsprache in Europa vom Mittelalter bis zur Barockzeit liegt eine umfangreiche Untersuchung zu diesem Thema vor (Glück 2002). Glück stützt seine materialreiche Studie auf eine große Zahl von bisweilen entlegenen Quellen aus der Dichtung und Briefliteratur, aber auch der Historiographie. Er konnte für sein Buch bereits auf Ergebnisse einer Gruppe von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen zurückgreifen, die sich unter seiner Leitung seit dem Jahr 2000 in der neu eingerichteten Arbeitsstelle zur Geschichte des Deutschen als Fremdsprache an der Universität Bamberg systematisch und interdisziplinär mit diesem wichtigen Forschungsbereich beschäftigten. Der Untersuchungszeitraum reichte vom Mittelalter bis in die Neuzeit, wobei der hoch- und der niederdeutsche Sprachbzw. Kontaktraum gleichermaßen Berücksichtigung fanden (vgl. Glück 2002, 1–23). Untersucht wurden Berichte über die Verbreitung, d. h. den Erwerb von Deutsch als Fremdsprache infolge von Kolonisations- und Migrationsprozessen, sowie über die Entstehung und Entwicklung von Zweisprachigkeit mit Deutsch als Kontaktsprache, darüber hinaus Materialien über das Deutschlernen als Erfordernis für Reisende, Kaufleute, Handwerks- und Kaufmannsgesellen, Pilger, Diplomaten, Soldaten, Intellektuelle, sog. fahrendes Volk und für temporäre Einwanderer und Einwanderinnen. Erforscht wurden außerdem explizite Zeugnisse für das Erlernen des Deutschen, und zwar Glossare und Wörterbücher, Sprach- und Lernbücher, Lerngrammatiken und (vor-)wissenschaftliche Grammatiken. Dabei wurden auch komplementäre Erscheinungen im deutschen Sprachraum bearbeitet, wie die Geschichte des Erwerbs und der Lehre moderner, lebender Fremdsprachen im deutschen Sprachraum (vgl. Glück 1997; 2000; 2002).
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2 Zur Geschichte der Fremdsprache Deutsch Die deutsche Sprache stand zu jeder Zeit ihrer Entwicklung im sprachlichen Austausch mit Nachbarsprachen. Ein zentraler sozialer Ort, an dem dieser Austausch stattfand, war das Lernen und Lehren des Deutschen als Fremdsprache durch Nichtdeutsche und das Lehren und Lernen anderer Sprachen durch Deutsche. Im Zentrum des Interesses neuerer Untersuchungen sollten daher nicht nur die Resultate von Sprachkontakten stehen, sondern auch die Personen(gruppen), die Träger von und Akteure in Sprachkontakten waren. Am intensivsten waren diese Kontakte in Mittel-, Nord- und Osteuropa, doch kam das Deutsche auch mit vielen weit entfernten Sprachen in Kontakt, z. B. durch Auswanderer und Auswanderinnen, Kaufleute und Missionare (vgl. Meier 2016). Das Lateinische war im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit in West- und Mitteleuropa die Lingua franca, zumindest für bestimmte soziale Schichten. Weitere Möglichkeiten, Verständigungsschwierigkeiten zu überwinden, bestanden und bestehen darin, sich eines Dolmetschers zu bedienen oder sich Sprachkenntnisse des jeweiligen Ziellandes anzueignen. Für das gesamte Mittelalter finden sich Belege und Hinweise dafür, dass Volkssprachen als Fremdsprachen gelernt worden sind. In Berichten über Adelshochzeiten und diplomatische Missionen oder von Pilgerreisen finden sich ebenso Belege über individuelle Bemühungen, Kenntnisse der deutschen Sprache zu erwerben, wie in städtischen Regelungen und Vorschriften fremden Handwerkern, Kaufleuten und dem fahrenden Volk gegenüber. Bereits aus dem 9. Jahrhundert sind Materialien, in Form von Wortlisten und Konversationshilfen, für das Lernen des Deutschen als Fremdsprache erhalten (vgl. Penzl 1985). Skizzen von Ausschnitten der deutschen Grammatik, mehrsprachige Glossare und Gesprächsbücher gab es – wenngleich häufig nur indirekt belegt – bereits im Frühmittelalter, aber erst seit dem Spätmittelalter wird nachweislich Deutsch als Fremdsprache von größeren Gruppen gelernt (vgl. Bischoff 1961; Pausch 1972, 77; Blusch 1992, 1, 300 ff.; Hellgardt 1996, 27 ff.). Handelsbeziehungen gehörten schon im Mittelalter zu den wichtigsten Gründen, eine fremde Sprache zu lernen. Während die Sprachbücher des 15. Jahrhunderts im Allgemeinen von der Tradition des vocabularius ex quo geprägt waren, bestehen bereits eindeutige Unterschiede zu den ältesten erhalten gebliebenen Zeugnissen für einen systematischen Unterricht und ein gelenktes Selbststudium des Deutschen, sowohl in der Zielgruppe als auch im Anordnungsprinzip (alphabetisches Prinzip versus Anordnung nach Sachgruppen) und in der Konzeption (reine Vokabulare, ohne Flexionsformen und syntaktische Eigenheiten versus Einbeziehung von Sprichwörtern und Redewendungen, Sätzen und kleinen Dialogen) (vgl. Grubmüller 1967). Gegen Ende des 15. Jahrhunderts erschienen die ersten Drucke solcher Sprachbücher, und im späten 16. Jahrhundert wurden – in lateinischer Sprache – die ersten größeren Grammatiken des Deutschen veröffentlicht, die sich auch an Ausländer
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richteten, die Deutsch lernen wollten. Im Vorwort seiner 1574 erschienenen Grammatik schrieb der Straßburger Albert Ölinger, er habe sie „in usum iuventutis maxime Gallicae“ verfasst, d. h. vor allem für junge Franzosen (Ölinger 1574). Und auch der Obersachse Johannes Clajus schrieb seine Grammatik (1578), „ut nationes exterae Germanice loqui discant facilius“, damit Ausländer leichter Deutsch lernen. Bereits am Anfang der deutschen Grammatikschreibung spielte also Deutsch als Fremdsprache eine gewisse Rolle, andererseits wollten sich auch die Lehrwerke und Grammatiken für den Unterricht in Deutsch als Fremdsprache an der zeitgenössischen Sprachforschung orientieren (vgl. Bauer 1994; Glück 2002, 436 f.). Zunehmend gewann der Unterricht in den verschiedenen Volkssprachen an Bedeutung, und insbesondere bei den sog. Kavalierstouren, bei Kriegszügen und selbstverständlich im wirtschaftlichen Bereich galt die Kenntnis des Deutschen, das z. B. auch an einigen Ritterakademien in Italien und Frankreich unterrichtet wurde, als nützlich und hilfreich (vgl. Müller 1969; Bauer 1994; Puff 1995; Glück 2000, 174–177; Glück/Bruzzone/Miehling 2001, 145 f.). In Skandinavien und im Baltikum galt, ebenso wie bei den Westslaven und den Ungarn, das Deutsche – weit vor dem Französischen und Italienischen – als die wichtigste moderne Fremdsprache, während in den Niederlanden das Französische dominierte (vgl. Frank-van Westrienen 1983; Helk 1987). Im Mittelalter immatrikulierten sich Studenten aus dem deutschen Sprachraum zunächst an Universitäten im Westen (Paris) und Süden (Bologna, Padua, Rom), aber auch an der Krakauer und Prager Universität (Schwinges 1986, 25–28). Nach den vorreformatorischen Universitätsgründungen in Prag (1348), Wien (1365), Heidelberg (1385), Köln (1388), Erfurt (1392), Leipzig (1409) und Rostock (1419) etc. kamen Studenten aus Nord-, Mittel- sowie Osteuropa, später auch aus dem romanischen Westen in den deutschen Sprachraum. Im 14. und 15. Jahrhundert bevorzugten Ungarn und Polen die Wiener Universität, Skandinavier und Balten eher Rostock und Leipzig, Schotten und Skandinavier die Kölner Universität als Studienort. Wenngleich die Studien zu dieser Zeit selbstverständlich auf Latein betrieben wurden, ist davon auszugehen, dass ausländische Studenten – wie heute auch – häufig die jeweilige Landessprache lernten. Indirekt nachweisbar ist dieser Umstand z. B. durch Übersetzungen, die seit dem 16. Jahrhundert aus dem Deutschen oft von Studenten angefertigt worden sind, die in den Matrikeln deutscher Universitäten zu finden sind (vgl. u. a. Lévy 2013 [1950], 92; Schwinges 1986, 61–185, 234–238). Wenngleich wir über viele Details des Fremdsprachenerwerbs im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit noch keine ausreichenden Kenntnisse haben, können wir doch konstatieren, dass neben Bildungsinteressen vor allem Handel, Reisen und Migration zu den wichtigsten Motiven gehörten, eine Fremdsprache zu lernen. Zu erforschen bleiben nicht nur die überlieferten Lehrmittel für den Erwerb von Deutsch als Fremdsprache, sondern auch die pragmatischen Konzepte und Sprachentwicklungsprozesse im Hintergrund. Wenn Fremdsprachenerwerb und Sprachenkontakte im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit im Rahmen einer historischen Soziolinguistik, die Sprach
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geschichte als Kulturgeschichte versteht und Sprache als soziales Handeln begreift, untersucht werden, sind dabei die jeweiligen kommunikativen Handlungszusammenhänge ebenso wie die individuellen und gesamtgesellschaftlichen Kommunikationsanforderungen zu berücksichtigen. Die neu gegründeten Sprachgesellschaften begannen sich im 17. Jahrhundert nicht nur um die Normierung und Vereinheitlichung, sondern auch um die Beschreibung und Analyse des Deutschen zu kümmern (vgl. Meier 2020). Als Antwort auf die im Jahre 1663 erschienene Grammatik von Justus Georg Schottelius, die sich erstmals mit den reichen Möglichkeiten der Wortbildung des Deutschen befasste (vgl. Schottelius 1663), sind die gewichtigen Grammatiken des Deutschen für Italiener und Franzosen, verfasst auf Italienisch und Französisch, von Matthias Kramer zu betrachten, in denen die Wortbildung des Deutschen eine zentrale Rolle für den DaF-Unterricht spielt (vgl. u. a. Kramer 1694; vgl. dazu Bray 2000). Johann Christoph Gottsched und Johann Christoph Adelung, die vor allem in Leipzig wirkenden Väter der neuhochdeutschen Standardsprache, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Schriftsprache Allgemeingeltung erreichte, übten auch auf den Bereich Deutsch als Fremdsprache großen Einfluss aus, was z. B. im Aufbau sowie in der Systematik von im Ausland publizierten Lehrwerken sichtbar wird (vgl. Glück 2015, 9). Das erste für den Ausländerunterricht im Inland verfasste Lehrwerk, die 1802 von Friedrich Eberhard Rambach für die Studenten der Berliner Bauakademie herausgegebene Neue teutsche Sprachlehre trug den Untertitel auch für Ausländer (Rambach 1802). Der erste Nachweis eines akademischen Deutschunterrichts für Nichtdeutsche in Deutschland stammt aus Stuttgart, wo um 1770 an der Hohen Karlsschule, die als Militärakademie, Kunstakademie und später als Allgemeine Hochschule diente und die zu dieser Zeit bereits einen Ausländeranteil von 12,3 % hatte, Deutsch-Kurse eingeführt wurden (vgl. zur Hohen Karlsschule u. a. Uhland 1953). Der nächste nachweisbare, akademische DaF-Kurs fand dann erst im Wintersemester 1898/99 an der Berliner Universität statt (Glück 2015, 9). Nachdem im 19. Jahrhundert die modernen Fremdsprachen in den Fächerkanon der höheren Schulen Europas und Amerikas einzogen und das Deutsche in Nord-, Mittel- und Osteuropa zur führenden Schulfremdsprache wurde sowie seit 1800 – neben dem Französischen und dem Englischen – zu einer internationalen Wissenschaftssprache aufstieg, wurde das Angebot an Lehrbüchern und Grammatiken für die Fremdsprache Deutsch zunehmend reichhaltiger und differenzierter (vgl. hierzu u. a. Glück u. a. 2002; Glück/Schröder 2007; Glück/Pörzgen 2009; Häberlein/Kuhn 2010; Glück 2013; Glück/Häberlein/Schröder 2013). Anfang des 20. Jahrhunderts entstand 1909 in Göttingen das erste universitäre Institut für ausländische Studenten, das noch im selben Jahr den ersten Sommerhochschulkurs veranstaltete. Bereits im Jahr 1911 wurde dieses sogenannte Studienhaus für Ausländer nach Berlin verlegt (Glück 2015, 12). 1925 wurde der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) in Heidelberg auf Initiative eines einzelnen Studenten ge
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gründet (vgl. Alter/Heinemann/Hellmann 2000) und als Nachfolgeinstitution der ebenfalls im Jahre 1925 entstandenen Deutschen Akademie in München wurde 1951 das Goethe-Institut errichtet, das ursprünglich der Ausbildung ausländischer Deutschlehrer und -lehrerinnen in Deutschland dienen sollte. Bereits ein Jahr später wurde das erste Goethe-Institut in Athen eröffnet, 1953 begannen die ersten Sprachkurse und im gleichen Jahr übernahm das Goethe-Institut Aufgaben zur Förderung von Deutsch als Fremdsprache im Ausland (vgl. Goethe-Institut 2001; Michels 2005). Als erstes neueres Lehrbuch des Deutschen als Fremdsprache – nach Friedrich Eberhard Rambachs Werk aus dem Jahr 1802 – erschien 1923 Walter Webers Deutsch für Ausländer, das mehrere Auflagen erlebte und bis 1945 in Gebrauch blieb (Weber 1923). Weber, der am Ausländerinstitut der Berliner Universität lehrte, stellte sein Werk auf die „Grundlage der Anschauung und einer natürlichen, schnellfördernden Methode“. Der Ansatz des Lehrwerks, „für den Unterricht mit dem Lehrer, nicht für Selbstunterricht konzipiert“, wie es im Untertitel hieß, war schulgrammatisch basiert und die Themen sowie der Wortschatz orientierten sich an der akademischen Lehre. Mit Hilfe von „42 deutschen Fragen“, einer Liste von W-Fragen, sollte eine elementare Kommunikation ermöglicht werden (ebd.). Daneben gab es bereits weitere Lehrwerke, wie z. B. Gesprochenes Deutsch von Wolfhard Klee und Magda Gerken, das 1939 von der Deutschen Akademie und in späteren Auflagen seit den 1950er Jahren vom Goethe-Institut herausgegeben wurde (Klee/Gerken 1939). Zwei besonders langlebige Lehrwerke entstanden in den 50er Jahren, die Deutsche Sprachlehre für Ausländer von Dora Schulz und Heinz Griesbach (1955), sowie das Buch Deutsch für Ausländer von Hermann Kessler (1954). Beide Lehrwerke waren schulgrammatisch konzipiert, standen aber auch unter dem Einfluss der inhaltbezogenen Grammatik Leo Weisgerbers. Dora Schulz, die ehemalige Lektorin der Deutschen Akademie und leitende Mitarbeiterin der Münchner Zentrale des Goethe-Instituts, entwickelte gemeinsam mit Heinz Griesbach, dem Leiter des Goethe-Instituts Bad Reichenhall, geeignete Unterrichtsmaterialien. Die darauf aufbauende Deutsche Sprachlehre für Ausländer wurde zu einer jahrzehntelangen Erfolgsgeschichte sowohl des Verlags als auch des Goethe-Instituts im Bereich Deutsch als Fremdsprache und zu einem Standardwerk in Millionenauflage. Hermann Kessler hatte bereits 1943, als Neufassung des Buches Deutsch für Ausländer von Walter Weber, ein Sprachlehrbuch für Anfänger, Deutsch lernen leicht gemacht, publiziert (Kessler 1943). Nach dem Krieg gründete er den Verlag für Sprachmethodik in Königswinter, den ersten Fachverlag für Deutsch als Fremdsprache. Die ersten Lehrwerke, die unter dem Einfluss der strukturalistischen Sprachtheorie entstanden, erschienen in den 1960er und 1970er Jahren, wie z. B. Deutsch als Fremdsprache von Korbinian Braun, Lorenz Nieder und Friedrich Schmöe (1967) in der Bundesrepublik oder Guten Tag, Berlin! Audiovisueller Intensivkursus Deutsch für Ausländer von Horst A. Breitung (1969) in der DDR.
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3 Die pragmatische Wende und die Valenzgrammatik Während die generative Linguistik in den Grammatiken für Deutsch als Fremdsprache nur wenig nachhaltig Berücksichtigung fand, hinterließ die pragmatische Wende in den Sprachwissenschaften seit den 1970er und 1980er Jahren sowohl im Unterricht als auch in den Lehrwerken für Deutsch als Fremdsprache ihre Spuren, wie z. B. in dem von Gudula Mebus verfassten Band Sprachbrücke 1: Deutsch als Fremdsprache (Mebus 1987), in dem die gesprochene Sprachform als Lernziel formuliert wurde, sichtbar ist. Im Kontext der pragmatischen und der kommunikativen Wende berief sich auch das Fach Deutsch als Fremdsprache in Theorie und Praxis auf das im deutschen Diskurs vor allem von Jürgen Habermas und Niklas Luhmann formulierte Konzept der kommunikativen Kompetenz, das sich zunächst nur in Bezug auf den Fremdsprachenunterricht zu Beginn der 1970er Jahre entwickelte (vgl. u. a. Baacke 1973; Kochan 1975; Portmann 1981; vgl. Abschnitt 4). Einen nachhaltigen Einfluss auf das Fach Deutsch als Fremdsprache hatte auch die Valenzgrammatik, in der dem finiten Verb die zentrale Position im Satz zugeschrieben wird. Wichtige Valenzgrammatiken und Forschungsarbeiten für das Deutsche wurden von DaF-Grammatikern und von Germanisten, die im Ausland lehrten, verfasst. Zu nennen sind hier u. a. Gerhard Helbig (vgl. Helbig 1981; 1992; vgl. Abschnitt 4), Klaus Welke, der u. a. in Bagdad, Tampere, Berlin, Kairo und Wien lehrte (vgl. Welke 1988; 2011; 2019), sowie Jochen Pleines, der u. a. in Paris, Tunis, Rabat, Bochum und Amman tätig war und die Kasusgrammatik in Deutschland bekannt machte. Valenzgrammatiker waren aber auch im Bereich des Sprachvergleichs produktiv, wie die Arbeiten von Ulrich Engel und Jean-Marie Zemb belegen. Ulrich Engel verfasste zusammen mit ausländischen Germanisten und Germanistinnen einige kontrastive Grammatiken und Lexika des Deutschen und des Polnischen (Rytel-Schwarz u. a. 2012–2018), Serbokroatischen (Engel/Srdić/Alanović 2012; Engel/Alanović 2014; Ðurović u. a. 2017; Engel/Alanović/Ninković 2018) sowie Rumänischen (Engel/Savin 1983; Engel u. a.1993) und Jean-Marie Zemb eine zweibändige Vergleichende Grammatik Französisch-Deutsch (1978; 1984). Zu erwähnen ist in diesem Kontext auch die im Auftrag des Instituts für Deutsche Sprache herausgegebene Buchreihe Deutsch im Kontrast, die 28 Bände umfasst. Ziel dieser Schriftenreihe war es, „aus kontrastiver Sicht Teilbeschreibungen der deutschen Gegenwartssprache vorzulegen und Methoden der Kontrastierung zur Diskussion zu stellen“. Außerdem sollte „zu einer didaktischen Umsetzung der veröffentlichten beschreibenden Arbeiten angeregt werden“ (Engel/Glinz/Jakob 1982).
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4 Fremdsprachendidaktik und Deutsch als Fremdsprache auf dem Weg zur interkulturellen Fremdsprachenpädagogik Fremdsprachenunterricht war und ist – abgesehen von den verschiedenen Formen und Angeboten der Weiterbildung und Vervollkommnung von Sprachkenntnissen, z. B. im Rahmen von Programmen des Schüler- und Schülerinnen- und Studentenund Studentinnen-Austausches – überwiegend ein Wirkungsgebiet des allgemeinen Schulsystems. Dafür müssen geeignete Lehrpersonen ausgebildet werden und es stellt sich dabei immer wieder die grundlegende Frage, ob dies primär die Aufgabe von Lehrern und Lehrerinnen oder eher von Hochschullehrern und -lehrerinnen sein soll, die sich mit didaktisch-methodischen Fragen des Fachunterrichts theoretisch und praktisch auseinandersetzten. Im Gegensatz zu der seit langer Zeit als Wissenschaft etablierten Sprachwissenschaft wurde die Fremdsprachendidaktik in Deutschland erst in den 1960er Jahren als eine universitäre Disziplin begründet. Häufig erfolgten die Neugründungen und die wissenschaftliche Fundierung der neuen Disziplin durch Sprachwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen, weshalb es nicht verwundert, dass zunächst vor allem linguistische Grundlagen der Fremdsprachendidaktik erforscht wurden (vgl. Pfeiffer 2003, 267). Dabei wurden bereits damals Fremdsprachendidaktik und -methodik in der Regel als Angewandte Linguistik an sprachwissenschaftlichen Instituten, eher durch Anglisten und Anglistinnen und Romanisten und Romanistinnen, seltener durch Slawisten und Slawistinnen oder Pädagogen und Pädagoginnen, verankert und die Forschung war in beiden deutschen Staaten recht breit aufgestellt (vgl. ebd., 268). Während Deutsch als Fremdsprache (DaF) „alle unterrichtspraktischen und wissenschaftlichen Aktivitäten“ bezeichnet, „die sich mit der deutschen Sprache und Kultur der deutschsprachigen Länder unter dem Aspekt des Lehrens und Lernens von Nichtdeutschsprachigen beschäftigen“ und sich dabei im engeren Sinne auf das Fremdsprachenlernen außerhalb des deutschen Sprachraums bezieht, bezeichnet Deutsch als Zweitsprache (DaZ) den Erwerb des Deutschen im deutschsprachigen Kontext (Krumm 2010, 47). Als Teilgebiet von DaF ist DaZ heute sowohl in der wissenschaftlichen als auch in der außerwissenschaftlichen Praxis integriert und nutzt einerseits dessen Wissensbestände und hat andererseits die Weiterentwicklung des Gesamtfaches mit beeinflusst und gefördert (vgl. u. a. Rösler 1995; Barkowski 2003; Reich 2010; Dirim 2018; Harr/Liedke/Riehl 2018). 1966 wurde Gerhard Helbig auf den ersten Lehrstuhl für Deutsch als Fremdsprache (DaF) im gesamten deutschsprachigen Raum an dem damaligen Herder-Institut der Karl-Marx-Universität in Leipzig berufen und recht bald entstand um ihn herum eine Gruppe von Forschern und Forscherinnen, die Deutsch als Fremdsprache vor allem wissenschaftlich untersuchte. In dieser Zeit schrieb Gerhard Helbig zusammen mit Joachim Buscha eine Reihe von linguistisch orientierten Lehrwerken für Deutsch
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als Fremdsprache, vor allem aber das Standardwerk Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht, das seither in zahlreichen Auflagen erschienen ist (vgl. u. a. Helbig/Buscha 1972; 1999; 2001; 2017). Von vielen Sprachwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen wird die eigene Disziplin als die Grundlagenwissenschaft der Fremdsprachendidaktik schlechthin betrachtet. Dagegen, dass es auch einige gab, „die der Fremdsprachendidaktik jede Wissenschaftlichkeit absprachen“, wehrte sich eine damals entstandene Generation junger Fremdsprachendidaktiker und -didaktikerinnen, wie u. a. Karl-Richard Bausch, Lutz Götze, Frank G. Königs, Hans-Jürgen Krumm, Gerhard Neuner oder Inge C. Schwertfeger, von denen die Fremdsprachendidaktik als eigenständiges Fach aufgefasst wurde und wird und nicht als „eine Disziplin, die nur Forschungserkenntnisse und -ergebnisse anderer Wissenschaften subsumiert“ (Pfeiffer 2003, 269). Allerdings musste die neue universitäre Disziplin zunächst wissenschaftlich fundiert werden, und da den bundesdeutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Begriff Fremdsprachendidaktik suspekt war, „weil er sehr stark mit der Unterrichtspraxis assoziiert wurde“, wählten sie den etwas umständlichen Begriff „Sprachlehr- und Sprachlernforschung“ (ebd.). Im Jahre 1989 erschien erstmals das mittlerweile in mehreren Auflagen vorliegende und nach wie vor herausragende Handbuch Fremdsprachenunterricht, in dem etwa hundert Autoren und Autorinnen unter Leitung von Karl-Richard Bausch, Herbert Christ und Hans-Jürgen Krumm die Grundlagen und wesentlichen Bereiche des Faches vorstellten (vgl. u. a. Bausch u. a. 1989; Bausch/Christ/Krumm 2003; Burwitz-Melzer u. a. 2016). Im Laufe der Zeit wurde der ursprünglich für die Linguistik verwendete Begriff Grundlagenwissenschaft durch Begriffe wie Nachbarwissenschaft, korrespondierende Wissenschaft, Bezugs- oder Referenzwissenschaft ersetzt. Dabei wurde auch „immer häufiger auf die Relevanz anderer Wissenschaften, z. B. die Psychologie und die allgemeine Didaktik, hingewiesen“, und auch allgemein sprachwissenschaftliche Grundlagen „wurden um die kontrastive Linguistik und die sogenannten Bindestrich-Linguistiken – Psycho-, Sozio- und Pragmalinguistik erweitert“, wobei zugleich der erste Paradigmenwechsel vollzogen wurde: „vom Behaviorismus in der Psychologie und vom Strukturalismus in der Linguistik zum Kognitivismus“ (Pfeiffer 2003, 269). Die kommunikative Orientierung des praktischen Unterrichts erhielt durch die wachsende Migration neue Impulse. Das neue ,Zauberwort‘ hieß nun kommunikative Kompetenz und recht schnell vollzog sich die sogenannte kommunikative Wende, denn nun dominierte eine bereits selbstbewusst gewordene Generation von Fremdsprachenwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen und Fremdsprachendidaktikern und -didaktikerinnen aus der Praxis. Alois Wierlacher war zu Beginn der 1980er Jahre einer der ersten, der mit der Diskussion begann, dass die Germanistik in den deutschsprachigen Ländern anders orientiert sein müsse als in den Ländern mit einer anderen Erstsprache. Dabei forderte er eine Germanistik, die sich als vergleichende Fremdkulturwissenschaft konstituieren solle (vgl. u. a. Wierlacher 1980; 1985; 1987). Wenngleich seine Thesen für eine um
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fassende Neuorientierung sowohl der Germanistik als auch des Fachs Deutsch als Fremdsprache recht umstritten waren, führte die durch ihn begonnene Diskussion zu einem größeren Bewusstsein der Unterschiede zwischen der Germanistik in den deutschsprachigen Ländern und der Germanistik im Ausland. Im Kontext dieser Diskussion entstand der Begriff Auslandsgermanistik, der zwischenzeitlich auch zur Bezeichnung von universitären Einrichtungen verwendet wird. Allerdings wird die Unterscheidung von renommierten Auslandsgermanisten und -germanistinnen häufig nur unter der Einschränkung akzeptiert, dass sie sich vor allem auf den ,nicht-muttersprachlichen‘ Unterricht beziehe, wohingegen germanistische Forschung in Sprachund Literaturwissenschaft ortsunabhängig geschehe. Bisweilen verfüge die Auslandsgermanistik dort über größere wissenschaftliche Neutralität, Distanz und Objektivität, wo einzelne Forschungsfragen in der Binnengermanistik mit nationalem Identitätsbedürfnis behandelt werden. Bereits der Begriff der Auslandsgermanistik transportiere einen nationalen Alleinvertretungsanspruch der deutschen Germanistik als allgemeine und allgemein gültige Wissenschaft, was auch dazu führe, dass es zum Teil selbst international überaus erfolgreiche Forschungsansätze oft nicht nach Deutschland schaffen oder mit der Attitüde einer Inlandsgermanistik als lokale Eigenarten marginalisiert werden können. Durch die Erweiterung der Europäischen Union und die politischen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa entstand eine vollkommen neue Situation, wodurch sich sowohl wirtschaftliche als auch Sprach- und Kulturkontakte rasch vermehrten. In diesem Zusammenhang wuchs auch der praktische Bedarf an Sprachkenntnissen und Wissen über die Grundlagen der interkulturellen Kommunikation, was zunächst durch die interkulturelle Wirtschaftskommunikation und dann durch die einzelnen Fremdsprachenphilologien aufgegriffen wurde. Im Folgenden setzte sich auch allmählich die Ansicht durch, dass die Fremdsprachendidaktik eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin sei und über eigene, spezifische Bereiche und Ziele verfüge, die sie mit eigenständigen Methoden behandle und erforsche. Seit einiger Zeit wird nicht mehr ernsthaft bezweifelt, dass es sich bei der Fremdsprachendidaktik um eine Disziplin handelt, bei der es wie in jeder Fachdidaktik und -methodik vor allem um Lehren und Lernen geht, die aber die Spezifik des Fremdsprachenunterrichts nicht in Frage stellt (Pfeiffer 2003, 269). Im Kontext des seit mehr als zwei Jahrzehnten andauernden interkulturellen Trends werden nicht nur neue Themen, „wie beispielsweise Vorurteile und Stereotype, Tabus und Körpersprache“ diskutiert, sondern auch neue Ziele und Prinzipien, und die rein sprachliche Kommunikation wird durch die interkulturelle Kommunikation, die Landeskunde durch integrierte, interkulturelle oder erlebte Landeskunde ersetzt oder zumindest ergänzt. (Pfeiffer 2003, 271).
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Dabei gilt die „interkulturelle Spracherziehung“ nun als ein wichtiges „Lehrziel und Lehrprinzip“, und die Fremdsprachendidaktik entwickelte sich im Laufe der Zeit „zu einer interkulturellen Fremdsprachenpädagogik“ (Pfeiffer 2003, 271). Bei der Ausbildung von Fremdsprachenlehrern und -lehrerinnen geht es bereits seit einiger Zeit nicht mehr nur um die Beherrschung praktischer Techniken, sondern z. B. auch um die Erkennung und Behandlung von Vorurteilen und Stereotypen. In diesem Zusammenhang „stellt sich die Frage, inwieweit alle wichtigen Kenntnisse und Kompetenzen – neben der immer wichtigen didaktisch-methodischen Ausbildung […] – beherrscht werden können und müssen“ (ebd.). Aufgabe des gesamten Schulsystems und nicht nur des Fremdsprachenunterrichts muss es dabei sein, die Einsicht zu vermitteln, „dass das Eigene nicht zur ,Leitkultur‘ erklärt“ wird, „sondern der Ethnozentrismus durch Respekt und Akzeptanz des Fremden ersetzt“ werden sollte (ebd.). Durch eine europäische Sprachenpolitik, die auf Multilingualität und Multikulturalität setzt, wuchs zudem die Hoffnung auf ein friedliches und kooperatives Miteinander im vereinten Europa.
5 Deutsch in allen Fächern und Gesamtsprachencurricula Eine zunehmende Ausdifferenzierung des Fachdiskurses hat allmählich zu einer Unterscheidung zwischen Sprachförderung und sprachlicher Bildung geführt. Wenngleich die Begriffe oft synonym verwendet werden, verweisen sie doch auf unterschiedliche sprachpädagogische Konzepte, auch wenn die Übergänge häufig fließend sind. So ist das Konzept der Durchgängigen Sprachbildung an alle Schülerinnen und Schüler gerichtet und versteht sich nicht nur als ein Konzept der Sprachförderung im engeren Sinne (vgl. Lange/Gogolin 2010), denn ein wesentliches Ziel ist es, die Bildungssprache Deutsch allen Schülern und Schülerinnen, und daher nicht nur denen, die Deutsch als Zweitsprache erwerben, sondern auch denjenigen mit Deutsch als Erstsprache, zugänglich zu machen (Dirim/Knappik 2018, 229). Demgegenüber sind unter Sprachförderung pädagogische Angebote zu verstehen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, „unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Spracherwerbsforschung die Aneignung einer Sprache unterstützend zu begleiten“ (ebd.). Dass die Unterrichtssprache Deutsch in Deutschland in allen, auch in den nichtsprachvermittelnden Fächern zwar nicht den Gegenstand, aber immer ein Medium des Lernens bildet, das beherrscht werden muss, um einen formalen Bildungserfolg zu erlangen, stellt die Lehrpersonen vor die Herausforderung, auch die spezifische Sprache des jeweiligen Faches zu vermitteln. Dabei gilt es nicht nur die Fachsprache(n) zu beachten, sondern auch ein Register, das im deutschsprachigen Diskurs als Bildungssprache bezeichnet wird. Darüber hinaus gilt es zu beachten, dass sprach-
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liches und fachliches Lernen miteinander verknüpft sind und sprachliches auch fachliches Verständnis bedingt. Seit der Einführung des Begriffs Bildungssprache in den deutschsprachigen Diskurs, die vor allem im Kontext des Projektes „Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ (FörMig) begann (vgl. Gogolin 2013), wurden methodisch-didaktische Konzepte, aber auch Konzepte der Schulentwicklung erarbeitet, um allen Schülern und Schülerinnen Bildungssprache zu vermitteln. In diesem Kontext ist zu beobachten, dass es nach wie vor eine rege linguistische Diskussion darüber gibt, wie Bildungssprache systematisch beschrieben und theoretisch fundiert werden kann (vgl. u. a. Berendes u. a. 2013). Zu den Herausforderungen des Begriffs gehört es, dass er nicht nur für die Linguistik grundlegend ist, sondern beispielsweise auch in bildungswissenschaftlichen und wissenssoziologischen Zusammenhängen, und dass es sich darüber hinaus nicht nur um einen deskriptiven Begriff handelt, sondern dass er auch normative Kraft entfaltet (vgl. Roth 2015). Mittlerweile existieren für einen Unterricht, der beabsichtigt, fachliches und sprachliches Lernen miteinander zu verknüpfen und dabei Schüler und Schülerinnen zur Bildungs- und Fachsprache hinzuführen, diverse, häufig synonym verwendete Begriffe, wie z. B. sprachaufmerksamer Fachunterricht (Schmölzer-Eibinger u. a. 2013), sprachsensibler Fachunterricht (Leisen 2013; Meyer 2013; Carnevale/Wojnesitz 2014), sprachbewusstes Lernen und Lehren (Michalak 2014) oder sprachprofessioneller Unterricht (Dirim/Mecheril 2018). Wenngleich sich diese Konzepte meist auf die sogenannten Nicht-Sprachenfächer beziehen, haben sie auch für den Deutsch- und Fremdsprachenunterricht eine erhebliche Relevanz, weil es dringend erforderlich ist, Verfahren des sprachsensiblen Unterrichts auch für diese Fächer zu entwickeln (vgl. dazu z. B. Budde/Michalak 2014; Wildemann/Fornol 2016). Obwohl nicht immer explizit formuliert, so verstehen sich doch die meisten Konzepte als Angebote für den Regelunterricht und damit für alle Schüler und Schülerinnen, so dass sie als Angebote sprachlicher Bildung zu charakterisieren wären. Das Handbuch Sprachförderung im Fach (Leisen 2013) stellt diesbezüglich eine Ausnahme dar, weil es als Angebot eines sprachsensiblen Fachunterrichts in der Praxis gelten kann. Im Kontext des anhaltenden Diskurses zu Bildungs- und Fachsprache(n), in dem das Erlernen der Register als Entwicklungsaufgabe für alle Lernende betrachtet wird, wäre es sinnvoll, Methoden und Materialien entsprechend zum Konzept der sprachlichen Bildung einzuordnen. Im Gegensatz zur Sprachbildung (vgl. dazu u. a. die Publikationen von Quehl und Trapp 2013; 2015) bezeichnet der Begriff fachsensibler Sprachunterricht einen Förderunterricht, der mit dem Fach- und Regelunterricht verzahnt ist „und das Ziel hat, zum Regelunterricht hinzuführen bzw. diesen zu unterstützen“ (Dirim/Mecheril 2018, 236). Sowohl von den einzelnen Fachdidaktiken (vgl. Becker-Mrotzek u. a. 2013) als auch von der Didaktik des Deutschen als Zweitsprache sowie der sprachlichen Bildung in allen Fächern (vgl. Ohm/Kuhn/Funk 2007; Michalak 2014), aber auch von in
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terdisziplinären Kooperationen (vgl. Schmölzer-Eibinger u. a. 2013) gehen dabei Impulse für alle Vermittlungskonzepte aus. Zu den zentralen didaktisch-methodischen Konzepten, die sprachliches und fachliches Lernen verknüpfen, zählen Genre-Pädagogik und Scaffolding (vgl. Hallet 2013; Gibbons 2015; Quehl/Trapp 2015; Hallet 2016; Kniffka/Roelcke 2016), Schreiben im Fach (vgl. Schmölzer-Eibinger u. a. 2013; Schmölzer-Eibinger/Thürmann 2015) sowie das Konzept Durchgängige Sprachbildung (vgl. Gogolin/Lange 2010). Über die Ebene der einzelnen Lehrkraft und des einzelnen Faches hinaus geht im Kontext der Vermittlung von Bildungs- und Fachsprachen besonders das Konzept Durchgängige Sprachbildung, das im Zusammenhang des Modellprogramms FörMig entstanden ist (Gogolin/Lange 2010), wobei Sprachbildung in Anlehnung an Reich (2009) das Angebot an alle Schüler und Schülerinnen meint, bildungssprachliche Fähigkeiten zu entwickeln. Durchgängig bezieht sich einerseits auf die vertikale Durchgängigkeit im Hinblick darauf, dass sprachliche Bildung über die Übergänge zwischen Bildungsinstitutionen hinweg durchgeführt werden soll, und andererseits auf die horizontale Durchgängigkeit des Prinzips der fächerübergreifenden Kooperation und Qualifikation von Lehrkräften, damit sprachliche Bildung gemeinsam und systematisch in allen Fächern umgesetzt werden kann. Bei einer fächerübergreifenden Kooperation können besonders die sprachlichen Kompetenzen gefördert werden, die eine fächerübergreifende Relevanz besitzen. So könnten beispielsweise die textliche Kohäsion oder Entschlüsselungsstrategien in mehreren Fächern parallel er- und bearbeitet werden (vgl. u. a. Ohm/Kuhn/Funk 2007). Die nach wie vor grundsätzliche Monolingualität von Schule erfordert von Schulsystemen und Lehrkräften eine Sensibilität und Bereitschaft, besonders Schüler und Schülerinnen, die im privaten Bereich nicht primär bzw. dominant deutschsprachig aufwachsen, eine verstärkte Unterstützung zukommen zu lassen und ihnen die deutsche Bildungssprache fächerübergreifend zugänglich zu machen. Vor allem in urbanen Regionen wachsen viele Kinder und Jugendliche in Deutschland mit unterschiedlichen Sprachen auf, lernen voneinander auch Sprachen und Codes sowie Dialekte und Soziolekte, die sie nicht im Elternhaus benutzen (vgl. Dirim/Auer 2004). In ihrem Alltag verwenden mehr als 20 % aller Schülerinnen und Schüler in Deutschland neben Deutsch eine andere Sprache. Regional sehr unterschiedlich beträgt dieser Anteil an den allgemeinbildenden Pflichtschulen mehr als 25 %. Ein Großteil der Schulen zeichnet sich mittlerweile durch eine beträchtliche sprachliche Vielfalt aus (vgl. Meier 2021, 100). Migrantenkinder werden im deutschen Bildungssystem oft doppelt benachteiligt. Zum einen fehlen ihnen, wie deutschen Kindern aus sozial schwachen Familien auch, häufig die familiäre Unterstützung und eine individuelle Förderung in der Schule. Zum anderen haben sie durch mangelnde Sprachkenntnisse meist nur eingeschränkten Zugang zu bestimmten Bildungsangeboten, denn „Kinder erwerben Sprache in ihrer Familie und in ihrem sozialen Umfeld als kulturelle Ausdrucksform“, wozu nicht nur die grammatikalischen Strukturen der Sprachen, „sondern auch die sozialen Re
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geln der Kommunikation und die Körpersprache – der sprachliche Habitus“ gehören (Fürstenau 2012, 6). Deutschförderung, Unterricht in den Herkunftssprachen und eine gelebte Mehrsprachigkeit im Unterricht – und zwar in allen Fächern – sollten daher gleichberechtigt nebeneinander in Unterricht und Schule vorkommen, denn sie sind wichtige Bausteine bei der Entwicklung einer sprachlich inklusiven Bildungspraxis, in der Gleichberechtigung und Chancengleichheit auch gelebt werden. Da Schule eine „weithin versprachlichte Institution“ (Ehlich 2013) ist, sind Sprachen dort nicht nur Gegenstand, sondern auch Medium des Lernens in allen Fächern. Zudem ist die Unterrichtsrealität heute durch mehrsprachige Schüler und Schülerinnen geprägt, die aufgrund ihrer familiären Situation und bisherigen Schulerfahrungen über unterschiedlich beschaffene sprachliche Ressourcen, die auch dialektale Varietäten (innere Mehrsprachigkeit) einschließen können, verfügen. Seit geraumer Zeit wird daher von verschiedenen Seiten das Bildungsziel einer curricularen statt additiven Mehrsprachigkeit gefordert (vgl. u. a. Krumm 2005), wodurch die individuellen Dispositionen von Schülern und Schülerinnen in sprachlich-kultureller und auch in leistungsbedingter Hinsicht valorisiert, zusammengeführt und weiterentwickelt werden sollen. Dabei sind Spracherwerbskonzepte, die sich auf rezente Ergebnisse der Mehrsprachigkeitsforschung stützen und diese in unterrichtsmethodischen Verfahren berücksichtigen wollen, ein erklärtes Ziel sprachenübergreifender Kooperationen. Lernenden soll, einem emanzipatorischen Bildungsbegriff folgend, die Teilhabe an einer Vielfalt von sozialen Handlungsräumen sowie die ganzheitliche Weiterentwicklung ihrer sprachlich-kulturellen Identität ermöglicht werden. Dadurch soll das gesamtsprachliche Repertoire der Schüler und Schülerinnen evidenzbasiert vorangetrieben und die Wirkkraft von Sprachkompetenz auf verschiedenen Ebenen (Bildungserfolge, Identitätsentwicklung, soziale Erwartungen etc.) miteinbezogen werden. Ein – bisher in der Praxis noch nicht realisiertes – Gesamtsprachencurriculum hat das Ziel, „die Sprachenangebote in der Schule miteinander und mit den Sachfächern zu vernetzen und sie zeitlich und im Bildungsgang der Lernenden aufeinander abzustimmen“ (Hufeisen 2016, 167). Ein Gesamtsprachen- oder Mehrsprachigkeitscurriculum dient der Integration der sprachlichen Bildung und soll die Schüler und Schülerinnen dazu befähigen, sich in der heutigen Welt sprachlicher Vielfalt zu orientieren, sich selbstbestimmt neue sprachliche Qualifikationen anzueignen und sich in vielsprachigen Situationen kompetent zu bewegen. Dabei sollen u. a. folgende Kompetenzen vermittelt werden: Aufmerksamkeit gegenüber Sprachen, Fähigkeit zur Reflexion der eigenen sprachlichen Situation und zur Analyse anderer sprachlicher Situationen, Orientierungswissen über Sprachen und ihre Bedeutung für Gruppen von Menschen, linguistische Grundkenntnisse zur vergleichenden Beschreibung von Sprachen, ein Repertoire von Sprachlernstrategien sowie sprachliches Selbstbewusstsein, soweit dies im Rahmen schulischer Bildung möglich ist (vgl. u. a. Hufeisen/Lutjeharms 2005; Reich/Krumm 2013; Allgäuer-Hackl u. a. 2015).
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9. Geschichte des Fremdsprachenunterrichts in Europa und darüber hinaus in der Welt Abstract: Die Geschichte des Fremdsprachenunterrichts reicht mehr als 2000 Jahre zurück. In dieser Zeit kreisen die Motive des Fremdsprachenlernens und -lehrens oft um die Begriffe Nutzen oder Bildung. Diese Ziele beeinflussen den Zugang zu unterschiedlichen Sprachen für einzelne Teile der Bevölkerung, die Methoden ihrer Vermittlung, die Gestaltung der verwendeten Materialien und auch die Qualifikation und Stellung der Lehrenden. Praxis und Theorie des Fremdsprachenunterrichts standen stets in einem reziproken Verhältnis zueinander. Bestimmte methodisch-didaktische Muster tauchen in der Geschichte immer wieder in neuen Konstellationen auf. Fremdsprachenunterricht war und ist vielfach verknüpft mit wirtschaftlichen, sozialen, und politischen Bestrebungen und somit Teil von Handelsbeziehungen, Kolonialismus und Missionarswesen. Fremdsprachenunterricht muss daher sowohl als pädagogisch-didaktisches Phänomen von Bildungspolitik als auch als Wirtschaftsfaktor und in seiner politischen Dimension betrachtet werden. 1 2 3 4 5 6 7
Zum Wissensstand Grundfragen der historischen Forschung zum Fremdsprachenunterricht Große Traditionen Praxis und Theorie des Fremdsprachenunterrichts Wiederkehrende didaktische Elemente des Fremdsprachenunterrichts Schlaglichter Literatur
1 Zum Wissensstand Wann fängt die Geschichte an? As long as humans have possessed the faculty of speech (which is at least forty thousand years), groups speaking different languages have come into contact with one another. Surely some distant ancestors made a determined effort to learn the speech of their neighbors instead of just assimilating it by trial and error through frequent contacts. (Wheeler 2013, 7)
Das Sprachenlernen hat daher mit Sicherheit eine lange Vergangenheit. Titone (1968, 5), Germain (1993) und Wheeler (2013) setzen in ihren knappen Überblicksdarstellungen um etwa 3 000 v. Chr. mit den Sumerern ein, deren Zivilisation vermutlich als eine der ersten über Schrift verfügte. Kelly (1969) spricht von „25 centuries of language teaching“; Werner Hüllens Kleine Geschichte des Fremdsprachenlernens (2005a) beginnt ebenfalls im klassischen Altertum.
https://doi.org/10.1515/9783110623444-009
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Unser Wissen über die lange Geschichte des Fremdsprachenunterrichts ist äußerst lückenhaft, denn historische Erkenntnisse basieren auf Quellen und Dokumenten unterschiedlicher Provenienz. Ohne überlieferte Zeugnisse aus vergangenen Jahrtausenden kann man nur spekulieren. Selbst dann, wenn einige Quellen vorhanden sind, wird man aus ihnen nur selten ein vollständiges Bild vergangener Theorien und Praktiken gewinnen können, zumal wir gar nicht anders können, als diese Quellen auf der Basis unseres heutigen Wissens zu interpretieren. Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, dass einzelne Epochen und Sprachräume unterschiedlich gut erschlossen sind. Je weiter eine Epoche oder eine Region entfernt sind, desto weniger wissen wir über sie. So ist die Quellen- und Forschungslage für Europa wesentlich besser als für andere Kontinente, wenngleich es auch in Europa noch viele weiße Flecken auf der historischen Landkarte gibt. Although other civilisations, such as India, China, and the Arab world have distinguished histories in the field of language study, there are few records in a Western language that describe how languages were taught outside the West throughout the centuries. (Wheeler 2013, xiii)
Dennoch sind die Voraussetzungen für die Erforschung der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts in Europa heute nicht ganz schlecht, da eine Reihe von Bibliographien (z. B. Stengel 1890; Schröder 1975; Schröder 2001; Marizzi/Cortez/Fuentes Moran 2018), Quellensammlungen (z. B. Christ/Rang 1985) und Chroniken (z. B. Schröder 1980–1985) vorliegen. Neben der insgesamt spärlichen Quellenlage liegt es auch in den bislang häufig gewählten Forschungsansätzen begründet, dass kein zusammenhängendes Bild entsteht, wenngleich Hüllens Kleine Geschichte einen solchen Versuch unternimmt (2005a). Viele der vorliegenden Untersuchungen nehmen das Erlernen und den Unterricht von einer Sprache (z. B. Glück 2002; Kuhfuß 2014; Lombardero Caparrós 2019) innerhalb eines bestimmten Zeitraums in einem einzigen Land (z. B. Koch 2002; Hulshof/ Kwakernaak/Wilhelm 2015; McLelland 2017; Offord/Rjéoutski/Argent 2018; Gallagher 2019) in den Blick, andere beschränken sich auf die Darstellung von Theorien zum Fremdsprachenlernen und -lehren im Verlauf der Geschichte (z. B. Musumeci 1997) oder auf bestimmte Lernendengruppen (z. B. Doff 2002 zu Mädchen; Franz 2005 zu Auswanderern; Glück/Häberlein/Flurschütz da Cruz 2019 zum Adel) oder Institutionen (z. B. Aehle 1938 zu Ritterakademien; Schröder 1969 zu Universitäten; McCormick 1970 zur Military Academy). Meistens geht es auch nur um einen Aspekt des Fremdsprachenunterrichts, etwa die Unterrichtsmethode (z. B. Germain 1993), die Lehrbücher und ihre methodischen Ansätze (Klippel 1994), um einen bekannten Sprachlehrer und Lehrbuchautor (z. B. Häberlein/Glück 2019 zu Matthias Kramer), um die inhaltliche Ausrichtung des Fremdsprachenunterrichts und seinen Bildungswert (z. B. Flechsig 1962) oder die Hilfsmittel, die zum Einsatz kamen (z. B. Schilder 1977 zu Medien; Reinfried 1992 zu Bildern; Rauch 2019 zu Musik). Klippel (2022) und Reinfried (2018) skizzieren die Entwicklung der fremdsprachendidaktischen Historiographie. Mit diesen weni
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gen Beispielen ist das Spektrum der Zugriffe und thematischen Schwerpunkte jedoch bei Weitem noch nicht abgedeckt. Es ist eigentlich trivial, darauf zu verweisen, dass die Sprache alle Bereiche menschlichen Lebens durchdringt und allein deshalb Sprachenlehren und -lernen in vielfältigen Bezügen verankert sind. Gerade für Europa sind Kontakte zwischen verschiedenen Sprachen besonders charakteristisch (Hüllen 2005a, 11), denn seit dem Altertum existieren Handelsbeziehungen, diplomatische und kulturelle Verbindungen sowie kriegerische Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen europäischen Regionen. Bis zum Entstehen der Nationalstaaten kann man die Geschichte des Fremdsprachenunterrichts daher als pan-europäisches Phänomen betrachten, innerhalb dessen gegenseitige Beeinflussungen zahlreich waren (so auch López 2018). Insgesamt ergibt sich somit ein mit vielen, zum Teil ausgedehnten Leerstellen durchsetztes Mosaik. Aber selbst dieses lückenhafte Bild ist viel zu facettenreich, vielfältig und voller interessanter Details, als dass man ihm in einem einzigen Beitrag gerecht werden könnte. Eine globale, chronologisch die letzten zwei- bis fünftausend Jahre umgreifende Skizze des Fremdsprachenunterrichts in Europa und der Welt könnte zudem nur von einem vielsprachigen, internationalen, fachhistorisch breit ausgewiesenen Expertenteam erstellt werden. Die Metapher des Mosaiks ist auch in einer weiteren Hinsicht treffend, denn die Geschichte des Fremdsprachenunterrichts ist nicht etwa durch eine linear fortschreitende, stetige Entwicklung von primitiven Anfängen zu erfolgreicherem Unterricht mit effektiveren Methoden und besser geeigneten Materialien gekennzeichnet. Das ist weder für eine Einzelregion noch für die globale Situation zutreffend. Vielmehr war und ist das Sprachenlernen immer und überall kontextgebunden und daher abhängig von lokalen Werten und Gegebenheiten, von politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und auch individuellen Entscheidungen, die das Pädagogische und Didaktische bisweilen überlagert haben. Dies im jeweiligen historischen Zusammenhang zu verstehen, ist ebenso wichtig wie die wiederkehrenden Grundelemente der Fremdsprachenvermittlung, quasi deren Tiefenstruktur, zu erkennen. Daher geht der folgende Beitrag nicht den Weg der Chronologie. Auf der Basis vor allem der europäischen Entwicklungen werden in fünf Abschnitten wesentliche Aspekte der geschichtlichen Entwicklung des Fremdsprachenunterrichts aus verschiedenen Perspektiven knapp erörtert: Grundfragen (Kap. 2), große Traditionen (Kap. 3), das Verhältnis von Praxis und Theorie (Kap. 4), zyklisch wiederkehrende Elemente des Fremdsprachenunterrichts (Kap. 5) und einige Schlaglichter auf relevante Aspekte und Personen (Kap. 6).
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2 Grundfragen der historischen Forschung zum Fremdsprachenunterricht Die Erforschung der langen Geschichte des Fremdsprachenunterrichts kann auf der Basis einiger weniger grundsätzlicher Fragen erfolgen: Wer? Was? Wozu? Wie? Wo? Wieso? Wer lernte eine andere Sprache? Die Antwort auf eine solche Frage sagt bereits viel über den Stellenwert der jeweiligen Sprache in einer Zeit und in einem spezifischen Kontext aus. Es ist kein Zufall, dass im 21. Jahrhundert weltweit sehr viele Kinder bereits in der Grundschule oder im Kindergarten Englisch lernen, denn diese Sprache ist die weltweit nützlichste. In der Frühen Neuzeit gehörte es zu den Erziehungszielen für den adligen Nachwuchs, Fremdsprachen zu erwerben, etwa um späteren gesellschaftlichen Anforderungen genügen zu können, auf Hofämter vorbereitet zu sein oder Gebietsexpansionen durch Einheirat vorzubereiten (Glück/Häberlein/ Flurschütz da Cruz 2019). Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts lernten in Deutschland gebildete Erwachsene Englisch, um englische Schriften lesen zu können oder sich auf den Englandbesuch einzustellen, der für viele in der damaligen Phase der Anglophilie wichtig war (Klippel 1994, 258–271). Mädchen lernten im 19. Jahrhundert andere Sprachen als die Knaben, nämlich Französisch und vielleicht Englisch, aber niemals Latein und Griechisch, weil man sie von ihrer geistigen Konstitution her für zu schwach hielt, um die komplexe Grammatik der klassischen Sprachen zu begreifen (Doff 2002, 156 ff.). Bestimmte Gruppen, etwa Händler, Soldaten, Missionare oder Gelehrte, lernten andere Sprachen, um das tun zu können, was ihnen wichtig oder aufgetragen war. Andere Gruppen, etwa Flüchtlinge oder Vertriebene, mussten Sprachen lernen, um in neuen Umgebungen zu überleben. Wer welche Sprachen lernen durfte oder musste, ist daher keineswegs trivial und immer aufschlussreich. Ebenso wenig gleichgültig ist die Frage danach, wer in der Vergangenheit fremde Sprachen anderen beibringen durfte oder musste. Hüllen geht davon aus, dass es immer sowohl „wildwüchsige, natürlich sich selbst organisierende Erwerbsvorgänge“ als auch „formalisierte und methodische geregelte Lernprozesse“ (Hüllen 2005a, 11) gegeben hat. Als Beispiel für die erste Form lässt sich etwa die Betreuung von Kindern durch anderssprachige Gouvernanten oder Bedienstete ansehen, während ein institutionalisierter Fremdsprachenunterricht, sei er privat oder öffentlich, dem zweiten Muster entspricht. Bis in das frühe 19. Jahrhundert wurden moderne Fremdsprachen in Europa häufig durch sogenannte Sprachmeister unterrichtet (dazu Häberlein 2015). „Sprachmeister“ war jedoch eine Berufsbezeichnung, hinter der sich kein einheitliches Berufsbild verbarg. Es gab weder feststehende berufliche oder persönliche Voraussetzungen, einen definierten Ausbildungsgang oder verbindliche Tätigkeitsmerkmale noch eine ähnliche Besoldung. Im Prinzip konnte sich jeder Sprachmeister nennen und Sprachunterricht anbieten. Neben den Sprachmeistern lehrten an den Universitäten des 17. und 18. Jh. auch Lektoren und Professoren
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die modernen Sprachen; in den Adelshäusern unterrichteten Hauslehrer (Hofmeister) die Knaben und Gouvernanten die Mädchen. (Klippel 2014, 9)
Für einzelne Sprachen war die Situation unterschiedlich; so gab es für das Französische in Folge der Hugenottenvertreibung aus Frankreich ab dem 16. Jahrhundert wesentlich mehr Muttersprachensprecher in Deutschland als für das Englische; oft unterrichteten Sprachmeister allerdings mehrere Sprachen. Auch heute wird darüber gestritten, ob allein die Beherrschung einer Sprache als Muttersprache dazu befähigt, sie als Fremdsprache anderssprachigen Lernenden zu vermitteln, oder ob gerade eine nicht-muttersprachliche Lehrperson für die Unterrichtstätigkeit besser geeignet ist, weil sie über eigene Sprachlernerfahrungen verfügt. Insbesondere im Bereich des Englischunterrichts wird dies weltweit heftig debattiert (z. B. Braine 2010). Welche Sprachen und welche Elemente dieser Sprachen unterrichtet wurden, ist in der Geschichte ebenfalls höchst divers. Von den mehr als 7 000 Sprachen unserer Zeit wird nur ein Bruchteil als Fremdsprache unterrichtet. Selbstverständlich hängt das vor allem mit dem jeweils angestrebten Ziel des Fremdsprachenunterrichts zusammen; neben dem vermeintlichen oder tatsächlichen Nutzen einer anderen Sprache haben in der Vergangenheit auch deren gesellschaftliches Prestige oder ästhetische Wertschätzung die Vermittlung beeinflusst. Die Frage nach Zweck und Ziel des Fremdsprachenunterrichts ist zu allen Zeiten sehr unterschiedlich beantwortet worden, wobei die jeweilige Zielgruppe zu berücksichtigen ist. Zwei große Dimensionen lassen sich grundsätzlich unterscheiden: der praktische Nutzen der Sprachkenntnisse und die (formale und kulturelle) Bildung der Sprachlernenden. Die Nützlichkeit von Fremdsprachenkenntnissen ist nicht wertneutral. Positiv gesehen konnten Sprachkenntnisse beispielsweise dabei helfen, Handel zu treiben, bestimmte Berufe auszuüben oder sich auf Reisen zu verständigen; weniger positiv muss man den Nutzen eventuell für kriegerische oder missionarische Aktivitäten einschätzen. Die bildende Wirkung der Fremdsprachenkenntnisse ergab sich – in der Auffassung der jeweiligen Zeit – unter anderem durch das Eindringen in die (komplexe) Struktur einer anderen Sprache und durch den Zugang zu bedeutsamen Texten, etwa in der Theologie, Philosophie oder Literatur. Man denke nur an die Rolle des Lateinischen im Mittelalter. Seit Jahrhunderten denkt man darüber nach, in welchen Schritten und mit welchen Verfahren eine andere Sprache möglichst effektiv und effizient gelehrt werden kann. Dabei geht es um die Zusammenstellung der Regeln und die Auswahl von Texten, um die Strukturierung des Lehrgangs und die Gewichtung der Lehrziele, um Darbietungs-, Übungs- und Überprüfungsformen. Es leuchtet ein, dass solche Überlegungen zum ersten eng mit den jeweiligen Konventionen der Sprachbeschreibung verknüpft waren, denn der Unterricht musste sich auf das stützen, was man für die zu lehrende Sprache als gegebene Regularitäten festgehalten hatte. Wenn man Hüllen folgt, dann hatte in Europa ein „Großteil der historischen Literatur zu Grammatik, Rhetorik und Wortschatz
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tatsächlich Textbuchfunktionen für den Unterricht“ (Hüllen 2005b, 47). Zum zweiten basieren Unterrichtsmethoden immer auch auf den materiellen und personellen Voraussetzungen; man denke nur an den Buchdruck, der Lehrbücher und Textsammlungen erst möglich machte, an die Herstellung von Illustrationen unterschiedlicher Art oder die seit etwa 140 Jahren existierenden Möglichkeiten, gesprochene Sprache aufzuzeichnen und wiederzugeben. Auch Klassengrößen und Ausstattung von Unterrichtsräumen zählen zu den situativen Gegebenheiten, die den Unterricht prägen. Die personellen Voraussetzungen beziehen sich vor allem auf die Qualifikation der Lehrperson. All dies beeinflusst die Methodik des Fremdsprachenunterrichts bis heute. Ein großer Teil des heutigen Fremdsprachenunterrichts findet in Klassenräumen statt, in Schulen, Universitäten oder Institutionen der Erwachsenen- oder Weiterbildung. In der Vergangenheit waren die Orte, an denen Sprachen gelehrt und gelernt wurden, sehr unterschiedlich. Die Söhne des Adels erhielten Privatunterricht zu Hause; auch Goethe und seine Schwester wurden als Kinder in mehreren Fremdsprachen privat unterrichtet (Klippel 1994, 48). Daneben gab es eine Unterweisung in der Fremdsprache auch in anderen Kontexten, etwa der Arbeit, der Ausbildung oder auf Reisen. Bevor staatliche Schulsysteme und eine generelle Schulpflicht existierten, welche die Fächer und deren Ziele für alle festschrieben, stand der Fremdsprachenunterricht wie auch die Wissensvermittlung allgemein viel stärker in individueller Verantwortung und war von den finanziellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten abhängig. Nicht immer allerdings gab es für die Adressaten von Fremdsprachenunterricht die Wahl, daran teilzunehmen oder nicht. Im Zuge der Kolonialisierung wurde die indigene Bevölkerung nicht selten gezwungen, die Sprache der Kolonialherren zu lernen. Kriegerische Eroberungen führten ebenfalls zu sprachenpolitischen Entscheidungen, die etwa eine bis dato nicht gelehrte Sprache für alle verpflichtend machten, so beispielsweise Russisch in der DDR. Auch Flüchtlingsbewegungen ziehen Fremdsprachenunterricht nach sich, wenn Integration erwünscht ist oder erzwungen wird. Durch diese wenigen Grundfragen wird deutlich, wie breit gefächert die Vergangenheit des Fremdsprachenunterrichts ist und wie stark die Geschichte des Sprachenlernens mit anderen historischen Entwicklungen auf sozialen, politischen, ökonomischen, kulturellen, wissenschaftlichen oder technischen Feldern verflochten ist.
3 Große Traditionen Seit der Antike bestehen in Europa zwei große Sprachlehrtraditionen nebeneinander. McArthur (1991, 12 und 93) nennt sie die „marketplace tradition“ und die „monastery tradition“. Wie der Name sagt, charakterisiert die marketplace tradition diejenigen Sprachlernaktivitäten, die Menschen dazu befähigen, sich ausreichende, überwiegend mündliche Kompetenzen anzueignen, um im Alltag ihre Geschäfte abzuwickeln und dabei zu interagieren. Der Schwerpunkt eines solchen Sprachenlernens liegt verständlicherweise auf hochfrequenten Redewendungen und Strukturen, relevantem
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Vokabular und rudimentärer Aussprache. Es geht also nicht um die Vermittlung von Schriftsprache oder Hochsprache, sondern um die Befähigung zu mündlicher Kommunikation, sodass auch Dialekte, soziale und regionale Varietäten Lernziel sein können. Dabei darf man den Begriff marketplace nicht zu eng sehen, denn diese Art des Sprachenlernens war für alle jene wichtig, die die fremde Sprache in der konkreten Interaktion mit deren Sprechern verwenden wollten oder mussten, sei es auf Reisen, bei der Abwicklung von Geschäften oder in der Unterhaltung mit Besuchern. Ein verbreitetes Hilfsmittel zum Sprachenlernen im Kontext dieser Tradition waren die ab der Mitte des 15. Jahrhunderts erscheinenden Lehrbücher, die einige grammatische Informationen, vor allem aber Wortlisten und Redemittel enthielten. Besonders erfolgreich war das deutsch-italienische Werk Introito e porta von Adam Rotweil, das 1477 zuerst erschien und eine ganze Lehrbuchgeneration begründete (dazu Hüllen 2005a, 51–54). Gedacht war das Buch für diejenigen, die Handel treiben wollten. Dazu lieferte das Buch ein zweisprachiges, nach Sachgebieten geordnetes, also onomasiologisches Wörterverzeichnis. „Zwischen 1477 und 1636 finden wir 87 Ausgaben, die an verschiedenen Orten, von verschiedenen Druckern und in verschiedenen Sprachen hergestellt und vertrieben wurden“ (Hüllen 2005a, 53). Zunächst gab es zweisprachige, später, ab der Mitte des 16. Jahrhunderts, bis zu sechssprachige Ausgaben für Lateinisch, Flämisch, Französisch, Spanisch, Italienisch und Deutsch oder Englisch und andere Sprachen (ebd.). Neben Vokabular benötigt man für die Kommunikation auch Beispiele und Mustersätze. Solche finden sich in Gesprächsbüchern, die ebenfalls eine lange Tradition haben. Ein frühes Beispiel ist das französisch-flämische Buch Colloquia et dictionariolum von Noël de Berlaimont, das zwischen 1530 und 1692 über hundert Mal verlegt wurde und in seiner Endform acht Sprachen umfasste (Waentig 2002, 175). Wollte das bilinguale Vocabulare Noël de Berlaimonts das gegenseitige Verstehen der in ständigem Sprachkontakt lebenden Flamen und Franzosen verbessern, so spiegelt die sukzessive Aufnahme der Sprachen Lateinisch, Spanisch, Italienisch, Deutsch, Englisch und Portugiesisch die durch Handel, Kontoeröffnungen, Ausländerkolonien, aber auch infolge politischer sowie kriegerischer Zeitläufte, nützlich oder gar erforderlich gewordenen polyglotten Kenntnisse wider. (ebd., 181)
Italienisch wurde erforderlich, weil sich Handelsleute aus Pisa, Florenz und Genua in Antwerpen niedergelassen hatten; der Tuchhandel zwischen England und Flandern führte zum Einbezug des Englischen (ebd., 182). Im Dialogteil der Colloquia gibt es ausformulierte Dialoge u. a. zum Tagesablauf, zum Übernachten in der Herberge, zum Kaufen und Verkaufen, was Zweck und Zielgruppe des Werks verdeutlicht. In den folgenden Jahrhunderten hatten Gesprächsbücher Konjunktur. Das Spektrum der Situationen wurde um Tischgespräche, small talk über das Wetter, Konsultationen mit einem Arzt, Erkundigungen nach dem Weg und viele andere Themen mehr im Laufe der Zeit erweitert. Dabei dienten die in Ausgangs- und Zielsprache verfassten, jeweils in zwei Spalten gedruckten Dialoge auch der Vermittlung von alternativen Ausdrücken oder ebenfalls relevantem Vokabular.
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Gesprächsbücher erfuhren im Verlauf der Zeit eine gewisse Ausdifferenzierung, um unterschiedlichen Zielgruppen gerecht zu werden; im 19. Jahrhundert motivierte die Auswanderungswelle aus Deutschland nach Nordamerika die Publikation von Sprachführern für Auswanderer (dazu Franz 2005); etwas früher erschien ein englisches Gesprächsbuch, das speziell für Frauen gedacht war (Genlis 1806) und somit auch Dialoge enthielt, die genau auf deren Kommunikationsbedürfnisse abgestimmt waren, z. B. „XVIII. For a lady, who has little children along with her when she arrives at an inn“ (ebd., 77–81) und „XX. Between the Lady in childbed, the Physician and the Waiting-Woman“ (ebd., 84–89). Viele dieser Gespräche sind sowohl linguistisch als auch kulturhistorisch äußerst aufschlussreich, verschaffen sie uns doch Einblicke in vermeintlich authentische Kommunikationssituationen und deren pragmatische Bewältigung (dazu Becker 2003), und sie liefern Informationen zu sozialen Konventionen, aber auch etwa zu medizinischen Gepflogenheiten oder häufigen Krankheiten in den Gesprächen mit einem Arzt. Zuweilen geben solche Dialoge auch Aufschluss über den Fremdsprachenunterricht selbst, wie Abb. 1 zeigt.
What shall we begin with?
Womit wollen wir anfangen?
Can you speak any English?
Können sie etwas Engl.?
Pray let me hear you read.
Ich bitte / lesen sie mir etwas vor.
How do you like my Pronunciation?
Wie gefält ihnen meine Aussprache?
Indifferent, did you learn by Rule.
So / so / Haben sie durch Regel gelernet.
By Rote.
Ex usu.
The common Fault of most Masters of Languages. Ein gemeiner Fehler der meisten SprachMeistern. Do you know any Thing of the English Grammar? Wissen sie etwas von der Engl. Grammatica. Very little, I can only repeat the auxiliary Verbs, and form a regular Verb Active.
Sehr wenig / ich kan nur die Verba Auxiliaria repetiren / und ein Verbum activum formiren.
And then I know the Irregular Verbs by Heart.
Und denn kan ich die Verba Irregularia auswendig.
That’s a good Beginning.
Sie haben einen guten Anfang gemacht.
Do you know any Thing of the Use & Construction Wissen sie etwas von der Syntaxi und dem of the Cases and Tenses? Gebrauch der Casuum und der Temporum? Nothing at all.
Gantz und gar nichts.
Nor the particular Use of sundry Verbs?
Noch von dem besonderen Gebrauch gewisser Verborum?
No, Sr. I know nothing but what I have learn’d by Nein / Mein Herr / ich weiß nichts als was ich ex Rote. Usu gelernt habe. Abb. 1: Gespräch über das Sprachenlernen (Lediard 1725, 947–949)
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Dieser Dialog (s. Abb. 1) aus dem frühen 18. Jahrhundert ist auch deshalb interessant, weil in ihm die zwei grundsätzlich verschiedenen Lernmuster der damaligen Zeit erwähnt werden: Das Pauken und Auswendiglernen bestimmter Ausdrücke oder Wörter („learning by rote“, „ex usu“), wie es die Gesprächsbücher der marketplace tradition nahelegen, einerseits, und das regelgeleitete Erlernen der Grammatik („learning by rule“) andererseits, das der Sprachmeister in diesem Dialog offensichtlich für das bessere Verfahren hält. Die marketplace tradition ist in größerer Ausdifferenzierung bis heute lebendig. Gerade der seit einigen Jahrzehnten weltweit an kommunikativen Lernzielen ausgerichtete Fremdsprachenunterricht kann mit seiner Betonung mündlicher Fertigkeiten und der Priorisierung der Bedeutung von Äußerungen (negotiation of meaning) gegenüber sprachlich formalen Aspekten in einer direkten Nachfolge gesehen werden. Und auch die Dialoge und nach Sachfeldern zusammengestellten Verzeichnisse von Wörtern und Äußerungen sind weiterhin sehr präsent, etwa in den Sprachführern für Touristen. Die monastery tradition verweist auf den Fremdsprachenunterricht in Europas Klöstern, Dom- oder Lateinschulen, der – neben der Unterweisung in religiösen Dingen – hauptsächlich das Ziel hatte, grammatische Kenntnisse und schriftliche Kompetenzen der oft als ,heilige Sprachen‘ apostrophierten Sprachen Hebräisch, Griechisch und Latein (dazu Hille-Coates 2002) zu vermitteln. Dieser Unterricht fand im abgeschirmten Raum statt, der weit entfernt war vom Leben auf den Märkten und Straßen. Die Knaben, die meist sozial privilegierten Schichte entstammten, wurden in altershomogenen Gruppen von Priestern oder Mönchen nach einem festen Stundenplan unterrichtet (McArthur 1991, 94 f.). Die drei genannten Sprachen wurden allerdings nicht als gleich wichtig angesehen: Der wichtigste Gegenstand der frühmittelalterlichen Kloster- und Domschulen galt dem Zeitalter so sehr als Selbstverständlichkeit, dass er kaum einer Erwähnung bedurfte: die Beherrschung des Lateinischen in Wort und Schrift. (Fuhrmann 2001, 14)
In fast jeder Hinsicht – Ziele, Gruppe der Lernenden, Materialien, Methodik – war dieser institutionalisierte Fremdsprachenunterricht anders als derjenige der marketplace tradition. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ging es immer darum, die lateinische Sprache so gründlich zu erlernen, dass man bedeutende, in ihr verfasste Schriften im Original lesen konnte. Daher war es wichtig, die grammatischen Strukturen zu kennen, sie in Texten entschlüsseln zu können und über ein breites Vokabular zu verfügen, um die Texte in die Muttersprache zu übersetzen. Diese Tradition des Fremdsprachenunterrichts ist somit eng verzahnt mit der Grammatikbeschreibung, denn die Art der Darstellung grammatischer Regularitäten beeinflusst deren Vermittlung. Im Mittelalter gab es Grammatiken in Versform (Fuhrmann 2001, 20 f.; Law 2002), als nummerierte Liste (Law 2002) und mit anschaulichen Diagrammen (ebd.), was dafür spricht, dass didaktische Überlegungen die Gestaltung der Grammatiken beeinflussten. In den Jahrhunderten, in denen Handschriften kostbar und selten waren, spielte
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das Gedächtnis im Fremdsprachenunterricht die zentrale Rolle. Law (2002) beschreibt anschaulich, wie durch Diktate und Mitschriften auf Wachstafeln, durch Auswendiglernen und Wiederaufsagen gelernt wurde. Es leuchtet ein, dass es dafür hilfreich war, den Lernstoff so darzustellen, dass er gut erinnert werden konnte. Nach der Erfindung des Buchdrucks und der stärkeren Verbreitung von Büchern änderten sich die Verfahren des Fremdsprachenunterrichts in der monastery tradition jedoch nicht in dramatischer Weise (Paulsen 1919, 607). Zu den Dom- und Klosterschulen traten die Gymnasien und Lateinschulen, in denen der Unterricht in den alten Sprachen für die Knaben ebenfalls im Zentrum stand. Luther und Melanchthon sehen in diesen Sprachen (Latein, Griechisch, Hebräisch) den Kern des „gelehrten Unterrichts“ (ebd., 203). Die letzte Blütezeit des Unterrichts in den klassischen Sprachen herrschte in der Zeit des Neuhumanismus im 19. Jahrhundert in Deutschland. Insbesondere der Lateinunterricht diene der formalen Bildung des Verstandes, und das Studium der Antike führe zur wahren Menschlichkeit; daher kreiste der Unterricht der alten Sprachen um die Pole Grammatik und Lektüre (Hüllen 2005a, 74–86). Das Streben nach Erkenntnis war auch ein Motiv für das Erlernen exotischer Sprachen. Man wollte deren Sprachbau und Eigenschaften verstehen und sie nutzen, um kanonische Texte zu entziffern. Insofern finden sich Lehrende in der Arabistik schon im 17. Jahrhundert an den englischen Universitäten in Oxford und Cambridge (Loop 2017, 2), die allerdings nicht darauf zählen konnten, dass Studenten bereits Sprachkenntnisse mitbrachten: „In practice, therefore, both before and after the institution of Arabic lectureships, private instruction and solitary study remained central for the acquisition of the language“ (Feingold 2017, 38 f.). In der Zeit des Dreißigjährigen Krieges beschloss Johann Zechendorff, der Direktor der Zwickauer Lateinschule und autodidaktischer Arabist, wegen eines Pestausbruchs mit den Schülern die Bußpsalmen anstelle weltlicher Texte zu lesen: These he read with his pupils in the classroom as well as privately in no less than thirty translations and paraphrases. Since some of his pupils had begun learning Arabic, Zechendorff undertook the compilation of an Arabic paraphrase of the Penitential Psalms to acquaint them better with the Qur’an’s vocabulary and phraseology. (Ben-Tov 2017, 58)
Leider weiß man nichts über die Praxis des Arabischunterrichts an der Zwickauer Schule. Dieses Beispiel zeigt jedoch, dass individuelle fremdsprachliche Interessen von Lehrern und Forschern nicht nur in der Studierstube, sondern auch im Klassenzimmer realisiert wurden. Mit den beiden vorgestellten Traditionen und deren Kernbegriffen Nutzen und Bildung lässt sich vermutlich ein Großteil der Vergangenheit des Fremdsprachenunterrichts umschreiben. Daneben existierte allerdings auch immer eine ‚dunkle‘ Seite der Sprachvermittlung. Sprachen können Macht oder Ohnmacht bedeuten, sie können ausgrenzen oder einfrieden. Im Zuge militärischer Eroberungen war es für die Sieger oft selbstverständlich, den Besiegten ihre Sprache aufzudrücken und deren Sprache
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zu unterdrücken. Aus der Kolonialgeschichte lassen sich ebenfalls Beispiele dafür anführen, dass die Kolonisatoren ihre Sprache als Machtmittel einsetzten, wenngleich die europäischen Kolonialmächte sehr unterschiedlich vorgingen: „While French was deliberately taught and disseminated, access to English was granted only to an elite stratum of prospective co-administrators and withheld from the masses“ (Schneider 2018, 44). Dies war in unterschiedlichen Zielsetzungen von Franzosen und Briten als Kolonialmächten begründet: [T]he French aiming at la France outre-mer and ultimate union with metropolitan France, the British accepting the principle of trusteeship, leading ultimately to self-government and independence. (Phillipson 1992, 112)
Die Sprachen spielten in den kontext-spezifischen Prozessen der Kolonialisierung immer eine Schlüsselrolle, wenn es darum ging zu entscheiden, „how much of the culture of the indigenous groups may be preserved and how much has to be discarded and modified?“ (Madeira/Correia 2019, 415). Bevor die Kolonialisierung in großem Umfang einsetzte, waren bereits christliche Missionare in Europa selbst und von Europa aus in die Welt unterwegs. Dabei entstand eine Art von reziprokem Sprachenlernen. Einerseits wurde das Lateinische als Sprache der Kirche und Mittel des Zugangs zu den heiligen Texten propagiert und unterrichtet, andererseits mussten sich die Missionare mit den örtlichen Sprachen befassen, um wichtige Gebete und Texte zu übersetzen, wenn sie ihre missionarische Aufgabe erfüllen wollten. Missionary practice demanded in the first place the study of the vernacular languages, if the missionary did not content himself with the mediation of an interpreter. Besides preaching, it was indispensable to translate at least parts of the Bible, the liturgy and catechisms, Creed and confessions, and in fact quite a number of languages became recorded in script for the first time in this way and in such texts. (Bischoff 1961, 223)
Die Geschichte des Fremdsprachenunterrichts illustriert das, was wir über das Verhältnis von Sprache und Macht und von Sprache und Identität kennen, in vielen verschiedenen Szenarien in unterschiedlichen historischen Kontexten. Eine andere Sprache zu beherrschen konnte in vielfacher Weise Mittel zum Zweck sein, in positivem wie im negativen Sinne – zur Förderung der eigenen Geschäfte, zur individuellen und kollektiven, freiwilligen oder erzwungenen Integration in eine andere Gruppe, zur Partizipation an bestimmten Aktivitäten, zum Zugang zu Wissen und Ämtern, zur politischen und kulturellen Unterdrückung anderssprachiger Menschen, zur Verbreitung von Ideen. Sprache konnte und kann immer beides sein – tool und tie, Werkzeug und innere Bindung. Die Auslöser dafür, eine andere Sprache zu lernen, reichen von der individuellen Motivation über die gesellschaftliche Opportunität bis zum politischen Zwang. Soziale Anerkennung und Aufstiegschancen hängen mit Sprachkenntnissen ebenso zusammen wie individuelle Einstellungen und persön-
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liche Werthaltungen. Daher ist es unabdingbar, bei der Erforschung der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts die jeweils herrschenden Kontextbedingungen zu beachten.
4 Praxis und Theorie des Fremdsprachenunterrichts Eine Art von Praxis des Fremdsprachenlehrens und -lernens zum Zweck der Verständigung von Menschen unterschiedlicher Sprachen gab es vermutlich lange vor ihrer theoretischen Reflexion. Bis heute stehen Praxis und Theorie des Fremdsprachenunterrichts in einem dynamischen Verhältnis zueinander. Das Lehren und Lernen von Sprachen richtet sich u. a. danach, wie diese Sprachen in der allgemeinen (vor allem philosophischen), kulturbedingten Reflexion jeweils analysiert werden. Die Theorie geht hier also der didaktischen Praxis voraus. Andererseits stellt diese Praxis des Lehrens und Lernens erst jene Masse an Spracherfahrungen bereit, an denen sich die Reflexion entzünden und aufbauen kann. Damit ist die Theorie auch eine Folge der Praxis. (Hüllen 2005a, 14)
In der Forschung zur Geschichte des Fremdsprachenunterrichts wird nicht nur auf das reziproke Verhältnis von Sprachverständnis und Praxis der Sprachvermittlung hingewiesen, sondern auch auf das reziproke Verhältnis von Gesellschaft und Erziehung bzw. Unterricht. Language teaching depends on a changing balance of aims, techniques and attitudes derived from the modalities of social intercourse and on what is considered essential to the intellectual life of each society. (Kelly 1969, 364)
Der Fremdsprachenunterricht stand und steht somit immer im Kräftefeld gesellschaftlich pragmatischer und wissenschaftlich-theoretischer Strömungen, was bis heute zu beobachten ist. Seine Wertschätzung und Ausprägung hingen und hängen davon ab, wie sehr er als theoretisch gut fundiert gilt und sozial erwünscht ist. Beide Aspekte sind jedoch nicht immer gleich gewichtet gewesen. Und das hat zu sehr unterschiedlichen Ausprägungen von Praxis geführt. Wie genau die Praxis des Fremdsprachenunterrichts vor tausend oder dreihundert Jahren gestaltet war, lässt sich – abhängig von der Quellenlage – bestenfalls annähernd eruieren. Fremdsprachenunterrichtliche Praxis ist charakterisiert durch die Verfahren, die angewendet werden, durch die Materialien, die zum Einsatz kommen, durch die Organisation des Aneignungsprozesses, die Rolle der Ausgangssprache und die Inhalte des Unterrichts. All dies wird von den Zielen geprägt, die der spezifische Kontext dem Fremdsprachenerwerb zuschreibt, seien es die Lernbedürfnisse einer Einzelperson oder die Unterrichtsziele in staatlicher Verantwortung für das Schulsystem. Darüber hinaus spielt auch eine Rolle, wie die Lerngruppe altersmäßig oder sozial zusammengesetzt ist oder ob es sich um Einzelunterricht handelt, an welchem Ort und mit welchem Zeitaufwand die fremde Sprache unterrichtet wird. Und schließlich haben auch
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Vorbildung, Ausbildung und weitere individuelle Charakteristika der Lehrperson einen erheblichen Einfluss auf die Unterrichtspraxis. Je länger der Fremdsprachenunterricht zurückliegt, desto spärlicher sind die Informationen, die wir zu ihm haben. Rückschlüsse auf das Geschehen im Unterricht lassen sich bis zu einem gewissen Grade aus den verwendeten Lehrmaterialien ziehen. Allerdings legen Inhalt und Organisation des Lehrbuchs bestimmte Verfahren nicht zwingend nahe, denn einen Dialog könnte man vortragen und auswendig reproduzieren, grammatisch analysieren, in verteilten Rollen vorlesen, still lesen, abschreiben, übersetzen, um nur einige Möglichkeiten zu skizzieren. Die in den Sprachlehrbüchern enthaltenen Regeln, Wörter und Texte können somit nur Hinweise auf einen eventuellen Einsatz im Unterricht geben. Und schließlich hat es sicher auch in der Vergangenheit Lehrer gegeben, die in eklektischer Manier noch andere als die zu einer Zeit üblichen Methoden anwandten. Mit dem Beginn der staatlichen Schulaufsicht in Deutschland können Forscher auf Visitationsprotokolle und Schulprogramme zurückgreifen, die etwas mehr Informationen zum tatsächlichen Unterricht enthalten. Im Zuge der Neusprachlichen Reformbewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden in einer ersten Welle empirischer Forschung zahlreiche Erfahrungsberichte aus der Feder der unterrichtenden Lehrer (z. B. Klinghardt 1888; Junker 1893) sowie Berichte über die Fremdsprachenunterrichtspraxis in anderen Ländern auf der Basis ausgiebiger Hospitationen (z. B. Hartmann 1897; Brebner 1898), die uns genauere Informationen zur Praxis liefern. Etwas besser ist die Quellenlage im Hinblick auf die Theorien zum Fremdsprachenlernen und -lehren vergangener Jahrhunderte, soweit sie in Büchern festgehalten sind. Musumeci (1997) zeigt an einigen Beispielen, dass Gelehrte wie Ignatius von Loyola oder Johann Amos Comenius in der Renaissance und frühen Neuzeit Theorien der Unterweisung entwickeln und daraus fundierte Hinweise zur Gestaltung des Sprachenunterrichts formulieren und in Lehrmaterialien umsetzen. So fordert Comenius in seiner Didactica Magna (Comenius 1657, 89), dass der Unterricht in den Realien (Mathematik, Physik etc.), anders als es üblich sei, dem in den Sprachen vorausgehen müsse, da die Dinge das Wesentliche darstellen. Beides müsse man dem menschlichen Verstand zugleich bieten – „die Dinge der Kern, die Worte Schale und Rinde“ (ebd.). Bei der Vermittlung von Sprachen gehe man von den Inhalten aus und nicht von den Regeln der Grammatik.
Jede Sprache soll mehr durch Gebrauch als durch Regeln gelernt werden, d. h. durch möglichst häufiges Hören, Lesen, Wiederlesen, Abschreiben und durch schriftliche und mündliche Nachahmungsversuche. (ebd., 149)
Damit klingt hier der Jahrhunderte währende Diskurs um den didaktischen Stellenwert von Regelkenntnis versus übendem Gebrauch der Sprache an; ein Thema, das bis heute für den Fremdsprachenunterricht prägend ist. Theorien zum Fremdsprachenunterricht finden sich im 18. Jahrhundert ebenso wie bei Comenius eingebettet in allgemeine Unterrichtslehren und pädagogische Kon-
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zeptionen. In der Aufklärung spielte die philanthropische Pädagogik einige Jahrzehnte eine wichtige Rolle sowohl in der Theorie als auch in der Praxis der Philanthropine, der neu gegründeten Schulen. Auch für die Philanthropen galt die Sprache nur als Zeichen für die unabhängig existierenden Ideen. Andere Sprachen zu kennen, erweitere daher nicht das Ideen- und Sachwissen, und Sprachenlernen sei ein notwendiges Übel, weil es für die Verständigung der Völker untereinander erforderlich sei (Trapp 1788, 216 f.). Die Philanthropen schrieben also der Grammatik keinen formal bildenden Wert zu. Vielmehr sollte eine fremde Sprache vor allem durch den Gebrauch und die Beschäftigung mit den Dingen erworben werden, quasi analog zur Muttersprache. Dazu entwickelten die Sprachenlehrer an den Philanthropinen die Übungs- und Sprechmethode, die spielerische Elemente einschloss (vgl. Klippel 1994, 204–221). In der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts findet sich zu vielen Zeiten ein Schwanken zwischen zwei gegensätzlichen Vorstellungen vom Fremdsprachenlernen: Zum einem sah man darin einen ,natürlichen‘ Vorgang, der dem Erlernen der Muttersprache gleiche, weshalb ein unterrichtsmethodisches Vorgehen mit Imitation und praktischer Übung vorgeschlagen wurde (Decoo 2011, 51). Zum anderen verstand man die Sprache als ein regelbasiertes System, das man nur durch Kenntnis dieser Regeln beherrschen könne. Im Neuhumanismus des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts trat der Gedanke hinzu, dass ein verstandesmäßiges Eindringen in die Komplexität der fremdsprachigen Grammatik und Morphologie über die reine Sprachkenntnis hinaus zur allgemeinen Geistesbildung beitrage. Damit erhielt das Sprachenlernen einen Selbstwert und diente nicht mehr nur als Mittel zum Zweck, etwa der mündlichen Verständigung oder des lesenden Verstehens von Texten.
5 Wiederkehrende didaktische Elemente des Fremdsprachenunterrichts Eine andere Sprache zu lernen ist eine mühsame und langwierige Angelegenheit. Das war früher nicht anders als heute, und es trifft auf alle Sprachen zu. Es überrascht daher nicht, dass zu allen Zeiten darüber nachgedacht wurde, wie man den Fremdsprachenunterricht effizienter, erfolgreicher und angenehmer gestalten könne. Theoretiker und Praktiker haben sich stets bemüht, bessere Wege zur Darbietung, Einprägung und Anwendung des neuen Sprachmaterials zu finden und ihre Lehrwerke plakativ damit beworben: „Englische Zauber-Fibel. Sprechen – schreiben in wenigen Wochen!“ (Weiß 1912) oder „Englisch per Dampf! Ganz neue Conversations-Methode, um in wenigen Tagen ohne alle Vorkenntnisse geläufig englisch sprechen zu lernen“ (Hoar 1884). Didaktische Überlegungen haben schon lange bei den Aufzeichnungen sprachlicher Regularitäten eine Rolle gespielt; bei der Zusammenstellung von Beispieldialogen oder Lesetexten waren (und sind) sie ausschlaggebend. Dahinter standen die zu der jeweiligen Zeit gültigen und als richtig erkannten Prinzipien von Lehren und Lernen.
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Stern (1983, 505) sieht diese Prinzipien als „teaching strategies“, die sich seiner Meinung nach auf drei zentralen Feldern des Fremdsprachenunterrichts konstituieren: dem Verhältnis von Ausgangs- und Fremdsprache („the L1-L2 connection“), der Beziehung zwischen Sprachwissen und Sprachkönnen („the code-communication dilemma“) und der Wahl zwischen explizitem und implizitem Zugang („the explicit-implicit option“). In jedem dieser Felder lässt sich der Fremdsprachenunterricht einer Zeit auf einem Kontinuum zwischen den jeweiligen Polen verorten. So kann das Lehren der fremden Sprache völlig ohne Rückgriff auf die Erstsprache der Lernenden erfolgen – wie etwa bei einem Unterricht durch einen muttersprachlichen Sprachmeister, der die Sprache seiner Lernenden nicht beherrscht – oder die fremde Sprache wird vor allem durch Übersetzung aus und in die Muttersprache vermittelt, wie es beispielsweise im schulischen Fremdsprachenunterricht des frühen 19. Jahrhunderts oft der Fall war. Alle Zwischenstufen, bei denen die Erstsprache eventuell nur für ganz bestimmte Unterrichtssituationen verwendet wird, sind ebenfalls möglich. Im „codecommunication dilemma“ (ebd.) spiegeln sich monastery tradition und marketplace tradition. Abhängig von den Lehrzielen einer Zeit oder Institution wurde (und wird) Beherrschung der Grammatik einerseits oder Beweglichkeit in der Sprachverwendung andererseits favorisiert. Auch heute diskutiert man im Rahmen des kommunikativen Fremdsprachenunterrichts, wieviel sprachliche Korrektheit (accuracy) nötig und welche Art von Flüssigkeit des Sprachgebrauchs (fluency) erwünscht und erreichbar ist. Die Ausrichtung des Unterrichts auf das eine oder das andere Ziel hat weitere didaktisch-methodische Weichenstellungen zur Folge. So verbindet man mit der Zielsetzung kommunikativer Fertigkeiten eher übungsbasierte, interaktive und auf inhaltliche Aspekte gerichtete Unterrichtsverfahren, während kognitives oder regelbasiertes Lernen dem Ziel sprachlicher Korrektheit angemessen ist. Dies ist in der Regel explizit und basiert oftmals auf Deduktion; implizite Lehrstrategien fokussieren verstärkt auf intuitiven, dem natürlichen Spracherwerb ähnliche Vorgehensweisen, in denen die Bedeutung des Gesagten wichtiger ist als die sprachliche Form. Hierbei ist das Vorgehen oft induktiv und wird als ,naturgemäß‘ apostrophiert. Historisch gesehen lassen sich in der langen Geschichte des Fremdsprachenunterrichts viele unterschiedliche Kombinationen und Abstufungen der hier genannten Lehrstrategien feststellen. Wie die folgenden Titel von Sprachlehrwerken aus dem 19. Jahrhundert illustrieren, haben Autoren entweder versucht, mehrere, z. T. auch gegensätzliche Ansätze in ihren Werken zu berücksichtigen oder zumindest einen solchen Anschein zu erwecken; oder sie deuten an, einen besonders sinnvollen, nämlich natürlichen, oder effizienten Weg der Spracherlernung gefunden zu haben: – Boltz, August (1852): Neuer Lehrgang der Englischen Sprache nach einer neuen praktischen, analytischen, theoretischen, synthetischen Methode. 3 Bde. Berlin. – Degenhardt, Rudolph (1869): Naturgemäßer Lehrgang zur schnellen und gründlichen Erlernung der Englischen Sprache. Zweiter Kursus: Schulgrammatik. 3. Aufl. Bremen.
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Hedley, J. H. (1847): Praktischer Lehrgang zur schnellen, leichten und gründlichen Erlernung der Englischen Sprache. Nach Dr. F. Ahn’s bekannter Lehrmethode unter Hinzufügung einer kurzen Grammatik. Wien.
Das Adjektiv praktisch in den Titeln von zwei der aufgeführten Lehrbücher verweist auf einen bedeutsamen Schritt in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts, der sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vollzogen hatte: Die Einführung von Grammatik-Übungen, in denen in die Fremdsprache übersetzt werden musste, d. h. die praktische Anwendung des Gelernten. Nach jetzigem Forschungsstand (Klippel 1994, 142–146; Decoo 2011, 42; Kirk 2018) geht diese didaktische Neuerung auf Johann Valentin Meidinger zurück, der in seinem Französisch-Lehrwerk (Meidinger 1783) zu einzelnen Kapiteln der Grammatik jeweils deutsche Übungssätze abdruckte, die mit Hilfe der gerade gelernten Regeln in das Französische übersetzt werden mussten. Neu war dabei nicht das Übersetzen an sich, das auch beim Unterricht in den klassischen Sprachen jahrhundertelang zum Einsatz gekommen war, sondern das gezielte Üben grammatischer Phänomene durch Übersetzen in die Zielsprache anhand speziell formulierter Einzelsätze. Ein solches Vorgehen war bereits knapp zwanzig Jahre früher von Henrich Martin Gottfried Köster (1763) in seiner Anweisung die Sprachen und Wissenschaften vernünftig zu erlernen und ordentlich zu studieren erläutert worden: „Die Uebung muß nothwendig auf die Regeln folgen, oder so gleich mit ihnen verbunden werden“ (ebd., 59). Meidinger gebührt jedoch das Verdienst, diese Idee als Erster in einem Lehrbuch realisiert zu haben. Hier liegt die Wiege der Grammatik-ÜbersetzungsMethode, die – wie Kirk (2018) überzeugend argumentiert – keineswegs auf den Unterricht in den klassischen Sprachen vor Meidinger zurückgeht; gleichwohl fand sie im folgenden 19. Jahrhundert auch im Unterricht des Lateinischen und Griechischen Verwendung. Die Frage nach dem unter Lern- und Vermittlungsaspekten sinnvollen Verhältnis von Ausgangs- und Zielsprache beschäftigt Theoretiker und Praktiker des Fremdsprachenunterrichts schon immer, und die Geschichte hat eine Reihe von Verfahren hervorgebracht, die das belegen: Interlineartexte, in denen die muttersprachliche Übersetzung wortwörtlich zwischen den Zeilen gegeben wird und somit den anderen Satzbau illustriert, wie sie im Rahmen der Interlinearmethode in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingesetzt wurden (Klippel 1994, 221–247); zweisprachige Paralleltexte, etwa in Gesprächsbüchern, die situationsadäquat übersetzt und ggf. mit kulturinformativen Anmerkungen versehen wurden (z. B. in König 1755); kontrastive Grammatik; Fremdsprachenunterricht mit Hilfe von Texten, die den Lernenden in der Muttersprache bekannt sind, etwa der Bibel, Aesops Fabeln oder anderen kanonischen Texten. Allgemeine pädagogische Prinzipien wie das Anknüpfen an bereits Bekanntem oder die Herstellung von Kontrasten zum Zwecke nachhaltigen Merkens werden hier deutlich. Auch das Prinzip der Progression, d. h. der Anordnung des Lehrstoffes nach dem Gesichtspunkt der Schwierigkeit, sowie die didaktische Aufbereitung mit dem Ziel der Reduzierung von Komplexität haben lange Tradition im Fremdsprachenunterricht.
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Dabei erfuhren Texte und grammatische Regeln unterschiedliche Aufmerksamkeit. Wheeler (2013, 32) verortet vereinfachte Lektüren bereits in griechischen und römischen Schulen, dann im Spätmittelalter. Im 18. Jahrhundert war vor allem die Textlänge ein Kriterium der didaktischen Textordnung, und Autoren von Lehrbüchern hoben deren Berücksichtigung als besonderes Qualitätsmerkmal hervor (z. B. Dusch 1779 und 1780). Hundert Jahre später, in der Zeit der neusprachlichen Reformbewegung, hatten sich auch Textart, sprachliche Komplexität und altersgemäßer Textinhalt als Kriterien für die Bestimmung von Textschwierigkeit und -eignung etabliert. In der Grammatik war das lateinische Muster der sukzessiven Beschreibung der Wortarten, ihrer Morphologie und der Syntax bis in das 19. Jahrhundert auch für die Vermittlung der lebenden Fremdsprachen bestimmend. Solange ein solches Sprachlehrbuch vor allem als Nachschlagewerk und Stütze bei der Entschlüsselung von Texten im Einzelunterricht oder beim autodidaktischen Lernen diente, konnte mit dieser Art der Darstellung gut gearbeitet werden. Sobald jedoch das systematische Erarbeiten der fremden Sprache in einem Lehrgang mit einer Lerngruppe zum Normalfall wurde, also mit Beginn des 19. Jahrhunderts, mussten sich Lehrbuchautoren Gedanken über eine didaktisch begründete grammatische Progression machen. Ein erster Schritt in diese Richtung war das Lehrgangskonzept von Johann Heinrich Philipp Seidenstücker (1795), der für den Unterricht im Lateinischen ein zweistufiges Verfahren vorschlug: Im Anfangsunterricht gehe man induktiv auf der Basis von Texten vor und weise nur auf das Wesentliche der Grammatik hin; ab dem dritten Lernjahr erfolge dann die gezielte Unterweisung in der Grammatik anhand von Regeln und Übersetzungen. Dieses Lehrgangsmuster setzte sich im 19. Jahrhundert für die modernen Sprachen durch. Zur Darbietung der fremden Sprache benötigt man sprachliches Material als Beispiel der Sprachverwendung. Dieses Material kann aus authentischen Texten, aus bearbeiteten, d. h. vereinfachten, annotierten oder gekürzten, authentischen Texten oder didaktischen, d. h. zum Zweck des Unterrichts für spezielle Lernziele verfassten Texten oder Einzelsätzen bestehen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde im Zusammenhang mit der sog. kommunikativen Wende leidenschaftlich dafür geworben, nicht die als konstruiert erachteten Lehrbuchtexte, sondern vor allem authentische Texte im Unterricht zu berücksichtigen, ohne jedoch auf die lange Geschichte der Verwendung gerade solcher Texte zum Sprachenlernen zu rekurrieren (Will 2018), denn authentische Texte waren jahrhundertelang die Norm, ehe man sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch lernzielgemäß konstruierte Texte ersetzte, was damals als Innovation galt. Dies zeigt anschaulich die iterativen Schwünge in der Entwicklung des Fremdsprachenunterrichts. Zu denen zählen weitere Verfahren, die periodisch in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts auf- und wieder abtauchten, etwa der Einsatz von Bildern und Visualisierung (Reinfried 1992), von szenischem und Regelspiel (Klippel 1980, 58–90), körperlicher Bewegung (Klippel 2001) und von Musik (Rauch 2019). Oft meinte man dann in der jeweils späteren Zeit, etwas völlig Neues und im Fremdsprachenunterricht nie Dagewesenes entdeckt zu haben.
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Worüber soll man im Fremdsprachenunterricht sprechen? Solange die Ziele des Fremdsprachenlernens für die Institution oder das Individuum eindeutig waren, folgte daraus auch die grobe Richtung der inhaltlichen (und methodischen) Gestaltung des Fremdsprachenunterrichts. Lehrmaterialien innerhalb der marketplace tradition enthielten Dialoge, einige Informationen zur Zielkultur und generelles Weltwissen. Mit der Etablierung der fremden Sprachen als Fächer allgemeinbildender Schulen im 19. Jahrhundert stellte sich jedoch die Frage, welche kulturellen Informationen sowohl bildend als auch sonst wichtig waren für diejenigen, deren spätere Sprachverwendungsbedürfnisse man nicht genau kennen konnte. In der neusprachlichen Reformbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts forderte man: Die Beherrschung der fremden Sprache ist das oberste Ziel des Unterrichts; den Unterrichtsstoff bildet das fremde Volkstum. Die fremde Sprache ist das naturgemäße Mittel, um in dessen Erkenntnis einzudringen. […] Die Klassenlektüre – im Mittelpunkt des Unterrichts stehend – berücksichtigt vorwiegend die moderne Prosa. […] Die Klassenlektüre hat in erster Linie die Kenntnis des fremden Volkstums – der Realien – zu vermitteln, möglichst mit Verwendung von Bildern. (Wendt 1898 und 1899)
Bis heute prägt ein ähnliches Verständnis die Textinhalte deutscher Lehrpläne für den Französisch- und Englischunterricht, während andere europäische Staaten wie Schweden oder Frankreich andere Wege gehen; in Frankreich ist die Geschichte ein wichtiges Element, in Schweden wird für den Englischunterricht stärker auf Multikulturalität und den globalen Charakter des Englischen gesetzt (Kolb 2013). Man sieht daran, dass unterschiedliche Grundeinstellungen zu den Zielen des Sprachenlernens selbst in europäischen Nachbarstaaten deren inhaltliche Gestaltung bestimmen.
6 Schlaglichter Als zentraler Bestandteil menschlichen Lebens und menschlicher Gemeinschaft sind die Sprachen in der Geschichte in vielen Kontexten relevant gewesen. Sie zu lernen und zu lehren war zu allen Zeiten in vielen Gegenden der Welt Teil des täglichen Lebens. Gleichzeitig gab es ein stetes Interesse an der Beschreibung von Sprachen, dem Studium ihrer Struktur und Ausdrucksmöglichkeiten, oft mit dem Ziel, sie dadurch besser lehr- und lernbar zu machen. In der langen Geschichte des Fremdsprachenunterrichts und des Fremdsprachenstudiums waren es immer wieder einzelne Personen, die als Sprachlehrende, als Verfasser von Grammatiken und Sprachlehrmaterialien, als Gründer von Institutionen oder als Wissenschaftler und Theoretiker des Sprachenlernens langfristige Wirkungen entfaltet haben. Besonders reich an solchen Personen war das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert. Zu nennen sind etwa Henry Sweet und andere frühe Phonetiker, denen wir die adäquate Umschreibung von Aussprache verdanken, Wilhelm Viëtor und die Neusprachenreformer, die in Europa die
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Basis für den kommunikativen Fremdsprachenunterricht und die wissenschaftliche Fremdsprachenlehrerbildung legten. Mit der Etablierung wissenschaftlicher Disziplinen wie der Phonetik, der Psychologie und der Neuphilologie etwa zur gleichen Zeit erhielt der Fremdsprachenunterricht zunehmend eine forschungsbasierte, wissenschaftliche Grundlage. Kunstsprachen wie Volapük oder Esperanto wurden ebenfalls um diese Zeit entwickelt; auch wenn sich die Hoffnungen dieser Sprachschöpfer nicht erfüllt haben, durch solche vermeintlich leicht lernbaren Plansprachen zur globalen Verständigung beizutragen, so lebt der Gedanke doch weltweit bei etwa zwei Millionen Esperantosprechern bis heute fort. Die Entwicklung des Englischen zu einer internationalen Verständigungssprache begann im frühen 20. Jahrhundert. Um diesen Status zu fördern und das Erlernen der englischen Sprache zu erleichtern, entwickelte Ogden ein „Basic English“ (1930). Dazu reduzierte er das zu lernende Vokabular auf 850 Grundwörter, unter denen nur 18 Verben waren, und einige grammatische Regeln. Dies sollte als Grundstock für die Verständigung dienen. Gut zwanzig Jahre später, während des Kalten Krieges, schlug L.A. Hill „neutral English“ vor (Lowe/Smith 2019), eine auf eher kulturell neutrales Vokabular reduzierte Form der Sprache, um einerseits jenen Fremdsprachenlernenden entgegenzukommen, die Englisch vor allem für die transnationale Verständigung mit anderen benötigten, und um andererseits den Einfluss der englischsprachigen Länder in Asien über den Englischunterricht zu erhalten. Somit war „neutral English“ in gewisser Weise eine Wurzel des heutigen „English as a Lingua Franca (ELF)“ und gleichzeitig ein Mittel des „linguistic imperialism“, auf den Phillipson (1992) nachdrücklich verweist. Gerade für das Englische als Fremdsprache bestanden somit zahlreiche Versuche, das Englischlernen durch Manipulation und Reduktion der natürlichen Sprache zu erleichtern, wozu neben den Vorschlägen von Ogden und Hill auch Listen der wichtigsten und nützlichsten Wörter gehörten, wie beispielsweise die „General Service List“ (West 1953), deren Nachfolgeliste auch heute noch verwendet wird. So wird die jahrhundertealte Tradition der Zusammenstellung der nützlichsten und häufigsten Wörter und Redemittel, wie sie in den Gesprächsbüchern und Sprachlehren früherer Jahrhunderte zu finden war, bis in die Gegenwart fortgesetzt. Der Wunsch, das Sprachenlernen möglichst einfach und effizient zu gestalten, ist überdauernd aktuell und hat im Laufe der Zeit eine Vielzahl von Ideen, Verfahren, Materialien, Methoden und – neuerdings – Apps hervorgebracht, die Sprachenlernenden helfen und ihre Autoren und Vertreiber finanziell erfolgreich machen sollen. Wie sehr wirtschaftliche Interessen den Fremdsprachenunterricht beeinflussen, sieht man insbesondere in der jüngeren Vergangenheit. Im 20. Jahrhundert war der Aufstieg des Englischen zur Weltsprache vor allem durch die Wirtschaftsmacht der USA und deren politischen Einfluss begründet. Gleichzeitig stellt das Bedürfnis nach englischem Fremdsprachenunterricht einen nicht zu unterschätzenden Faktor für die Volkswirtschaften englischsprachiger Länder dar, die Lehrkräfte, Lehrmaterialien, Tests und Expertise in die ganze Welt exportieren.
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Wirtschaftliche Verflechtungen und räumliche Nähe waren auch der Grund dafür, dass in Neuseeland, einem englischsprachigen Land, in den 1990er Jahren eine sprunghafte Zunahme des Japanischunterrichts an Sekundarschulen zu verzeichnen war (Harvey 2018). Mit der wachsenden Bedeutung Chinas im pazifischen Raum hat jedoch dort das Interesse am Japanischlernen seit der Jahrtausendwende stetig abgenommen. In der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts zeigen sich vielfach wiederkehrende Muster von Kontinuität und Wandel. Jeder Historiograph des gesellschaftlichen Umgangs mit Fremdsprachen weiß, dass die Probleme des Lehrens und Lernens sich hier, wie mutmaßlich auch in vielen anderen Bereichen in einem relativ konstanten Problemhorizont bewegen, in dem es immer wieder um dieselben Antonomien [sic!] geht – um Denken und Sprechen, System und Einzelfall, Regel und Idiom, Lernen und Handeln, Kompetenz und Performanz, Erfinden und Nachahmen, situative Information und allgemeine Kulturspezifik, Bildung und Nutzen etc. (Hüllen 2005b, 47)
Und man kann ergänzen: Es ging auch immer um Zugang und Kommunikation, um Integration und Identifikation oder um Macht und Ausgrenzung. Der Fremdsprachenunterricht ist somit Teil der Menschheitsgeschichte in all ihren Facetten.
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III Soziale und regionale Aspekte
Sara Hägi-Mead
10. Der amtlich deutschsprachige Raum im Kontext von Mehrsprachigkeit(en) Abstract: In den mit DACHL abgekürzten Ländern Deutschland, Österreich, Schweiz und Liechtenstein ist Deutsch nationale Amtssprache und zugleich die bzw. eine Erstsprache (Muttersprache) der Bevölkerungsmehrheit. Der amtlich deutschsprachige Raum umfasst zudem Belgien, Luxemburg und Südtirol, wo Deutsch ebenfalls nationale bzw. regionale Amtssprache ist. Auch außerhalb dieses Amtssprachengebiets spielt Deutsch eine Rolle, etwa in Namibia, Rumänien oder in Mennonitensiedlungen in Teilen Nord- und Südamerikas. Die Standardsprache Deutsch wird in und von diesen Zentren unterschiedlich geprägt, mit der Konsequenz, dass sich nationale und regionale Varietäten des Deutschen herausgebildet haben. Der amtlich deutschsprachige Raum wird außer von Deutsch auch von anderen, autochthonen wie allochthonen Sprachen und Varietäten geprägt. Der vorliegende Beitrag gibt einen Einblick in die Varianz der deutschen Standardsprache im amtlich deutschsprachigen Raum und fragt gleichzeitig nach dem Raum, den andere Sprachen und Varietäten darin erhalten. Der Plural „Mehrsprachigkeiten“ in der Überschrift weist dabei auf die Vielzahl unterschiedlicher Zugänge, Definitionen und Konnotationen hin, die im Kontext von Mehrsprachigkeit ineinandergreifen. 1 2 3 4 5 6
Einleitung Terminologische Einordnungen: Sprachraum – deutschsprachig – Mehrsprachigkeit(en) Deutsch im amtlich deutschsprachigen Raum: Nationale Varietäten Geteilter Raum: Zum Gegeneinander, Nebeneinander und Miteinander von Sprachen und Varietäten im amtlich (auch) deutschsprachigen Raum Zusammenfassung Literatur
1 Einleitung Deutscher Sprachraum – deutschsprachige Länder – DACHL – deutschsprachige Region – amtlich deutschsprachige Region – amtlich deutschsprachiger Raum: Mit solchen Benennungen wird Bezug genommen auf ein linguistisch und geopolitisch zusammenhängendes Gebiet mitten in Europa, in dem die deutsche Sprache alteingesessen (autochthon) und – um eine vielverwendete Metapher zu verwenden – ‚zu Hause‘ ist: Deutsch wird hier als Erst- und Zweitsprache erworben, ist Schul- und Bildungssprache, normiert und kodifiziert. Auf dieses Gebiet, das nicht immer klar bzw. das unterschiedlich definiert wird, und die dort anzutreffende gesellschaftliche Mehrsprachigkeit wird im Folgenden Bezug genommen. Ziel dieses Beitrags ist es, zu erörtern, a) warum und für wen es relevant ist, zu wissen, wo sich der ‚deutsche Sprachhttps://doi.org/10.1515/9783110623444-010
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raum‘ befindet, wie dieser definiert und beschrieben wird und wer (nicht) dazugehört, und b) darzulegen, wie sich gesellschaftliche Mehrsprachigkeit im amtlich deutschsprachigen Raum zeigt, d. h., welche Rolle welche Sprache(n) und Varietäten wo wie spielen (können). In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, u. a. die eingangs erwähnte Terminologie in den Blick zu nehmen und anhand dieser Bezeichnungen unterschiedliche Annahmen und Normvorstellungen von innersprachlicher wie äußerer Mehrsprachigkeit auseinanderzuhalten.
2 Terminologische Einordnungen: Sprachraum – deutschsprachig – Mehrsprachigkeit(en) Im Folgenden werden zentrale Termini und Konzepte erläutert, die bereits im Titel dieses Beitrags genannt werden. Als erstes geht es dabei um den Ausdruck Sprachraum (vgl. Abschnitt 2.1). Gerade weil er auch alltagssprachlich klar verständlich scheint, lohnt es sich zu fragen: Was bezeichnet er genau? Welche Bilder, welche Annahmen korrespondieren mit diesem Ausdruck? Handelt es sich – mit Bezug auf den gegenwärtigen wissenschaftlichen Kenntnisstand – um einen (noch) adäquaten, geeigneten Terminus? Ein weiterer Abschnitt (2.2) wird dem Ausdruck deutschsprachig gewidmet. Hier geht es darum, deutlich zu machen, dass eine Gleichsetzung von deutsch und deutschsprachig unterschiedlich empfunden wird. Für die einen macht die Differenzierung einen großen Unterschied, der auch darüber entscheidet, sich wahrgenommen zu fühlen oder nicht. Für andere wiederum ist eine solche Differenzierung irrelevant, überflüssig oder wird als übertriebenes, auf Überempfindlichkeit zurückzuführendes ‚i-Tüpferl-Reiten‘ abgetan. Solche Aspekte sind für das Thema dieses Beitrags zentral. Mit der vielleicht irritierenden Attribuierung amtlich deutschsprachig (vgl. 2.2) oder der unüblichen, nach Duden gar ungrammatischen Pluralbildung Mehrsprachigkeiten (vgl. 2.3) ist das Ziel verbunden, sowohl auf Deutschland als auch auf Deutsch begrenzte Sichtweisen aufzubrechen, wenn es darum geht, Sprache(n) und Sprach(en)gebrauch im amtlich deutschsprachigen Raum zu beschreiben.
2.1 Sprachraum Mit dem Konzept Raum (vgl. Günzel 2020; Rabanus 2010; Auer 2004) werden vor allem zwei Merkmale in Verbindung gebracht: Eine Lokalisierbarkeit und die Ein- und Abgrenzung einer solchen Verortung. Ein Raum befindet sich irgendwo, unterscheidet sich von anderen Räumen bzw. wird von anderen Räumen abgegrenzt. Dabei kann es sich bei einem Raum um einen Ort, eine Gegend, eine Institution, ein Land oder eine Idee handeln. Dem Raumbegriff ist zudem eine diskursive und ideologische Kom-
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ponente inhärent. Der Raum kann ein geographischer, ein zeitlicher oder ein politischer sein, real oder virtuell, offen oder geschlossen, öffentlich oder privat, weit oder eng. Auch mit Sprachraum ist das Verständnis einer Lokalisierbarkeit und einer Einund Abgrenzung verbunden: Sprache scheint einen bzw. ‚ihren‘ Ort zu haben. Ein solcher Ort kann geographisch, zeitlich, funktional oder sozial gerahmt sein. So gibt es in Bezug auf die regionale Verwendung der deutschen Sprache eine lange Tradition, diese auf Karten zu verorten (vgl. Scheuringer 2010). Am Beispiel des Dialektgebrauchs lässt sich das besonders gut veranschaulichen, z. B. durch das ChochichästliOrakel (http://from.ch/dialects/) oder die Dialäkt Äpp (http://www.dialaektaepp.ch): Anhand ausgewählter Dialekt-Aussprachevarianten von Wörtern wie Hand, Fenster oder Abend können Dialektsprechende mit 70-prozentiger Wahrscheinlichkeit einer konkreten Gegend in der Deutschschweiz zugeordnet werden. Damit wird jedoch auch ein Konnex Sprache-Territorium reproduziert, der, mit Blick auf die nicht bzw. ,falsch‘ lokalisierbaren Varianten, durchaus zu hinterfragen ist (vgl. hierzu Flubacher 2014; McNamara 2019). Auch Texte können durch ihren Bezug zu einem spezifischen Register oder durch die Verwendung bestimmter Ausdrucksweisen zeitlich, geographisch und/oder sozial Gruppen und ihren Diskursen zugeordnet werden. Denn:
Eine Sprache wird in einem sozialen Raum gelernt, zunächst als Sprache der Familie […], schließlich in dem erweiterten Raum von Freunden, des Arbeitsplatzes und schließlich in förmlichen Institutionen wie Schule. (Maas 2010, 218)
Solche sozialen, regionalen und funktionalen Räume prägen entsprechend den Sprachgebrauch. Dieser wird – der funktional differenzierten Gesellschaft entsprechend – mittels Register unterschiedlichen Domänen angepasst. Eine aus der antiken Rhetorik stammende Dreiteilung lässt sich entlang der Dimensionen Formalität und Öffentlichkeitsgrad auch auf die heutige Situation übertragen: Unterschieden wird eine private, intime Domäne (ein Raum, der Familie und engen Freundinnen und Freunden vorbehalten ist), eine Domäne der informellen Öffentlichkeit (hier weitet sich der Raum aus auf Markt, Straße und Arbeitsplatz) und eine formelle Domäne, die institutionell reguliert wird (ebd., 218 f.):
Intimität
Formalität – (informell)
+ (formell)
– (öffentlich)
Markt, Straße, …
Gesellschaftliche Institutionen
+ (intim)
Familie, Peers, …
Abb. 1: Registerunterschiede: Formalität und Intimität (Maas 2010, 219)
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Dass Sprache einen Ort (oder auch mehrere Orte) hat, wo sie als angemessen gilt, ‚zu Hause ist‘, korrespondiert mit einem Empfinden von Zugehörigkeit durch Sprache. Die Metapher zu Hause sein geht dabei auf den primären, sozialen Raum zurück, der durch die Familie geprägt wird, und erfährt eine Übertragung auf andere soziale Räume. Sprachen und Sprachräume existieren nicht losgelöst von den sprachlichen Praktiken. Damit versteht sich das oben Beschriebene immer gekoppelt an Akteurinnen und Akteure. Spezifischen Markierungen, die Zugehörigkeiten zu originär unterschiedlichen Sprachräumen ausweisen, können dabei Akteurinnen und Akteuren bewusst sein und demonstrativ eingesetzt werden (vgl. Ammon 1995, 99). In vielen Fällen handelt es sich aber um unbewusste Verwendungen, um sogenannte Schibboleths (ebd., 204; McNamara 2019, 180). Dieser Terminus geht bekanntermaßen zurück auf das Buch der Richter (12, 5–6) im Alten Testament: Besiegte ephraimitische Geflüchtete werden anhand ihrer Aussprachevariante Sibboleth (hebräisch für Strom; Ähre) im Unterschied zu Schibboleth, wie es die Sieger aussprechen, erkannt, überführt und getötet. Diese Überlieferung zeigt an, wie seit jeher eine konkrete Sprachform ein nicht zu verbergendes Mal sein kann, das eine Gruppenzugehörigkeit sicher erkennen und zum Mittel ethnischer bzw. gentiler Diskrimination werden lässt […]. Solche Möglichkeiten zur Ein- und Ausgrenzung basieren auf der jeder natürlichen Sprache inhärenten Eigenschaft, innerhalb einer stets gruppenbezogenen Kommunikation spezifische und diese Gruppe dann auszeichnende Merkmale auszubilden. (Solms 2019, 192)
Im Zeitalter der Globalisierung erweisen sich Sprachräume als besonders stark geprägt durch Migration und Mobilität. Migration ist jedoch auch historisch als Normalfall zu bezeichnen (vgl. Bade/Oltmer 2004). Vor diesem Hintergrund sind Sprachräume nach Bade (2013, 17) nicht als ein Zustand, sondern als ein sich stets weiter ausdifferenzierender Kultur- und Sozialprozess zu verstehen. Dieser Prozess wiederum besteht aus dem räumlich, sektoral und sozial unterschiedlich voranschreitenden Zusammenwachsen von Mehrheits- und Zuwandererbevölkerung in einem Interaktionsprozess, der beide Seiten tiefgreifend verändert. (ebd.)
Die Trennung der Gesellschaft in eine Mehrheits- und eine Zuwanderungsbevölkerung ist jedoch problematisch, u. a. deshalb, weil auch die ‚Mehrheitsgesellschaft‘ als Produkt einer homogenisierenden Nationalstaatenpolitik verstanden werden kann. Mit dem Terminus Migrationsgesellschaft (vgl. Broden/Mecheril 2007, 7) soll zudem die (aktuelle) Relevanz der Migration für die gesamte Bevölkerung herausgestellt werden, mit dem Ziel, ein komplementäres Verständnis der Gesellschaft zu überwinden. Letzteres meint die Gegenüberstellung eines autochthonen ‚Wir‘ auf der einen Seite und einem allochthonen ‚Ihr‘ im Sinne von „Migrationsanderen“ (Mecheril 2010, 17) auf der anderen Seite. Diese als othering bezeichnete Praxis des Kennzeichnens als ,anders‘, als ,nicht-von-hier‘, als ,nicht-zugehörig‘ erfolgt bei Personen aufgrund ihres Aussehens oder ihres Akzents. Mit einem othering geht immer auch eine Schlechter
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stellung einher. Es handelt sich um eine Form von Alltagsrassismus. In diesem Kontext wird auch die Bezeichnung mit Migrationshintergrund kritisiert (vgl. z. B. Utlu 2019). Umfassend und rassismuskritisch begründet empfiehlt die Fachkommission der Bundesregierung [Deutschlands] zu den Rahmenbedingungen der Integrationsfähigkeit entsprechend, „das bisher im Rahmen des Mikrozensus verwendete statistische Konzept des ‚Migrationshintergrunds‘ aufzugeben“ (2020, 218). Fragen, die sich in Bezug auf den amtlich deutschsprachigen Raum, seine Akteurinnen und Akteure und ihre sprachlichen Praktiken stellen, sind immer auch Fragen der (Nicht-)Zugehörigkeit und Fragen, die über die Sprach(en)verwendung hinausgehen. Wesentlich für einen Raum sind seine ihn rahmenden Grenzen, erst durch sie wird ein Raum zum Raum. Zur Definition von Raum, auch von Sprachraum, gehört damit eine Auseinandersetzung mit Fragen wie: Wodurch wird ein Raum konstituiert? Wer konstituiert ihn? Wodurch unterscheidet sich ein Raum von anderen Räumen? Wer darf sich wann in einem bestimmten Raum aufhalten? Welche Bedingungen und Konsequenzen sind mit einem solchen Aufenthalt verbunden? Welcher Natur sind die Grenzen? Wie sehen angrenzende Räume aus? Welche Sprachen haben in welchem Raum welche Berechtigung? Stellt man sich solche Fragen, bietet der Terminus Sprachraum über eine territoriale, geographische Bedeutung hinaus viel Potential, Mehrsprachigkeitsverhältnisse kritisch zu reflektieren (vgl. Abschnitt 4).
2.2 Deutschsprachig Zwar hat deutsch mehrere Bedeutungen, jedoch ist auch die im Duden an erster Stelle aufgeführte Bedeutung die folgende: „die Deutschen, Deutschland betreffend“ (Dudenredaktion 2020, s. v.). Aufgrund der asymmetrischen Größenverhältnisse in DACHL und weil Deutschland als einziger deutschsprachiger Staat die Sprache Deutsch im Namen trägt, denkt man wohl immer und unwillkürlich bei der Bezeichnung deutsch zuallererst an Deutschland. Ob die anderen deutschsprachigen Länder auch mitgemeint sind oder nicht, bleibt offen. Auch die Bezeichnung deutscher Sprachraum kann sich a) ausschließlich auf Deutschland beziehen oder b) in einem allgemeineren Verständnis auf den gesamten amtlich deutschsprachigen Raum. Gerade im Kontext Deutsch als Fremdsprache wird darauf hingewiesen, dass z. B. in Lehrwerken in der Regel von Deutschland die Rede ist und Bezüge zum gesamtdeutschsprachigen Raum oft nach wie vor fehlen, marginal oder gar fehlerhaft sind (vgl. Hägi 2006; für einen aktuellen Überblick der Debatte Shafer u. a. 2020). Verständlicherweise ist es denn auch gerade von Schweizer und österreichischer Seite ein Anliegen, hier Klarheit zu schaffen und in der Bedeutung von ,die Sprache Deutsch betreffend‘ konsequent deutschsprachig zu verwenden, um eine Verwechslung mit der Bedeutung ,die Deutschen, Deutschland betreffend‘ auszuschließen (vgl. Hägi 2011, 6; Badstübner-Kizik u. a. o. J., s. v.). Gerade im Fachkontext wird hier Sensibilität und Konsequenz gefordert, um nicht den anderen deutschsprachigen Ländern die ‚richti
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ge‘ Zugehörigkeit zur deutschen Sprache abzusprechen oder eine nach wie vor verbreitete Vorstellung zu nähren, in Österreich oder der Deutschschweiz werde ausschließlich Dialekt oder zumindest stark dialektgefärbtes Deutsch gesprochen. Eine solche Vorstellung geht von einer standarddeutschen Norm aus, von einem ‚richtigen‘ Deutsch, das mit der Standardvarietät Deutschlands gleichzusetzen sei. Ein solches Verständnis der Standardsprache Deutsch widerspricht ihrer wissenschaftlichen Erfassung durch die Varietätenlinguistik (vgl. Abschnitt 3). Analog zum monolingualen Habitus (Gogolin 1994, vgl. Abschnitt 4) kann hier von einem „monozentrischen Habitus des Deutschen“ gesprochen werden (Hägi-Mead/Schweiger 2020, XVII). Im Unterschied zu der Bezeichnung deutschsprachig macht Dirim mit dem Zusatz amtlich deutschsprachig auf „das Spannungsverhältnis zwischen amtlicher Einsprachigkeit im Deutschen und faktischer Mehrsprachigkeit des Alltags“ aufmerksam (2015, 26). Dirim ersetzt dabei das Bezugswort Land durch Region, da, wie im Falle der Schweiz, ein deutschsprachiges Land auch andere Amtssprachen als Deutsch haben kann bzw. Regionen nicht deckungsgleich mit bestehenden nationalen Grenzen sein müssen (s. Abschnitt 3.2). Im vorliegenden Beitrag wird die Bezeichnung Raum verwendet, um auch andere Konnotationen als geographische verstärkt miteinzubeziehen (vgl. Abschnitt 2.1). Mit amtlich deutschsprachiger Raum wird also vor allem der politische Rahmen und die Funktion von Sprache fokussiert: Der amtlich deutschsprachige Raum wird durch Gesetze, Regelungen und Vereinbarungen abgesteckt, die das gesellschaftliche Leben allgemein und auch konkret den Sprach(en)gebrauch prägen. Amtlich deutschsprachig deutet zudem darauf hin, dass zum einen deutschsprachige Räume auch außerhalb eines amtlich deutschsprachigen Raums existieren können und zum anderen und vor allem, dass es im amtlich deutschsprachigen Raum auch noch andere Sprachen und Varietäten als (Standard-)Deutsch gibt (vgl. Abschnitt 4). Beide Lesarten sind intendiert. Mit ihnen einhergeht zudem die in 2.1 bereits dargelegte Auffassung und das Verständnis, dass es sich bei der Bevölkerung im amtlich deutschsprachigen Raum um eine durch Migration geprägte Gesellschaft handelt.
2.3 Mehrsprachigkeit(en) Mehrsprachigkeit in den Plural zu setzen (vgl. auch Riemer 2004; Hinnenkamp 2010; Honneger/De Vito/Bach 2020) geschieht aufgrund sich stark voneinander unterscheidender ‚Arten‘ von Mehrsprachigkeit, deren Konzeptionen und Beschaffenheiten sich lohnen, genauer in den Blick genommen zu werden. Mehrsprachigkeit wird unterschiedlich definiert und kategorisiert. So kann a) eine äußere Mehrsprachigkeit einer inner(sprachlich)en Mehrsprachigkeit gegenübergestellt werden (vgl. Wandruszka 1979; Elspaß 2018, 95) und Mehrsprachigkeit verstanden werden als „Sprachen in der Sprache“ (Linke/Voigt 1991). Oder man kann b) sich mit Bezug auf eine Rangordnung nach Stellung in der Welt (vgl. Ammon 2019, 6), Prestige und asymmetrische Macht-
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verhältnisse allgemein, auf eine „Elite- oder Armutsmehrsprachigkeit“ (Krumm 2014) beziehen oder zumindest dominante von nicht-dominanten Sprachen und Varietäten unterscheiden (Ammon 1995, 484 ff.). Eine weitere Möglichkeit ist, c) die individuelle Mehrsprachigkeit in den Blick zu nehmen, d. h. den Kompetenzerwerb eines Individuums in zwei oder mehr Sprachen. Dies gestaltet sich wiederum inhaltlich wie methodisch ganz anders als die Erfassung einer gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit, bei der „nach der Rolle und Bewertung mehrsprachiger Praktiken und Repertoires in gesellschaftlichen Handlungsfeldern und Interaktionszusammenhängen“ gefragt wird (Androutsopoulos 2018, 194). Hier verändert sich die Bedeutung von Mehrsprachigkeit im Sinne von languaging (vgl. Swain 2006), das bereits durch den Terminus den Handlungscharakter von Sprache herausstellt. Im Gegensatz zu einer strukturalistischen Auffassung von separat voneinander beschreibbaren Einzelsprachen wird hier Sprache als soziale Praxis der Akteurinnen und Akteure verstanden. Damit vollzieht sich als Kritik an territorial-national gedachten Mehrsprachigkeitskonzepten eine Abwendung sowohl von der Prämisse einer Einheit von Sprache, Bevölkerung und Territorium als auch von der Vorstellung, Sprachen seien klar voneinander abgrenzbar und in sich geschlossen (vgl. Androutsopoulos 2018, 194; Blackledge/Creese 2010; Otheguy/ García/Reid 2015). Auf Deutsch wird ein solches Konzept von Mehrsprachigkeit mit Sprachigkeit (Dorostkar 2014), Spracherleben und Sprachrepertoire (Busch 2021, 18 ff.) oder Sprachlichkeit (Hu 2019) erfasst und auch im Kontext von Deutsch als Zweitsprache im Ansatz des translanguagings diskutiert (Gantefort/Maahs 2020). Die unterschiedlichen Konzepte von Mehrsprachigkeit machen deutlich, dass mit ihnen unterschiedliche Annahmen und Einschätzungen einhergehen. Diese sollen hier nicht gegeneinander ausgespielt, sondern reflektiert werden mit dem Ziel, mehr Aspekte von Mehrsprachigkeit(en) wahrzunehmen und damit einhergehend die Rolle, die mehrsprachige Menschen im amtlich deutschsprachigen Raum, z. B. in Bildungseinrichtungen, einnehmen (können), differenziert und adäquat zu beschreiben.
3 Deutsch im amtlich deutschsprachigen Raum: Nationale Varietäten 3.1 Zur Unterscheidung von Sprache(n) und Varietäten Bei der Unterscheidung von Sprachen und Varietäten geht es um die Differenzierung zwischen eigenständigen, kodifizierten und voneinander ,unabhängigen‘ Sprachen wie zum Beispiel Englisch, Deutsch, Französisch, Spanisch, Türkisch im Sinne der äußeren Mehrsprachigkeit und einer Unterscheidung von ,Sprachen‘ innerhalb einer Sprache, den diatopischen, diastratischen und diaphasischen Varietäten (vgl. Riebling 2013). In Bezug auf die Diatopik, also die kommunikative Reichweite, sind regionale, nonstandardsprachliche Varietäten zu nennen, beispielsweise Dialekte wie Kölsch,
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Berndeutsch oder Steirisch (vgl. Abschnitt 3.3), oder kodifizierte, nationale, standardsprachliche Varietäten wie die deutsche Standardsprache in Deutschland, Österreich oder der Schweiz (Ammon 1995) (vgl. Abschnitt 3.2). In Bezug auf die Diastratik, also die soziale Reichweite, sind Gruppensprachen wie z. B. Jugendsprachen zu nennen. In Bezug auf die Diaphasik, also die funktionale Reichweite, sind unterschiedliche Register wie Alltagssprache, Bildungssprache, Fach- oder Wissenschaftssprachen zu nennen. Varietäten unterscheiden sich voneinander durch Varianten, die grundsätzlich auf allen linguistischen Ebenen anzutreffen sind. So gibt es Aussprachevarianten, orthographische, morphologische, syntaktische, lexikalische, semantische oder pragmatische Varianten. Die Schnittmenge von Varietäten bilden die sogenannten Konstanten. Für die Unterscheidung zwischen Sprache und Varietät ist u. a. der linguistische Abstand (Ammon 1995) relevant. Das bedeutet, je ähnlicher sich zwei Systeme sind, desto eher werden sie als Varietäten ein und derselben Sprache definiert. Die Ähnlichkeit wird dabei mit der Anzahl von Konstanten und Kognaten gemessen, also Wörtern, die entweder im ganzen Sprachraum gleichbleibend dieselbe standardsprachlich Bedeutung haben, oder Erbwörtern, die miteinander urverwandt, also kognat sind. Je unterschiedlicher sich zwei Systeme zueinander verhalten, desto eher werden sie als zwei verschiedene Sprachen definiert. Für die Unterscheidung Sprache oder Varietät spielt zudem der Aspekt der Überdachung (Kloss 1976; Ammon 1995, 2 ff.) eine Rolle: Wird ein System von einem anderen überdacht, wie zum Beispiel ein (Deutschschweizer) Dialekt von einer (z. B. der Schweizer) Standardvarietät, werden beide Varietäten (Dialekt und Standard) ebenfalls ein und derselben Sprache zugeordnet. Bei dieser Unterscheidung spielen nicht zuletzt politische Entscheidungen eine Rolle, die mitunter ebenfalls darüber bestimmen, ob es sich bei zwei Systemen um zwei Varietäten ein und derselben Sprache handelt oder nicht. Illustriert werden kann dies am Beispiel des moselfränkischen Dialekts, der sowohl auf deutschem als auch auf luxemburgischem Gebiet zu verorten ist und sich in der jeweiligen Ausprägung kaum unterscheidet (vgl. Ammon 2019, 4). Der Staat Luxemburg hat auf der Grundlage des genannten Dialekts durch Standardisierung (mittels einer Kodifizierung, bei der der Grad der linguistischen Distanz zur Standardvarietät Deutschlands möglichst ausgedehnt wurde) eine eigene Sprache geschaffen (Letzeburgisch). Diese Sprache wird in Luxemburg institutionell der ganzen Bevölkerung vermittelt und hat dort den Status einer Amts- und Nationalsprache (vgl. Abschnitt 3.2). Letzeburgisch überdacht den moselfränkischen Dialekt also auf der luxemburgischen Seite, während dieser auf der deutschen Seite von der deutschen Standardsprache überdacht wird.
3.2 Staaten mit Deutsch als Amtssprache Wenn von Staaten mit Deutsch als Amtssprache die Rede ist, sind in der Regel folgende sieben Staaten gemeint, die hier zunächst in alphabetischer Reihenfolge genannt werden sollen: Belgien, Deutschland, Italien, Liechtenstein, Luxemburg, Österreich und
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die Schweiz (Ammon 2015, 207). Zu unterscheiden ist zudem, a) ob die Amtssprache gleichzeitig Erstsprache der Bevölkerungsmehrheit ist (dann spricht man auch von Nationalsprache oder – wie im Fall der Schweiz – von Landessprache), b) ob es sich um eine nationale oder regionale Amtssprache handelt und c) ob die Amtssprache solo-offiziell oder ko-offiziell ist (vgl. Ammon 2015, 199–207). Auf die oben genannten Staaten und die Sprache Deutsch bezogen ergibt das folgende Zuordnung: – Deutsch ist nationale Amtssprache und Erstsprache der Bevölkerungsmehrheit in Deutschland, Liechtenstein, Österreich und der Schweiz (n=4) – Deutsch ist nationale Amtssprache (n=5) in – Deutschland, Liechtenstein und Österreich, jeweils solo-offiziell – Luxemburg und der Schweiz, jeweils ko-offiziell (mit Französisch und Letzeburgisch bzw. mit Französisch, Italienisch und Rätoromanisch) – Deutsch ist regionale Amtssprache (n=2) in – Belgien (Deutschsprachige Gemeinschaft), hier solo-offiziell – Italien (Provinz Bozen-Südtirol), hier ko-offiziell (mit Italienisch) In einem eingeschränkten Sinne ist Deutsch auch Nationalsprache in Namibia (vgl. Ammon 2015, 205, vgl. Földes, Beitrag 12 in diesem Band). Der Terminus Nationalsprache wird verwendet, wenn sie eine der Erstsprachen „der Bevölkerungsmehrheit oder eines traditionell wichtigen, sich zum Land bekennenden Bevölkerungsteils ist – wobei letzterer Zusatz offenkundig viel Spielraum für unterschiedliche Festlegungen lässt“ (Ammon 2015, 155). Diese Definition von Nationalsprache erklärt wiederum, warum Deutsch trotz nationaler Amtssprache keine Nationalsprache Luxemburgs ist (schon weil nur wenige Luxemburger sich dazu als Muttersprache bekennen) und warum Deutsch bei nur regionaler Amtssprachlichkeit keine Nationalsprache Belgiens oder Italiens (eben wegen der Beschränkung auf eine – im Verhältnis zum ganzen Land – sehr begrenzte Region, die zudem erst nach dem Ersten Weltkrieg und sehr wahrscheinlich gegen den Willen der Mehrheit der dortigen deutschsprachigen Bevölkerung akquiriert wurde). (ebd.)
Ein notwendiges, wenn auch nicht hinreichendes Kriterium für den Amtssprachenstatus ist die Funktion von Deutsch als Unterrichtssprache über vereinzelte Schulen hinaus. Das ist auch das entscheidende Abgrenzungskriterium zu Deutsch als (anerkannte) Minderheitssprache. Einen solchen Status hat Deutsch außerhalb des Gebietes, in dem Deutsch Amtssprache ist, dort, wo allerdings zahlreiche Personen mit Deutsch als Erstsprache und/oder deutscher/österreichischer/Schweizer Herkunft leben. Es handelt sich hier um autochthone – dieses Kriterium ist wegen der möglichen Gewährung von Minderheitsrechten hervorzuheben – deutschsprachige Minderheitengruppen, die von Argentinien bis Venezuela in insgesamt 29 Staaten anzutreffen sind (für einen Überblick und detaillierte Beschreibung s. Ammon 2015, 298–405; Eichinger/Plewnia/Riehl 2008). Festzuhalten ist, dass auch in Staaten mit Deutsch als solo-offizieller, nationaler Amtssprache durchaus auf regionaler oder kommunaler Ebene andere autochthone
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Sprachen Amtssprachenstatus haben können. In Deutschland ist das der Fall mit Niederdeutsch (vgl. Stellmacher 2004; vgl. auch Fredsted, Beitrag 11 in diesem Band), Dänisch und Obersorbisch, in Österreich haben im südlichen Kärnten und in kleinen Teilen der Steiermark Slowenisch, in Teilen des Burgenlandes (Burgenland-)Kroatisch und Ungarisch regionalen Amtssprachenstatus (vgl. Ammon 2015, 215). Die österreichische Gebärdensprache (ÖGS) wird zudem seit 2005 im Bundes-Verfassungsgesetz ausdrücklich als eigenständige Sprache anerkannt.
3.3 Deutsch als plurizentrische bzw. pluriareale Sprache In einem wegweisenden Buch hat Ulrich Ammon (1995) mit einer umfassenden und differenzierten Darstellung zur „deutsche[n] Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz“ die theoretische und terminologische Grundlage für die Kategorisierung von Deutsch als plurizentrischer Sprache herausgearbeitet. Gleichzeitig deutet bereits der Untertitel Diskrepanzen an. Er lautet „Das Problem der nationalen Varietäten“. Eines der Probleme der nationalen Varietäten, d. h. der spezifischen standardsprachlichen Verwendung des Deutschen in Deutschland, Österreich und der Deutschschweiz, liegt in der differierenden, (sozio-)linguistischen Einschätzung. Linguistisch gesehen gehört Deutsch wie zahlreiche andere Sprachen auch (z. B. Englisch, Französisch, Spanisch oder Portugiesisch) zu den plurizentrischen Sprachen (vgl. Clyne 1992). Eine plurizentrische Sprache ist eine, die in mehreren Ländern den Status einer nationalen oder regionalen Amtssprache hat (s. Abschnitt 3.1) mit der Konsequenz, dass dadurch standardsprachliche Unterschiede existieren. Ammon/Bickel/Lenz (2016) unterscheiden in Bezug auf die deutsche Standardsprache sogenannte Voll-, Halb- und Viertelzentren, für die spezifische (d. h. nur für die jeweilige Standardvarietät geltende) nationale und regionale standardsprachliche Varianten des Deutschen empirisch belegt werden können.
In den Vollzentren sind die nationalen Varianten des Deutschen in eigenen Nachschlagewerken kodifiziert, in den Halbzentren dagegen nicht. In den Viertelzentren ist Deutsch nur Minderheitssprache und nicht staatliche Amtssprache, und die nationalen Varianten sind – wie in den Halbzentren – nicht kodifiziert. Jedoch handelt es sich nur dann um wirkliche Viertelzentren, wenn es dort auch nationale Varianten gibt, die 1) spezifisch sind für das betreffende Land oder die Minderheit, 2) regelmäßig in örtlichen Modelltexten, vor allem in Zeitungen, vorkommen und 3) von dortigen Sprachnormautoritäten (vor allem LehrerInnen) als für den öffentlichen Sprachgebrauch korrekt anerkannt werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es solche nationalen Varianten auch bei anderen deutschsprachigen Minderheiten gibt., z. B. in Dänemark, Ungarn, Polen oder Brasilien: aber bislang liegen dafür noch keine zuverlässigen Belege vor. (Ammon/Bickel/ Lenz 2016, XII f.)
Wenngleich sich standardsprachliche Varianten auf allen linguistischen Ebenen finden, so sind es doch vor allem die Varianten der Aussprache und im Wortschatz, an denen Akteurinnen und Akteure einem Zentrum zugeordnet werden können.
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In einigen wenigen Fällen, wie z. B. bei Korinthenkacker D, i-Tüpferlreiter A und Tüpflischeisser CH (vgl. Ammon u. a. 2004 und Ammon/Bickel/Lenz 2016, s. v.), fungieren die Staatsgrenzen dabei tatsächlich als (einzige) Sprachgrenzen – weitaus häufiger gelten nationale Varianten nicht in einem gesamten bzw. nicht ausschließlich in einem nationalen Zentrum (vgl. Hägi 2006, 51; Ammon 1995, 106 ff.). Neben dem plurizentrischen Konzept, das, wie oben erläutert, die gleichwertigen und von staatlichen Grenzen geprägten (nationalen) Standardvarietäten erfasst und von empirisch gestützten Arbeiten flankiert wird (vgl. Markhardt 2005; Hägi 2006; Kellermeier-Rehbein 2005; Ransmayr 2006; Schmidlin 2011; Wissik 2014; Ammon u. a. 2004; Ammon/Bickel/Lenz 2016), wird deswegen auch ein pluriareales Konzept (vgl. Ammon 1998; Scheuringer 1996; Seifter/Seifter 2015; Glauninger 2015) diskutiert. Dieses betont stärker die sprachlichen, grenzüberschreitenden Gemeinsamkeiten wie auch die Unterschiede innerhalb Deutschlands wie Österreichs. Auch diese Konzeptualisierung wird, wie Schmidlin/Wyss/Davies (2017, 20) konstatieren, durch einschlägige empirische Befunde gestützt (vgl. Elspaß 2005; Dürscheid/Elspaß/Ziegler 2015; Niehaus 2017). Die bisweilen auch stark emotional geführte Debatte um die Unterscheidung zwischen plurizentrisch und pluriareal verschleiert eine grundsätzliche Kompatibilität der beiden Konzepte, die durchaus von beiden Seiten her konstatiert wird (vgl. exemplarisch Ammon 1998 und Niehaus 2017, 64). Festzuhalten bleibt: „Die Plurizentrik ist kein Phantom“ (Schmidlin 2011, 300). Die Zuordnung eines standardsprachlichen Textes zu einem nationalen Zentrum nach linguistischen Kriterien ist ein Leichtes. Dennoch ist ein entsprechendes Bewusstsein in der deutschsprachigen Bevölkerung nur bedingt vorhanden. Gründe hierfür werden im folgenden Abschnitt erläutert.
3.4 Asymmetrische Verhältnisse: Zur Einschätzung nationaler Varietäten Deutschland ist der einzige Staat im amtlich deutschsprachigen Raum mit einer Übereinstimmung zwischen der Landesbezeichnung und des Sprachnamens (vgl. Ammon 2015, 209; Abschnitt 2.3). Deutschland hebt sich zudem deutlich ab durch die territoriale Größe sowie die wirtschaftliche und politische Stärke. Das führt auch sprachlich zu einem Dominanzverhältnis und einer „verbreiteten Selbstgewissheit […], dass dieses Land gewissermaßen über die deutsche Sprache gebietet“ (Ammon 2015, 211). Das deutsch(ländisch)e Standarddeutsch gilt als das neutralste und ‚korrekteste‘ (vgl. Ammon 1995; Scharloth 2005; Schmidlin 2011), was sich zum Beispiel bei der Varietätenwahl bei Übersetzungen ins Deutsche zeigt, im Korrekturverhalten von Lehrpersonen sowie als präferierte Varietät im Kontext von Deutsch als Fremdsprache (vgl. Abschnitt 3.5). Zurückzuführen ist diese Einschätzung auch auf die Tatsache, dass z. B. im Duden nationale Varianten Österreichs oder der Deutschschweiz genauso wie regionale Varianten angeführt sind, nicht aber Varianten, die für Deutschland spezifisch sind. Damit
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fallen sie zusammen mit den (gemeindeutschen) Konstanten, also Ausdrücken, die im (amtlich) gesamtdeutschsprachigen Raum gleichermaßen gelten. Dies wiederum suggeriert, dass deutschlandspezifische nationale Varianten im gesamtdeutschsprachigen Raum unmarkiert verwendet werden (können). Mit dem Variantenwörterbuch des Deutschen (Ammon u. a. 2004 und Ammon/Bickel/Lenz 2016) werden zum ersten Mal auch deutsch(ländisch)e Varianten, die als Deutschlandismen oder Teutonismen bezeichet werden, erfasst (zur Terminologie s. Schmidlin 2011, 89). Nach wie vor sind Eigenvarianten in Deutschland eher wenig bewusst und bekannt, Teutonismen fungieren in der Regel lediglich als Schibboleths. In Österreich und der Deutschschweiz werden hingegen nationale Varianten durchaus auch als Demonstrationszentrismen eingesetzt. Für Österreich wird zwar auf eine Ernsthaftigkeit in der Pflege der österreichischen Nationalvarietät hingewiesen (vgl. de Cillia/Wodak 2006), die sich beispielsweise in dem staatlich finanzierten Österreichischen Wörterbuch (1. Auflage 1951, 44. aktualisierte Aufl. 2022) zeigt wie auch mit der amtlichen Anerkennung einiger Austriazismen beim EU-Beitritt oder der Einrichtung eines Österreichischen Sprachdiploms Deutsch (ÖSD; vgl. Muhr 2000). In solchen Fällen steht jedoch stärker der Wunsch nach nationaler Eigenständigkeit, Unabhängigkeit und Abgrenzung zu Deutschland im Vordergrund als die Basis einer linguistisch fundierten Auseinandersetzung. Auch in der Ausbildung von Lehrpersonen spielt die Auseinandersetzung mit der eigenen nationalen Varietät – das gilt für Österreich, Deutschland und die Schweiz gleichermaßen – eine sehr marginale Rolle (de Cillia/Fink/Ransmayr 2017). So verwenden Lehrpersonen in Österreich beispielsweise in ihrem Berufsalltag deutlich häufiger den Duden, der im amtlich gesamtdeutschsprachigen Raum gilt, als das Österreichische Wörterbuch (ebd.). In Bezug auf die Schweiz fungiert zudem der Dialekt als Nationalsymbol, das Schweizer Standarddeutsche ist in dieser Funktion nachgeordnet (Ammon 1995, 301 ff.). Der diglossiebedingte Dialektgebrauch im Alltag führt denn bei der mündlichen Verwendung des Standarddeutschen auch häufig zu einem Unterlegenheitsgefühl Deutschen gegenüber. In der Begegnung mit ihnen ist zudem seitens der Deutschen nach wie vor die Auffassung weitverbreitet, dass es sich beim Sprechen von Schweizer Standarddeutsch um Dialektsprechen handelt.
3.5 Erst-, Zweit- und Fremdsprache: Deutsch als Schul-, Integrations- und Exportsprache Ein Staat schützt und fördert grundsätzlich seine Amtssprachen (Ammon 2015, 199). Die Standardsprache Deutsch ist in den deutschsprachigen Ländern institutionell verankert, ihre Verwendung ist z. B. im Rechts- und Schulsystem selbstverständlich und verbindlich. Mit und durch Deutsch werden immer auch nationalstaatliche, ökonomische und politische Interessen umgesetzt: Als hegemoniale Sprache ist Deutsch Mittel,
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um die soziale Ordnung im Nationalstaat aufrecht zu erhalten. Das zeigt sich besonders deutlich im Kontext von Deutsch als Zweitsprache: Sowohl in der Schul- als auch in der Erwachsenenbildung werden Deutschkenntnisse eingefordert. Als Beispiel dafür, dass solche Diskurse häufig verdeckt bzw. mit Stellvertreterfunktion geführt werden, soll hier der Verweis auf die viel bemühte Metapher Sprache als Schlüssel zur Integration genügen. In den Mittelpunkt gestellt wird mit einer solchen Metapher eine Bringschuld bei Personen, deren Erstsprache nicht Deutsch ist, sie sollen in ihrem eigenem Interesse Deutsch lernen und sich so integrieren. Das staatliche Interesse bzw. das Eigeninteresse der Mehrheitsgesellschaft bleiben dabei unerwähnt. So werden Paternalismus verschleiert und zahlreiche Beispiele ignoriert, die davon zeugen, dass die Kenntnis der deutschen Standardsprache eben nicht automatisch zu Akzeptanz oder Integration führt (vgl. Gorelik 2012; Ataman 2019). Aufschlussreich ist zudem die Tatsache, dass Deutsch mit ‚Sprache‘ gleichgesetzt wird. ‚Nicht Deutsch können‘ ist damit gleichbedeutend wie ‚keine Sprache können‘. Das ist auch der Fall bei der Bezeichnung ‚Sprachförderung‘ an Schulen, mit der in der Regel ausschließlich ‚Deutschförderung‘ gemeint ist. Eine solche Gleichsetzung von Sprache und Deutsch ist nur möglich, wenn andere Sprachen ausgeblendet werden. Die gesellschaftliche Relevanz und Funktion der Sprache Deutsch im amtlich deutschsprachigen Raum sollen hier nicht in Abrede gestellt werden. Zu unterscheiden ist jedoch, wann es wirklich um Sprache geht und wann um politische Mechanismen. Deswegen gilt es, Machtverhältnisse, Normalitätserwartungen und Zuschreibungen offenzulegen. Auch der Kontext Deutsch als Fremdsprache geht mit staatlichen (Wirtschafts-)Interessen einher, die jedoch, im Gegensatz zum individuellen Nutzen von DaF-Kenntnissen für Lernende, selten explizit thematisiert werden. Schonungslos listet Ammon neun Vorteile auf, die das Bemühen aller Staaten oder Sprachgemeinschaften erklären, „ihre eigene Sprache, deren Kenntnis und Gebrauch, soweit wie möglich in der Welt zu verbreiten“ und „diese Verbreitung, soweit sie es sich leisten können“ zu fördern (Ammon 2008, 10). Die Vorteile, von denen gemäß postkolonialen Einwirkungen nur bestimmte Sprachen und Räume profitieren, sind im Einzelnen: 1) 2) 3) 4) 5) 6)
bessere Wirtschaftskontakte – wer eine Sprache lernt, pflegt später eher Wirtschaftskontakte zum Mutterland Imageaufbesserung – wer [eine Sprache] lernt, entwickelt eher ein positives Bild vom Mutterland Kommunikative Vorteile – Kenntnisse der Sprache im Ausland erleichtern dort die Kommunikation Verbreitung eigener Werte und Kultur – wer eine Sprache lernt, rezipiert mehr Texte aus dem Mutterland und darüber auch dessen Werte und Kultur Gewinnung von ‚Humankapital‘ – Personen mit Kenntnissen der Sprache sind eher bereit, im betreffenden Mutterland oder für dieses zu arbeiten Aufwertung der eigenen Sprache – durch den Zuwachs von Sprechern, auch Fremdsprachlern, erhöht sich die kommunikative Reichweite und damit der Gebrauchswert der Sprache
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7) 8) 9)
Selbstverstärkung der Aufwertung – einer Sprache mit mehr Lernern oder Sprechern wachsen eher noch weitere Lerner zu Einnahmen aus der ‚Sprachindustrie‘ – es wird mehr Unterricht in der Sprache, und es werden mehr an die Sprache gebundene Waren verkauft Identitätsstärkung – durch die stärkere auswärtige Stellung der eigenen Sprache fühlen sich die Regierungen und Bürger aufgewertet und im Stolz auf Nation und Sprachgemeinschaft gestärkt. (Ammon 2008, 10)
Während die Schweiz explizit keine auswärtige Sprachenförderung betreibt, hat die auswärtige Deutschförderung Österreichs und Deutschlands eine langjährige Tradition (vgl. Ammon 2015; de Cillia 2019). Gleichwohl ist, aus naheliegenden Gründen, die Summe der jährlichen Investition bzw. staatlichen Subvention Deutschlands um ein Vielfaches größer als diejenige Österreichs. Im Sinne der oben aufgelisteten Gründe stehen Österreich und Deutschland durchaus in Konkurrenz mit ihrer auswärtigen Deutschförderung. Als Sprachgemeinschaft jedoch haben sie die gleichen Interessen und arbeiten entsprechend zusammen. Das zeigt sich nicht zuletzt in der Arbeit des Internationalen Deutschlehrerinnen- und Deutschlehrerverbands, die einen expliziten DACHL-Schwerpunkt aufweist (www.idv.org).
4 Geteilter Raum: Zum Gegeneinander, Nebeneinander und Miteinander von Sprachen und Varietäten im amtlich (auch) deutschsprachigen Raum Geteilter Raum kann in Bezug auf Mehrsprachigkeit in zwei Bedeutungen verstanden werden: Auf der einen Seite kann er als Raum verstanden werden, der in Bereiche unterteilt ist, die mehr oder weniger unabhängig voneinander, vor allem aber als getrennt voneinander wahrgenommen werden. So können etwa Sprachen und Varietäten einzeln in ihren Strukturen beschrieben und erfasst werden. Ein solches Verständnis von Mehrsprachigkeit findet sich häufig im schulischen Kontext, wenn etwa Einzelsprachen in separaten Fächern (Englisch, Französisch, Türkisch, …) unterrichtet werden. Mehrsprachigkeit wird hier ausgehend von Nationalstaaten gedacht und entsprechend durch deren Sprachenpolitik geprägt. Gekoppelt mit dieser Auffassung von Sprachraum ist zudem ein stark normatives und hierarchisches Verständnis von Sprachen und Varietäten, d. h. eine klare Vorstellung, wann und wo was richtig und falsch, angemessen und nicht angemessen verwendet ist. Als ‚falsch‘ gewertet wird denn in der Regel auch der gleichzeitige Gebrauch mehrerer Sprachen. Eine entsprechende Einordnung und Stigmatisierung ist z. B. in abwertenden Ausdrücken wie Sprachmischmasch oder doppelte Halbsprachigkeit erkennbar (zur Kritik daran s. Wiese/Tracy/Sennema 2020).
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Auf der anderen Seite kann geteilter Raum als ein ineinander verwobenes, integriertes Miteinander verstanden werden, im Sinne eines gemeinsamen Zugriffs auf dieselben Bereiche. Hier steht einem additiven Verständnis von Sprachen und Varietäten, die in unterschiedlichen Bereichen und getrennt voneinander verwendet werden (sollen), ein gänzlich anderes Verständnis von Mehrsprachigkeit gegenüber: Eines, das sowohl das Individuum im Blick hat als auch die (Migrations-)Gesellschaft als Ganzes sieht, Sprache und Sprachigkeit als Handlungskonzept denkt und das Sprachenrepertoire als Einheit erfasst. Ein solches Verständnis von Mehrsprachigkeit bricht mit der Vorstellung einer Entsprechung Sprache – Volk – Territorium, wie sie dem Gedanken des Nationalstaats zu Grunde liegt. Auch code-switching, das ebenfalls auf einem additiven Verständnis von Mehrsprachigkeit basiert und von der Norm eines monolingualen Menschen ausgeht, wird vor diesem Hintergrund nicht verstanden als ein Wechseln zwischen zwei oder mehr Sprachen bzw. Varietäten, sondern, im Sinne von translanguaging, als eine genuin mehrsprachige Praxis. Eine Praxis, die aus linguistischer Perspektive allerdings nicht einfach zu fassen ist (vgl. Auer 2019; Jaspers 2018). In jedem Fall hat das Teilen von Raum auch in Bezug auf Mehrsprachigkeit mit dem Aushandeln von Macht zu tun. Bis heute dominiert im amtlich deutschsprachigen Raum der monolinguale Habitus (vgl. Gogolin 1994), d. h. ein Verständnis von Nation als sprachlich und kulturell homogener Einheit. Das zeigen Studien mit ernüchternden Ergebnissen zu mehrsprachigkeitsdidaktischen Umsetzungen (Bredthauer/ Engfer 2018) sowie Daten zu Einstellungen zu lebensweltlicher Mehrsprachigkeit bei (angehenden) Lehrpersonen (Hägi-Mead u. a. 2021). Bis heute wird Mehrsprachigkeit mitunter als Bedrohung erlebt und bekämpft. Beispielhaft sei folgender Auszug aus einem Gruppeninterview mit Harun und Kerem und dessen Analyse angeführt:
H: Also wenn wir Türkisch sprechen, da kommt z. B., wenn ein Lehrer vorbei läuft, sagt er „hier ist ne deutsche Schule!“ K: Und da stell ich mir immer die Frage, sind wir wirklich Schule ohne Rassismus? Das ist sogar so’n, in der Mensa ist da so’n riesen Schild, da steht ‚Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage‘ aber wenn wir dann Türkisch reden, kommen die „wir sind hier, keine Fremdsprachen, wir sprechen alle Deutsch“. Das find ich irgendwie dumm.
Harun und Kerem haben gelernt, dass Türkisch zu sprechen den Normalitätserwartungen der ‚deutsche[n] Schule‘ an sie widerspricht. Türkisch ist eine ‚Fremdsprache‘, die jedoch nicht zu einem akzeptierten Kanon (wie etwa Englisch, Französisch oder Latein) gehört. Ihr Sprechen wird selbst außerhalb des Unterrichts sanktioniert. (Frank 2015, 26)
Ein solches Bekämpfen und Abwehren von Mehrsprachigkeit wird als Linguizismus bezeichnet, er kann, zum Beispiel als Sprachverbot, offen und explizit erfolgen oder, zum Beispiel als Sprachgebot, verdeckt und implizit (vgl. Dirim 2010; Skutnabb-Kangas/Philipson 1996):
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Der oben angesprochene linguicism, eine Spielart des Rassismus, sieht in ‚Minderheitensprachen‘ keinen positiven Wert, sondern ein Handicap, das die Lernenden hindere, das einzig Wertvolle, nämlich die Mehrheitssprache, zu erwerben […]. Er trachtet danach, ‚Minderheitensprachen‘ öffentlich unsichtbar zu machen, und wendet sich gegen alle Formen von symbolischer Mehrsprachigkeit. Ein monolingualer Habitus (Gogolin 1994) in Gesellschaft und im Bildungssystem bestärkt diesen linguicism und lässt ihn als natürlich und vernünftig erscheinen. (Wintersteiner 2019, 210)
Hier setzt Migrationspädagogik (Mecheril u. a. 2010) an, aber auch die Friedenspädagogik (Wintersteiner 2019). Beide befassen sich „kritisch mit dem Postulat der Homogenität, der Abwehr von Mehrsprachigkeit und der Hierarchisierung der Sprachen“ und benennen „den damit verbundenen Gewaltaspekt“ (ebd., 210). Für die Ausbildung von Lehrpersonen wird mit Bezug zur lebensweltlichen Mehrsprachigkeit und im Kontext von Deutsch als Zweitsprache entsprechend Rassismuskritik als Professionskompetenz eingefordert (vgl. Massumi/Fereidooni 2017; Grünheidt/Nikolenko/ Schmidt 2020).
5 Zusammenfassung Aufgrund unterschiedlicher Perspektiven auf Mehrsprachigkeit ist es hilfreich, zu Sensibilisierungs- und Analysezwecken einen Plural Mehrsprachigkeiten zu bilden und einzelne ‚Arten‘ von Mehrsprachigkeit in Bezug auf Annahmen, Normverständnis und Praxen genauer in den Blick zu nehmen. Eine dieser Perspektiven auf Mehrsprachigkeit im amtlich deutschsprachigen Raum ist die innersprachliche Mehrsprachigkeit. Hier können in Bezug auf die kommunikative Reichweite diatopische, in Bezug auf die soziale Reichweite diastratische und in Bezug auf die funktionale Reichweite diaphasische Varietäten voneinander unterschieden werden. Der Beitrag geht vor allem ein auf die areale standardsprachliche Varianz und erläutert die Plurizentrik. (Standard-)Deutsch ist in mehreren Ländern ‚zu Hause‘. Akteurinnen und Akteure des Deutschen lassen sich vor allem durch Aussprache im amtlich deutschsprachigen Raum national und regional verorten und zuordnen. Die nationalen Varietäten des Deutschen stehen dabei in einem asymmetrischen Verhältnis zueinander. Vor diesem Hintergrund passiert es Deutschsprachigen, die z. B. österreichisches oder Schweizer Standarddeutsch verwenden, dass ihnen vor allem in einem deutschen oder internationalen Kontext die ‚wahre‘ standardsprachliche Kompetenz abgesprochen wird, während sie bei Deutschen und in Bezug auf eine (Standard-)Varietät Deutschlands deutlich weniger in Frage gestellt wird. Vor allem in der Aus- und Weiterbildung von Lehrenden, sei es im Kontext von Deutsch als Erst-, Zweit- oder Fremdsprache, wird aus linguistischer Perspektive entsprechend eine grundlegende Sensibilisierung für und im Umgang mit nationalen Varietäten eingefordert. Im amtlich deutschsprachigen Raum bleiben vor allem allochthone Sprachen eher unsichtbar bzw. werden stigmatisiert: Lebensweltlicher Mehrsprachigkeit
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wird durchaus auch mit Linguizismus begegnet, weswegen zusätzlich zu einem DaZ-Schwerpunkt in der Ausbildung von Lehrpersonen eine rassismuskritische Auseinandersetzung naheliegt. Aktuelle Studien zeigen zwar gerade bei angehenden Lehrpersonen eine oberflächlich positive Einschätzung von Mehrsprachigkeit, was jedoch nicht heißt, dass von denselben Personen nicht auch gegenteilige und von othering geprägte Äußerungen in den Daten vorliegen. Ein Wert wird Migrationssprachen bislang vor allem dann beigemessen, wenn sie dem Erwerb der Zielsprache Deutsch dienen oder wenn sie im internationalen Kontext wirtschaftlich von Nutzen sind. Eine weitere Perspektive auf Mehrsprachigkeit ist das Konzept des languaging, das die gesellschaftliche Mehrsprachigkeit nicht additiv in Einzelsprachen und ihren Normvorstellungen davon versteht, sondern als Handlungsraum, in dem das gesamte zur Verfügung stehende sprachliche Repertoire genutzt werden kann. Je nachdem, welches Mehrsprachigkeitsverständnis im Vordergrund steht, mit dem man auf den amtlich deutschsprachigen Raum schaut, erkennt man unterschiedliche Aspekte des Gegeneinanders, Nebeneinanders und Miteinanders von Sprachen und Varietäten, die in Migrationsgesellschaften präsent sind. Innersprachliche und äußere Mehrsprachigkeit, nationalstaatlich organisierte und individuell wie gesellschaftlich handlungsorientierte Mehrsprachigkeiten sollten zusammengedacht werden, will man dem amtlich deutschsprachigen Raum gerecht werden.
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11. Autochthone Minderheiten im deutschen Sprachraum Abstract: In diesem Aufsatz soll die mehrsprachige Situation von fünf autochthonen Minderheiten dargestellt werden: der dänischen Minderheit in Schleswig südlich der deutsch-dänischen Grenze, der deutschen Minderheit in Schleswig nördlich derselben Grenze, der Nordfriesen im südwestlichen Schleswig, der Saterfriesen in Niedersachsen und der Sorben in Sachsen und Brandenburg. Zu den anerkannten Sprachminderheiten in Deutschland gehört auch die Volksgruppe der Sinti und Roma, deren Mehrsprachigkeit hier leider nicht behandelt werden kann, da der Autorin die Voraussetzungen für eine tiefergehende Behandlung fehlen. Den Schwerpunkt bildet die Darstellung der Mehrsprachigkeitsverhältnisse in Schleswig, weil hier verbreitete Mehrsprachigkeit sowie intensiver Kultur- und Sprachkontakt eine jahrhundertelange Geschichte haben und immer noch als offene oder verdeckte Mehrsprachigkeit den Sprachgebrauch weiter Teile der Bevölkerung kennzeichnen – unabhängig davon, ob diese Personen nach der nationalen Grenzziehung 1920 im nördlichen oder südlichen Teil Schleswigs leben. 1 2 3 4 5 6 7 8
Unterschiedliche Arten von Minderheiten – unterschiedliche Arten von Mehrsprachigkeit? Die nationalen Minderheiten in Schleswig Nordfriesisch Verdeckte Mehrsprachigkeit in Schleswig Saterfriesisch Sorbisch Schlusswort Literatur
1 Unterschiedliche Arten von Minderheiten – unterschiedliche Arten von Mehrsprachigkeit? In den Sozialwissenschaften wird zwischen den autochthonen und den allochthonen Minderheiten unterschieden. Der Begriff autochthone Minderheit (griechisch αὐτός, ɑutos [selbst], χθών, chthon [Erde]) bezeichnet eine Volksgruppe, die nicht durch Zuwanderung die Staatsbürgerschaft oder den Status einer Minderheit erreicht hat, sondern am Ort, wo sie lebt, gewissermaßen eingeboren oder zumindest schon sehr lange ansässig ist. Wie lange eine Minderheit in einem Land oder einer Region ansässig sein muss, um als autochthone Minderheit zu gelten, bleibt aber umstritten. Der Gegenbegriff zu autochthon ist allochthon (griechisch ἄλλος, allos [anders, verschieden], χθών, chthon [Erde]). Hiermit bezeichnet man in den Sozialwissenschaften https://doi.org/10.1515/9783110623444-011
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Menschen fremder Herkunft oder Abstammung. Während der Begriff autochthon solche Minderheiten bezeichnet, die auf Grund endogener politisch-historischer Prozesse entstanden sind, meint der Begriff allochthone Minderheiten jene, die exogen auf Grund von Wanderung, Vertreibung, Flucht oder Arbeitsmigration entstanden sind. Mit den autochthonen Minderheiten verbindet man traditionell eine relativ stabile mehrsprachige Situation, mit den allochthonen dagegen Situationen des Sprachwechsels. Hier soll jedoch auch zwischen zwei Typen von autochthonen Minderheiten unterschieden werden: Einerseits gibt es die eigentlichen Kultur- und Sprachminderheiten (wie die Friesen und die Sorben), andererseits die historisch-nationalen Minderheiten (dänische Minderheit im südlichen und die deutsche Minderheit im nördlichen Schleswig), die nicht unbedingt als Sprachminderheiten zu kategorisieren wären. Diese gerieten durch die Grenzziehung mitten durch das mehrsprachige Schleswig im Jahr 1920 sozusagen auf die ‚falsche‘ Seite einer nationalen Grenze und sind heute Bürger ihres jeweiligen Wohnsitzlandes. Im Gegensatz zu den Kultur- und Sprachminderheiten der Friesen und Sorben sind sich die nationalen Minderheiten eines angrenzenden Staates gewiss, der finanzielle Unterstützung leistet und damit ermöglicht, dass sie über ein eigenes Bildungssystem verfügen, sodass die Voraussetzungen für eine stabile mehrsprachige Situation ungleich besser sind als bei den Minderheiten, die keinen unterstützenden Staat haben.
2 Die nationalen Minderheiten in Schleswig 2.1 Die Sprachsituation Es scheint nur auf den ersten Blick nicht ganz formal korrekt, den seit 1920 zu Dänemark gehörenden Teil von Schleswig dem deutschen Sprachraum zuzurechnen; jedoch war das alte Herzogtum Schleswig als Ganzes ab Mitte des 13. Jahrhunderts von unterschiedlichen Varietäten des Deutschen stark geprägt: Mittelniederdeutsch, Niederdeutsch und später Standarddeutsch waren Umgangssprachen im südlichen Teil des Herzogtums, jedoch Handels-, Verwaltungs-, Kultur- und Schriftsprachen in ganz Schleswig vom späten Mittelalter bis 1920. Die Sprachsituation in der seit 1920 geteilten Region Schleswig ist insofern besonders, weil ethnische, soziale oder religiöse Unterschiede oder mögliche andere Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen heutzutage kaum eine Rolle spielen. Auch ist die allgemeine Haltung gegenüber Mehrsprachigkeit in dieser traditionell mehrsprachigen Region, in der auch die nordfriesische Volksgruppe lebt (siehe Kap. 3), überwiegend positiv. Seit der Festlegung der deutsch-dänischen Landesgrenze im Jahre 1920, die nach einer Volksabstimmung Schleswig ungefähr in der Mitte geteilt hat, fungieren die beiden (durch diese Grenzziehung erst entstandenen) nationalen Minderheiten als die primären Träger des regionalen deutsch-dänischen Sprachkontakts. Beide sind sogenannte Gesinnungsminderheiten, die als Grundlage einer Mitgliedschaft
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nur ein persönliches Bekenntnis des Einzelnen zur jeweiligen Minderheit fordern: „Minderheit ist, wer Minderheit sein will“. Die sprachlichen Bedingungen für diese Minderheiten entsprechen sich auf zwei Ebenen: Auf der übergeordneten, von staatlicher Seite geregelten Ebene (die Bonn-Kopenhagener-Erklärungen von 1955 bilden die vertragliche Grundlage) sowie auf der Ebene täglicher Kommunikation. Die offizielle Sprache der Minderheit, die auch als Schulsprache dient, bildet für einen Großteil der Mitglieder der jeweiligen Volksgruppe die Zweitsprache, während die informelle Umgangssprache der umgebenden Gesellschaft die Erstsprache darstellt. Die folgenden Ausführungen gehen auf eigene Daten und Analysen der Verfasserin zurück: Es handelt sich um zwei DFG-Projekte aus den Jahren 2004–2006 („Divergierender Sprachgebrauch unter bilingualen Jugendlichen“) und 2009–2014 („Mehrsprachigkeit im Spannungsfeld zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“). Die dänische Minderheit stellt eine recht heterogene Gruppe von ca. 45 000 bis 50 000 Personen dar. Kühl (2004) beschreibt die Struktur der dänischen Minderheit als drei konzentrische Kreise, welche die subjektive Einstellung zur Minderheit darstellen: Im inneren Kreis gibt es eine starke Identifikation mit dänischer Sprache, Kultur und Tradition (membership). Im mittleren Kreis stimmen Sprache und nationale Identifikation nicht unbedingt überein, aber diese Mitglieder fühlen sich der Minderheit zugehörig (affiliation). Im äußeren Kreis ist die Intensität der subjektiven Identifikation mit Dänemark sowie das Gefühl der Zugehörigkeit zur Minderheit schwächer ausgeprägt (affinity) (ebd., 327). Von einem sprachlichen Gesichtspunkt aus befindet sich im inneren Kreis die überwiegend Dänisch sprechende Kernminderheit. Viele Personen aus diesem inneren Kreis sind in den Institutionen der Minderheit tätig. Zu dieser Gruppe gehören die (oft aus Dänemark eingeführten) Lehrkräfte der 43 dänischen Schulen. Der mittlere Kreis besteht aus Personen und Familien mit unterschiedlichen Abstufungen von Zugehörigkeit zur dänischen Sprache und Kultur. Die meisten pflegen einen funktionalen bilingualen Sprachgebrauch mit Deutsch (z. B. in der Familie und am Arbeitsplatz) und Dänisch (im Kontext von Institutionen der Minderheit). Im äußeren Kreis befinden sich überwiegend Deutsch sprechende Familien. In diesem Kreis finden wir Eltern, die sich von den pädagogischen Einrichtungen der Minderheit angesprochen fühlen und ihre Kinder deswegen in dänischen Institutionen und Bildungseinrichtungen anmelden. Die Gruppe des äußeren Kreises spricht hauptsächlich Deutsch, obwohl einige von ihnen durch ihre Kinder oder durch Dänischkurse für Eltern eine gewisse Kompetenz der dänischen Sprache erwerben. In der dänischen Minderheit ist Standarddänisch (StDä) sowohl offizielle Sprache als auch Unterrichtssprache. In informellen Situationen verwenden die Informanten unserer Untersuchungen überwiegend die norddeutsche Umgangssprache. Die deutsche Minderheit in Nordschleswig besteht aus ca. 15 000 Personen; damit ist sie kleiner und homogener als die dänische Minderheit. In der deutschen Volksgruppe wird die autochthone Vernakularsprache Sønderjysk (SJ) als informelle Umgangssprache allgemein akzeptiert. Jedoch verwendet die deutsche Volksgruppe Standarddeutsch (StDt) als ihre offizielle Sprache und als Unterrichtssprache. Da SJ je
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doch über keine standardisierte Orthografie verfügt, verwenden Schreiber mit SJ als Erstsprache zum Teil StDä zur Verschriftlichung von SJ. Was von SJ sprechenden Personen auf StDä geschrieben wird, mag also möglicherweise zunächst auf SJ konzipiert worden sein (vgl. Fredsted 2015). Charakteristisch für beide Minderheiten ist, dass Familiensprache und offizielle Minderheitssprache selten übereinstimmen. In Nordschleswig kommt hinzu, dass die Mitglieder der Minderheit zu Hause überwiegend SJ sprechen, das sich lexikalisch, phonologisch und morphologisch erheblich von beiden Standardsprachen unterscheidet. Beide Schulsysteme der Minderheiten haben ähnliche sprachpolitische Ziele: nämlich eine hohe Kompetenz in beiden Standardsprachen (StDt und StDä) sowie eine funktionale Trennung der Sprachen (doppelter Monolingualismus). Sie vertreten somit eine ablehnende Haltung gegenüber sogenannten ‚Sprachmischungen‘. Personen, welche die pädagogischen Einrichtungen der Minderheiten besucht haben, sind überwiegend früh sukzessiv bilingual, da sie vor ihrer Schulzeit fast ausnahmslos einen Minderheitenkindergarten besucht haben, in dem sie mit der offiziellen Minderheitssprache und -kultur in Berührung gekommen sind. Die dominierende Erstsprache ist also oft die jeweilige regionale umgangssprachliche Varietät, die Schrift- und Schulsprache dagegen die offizielle Minderheitssprache (meistens Zweitsprache, auch als ‚Gesinnungssprache‘ bezeichnet), also eine Varietät der Standardsprache des jeweiligen Nachbarlandes. Sprachsituation: Tab. 1: Deutsche Minderheit, Nordschleswig Mündliche Varietäten
Schriftsprachen
Offizielle Sprache, Unterrichtssprache
Nordschleswigdeutsch (NSD)
Standarddeutsch (StDt)
Standarddeutsch (StDt)
Standarddänisch (StDä)
Standarddänisch (StDä)
Nordschleswigsønderjysk (NSJ)
Tab. 2: Dänische Minderheit, Südschleswig Mündliche Varietäten
Schriftsprachen
Standarddeutsch (StDt)
Standarddeutsch (StDt)
Offizielle Sprache, Unterrichtssprache
Sydslesvigdansk (SüDä, Kontaktvarietät) Standarddänisch (StDä)
Standarddänisch (StDä)
Standarddänisch (StDä)
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Im schriftlichen Bereich sind die beiden Hochsprachen StDt und StDä vertreten. Seit wenigen Jahren gibt es jedoch unter den jüngeren Mitgliedern der deutschen Minderheit immer mehr Menschen, die auf SJ schreiben. Es handelt sich dabei um eine phonetische Transkription ihres mündlichen Sprachgebrauchs – ein Phänomen, das vor allem in den sozialen Medien zu finden ist.
2.2 Kurze Charakteristik der mündlichen Kontaktvarietäten Südschleswigdänisch (SüDä): Das von vielen Angehörigen der dänischen Minderheit gesprochene Dänisch ist weder SJ noch ein überregionales StDä, sondern das sogenannte Südschleswigdänisch. In der Ausprägung und der Verwendung von SüDä gibt es erhebliche individuelle Unterschiede, sodass SüDä kaum als Varietät, sondern eher als Idiolekt zu bezeichnen ist: Während das SüDä einiger Minderheitsangehöriger in hohem Maß Züge des Sprachkontakts aufweist, ist es bei anderen eine vom Deutschen zwar beeinflusste, aber dem StDä sehr nahe Sprachform, die sich eventuell nur in der Prosodie vom StDä abhebt. In der Phonologie unterscheidet sich SüDä vom StDä besonders in der Realisierung der Vokale: Die Reibung der beiden Vokalsysteme kommt dadurch zu Stande, dass sich das deutsche Vokalinventar und das dänische im Bereich der Kurzvokale nicht decken. Jedoch verfügt das SüDä über kein festes, eigenes Phoneminventar; und nicht alle phonologischen Abweichungen kommen bei jedem Sprecher vor. Besonders in der Intonation zeigen sich Unterschiede zum StDä: StDä zeigt in Fragesätzen (Entscheidungsfragen) und in nicht-terminalen Sätzen eine gleichbleibende Intonation, während Deutsch eine am Ende des Satzes lokal steigende Intonation aufweist. In terminalen Sätzen hat StDä einen global fallenden Intonationsverlauf, während Deutsch in terminalen Sätzen erst am Ende des Satzes eine lokal fallende Intonation zeigt. Untersuchungen mit einem Sprachanalyseprogramm belegen, dass Sprecher des SüDä die deutsche, lokal fallende Intonation verwenden und die letzte Starkdrucksilbe dehnen (Satzakzent); außerdem ist eine lokal steigende Intonation in nicht-terminalen Sätzen sowie in Entscheidungsfragen festzustellen (Fredsted 2008; 2011). In der Morphologie des SüDä zeigen sich Unterschiede zum StDä durch die unregelmäßige Zuordnung von Genus (zwei dänische Genera). Dieses Merkmal ist jedoch typisch für Sprecher, die nicht von der frühen Kindheit an mit der dänischen Sprache Kontakt hatten. Sprecher verwenden bevorzugt das vorangestellte dän. Demonstrativpronomen als Ersatz für den enklitisch-nachgestellten definiten Artikel. Außerdem gibt es Unterschiede im Tempusgebrauch: Charakteristisch ist, dass im SüDä (abweichend vom Dänischen) Perfekt für abgeschlossene Handlungen der Vergangenheit gebraucht wird, während man im Dänischen Präteritum erwarten würde. Außerdem verwenden SüDä-Sprecher oft Präsens als Signal für eine nicht-abgeschlossene Handlung oder einen Zustand, während die Tempusregeln des Dänischen ein Perfekt fordern.
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Die Syntax des SüDä unterscheidet sich vom StDä primär in der Platzierung der adverbialen Bestimmungen. Dies liegt in der unterschiedlichen Konstruktion des deutschen und dänischen Satzbaus begründet. Die Wortstellung des Dänischen ist – anders als das deutsche Satzklammerprinzip – nach einem ‚Kontaktprinzip‘ aufgebaut, sodass die vom Hauptverb abhängigen Satzglieder sich abhängig von der Stärke ihrer semantisch-syntaktischen Beziehungen von links nach rechts an das Verb reihen. Im Deutschen verläuft die Wortstellung spiegelbildlich hierzu, indem die Satzglieder sich von rechts nach links je nach der Stärke ihrer semantisch-syntaktischen Beziehung zum Hauptverb an dieses reihen (Fredsted 1987). Das SüDä folgt in der Syntax tendenziell eher dem deutschen Prinzip, jedoch ohne Schlussstellung des infiniten Verbs. Die Unterschiede zwischen dem StDä und SüDä treten deutlich in den Entlehnungen aus dem Deutschen zu Tage. Es handelt sich um Lehnübersetzungen, die (a) anstelle vorhandener dänischer Begriffe oder Phrasen verwendet werden (z. B. husmester statt dä. vicevært [Hausmeister]), (b) Lehnübersetzungen, die einen Begriff bilden, den es im Dänischen nicht gibt, also Wörter mit uniker Referenz wie z. B. Landdagen (der Schleswig-Holsteinische Landtag) und (c) Lehnübersetzungen, die einen Begriff bilden, der im StDä zwar vorkommt, aber eine andere Bedeutung aufweist (z. B. fraktion statt dä. Partigruppe, das Wort fraktion bezeichnet im Dänischen eine Abspaltung innerhalb einer Partei). Außerdem werden in dänischer Matrixsprache zahlreiche lexikalische Insertionen aus dem Deutschen verwendet. Nordschleswigsønderjysk: Nordschleswigsønderjysk (NSJ) ist die dominierende Umgangssprache der deutschen Minderheit in Nordschleswig. Im SJ, das von der deutschen Minderheit gesprochen wird, findet sich ein deutscher Einfluss, der auf die Mehrsprachigkeit der Sprecher zurückzuführen ist. Dieser Einfluss macht sich sowohl in phonologischer als auch in struktureller und lexikalischer Hinsicht bemerkbar. Sehr häufig kommen Einzellexeme als Insertionen aus dem Deutschen, aber auch Lehnübersetzungen und Lehnübertragungen vor. Häufige Konvergenzen sind vor allem Verbalkonstruktionen mit law, die deutsche Konstruktionen mit machen als Muster haben. Law als Hauptverb bildet eine syntaktische Lücke für ein Objekt. Das Objekt hat dann oftmals die Form einer Insertion oder einer Lehnübersetzung. So ersetzt law + Objekt semantisch präzisere Verben oder syntaktisch komplexere Verbalkonstruktionen, wie beispielsweise law undevisning oder law Unterricht anstelle von underviis (unterrichten), law Vorbereitung statt des reflexiven Verbs forbereej sæ (sich vorbereiten). Auch die Übernahme von deutschen Verbalpartikeln bei Partikelverben ist sehr charakteristisch für die nordschlewigsønderjyske Kontaktvarietät; diese sind z. T. fest integriert: z. B. løjs for (vorlesen) statt løjs op, snak æve, griin æve (über etwas sprechen, lachen) statt SJ snak om/griin a. Nordschleswigdeutsch: Nordschleswigdeutsch (NSD) ist die regionale Varietät des StDt, die in Nordschleswig von den Mitgliedern der deutschen Minderheit neben SJ verwendet wird. Diese Varietät des Deutschen weist eine hohe Frequenz an Sprachkontaktphänomenen auf (siehe 2.3). Typischerweise handelt es sich um Lehnüberset
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zungen und Phraseologismen aus dem SJ, die von den Sprechern als zur deutschen Sprachnorm gehörend aufgefasst werden. Beispiele hierfür sind: Das kannst Du nicht bekannt sein für das ist nicht nett von Dir oder das gii ich nicht für dazu habe ich keine Lust. Auch die Verwendung des Modalverbs sollen für Vorsätze und für die Bildung des Futurs ist (wie im regionalen StDt in ganz Schleswig) für das NSD charakteristisch.
2.3 Sprachgebrauch In den Forschungsprojekten seit 2004 war es unser Ziel, den Sprachgebrauch und die mehrsprachlichen Praktiken von Angehörigen der beiden nationalen Minderheiten nördlich und südlich der Grenze zu analysieren. Im Fokus standen von Anfang an die (trotz der ähnlichen institutionellen und sprachlichen Bedingungen) auffällig unterschiedlichen sprachlichen Praktiken in den beiden Minderheiten, wenn es um die – intendierte und nicht-intendierte, ‚offene‘ und ‚verdeckte‘ – Verwendung von Sprachkontaktphänomenen ging. Eines der Ergebnisse der ersten Studie aus den Jahren 2004–2006 zeigt eine auffällige Divergenz: Klassischer Kodewechsel (d. h. das Einsetzen eines sog. content morpheme der Sprache B in die Matrixsprache A) kommt sehr häufig in der Sprache von Jugendlichen der deutschen Volksgruppe in Nordschleswig vor (Myers-Scotton 1993). Unsere Schüleraufnahmen aus der deutschen Minderheit (vier Schulklassen der Jahrgänge 6 und 7) weisen im Durchschnitt alle 48 Sekunden einen Kodewechsel auf. Diese Zahl bezieht sich auf beide mündliche Varietäten der Schüler (StDt und SJ); und es gibt keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich der Distribution zwischen den beiden Matrixsprachen oder der Richtung des Kodewechsels (Westergaard 2008). Unsere Informanten aus der dänischen Minderheit (ebenfalls vier Schulklassen derselben Jahrgänge) verwenden weniger Kodewechsel, nur alle 120 Sekunden im Durchschnitt. Auch hier handelt es sich in den meisten Fällen um einzelne lexikalische Einheiten (Kühl 2008). In den Daten aus Nordschleswig beträgt die Zahl der Konvergenzen 503, von denen aber viele als etablierte, hochfrequente phraseologische Lehnübertragungen aus dem SJ zu betrachten sind (siehe 2.2). Eine spontane, ad hoc gebildete Konvergenz erscheint alle 342 Sekunden, gleichmäßig auf beide mündlichen Varietäten (StDt und SJ) verteilt. Verglichen hiermit sind die Mitglieder der dänischen Minderheit hochfrequente Nutzer konvergenter Konstruktionen: In den Daten aus den dänischen Minderheitenschulen findet sich im Durchschnitt eine Konvergenz alle 162 Sekunden, also mehr als doppelt so oft. Zusammengefasst: Die Schüler der deutschen Minderheit verwenden häufiger Kodewechsel; die Sprecher der dänischen Minderheit praktizieren dagegen eher konvergente Konstruktionen, insbesondere wenn sie Dänisch sprechen. Solche ‚gemischte‘ Konstruktionen können sehr oft auf der Grundlage eines syntaktischen Einflusses des Hauptverbs der anderen Sprache erklärt werden. Die beiden
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folgenden Beispiele illustrieren dies recht deutlich: Ein Schüler aus der dänischen Minderheit mit Deutsch als Erstsprache äußert folgendes: Bsp. (1): mig fejl-er tre opgave-r Pron./1. Sing./Dativ: Benefactiv – Verb+Präs. – Num. – Nomen+Pl.
Dies ist eine direkte Übertragung des deutschen Satzes: Mir fehlen drei Aufgaben. StDä wäre jedoch: jeg mangl-er tre opgave-r Pron./1. Sing./Nominativ – Verb+Präs. – Num. – Nomen+Pl.
Im heutigen Dänisch haben Pronomina keine Dativdeklination; man unterscheidet zwischen der Nominativform (jeg) und der obliquen Form (mig). Jedoch verwendet Dänisch auch Nominativ für Subjekte, die nicht Agens sind, wie hier als experiencer-Subjekt. Parallel dazu fanden wir in den Daten aus einer deutschen Schulklasse in Nordschleswig folgendes von einem Schüler mit SJ und Deutsch als Erstsprachen: Bsp. (2): Ich fehl-e nur noch ein-e linje oder so Pron./1. Sing./Nom. –Verb+Präs. – Adverbial –Artikel+Nomen: Fem.Sing. –Konj. – Adv
Diese Äußerung ist genauso deutlich auf dem Substrat von SJ gebildet: Æ mangl-e kun en linje helle såen nowe Pron./1. Sing./Nom. –Verb+Präs. –Adverbial – Artikel+ Nomen:Fem.Sing.– Konjunkt. – Adv
Deutsch dagegen: Mir fehlt eine Zeile. Die beiden Fälle spiegeln sich: Es wird die Verbvalenz einer jeweils anderen Sprache benutzt, sodass man argumentieren kann, dass das Bsp. (1) Deutsch als Matrixsprache hat. Auf der lexikalischen Ebene ist alles dänisch, jedoch die syntaktische Struktur ist deutsch. Das Beispiel enthält zusätzlich noch eine lexikalische Lehnübertragung, die einen falschen Freund darstellt: fejle im Dänischen bedeutet (neben der gemeinsamen Bedeutung an etwas leiden) irren, aber nicht fehlen. Im Bsp. (2) haben wir einen Kodewechsel aus dem SJ (linje), jedoch bleibt sonst ebenfalls die lexikalische Ebene hier deutsch. Die Matrixsprache, welche die syntaktische Struktur liefert, ist SJ. Als Erklärung für die o. a. Divergenz hinsichtlich der Häufigkeit der Sprachkontaktphänomene schien uns die Annahme plausibel, dass Kodewechsel in Nordschleswig eine größere Akzeptanz findet, weil sich die Mitglieder der deutschen Minderheit mit den beiden von ihnen benutzten mündlichen Varietäten identifizieren können. Auch konnten wir beobachten, dass Kodewechsel zum Deutschen in den Schulklassen der dänischen Minderheit wenig Akzeptanz findet, weshalb die Schüler z. T. auf Lehnübersetzungen und Ad-hoc-Konvergenzen zurückgreifen mussten. In den Aufnahmen von jungen Erwachsenen aus beiden Minderheiten 2009–2010 war die Häufigkeit der Konvergenzen bei den Probanden der dänischen Minderheit zurückgegangen, was die o. a. Hypothesen unterstützt. Das bedeutet jedoch nicht, dass die beiden Gruppen von Probanden sich angenähert hätten, was ihre sprach-
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lichen Praktiken betrifft. Die Daten der jungen Erwachsenen zeigen Tendenzen, die auf eine differenzierte Identifikation mit der jeweiligen Minderheit schließen lassen (siehe 2.1). Der Fokus in der Mehrsprachigkeitsforschung liegt gewöhnlich auf der Wahl des bilingualen Sprechers bezüglich der Basis- oder Matrixsprache: Welche Varietät wählt der Mehrsprachige in einer bestimmten Situation aus seinem Repertoire als Matrixsprache und warum? Die Antwort auf diese Frage ist oft im eigentlichen Sinne pragmatisch begründet: Es kann sich um eine adressatenbezogene und/oder diskursbezogene Wahl handeln: die Sprache des Freundes- oder Familienkreises, die Sprache, in der ich lieber, besser etc. über ein bestimmtes Thema sprechen/schreiben kann. Oder die Wahl ist dadurch begründet, dass eine Sprache die adäquate kommunikative Reichweite aufweist und von den Personen verstanden wird, die der Sprecher/Schreiber gerne als Adressaten oder Dialogpartner haben möchte. Hier soll jedoch auf die pragmatische Funktion der weniger verwendeten Sprache, also auf die Funktion der Sprache(n), die das Material für den Kodewechsel liefert/n, eingegangen werden. Im Folgenden werden als Beispiel einige informelle mündliche Daten kurz dargestellt, bei denen der Fokus auf soziale Implikationen der embedded language liegt. In diesem Zusammenhang erweitert sich gleichzeitig der analytische Blickwinkel von sprachstrukturellen Betrachtungen in Bezug auf den Kodewechsel hin zur sozialen Bedeutung. Daten von zwei Gruppen (aus einem Korpus von 54 Probanden) wurden hier ausgewählt, um exemplarisch den Unterschied im informellen Sprachgebrauch darzustellen (für eine umfassende Darstellung der Daten und Methodik siehe Fredsted 2016 und 2018). Es handelt sich um informelle Daten von einer Gruppe aus der dänischen Minderheit und einer Gruppe aus der deutschen Minderheit. Die erste Gruppe besteht aus drei ehemaligen Flensburger Schulfreundinnen (A, L und F), die zur Zeit der Aufnahmen (2010) in Kopenhagen studierten und wohnhaft waren (Transkriptionskonvention in Anlehnung an Psathas 1995). (Deutsch recte, Dänisch kursiv) 1. A: ja damit bin ich so hammeroft konfronteret ähh konfrontiert worden (.) in 2. der letzten zeit. 3. L: die Dänen fragen ob man nur hier studiert wegen des geldes, näh? 4. A: das ist in letzter zeit oft passiert. 5. F: (…) was man sagen soll? so habe ich das auch immer gesagt, wenn ich 6. gefragt werde, warum ich in Dänemark studiere sage ich ach weil ich hier 7. SU krieg. Wenn das kein guter grund ist? 8. L: ja, ich antworte ich fühl mich mit dem dänischen system irgendwie attached [lacht] 9. A: de spurgte om jeg overhovedet er berettiget til at få SU og dansk mindretal bla bla (sie fragten ob ich überhaupt einen Anspruch auf SU (dänische Ausbildungsförderung) habe und dänische Minderheit bla bla)
Strukturell betrachtet handelt es sich um wohlstrukturierte Fälle von inter- und intrasentenziellen Kodewechseln ins Dänische: um Insertionen aus dem Dänischen sowie um einen Wechsel zur dänischen Matrixsprache. Pragmatisch betrachtet können ana-
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lytische Termini wie unique reference (Matras 2009) in Bezug auf Einrichtungen der dänischen Gesellschaft (SU) für die dänischen Insertionen Anwendung finden. Die Transkription enthält jedoch auch ganze Konstituenten und Äußerungen auf Dänisch, also Kodewechsel zum Dänischen hin als Matrixsprache. Wenn man diese Fälle näher analysiert, handelt es sich um einen Zitatmodus mit Wechsel zu einer anderen Stimme, der indexikalisch auf andere Personen verweist: Es sind de (sie in Zeile 9), also die Dänen, die immer wieder fragen, ob A bzw. F überhaupt berechtigt seien, dänische Ausbildungsförderung zu erhalten. Im eigentlichen Sinne handelt es sich um eine soziale Indexikalisierung, die generell alle Dänen umfasst. Die dänische Matrixsprache ist also hier nicht die eigene Stimme, sondern die der Anderen, der Dänen. Dass die drei Freundinnen eher ironisch mit ihrer Zugehörigkeit zum Dänischen umgehen, zeigt der Kodewechsel zum Englischen in Zeile 8. Die Ironie kommt doppelt zum Ausdruck: teils in dem Kodewechsel zum Englischen, der diese Zugehörigkeit zum dänischen ,System‘ an und für sich in Frage stellt, und teils im nachfolgenden Lachen. Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass die dänische Sprache in dieser Transkription die Sprache der dänischen gesellschaftlichen Institutionen (im weitesten Sinne) und der Dänen repräsentiert, nicht aber die Sprache der eigenen persönlichen Stimme. Es gibt also in diesem Gesprächsausschnitt wenig, was auf eine Identifizierung mit dem Dänischen hindeutet. Zu dem Sprachgebrauch der Gruppe gefragt, antwortet L in einem Interview: Vi tager det bedste eller det værste fra alle sprog (Wir nehmen das Beste oder das Schlechteste von allen Sprachen).
Die Gruppe verwendet überwiegend norddeutsche Umgangssprache, aber zeigt keine explizite Präferenz für eine Sprache als Merkmal ihrer Zugehörigkeit. Die informelle Kommunikation in dieser Gruppe wird eher dadurch gekennzeichnet, dass die Sprecherinnen mit Sprachen parodistisch-ironisch spielen und dabei keine fest definierte/kodifizierte Sprache (wie Deutsch oder Dänisch) als ihre Sprache ansehen. Die zweite Gruppe, die kurz exemplarisch dargestellt werden soll, kommt aus der deutschen Minderheit in Nordschleswig. Ihre mündlichen Varietäten sind SJ, NSD und westliches StDä. Ihre ‚gelernten‘ Schul- und Schriftsprachen sind StDt und StDä. Ein Teil der Gruppe wurde 50 Minuten beim Handball-Schauen vor dem Fernseher aufgenommen. Aus diesem Gespräch stammt der folgende kurze Ausschnitt: 1.
A:
2.
B:
3.
A:
jo – vem vå de di start me å spil mooj (jo – gegen wen haben sie angefangen zu spielen) di begyndt jo mooj Østrich (sie fingen ja gegen Österreich an) ja de e å richte. de vå dee vo di kun vun me et par mool vå de ik de? (ja das stimmt auch. dort haben sie nur mit ein paar Toren gewonnen, war es nicht so?)
In diesen 50 Minuten ist SJ die dominierende Sprache mit gelegentlichem Kodewechsel zum Deutschen, wenn es um Bundesligafußball geht. Bemerkenswert ist auch die
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Internetkommunikation dieser Gruppe, denn die Teilnehmer sprechen und schreiben eine annähernd basisdialektale Varietät des SJ: Dies scheint ziemlich erstaunlich, weil Schwund und Verdünnung dieser Regionalsprache schon seit mehreren Dekaden stattgefunden haben. Wenn wir uns mehrere Beispiele aus der Internetkommunikation anschauen, fällt auf, dass es eine besondere Art und Weise gibt, mit Insertionen umzugehen – je nach dem sprachlichen Ursprung dieser Elemente; ‚erlaubt‘ sind deutsche Einzellexeme und Lehnübersetzungen, die sich in die sønderjyske Matrixsprache einfügen: (SJ recte, Deutsch kursiv) ja, det vå rechte hygle. men æ vist et at man fik sårn muskelkater a å ve i vandland ☺. (ja, es war richtig gemütlich, aber ich wusste nicht, dass man so’n Muskelkater kriegt, wenn man im Schwimmbad ist). vun ge det mæ B i kindergarten? (wie geht es B im Kindergarten?)
Insertionen auf StDä kommen in der sønderjysken Matrixsprache selten vor, und Elemente aus allen anderen Sprachen als Deutsch werden an die sønderjyske Aussprache angepasst, so z. B. häufig vorkommende Lehnwörter aus dem Englischen, z. B. vigænd (weekend) und dejt (date). Zusammengefasst ist festzustellen, dass die Mitglieder dieser Gruppe eine phonetische Transkription ihrer mündlichen Varietät kreieren. Sie markieren ihre Zugehörigkeit zur deutschen Minderheit, indem sie auf Deutsch schreiben oder deutsche Einzellexeme in SJ als Matrixsprache verwenden. Sie markieren ihre Affinität zum Dänischen, indem sie gelegentlich auch auf StDä schreiben, während sie es größtenteils vermeiden, Wortmaterial aus dem StDä oder Englischen direkt in die sønderjyske Matrixsprache zu übernehmen. Diese Entlehnungen werden orthographisch an die Aussprache der Matrixsprache angepasst. SJ als Matrixsprache mit deutschen Insertionen etabliert sich mündlich und schriftlich im Internet als Merkmal dieser Gruppe – ein Merkmal, das gleichzeitig Zugehörigkeit zur deutschen Minderheit und zur Region Schleswig markiert. Wenn wir diese beiden Gruppen vergleichen, gibt es auffällige Ähnlichkeiten, aber auch auffällige Unterschiede: Zu den Ähnlichkeiten gehört, dass beide Gruppen von jungen Erwachsenen durch einen hohen Grad sprachlicher Kreativität und Bewusstheit gekennzeichnet sind. Unterschiedlich verhalten sie sich in Bezug auf sprachliche Loyalität. Beide Gruppen sind Vertreter einer sprachbewussten und sprachlich gut ausgebildeten Generation von Bi- und Multilingualen aus den nationalen Minderheiten in der deutsch-dänischen Grenzregion.
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3 Die nordfriesische Volksgruppe in Schleswig 3.1 Sprachsituation und Sprachkontakt Das Friesische ist eine eigenständige, aber keine einheitliche westgermanische Sprache. Die größte friesische Sprachgemeinschaft bilden die Westfriesen in den Niederlanden mit schätzungsweise ca. 300 000 Sprechern. Sehr viel kleiner sind die friesischen Sprachgemeinschaften in Deutschland: die Saterfriesen in Niedersachsen (siehe Kap. 5) und die Nordfriesen an der schleswigschen Westküste. Die Nordfriesisch sprechenden Regionen finden sich, abgesehen von der Insel Helgoland, im Kreis Nordfriesland. Die Kerngebiete des Friesischen liegen auf der westlichen Hälfte der Insel Föhr, der Insel Amrum und dem Dorf Risum-Lindholm auf dem Festland. Die neun Dialekte des Nordfriesischen teilen sich in inselnordfriesische und festlandnordfriesische Varietäten. Einzelne Dialekte auf dem Festland sind ausgestorben, einige werden nur noch von wenigen älteren Menschen gesprochen. Allgemein wird vorausgesetzt, dass Personen, die Nordfriesisch (NF) sprechen, sich als Friesen empfinden. Der Umkehrschluss gilt nicht: Von den wohl 50 000 Nordfriesen sprechen zwischen 10 und 20 % eine nordfriesische Varietät. Alle ,Sprachfriesen‘ sprechen heutzutage StDt, viele auch Niederdeutsch (Nd), einige auch StDä, ganz wenige noch SJ. Alle Friesisch sprechenden Personen sind somit bi- oder multilingual. Die Zahl der Sprecher der nordfriesischen Sprachvarietäten ist mit Unsicherheit verbunden; Schätzungen des späteren 20. Jahrhunderts gehen von 10 000 Sprechern aus, neuere von eher 5 000 im Kreis Nordfriesland sowie ein paar Tausend Diasporasprechern, z. B. in Nordamerika (Admiraal/Langer/Terhart 2019, 11). Diese Richtwerte sind auch deshalb schwer zu überprüfen, weil die Zahl der sog. ‚neuen Sprecher‘, die (mehr oder weniger) NF als Fremd- oder Zweitsprache gelernt haben, nicht erfasst ist. Nach Admiraal/Langer/Terhart (ebd., 38) scheint die Sprecherzahl kontinuierlich rückläufig zu sein, jedoch heute in einem langsameren Tempo als in früheren Jahrzehnten. Die nördlichen Dialekte grenzen an das früher SJ sprechende Gebiet an. Hier entstand eine Kontaktzone mit friesisch-sønderjysker Zweisprachigkeit bis in die jüngste Vergangenheit. Es kam dadurch schon seit dem Mittelalter zu einem Friesisch-SJ-Sprachkontakt, der im NF Spuren hinterließ und heute noch die Eigenart des NF im Vergleich zum Ostund Westfriesischen ausmacht. Århammar (2001) schätzt die Zahl der Lehnwörter aus dem mittelalterlichen SJ auf 300 bis 400; auch sind der dentallose definite a-/æ-Artikel in den nördlichen Dialekten und die Negation (in allen Dialekten bis auf Helgoland) ai, ei, ek < dän./SJ ej/it (nicht) auf Sprachkontakt mit Varietäten des SJ zurückzuführen. Im 14. Jahrhundert wurde das Mittelniederdeutsche Schriftsprache in Nordfriesland; und das Nd entwickelte sich zur wichtigsten Verkehrssprache der Nordfriesen nach außen, aber auch unter Friesen mit stärker voneinander abweichenden Dialekten. Die friesisch-niederdeutsche Zweisprachigkeit führte einerseits zum Sprachwechsel in Richtung Nd (Eiderstedt, Pellworm, das östliche Föhr sowie die südlichen und östlichen Teile des Festlandes). Andererseits hat die Mehrsprachigkeit mit Nd (und
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später StDt) auch deutliche Spuren in den nordfriesischen Dialekten hinterlassen, hauptsächlich durch zahlreiche Lehnwörter und Lehnübersetzungen bis in die Funktionswortklassen und den Kernwortschatz hinein (siehe 3.3). Als Faustregel gilt: Je näher an Husum im Süden, desto mehr Nd; je näher an Tønder im Norden, desto mehr SJ (Steensen 2009, 28). Der heutige Konvergenzprozess des Standarddeutschen auf das NF tendiert laut Århammar (2001, 335) zur Herstellung einer 1:1-Relation möglichst vieler Elemente auf allen linguistischen Ebenen. Århammar sieht in dieser Parallelführung der Sprachen einen natürlichen Sanierungsprozeß der économie linguistique, der durch die Vereinfachung redundanter, teils im Konkreten haftender Strukturen dieser konservativen, lokalen Randdialekte erst die innersprachlichen Voraussetzungen für deren Erhalt schafft, indem er ihre notwendige Anpassung an die veränderten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse und Erfordernisse bewerkstelligt und somit ihre Funktionalität in der heutigen Zeit sichert. (ebd.)
Der wichtigste Faktor für den Sprachwechsel im 20. Jahrhundert war zweifellos die fehlende Transmission der Sprache an die nächste Generation. Laut Walker vollzieht sich der ‚klassische‘ Sprachwechsel nach dem folgenden Muster: Die Großelterngeneration spricht Friesisch untereinander und Nd mit den Kindern, diese Kinder bilden dann die Elterngeneration, die untereinander Nd und mit ihren Kindern StDt spricht (Walker 2009, 20 f.). Die Kindergeneration spricht StDt; dennoch verfügen viele Jugendliche heute noch über rezeptive Kenntnisse des Nd. In Nordfriesland lassen sich jedoch sehr unterschiedliche Mehrsprachigkeitskonfigurationen zwischen den einzelnen Generationen feststellen. Diese Tendenz, weder das Nd noch das Friesische oder das SJ an die nächste Generation weiterzugeben, scheint besonders in den Jahren 1950–1970 stark gewesen zu sein, als ‚Respektspersonen‘ (wie Lehrer und Ärzte) den Eltern rieten, mit ihren Kindern StDt zu sprechen, weil mehrere Sprachen oder eine von der Schulsprache divergierende Familiensprache die Kinder angeblich sprachlich verwirren und zu Lernproblemen führen würden. Seitdem diese intergenerationale Transmission der Sprache unterbrochen wurde, dient das NF (für die Familien, die diesem Trend widerstanden haben) fast ausschließlich als Familiensprache (Admiraal/Langer/Terhart 2019, 9). Abgesehen von den friesischen Kerngebieten (siehe oben), beschränkt sich das NF heute hauptsächlich auf private Kommunikation, während einige friesische Vereine auch die nordfriesischen Dialekte bei öffentlichen Gelegenheiten (wenigstens emblematisch) benutzen. Diese Sprachsituation wird sich kaum ändern, da alle Sprecher des Friesischen auch StDt als Erstsprache haben.
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3.2 Förderung des Nordfriesischen Seit den 1950er Jahren gibt es fast kontinuierlich Friesischunterricht an Schulen im Kreis Nordfriesland. Die Schule der dänischen Minderheit in Risum führte in den 1950ern – neben Dänisch – Friesisch als Unterrichtssprache ein. Jedoch musste die damalige Schulleiterin schon in den 1960er Jahren erkennen, dass die Mehrheit ihrer Schüler nicht mehr Erstsprachler des Friesischen waren. Bis Mitte der 1970er Jahre wurde wenig Friesischunterricht angeboten. Ab 1976 stieg jedoch die Zahl der öffentlichen Schulen, die Friesisch als Fach in der Grundschule anboten, bis Mitte der 1990er Jahre auf ca. 32 Schulen. Die Zahl der Schüler, die kurz nach 2000 Friesischunterricht erhielten, lag bei mehr als 1 400 Kindern und blieb relativ konstant bis 2008. Danach ist die Zahl wieder rückläufig. Mögliche Gründe für den Rückgang sind die Einführung des obligatorischen Englischunterrichts in der Grundschule (2006/07) sowie das neue Schulgesetz 2007, das die Schließung und Zusammenlegung von kleineren Schulen zur Folge hatte (Walker 2011, 59). Im Jahr 2018 erhielten 760 Schüler an 16 Schulen Friesischunterricht (Admiraal/Langer/Terhart 2019, 6). Es ist jedoch zu bemerken, dass aus dem Friesischunterricht in der Grundschule kaum aktive Sprecher des Friesischen hervorgehen. Nur in Wyk auf Föhr gibt es weiterführenden Unterricht in der Sekundarstufe. An den Universitäten in Flensburg und Kiel findet Sprachunterricht des Friesischen als Angebot für Studierende der Germanistik statt. In Kiel besteht das Studium der Frisistik auch als eigenständiges Fach. Auch Volkshochschulen im Kreis Nordfriesland sowie friesische Vereine bieten Friesischkurse an. Ab 1997 besteht die Möglichkeit, dass Gemeinden und Städte in Nordfriesland ihre Ortstafeln zweisprachig beschriften. Dies wurde als Wertschätzung des Friesischen aufgenommen. Seit 2017 werden Straßenschilder in Nordfriesland zweisprachig Deutsch-Friesisch gestaltet. Mehrere Vereine und Institutionen setzen sich für den Erhalt und die Förderung der friesischen Sprache ein.
3.3 Sprachgebrauch Durch die Jahrhunderte hindurch war Friesisch die allgemein gebräuchliche Sprache in der Familie, im Dorf und im Nahbereich des nordfriesischen Sprachgebiets. Die wirtschaftliche Situation in Nordfriesland hat sich aber in den letzten Jahrzehnten drastisch geändert. Die traditionellen Erwerbszweige wie Landwirtschaft, Handwerk, Fischerei und Seefahrt, für die das Friesische über einen großen Fachwortschatz verfügt, wurden an den Rand gedrängt. Die neu aufkommenden Wirtschaftszweige – Verwaltung, militärische Einrichtungen, Dienstleistungsgewerbe und nicht zuletzt der Tourismus – sind dagegen StDt-geprägt. Das Friesische muss sich neuen Kommunikationssituationen anpassen, um in der heutigen Gesellschaft bestehen zu können. Es kommt daher zu einem weitgehend ungesteuerten und spontanen Sprachausbau hauptsächlich unter Verwendung der lexikalischen Mittel der an der sprachlichen
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Symbiose beteiligten H-Varietät, nämlich des StDt. Århammar (2001, 336) unterscheidet zwischen einer ergänzenden Modernisierung des friesischen Lexikons (cultural borrowings) und dem überflüssigen Ersetzen friesischer Lexeme durch standarddeutsche Bedeutungsäquivalente (core borrowings). Beim Transfer können folgende Mittel verwendet werden: Wortentlehnung, Lehnübersetzung, Lehnübertragung sowie Bedeutungsentlehnung. Århammar stellt fest, dass phonetische und morphologische Integration von standarddeutschen Lehnwörtern und zum Teil auch morphologische Substitution spontan stattfinden. Dagegen bestehe allgemein eine hohe psychologische Hemmschwelle in Bezug auf „gekünstelte“ Lehnübersetzungen und Lehnübertragungen (ebd.). Dem ungesteuerten lexikalischen Ausbau stehe der gesteuerte Ausbau gegenüber, der in gedruckten Publikationen und Lehrmitteln zu finden sei: Dabei wird man bemüht sein, die Möglichkeiten der Lehnübersetzungen und Lehnübertragungen voll zu erschöpfen. Mit Rücksicht auf die Akzeptanz durch die Sprachgemeinschaft und aus der Erkenntnis heraus, daß bei ‚schwachen‘ Minderheitsprachen jede Form von Purismus kontraproduktiv wirkt […], wird hierin jedoch eher behutsam zu Werke gegangen. (ebd., 338)
Dagegen berichtet u. a. Ebert (1994), dass viele Entlehnungen aus dem Deutschen nicht ans NF adaptiert und dass Lehnübertragungen und Lehnübersetzungen von den traditionellen Sprechern (in diesem Fall auf der Insel Föhr) nicht verwendet werden:
So findet man […] unverändert übernommene Wörter wie zeitung, leitung, wissenschaft, kühlschrank, kniestrümpfe, fernseher. Das Wort wedenskap, dem man in neueren Texten begegnen kann, wird von traditionellen Fering Sprechern nicht verwendet, sie bleiben bei wissenschaft. Auch Versuche, Wörter wie z. B. kühlschrank durch keelskaab, kniestrümpfe durch knöbianhöözen zu ersetzen, sind gescheitert. (ebd., 11)
Auch eine Untersuchung 25 Jahre später deutet darauf hin, dass Lehnübersetzungen und Lehnübertragungen von den Sprechern teilweise abgelehnt werden. So ist in dem aktuellen Bericht von Admiraal/Langer/Terhart (2019, 19) Folgendes zu lesen: When conducting our interviews, there were some pointers that there are tensions between native and (some) new speakers of Frisian. The Frisian language taught in class is felt to be rather archaic and relatively free from German loanwords. But many speakers who learn the language in the home reject neologisms, i. e. words composed of Frisian morphology to replace German loanwords, and would rather use a German loan […]. Speakers estimate that they use about 25–30 % of German, when they speak Frisian […]. This creates a certain distance between native and learned Frisian. Some native speakers think that their own Frisian is deficient in comparison with learned Frisian […] or at least have certain awe for the competence of new speakers who „just know too much Frisian“ […]. There seem to be some new speakers who correct native speakers, which is obviously not appreciated.
Obwohl die Grenze zwischen Entlehnungen und Kodewechsel selten messerscharf ist (da eine Entlehnung oft als eine hochfrequente Insertion zu betrachten ist), berichten junge Sprecher des Friesischen, dass sie oft nicht-integrierte Insertionen aus dem StDt, also satzinternen Kodewechsel verwenden. Auch wechseln sie regelmäßig zwi-
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schen NF und StDt als Matrixsprache. Dezidierte Untersuchungen hierzu gibt es nicht, aber es scheint unwahrscheinlich, dass sich Sprecher des Friesischen sprachlich anders verhalten sollten als andere bi- und multilinguale Sprecher (siehe Matras 2009, 117 f.).
4 Verdeckte Mehrsprachigkeit Die traditionelle Zwei- bis Fünfsprachigkeit im deutsch-dänischen Grenzgebiet befindet sich im generationsbedingten Rückgang; bei den drei Vernakularsprachen Niederdeutsch, Sønderjysk und Nordfriesisch ist der größte Rückgang zu verzeichnen (Fredsted 2009). Typisch für den Landesteil Schleswig sind nichtdestotrotz viele Gemeinsamkeiten der koexistierenden Sprachen auf allen linguistischen Ebenen. Im Folgenden werden einige besondere syntaktische Merkmale kurz besprochen, die sich aus dem SJ in das NF, das Nd und in das regionale StDt ausgebreitet haben (siehe hierzu ausführlicher Fredsted 2013). Und + Infinitiv: Ein typisches regionales Merkmal, das in alle fünf Sprachen der Region Eingang gefunden hat, ist die koordinierende Und + Infinitiv-Konstruktion, welche die standarddeutsche Infinitiv-Konstruktion mit (um) zu ersetzt. Südlicheres Nd würde hier eine Infinitiv-Konstruktion mit to bevorzugen. Der Ursprung dieser Konstruktion liegt im SJ, das noch im frühen 19. Jahrhundert bis zu einer Linie HusumEckernförde gesprochen wurde. Im SJ werden und und zu gleich als [ɔ] ausgesprochen. Nicht nur im SJ, sondern auch in der standarddänischen Aussprache ist der Infinitivmarker at (im Gegensatz zur Subjunktion at) mit der koordinierenden Konjunktion og (und) zusammengefallen. SJ: Hun gek hen å se ue a æ vinne. (Sie ging hin, um aus dem Fenster herauszuschauen).
Diese koordinierenden Infinitivkonstruktionen findet man nicht nur im SJ, sondern auch im Nd, besonders in Gegenden, die relativ spät einen Sprachwechsel vom SJ zum Nd vollzogen haben, wie beispielswiese Angeln, wo SJ bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts Umgangssprache war: Nd: Ig hef lusd un lobm vex. (Bock 1933, 97, Niederdt. Husby) (Ich habe Lust wegzulaufen).
Aber auch in Flensburg, wo der Sprachwechsel zum Nd schon im späten Mittelalter einsetzte, trifft man auf diese Konstruktion: Nd: Denn güng man bi un buen de Toosbüystraat. (Ketelsen 1959, 14) (Dann fing man an, die Toosbüyerstraße zu bauen).
Auch heute hört man in Flensburg öfters diese Konstruktion im regionalen StDt:
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StDt: Es lohnt sich nicht und kochen drei Essen. (Eigene Aufzeichnung 2002)
In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde diese Konstruktion auch von Briefschreibern benutzt: StDt: Nun sollte ich aber aus und kaufen. (Christian Christiansen 15.1.1854) (Nun wollte ich aber hinaus, um [Vieh] zu kaufen)
(Im o. a. Beispiel kommt auch ein anderer Regionalismus zum Vorschein, nämlich die Verwendung von sollen bei Vorsatz und Futur.) Auch im NF ist diese Konstruktion als en/än-Konstruktion verbreitet: NF: hat es ek sa lecht en liir deensk. (Århammar 2001, 317) (Es ist nicht so leicht, Dänisch zu lernen)
Walker (2020, 117) bemerkt, dass die sog. ‚neuen Sprecher‘ des Friesischen diese Konstruktion mit besonderer ‚Echtheit‘ verbinden. Präposition + und-Konstruktionen: In solchen Konstruktionen wird eine Präposition direkt mit einem infiniten Satzkomplement verbunden und der Komplementsatz erscheint in der Gestalt einer und + Infinitiv-Konstruktion. Wieder ist hier das SJ die Quelle dieser Konstruktion:
Präposition + und + Infinitiv: SJ: Han vinte o å få en plads o æ sychhus. StDä: Han venter på at få en plads på sygehuset. (Er wartet darauf, einen Platz im Krankenhaus zu bekommen). NF: Anke langd jiter än käm wäch fouan e Halie. (Århammar 2001, 318) (Anke sehnte sich danach, von der Hallig wegzukommen). Nd: ick kumm nuch to un hollen in Gesell meer öwe somme. (Bock 1933, 97) (Ich komme noch dazu, über den Sommer einen Gesellen mehr zu halten). StDt: Jetzt sind wir bei und lassen eine Einrichtung machen. (Christian Christiansen, Flensburg 3.11.1854)
Während westgermanische Sprachen auf dem europäischen Kontinent Präpositionen vor subordinierten Sätzen oder Infinitiv-Konstruktionen nicht erlauben, stehen in allen dänischen Varietäten Präpositionen, die einem Nomen, Verb oder Adjektiv fest zugeordnet sind, obligatorisch vor Gliedsätzen oder Infinitivkonstruktionen. Die Präposition bildet zusammen mit der Infinitiv-Konstruktion oder dem subordinierten Satz ein Adverbialglied im übergeordneten Satzgefüge. Die regionalen Sprachen verfügen über mehrere periphrastische Verbalkonstruktionen, um Durativ bzw. Progressiv zum Ausdruck zu bringen. Die folgende Konstruktion betont, dass eine Tätigkeit eine gewisse zeitliche Ausdehnung hat: Finites Positionsverb + finites agentives Verb: SJ: Han sidde å løjs æ blaj. StDt: Er sitzt und liest die Zeitung. (Regiolekt)
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Nd: He sit un leest dat Blatt. NF: Hi sät ä löst et bläär. (Wiedingharde) StDä: Han sidder og læser avisen.
Auch um Progressiv zu markieren, gibt es eine gemeinsame regionale Konstruktion mit einem Hilfsverb (sein in der jeweiligen Sprache), gefolgt von einer Präposition (bei) und einem infiniten Verb oder Verbalnomen: Finites Hilfsverb + Präposition + Infinitiv/Verbalnomen: SJ: Han é ve å byg en stold. (Er ist dabei, einen Stall zu bauen.) Nd: He is bi un buen en stall. NF: Hi es bi än bag en schöll. StDä: Han er ved at bygge en stald. StDt: Er ist bei und bauen einen Stall. (Regiolekt)
Eine durative Variante der o. a. Konstruktion besteht aus dem Hilfsverb (bleiben) als finitem Verb, gefolgt von einer Präpositionalphrase bestehend aus (bei) und einem Infinitiv des Hauptverbs: SJ:
Hun blew ve me å snak. (Sie redete andauernd.) StDä: Hun blev ved med at snakke. StDt: Sie blieb bei zu reden. (Regiolekt) Nd: Sie bleef bi to snacken. NF: Hat bleew bi tu snaakin. (vgl. Ebert 1994, 16; Ebert/Hoekstra1996, 81 f.) NSD: Du bleibst jetzt bei zu nerven! (eigene Aufzeichnung 2013)
Vor dem Hintergrund der o. a. Beispiele (die nur einen Ausschnitt der Syntax repräsentativ vertreten sollen) ergibt es einen gewissen Sinn, Schleswig als einen Sprachbund zu bezeichnen. Zwar handelt es sich hier keineswegs – wie in der klassischen Sprachbundsituation auf dem Balkan – um nicht-verwandte Sprachen, sondern um germanische Sprachen, die traditionell als westgermanisch (StDt, Nd, NF) oder nordgermanisch (SJ, StDä) bezeichnet werden. Schleswig ist ein interessantes Beispiel dafür, wie langanhaltender Sprachkontakt und verbreiteter Bi- und Multilingualismus zu konvergierenden Sprachstrukturen führen können, die quer zu den traditionellen Einteilungen in west- und nordgermanische Sprachen verlaufen und letztendlich auch die Sprache von monolingualen Sprechern beeinflussen.
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5 Saterfriesisch 5.1 Sprachsituation und Sprachkontakt Schon ab der Gründung der Reichgrafschaft Ostfriesland 1464 war die Amtssprache nicht Friesisch, sondern Mittelniederdeutsch. Die niederdeutsche Sprache drängte das Ostfriesische auch als Vernakularsprache zurück; kurz nach dem Zweiten Weltkrieg starb der letzte Ostfriesischsprecher in Ostfriesland. Jedoch gibt es noch außerhalb Ostfrieslands, im oldenburgischen Landkreis Cloppenburg, vier Ortschaften der Gemeinde Saterland, in denen heute noch schätzungsweise zwischen 1 500 und 2 000 Menschen den ostfriesischen Dialekt Seeltersk (auch Saterfriesisch genannt) sprechen. Das Gebiet, das von Moorgebieten umgeben ist, wurde um 1100 von Ostfriesen besiedelt und war lange Zeit weitgehend von der Außenwelt abgeschirmt (Fort 2001, 409 f.). Nach Fort sei das Saterfriesische (Sat) aus dem Altfriesischen hervorgegangen. Das Lautsystem des Sat weist im Bereich des Vokalismus eine besondere Komplexität aus. Fort (ebd., 411) listet 21 Monophthonge und 16 Diphthonge auf. Peters (2017) weist 21 Monophthonge und sieben phonemische Diphthonge auf. Die unterschiedlichen Zahlen könnten darauf zurückgeführt werden, dass die Lexeme, welche die größere Zahl der Diphthonge ausweisen, eventuell nicht mehr zum Wortschatz heutiger Informanten gehören. Ein Teil der Komplexität des Vokalsystems dürfte auf den Sprachkontakt mit dem Nd zurückgehen, da mit der Entlehnung niederdeutscher Wörter auch zusätzliche Laute ins Sat übernommen wurden (Peters 2020, 152). Alle Sprecher des Sat sind heute mehrsprachig. Außer Sat sprechen sie Nd und/ oder StDt. Die Saterfriesen hatten immer Kontakt mit Niederdeutschsprechenden; und bis zum Zweiten Weltkrieg war das Nd Verkehrssprache nach außen im Umgang mit Nicht-Friesen. Diese Rolle übernahm ab Mitte des 20. Jahrhunderts das StDt. In der Nachkriegszeit hat sich die Zahl der Einwohner des Saterlands durch Zuzug stark erhöht, sodass der Anteil der Sprecher des Sat in der Gesamtbevölkerung abnahm (ca. 80 % vor 1945, ca. 50 % 1950 und ca. 20 % um 2000) (Fort 2001, 410). Dies führte dazu, dass das Sat im öffentlichen Leben zurückgedrängt und auf die Bereiche Familie und Freundeskreis eingeschränkt wurde. Fort (2001) weist außerdem darauf hin, dass die saterfriesische Sprache schon seit der Nachkriegszeit in abnehmendem Maße als Familiensprache weitergegeben wird. Selbst wenn beide Elternteile noch Sat miteinander sprechen, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Eltern mit den Kindern StDt sprechen (vgl. 3.1). Fort schreibt in diesem Zusammenhang von einer génération perdue, von jungen Menschen, die zwar über rezeptive Kenntnisse des Sat verfügen und möglicherweise diese Sprache auch mit den Großeltern gesprochen haben, die es aber nicht mehr gewohnt sind, regelmäßig miteinander Sat zu sprechen (ebd., 410). Mit dem Rückgang der intergenerationellen Transmission der Sprache und der Einengung der Gebrauchssituationen geht ein Sprachverfall einher. 2009 beschreiben Evers und Schramm die Situation wie folgt:
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Je jünger der Friesischsprecher, desto schmaler ist sein Wortschatz. Reines, grammatisch richtiges Saterfriesisch sprechen zumeist nur noch die älteren Saterfriesen. (Evers/Schramm 2009, 56)
Peters (persönl. Kommunikation) führt an, dass die seit Ende der 1970er Jahre Geborenen, die noch Sat in früher Kindheit erworben haben, meist bilingual mit Sat und StDt sind. Diese jüngere Generation besteht primär aus monolingualen Sprechern des StDt oder bilingualen Sprechern mit Sat/StDt oder Nd/StDt. Trilingualität kommt jedoch selten vor. Eine Kontaktvarietät mit dem Nd oder dem StDt hat sich nicht herausgebildet, was eventuell darauf zurückzuführen ist, dass die Saterfriesen immer daran gewohnt waren, im Kontakt mit Nicht-Friesen ihren Sprachkode zu wechseln.
5.2 Sprachförderung Seit einigen Jahren wird die saterfriesische Sprache in Kindertagesstätten und Grundschulen berücksichtigt. Erzieherinnen und Lehrerinnen sind im Bereich Sat fortgebildet, um an den Kitas und Grundschulen sprachliche Immersionsprogramme umzusetzen. Zu dem Ziel der Sprachimmersion schreibt Peters: Generell sehe ich den Nutzen der Immersion in Kitas und Grundschule nicht nur darin, dass ‚neue Sprecher‘ herangebildet werden, sondern auch darin, dass diese Maßnahmen die Bereitschaft von Eltern und Großeltern erhöhen könnten, in der Familie Saterfriesisch zu sprechen. Der Weitergabe der Sprache im familiären Umfeld wird auch zukünftig eine Schlüsselrolle für den Spracherhalt zukommen, da ohne Muttersprachler, die für den Gebrauch des Saterfriesischen keinen besonderen Sprechanlass benötigen, außerhalb der Familien keine Sprachgemeinschaften erhalten bleiben werden, an denen die ‚neuen Sprecher‘ partizipieren können. (Peters, persönliche Kommunikation am 26.11.2019)
Marron Fort ist Autor von einem Wörterbuch des Saterfriesischen (zweite erweiterte Ausgabe 2015); Fort hat ebenfalls zahlreiche phonologische und grammatische Übersichten sowie eine Übersetzung des Neuen Testaments erarbeitet. Am Institut für Germanistik der Universität Oldenburg wurde 2008 der Schwerpunkt Nd und Sat aufgebaut. Hier werden Saterfriesisch-Kurse angeboten. An diesem Institut findet auch sprachwissenschaftliche Forschung zum Sat statt. Eine aktuelle Dokumentation des Lautbestandes des Sat findet sich bei Peters (2017). Für eine umfassende aktuelle Darstellung des Sat siehe Peters (2020, 139–170 sowie die Internetseite https://uol.de/germanistik/niederdeutsch/forschung/forschungsprojekte/vokalismus).
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6 Sorbisch 6.1 Sprachsituation und Sprachkontakt Sorbisch ist die einzige autochthone westslawische Sprache in Deutschland. Die Sorben leben in der Lausitz: die Niedersorben in der Niederlausitz mit dem städtischen Zentrum von Cottbus (Brandenburg), die Obersorben in der Oberlausitz mit Bautzen als Zentrum (Sachsen). Es lässt sich sprachlich zwischen Niedersorbisch (NSo) und Obersorbisch (OSo) unterscheiden. Die Zahl der Sorben wird auf 50 000 bis 60 000 geschätzt, die Zahl der aktiven Sprecher der sorbischen Varietäten beläuft sich gegenwärtig auf ca. 2 000 für NSo und ca. 12 000 bis 15 000 für OSo (Dołowy-Rybińska 2014, 129). Keller/Schulz (2019, 554) dagegen schätzen die Zahl der Sprecher wesentlich höher. Im Hinblick auf den Erhaltungsgrad der sorbischen Sprachen muss zwischen einem Kerngebiet des Sorbischen in der Oberlausitz und deutschsprachig dominierten Regionen unterschieden werden: Kerngebiet ist die Region innerhalb eines Dreiecks zwischen Hoyerswerda, Bautzen und Kamenz. Hier bilden die fast ausschließlich katholischen Obersorben die Bevölkerungsmehrheit; und es gibt in den Familien eine ungebrochene intergenerationelle Transmission der sorbischen Sprache. Alle Sorbisch sprechenden Personen sind heutzutage bilingual. Die sorbische Gesellschaft war bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts landwirtschaftlich geprägt. Jedoch wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts die traditionelle bäuerliche Lebenswelt durch die Industrialisierung (Braunkohleabbau und -verarbeitung) sowie Kollektivierung der Landwirtschaft zurückgedrängt. Die Industrialisierung beschleunigte den Sprachwechsel zum Deutschen. Der politische Umbruch 1989 führte zunächst zu einem wirtschaftlichen Niedergang; aufgrund der fehlenden Erwerbsmöglichkeiten verließen zahlreiche Menschen die Lausitz. In den sorbischen Gemeinden mit katholischer Bevölkerung blieben jedoch die Einwohnerzahlen relativ stabil (Menzel/Pohontsch 2020, 234). Seit mehr als 1 000 Jahren steht das Sorbische mit dem Deutschen in Kontakt, was sich im Wortschatz widerspiegelt. Frühe lexikalische Entlehnungen aus dem Deutschen sind phonologisch und morphologisch integriert oder bewahren ihre deutsche dialektale Aussprache. Spätere Entlehnungen aus dem Deutschen blieben infolge puristischer Sprachpolitik auf die Umgangssprache beschränkt. Im 19. Jahrhundert wurde insbesondere das Tschechische Vorbild für die Obersorben, ihre Sprache zu slawisieren und deutsche Lehnwörter zu verdrängen (ebd., 234 f.). Heutzutage wird – wie im Nordfriesischen – der Wortschatz durch Entlehnungen (auch Ad-hoc-Entlehnungen) und Lehnübertragungen in Anlehnung an das Deutsche ausgebaut. In der Wortbildung sind die Zunahme von Kompositabildungen und die Bildung von Partikelverben auf den Einfluss des Deutschen zurückzuführen; dasselbe gilt im morphologischen und syntaktischen Bereich: z. B. für die Verwendung der Pronomina (OSo:) tón, ta, to/(NSo:) ten, ta, to mit Artikelfunktion (Maskulinum, Femininum, Neutrum),
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die Herausbildung von Passivformen mit dem Lehnwort (OSo:) wordowacʹ/(NSo:) wordowasʹ (werden), den Schwund des präpositionslosen Instrumentalis sowie Veränderungen in der Wortfolge, die auch zur regelmäßigen Verwendung der deutschen Satzklammerkonstruktion geführt haben (ebd., 242).
6.2 Förderung des Sorbischen Da das Sorbische außerhalb des Kerngebiets immer seltener als Erstsprache in der Familie erworben wird, kommt den Kitas und Schulen eine große Bedeutung für den Spracherhalt zu. In den 1990er Jahren entwickelte der Sorbische Schulverein ein Modell frühkindlicher Spracherziehung, nach dem Kindergartenkinder in Übereinstimmung mit der Methode der partiellen oder vollständigen Immersion der sorbischen Sprachen begegneten (Witaj-Projekt). Diesem Konzept entsprechend erwerben Kinder aus deutschsprachigen und gemischtsprachigen Familien das Sorbische zusätzlich zu ihrer Erstsprache Deutsch. Aktuell lernen ca. 1 300 Kinder die sorbische Sprache in den Kitas (Keller/Schulz 2019, 555). Für die öffentlichen Schulen wurde ab 2002/2003 das Konzept 2plus implementiert, das sich an das Witaj-Projekt der Kitas anschließt. Es zielt darauf ab, durch intensiven Sprachunterricht und bilingualen Unterricht bei den Lernern aktive Sprachkenntnisse des Sorbischen zu erreichen. Im Schulsystem des Landes Brandenburg ist Sorbisch Zweit- oder Fremdsprache, im Freistaat Sachsen Erst-, Zweit- oder Fremdsprache. Ob jedoch diese Bestrebungen ausreichen werden, aus Sprachlernern sog. ‚neue Sprecher‘ heranzubilden, wird u. a. davon abhängen, ob Lerner sich entscheiden, die erlernte Sprache auch außerhalb der Schule für ihre Alltagskommunikation zu benutzen. Besonders kritisch bleibt die Situation für das NSo, weil es für Sprachlerner schwierig ist, an eine lebendige Sprachgemeinschaft anzuknüpfen (Dołowy-Rybińska 2017, 19 f.). Insgesamt erhalten ca. 4 000 Schüler Sorbischunterricht (die aktuellen Zahlen sind auf der Internetseite www.witaj-sprachzentrum.de nachzulesen; zur didaktischen Praxis siehe auch Keller/Schulz 2019, 554–556). Die Lehrerausbildung für Nieder- und Obersorbisch erfolgt am Institut für Sorabistik der Universität Leipzig. Neben den Bildungsinstitutionen unterstützen eine Reihe von Einrichtungen und Verbänden die sorbische Kultur und Sprache. Zu erwähnen ist die 1912 gegründete Dachorganisation der sorbischen Kulturvereine Domowina. Eine große Bedeutung für den Erhalt der obersorbischen Sprache und Kultur kommt der katholischen Kirche zu. Das der Akademie der Wissenschaften angegliederte Institut für Sorbische Volksforschung wurde 1992 als Sorbisches Institut neu gegründet. Es umfasst eine sprachwissenschaftliche und eine kulturwissenschaftliche Abteilung jeweils an den beiden Standorten Bautzen und Cottbus.
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6.3 Sprachgebrauch Das Sorbische wird durch die Varietäten Schriftsprache, Umgangssprache und Dialekt vertreten. Nur noch im obersorbischen Kerngebiet wird sorbische Umgangssprache in der Alltagskommunikation verwendet. Aufgrund des Sprecherschwundes funktioniert das Sorbische in den übrigen Gebieten kaum mehr als Umgangssprache. In den überwiegend deutschsprachigen Gebieten der Oberlausitz tritt neben die Schriftsprache und die Dialekte der ältesten Sprecher eine mündliche Varietät der Schriftsprache. Das NSo ist durch die Dialekte der ältesten Sprecher und die mündliche Form der Schriftsprache der ‚neuen Sprecher‘ gekennzeichnet, ohne dass sich eine Umgangssprache als eigenständige Varietät herausbilden konnte (Menzel/Pohontsch 2020, 247). Nach Menzel/Pohontsch (ebd., 250) findet situativer Kodewechsel vom Sorbischen zum Deutschen statt, was durch die größere Polyfunktionalität des Deutschen erklärt werden kann. Jedoch sei eine stabile Kontaktvarietät mit sprachlichen Merkmalen des Sorbischen und Deutschen wohl nirgends entstanden (vgl. Kap. 2.2). Nach Menzel/Pohontsch (ebd.) zeigen Untersuchungen zum OSo aus verschiedenen Jahrzehnten, dass die Häufigkeit der sorbischen Interferenzen im Deutschen zurückgeht, was dadurch begründet werden kann, dass die Funktionsbereiche des Deutschen im sorbischen Sprachraum zunehmen und dass der jeweilige Sprachgebrauch funktional-situativ abgegrenzt werden kann. Eine Rolle könnte auch der zunehmend gesteuerte Spracherwerb spielen, da dieser die deutsche Standardsprache und die obersorbische Schriftsprache begünstigt. Die Umgangssprache der katholischen Obersorben, die in informellen Kommunikationssituationen verwendet wird, steht dagegen unter Einwirkung des Deutschen (ebd., 251). Hier hat sich durch den intensiven Kontakt mit der deutschen Umgangssprache eine Diglossiesituation zwischen der obersorbischen Schriftsprache und der regionalen sorbischen Umgangssprache entwickelt. Unter den Jugendlichen aus dem obersorbischen Kerngebiet hat sich ein mündlich geprägtes schriftliches OSo mit Insertionen aus dem Deutschen in den sozialen Medien entwickelt (Dołowy-Rybińska 2014). Für viele Sorben ist der Gebrauch des Sorbischen ein wichtiges Identitätsmerkmal. Dies gilt insbesondere für diejenigen, überwiegend katholische Obersorben, die im Kerngebiet leben, während es bei den Niedersorben aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse Tendenzen gibt, das kulturelle sorbische Leben vom Gebrauch der sorbischen Sprache zu entkoppeln (Dołowy-Rybińska 2017, 20). Eine umfassende aktuelle Darstellung des Sorbischen findet sich bei Menzel/Pohontsch (2020, 227–269).
7 Schlusswort Es finden sich Gemeinsamkeiten, aber auch viele Unterschiede, wenn man die Mehrsprachigkeit von autochthonen Minderheiten betrachtet: Gemeinsam ist, dass die in-
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tergenerationelle Transmission der Minderheitssprache in den Familien immer weniger Kinder umfasst. Dies hat einerseits zur Folge, dass den Kitas und Schulen immer mehr an Bedeutung für den Spracherhalt zukommt. Andererseits sind die Bedingungen im Bildungssystem so unterschiedlich, dass dadurch wiederum neue Unterschiede entstehen. Für die nationalen Minderheiten, die über ein eigenes Bildungssystem verfügen, besteht keine Bedrohung der offiziellen Minderheitssprachen. Hier existiert eine stabile Zweisprachigkeitssituation in beiden Nationalsprachen bei gleichzeitigem Rückgang der regionalen Vernakularsprachen (des Sønderjysk, des Niederdeutschen). Bei den Kultur- und Sprachminderheiten der Nordfriesen und Obersorben zeichnet sich eine gewisse sprachliche Stabilität in den Kernregionen ab, die einen Schutzraum bilden. Sonst ist über die Jahrzehnte ein Rückgang zu verzeichnen. Einen gewissen Zuwachs im schriftlichen Sprachgebrauch gibt es im Internet, besonders in den sozialen Netzwerken. Sprachförderung im Bildungssystem sollte die Entwicklung hin zum Sprachwechsel umkehren oder wenigstens verzögern. Durch die nicht so günstige Lage im öffentlichen Bildungssystem scheint dies leider nur bedingt möglich. Besonders die Sprachen Saterfriesisch und Niedersorbisch befinden sich in einer kritischen Situation. Ob es durch intensivere Sprachförderung gelingen wird, bedrohte Sprachen als lebendige Sprachen zu erhalten, hängt aber auch davon ab, ob sich Lerner dafür entscheiden, die gelernte Minderheitssprache als Kommunikationssprache im alltäglichen Kontext zu benutzen; dafür wäre jedoch die Anknüpfung an eine Sprachgemeinschaft erforderlich. Danksagung: Für freundliche und kollegiale Unterstützung zu den Sprachen Nordfriesisch, Saterfriesisch und Sorbisch bedanke ich mich herzlich bei: Nils Langer (Flensburg), Jörg Peters (Oldenburg), Thomas Menzel und Jana Schulz (Bautzen).
8 Literatur Århammar, Nils (2001): Das Nordfriesische im Sprachkontakt. In: Horst Haider Munske/Nils Århammar (Hg.): Handbuch des Friesischen. Tübingen, 313–353. Admiraal, Femmy/Nils Langer/Lena Terhart (2019): SMiLE Report North Frisian [unpubliziert]. Bock, Karl Nielsen (1933): Niederdeutsch auf dänischem Substrat. Kopenhagen. Dołowy-Rybińska, Nicole (2014): Upper Sorbs and the use of minority language online: some advantages for the upper Sorbian language and community. In: Slavia 83, 127–143. Dołowy-Rybińska, Nicole (2017): Language learners or new speakers. In: Studia Celtica Posnaniensia 2 (1), 5–26. Ebert, Karen H. (1994): Fering – eine todkranke Sprache? In: L. G. Jansma (Hg.): It trettjinde frysk filologekongres. Ljowert, 9–28. Ebert, Karen/Jarich Hoekstra (1996): The progressive in West Frisian and North Frisian: Similarities and areal differences. In: NOWELE 28/29, 81–101. Evers, Johanna/Karl-Peter Schramm (2009): Seelterlound, friesische Sprachinsel in Niedersachsen. In: Christel Stolz (Hg.): Neben Deutsch. Bochum, 43–57.
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12. Deutschsprachige Minderheiten in der Welt Abstract: Dieser Artikel bietet eine aktuelle Übersicht zur Problematik des Deutschen als Minderheitensprache – zum einen in Europa als wichtigste Region für die deutsche Sprache und zum anderen darüber hinaus in der Welt. Nach einer Diskussion der komplexen Begrifflichkeiten Minderheit und Minderheitensprache erfolgt eine exemplarische Vorstellung ausgewählter deutscher Minderheitengruppen: Zunächst werden allgemeine Grundlageninformationen erarbeitet wie geografische Verortung, Demografie und (Siedlungs-)Geschichte, aber auch Kultur, Politik und rechtliche Position der deutschen Sprache, um dann auf die soziolinguistischen, vor allem mehrsprachigkeitsbezogenen Konstellationen (z. B. Kontaktsprachen, Dialekte, Sprachformen des Deutschen und Besonderheiten des Sprachgebrauchs), die Sprachkompetenz sowie auf Spracheinstellungen einzugehen. Abschließend folgt eine vergleichende Gesamtbilanz zur gegenwärtigen Situation der Minderheitensprache im internationalen Rahmen.
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Einleitung: Begriffsbestimmung und Betrachtungsziele Deutschsprachige Minderheiten weltweit: Fallbeispiele Resümee Literatur
1 Einleitung: Begriffsbestimmung und Betrachtungsziele Die deutsche Sprache zeichnet sich durch ein hohes Maß nicht nur an Regionalität, sondern auch an Internationalität aus (Földes 2005b, 37). Eichinger (1997, 156) formuliert: „Die Verteilung des Deutschen scheint ein ganz spezifisches Bild zu haben.“ Dazu gehört auch, dass Deutsch weltweit in einer Reihe von Staaten außerhalb des zusammenhängenden deutschen Sprachraums als Minderheitensprache – in der Regel in verschiedenen Mehrsprachigkeitssettings – eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt (zur Terminologie der Viel- und Mehrsprachigkeit vgl. Roelcke, Beitrag 1 in diesem Band). Beispielsweise dokumentiert der Band von Born/Dickgießer (1989) deutschsprachige Bevölkerungsgruppen in 27 Ländern. Das Portal www.ethnologue. com führt 2020 in diesem Zusammenhang sogar 41 Staaten auf. Minderheit und Minderheitensprache sind schillernde Begriffe, die sich schwer definieren lassen und in der Forschungsliteratur daher unterschiedlich konzipiert und operationalisiert werden. Im Falle des Deutschen als Minderheitensprache (im Weiteren: DaM) erhebt sich auch die Frage des Referenzbezugs: (a) die in einem nichthttps://doi.org/10.1515/9783110623444-012
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deutschsprachigen Umfeld beheimateten urtümlichen deutschen (Orts-)Dialekte, (b) die Bandbreite der durch unterschiedliche inner- und zwischensprachliche Ausgleichsprozesse und Entlehnungsmuster geprägten Kontakt- bzw. Mischvarietäten des Deutschen, (c) das von dialektophon sozialisierten Angehörigen deutsch(sprachig)er Minderheiten verwendete Standarddeutsch bzw. standardnahe Deutsch oder (d) das oft auf (in unterschiedlichem Maße vorhandenen) rezeptiven Dialektkompetenzen basierende und durch gesteuerten Deutsch-/DaF-Unterricht erlernte Deutsch? Die allgemeine begrifflich-terminologische Unsicherheit wird auch daran deutlich, dass manche Autoren heute abschwächend von „deutschbasierten“ Minderheitensprachen sprechen, z. B. Franz/Wildfeuer (2021) (zu den Minderheitensprachen mit Bezug auf Deutschland vgl. auch Fredsted, Beitrag 11 in diesem Band). In Anlehnung an Stellmacher (2013, 99–101) wird im vorliegenden Artikel DaM – ohne Berücksichtigung ihrer Binnendifferenzierung – als Hyperonym für alle im nichtdeutschsprachigen Raum üblichen, gebrauchten bzw. bekannten Varietäten des Deutschen betrachtet. Vor allem mit areal-historischem Bezug kann man – in Weiterentwicklung der deskriptiven Typologie von Plewnia/Riehl (2018, 7) – folgende Ausprägungstypen (deutscher) Minderheiten ausdifferenzieren: (1) Grenzminderheiten, die (im mitteleuropäischen Raum) an den geschlossenen deutschen Sprachraum angrenzen, z. B. die deutschen Nordschleswiger in Dänemark. (2) Sprachinsel-Minderheiten, die überwiegend im ost(mittel)europäischen und im überseeischen Raum zu finden sind, z. B. die Russlanddeutschen. (3) Kolonialisierungsbedingte Minderheiten, d. h. Minderheiten, die durch Kolonialismus entstanden sind, z. B. die Deutschsprachigen in Namibia. (4) Religionsbezogene Minderheiten, z. B. Mennoniten-Minderheiten (in den USA und in weiteren anderen Ländern ansässig). (5) Pidgin-Varietäten sprechende Minderheiten, z. B. im Hinblick auf Unserdeutsch.
Dieses Unserdeutsch […] is the only known creole with German as its lexifier. It is unusual in that it arose during the 1890s in the hostels of a mission school and orphanage for children of mixed ethnic backgrounds in Vunapope, near Rabaul in German New Guinea. (Roberge 2020, 853; vgl. auch Lindenfelser/Maitz 2017)
Standarddeutsch wurde zur Kommunikation und Instruktion zwischen den Mitarbeitern der Mission und den Kindern verwendet; einige der älteren Schüler sprachen Tok Pisin sowie die Sprache(n) ihrer Vorfahren (ancestral languages), zu denen sie aber häufig den Kontakt verloren hatten (Roberge 2020, 853). Dabei entwickelten Schüler zur Kommunikation untereinander eine Pidgin-Varietät des Deutschen. Die deutsche Standardsprache wurde durch die australische Besetzung von Neuguinea jedoch bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs weiterhin als Unterrichtssprache gebraucht. Hinsichtlich der weiteren Entwicklung stellt Roberge (ebd., 854) fest:
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Geographic dispersion – most Unserdeutsch speakers relocated to Australia after Papua New Guinea received independence in 1975 – and exogamy accelerated a shift to English and/or Tok Pisin as home languages.
Der soziolinguistisch ausgerichteten Minderheitensprachen-Typologie von Louden (2020, 812 f.) zufolge, die auf Edwards (1992; 2004) und White (1991) zurückgreift, können Minderheitensprachen nach drei Sets von geografischen Kriterien eingeteilt werden. Set 1 betrifft den Minderheitenstatus in einem oder in mehreren politischen Staaten/Ländern (Louden 2020, 813): Eine Minderheitensprache ist (a) unique, wenn sie nur in einem Staat existiert (z. B. Sorbisch in Deutschland), (b) nonunique, wenn sie in mehr als einem Staat, dabei aber in jedem Land nur als Minderheitensprache gesprochen wird (z. B. Friesisch in Deutschland und den Niederlanden), und (c) local-only, wenn sie in einem Land Minderheitensprache, in einem anderen Land jedoch Mehrheitssprache ist (z. B. Deutsch als Minderheitensprache in Dänemark und als Mehrheitssprache in Deutschland). Set 2 unterteilt nonunique und local-only Minderheitensprachen in zwei Gruppen (ebd.): adjoining, wenn die Regionen der Staaten, in denen sie gesprochen werden, aneinander angrenzen (z. B. Limburgisch im Südosten der Niederlande, im nordöstlichen Belgien sowie im Westen Deutschlands) und nonadjoining, wenn die betreffenden Regionen nicht benachbart sind (z. B. Afrikaans in Teilen Südafrikas und in Namibia). Set 3 liegt die räumliche Kohäsion (spatial cohesion) der Sprecher einer Minderheitensprache zugrunde (ebd.). Dies sollte allerdings nicht als binäre, sondern als graduelle Einteilung verstanden werden. Minderheitensprachen können also (zu unterschiedlichen Graden) als cohesive gelten (z. B. Wilmesaurisch, das nur von deutschsprachigen Bewohnern eines Dorfes Wilamowice in Polen gesprochen wird, zeichnet sich durch einen hohen Grad an Kohäsion aus, während Älvdalisch einen etwas niedrigeren Grad an Kohäsion aufweist, da es von mehreren separaten Gemeinschaften in Schweden verwendet wird). Wiederum sind Minderheitensprachen noncohesive, wenn ihre Sprechergemeinschaften nicht zusammenhängen (z. B. Schottisches Gälisch). Insgesamt lassen sich mithin zehn verschiedene soziolinguistische Typen von Minderheitensprachen unterscheiden, die jedoch noch weiter nach autochthonen und Immigrantenvarietäten unterteilt werden können (vgl. ebd.). Speziell mit Blick auf die deutschsprachigen Minderheiten bietet sich eine grobe topografische Einteilung in Deutschsprachige Minderheiten in Europa (gegebenenfalls spezifizierend auch in West- und Ostmitteleuropa) und in Deutschsprachige Minderheiten in Übersee/in der Welt an. Für den vorliegenden Artikel wurde zwecks größerer Repräsentativität eine exemplarische Auswahl von Regionen möglichst verschiedener Typen (nach den Faktoren geografische Position und Sprachvitalität) angestrebt. Diese sind (a) Mitteleuropa: Südtirol (regionale ko-offizielle Amtssprache, sehr hohe Vitalität; Beispiel für Typ 1 mit den Merkmalen nonunique, adjoining und eher cohesive), (b) Ostmittel- und Osteuropa: Ungarn (anerkannte Minderheitensprache, derzeit nicht
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mehr, aber z. B. im 19. Jahrhundert staatliche Amtssprache, eher geringe Vitalität; Beispiel für Typ 2 mit den Merkmalen nonunique, nonadjoining und eher noncohesive) und (c) Übersee: Chile (in Südamerika gibt es zwar viele deutschsprachige Minderheitengruppen, aber generell mit eher geringer Sprachvitalität; Beispiel für Typ 2 mit den Merkmalen nonunique, nonadjoining und noncohesive) und (d) Übersee: Namibia (ehemals einzige Amtssprache, später semi-offizielle Sprache, derzeit eine der ,Nationalsprachen‘, relativ hohe Vitalität, Beispiel für Typ 3 mit den Merkmalen nonunique, nonadjoining und in gewissem Maße cohesive). Die deutsche Sprache in Namibia wird allerdings manchmal als Typ 2 eingestuft, z. B. von Wiese/Bracke (2021, 273). An dieser topografischen und typenbezogenen Einteilung orientiert sich die Reihenfolge der im nächsten Kapitel aufgeführten Fallbeispiele.
2 Deutschsprachige Minderheiten weltweit: Fallbeispiele Bei der nachfolgenden Betrachtung der ausgewählten deutsch(sprachig)en Minderheitengruppen werden zunächst allgemeine Grundlageninformationen geboten wie geografische Lage, Demografie und (Siedlungs-)Geschichte, aber auch Kultur, Politik und rechtliche Stellung der deutschen Sprache, um dann der thematischen Ausrichtung des Bandes entsprechend auf die soziolinguistische, vor allem mehrsprachigkeitsbezogene Situation (z. B. Kontaktsprachen, Dialekte, Sprachformen des Deutschen und Besonderheiten des Sprachgebrauchs), die Sprachkompetenz sowie auf Spracheinstellungen zu fokussieren.
2.1 Südtirol 2.1.1 Allgemeines Südtirol ist als flächenmäßig größte Provinz Italiens dennoch relativ dünn besiedelt, ihre Einwohnerzahl liegt bei 532 080 (Stand: Dezember 2019, Statistiche demografiche ISTAT 2021). In Südtirol herrscht eine offizielle Dreisprachigkeit mit Deutsch, Italienisch und regional daneben Ladinisch. Laut der letzten Volkszählung 2011 fühlt sich die überwiegende Mehrheit der deutschen Sprachgruppe zugehörig (69,6 Prozent) (vgl. Glück/Leonardi/Riehl 2019, 246 und Rabanus/Bidese/Dal Negro 2019, 1097). Südtirol war bis zum Ersten Weltkrieg durchgehend Teil von Gesamttirol. 1919 wurde es im Vertrag Saint-Germain trotz der dominant deutschsprachigen Bevölkerung (1910 zu 89 Prozent) dem italienischen Staat zugesprochen. Nach langen sprachenpolitischen Turbulenzen wertete schließlich 1972 das zweite Autonomiestatut die Region zur Autonomen Provinz Bozen-Südtirol auf und sah eine Reihe von Minderhei-
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tenrechten vor, z. B. die Anerkennung von Mehrsprachigkeit und in diesem Zuge das Recht auf die öffentliche Verwendung der deutschen Sprache (Ammon 2015, 240–248; Glück/Leonardi/Riehl 2019, 248 f.).
2.1.2 Stellung der deutschen Sprache Deutsch verfügt über eine gefestigte Position. Das erwähnte Autonomiestatut beinhaltet Folgendes: (a) Proporzregelung (d. h. Zuweisung von öffentlichen Zuschüssen für Kultur und soziale Fürsorge und Zuteilung der Stellen im öffentlichen Dienst nach dem Zahlenverhältnis der Sprachgruppen), (b) Zweisprachigkeit (d. h., Deutsch ist dem Italienisch gleichgestellt) und (c) ethnische Präsenz (alle Körperschaften setzen sich ebenfalls nach dem Proporz zusammen, Glück/Leonardi/Riehl 2019, 248 f.). Das Deutsche ist auch im Bereich von Kultur, Medien und Bildung fest verankert: In den Schulen der deutschen Sprachgruppe ist Deutsch alleiniges Unterrichtsmedium – Italienisch steht als Zweitsprache mit ca. sechs Wochenstunden ab der zweiten Grundschulklasse im Curriculum (vgl. Riehl 2000, 241 und Volkmer 2019, 49).
2.1.3 Kommunikative Situation und sprachliche Konstellationen Südtirol zeichnet sich – wie Glück/Leonardi/Riehl (2019, 254) ausführen – durch eine sehr komplexe Sprachsituation aus: nicht gleichmäßige Verteilung der deutschsprachigen Bevölkerung und verschiedene Ausprägungsformen verankerter und gelebter Mehrsprachigkeit. Die gesellschaftliche Mehrsprachigkeit ist dem Typ Einsprachiger Staat mit regionaler Mehrsprachigkeit zuzuordnen. Die Angehörigen der deutschen Sprachgruppe sind in der Regel bilingual dank der Beherrschung des Deutschen (meist in mehreren Varietäten) und mindestens des Standarditalienischen (Eichinger 1996, 213). Zu den autochthonen Sprachen (Deutsch, Italienisch und zudem regional Ladinisch) treten mittlerweile auch die Sprachen von Migranten vor allem aus Albanien, Marokko und Pakistan hinzu (Glück/Leonardi/Riehl 2019, 255). Im Rahmen einer Triglossie werden Standarddeutsch und Italienisch als H-Varietäten [high variety] gesprochen und der Südtiroler Dialekt als L-Varietät [low variety]. Doch auch hier kommt es zu Domänenüberschneidungen, d. h., die beiden H-Varietäten konkurrieren miteinander. (Riehl 2014, 20)
Dabei gilt, dass eine Vielfalt bzw. ein Kontinuum an Varietäten und Varianten besteht, deren Konventionalisierungsgrad, wie Glück/Leonardi/Riehl (2019, 256) anmerken, noch nicht hinreichend erschlossen wurde. Die grundlegenden Sprachlagen sind im Diasystem des Deutschen die folgenden: (a) Umgangssprache, wobei es schwierig zu determinieren ist, was als solche gewertet wird (z. B. in einer Kommunikation zwischen Sprechern verschiedener Dialekt
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varietäten kann sich ein Sprecher dem Dialekt des Gesprächspartners anpassen; dabei wird dieser Basisdialekt vom anderen Sprecher als Umgangssprache verwendet, siehe Glück/Leonardi/Riehl 2019, 257 f.). (b) Regionaler Standard: Südtirol wird Ammons Plurizentrik-Konzeption zufolge (1995, 73–85, 95–100 und 405–411) als sog. (nationales) Halbzentrum angesehen. Der deutsche Standard in Südtirol unterscheidet sich im Hinblick auf Phonetik, Morphosyntax und Lexik in gewissem Umfang von anderen deutschen Standardvarietäten; infolge der gemeinsamen Geschichte der derzeitigen Nachbarschaft weist das Südtiroler Standarddeutsch zahlreiche Übereinstimmungen mit dem österreichischen Standarddeutsch auf (siehe ausführlich Ammon 1995, 408 und 2015, 247). Man bedient sich dieser Südtiroler Standardvarietät vor allem im Umgang mit Nicht-Einheimischen und in offiziellen Kontexten (Glück/Leonardi/Riehl 2019, 268). (c) Die Dialekte werden zum Verband der (süd-)bairischen Dialektvarietäten gerechnet (vgl. ebd., 258). Zur Binnengliederung des Dialektraums und zu den charakteristischen Merkmalen liefern die Arbeiten von Kühebacher (1962, 155–158), Meraner/Oberhofer (1982, 28), Moser (1982, 76–89), Lanthaler (1997, 371–376) und Glück/Leonardi/Riehl (2019, 258 f.) informative Auskünfte. Hinsichtlich der sprachkommunikativen Eigenheiten spielen diverse mehrsprachigkeits- und kontaktinduzierte Phänomene eine wichtige Rolle (vgl. zur Problematik des gemischten Sprechens auch Tracy, Beitrag 18 in diesem Band). Besonders lexikalische und semantische Transferenzerscheinungen (oft sog. Bedürfnisentlehnungen) kommen sowohl im gesprochenen als auch im geschriebenen Sprachgebrauch vor (Riehl 2000, 238), oft sind es (unassimilierte) Wortentlehnungen aus dem italienischen Alltagswortschatz (z. B. Carabinieri ‚italienische Gendarmerie‘) oder Bedeutungsentlehnungen aus der Kontaktsprache wie zusätzliche Neubedeutungen auch im Deutschen verwendeter Fremdwörter (z. B. Funktionär ‚Beamter‘ nach ital. funzionario) (vgl. Riehl 2000, 238). Über das Spektrum der Transferenzprozesse bieten z. B. die Publikationen von Putzer (1982), Lanthaler (1997), Riehl (2000), Dal Negro (2011) und Glück/Leonardi/Riehl (2019) nähere Informationen. Zur ebenfalls hochrelevanten Kode-Umschaltungs- (code-switching) und Kode-Mischungs-Problematik (code-mixing) findet man empirische Daten und Erkenntnisse z. B. bei Tartarotti (2010) und Glück/Leonardi/ Riehl (2019); ein Beleg von Tartarotti (2010, 66) aus der Krautwalscher Ortsmundart lautet: i versteas ober i konns nit gscheid redn è quello il problema ‚ich verstehe es, aber ich kann es nicht gescheit reden, und das ist das Problem‘. Im Sinne einer lebensweltlichen Mehrsprachigkeit sind öffentliche Aufschriften, Formulare, Verkehrs- und Ortsschilder durchgängig zweisprachig deutsch-italienisch (in ladinischen Orten sogar dreisprachig), wobei sich die Reihenfolge der Sprachen nach der quantitativen Stärke der Sprachgruppen in der jeweiligen Gemeinde richtet (Glück/Leonardi/Riehl 2019, 268 bzw. 271). Diese Beschilderung bildet einen wesentlichen Teil der linguistic landscape. Gleichwohl kann die Verwendung der deutschen Sprache jedoch nicht in allen Domä
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nen garantiert werden, beispielsweise sind Beipackzettel oder Gebrauchsanleitungen für in Italien hergestellte Produkte oft nur auf Italienisch erhältlich. Auch sind in vielen Berufsfeldern – zumindest im schriftsprachlichen Verkehr – Italienischkenntnisse nötig (Glück/Leonardi/Riehl 2019, 268). Insgesamt legen die Sprecher ein erhebliches Maß an Sprachloyalität an den Tag und folglich erfreuen sich die deutschen Sprachvarietäten einer intensiven Vitalität: Die deutschsprachigen Südtiroler können sich zu 93,0 Prozent fließend auch in deutschen Dialekten ausdrücken (ASTAT 2015, 137), wobei zwei Drittel bzw. drei Viertel der Südtiroler die deutsche bzw. die italienische Standardsprache sehr gut verstehen (ebd.). Die Statistiken dokumentieren bei den jüngeren Sprechern einen noch höheren Kompetenzstand in beiden Standardsprachen im Vergleich zur ASTAT-Erhebung von 2004. Der Grund dafür ist die Einführung eines Schulsystems, das den Unterricht beider Sprachen vorsieht (ebd., 133–135). Die deutschsprachige Bevölkerungsgruppe – einschließlich der Jugendlichen – ist eindeutig durch positive Einstellungsstrukturen gegenüber ihrer Sprache im Allgemeinen und gegenüber dem Dialekt im Besonderen gekennzeichnet (Born/Dickgießer 1989, 110; Glück/Leonardi/Riehl 2019, 268). Da allerdings Deutsch in anderen Staaten als Nationalsprache fungiert, fällt es Südtiroler Deutschsprachigen u. U. nicht leicht, sich mit der Sprache Deutsch generell zu identifizieren. Vielmehr konstruiert man gewöhnlich eine eigene Identität als Südtiroler und identifiziert sich primär über die regionale Dialektvarietät (Riehl 2003, 123; Glück/Leonardi/Riehl 2019, 269 f.). Zu Identitätsfragen in plurikulturellen Kontexten vgl. auch B. Busch, Beitrag 3 und Kresić Vukosav, Beitrag 17 in diesem Band.
2.2 Ungarn 2.2.1 Allgemeines Das Karpatenbecken (die Pannonische Tiefebene) ist ein typisches Vielvölker-Areal, sodass Ungarn von einer Vielfalt an Ethnien und Sprachen umgeben wird und jahrhundertelang – bis zu den radikalen Territorialverlusten durch den Friedensvertrag von Trianon 1920 – selbst als genuin multiethnisches Land galt. Es gab vier historische Minderheitengruppen: Deutsche, Südslawen, Rumänen und Slowaken. Gegenwärtig haben 13 Minderheiten einen anerkannten Status: Deutsche, Kroaten, Serben, Rumänen, Ruthen, Slowaken, Ukrainer, Griechen, Roma, Polen, Bulgaren und Slowenen, wobei die Roma- und die deutsche Minderheit zahlenmäßig die bedeutendsten sind (Knipf-Komlósi 2008, 267 und 2020, 11). Die Volkszählung 2011 hat 131 951 Ungarndeutsche nachgewiesen, aber Minderheitenorganisationen schätzen deren Anzahl auf 200 000 bis 220 000. Die wichtigsten Siedlungsschwerpunkte sind heute die Umgebung von Budapest, das Plattensee-Oberland, Gebiete an der Westgrenze zu Österreich, Südungarn (die sog. Schwäbische Türkei und die Batschka) sowie einige Streusiedlungen.
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Deutsche zählen nicht als Ureinwohner des Karpatenbeckens. Die Ansiedlung Deutschsprachiger setzte bereits sehr früh ein, etwa gleichzeitig mit der Landnahme der Ungarn (Ende des 9. Jahrhunderts). Die Entstehung nennenswerter deutsch-ungarischer Beziehungen begann, wie Knipf-Komlósi (2008, 270) ausführt, im 10. Jahrhundert durch die Heirat des ersten ungarischen Königs, St. Stephan, mit Gisela, Tochter des bayerischen Herzogs Heinrich des Zänkers und Schwester Kaiser Heinrichs II. Zu einem Zuzug aus deutschen Regionen kam es in größerem Ausmaß im späteren Mittelalter. Beispiele sind die Niederlassungen der Siebenbürger Sachsen im damaligen Ostungarn (im heutigen Rumänien) sowie der Zipser und Hauer in Oberungarn (in der heutigen Slowakei), siehe Knipf-Komlósi (2020, 12). Die zweite Etappe der Kolonisation verkörperte im 18. Jahrhundert (nach der Befreiung von der türkischen Besetzung) die zahlenmäßig bedeutendste Ansiedlung. Kolonisten wurden zum einen von privater Seite durch Agenten ungarischer Grundherrschaften und zum anderen von staatlicher Seite durch die königliche Kammer sowie von der katholischen Kirche angeworben (Knipf-Komlósi 2008, 271 f.). Der Großteil der heute in Ungarn lebenden deutschsprachigen Bevölkerung gelangte dank dreier ,großer Schwabenzüge‘ im Laufe des 18. Jahrhunderts nach Ungarn. Dabei erfolgte im ersten Zeitabschnitt (der sog. Karolinischen Kolonisation) unter Kaiser Karl IV. die Besiedlung von Gebieten Transdanubiens, der unteren Gebiete der Tiefebene, des schwäbischen Siedlungsraums Sathmar sowie der Sprachinsel Munkatsch durch ca. 15 000 Menschen aus Köln, Trier, dem Rheinland und Schwaben (es waren insgesamt 46 Siedlungen). Im zweiten Zeitabschnitt kamen unter Maria Theresia Bauern aus dem Elsass und Lothringen, Baden, der Pfalz, Schwaben und Tirol in die später jugoslawisch und rumänisch gewordenen Gebiete. Der dritte Zeitabschnitt unter Josef II. brachte eine weitere Besiedlung der bisherigen Territorien (hauptsächlich der Batschka und des Banats) durch Bauern aus mittleren und westlichen Teilen deutscher Lande (Pfalz, Hessen, Saar); im Jahr 1790 gab es allein in Südungarn ca. 70 000 deutsche Kolonisten. Um die Wende zum 19. Jahrhundert betrug die Anzahl der Deutschen insgesamt schon ca. 1,1 Millionen. Für das 19. Jahrhundert waren einerseits Ausbau und Stabilisierung deutscher Dörfer, Siedlungen sowie Tochtersiedlungen (Knipf-Komlósi 2008, 272 f.), andererseits der Beginn der Assimilierung (Magyarisierung) des deutschen Bürgertums charakteristisch. Im 20. Jahrhundert fanden Kriege sowie große politische Umbrüche und damit einhergehende Traumata statt: Als Folge des Friedensvertrags von Versailles-Trianon musste Ungarn einen extrem großen Teil seines Territoriums samt Bevölkerung an die Nachbarstaaten abtreten, wodurch sich auch viele ungarndeutsche Regionen plötzlich in einem anderen Land wiederfanden (vgl. Volkmer 2019, 33). Auch der Zweite Weltkrieg hatte schwere Folgen für die Ungarndeutschen: Verschleppung zur Zwangsarbeit (malenkij robot) in die Sowjetunion und Vertreibung von ca. 170 000 Deutschen in das Nachkriegsdeutschland (1946–1950). Nach Diskriminierungen und einer erst langsamen und eher nur oberflächlichen Konsolidierung im real existierenden Sozialismus eröffnete nach der politischen Wende besonders das Minderheitengesetz 1993 neue Möglichkeiten, z. B. in Form von Minderheitenselbstverwaltungen.
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2.2.2 Stellung der deutschen Sprache Deutsch verfügt in Ungarn über vielfältige und tief verwurzelte Traditionen. Im Habsburgerreich war von 1784 bis 1790 Deutsch die Amtssprache, das in Ungarn das Latein in dieser Funktion ablöste. 1836 wurde Ungarisch als eine und 1844 als die einzige Amtssprache etabliert, wobei natürlich auch dem Deutschen ein privilegierter Rang im österreich-ungarischen Staat zufiel. Zurzeit spielt Deutsch sowohl als anerkannte Minderheitensprache wie auch als Fremdsprache eine beachtliche Rolle. Wenngleich die Ungarndeutschen nicht über ein voll ausgebautes deutschsprachiges Schulsystem verfügen, so gibt es im Bildungssektor gute Möglichkeiten für das Erlernen der deutschen Sprache auf institutioneller Ebene. Der schulische Minderheiten-Deutschunterricht zielt nicht nur darauf ab, sprachliche Kompetenzen zu vermitteln, sondern auch darauf, die bi- bzw. transkulturelle Identität der ungarndeutschen Kinder auf- bzw. auszubauen sowie eine angemessene Kultur- und Traditionspflege zu fundieren. Deutsch befindet sich im ungarischen Schulsystem hinsichtlich der Lernerzahlen direkt nach Englisch fest auf dem zweiten Rangplatz. Auch die Einführung zweisprachiger Ortsschilder in den von Minderheiten bewohnten Gegenden im Rahmen einer liberaleren Nationalitätenpolitik signalisiert den gesellschaftlichen Status des Deutschen. Alte deutsche Ortsnamen konnten dadurch, wie dies Knipf-Komlósi (2008, 281) und Ammon (2015, 337) verdeutlichen, wiederbelebt werden und sind bis heute (z. B. auch in den deutschsprachigen Medien) im Umlauf. Zahlreiche kulturelle Institutionen und Organisationen sowie ein – wenn auch eher bescheidenes – Medien- und Pressewesen sorgen für eine nicht unerhebliche Präsenz der deutschen Sprache.
2.2.3 Kommunikative Situation und sprachliche Konstellationen Der Typ der gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit lässt sich als Einsprachiger Staat mit Minderheitenregionen bestimmen. Die Ungarndeutschen konstituierten unter soziolinguistischem Blickwinkel nie eine einheitliche Gruppe, jedoch wiesen sie viele übergreifende Gemeinsamkeiten auf. Allenthalben herrscht bezüglich der sprachlichen Binnen- und der Außenstruktur eine besondere sprachkommunikative Situation mit spezifischen Dynamik- und Heterogenitätsmustern des Deutschen vor (vgl. Földes 2021, 91). Die Sprachlichkeit dürfte sich wohl – vereinfachend ausgedrückt – durch vier Hauptmerkmale beschreiben lassen: (1) Dialektalität, (2) Lokalismus, (3) Formen von Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit und (4) generationenbedingte sukzessive Sprachumstellungstendenzen zugunsten der Umgebungssprache Ungarisch. Die Dialektalität bezieht sich auf sog. Siedlungsmundarten vor allem fränkischer, bairischer und seltener schwäbischer Provenienz in ihrer nähesprachlichen oralen Form mit gravierenden Mischungs- und Ausgleichsvorgängen. Am prägnantesten treten heute ein durchdringender soziokultureller und zwischensprachlicher Austausch sowie in der Konsequenz diverse Manifestationen von –
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immer instabiler werdender – Mehrsprachigkeit und Inter- bzw. Transkulturalität in Erscheinung. Als Reflex auf die soziokulturellen Rahmenbedingungen des 20. Jahrhunderts ist die Herausbildung neuer kommunikativer und sprachlicher Formationen selbstverständlich. So entstanden u. a. spezifische Zwischenformen und Verbindungen aus den verfügbaren Kodes, bei denen prototypisch drei Phänomenklassen zutage treten: (a) Prozesse interlingualer Transfers/Übernahmen, (b) zwischensprachliche Kopien und (c) Sprachalternierungen. Die ersten beiden Manifestationsarten können (siehe Földes 2021, 89) unter Hybridität und Typ (c) unter Synkretismus subsumiert werden. Als Hyperonym könnte man in Anlehnung an Muysken (2005, 23) von sprachlichen Interaktionsphänomenen (language interaction phenomena) sprechen. Das Kontaktdeutsch hat sich gleichsam als Hybriditätsinkubator (Földes 2020) erwiesen. Mithin kommunizieren Ungarndeutsche heute sprachübergreifend und praktizieren einen translingualen deutsch-ungarischen Sprachmodus, indem sie zwei (gelegentlich mehr) Sprachen parallel, aber auch ineinander bzw. gemischt verwenden. Folglich kommt es regulär zu Überlappungen, Verschiebungen, Verschränkungen und Überkreuzungen heterogener Art; die oralen Varietäten der Ungarndeutschen übernehmen Elemente, grammatische Strukturen, Text- bzw. Diskurstraditionen und kommunikative Handlungsmuster in großem Umfang aus der omnipräsenten Kontaktsprache Ungarisch (Földes 2021, 92). In den verschiedenen Interaktionssituationen wird produktiv wie rezeptiv im Wesentlichen – wenn auch in unterschiedlichen Domänen und mit unterschiedlicher Häufigkeit – auf drei sprachliche Kodes und ihre subtilen Übergangs- bzw. Mischformen zurückgegriffen, und zwar auf die jeweilige ungarndeutsche Ortsmundart, auf die ungarische Standardvarietät und (zumindest sporadisch) auf die deutsche Standardvarietät. Das heißt, dass eine Mehrsprachigkeit bei strukturell ,unähnlichen‘ Sprach(varietät)en mit ,ungleichwertigem‘ Status und Prestige besteht, woraus ein asymmetrischer Charakter des Sprachkontaktes resultiert. Diese Konstellation könnte man etwa bilinguale Dialekt-Standard-Diglossie nennen. Der in der mündlichen Ingroup-Kommunikation verwendete besondere bilingual-transkulturell geprägte Varietätentyp kann als Kontaktdeutsch (vgl. Földes 2005a, 37) bezeichnet werden. Dabei sind die sprachlichen Formen und ihre Diskursrealisationen durch eine außerordentlich hohe Dynamik gekennzeichnet, mitunter zeigen sich sogar Ansätze von Fluktuation sowie u. U. eine zunehmende Labilität. Folglich ist Okkasionalität ein immanentes Merkmal der gegenwärtigen ungarndeutschen Redeweise (siehe Földes 2020). In Bezug auf die Beherrschung der deutschen Sprache, in welcher Varietät auch immer, lässt sich ein weites Kontinuum aufspannen zwischen „sehr kompetent“ und „keine (produktive) Kompetenz mehr“, in dessen Mitte sich die sog. semispeaker, also Halbsprecher, befinden – vgl. zu dieser Terminologie Dorian (2009, 552) und Eller-Wildfeuer (2016, 49 f.) –, die über eine durchaus limitierte produktive Kommunikationskompetenz verfügen. Hinsichtlich der Objektkategorie Transferenzen kann man exemplarisch erwähnen, dass im ,Spezialkode‘ der Ungarndeutschen regulär hybride Sätze auftreten; ein Ensemble von Beispielen findet sich bei Földes (2020 und 2021). Dabei lässt sich in manchen Sequenzen ein gekonntes Balancieren im Zwischenraum der beiden
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Sprach(varietät)en beobachten, wie in einem Beleg aus Wieland/Villány (Földes 2020, 84): hát sog ich Gergő mér nem host noch net tovább noch gelernt, noch weider. Diese Aussage einer 101-jährigen Gewährsperson kann gleichsam als ,Paradebeispiel‘ für das Zusammenspiel der beiden Sprachen gelten: (1) Die syntaktischen Regeln des Deutschen werden hier trotz der ungarischen Transferenzelemente eingehalten, also: Nun sage ich Gergő [ein männlicher Vorname], warum hast [du] noch nicht weitergelernt? Noch weiter. Die Wortstellung spiegelt also gänzlich ein deutsches Muster wider. (2) Auch das hybride Kompositum továbbgelernt (‚weitergelernt‘) ist grammatisch korrekt, wobei es allerdings ungarischen semantischen Regularitäten folgt, denn statt des Verbs továbbtanul (‚weiterlernen‘) würde man im Standarddeutschen eher studieren sagen. (3) Im Schlussteil wiederholt die Sprecherin das Adverb weider (‚weiter‘) auf Deutsch, was als bilinguale Dopplung (siehe weiter unten) betrachtet werden kann. Insgesamt überwiegen lexikalisch-semantische Transferenzen, wobei der Sprachkontakt zuerst Lexeme außerhalb des Kernlexikons, dann gleichsam den gesamten Wortschatz des Dialekts aufgrund der zunehmenden Dominanz des Ungarischen und der damit einhergehenden Marginalisierung der Minderheitensprache erfasst. Frequent sind hybride Substantivkomposita wie Herzorvos (‚Herzarzt, Kardiologe‘ als Determinativkompositum aus deutsch Herz + ungar. orvos = ‚Arzt‘). Die fortgeschrittene Symbiose der beiden Sprach(varietät)en wird z. B. auch daran deutlich, dass bei ungarischen Verben in hybriden oder in sonst einsprachig deutsch-dialektalen Sätzen die Suffigierung oft durch deutsche Flexive erfolgt. So wird beim Partizip II das deutsche Präfix ge- dem ungarischen Wortstamm vorgeschaltet. Noch interessanter sieht es mit ungarischen präfigierten Verben aus, die mit deutschen Partikelverben kombiniert werden. Hier positioniert sich das deutsche ge-Präfix zwischen dem ungarischen Präfix und dem ungarischen Stamm. Die Endung -t im Auslaut kann sowohl als Teil des ungarischen Wortstammes wie auch als deutsches Dentalsuffix interpretiert werden, vgl. das Partizip Perfekt fölgedíszít (‚aufgeschmückt‘). Herausstechend sind Belege, in denen ein und dieselbe grammatische Funktion zweimal und sogar mit kategorial unterschiedlichen Mitteln ausgedrückt wird. Eine derartige morphosyntaktische Markierung wäre beim Kontakt von zwei modernen indogermanischen Sprachen nicht möglich, da aber Deutsch und Ungarisch typologisch disparate (und genetisch nichtverwandte) Sprachen sind, konnte z. B. in der folgenden Präpositionalphrase die Ortsbestimmung zweifach bezeichnet werden; einmal mit der deutschen lokalen Präposition in und einmal mit dem ungarischen Superessiv-Suffix -on, also: in Martonvásáron (‚in Martonvásár‘). Außerdem kann man beobachten, dass das Gros der salienten Belege mit ungarischen Bauplänen, Konstruktions- bzw. Formulierungsmustern zu erklären ist; folglich treten in Bezug auf Rektionen, Kollokationen, syntaktische Strukturen etc. vielgestaltige implizite Kontaktmanifestationen auf, man könnte sie auch zwischensprachliche Parallelstrukturiertheiten nennen, z. B. die ist auch in krebs gestorwe, Standarddeutsch: die ist auch an Krebs gestorben, aber ungarisch: ő is rákban halt meg (d. h. wörtlich: ,auch sie ist in Krebs gestorben‘). Kommunikativer Synkretismus offenbart sich grundsätzlich in Form von Kode-Umschaltung und bilingualer Dopplung (vgl.
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Földes 2020, dort sind auch Beispiele zu finden). Bei der Objektkategorie bilinguale Dopplung als besondere Art von Synkretismus handelt es sich hier um eine Äußerungsstrategie, bei der die Mitteilung oder ein Teil von ihr im Anschluss in der anderen Sprache nochmals ausgedrückt wird, also eine Wiederholung desselben in zwei Sprachen erfolgt (vgl. Földes 2005a, 239–241). Viele Kode-Umschaltungssequenzen zeigen ein harmonisches Bild; dabei verlangen besonders die intrasentenziellen Wechsel vom Sprecher intakte sprachkommunikative Fertigkeiten in beiden Sprachen, denn in diesen Fällen werden an den Schaltstellen die syntaktischen Regeln beider Sprachen weitgehend beachtet, wobei kaum Konflikte zwischen den aufeinandertreffenden grammatischen Strukturregularitäten auftreten. Aus vielen Diskursrealisationen lässt sich hingegen eher auf Kompetenzschwierigkeiten schließen. Außerdem fallen als Folge von Mehrsprachigkeit auch z. T. recht subtile Vermeidungsstrategien, Übergeneralisierungen u. a. auf. Das heißt: Nicht nur das ist kontakt- bzw. variationslinguistisch relevant, was der mehrsprachige Diskursakteur sagt und wie er es sprachlich umsetzt, sondern auch was und warum er etwas nicht sagt, warum er sich bestimmter Zeichen (kombinationen) der einen Sprache gar nicht oder nur kaum bedient (Földes 2021, 110). DaM befindet sich in einem Spannungsfeld zwischen Kontaktkreativität und Sprachverschleiß, wobei zunehmend Erosions- bzw. Attritionsprozesse auftreten. Heute ist das Ungarische zu der von den Ungarndeutschen am meisten gebrauchten, funktional wichtigsten Sprache, gleichzeitig zur Dachsprache für alle anderen Varietäten und zur H-Varietät für die Mehrheit der Sprecher avanciert; sie wird von allen Generationen und allen sozialen Schichten der Ungarndeutschen mündlich wie schriftlich beherrscht. Nur noch ein kleiner Prozentsatz der Minderheit – mit steigendem Alter – kann als kompetente Mundartsprecher betrachtet werden (Knipf-Komlósi 2008, 304; Riehl 2019, 1121 f.). Die Sprachattitüden zum Standarddeutschen und zum Dialekt transformieren sich gegenwärtig sowohl hinsichtlich der Fremd- wie auch der Eigenbeurteilung zusehends: Die Einstellung zur eigenen Sprache sowie zur Identität, aber auch die Einstellung der Mehrheit zur Minderheit(ensprache) zeigen eine immer positivere Tendenz (Knipf-Komlósi 2008, 309). Es gibt dabei natürlich feine Unterschiede: Die ältere Generation legt eine durchaus positive Einstellung zu den Ortsmundarten an den Tag, da sie diese als Erstsprache erworben hat und diese für sie somit eine identitätsstiftende Funktion besitzen (siehe ebd., 310 f.). Je jünger die Sprecher jedoch sind, umso weniger bejahend ist ihre Einstellung zum Dialekt (die jüngeren Generationen sprechen diese Varietät meist nicht mehr und können sich daher nicht mit ihr identifizieren; sie bevorzugen das Standarddeutsche). Standarddeutsch hat mittlerweile mehr Prestige, nicht zuletzt, da mit dieser Varietät oft berufliche, wirtschaftliche u. a. Vorteile verknüpft sind (vgl. zu Mehrsprachigkeit im Berufs- und Erwerbsleben Kniffka, Beitrag 22 in diesem Band).
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2.3 Chile 2.3.1 Allgemeines Die deutschsprachige Gruppe besteht derzeit – je nach Quelle – aus 20 000 bis 35 000 Personen, die in der Regel als zweisprachige Chilenen deutscher Abstammung zu betrachten sind, die Deutsch nicht mehr als Erstsprache haben (Born/Dickgießer 1989, 67). Es gibt kein geschlossenes deutschsprachiges Siedlungsgebiet, die Wohnstätten der Deutschchilenen liegen fast ausschließlich in den südlichen Provinzen Valdivia, Osorno und Llanquihue, in der Hauptstadt Santiago sowie in den Umgebungen von Concepción und Temuco (ebd., 68). Zur Siedlungsgeschichte weist Wolf-Farré (2017, 26–30) insgesamt drei Phasen der Immigration (sowie eine frühere deutsche Einwanderung in der Kolonialzeit des 15. und 16. Jahrhunderts) aus. In der ersten Phase der Einwanderung (1845–1875) waren Deutschsprachige in größerer Zahl aus verschiedenen Regionen des deutschen Sprachgebiets gekommen, zunächst aus Hessen und Brandenburg, dann aus Württemberg und der Oberlausitz, später aus Schlesien, Westfalen und schließlich aus Böhmen (Rosenberg 2018, 206 f.). Ab 1853 hatte die (bäuerliche) Besiedlung des LlanquihueSees, eines bis dahin noch völlig unerschlossenen Gebiets, als ,Neulandkolonisation‘ angefangen. Diese Colonia Llanquihue blieb aufgrund der geografischen Lage und der fehlenden infrastrukturellen Verbindung zu anderen Teilen des Landes lange selbstständig und (sprachlich) isoliert (ebd., 209). Die zweite Phase der Einwanderung (1882–1914) wurde durch die Erlassung neuer Einwanderungsgesetze in den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts wie die Ersetzung privater Kolonisationsagenten durch eine staatliche Agentur motiviert, die europäische Einwanderer anwarb (Wolf-Farré 2017, 29). Die Immigranten waren vorwiegend Industrie- und Landarbeiter aus Ostdeutschland (Rosenberg 2018, 207). Die dritte Phase der Einwanderung (ab 1914) erreichte ein kleineres Volumen (Wolf-Farré 2017, 30). Dabei flüchteten, wie Born/Dickgießer (1989, 70) erwähnen, in den ersten Jahren des Naziregimes viele deutschsprachige Juden nach Chile und gründeten dort 1938 eine jüdische Gemeinde namens B’ne Jisroel. Einen historischen und soziolinguistischen Ausnahmefall stellt die Colonia Dignidad (heute: Villa Baviera) dar, weil die Deutschsprachigen dort „nicht zu den Deutschchilenen im klassischen Sinne gezählt werden, da sie nicht der deutschen Einwanderung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zuzurechnen sind“ (Wolf-Farré 2017, 31): Die Bewohner als Mitglieder einer Art Sekte wurden gezwungen, abgeschottet von der Außenwelt und somit in einer sprachlichen Isolation zu leben, d. h., es gab keine nennenswerte Einwirkung des Spanischen als Kontaktsprache.
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2.3.2 Stellung der deutschen Sprache Deutsch hat in Chile keine Amtssprachlichkeit. Folglich gibt es lediglich Institutionen für Deutsch als Fremdsprache mit den arealen Schwerpunkten Santiago, Llanquihue und Concepciòn. Von insgesamt 12 500 Schulen mit Fremdsprachenunterricht im ganzen Land bieten 29 Schulen Deutsch als Fremdsprache an mit etwas steigender Anzahl von Lernenden; unter den Schülern lassen sich jedoch nach Rosenberg (2018, 211) nur wenige deutsche Muttersprachler finden. Hinzu kommt ein relativ reichhaltiges Angebot an deutschsprachigen kulturellen Einrichtungen und Programmen, Print- und Audiomedien, deutschem Vereinsleben usw. (vgl. ausführlicher Born/Dickgießer 1989, 71; Rosenberg 2018, 211 f.). Obwohl Erwerb und Gebrauch der deutschen Sprache rückläufig zu sein scheinen, genießt das Deutsche nichtsdestotrotz hohes Ansehen in der chilenischen Bevölkerung und ist auch im öffentlichen Raum präsent, vor allem in der Llanquihue-Region (z. B. deutsche Beschilderung als ,touristisches Markenzeichen‘), vgl. Rosenberg (2018, 210).
2.3.3 Kommunikative Situation und sprachliche Konstellationen Nach dem Typ der Mehrsprachigkeit liegt ein Einsprachiger Staat mit (kleinerer) mehrsprachiger Community vor. Die einzige kontaktierende Sprache mit substanziellem Einfluss auf das Deutsche ist das Spanische, indessen Indosprachen nicht ins Gewicht fallen (Born/Dickgießer 1989, 68). Die Einwanderer des 19. Jahrhunderts waren fast ausschließlich Dialektsprecher und gehörten der unteren Mittelschicht an. Sie scheinen dann ihre Dialekte zugunsten einer überregionalen, dem Standarddeutschen nahen Umgangssprache aufgegeben zu haben (ebd.). Mittlerweile sind Sprecher des Deutschen meist der oberen Mittelschicht zuzurechnen. Sofern heute noch deutsche Sprachkompetenz besteht, ist sie eher standardnah und häufig als Zweit- oder Fremdsprache erworben (ebd.; Rosenberg 2018, 210). Eine in der Forschungsliteratur reflektierte Sprachform ist das Launa-Deutsch (Lagunendeutsch). Es handelt sich um eine am Llanquihue im Laufe des 19. Jahrhunderts herausgebildete, von spanischen Lexemen stark interferierte Ausgleichsvarietät (Rosenberg 2018, 210). Gleichwohl moniert Wolf-Farré (2017, 70 f.) den Begriff LaunaDeutsch: Es gibt keinerlei konkrete Anhaltspunkte, die auf die einstige Existenz einer mehr oder weniger einheitlichen Varietät schließen ließen […]. Vielmehr scheint es sich bei diesen beiden Begriffen, ebenso wie bei ‚Chilotendeutsch‘ um Sammelbegriffe zu handeln, welche jedwede Form des Sprachkontakts und die daraus resultierenden Phänomene bezeichnen.
Infolge der multilingualen Sprecherkompetenz und der fortgeschrittenen oder gar abgeschlossenen Sprachumstellung (language shift) tritt ein breites Spektrum an Sprachkontaktphänomenen auf. Speziell im Launa-Deutschen belegt beispielsweise Demel
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(2013, 179) – neben phonetischen Transfers – verschiedenartige lexikalische Transferenzerscheinungen, einschließlich hybrider Bildungen, und stellt dazu fest: Signifikant fällt das Fehlen eines fixen Repertoires an spanischen Lexemen auf, das den Status von Lehnwörtern übernommen hätte. Das spanische Lexikon wird lediglich bei zu langsamer Abrufbarkeit des deutschen Begriffes herangezogen.
Ein Beispiel hierfür ist: Mach die tranca zu. (span.: la tranca ‚Sperrbalken beim Weidezaun‘). Für morphologische Transferenzerscheinungen konstatiert Demel (2013, 181) u. a.: Das Kombinieren von spanischen Verben mit dem deutschen Verbsuffix -ieren ist durchaus gebräuchlich, wird von den deutschsprachigen Nachfahren der Kolonisten auch als Charakteristikum ihrer Mischsprache bezeichnet. Diese Interferenzerscheinung kommt dennoch eher nur sporadisch zum Einsatz.
Ein Beispiel dafür: Von diesen Gesetzen aprovechieren dann die Arbeitslosen. (span.: aprovechar ‚nützen, ausnützen‘). Fischer (2007) hat Kode-Umschaltungsfälle anhand von (narrativen) Interviews erschlossen und konnte bilanzieren, dass Kode-Umschaltung bei den Deutschchilenen (auch nach eigenen Aussagen der Sprecher) regelmäßig vorkommen. Dabei trat die diskursive Funktion von Kode-Umschaltung am häufigsten in Erscheinung, wenn die Sprecher – mit Deutsch als Matrixsprache – indirekte Rede wiedergaben (ebd., 92) wie im folgenden Beispiel: das ist instinktiv würd ich sagen weil sie einen nicht verstehen plötzlich der kleine sagt no no me hables así tan raro das sagen sie. Außerdem gibt es zahlreiche andere Auslösefaktoren, z. B. im Hinblick auf die Verwendung von Diskursmarkern bzw. Fragepartikeln, z. B. no, claro, bueno (ebd., 92 f.), momentane Wortfindungsunsicherheiten bzw. sprachkommunikative Kompetenzprobleme oder das Thema des Gesprächs. Zu den sprachlich-kommunikativen Charakteristika gehört auch die Verwendung von lexikalischen Reliktwörtern, wie das Beispiel aus dem Launa-Deutsch: Haben Sie eine Photomaschine mit dabei? zeigt. Demel (2013, 184) betont diesbezüglich:
Die Abgekapseltheit vom Mutterland ging Hand in Hand mit dem Ausschluss aus der muttersprachlichen Sprachentwicklung, ein Umstand, den die Interviewten durchaus als Mangel empfinden.
In Bezug auf Sprachgebrauch und -kompetenz konnte Fischer (2007, 82–88) eine von der Großeltern- über die Eltern- bis hin zur Kindergeneration kontinuierlich rapide abnehmende Tendenz diagnostizieren. Denn für die allermeisten Deutschchilenen findet die Bewältigung des Alltags beinahe ausschließlich auf Spanisch statt. Eine natürliche deutsche Sprachverwendung außerhalb künstlich konstruierter Kontexte (wie Schule oder deutsche Vereine) ergibt sich erst bei Reisen in den deutschen Sprachraum oder bei Kontakten mit Deutschsprachigen aus Europa (vgl. Wolf-Farré 2017, 110). Jedoch ist nach Wolf-Farré (2021, 326) ein vollständiger Untergang der deutschen Sprache in sämtlichen Domänen des öffentlichen und privaten Lebens sowie in der
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deutschchilenischen Kultur in Chile vorerst sehr unwahrscheinlich und auch längerfristig nicht erwartbar. Seine Prognose stützt er durch zwölf spracherhaltende Faktoren (Wolf 2021, 321–326). Die Spracheinstellungen sind auch dadurch geprägt, dass Beherrschung und Gebrauch der deutschen Sprache für die meisten von Wolf-Farré (2017, 144) befragten Deutschchilenen offenbar kein unabdingbares Merkmal für ihre deutschchilenische Selbstidentifikation sind. „Die deutsche Sprache ist […] nur eines der Merkmale, die von den Chilenen als charakteristisch für Deutschchilenen erachtet werden“ (ebd., 148). Während ältere Deutschchilenen der deutschen Sprache gewöhnlich sehr positiv und aktiv gegenüberstehen, liegt die Sprachloyalität der jüngeren, so Fischer (2007, 89), eher beim Spanischen.
2.4 Namibia 2.4.1 Allgemeines Der multilinguale Vielvölkerstaat Namibia ist ein sehr dünn besiedeltes Land in Südwestafrika mit einer relativ ungleichmäßig verteilten Bevölkerung. Das derzeitige Siedlungsgebiet der Deutschnamibier erstreckt sich über das gesamte bewohnte Land; dabei verkörpern Swakopmund und die Hauptstadt Windhoek (auf Deutsch Windhuk) die größten Ballungszentren (vgl. Ammon 2015, 362; Dück 2018, 111). Außer der einzigen staatlichen Amtssprache Englisch existieren zwölf – nach Dücks Aufzählung (2018, 116) elf – weitere ‚Nationalsprachen‘, eine davon ist das Deutsche (Zimmer 2019, 1181). Die Community umfasst aktuell ca. 22 000 Deutschsprachige (also weniger als ein Prozent der insgesamt knapp 2,5 Millionen Einwohner), die größtenteils aus Nachkommen der Siedler aus der Kolonialzeit, aber auch aus neu Eingewanderten besteht (Ammon 2015, 359–361; Dück 2018, 112 f. und Radke 2021, 462). Indes beziffern Zimmer (2020, 300) und Roberge (2020, 842) die Anzahl der Deutschsprachigen mit 20 000 bzw. mit einer knapp unter diesem Wert liegenden Zahl, während Zappen-Thomson (2021, 334) die Zahl auf 25 000 schätzt.
2.4.1 Stellung der deutschen Sprache Deutschnamibier machen z. B. in Windhoek lediglich etwa drei Prozent der Bevölkerung aus, jedoch ist ihr wirtschaftlicher Einfluss nicht unerheblich und die deutsche Sprache erfreut sich in der Sprachlandschaft relativ hoher Präsenz, was zum einen historisch bedingt ist und zum anderen mit der sozialen und ökonomischen Stellung der meisten Deutschsprachigen zusammenhängt (Zimmer 2019, 1184). Auch viele Ortsnamen deutscher Provenienz belegen das deutschsprachige politische und kulturelle Erbe (Dück 2018, 113). Deutsch hat eine besondere Position, die in erster Linie
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auf die Kolonie Deutsch-Südwestafrika aus den Jahren 1884 bis 1915/1920 zurückgeht. Die deutsche Sprache ist jedoch bereits zuvor (1842) durch Missionierung in die Region eingeführt worden (Dück 2018, 113 f.; Zappen-Thomson 2021, 331). Unter der deutschen Kolonialherrschaft war Deutsch die einzige Amtssprache (vgl. Kleinz 1984, 18); wie Zimmer (2019, 1182) anmerkt, wurde als Lingua franca allerdings Afrikaans verwendet. Während des Apartheidregimes hatte Deutsch ab 1984 einen Status als semi-offizielle Sprache und genoss bestimmte Privilegien (Ammon 2015, 360; Zimmer 2019, 1182; Louden 2020, 826). Deutsch nimmt in den Bereichen Wirtschaft, Medien, Bildung und Schule einen wesentlichen Stellenwert ein, beispielsweise wird es nach Dück (2018, 116) aktuell an insgesamt 53 – vornehmlich staatlichen – Schulen für rund 9 000 Schüler entweder als Mutter- und/oder als Fremdsprache unterrichtet (siehe ausführlich dazu Ammon 2015, 363–365 und Zimmer 2019, 1183 f.).
2.4.2 Kommunikative Situation und sprachliche Konstellationen Aufgrund von Topographie, Geschichte sowie wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Faktoren liegt gesellschaftliche Mehrsprachigkeit vom Typ Mehrsprachiger Staat mit individueller Mehrsprachigkeit vor. Bezüglich des Sprachlagengefüges und der Sprachformen gilt, dass die deutschnamibische Diaspora zwar eine zum großen Teil identische Standardsprache mit der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland besitzt, jedoch aber keinen gemeinsamen Substandard, da dieser explizit namibisch und nicht (deutschland-)deutsch ist (Radke 2021, 463; Kellermeier-Rehbein 2016, 225). Die meisten Einwanderer kamen aus mehreren Dialektgebieten des Großraums Norddeutschland, sodass es nicht zu einem einheitlichen Dialekt im neuen Siedlungsgebiet kam; man kann deshalb realiter nicht von einem südwestafrikanischen (Südwester) Dialekt des Deutschen sprechen, sondern allenfalls von afrikanischen Varietäten des Deutschen (Born/Dickgießer 1989, 145 f. und Deumert 2009, 359). Indes kann die Lautung teilweise Merkmale der norddeutschen Umgangsvarietät aufweisen (Dück 2018, 120). Das unmarkierte Kontaktmedium ist unter den Deutschsprachigen eine standardnahe Alltagsvarietät. Das Namdeutsch (mit früherer Bezeichnung Südwesterdeutsch, vgl. Gretschel 1984) genießt Dück zufolge (2018, 120 f.) Prestige und wird sowohl in informellen als auch in formellen Kontexten (z. B. Schulunterricht, Medien, öffentlicher Raum) gebraucht. Zimmer (2020, 299) hingegen definiert Namdeutsch einschränkend als den „informelle[n] Sprachgebrauch deutschsprachiger NamibierInnen“. Die meisten Sprecher beherrschen neben Namdeutsch auch Afrikaans, Englisch und manchmal auch eine weitere, afrikanisch-namibische, Sprache. Im Rahmen der variablen Ressourcen ist in erster Linie der Namslang, eine durch Sprachkontakt entstandene informelle Verkehrsvarietät, die hauptsächlich von namibiadeutschen Jugendlichen verwendet wird, zu erwähnen (Dück 2018, 121). Diese Varietät zeichnet sich bei mündlicher Realisierung durch einen hohen Anteil von Entleh
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nungen und Strukturen aus dem Englischen sowie dem Afrikaans – aber auch einigen autochthonen Sprachen (Oshiwambo, Herero, Nama) – sowie naturgemäß zahlreiche Merkmale gesprochener Sprache (Ellipsen, Kontraktionen etc.) aus (vgl. KellermeierRehbein 2016, 228 und Dück 2018, 121). Das sog. Küchendeutsch oder Namibia Black German ist eine restringierte deutschbasierte Kontaktvarietät für eine rudimentäre Kommunikation zwischen Angehörigen unterschiedlicher Sprechergemeinschaften, in der Regel von Personen mit asymmetrischem Sozialstatus (Dück 2018, 121 und Zimmer 2019, 1182). Es entstand während der deutschen Kolonialzeit: Afrikaans war bereits als Lingua franca etabliert, die große Anzahl an deutschen Siedlern führte allerdings zur Entstehung dieses Küchendeutsch (Kiche Duits) um 1900, das schließlich auch unter Afrikanern verwendet wurde (Roberge 2020, 841). Das Küchendeutsch ist demnach keine Muttersprache und ist durch reduzierte Lexik, vereinfachte Morphosyntax sowie hochgradig variable (kontakt-)sprachliche Strukturen gekennzeichnet (Dück 2018, 122) und diente ursprünglich zur interethnischen Kommunikation im Haushalt deutscher Kolonialherren und auch allgemein zwischen Kolonisatoren und kolonialisierten Einheimischen. Kellermeier-Rehbein (2016, 231) spricht für das Jahr 2009 von einer sehr heterogenen Sprechergruppe mit ca. 15 000 Personen. Da beim interethnischen Sprachverkehr mittlerweile eher Englisch und Afrikaans die Hauptrolle spielen, wird der Gebrauch von Küchendeutsch voraussichtlich in den nächsten Jahren stark zurückgehen bzw. die Varietät wird ganz aussterben (Kellermeier-Rehbein 2016, 231). Da sich fast alle Lebensräume durch gemischtsprachige Gruppen auszeichnen (Dück 2018, 119) und die Sprecher je nach Kommunikationssituation eine andere Sprache des eigenen sprachlichen Repertoires verwenden, hat Deutsch durch die vielen Nationalsprachen und Sprecherkollektive naturgemäß zahlreiche Berührungsflächen mit anderen (Kontakt-)Sprachen. Dabei findet Sprachkontakt – hauptsächlich im Wortschatz – vornehmlich mit dem Englischen und dem Afrikaans (ebd.) statt. Die namibisch-deutschen Varietäten sind demzufolge durch eine Reihe von Sprachkontaktphänomenen geprägt, besonders im mündlichen Sprachgebrauch, aber in geringerem Ausmaß auch im Medium Schriftlichkeit. Riehl (2014, 97–102) und Dück (2018, 120) dokumentieren vielfältige Belege z. B. für lexikalische Transferenzerscheinungen vornehmlich aus dem Afrikaans und Englischen, die den auffälligsten Phänomentyp darstellen. Es sind meist Bezeichnungen für die lokale andersartige Wirklichkeit, aber auch Diskursmarker und vieles mehr. Transferierte Lexeme werden meist nicht nur phonetisch-phonologisch, sondern auch morphologisch integriert. Ein Beispiel von Riehl (2014, 99): Gib mir den pen, wobei das ursprünglich englische Substantiv pen ‚Kugelschreiber‘ maskulinen Genus erhält. Semantische Transferenzen sind ebenfalls häufig, besonders aus dem Afrikaans, z. B. Hier ist noch ein Happie, dann bist du klar, nach afrikaansen klaar ‚fertig, bereit‘ (ebd., 103). Morphologische und syntaktische Transferenzerscheinungen sind weitaus seltener und kommen sprecherbzw. situationsabhängig vor (Dück 2018, 124). Ein Beispiel für syntaktische Transferenzen ist der Abbau der Verbendstellung bei indirekten Fragesätzen: Die Negationspartikel steht, wie im Englischen und Afrikaans, nach dem finiten Verb, z. B. Der hat nicht
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seine Frau ermordet nach afrik. Hy het nie sy crou vermoor nie bzw. engl. He has not murdered his wife (Riehl 2014, 107). Eine morphologische Transferenz manifestiert sich beispielsweise im Ersatz der Dativ- und Akkusativmarkierung durch Präpositionalkasus (wie im Englischen und Afrikaans): Gib das für Dieter! nach afrik. om te gee vir (ebd., 110). Oft kommt es auch zu sog. Überblendungen, d. h. hybriden Konstruktionen, bei denen grammatische Funktionen mit Morphemen sowohl aus dem Afrikaans und dem Englischen als auch dem Deutschen markiert werden: meiner Omas Vater, eine Verschmelzung der afrikaansen (my ouma se pa) und der englischen (my grandma’s father) Possessivkonstruktion (ebd., 113; Dück 2018, 125). Kode-Umschaltungsphänomene – mit Englisch und Afrikaans – sind ebenfalls häufig, vornehmlich bei der Nonstandardvarietät des Namslang (vgl. auch Zappen-Thomson 2021, 335 f.). Vereinzelt kann man auch Sprach- und Varietätenmischungen beobachten, die durch Kontakt mit autochthonen Sprachen (z. B. Nama, Herero) entstehen (Dück 2018, 125). Hinsichtlich der Sprachgebrauchsmuster und der Sprachkompetenz ist festzustellen, dass es sich um eine überaus heterogene Sprechergemeinschaft mit unterschiedlichen Verwendungskontexten und Sprachkonstellationen handelt (ebd., 125 f.). Bis auf die Sprecher des erwähnten Küchendeutsch wird Deutsch im Allgemeinen auf einem hohen Niveau gesprochen. Auch die elaborierte Registerdifferenzierung im Namdeutschen, die von Wiese/Bracke (2021) beschrieben wurde, belegt die sprachkommunikativen Fertigkeiten von Deutschnamibiern. Diese sind insgesamt durchaus um Spracherhalt bemüht, gut vernetzt sowie kulturell vital und aktiv (Ammon 2015, 361; Dück 2018, 121 und Zimmer 2019, 1183). Während frühere Untersuchungen (z. B. Kleinz 1984, 203 f.) bei Afrikaanssprachigen eine eher zwiespältige Haltung gegenüber der deutschen Sprache diagnostiziert haben (Dück 2018, 126), scheinen heute im Allgemeinen positiv orientierte Spracheinstellungen zu überwiegen. Deutschnamibier selbst stehen den standardsprachlichen als auch den nicht-standardsprachlichen (d. h. den für das Namdeutsch und den Namslang spezifischen) Besonderheiten, die auch eine identitätsstiftende Wirkung haben, zweifellos zustimmend gegenüber (ebd., 121).
3 Resümee Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Kulturphänomen DaM in zahlreichen Weltregionen, dabei aber vor allem in Europa, nach wie vor eine feste Größe ist. Ihre Existenzformen sind als Folge jeweils verschiedener historischer, ethnischer, politischer, kultureller und anderer Prozesse recht heterogen; es liegen unterschiedliche sprachenpolitische Rahmenbedingungen sowie Mehrsprachigkeits- und Sprachkontaktkonfigurationen vor: Beispielsweise zeichnet sich Südtirol durch einen Multilingualismus samt einem reichen Varietätenspektrum aus, während z. B. in Namibia standardnahe Varietäten vorherrschen und wiederum z. B. Ungarn vor allem durch – overte wie coverte – Sprachkontaktphänomene geprägte autochthone Siedlungs
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mundarten aufweist. Überdies existieren in der Welt auch außergewöhnliche Typen wie Deutsch als Reliktvarietät (z. B. das Barossa-Deutsche in Südaustralien, vgl. Riehl 2021, 242). Des Weiteren sind manche Sprachgruppen eher homogen, wie z. B. in Namibia, indem sie kaum regionale Unterschiede und vergleichsweise geringe interindividuelle Variation zeigen (vgl. Zimmer 2020, 302), andere, z. B. in Chile oder in Ungarn, stellen lediglich eine areal motivierte Sammelbezeichnung teilweise recht heterogener Varietäten dar. Die Palette der offiziellen Geltung reicht von einer praktisch vollständigen Gleichberechtigung des Deutschen mit der Staatssprache (wie in Südtirol) über eine Verankerung als eine der Nationalsprachen, aber nicht als Amtssprache (wie in Namibia), bis zur Anerkennung als Minderheitensprache (wie in Ungarn) und sogar bis hin zur juristischen Statuslosigkeit (wie in Chile). Dabei ist nicht zu übersehen, dass sich die exterritorialen Varietäten – bis auf einige wenige Ausnahmen wie in Südtirol und Namibia – auf dem Rückzug befinden und zunehmend nur noch als sog. Heritage-Sprache bestehen, also als Sprache mehrsprachiger Individuen, die zum kulturellen Erbe der Familie gehört. Heritage-Sprecher beherrschen „ihre Umgebungssprache auf muttersprachlichem Niveau“, während sie „in ihrer Herkunfts- bzw. Erstsprache […] keine muttersprachliche Kompetenz besitzen“ (Borgwaldt 2014, 315). Sowohl Idiolekte als auch abstrakte Varietäten sind als komplexe und flexible adaptive Systeme aufzufassen, was besonders in hybriden Kulturräumen eine erhebliche Bedeutung hat. Entsprechend sind z. B. vom Systemaspekt her u. a. Prozesse von Variation, Wandel und Abbau etwa im Bereich der Kasusmarkierung gleichsam überall zu beobachten. Die Minderheitenvarietät steht den Sprechern oftmals nur als „Nähesprache“ (Ammon 2015, 267) zur Verfügung. Als prototypische Merkmale sind ihr multilingualitätsgeprägte Diskurspraktiken und Kommunikatstrukturen immanent, da DaM meist als effektiver Kontaktinkubator figuriert, indem sich Dynamiken des Deutschen im mehrsprachigen Kontext entfalten. Die kulturelle und sprachliche Inspirationsquelle ist meist die Umgebungskultur bzw. -sprache. Umfang und Tiefe der wirksamen Sprachkontakt- und Simplifizierungsmechanismen lassen sich als ein Kontinuum auffassen zwischen (fast) nur lexikalisch-semantischen Einflüssen (z. B. im Namdeutsch) einerseits und tiefgreifenden morphosyntaktischen Kontakt- bzw. Restrukturierungsverläufen (z. B. bei Varietäten in Ungarn) andererseits. Von einigen Ausnahmen abgesehen ist eine sukzessive Sprachumstellung in Richtung Mehrheitssprache und/oder eine Rückumstellung auf Deutsch als Fremdsprache charakteristisch. Da Sprache nicht nur Kommunikationsmittel ist, sondern auch ein symbolisches Differenzmerkmal, mit dem Gruppen konstituiert werden, verfügt DaM oft noch über beachtliches Identitätspotenzial. Weiterhin besteht eine weitgehende Gemeinsamkeit darin, dass die deutsche Sprache (zumindest unter kompetenten Sprechern) nach wie vor ein relativ hohes Prestige besitzt. Während die jüngeren Generationen oftmals die jeweilige Landessprache bevorzugen, da Kenntnisse in diesen Sprachen meist ökonomische Vorteile mit sich bringen, stehen die Älteren den urtümlichen lokalen Varietäten eher positiv
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gegenüber. Eine Tendenz ist, dass Deutsch aus diversen Gründen (z. B. Bequemlichkeit, mangelnde Kompetenz der Eltern, keine pragmatische Notwendigkeit) immer weniger an die nachfolgenden Generationen weitergegeben wird, jedoch oftmals eine nach wie vor starke emotionale Bindung zur Sprache und Kultur besteht.
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Yazgül Şimşek
13. Mehrsprachigkeit in Ballungsräumen am Beispiel von Berlin Abstract: Sprechweisen des Deutschen, die im Zuge der Migration und des Sprachkontakts entstehen, werden in Bezug auf ihre Stellung innerhalb des Varietätenspektrums des Deutschen kontrovers diskutiert. Der Beitrag betrachtet dieses meist als Kiezdeutsch bezeichnete Phänomen sowohl in seiner sozialen als auch formal-linguistischen Dimension, indem zunächst der Zusammenhang zu Erwerbsprozessen des Deutschen als Zweitsprache und zu der Rolle der Herkunftssprachen thematisiert werden. Der Kontext macht es weiterhin nötig, die Bevölkerungsstruktur in den Wohnvierteln wie Berlin-Kreuzberg in Zahlen und Fakten zu betrachten, da diese urbanen Milieus die Entstehung neuer Formen wie Kiezdeutsch begünstigen. Die strukturelle Beschreibung wird anhand von Beispielen aus im Berliner Raum erhobenen Korpora vorgenommen, wobei hauptsächlich die Strukturen angeführt werden, bei denen das Potential besteht, Teil des Formeninventars einer überregionalen neuen Varietät des Deutschen zu sein. In einer abschließenden Zusammenfassung werden Bezeichnungen und Bewertungen wie Ethnolekt reflektiert und es wird dafür plädiert, die Diskussion über Benennungen durch einen sprachgebrauchsbasierten Ansatz zu ersetzen, der die Realität Mehrsprachigkeit besser erfasst. 1 2 3 4 5 6 7
Gegenstand Migration und Sprache Sprachliche Vielfalt im urbanen Raum: faktisch Das Deutsch mehrsprachiger Jugendlicher: sozial Das Deutsch mehrsprachiger Jugendlicher: strukturell Zusammenfassende Diskussion Literatur
1 Gegenstand „Gastarbeiterkinder“ wurden geboren, „Immigranten der zweiten Generation“, erste Generation der Kanaken. In Deutschland wuchsen sie auf, hier gingen sie zur Schule. In der Schule wurde Deutsch, zu Hause Türkisch gesprochen. Längst haben sie einen Untergrundkodex entwickelt und sprechen einen eigenen Jargon: die „Kanak-Sprak“. (Zaimoĝlu 1995, 155)
Das Phänomen „Kanak-Sprak“ ist längst über den Rahmen des durch Zaimoĝlu geprägten und provokativ gemeinten Begriffes hinausgewachsen. Wie in anderen europäischen Ländern hat sich auch in Deutschland durch die im Zuge der Arbeitsmigration entstehende sprachliche Vielfalt und Sprachkontaktsituation eine Sprechweise herausgebildet, die durch jugendliche Mehrsprachige in Interaktionen innerhalb ihrer https://doi.org/10.1515/9783110623444-013
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Peergroups verwendet wird, und vor allem im sozialen Raum der Großstädte wie Berlin, Köln, Hamburg u. a. auffällt. Zaimoĝlus Bezeichnung Kanaksprak hat im Laufe der Jahre, mit zunehmender Auseinandersetzung mit dem Phänomen aus linguistischer Perspektive, seinen Platz neueren Benennungen wie Kiezdeutsch überlassen, wobei Kiezdeutsch als ‚Sprache der multikulturellen Nachbarschaft‘, vergleichbar einer dialektalen Form des Deutschen, zu verstehen ist (vgl. Wiese 2006; Du Bois 2013; Freywald u. a. 2015). Der Ausdruck Kiez wird als besonders auf den großstädtischen Raum Berlin passender Begriff gewählt, der metaphorisch auf die kulturell und sprachlich gemischten Lebens- und Nachbarschaftsverhältnisse in den Innenstadtvierteln Kreuzberg, Neukölln, Wedding, Mitte (u. a.) verweist. Gegenüber diesem von der Berliner lokalen Szene geprägten milieubezogenen Begriff ziehen andere Forscher und Forscherinnen die Bezeichnung Ethnolekt vor (vgl. Dittmar 2010), der sich auch auf andere als die Berliner Großstadtverhältnisse anwenden lässt (vgl. Dittmar 2014). Wie Dialekt auf den Raum und Soziolekt auf soziale Milieus verweisen, fokussiert Ethnolekt die sprachliche Variation bei Sprechern und Sprecherinnen des Deutschen, die einen Migrationshintergrund, eine andere Erstsprache als Deutsch haben. Im Bemühen darum, einen möglichst deskriptiven und nicht diskriminierend konnotierten Begriff zu finden, wird bei Dittmar/ Şimşek (2017, 193) statt Türkendeutsch, Kiezdeutsch, multikultureller Ethnolekt oder Dialekt eine Bezeichnung wie Kontaktdeutsch vorgeschlagen, um mit einem verallgemeinerbaren Distanzbegriff zu operieren, der den Sprachgebrauch der gesamten heterogenen Gruppe der mehrsprachigen Sprecher und Sprecherinnen des Deutschen umfasst. Die Frage der Einordnung in das Varietätengefüge des Deutschen, die sich mit den genannten Bezeichnungen andeutet, wird hier an das Ende gestellt, um zunächst der Beschreibung des sozialen Kontextes, der Formen und Funktionen den Vorrang zu geben. Zu erläutern ist dabei in Abschnitt 2 die Konstellation, in der das Deutsche mit den verschiedenen durch die Migration nach Deutschland mitgebrachten Herkunftssprachen in Kontakt steht. Die vielfältigen Folgen einer jahrzehntelangen Kontaktsituation für die Sprachsysteme können hier nicht extensiv besprochen werden, lassen sich aber jeweils aus der Sicht des Deutschen und aus der Sicht der anderen Sprachen fassen (vgl. Şimşek/Schroeder 2011). Anschließend werden die sozialen Bedingungen der Entstehung von Vielfalt und Variation im Deutschen (Abschnitte 3, 4 und 5) besprochen, für die eben die Gruppe der jugendlichen Mehrsprachigen mit ihrer Sprachgebrauchsform Kiezdeutsch beispielhaft steht. Die strukturellen Merkmale werden zwar so deskriptiv wie möglich, aber mit Konzentration auf einige markante Formen und Strukturen beschrieben (für einen Überblick vgl. Kalkavan-Aydın/Şimşek 2019), die im Vergleich zum Standarddeutschen auffallen. Eine Bewertung unter gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten stellt nicht die Intention des Beitrags dar, wohl aber soll abschließend über die Einordnung des Kiezdeutschen im Varietätengefüge des Deutschen reflektiert werden.
Mehrsprachigkeit in Ballungsräumen am Beispiel von Berlin
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2 Migration und Sprache Dass sich durch die Migration sowohl Sprachsysteme als auch Sprachgebrauchsweisen von Sprechergruppen mit verschiedenen kulturellen und sprachlichen Wissensbeständen begegnen, bringt Ramptons (1995) Begriff crossing bildlich treffend zum Ausdruck. Dass beispielsweise in einer deutschen Stadt wie Essen unter Grundschulkindern nachweislich mehr als 100 Sprachen gesprochen werden (vgl. Chlosta/ Ostermann/Schroeder 2003), zeugt von der durch die Migration entstandenen großen sprachlichen Vielfalt und von dem Nebeneinander von Sprachen unterschiedlichster Typologien, wobei eine Auswirkung der Kontaktsituation auf den Sprachgebrauch der Sprecher und Sprecherinnen, und mit der Zeit auch auf die Systeme, nicht ausbleiben kann. Immer noch ist aber der soziale Kontext in Deutschland, in dem eine Gebrauchsform wie das Kiezdeutsche aufgekommen ist, dominiert von einem monolingualen Habitus (vgl. Gogolin 2004, 55), der Orientierung an einer faktisch nicht haltbaren Einsprachigkeit im öffentlichen Leben und in den Institutionen. Im Gegensatz zu klassischen Migrationsgesellschaften wie z. B. Australien wird Mehrsprachigkeit in Deutschland stark mit einer anderen ethnischen Zugehörigkeit verbunden und bestimmt die Einstellungen und die Perzeption des Sprachgebrauchs der Mehrsprachigen durch die Mehrheit der Gesellschaft. Damit bilden in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit und in der öffentlichen Diskussion über das Kiezdeutsche die zweite und dritte Generation von in Deutschland geborenen Mehrsprachigen eine Randgruppe bzw. bekommen eine andere Identität als ‚deutsch‘ zugewiesen, was sich deutlich in der Bezeichnung ‚mit Migrationshintergrund‘ (oder in der Ausdrucksweise der Institutionen wie im Bundesland Nordrhein-Westfalen ‚mit Zuwanderungsgeschichte‘) ausdrückt (vgl. Scarvaglieri/ Zech 2013). Zuschreibungen wie ,Araber‘, ,Türken‘ etc. finden sich sowohl im öffentlichen Diskurs über Migration und Sprache als auch bei Vertretern und Vertreterinnen von Institutionen im Umgang mit Mehrsprachigen. Die Idealisierung einer Varietät ,Hochdeutsch‘ und der zugehörigen Dialekte und deren Sprecher und Sprecherinnen als Deutsche bedeutet im Umkehrschluss, dass Mehrsprachige ausgeschlossen sind und die deutsche Sprache nicht als die ihre in Anspruch nehmen können oder dürfen. Hinzu kommt, dass ein Phänomen wie das Kiezdeutsche dieser Denkweise einen Grund bietet, den Mehrsprachigen nicht nur die Möglichkeit, das Deutsche als ihre (Erst-) Sprache zu betrachten, abzusprechen, sondern auch ihre Kompetenz im Deutschen anzuzweifeln und die Sprache zum Sinnbild eigentlich sozialer Probleme zu machen. Wie in der Kontaktsituation, in der die Migration und Zuwanderung anhalten, auch nicht anders zu erwarten ist, bilden Sprecher und Sprecherinnen des Deutschen als Zweitsprache eine heterogene Gruppe: von der ersten Generation, die eine Lernervarietät (vgl. Selinker 1972; Klein/Perdue 1997) spricht, bis hin zu der jüngsten Generation, die im Alltag ein polyphones Deutsch spricht, das Sprachen wie Türkisch, Arabisch, Kurdisch, Russisch, Polnisch und viele andere reflektiert. Aber ebenso sind dialektale Formen des Deutschen, wie Berlinisch als Stadtdialekt, oder das Standard
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deutsche (in Institutionen wie der Schule oder der Stadtverwaltung) und die Umgangssprache, als Gegenwelt zur schriftsprachlich geprägten Standardvarietät, je ein Teil auch der Sprache von Immigranten und Immigrantinnen.
2.1 Aspekte des Erwerbs des Deutschen Die Aspekte des Erwerbs des Deutschen als Zweitsprache erscheinen in Bezug auf die Diskussion über das Kiezdeutsche deshalb von Relevanz, weil es zu begründen gilt, warum hier eine defizitäre Perspektive unangebracht ist. Aus der normativen Sicht (grammatische Korrektheit gemessen an der geschriebenen Standardvarietät) hängt ein mehr oder weniger erfolgreicher Erwerbsverlauf im Deutschen als Zweitsprache sowohl von individuellen Faktoren (interne Faktoren) als auch von den Umständen (externe Faktoren) ab. Das Wissen, das Lerner und Lernerinnen bereits aus ihrer Erstsprache mitbringen, ihre Bereitschaft und Motivation zum Lernen der Mehrheitssprache, die Quantität und die Qualität an Input zählen zu den Bedingungen, die das Kompetenzniveau bestimmen. Die beteiligte Sprache, d. h. die typologische Nähe und Distanz der zuerst gelernten Sprache zum Deutschen, kann in Folge spezifischer Transfermöglichkeiten die Erwerbsgeschwindigkeit beeinflussen. Die kognitiven Fertigkeiten, die Lerner und Lernerinnen mitbringen und die bei der Mobilisierung der mentalen Ressourcen für den Lernprozess entscheidend sind, stellen weitere Faktoren dar. Die kommunikativen Bedingungen und Bedürfnisse, die den Grad an Motivation bestimmen, das Deutsche zu lernen, um den Alltag bewältigen zu können, zählen zu den sozialen Faktoren. Bei der Gruppe der Immigranten und Immigrantinnen der ersten Generation, die als Erwachsene das Deutsche ohne jeglichen Unterricht ungesteuert in Alltagsinteraktionen gelernt haben, ist charakteristisch, dass sie einen am kommunikativen Erfolg orientierten Lernprozess durchlaufen haben, der in einer Basisvarietät endet (Klein/ Perdue 1997). Strukturell fällt diese auch als Pidgin-Deutsch bezeichnete Lernervarietät durch eine reduzierte Morphologie auf und stellt eine Art lexikalisch basiertes Elementardeutsch ohne jede grammatische Elaboration dar, in der meist referenzielle, arbeitsund alltagsbezogene Wortformen ohne morpho-syntaktisch zielsprachliche Strukturierung nebeneinandergestellt werden, vgl. Beispiel (1) aus Rehbein (1987, 221):
(1)
1 2 3 4 5
Mus:
Ich bin de Urlaub fahren. Türkei. Un dann surückkomme ... Lohnerhöhung. Fünf Prosent oder vier Prosent, glaube das. Ich vergessen, ne?
Charakteristisch für die Basisvarietät ist die fehlende Verbalflexion, die nicht-erworbene Finitheit. Ebenso befinden sich grammatische Kategorien wie Genus auf der niedrigsten Entwicklungsstufe, was im Beispiel an der Form eines Protoartikels („de
Mehrsprachigkeit in Ballungsräumen am Beispiel von Berlin
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Urlaub“) zu erkennen ist. Dieser mehr oder weniger elaborierte Elementarkode reicht der Sprechergruppe zur Lösung alltäglicher kommunikativer Aufgaben. Bei den auf die ersten Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen folgenden Generationen liegt nicht eine eingeschränkte Beherrschung des Systems vor, da sie simultan zweisprachig aufwachsen und das Deutsche in der frühen Kindheit als zweite Sprache lernen (zum frühen Erwerb des Deutschen als Zweitsprache vgl. De Houwer, Beitrag 14 in diesem Band). Eine Ausnahme bilden in den letzten Jahren neuzugewanderte Kinder und Jugendliche, bei denen individuell unterschiedliche Erwerbsgeschwindigkeiten angenommen werden müssen, vgl. das folgende Beispiel (2) zum Deutsch eines neuzugewanderten Jugendlichen (Beispiel aus dem Korpus Lernerfolg, s. Şimşek 2021a): (2)
1 2 3 4
Int: S:
Und wie bist du nach Deutschland gekommen? Also über welche Länder? Also Iran, Türkei und … (überlegt) Ich hab vergessen, wie heißen die Länder.
Vergleicht man die Äußerungen des Jugendlichen in Beispiel (2) mit denen des Gastarbeiters in Beispiel (1) oben, fallen die Äußerungen des Jugendlichen bereits mit einer ausgebauten Flexion auf. Die Syntax verweist aber auf einen noch nicht abgeschlossenen Erwerb, was an der nicht regelhaften Stellung des Verbs im Nebensatz in Zeile 4 erkennbar ist. Im Vergleich zu den Sprechern und Sprecherinnen aus Beispiel (1) und (2) handelt es sich beim Sprachgebrauch der Sprecher und Sprecherinnen des Kiezdeutschen nicht um eine fehlerhaft erworbene Grammatik oder um eine Lernervarietät, sondern diese Jugendlichen sind von frühester Kindheit simultan mit zwei Sprachen aufgewachsen, sodass bei ihnen ein mit dem monolingualen Erwerb nahezu identischer Erwerbsverlauf vorliegt. Kindliche Äußerungen wie in Beispiel (3) (vgl. Thoma/Tracy 2006, 66 und 68), die den Eindruck erwecken, als könnten sie Ergebnisse von Mehrsprachigkeit sein, geben tatsächlich Strukturen wieder, die typische Lernstadien auf dem Weg zur korrekten Grammatik auch bei einsprachigen Kindern darstellen. (3)
a) b)
„Hab nich Angst habe“ „Dann ich muss hier was wegmache“
Bei zweisprachigen Kindern können solche Lernphasen durch den Einfluss der Erstsprache in ihrer Geschwindigkeit, nicht aber im Endergebnis beeinflusst werden (vgl. Haberzettl 2005). Die oben erwähnten Gruppen (erwachsene Migranten und Migrantinnen der ersten Generation, neuzugewanderte Kinder/Jugendliche/Erwachsene und noch im Lernprozess befindliche Kinder) verfügen über noch unzureichendes Wissen (sozial und strukturell), um mit beiden ihrer Sprachen – im Sinne eines breiteren Verständnisses von Mehrsprachigkeit und Sprachkompetenz verstanden als soziale Handlungskompetenz und Registerwissen – sinnvoll umgehen zu können. Wenn es um den Status des Kiezdeutschen als neuer Varietät des Deutschen geht, ist daher vom Sprachge-
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brauch der Gruppe der in Deutschland geborenen und simultan zwei- oder mehrsprachig aufgewachsenen Jugendlichen auszugehen. Diese Gruppe ist es auch, die kontextabhängig bewusst mit vorhandenen sprachlichen Ressourcen handeln kann und deren Sprachgebrauch als dynamisch verstanden werden muss (zum Verständnis von Mehrsprachigkeit als Ressource vgl. Gövert/Havkić/Settinieri, Beitrag 2 in diesem Band). Die Dynamik äußert sich auch darin, dass Tendenzen der gesprochenen Varietäten des Deutschen, die ohnehin bestehen und von Einsprachigen genutzt werden, von Mehrsprachigen aufgenommen und quantitativ häufiger eingesetzt werden. Beide Möglichkeiten – das Wissen aus der Erstsprache und die im Deutschen gegebenen Variationsmöglichkeiten, durch die sich der Sprachgebrauch mehrsprachiger Jugendlicher in Berlin und in anderen Städten wie Köln, Stuttgart oder Mannheim als dynamisch zeigt – können zusammengenommen für sprachliche Innovation sorgen.
2.2 Die Rolle der Herkunftssprachen Bei anhaltendem Kontakt besteht für die im Zuge der Immigration bereits von der ersten Generation jeweils mitgebrachte Erstsprache, für die sich zunehmend die Bezeichnung Herkunftssprache (heritage language) durchsetzt, das Potential für Veränderungen und Erneuerungen im System ebenso wie für das Deutsche. Bereits von Fishman (1966) wird die Bezeichnung heritage languages im Zusammenhang mit der Tradierung von Erstsprachen in einer klassischen Migrationsgesellschaft wie in der der Vereinigten Staaten von Amerika verwendet. Im australischen Kontext hat sich dagegen der Begriff community languages (vgl. Clyne 1991) durchgesetzt, der weniger auf die ethnische, nationale und kulturelle Herkunft der mehrsprachigen Sprecher und Sprecherinnen deutet und damit weitaus neutraler auf Gruppen von Immigranten und Immigrantinnen, die zusätzlich zum Englischen eine weitere Sprache sprechen, verweist. Mit Herkunftssprechern und -sprecherinnen sind folglich Personen gemeint, die bereits im frühen Kindesalter durch Interaktion innerhalb der sozialen Domäne der Familie eine Sprache lernen, die nicht die Sprache der Mehrheit ist. Schon die Assoziation des Begriffes heritage language mit bedrohten Sprachen verdeutlicht, dass es über die Generationen hinweg zu einem Sprachverlust (language attrition) kommen kann. Der Grad des Erhalts einer Herkunftssprache in der Kontaktsituation, ihre Vitalität (vgl. die ethnolinguistic vitality theory bei Giles/Bourhis/Taylor 1972) und die Kompetenzen der einzelnen Sprecher und Sprecherinnen – häufig werden Herkunftssprachensprecher und -sprecherinnen im Vergleich zu Lernern und Lernerinnen im Herkunftsland als weniger kompetent im System der jeweiligen Sprache gesehen (Polinsky 2018) – hängen von einer Vielzahl an Faktoren ab, die den Input bestimmen. Der Zugang zu Medien in der jeweiligen Sprache, der Herkunftssprachenunterricht für die heranwachsenden jüngeren Generationen und die Identifikation mit der Herkunfts-
Mehrsprachigkeit in Ballungsräumen am Beispiel von Berlin
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kultur und mit der Sprache gehören ebenso zu den Faktoren, die den Erhalt fördern (vgl. Aalberse/Backus/Muysken 2019, 49), wie auch das Vorhandensein von Organisationen, die in öffentlichen Räumen außerhalb der Familien Sprechgelegenheiten geben. Im deutschen Kontext zeigen sich die beiden Herkunftssprachen Türkisch und Russisch als die vitalsten und als diejenigen, die vermehrt das linguistische Forschungsinteresse auf sich ziehen. Die Beschäftigung mit Sprachbiographien, Spracheneinstellungen und der Herkunftssprache als Teil der Identität bildet einen Teil der Studien (zum Russischen vgl. Meng/Protassova 2005, zum Türkischen vgl. Bracker 2017). Einen weiteren Forschungsschwerpunkt machen Untersuchungen zum simultanen/sukzessiven Erwerb der Sprachen aus (zum Russischen vgl. Anstatt 2011). Neben Abweichungen, Innovationen bzw. Veränderungen des Systems gegenüber der monolingualen gesetzten Norm im Herkunftsland (für das Türkische vgl. Küppers/Şimşek/Schroeder 2015, für das Russische vgl. Anstatt 2008) werden ähnliche Sprachwandelprozesse oder Schwierigkeiten beim Erwerb bestimmter Strukturen durch Bilinguale in Deutschland beobachtet, die bereits im System der Sprache oder der Schrift angelegt sind (vgl. Flores 2015). Ein gutes Beispiel hierfür ist die Orthographie des Türkischen, in der die Schreibung von Klitika und die Repräsentation von Vokallängung für Schüler und Schülerinnen in Deutschland und in der Türkei gleichermaßen schwierig sind (Schroeder/ Şimşek 2010). Von zentraler Bedeutung für den Ausbau der Herkunftssprache bleibt die Abhängigkeit von der unterschiedlichen Gestaltung des Inputs in den Familien, z. B. das Vorlesen und andere Formen der textuellen Literalisierung (vgl. Rehbein 2016). Als ein noch ungelöstes Problem der linguistischen Forschung erscheint das Vorgehen, eine unter vollkommen anderen Voraussetzungen als im Herkunftsland erworbene Sprache – eben Herkunftsland der Sprache, aber nicht der Sprecher und Sprecherinnen – an einer monolingualen Norm zu messen. Die Ressourcen von Bi- und Multilingualen nicht als Ganzheit zu konzeptualisieren, sondern mit ‚Erstsprache‘ und ‚Zweitsprache‘ zwischen den Systemen differenzieren zu wollen, erscheint im Falle von Mehrsprachigen, die schon ab dem frühkindlichen Alter mit dem aufwachsen, was ihr Input hergibt, zunehmend ungeeignet. Auch die Neigung von Mehrsprachigen zu Sprachmischungen, die eine Folge des Erwerbs- und Verwendungskontextes ist, wird nicht nur in der öffentlichen Diskussion im Sinne von einer Quelle für Sprachveränderung oder gar Sprachverfall interpretiert, sondern auch wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Phänomen sehen in mehrsprachigen Sprechformen wie code-switching und code-mixing ein Potential zur Sprachveränderung. Die Ergebnisse von Untersuchungen der Kommunikation von Kindern und Jugendlichen mit Türkisch als Erstsprache in Mannheim haben beispielsweise gezeigt, dass Sprachmischungen als Ausdruck von Gruppenzugehörigkeit sozial bedeutsam und kommunikativ funktional eingesetzt werden und es sich somit um einen Sprachgebrauchsmodus der Bilingualen handelt (zur Bewertung aus soziolinguistischer Perspektive vgl. Cindark/ Keim 2003; Keim 2007; Cindark 2013; zur Bewertung aus kognitiver Perspektive vgl. Tracy, Beitrag 18 in diesem Band).
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3 Sprachliche Vielfalt im urbanen Raum: faktisch Eine Verbindung zum Herkunftsland der Eltern bzw. Großeltern, die der Begriff Herkunftssprache suggeriert, ist bei mehrsprachigen Kindern und Jugendlichen durch Geburt nicht gegeben, was nicht bedeutet, dass eine Identifikation mit dem kulturellen und sprachlichen Erbe nicht aufgebaut worden sein kann. Ebenso wie eine positive Identifikation mit dem Deutschen motivierend auf den Erwerb wirkt (Pagonis 2009), so gilt dies auch für die Herkunftssprachen. Für die Gruppe der russisch-deutsch bilingualen Jugendlichen stellt Anstatt (2017) eine loyale und emotional positive Einstellung zu der Herkunftssprache fest, verbunden mit einer neutralen Haltung zum Deutschen. Die Wahrnehmung der eigenen Zweisprachigkeit als selbstverständlich und als den Normalfall, wie an dem Phänomen code-switching sichtbar, kann als ,Lebensart‘ bezeichnet werden. Eine Lebensart, die besonders gegenüber dem monolingualen Habitus der Institutionen im alltäglichen Umgang miteinander umso stärker ausgedrückt und ausgelebt wird. Über die Zahlen, wie viele Sprachen genau in Deutschland in Familien zusätzlich zum Deutschen gesprochen werden und wie groß die unterschiedlichen Altersgruppen von Mehrsprachigen sind, gibt es so gut wie keine aussagekräftigen Erhebungen. Dass die Lebendigkeit der einst mitgebrachten Sprachen durch die Weitergabe an die jüngeren Familienmitglieder durchaus gegeben ist, legt eine Erhebung wie die von Extra/Yaĝmur (2011) nahe. Die Studie belegt auch, dass es dabei nicht nur um das Russische und Türkische, sondern ebenso um das Polnische, das Kurdische und das Arabische geht, die in den Familien an die Kinder weitergegeben werden (für das Polnische vgl. Jańczak 2013, für das Kurdische vgl. Şimşek 2020). Bei der Betrachtung der Bevölkerungsgröße zeigen die Zahlen des Mikrozensus 2020 (Statistisches Bundesamt 2021) zum Migrationshintergrund – wenn man diese amtliche Klassifikation als Gruppe der potentiell Mehrsprachigen, potentielle Sprecher und Sprecherinnen einer Herkunftssprache übernimmt –, dass diejenigen Personen mit Migrationshintergrund insgesamt rund 26,7 % (21,9 Mio.) der deutschen Gesamtbevölkerung (81,9 Mio.) ausmachen. Diese wohl mehrsprachige Bevölkerungsgruppe konzentriert sich auf die urbanen Räume wie Hamburg oder Berlin. In Berlin machen die Personen mit Migrationshintergrund rund 34,7 % der Gesamtbevölkerung der Stadt (3,631 Mio.) aus. In Köln beträgt dieser Wert bei einer Gesamteinwohnerzahl von 1,09 Mio. rund 40,4 %, was im Vergleich zu dem prozentualen Anteil im gesamten Bundesland Nordrhein-Westfalen (31 % von 17,658 Mio.) einen hohen Anteil ausmacht. Weiterhin legen die Ergebnisse des Mikrozensus 2020 (Statistisches Bundesamt 2021, 496) zu der Frage, welche Sprache im Haushalt am häufigsten verwendet wird (zur Problematik der Fragestellung in solchen Erhebungen des Statistischen Bundesamtes vgl. Adler 2018), eine Reihenfolge nahe, nach der das Türkische und das Russische die Sprachen mit der höchsten Anzahl an Sprechern und Sprecherinnen darstellen (vgl. Tab. 1):
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Mehrsprachigkeit in Ballungsräumen am Beispiel von Berlin
Tab. 1: In Haushalten vorrangig gesprochene Sprachen (Mikrozensus 2020) Haushalte insgesamt
40 545 000
Deutsch
36 631 000
Nicht Deutsch
Türkisch
538 000
Russisch
491 000
Polnisch
315 000
Arabisch
366 000
Englisch
288 000
Italienisch
180 000
Französisch
51 000
Spanisch
99 000
übrige
1 411 000
Die Annahme, dass ähnliche Identifikationsmechanismen für den Erhalt der Sprachen sorgen und es sich bei zwei Sprachen wie Türkisch und Russisch auch um ähnlich große Gruppen von Sprechern und Sprecherinnen handelt, führt zu der Frage, warum von diesen beiden Sprachen das Türkische stärker über den familiären Kontext hinaus in Form des Kiezdeutschen in urbanen Räumen besonders in Erscheinung tritt. Hierbei scheinen sowohl die räumliche Verteilung, in einer Stadt wie Berlin die Verteilung auf die einzelnen Bezirke, als auch die Altersstruktur der Gruppen eine Rolle zu spielen. Betrachtet man die Altersgruppe zwischen 15 und 20 Jahren, so macht diese Gruppe im Jahr 2020 etwa 35,4 % der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Deutschland aus. Wie auch die gesamte Gruppe derjenigen Personen mit Migrationshintergrund, ist auch die Zahl derjenigen im Jugendalter in Ballungsräumen höher; 59,3 % in städtischen und 13,2 % in ländlichen Regionen (jeweils gemessen an der Gesamtzahl der in diesen Regionen lebenden Bevölkerung). Der Mikrozensus (Statistisches Bundesamt 2021) gibt für diese Altersgruppe folgende prozentuale Verteilungen für die Bundesländer auf den ersten sechs Rängen an: Bremen 38,1 %, Hessen 35,8 %, Berlin 34,7 %, Hamburg 34,5 %, Baden-Württemberg 34,7 % und Nordrhein-Westfalen 31,2 %. Die Zahlen für die neuen Bundesländer, z. B. Brandenburg, Sachsen, Thüringen, liegen alle unter 10 %, während die übrigen Länder wie Bayern oder das Saarland keine 25 % erreichen. Sieht man sich Berlin bezüglich der Verteilung der Bevölkerung mit Migrationshintergrund näher an (prozentuale Verteilung der Bevölkerung mit Migrationshintergrund am 30. Juni 2021, gemessen an der Gesamtbevölkerung der jeweiligen Bezirke, vgl. Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 2021), so rücken die Bezirke Mitte (54,3 %), Neukölln (47,6 %), Friedrichshain-Kreuzberg (45,3 %) und Charlottenburg-Wilmersdorf (42,6 %) in den Vordergrund. In Bezirken wie Marzahn-Hellersdorf, ein Bezirk, der für einen hohen Bevölkerungsanteil mit niedrigem sozioökonomischen Status und Deutsch als
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Yazgül Şimşek
Erstsprache bekannt ist, liegt dagegen der Anteil bei 21,9 %. Interessant bei den Zahlen ist beispielsweise auch die Anzahl der 15- bis 18-Jährigen unter den Einwohnern und Einwohnerinnen mit Migrationshintergrund in den einzelnen Bezirken: In Neukölln liegt er bei 12,8 % und in Marzahn-Hellersdorf bei 5,1 %, dies bei insgesamt 45 546 Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Alter von 15 bis 18 Jahren, die in Berlin leben. Insgesamt lassen die Zahlen die Vermutung zu, dass mehrsprachige Sprecher und Sprecherinnen mit einer bestimmten Erstsprache durch die Konzentration auf bestimmte urbane Räume auch spezifische Milieus formen, in denen Herkunftssprachen über den familiären Rahmen hinaus sichtbar werden. Insbesondere die Jugendlichen sind es, die in diesen mehrsprachig geprägten Milieus ihre Sprachen aus der Familie nach außen transportieren und die sog. linguistic landscape bestimmen, indem sie in informellen Kontexten funktionale Kommunikationsformen wie beispielsweise Liebesbotschaften an Wänden oder anderen Lokalitäten mehrsprachig gestalten.
4 Das Deutsch mehrsprachiger Jugendlicher: sozial Bezüglich der Sichtbarkeit der Mehrsprachigkeitsphänomene spielen zwar auch andere Altersgruppen als die Jugendlichen eine Rolle – auch von jüngeren Mehrsprachigen wird berichtet, dass sie manche für das Kiezdeutsche typischen Strukturen gebrauchen (vgl. Wiese/Duda 2012) –, aber nur den Jugendlichen ist sicher die Entwicklung eines eigenen Sprechstils zuzusprechen, den sie mit zunehmendem Alter, zunehmender Bewusstheit und Reflexion über den eigenen Sprachgebrauch ausbilden und über das Jugendalter hinaus beibehalten können. Die verfügbaren Strukturen, die bewusste Verwendung der Ressourcen der Erstsprache und die sozialen Kontexte, in denen sich die Mehrsprachigen tatsächlich als solche präsentieren, variiert in Abhängigkeit von der Generationszugehörigkeit. In den ersten linguistischen Untersuchungen aus dem Ende der 1990er Jahre (vgl. Füglein 2000) erscheint der typische Sprecher des mehrsprachigen jugendlichen Sprechstils als ein männlicher junger Erwachsener, der aus einer eher bildungsfernen sozialen Schicht kommt und eine Herkunftssprache wie Türkisch mitbringt. Weitere linguistische Untersuchungen belegen, dass es sich nicht um ein gendergebundenes Phänomen handelt (für eine Diskussion vgl. Wiese 2018). Dabei mag der Eindruck, dass es sich nur um einen männlichen Sprechstil handle, darauf zurückzuführen sein, dass in informell-öffentlichen Domänen männliche Sprecher als präsenter wahrgenommen werden als mehrsprachige Frauen der gleichen Altersgruppe. Die Untersuchungen von Kern/Selting (2006; vgl. auch Selting 2011) bestätigen, dass junge türkisch-deutsch bilinguale Frauen ebenso vom gesprochenen Standarddeutschen abweichende stilistische Merkmale in ihrem Deutsch aufweisen. Allen Auseinandersetzungen mit dem Phänomen Kiezdeutsch ist die Beobachtung gemeinsam, dass es sich dabei um das linguistische Repertoire handelt, das als Teil des sozialen Milieus und des Bildungshintergrunds der Sprecher und Sprecherinnen sichtbar wird (Wiese 2018) und das eine Regis-
Mehrsprachigkeit in Ballungsräumen am Beispiel von Berlin
301
teroption in informeller Peergroup-Kommunikation darstellt. Diese Beobachtung bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass den Sprechern und Sprecherinnen die Ressourcen fehlen, die sie in formelleren Situationen angemessen einsetzen können (vgl. Keim 2007; Wiese/Pohle 2016). Auch hinsichtlich der mit der Sprache und der sozialen Identität eng verknüpften ethnischen Zugehörigkeit ist festzuhalten, dass der Sprechstil sich weder auf eine ethnische Gruppe noch auf Sprecher und Sprecherinnen einer Herkunftssprache beschränkt, sondern ebenso von Jugendlichen mit Deutsch als Erstsprache verwendet wird. Die Argumentation für eine bestimmte ethnische Gruppe als die Gruppe, von der der Sprechstil ursprünglich ausgegangen ist, wird von Auer (2003) vertreten. Der sogenannte primäre Ethnolekt habe seinen Ursprung in der Sprachverwendung der türkisch-deutsch zweisprachigen Gruppe, während andere mehrsprachige Sprecher und Sprecherinnen den sekundären Ethnolekt verwenden, wenn sie gleiche stilistische Elemente gebrauchen. Auch wenn eine Bezeichnung wie ‚Türkendeutsch‘ (Şimşek 2012) Verwendung gefunden hat, so ist dies in den entsprechenden linguistischen Arbeiten nicht mit Blick auf die Ethnie als Eigenschaft der Sprecher und Sprecherinnen gewählt worden, sondern vielmehr, um damit auf die empirische Basis der Untersuchungen, Gespräche von nur türkisch-deutsch bilingualen Jugendlichen, zu verweisen, wobei sicherlich eine Bezeichnung wie Türkischdeutsch treffender gewesen wäre. Wenn von einer homogenen Ausgangsgruppe für den Sprechstil, mit einer gemeinsamen Erstsprache, ausgegangen werden könnte, dann wäre auch eine höhere Rate an Transferphänomenen erwartbar, als dies in den bisher untersuchten Sprachkorpora (z. B. im Kiezdeutsch-Korpus, Wiese u. a. 2012) der Fall zu sein scheint. In den urbanen Räumen erscheint es gerade von Vorteil für die Kommunikation im Alltag, sich über die mitgebrachten erstsprachlichen Grenzen hinweg miteinander verständigen zu können und sich zudem als Teil der Gemeinschaft in den multiethnischen Nachbarschaften zu erkennen zu geben (vgl. Freywald u. a. 2011). Eine der kommunikativen Konstellation entsprechende Wahl an Formen zu treffen, setzt sicherlich die Bewusstheit über sprachliche Register voraus, was bei den in einer multiethnischen Nachbarschaft Heranwachsenden auch als ein Akt der Identität gesehen werden darf. Dabei geht es nicht um eine nationale oder ethnische Identität, sondern um die Identifizierung mit den eigenen mehrsprachigen Ressourcen und der Gruppe der Mehrsprachigen als einer Einheit, um die Zugehörigkeit zur multikulturellen Nachbarschaft. Sowohl ein arabisch-deutsch Zweisprachiger kann sich entsprechend mit dem Kiezdeutschen identifizieren als auch ein kurdisch-türkisch-deutsch Dreisprachiger, wohl aber auch ein Jugendlicher mit Berlinisch und Standarddeutsch als sprachlichen Ressourcen. Die Lokalisierung in den privaten und öffentlichen informellen Registerdomänen (vgl. Maas 2008) bedeutet, dass es nicht nur um die Verwendung in Face-to-faceInteraktionen geht, sondern ebenso um eine Verbreitung in den neuen sozialen Medien, indem die Sprechweise in der Musik und im Comedy-Genre stilisiert wird (vgl. Androutsopoulos 2007). Dabei verwendet das Comedy-Genre nicht nur strukturelle
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Stereotypisierungen, sondern z. B. auch Stereotype des Erscheinungsbildes wie Kleidung, wie erkennbar am Beispiel des Charakters Hakan, einem Türsteher mit Bomberjacke, den der Comedian Kaya Yanar kreiert hat (zur Funktion ähnlicher Charaktere in der Comedy und der kulturellen Stereotypisierung ihrer Handlungen vgl. Kotthoff 2004). Während in den 1990ern das Comedy-Duo Erkan und Stefan eine Anzahl an Stereotypen verwendete, um den mehrsprachigen Sprechstil nachzuahmen, sind aktuelle Verwendungen in Medien wie dem Film oder der Rap-Musik als authentischer zu bewerten, weil die Mehrsprachigen selbst ihre linguistischen Repertoires selbstbewusst und reflektiert in diesen Medien einbringen. Der erfolgreiche Film Fuck ju Göthe (erschienen am 7. November 2013), der eine große Zahl an Rezipienten und Rezipientinnen erreicht hat, zeigt beispielsweise, dass der Sprechstil keinesfalls ethnisch gebunden und nur mit einem Migrationshintergrund assoziierbar ist, sondern ebenso von jungen Frauen mit Deutsch als Erstsprache verwendet werden kann. Der Gebrauch von Elementen des Kiezdeutschen in medialen Kommunikationskanälen mag insgesamt eine bedeutende Rückwirkung auf Sprecher und Sprecherinnen haben (media-induced crossing bei Androutsopoulos 2001, 3). In sozialen Medien wie Facebook und Twitter wird der eigene Sprachgebrauch von den Kommunizierenden selbst zum Thema von Diskussionen über Sprache gemacht, was als Hinweis auf eine hohe Bewusstheit für sprachliche Formen und Register interpretiert werden kann (vgl. Hellberg 2014; Vasilijevic 2016). Wie oben bereits angemerkt, geht die Etikettierung des mehrsprachigen Sprachgebrauchs/des Kiezdeutschen als ‚Sprache von Nicht-Deutschen‘ und ‚Sprache von Angehörigen niedriger sozialer Schichten‘ mit der Vorstellung einher, dass den Sprechern und Sprecherinnen ein muttersprachliches Niveau des Deutschen abgesprochen wird. Daher tauchen auch Charakterisierungen in der Diskussion auf, die das Kiezdeutsche sozial und linguistisch mit einer gebrochenen Sprache, ‚Sprachverfall, Selbstausgrenzung der Sprecher und Sprecherinnen‘ und ‚Gefährdung des sozialen Zusammenhalts der Gesellschaft‘ in Verbindung bringen. Die Debatten, die hierzu immer noch anhalten, schärfen aber auch gleichzeitig das Bewusstsein von Linguisten und Linguistinnen wie auch der Betroffenen über die ,Wir Deutschen‘-,Ihr Migranten‘-Dichotomie.
5 Das Deutsch mehrsprachiger Jugendlicher: strukturell Generell lassen sich die strukturellen Merkmale des mehrsprachigen Sprechstils als ein Bündel eigenständiger sowie bereits im Sprachgebrauch muttersprachlicher Sprecher und Sprecherinnen des Umgangsdeutschen vorhandener Formen zusammenfassen. Zu lokalisieren sind diese im Vergleich zum gesprochenen Umgangsdeutschen markanten Formen auf der phonetischen Ebene (Artikulationsmerkmale wie die Ko-
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Mehrsprachigkeit in Ballungsräumen am Beispiel von Berlin
ronalisierung), auf der morpho-syntaktischen Ebene (Transfer von Wortbildungsstrategien aus den Herkunftssprachen, Aussparungen von Pronomina, Artikeln und Präpositionen, abweichende Wortstellungsmuster) und auf der lexikalischen Ebene (Übernahmen von Diskurspartikeln aus den Herkunftssprachen).
5.1 Markante Variationen auf phonetisch/phonologischer Ebene Ein Merkmal des Sprechstils stellt die Koronalisierung dar, d. h. die Artikulation des Frikativs /ç/ wie in ich, die auch bei einem einzelnen Sprecher oder einer einzelnen Sprecherin durch variierende Grade der sekundären Modifikation der Palatalisierung zwischen [ç], [çʲ] und [ʃ] mehr oder weniger stark pendeln kann. Die Palatalisierung wird in dem folgenden Gesprächsausschnitt in Beispiel 4 (Korpus Türkendeutsch, vgl. Şimşek 2012) in der Äußerung in Zeile 05 deutlich.
(4) Beginn des Telefongesprächs zwischen Esin und Sema 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12
Sem:
Esi: Sem:
Esi:
HÖRT man? (.) JETZT? ^JA:; isch HÖR disch; ach SO;= =eben war DINGS; (.) desWEgen; m:uSIK auch; deswegen is:
(.) [ [
Hört man den Jugendlichen wie Esin und Sema aus Berlin in Beispiel (4) zu, kann man die genannte Variation durchaus als Signal einer fremden sprachlichen und ethnischen Herkunft interpretieren, denn eine Eigenschaft des lokalen Dialekts ist die Koronalisierung nicht. Dieses besonders stereotype Merkmal wurde bisher nicht in Bezug auf die Variationen in Abhängigkeit der segmentalen Umgebung untersucht, d. h., eine Erklärung dafür, warum in Beispiel (4) bei „vielleicht“ keine solche Variation auftaucht, wohl aber bei ich/dich zu „isch/disch“, wird nicht ersichtlich. Bei der Untersuchung der Gespräche von zehn Jugendlichen aus Stuttgart – zwischen 14 und 18 Jahren und mit unterschiedlichen Familiensprachen (fünf Türkisch, zwei Italienisch, je ein Jugendlicher aus Portugal, Bosnien und dem Kosovo) – findet Auer (2013, 23) dieses Merkmal nur in einem vergleichsweise geringen Umfang vor (verglichen mit den Vorkommen in Gesprächen von türkisch-deutsch zweisprachigen Jugendlichen aus Berlin, s. Dittmar/Şimşek 2017), wobei das Merkmal auch unter den untersuchten Stuttgarter Probanden am auffälligsten von den Jugendlichen mit Türkisch als
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Erstsprache benutzt wird. Das Ergebnis der Stuttgarter Stichprobe lässt sich allerdings nicht auf Berlin übertragen, wo die Situation so ist, dass die Jugendlichen nach Herkunftssprache sowie nach ihrem soziolinguistischen Gewicht (nach dem Maße, wie sie im öffentlichen Leben sichtbar werden) in dem jeweiligen Stadtteil, in dem sie leben, zu differenzieren sind. Italienische Jugendliche beispielsweise sind in Berlin überwiegend besser in den deutsch(sprachig)en Kulturalltag integriert als türkischsprachige Jugendliche, die z. B. auf fünf Quadratkilometern im Stadtviertel Moabit in kiezähnlicher Vernetzung wohnen und das Merkmal der Koronalisierung als gruppenspezifisches Koiné-Merkmal verwenden. Die überindividuelle Verwendung der Koronalisierung ist in Berlin auch in der jüngeren Gruppe von Jugendlichen unter 15 Jahren weitaus stärker, so dass bei der Untersuchung und Bewertung dieses Merkmals nicht nur nach lokalem Kiez zu differenzieren ist, sondern auch nach der Altersgruppe der Sprecher und Sprecherinnen und darüber hinaus auch nach dem Formalitätsgrad der Sprechsituation (vgl. Dittmar/Şimşek 2017, 214 f.). Hingegen sind phonetische Merkmale wie Wort- und Silbenverschleifungen eher als Merkmale des gesprochenen Deutschen einzuordnen, die das schnelle Sprechtempo der Jugendlichen allgemein häufiger erwartbar macht:
(5)
Verschleifungen/Reduktionen
a) b)
ku=m:a < guck mal> isch=bin=nisch=so
Die Äußerungen in (5) belegen eine Reduktion des phonetischen Materials, so dass die Umgebungen finiter Verbformen zu einer Art ‚Makromorphem‘ zusammengezogen werden. Phänomene dieser Art beschränken sich nicht nur auf den Berliner Raum, sondern um ähnliche Phänomene handelt es sich auch, wenn Auer (2013, 25) von einer „extremen Reduktion unbetonter Silben“ einerseits und einer „Nichtreduzierung von Silben, die im autochthonen Deutsch reduziert werden,“ andererseits spricht.
5.2 Merkmale an der Schnittstelle Prosodie und Syntax Weitaus spezifischer und komplexer als die Palatalisierung oder die Verschleifungen sind Merkmale, die auf ein spezifisches Verhältnis von Syntax und Prosodie verweisen (vgl. Kern 2013; Şimşek 2017). So fallen globale Intonationsmuster und ungewöhnliche Platzierungen von Satz- und Wortakzenten auf, die nicht den konventionellen Mustern des Umgangsdeutschen entsprechen, sondern von rhythmischen und informationsstrukturellen Bedürfnissen der Topikalisierung und der Rhematisierung bestimmt sind. Die Spaltung von Redebeiträgen in kurze und dicht akzentuierte Intonationsphrasen, eine Art Sequenzierung syntaktischer Einheiten zum Zweck einer dramatischen Darstellung, ist eine Gestaltungsstrategie, die zunächst den Eindruck erweckt, als würden die syntaktischen Regeln des Deutschen durchbrochen
Mehrsprachigkeit in Ballungsräumen am Beispiel von Berlin
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werden, vgl. folgende Beispiele (aus Sprachkorpora Berliner Jugendlicher, s. Şimşek 2021b): (6) Äußerungen mit temporalen Adverbien wie dann a) b) c) d)
und DANN, (.) ich hör=s so voll laut vibRIERN aufm tisch, und daNA:CH- (.) .h ähm zwei von uns wurden so- (.) MITgeNOMM, (.) und DANN aba- die sAche is irgendwie geklärt wordnund (.) DANN halt- (–) isch=hab IMmer freunde in der gegend;
Die Wortstellung in den Äußerungen in (6) wird als Wortstellungstyp mit V3-Stellung analysiert (vgl. te Velde 2017; Wiese/Müller 2018), die der schriftsprachlichen Norm entgegensteht, aber im gesprochenen Sprachgebrauch von Jugendlichen häufig beobachtet werden kann. Bei genauerer Analyse unter Einbezug der Prosodie erscheint es hingegen problematisch, von einer bereits verfestigten Drittstellung des Finitums auszugehen. Auffällig ist in solchen Konstruktionen (prototypisch in 6a), dass das temporale Adverb akzentuiert und prosodisch von der folgenden Äußerung nicht nur durch die Pause separiert ist, sondern auch durch die Intonationskontur, die eine eigenständige mittel-steigende Kontur ist (in 6b, 6c und 6d liegt eine gleichbleibende Kontur vor). Das Adverb (oder in 6c mit weiteren diskursiven Einheiten zu einer Intonationsphrase kombiniert) auf diese Weise zu separieren, macht es möglich, die regelhafte Verbzweitstellung in der Folgeäußerung beizubehalten. Eine derartige prosodische Grenzziehung deutet darauf hin, dass den Sprechern und Sprecherinnen die syntaktischen Grenzen bewusst sind, sie aber der Sequenzierung mit prosodischen Mitteln den Vorzug geben. Weiterhin handelt es sich bei diesen Konstruktionen um solche, die gehäuft in narrativen Sequenzen auftauchen, in denen die Verkettung habituell durch und dann realisiert wird. Muttersprachliche Jugendliche zeigen in narrativen Sequenzen ähnliche Muster (vgl. Dittmar/Steckbauer 2013). Die prosodische Markierung der Grenzen zwischen einem Vor-Vorfeld und der folgenden Struktur mit kanonischer Wortstellung mag dabei für ungeübte Hörer und Hörerinnen weniger erkennbar oder bei den Jugendlichen aufgrund des schnellen Sprechtempos auch nicht gut perzipierbar sein, wodurch dann bei dem Hörer oder bei der Hörerin durchaus der Eindruck einer V3-Wortstellung entstehen kann. Eine ähnlich spezifische Konstruktion, die an der Schnittstelle von Prosodie und Syntax steht und in der eine neue und gesprächsrelevante Information an den rechten Rand verschoben wird, stellt die mit dem semantisch leereren Ausdruck dings gebildete Äußerungsstruktur dar (vgl. Şimşek 2011), die offenbare Parallelen zum gesprochenen Türkischen zeigt und auf die mehrsprachigen Repertoires der Sprecher und Sprecherinnen hindeutet.
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5.3 Merkmale auf morphologischer Ebene Aus der Sicht standardsprachlicher Normen ist im Sprechstil mehrsprachiger Jugendlicher die ‚Auslassung‘ obligatorischer grammatischer Information – die reduzierte Struktur von Nominal- und Präpositionalphrasen oder fehlende Kopula – eine auffällige ‚Abweichung‘ (vgl. Wiese 2013): (7)
Äußerungen mit fehlenden Funktionswörtern
a) b) c)
deine FITnesscenter er wirft immer RUNter GEHST du morgen wieder schule,
Bei Beispiel (7a) liegt eine Variation bei der Verwendung gebundener Flexionsmorpheme vor, in diesem Fall das Morphem -e, das als eine Art Default-Marker in Nominalphrasen gebraucht wird. Bei (7b) und (7c) macht sich eine Optionalität von Determinierern und die Reduktion von Präpositionalphrasen (häufig bei Lokalangaben) bemerkbar. Die Gründe für Auslassungen grammatischer Elemente sind komplex und lassen sich nicht in jedem Fall auf eine einzige Determinante wie zum Beispiel eine bestimmte Erstsprache zurückführen und sind zudem dem Standarddeutschen nicht fremd (vgl. Siegel 2018). Die Organisation von Intonationseinheiten innerhalb eines Turns nach rhythmischen Mustern, was den Ausfall von Lautsegmenten oder grammatischen Elementen nötig macht, ist ein Grund für Abweichungen. Solche grammatisch reduzierten Einheiten beschreibt Kern (2013, 132) als „hochgradig funktional im Hinblick auf die produktive Bildung rhythmischer Muster“.
5.4 Merkmale an der Schnittstelle Morphologie und Semantik Eine an der Schnittstelle zwischen Morphologie und Semantik zu verortende Form ist das monomorphematische gib(t)s (vgl. Wiese/Duda 2012). Die Existenzform es gibt hat hier ihr suppletives Subjekt es, das möglicherweise im finalen Konsonant -s kompensierend aufgenommen wird, verloren, so dass das gib(t)s in diesem Sinne als morphologisch unmarkiertes Makromorphem oder als ein invarianter monomorphematischer verbaler Existenzausdruck verwendet wird. Als eine ähnliche Strategie bzw. Formveränderung ist die Monomorphematisierung von Verb-Pronomen-Partikel-Phrasen wie lass uns mal zu lassma zu sehen. Eine deutliche Verbindung zu der Herkunftssprache Türkisch stellt die Wortbildungsstrategie der m-Reduplikation dar (vgl. Şimşek 2012; Wiese/Polat 2016). Dabei handelt es sich in der Gebersprache Türkisch um eine meist bei der Bildung von Adjektiven eingesetzte Verdoppelungsstrategie. In einem Beispiel wie voll Chiller miller wird gemäß der Strategie aus dem Türkischen die erste mit einem Konsonanten beginnende Komponente Chiller mit einem zweiten Wort ergänzt, wobei das zweite Wort mit
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dem Nasal /m/ beginnt. Das zweite Wort ist zwar bis auf das anlautende Phonem identisch, trägt aber keinerlei Bedeutung. Bedeutsam ist die diskursive Funktion solcher Formen als Signal dafür, dass auf eine detaillierende Benennung/Beschreibung des Gegenstands verzichtet wird, was in etwa mit und noch Ähnliches paraphrasiert werden kann. Auf lexikalischer Ebene umfassen die Charakteristika beispielsweise Partikel, die als diskursive Einheiten leicht von Sprechern und Sprecherinnen aller Herkunftssprachen übernommen und eingesetzt werden können (vgl. Şimşek 2012). Einige dieser Partikel wie yani (also) und vallah (schwöre, wirklich) sind ohnehin Teil des Lexikons des Türkischen, Arabischen und Kurdischen und eignen sich besonders dazu, um im Diskurs eine gemeinsame Kommunikationsbasis zu schaffen. Die wiederholte Verwendung von Partikeln wie vallah (oder der deutschen Äquivalente) an Turnanfängen (auch mit der Anredeform Alter) führen zu einem vorhersagbaren Turn-Design. Die wiederkehrenden und morphologisch invarianten Elemente wie die zuletzt genannten Partikel und Anredeformen sind es auch, die in medialen Stilisierungen in übertriebener Art eingesetzt werden, denn anders als die mehrsprachigen Sprecher und Sprecherinnen des authentischen Kiezdeutschen verfügen die Nachahmer und Nachahmerinnen nicht über das Wissen, um neue Formen produzieren zu können.
6 Zusammenfassende Diskussion Anders als im Falle anderer Varietäten des Deutschen handelt es sich bei einer Sprachgebrauchsform wie dem Kiezdeutschen um eine Sprechweise mit charakteristischen Ausdrucksformen eines mehrsprachig geprägten Sprachgebrauchs. Eine Trennung von Systemen – Deutsch vs. Herkunftssprache(n) – ist nicht sinnvoll. Vielmehr kann das Sprachwissen und der Sprachgebrauch von Mehrsprachigen im Sinne der Dynamic Systems Theory (vgl. Jessner 2013) als ein dynamisches System konzeptualisiert werden. Bedingt durch die Lebensumstände und die kommunikativen Bedürfnisse kann sich diesem Ansatz nach während der Lebensspanne eines Mehrsprachigen auch das Repertoire und die Gewichtung der jeweiligen Sprachen verändern. Das Wissen über Strukturen bei Zweisprachigen ist demnach auch nicht mit dem Wissen bei Einsprachigen der jeweiligen Ausgangssprachen identisch, d. h., es handelt sich nicht um getrennte Systeme, sondern der Mehrsprachige bewegt sich jeweils kontextabhängig zwischen einem monolingualen und einem bilingualen Pol und verfügt dabei über ein holistisches und dynamisches Ganzes an sprachlichen Formen (de Bot/Lowie/ Verspoor 2007). Die Annahme, dass die sprachlichen Ressourcen bei Mehrsprachigen nicht in getrennten Systemen organisiert sind, d. h. das Bestehen einer Mehrsystemgrammatik, erklärt Kontaktphänomene auf individueller Ebene und das bei jedem Mehrsprachigen bestehende Potential für die Bildung neuer Formen, die möglicherweise nicht in identischer Art und Weise in den Ausgangssystemen gebräuchlich sind. Es besteht innerhalb der sozialen Gruppe eine große Wahrscheinlichkeit dafür, dass
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solche sich aus der individuellen Sprachverarbeitung ergebenden Formen weitergetragen werden, sich durch eine zunehmende überindividuelle Nutzung verfestigen. Vielfach wird in der Diskussion um Begrifflichkeiten zur Nebensache, dass viele als typisch ‚ethnolektal‘ eingeordnete Formen bereits in dem Alltagssprachgebrauch der autochthonen deutschen Sprecher und Sprecherinnen, besonders der Jugendlichen, angelegt sind. In einem breiteren Cluster (Merkmalbündel) von kookkurrierenden Abweichungen zum gesprochenen Standard und einer höheren Auftretensfrequenz liegt die Auffälligkeit bzw. wird dadurch der Punkt überschritten, ab dem die Sprechweise als ‚anders‘ wahrgenommen wird. Weiterhin enthält dieses Repertoire sprachliche Strukturen bzw. das Wissen über diese Strukturen, die in dem gegebenen Kontext höchst funktional sind. Es geht also gerade darum, sich nicht an die Sprachgrenzen zu binden, die die Standardsprachen in ihrer geschriebenen elaborierten Form vorgeben. Die Aufhebung grammatischer Grenzen resultiert dann auch in der Erweiterung und (Um-)Deutung der Regeln der Ausgangsgrammatiken. Die Mechanismen der Sprachverarbeitung, die Erstsprache, als zu jedem Zeitpunkt aktive Ressource, und das Gesamtrepertoire bieten die Möglichkeit, ohne an der sprachlichen Oberfläche auf die Erstsprache zurückgreifen zu müssen, sich als ‚mehrsprachige Sprecher und Sprecherinnen des Deutschen‘ zu erkennen zu geben bzw. dies eben nicht zu tun. Gerade weil der mehrsprachige Sprechstil oft unter recht unterschiedlichen, teilweise abwertenden Etiketten zitiert wird, erscheint eine angemessene und neutrale Begriffsbildung notwendig. Andererseits ist in der deutschen Soziolinguistik auch die Forderung da, für jede Varietät eine explizite Verortung im Rahmen einer wohldefinierten Varietätenarchitektur zugrunde zu legen. Wenn dem hier auch nicht widersprochen werden soll, ist dennoch anzumerken, dass die eher pragmatisch verfahrende, sich mit empirischer Forschung den Fakten annähernde anglophone Soziolinguistik vorläufige (prototypische) Arbeitsbegriffe wie way of speaking, dialect oder variety (u. a.) vorzieht. In dieser begriffspragmatischen Perspektive ist es nicht weiter problematisch, die beobachtete Variation im Sinne eines Arbeitsbegriffs als neuen Dialekt oder Substandard zu bezeichnen, solange infolge empirischer Korpusanalysen die Form und Funktion genauer erfasst werden. Eine weitere Erfassung erscheint notwendig, um der Frage weiter nachzugehen, inwieweit das Kiezdeutsche als linguistisches Repertoire bereits Teil eines generationsübergreifenden soziokulturellen Lebensstils zu betrachten ist. Dabei sind entsprechende Hinweise auf ein generationenübergreifendes Phänomen bereits vorhanden, wie beispielsweise die Aufnahme der Koronalisierung durch in den Berliner Milieus heranwachsende Kinder (vgl. Jannedy/Weirich 2014). Die Spuren des Kiezdeutschen mögen demnach durchaus, insbesondere auf der sprachlichen Oberfläche in der Alltagskommunikation, Prozesse der Sprachveränderung initiieren oder bereits vorhandene verstärken. Von Brisanz erscheint die Begriffswahl nicht nur aus linguistischer Perspektive, sondern vielmehr aus sozialer, etwa wenn eine Trennung im Sinne von ‚Sprache von ethnisch Deutschen‘ und ‚Sprache anderer Ethnien (Ethnolekt)‘ vorgenommen wird. Mit ihrer Einordnung oder Betitelung als Dialekt lenkt Wiese (2012), über die rein lin
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guistische Beschäftigung mit dem Phänomen hinaus, auf die soziale Stellung der Mehrsprachigen in der Gesellschaft, für die die Diskussion um das Kiezdeutsche sinnbildlich steht. Die kritische Diskussion in der Öffentlichkeit über ‚das Kiezdeutsche als Bedrohung des deutschen Sprachsystems‘ spiegelt nicht minder die Schwierigkeit der Modellierung dessen, wie sich eine bilinguale Gemeinschaft entwickelt und wie sich einzelne Bereiche der Gesellschaft dazu positionieren. Eine Entwicklung hin zu einer Gesellschaft, die Vielfalt anerkennt und die zu einer auch institutionell mehrsprachigen Gesellschaft wird, mag kein leichter Weg sein. Das Kiezdeutsche kann auf diesem Weg durchaus seine Funktion erfüllen – gemäß dem HELIX-Modell von Rehbein (2012), ein Modell, das die Mehrsprachigkeit in informellen Kontexten als den Impuls für die Bewegung der Gesellschaft und des Staates mit seinen Institutionen hin zu mehrsprachigen Sprachpraktiken sieht: […] the assemblage of institutions appearing as multilingual spaces do not yet afford a coherent „carpet of multilingual communication“, a multilingual linguistic landscape […], but rather constitute, according to the needs of everyday life, ,clusters‘ of potential multilingual development. The turning movement of the HELIX towards societal multilingualism and, thus, social cooperation on a multilingual basis is furthered by actions in these clusters. (ebd., 70)
Die lebensweltliche Mehrsprachigkeit der Jugendlichen, die das Kiezdeutsche verwenden, birgt das Potential für eine Entwicklung hin zu einer größeren sprachlichen Vielfalt, sowohl auf struktureller als auch auf sozialer Ebene. Die Kontexte also, in denen sie kommunizieren und in die sie ihre lebensweltliche Mehrsprachigkeit hineintragen, stellen ebenfalls „cluster“ nach Rehbein (ebd.) dar, die eine Kooperation in der Gesellschaft auf der Basis von Mehrsprachigkeit fördern. In jedem Fall erscheint hier ein Usage-based-Ansatz angemessen, der sich auf den tatsächlichen Sprachgebrauch konzentriert, ohne eine positive oder negative Bewertung, ohne aus der Perspektive einer der beiden Sprachen (Herkunftssprache oder Mehrheitssprache) zu argumentieren. Denn wie oben erläutert, ist bereits mit den Begrifflichkeiten Herkunftssprache, Ethnolekt oder Mehrheitssprache/Zweitsprache eine auf die Sprecher und Sprecherinnen aufoktroyierte Gruppenzuweisung verbunden.
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IV Erwerb von Mehrsprachigkeit
Annick De Houwer
14. Entwicklung von Mehrsprachigkeit: Kindheit und frühe Jugend Abstract: Dieser Beitrag handelt von Kindern bis zum Ende des Grundschulalters, die zwei gesprochene Sprachen lernen. Der Fokus liegt auf dem Erlernen des Verstehens und Sprechens von Sprachen, welche die Kinder zur täglichen Kommunikation brauchen. Die verschiedenen Umstände, unter welchen Kinder zwei Sprachen erwerben, führen zu verschiedenen Wegen, denen Kinder beim Erlernen von mehreren Sprachen folgen. Es ist zwischen Doppeltem Erstspracherwerb, Frühem Zweitspracherwerb und Zweitspracherwerb zu unterscheiden. Beim Doppelten Erstspracherwerb, bei dem Kinder von Anfang an zwei Sprachen hören, entwickeln die Sprachen sich quasi parallel; beim (Frühen) Zweitspracherwerb baut die Zweitsprache auf viele schon erworbene Fähigkeiten in der Erstsprache auf; beim Zweitspracherwerb in der Grundschule wird darüber hinaus Lesen und Schreiben in der Zweitsprache erworben. Meist entwickeln sich die zwei Sprachen ungleichmäßig. Unterschiede sind vorrangig auf Umgebungsfaktoren zurückzuführen. Zur Förderung ihres sozioemotionalen Wohlbefindens sollte mehrsprachig aufwachsenden Kindern bei der Entwicklung all ihrer Sprachen geholfen werden. 1 2 3 4 5 6
Einleitung Unterschiedliche Wege mehrsprachiger Entwicklung bis zum Ende des Grundschulalters Die beiden sich entwickelnden Sprachen im Vergleich Faktoren, die die mehrsprachige Sprachentwicklung beeinflussen Fazit Literatur
1 Einleitung An deutschsprachigen Grundschulen in Europa gibt es abhängig von der Region zwischen 14 und 56 % mehrsprachig aufwachsende Kinder (Ahrenholz u. a. 2013); allerdings wurden diese Daten vor der starken Zunahme von Asylbewerbern in Deutschland 2015–2016 gewonnen, und wahrscheinlich hat sich inzwischen der Anteil von mehrsprachig aufwachsenden Kindern erhöht (Daten im Bildungsbericht, Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018, 74, lassen dies vermuten). Dieser Beitrag befasst sich mit der Sprachentwicklung mehrsprachiger Kinder und den Umständen, unter welchen sie mehrsprachig werden. Es nimmt Artikel 29 zu Bildungszielen und Bildungseinrichtungen der Konvention der Vereinten Nationen für Kinderrechte (1992 von Deutschland ratifiziert) als Leitfaden. Teil (1), Absatz (c) lautet:
https://doi.org/10.1515/9783110623444-014
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Annick De Houwer
(1) Die Vertragsstaaten stimmen darin überein, dass die Bildung des Kindes darauf gerichtet sein muss [...] (c) dem Kind Achtung vor seinen Eltern, seiner kulturellen Identität, seiner Sprache und seinen kulturellen Werten, den nationalen Werten des Landes, in dem es lebt, und gegebenenfalls des Landes, aus dem es stammt, sowie vor anderen Kulturen als der eigenen zu vermitteln. (Vereinte Nationen 1989, eigene Hervorhebung)
Diese Perspektive bedeutet, dass alle Sprachen, die zu Hause mit dem Kind gesprochen werden, unterstützt werden sollten. Der leider immer noch häufig von Pädiatern, Erziehern und Lehrkräften erteilte Rat an Eltern, eine Familiensprache, die nicht in der (Vor-)Schule benutzt wird, nicht mit ihren Kindern zu sprechen, zeigt ein Fehlen von Achtung vor der kulturellen Herkunft der Kinder und verstößt damit gegen die UN-Kinderrechtskonvention. Unterstützung für Familiensprachen ist nicht nur eine Frage der Menschenrechte; das Wohlbefinden von Kindern wird darüber hinaus gesteigert, wenn sie eine gute Sprachbeherrschung in all den Sprachen haben, mit welchen sie aufwachsen (De Houwer 2020). Es ist wichtig für Kinder, dass sie mit allen für sie bedeutungsvollen Personen soziale Beziehungen aufbauen und pflegen können, auch wenn diese Personen (wie Eltern, Geschwister, andere Verwandte, Freunde und Lehrer) in verschiedenen Sprachen kommunizieren. Das sozioemotionale Wohlbefinden von Kindern wird beeinträchtigt, wenn ihre kommunikativen Fähigkeiten auf nur einen Teil jener wichtigen Personen beschränkt werden. Oft wird die Ansicht vertreten, Mehrsprachigkeit wäre ein Grund für schlechte schulische Leistungen und für niedrige Kenntnisse der Schulsprache. Gleichzeitig investieren wohlhabende Eltern überall in der nicht-anglophonen Welt in eine frühe bilinguale Erziehung, die das Englische bevorzugt (s. dazu auch Chilla/Niebuhr-Siebert 2017). Dieser Widerspruch zeigt, dass persönliche Einstellungen gegenüber bestimmten Sprachen eine große Rolle bei der Bewertung von Mehrsprachigkeit bei Kindern spielen. Zum Beispiel wird türkisch-deutsche Mehrsprachigkeit deutlich negativer als französisch-deutsche Mehrsprachigkeit eingeschätzt. Leider sorgen Vorurteile gegenüber bestimmten Sprachen (Rothe/Wagner 2015) und gegenüber einer frühen mehrsprachigen Entwicklung noch immer für große Probleme sowohl für Kinder als auch für deren Familien. Die Ansicht, dass eine frühe mehrsprachige Entwicklung zu Sprachentwicklungsverzögerungen oder sogar Spracherwerbsstörungen führen kann, gibt es bei vielen Pädiatern und Logopäden leider immer noch, auch wenn die wissenschaftlichen Beweise dafür völlig fehlen, viele Studien das Gegenteil beweisen und es wissenschaftliche Belege dafür gibt, dass junge Kinder sehr gut und ohne Probleme zwei Sprachen lernen können (De Houwer 2009; 2021). Es gibt jedoch eine große Heterogenität unter mehrsprachig aufwachsenden Kindern, die zu einem viel diffuseren Bild führt, als es bei einer völlig einsprachigen Entwicklung der Fall ist. Dieses Kapitel soll dieses diffuse Bild ein wenig klären. Es bezieht sich auf wissenschaftliche Studien zu Kindern bis zum Ende des Grundschulalters, die zwei gesprochene Sprachen lernen und die keine allgemeinen Entwicklungsauffälligkeiten wie eine Gehörstörung zeigen. Es bezieht sich nicht auf Kinder, die wahrscheinlich an ei-
Entwicklung von Mehrsprachigkeit: Kindheit und frühe Jugend
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ner umschriebenen Sprachentwicklungsstörung (s. dazu Chilla/Hamann 2018) leiden (eine umschriebene Sprachentwicklungsstörung ist wahrscheinlich anwesend, wenn Kinder trotz der Abwesenheit von Einschränkungen, wie einer Intelligenzstörung, einer Hörstörung, einer hirnorganischen Erkrankung oder einer emotionalen Störung, große Sprachverständnisstörungen und/oder starke Auffälligkeiten in der Sprachproduktion zeigen; s. Suchodoletz 2003). Die Forschungsergebnisse zu Kindern, die mit drei oder mehr Sprachen aufwachsen, sind bisher noch recht begrenzt, ebenso wie die zu Kindern, die mit einer Gebärdensprache und einer weiteren Sprache aufwachsen. Der Fokus hier liegt auf dem Erlernen des Verstehens und Sprechens von zwei Sprachen, nicht auf deren Lesen und Schreiben. Weiterhin liegt der Fokus auf dem Erwerb von Sprachen, welche die Kinder zur täglichen Kommunikation brauchen. Dies schließt eine Diskussion des frühen Fremdsprachenerwerbs aus (s. dazu Muñoz/Spada 2019). Die Literatur bezieht sich so weit wie möglich auf Studien aus deutschsprachigen Regionen und auf Studien, die mehrsprachige Kinder mit Deutsch als eine ihrer Sprachen betreffen.
2 Unterschiedliche Wege mehrsprachiger Entwicklung bis zum Ende des Grundschulalters 2.1 Doppelter Erstspracherwerb (DES), Früher Zweitspracherwerb (FZSE) und Zweitspracherwerb (ZSE) Kinder werden in einer Vielzahl von Umgebungen und Situationen mehrsprachig (De Houwer 2021). Die verschiedenen Umstände, unter welchen Kinder zwei Sprachen erwerben, führen zu verschiedenen Wegen, denen Kinder beim mehrsprachigen Sprachlernen folgen. Erstens gibt es Kinder, die von Geburt an mit zwei Sprachen erzogen werden (Doppelter Erstspracherwerb, im Folgenden als DES abgekürzt; Meisel 1989). Bei DES erwerben Kinder zwei Erstsprachen, Sprache Alpha und Sprache A genannt (Wölck 1987). Normalerweise hören DES-Kinder ihre beiden Sprachen zu Hause. In den meisten bisher ausgeführten Studien zum DES ist eine dieser Sprachen die spätere Schulsprache. Die frühesten Studien zu DES-Kindern betreffen alle jungen Kinder, die Deutsch und eine weitere Sprache erwarben. Besonders nennenswert sind die Fallstudien von Ronjat (1913), Leopold (1939–1949), Saunders (1982), Porsché (1983) und Taeschner (1983). Diese Autoren beschreiben ihre eigenen Kinder. Obwohl auch heute noch Autoren ihre eigenen Kinder untersuchen, mit allen damit verbundenen Vor- und Nachteilen (s. Besprechung in De Houwer 2009), sind seit 1985 viele Studien veröffentlicht worden, bei denen die Wissenschaftler keine Verwandtschaftsbeziehung zu den Probanden hatten. Ein frühes Vorbild ist der Artikel von Meisel (1985), die erste Veröffent-
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lichung zum einflussreichen Hamburger DUFDE-Projekt (Deutsch und Französisch – Doppelter Erstspracherwerb; s. dazu ebenfalls u. a. Meisel 1990; 1994). Für Kinder bis zum sechsten Lebensjahr (das Alter, in dem normalerweise der formale Schulunterricht beginnt) wird ein grundlegender Unterschied gemacht zwischen DES-Kindern und kleinen Kindern, die zuerst nur eine einzige Sprache hören (die erste Sprache, S1) zu der zu einem späteren Zeitpunkt eine zweite Sprache (S2) hinzugefügt wird (Früher Zweitspracherwerb oder FZSE; De Houwer 1990). FZSE-Kinder erwerben ihre S1 zu Hause und hören ihre S2 normalerweise zuerst durch Kinderbetreuung oder in der Vorschule (s. z. B. Pfaff 1994). Das genaue Alter, in dem die S2 anfängt, regelmäßig gehört zu werden, variiert sehr von Kind zu Kind. Die Kinderbetreuung in der S2 kann mit drei Monaten anfangen, oder ein Kind kann erst im Alter von fünf Jahren mit einer S2 zu tun haben. Allerdings besagt der Bildungsbericht (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018, 74, Tab. C3-14web) für Deutschland, dass die frühe Bildungsbeteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund (und aus wahrscheinlich nicht Deutsch sprechenden Familien) viel höher ist für Kinder zwischen drei und fünf Jahren als für unter Dreijährige. Deshalb kann man davon ausgehen, dass in Deutschland die meisten Kinder, die zuhause kein Deutsch hören, die S2 erst ab dem vierten Lebensjahr regelmäßig hören. Einsprachige Kinder, die eine zweite Sprache nach dem sechsten Lebensjahr lernen, folgen einem Prozess des Zweitspracherwerbs (ZSE; De Houwer 2021). Sie lernen ihre S2 normalerweise durch Immersion in der Schule, mit oder ohne Unterstützung durch separate Sprachkurse in der S2 (meistens jedoch ohne), aber gewöhnlich mit gleichzeitigem Lese- und Schreibunterricht in der S2. Letzteres unterscheidet diese Situation vom FZSE, bei dem Lesen und Schreiben üblicherweise noch kaum eine Rolle spielen. Zwei große Umfragen, die empirische Daten zum sprachlichen Input (Sprachangebot) bei Kindern liefern, zeigen, dass DES dreimal so häufig vorkommt wie FZSE und ZSE zusammen (Belgien: De Houwer 2007, N=1778; USA: Winsler u. a. 2014, N=1900). Aus der Befragung von insgesamt 681 mehrsprachig aufwachsenden Schülern von der 1. bis zur 13. Klasse von Ahrenholz u. a. (2013) in Erfurt, Deutschland, ist abzuleiten, dass DES mit 50,8 % überwiegt, gefolgt vom FZSE mit 25,3 % und ZSE mit 23,9 %. Die Befunde von Ahrenholz u. a. (2013), De Houwer (2007) und Winsler u. a. (2014) zeigen, dass eine mehrsprachige Entwicklung mehrheitlich nicht auf FZSE und ZSE beschränkt ist: Viele Kinder wachsen von Anfang an mit zwei Sprachen auf. Leider findet diese Tatsache bei wichtigen Schulleistungsuntersuchungen wie den PISA-Studien der OECD (o. J.) kaum Berücksichtigung. Es wird darin meistens eine dichotome Frage gestellt, wobei Schüler ankreuzen müssen, ob sie die Schulsprache zu Hause sprechen oder eine Nichtschulsprache. Die Tatsache, dass viele Schüler sowohl die Schulsprache als auch eine Nichtschulsprache (oder sogar mehrere) zu Hause nutzen, jedoch nicht die Möglichkeit haben, dies anzukreuzen, kann zu erheblichen Fehlinterpretationen bei Analysen der Rolle von Mehrsprachigkeit für Schulleistungen führen (Ağırdağ/Vanlaar 2018). Ein ähnliches Problem zeigt z. B. die Erhebung der Statistik der Kinder- und Ju
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gendhilfe in Deutschland, die seit 2006 zu Kindern in Tageseinrichtungen fragt, ob die in der Familie „vorrangig gesprochene Sprache“ Deutsch oder „Nicht Deutsch“ ist (BertelsmannStiftung 2022; für eine gute kritische Übersicht von Fragen zur Sprache in schulstatistischen Erhebungen in Deutschland s. Kemper 2017). Eine solche Frage geht davon aus, dass es immer eine vorrangig gesprochene Sprache gibt, was sehr oft nicht der Fall ist. Außerdem geht die Frage davon aus, dass nur die häufiger gesprochene Sprache wichtig ist. Die Frage schenkt also DES-Kindern, die mit zwei oder mehr Sprachen von Geburt an aufwachsen, kaum Beachtung. Sie impliziert dazu auch, dass es immer die gleiche Sprache ist, die öfter gesprochen wird. Tatsächlich sind mehrsprachige Umgebungen sehr dynamisch. Z. B. könnte in den ersten zwei Lebensjahren Sprache X viel häufiger zu einem Kind gesprochen werden als Sprache Y, jedoch könnte dies sich im dritten Lebensjahr drastisch ändern (s. dazu auch Kapitel 4). Die Familien, die ihre Kinder in zwei Sprachen erziehen, möchten, dass diese DES-Kinder von Anfang an lernen, zwei Sprachen zu verstehen und zu sprechen. Es bestehen emotionale und kulturelle Beziehungen zu beiden Sprachen, und von den Kindern wird normalerweise erwartet, dass sie beide Sprachen in Abhängigkeit von soziolinguistischen Variablen wie Adressat und Gesprächsthema zu Hause sprechen. Anders ist es in Familien, die nur eine Sprache zu Hause verwenden (also für sowohl FZSE- als auch ZSE-Kinder). Hier besteht im Allgemeinen eine viel stärkere emotionale und kulturelle Verbindung nur zu dieser Sprache (die S1 der Kinder) als zu der S2, die Kinder durch Tagesbetreuung oder (Vor-)Schule lernen. Von den Kindern wird erwartet, dass sie die S1 zu Hause sprechen, nicht die S2. Leider gibt es immer noch viele Studien, die nicht klar beschreiben, ab wann ihre jungen Probanden angefangen haben, die zwei Sprachen regelmäßig zu hören. Oft werden darüber hinaus Daten von jungen DES- und FZSE-Kindern zusammen analysiert, ohne dass ein Unterschied gemacht wird. Des Weiteren nennen viele Studien die Sprachen der jungen Kinder S1 und S2, selbst wenn es viele Kinder in der Studie gibt, für die ein chronologischer Unterschied zwischen den Sprachen nicht gilt, und die Bezeichnung S2 also keinen Sinn hat. Manche Studien bezeichnen darüber hinaus FZSE-Kinder, die nach einer zwar kurzen Periode (z. B. einem Jahr oder zwei Jahren) einsprachigen Sprachangebots angefangen haben, eine S2 zu hören, zu Unrecht als DES-Kinder. Wie unten ausgeführt, ist der Unterschied zwischen DES und FZSE in der frühen Kindheit jedoch grundlegend. Ob dieser Unterschied später, wenn Kinder Jugendliche und Erwachsene werden, noch von großer Bedeutung ist, wissen wir leider nicht. Ob es abgesehen von der Entwicklung von Lesen und Schreiben große Unterschiede zwischen FZSE und ZSE gibt, wissen wir ebenfalls leider nicht (s. jedoch Chilla 2008). Viele neuro- und psycholinguistische Studien mit mehrsprachigen Erwachsenen gehen jedoch davon aus, dass zu unterscheiden ist, ob Versuchspersonen schon in der frühen Kindheit mit mehreren Sprachen zu tun hatten, oder ob sie in der Adoleszenz oder als Erwachsene zum ersten Mal mit einer neuen Sprache konfrontiert wurden. Allerdings sind die Ergebnisse bisher nicht eindeutig.
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2.2 Sprachentwicklung bei DES, FZSE und ZSE: die großen Linien Wir wissen sehr wenig darüber, wie Kinder im Grundschulalter eine neue Sprache lernen und wie sich ihre S1 weiterentwickelt (ZSE; De Houwer 2021). Wir wissen viel mehr über Kinder unter sechs Jahren, aber auch hier wissen wir viel mehr über DES als über FZSE (ebd.).
2.2.1 Sprachverständnis Bei DES haben Kinder eine fundamental andere Spracherwerbserfahrung als bei FZSE. DES-Kinder sind seit ihrer Geburt mit grundlegend verschiedenen Sprechweisen vertraut (De Houwer 2009). Sie lernen sehr früh zwei Sprachen voneinander zu unterscheiden. Einige haben schon im Alter von vier Monaten Erwartungen zum Sprachgebrauch von familiären Personen. Sie lernen allmählich, zwei Sprachen gleichzeitig zu verstehen, und werden dabei von kindgerichteter Sprache in bekannten Kontexten, verbunden mit verschiedenen Sprachen, unterstützt (De Houwer 2021). Beim Eintritt in ihr zweites Lebensjahr verstehen DES-Kinder viele Wörter in zwei Sprachen. Mit dreizehn Monaten verstehen sie so viele Wörter wie manche Einsprachige erst vier Monate später (De Houwer/Bornstein/Putnick 2014). Das Verstehen von Übersetzungsäquivalenten, d. h. von Wörtern, die in den beiden Input-Sprachen fast gleichbedeutend sind, wie z. B. Mond auf Deutsch und moon auf Englisch, ist eine sehr frühe Entwicklung (De Houwer 2009). Die Erfahrung von FZSE-Kindern ist ganz anders. Für bisher einsprachige Kinder kommt das Hören von strukturell komplexem Input in einer unbekannten Sprache zuerst als Schock: Plötzlich können sie nicht mehr begreifen, was gesagt wird. Außerdem treffen FZSE-Kinder, mit Ausnahme von internationalen Adoptivkindern, zumeist auf eine neue Sprache in Gruppenkontexten mit nur wenig stützender kindgerichteter Sprache in dyadischen Kontexten (Jahreiß u. a. 2018). Dies trägt nicht zum kindlichen Wohlbefinden bei: Wie mehrere Studien zeigen, sind die ersten Monate in einer institutionellen Umgebung, wo kleine FZSE-Kinder nichts verstehen und nicht verstanden werden, wenn sie verbal kommunizieren, eine bittere Erfahrung für sie, die weitreichende Folgen für ihr psychosoziales Verhalten haben kann (De Houwer 2020). Es wird eine Weile dauern, bevor FZSE-Kinder anfangen, die neue Sprache gut zu verstehen. Wie lange genau, ist schwer zu sagen. Es hängt sehr davon ab, wann Kinder anfangen, die neue Sprache zu hören, und von einer Vielzahl anderer Faktoren, die in Kapitel 4 behandelt werden. Bei FZSE zeigen Kinder, die durchschnittlich ab dem Alter von zwei Jahren und acht Monaten regelmäßig die S2 hören, nach einem Jahr großen Zuwachs im Verstehen der S2 (Schulz 2013; ähnliche Befunde für etwas ältere Kinder gibt es in Korecky-Kröll u. a. 2016). Studien zu Schultestresultaten von Grundschülern weltweit lassen vermuten, dass es bei ZSE-Kindern auch lange dauern kann, bis sie die neue Schulsprache aus
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reichend verstehen, um vollwertig am schulischen Unterricht teilzunehmen (UNESCO 2016). Gezielte Langzeitstudien zur individuellen Entwicklung des S1- oder S2-Verständnisses bei ZSE-Kindern sind bisher unbekannt. Wenn sie mit sechs Jahren mit der Schule beginnen, verstehen DES-Kinder und die meisten FZSE-Kinder die Schulsprache wahrscheinlich gut genug, um zu begreifen, was in der Schule vorgeht. Sie verstehen zudem die Nichtschulsprache, die zu Hause gesprochen wird. Außerdem können DES-Kinder die Schulsprache bis dahin auch schon gut sprechen (wenn sie sie zu Hause von Geburt an gehört haben). Für FZSE-Kinder trifft das oft nicht zu.
2.2.2 Sprachproduktion Kurz nach ihrem ersten Geburtstag fangen DES-Kinder an, Wörter in ihren beiden Sprachen zu sagen. Es kommen allmählich neue Wörter dazu, bis am Ende des zweiten Lebensjahrs eine Art Wortschatzexplosion stattfindet, wobei fast jeden Tag neue Wörter in beiden Sprachen produziert werden. Im Laufe des zweiten Lebensjahrs sind die verwendeten Wörter oft sogenannte Holofrasen, die eine sehr weite Bedeutung haben (z. B. auf könnte bedeuten ‚bitte heb mich auf‘, ‚bitte schau nach oben‘, ‚ich habe alles aufgegessen‘ usw.). Nach und nach fangen DES-Kinder an, zwei Wörter miteinander zu kombinieren. Diese Fähigkeit ist ein wichtiger Meilenstein für den zweiten Geburtstag. Bis zum dritten Geburtstag können die meisten DES-Kinder Sätze mit vier oder fünf Wörtern aus der gleichen Sprache produzieren, die die für diese Sprache angemessene Wortstellung haben und eine angemessene (jedoch noch beschränkte) Flexionsmorphologie und verschiedene Wortarten beinhalten können. Viele DES-Kinder produzieren am Anfang des vierten Lebensjahrs schon komplexe Sätze mit einem Haupt- und Nebensatz und tun das in den beiden Sprachen, die sie von Geburt an gehört haben. Wenn DES-Kinder vier Jahre alt sind, können sie kurze Geschichten erzählen, sie sind meistens gut verständlich für Unbekannte, und sie haben einen großen Wortschatz, der stetig wächst (De Houwer 2009). In der frühen Kindheit entwickeln FZSE- und ZSE-Kinder sich ähnlich wie DES-Kinder, jedoch nur in einer Sprache. Kurz nach ihrem ersten Geburtstag fangen sie an, Wörter in ihrer einzigen Sprache zu sagen. Nach dem zweiten Geburtstag kommen dann kleine Sätze in der S1 dazu, die, wie bei DES-Kindern in mindestens einer ihrer Sprachen (s. Kapitel 3), allmählich länger und komplexer werden. Nachdem FZSE-Kinder regelmäßig eine weitere Sprache (die S2) gehört und ein Maß von Verstehen in der S2 entwickelt haben, fangen manche allmählich an, diese S2 auch ein wenig zu sprechen, allerdings erst in kurzen Formeln und Ein- bis Zwei-Wort-Sätzen. Manche anderen Kinder sprechen bald sehr viel und ziemlich gut in der S2, jedoch sprechen wieder andere selbst nach zwei Jahren (oder länger) in einem Kindergarten die S2 überhaupt nicht (Thompson 2000). Diese ‚stille Periode‘ wird oft als ein ‚natürliches‘ und unvermeidliches Phänomen des frühen Zweitspracherwerbs betrachtet, jedoch ist sie das nicht.
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Kleinkindern, die eine längere ‚stille Periode‘ durchmachen, geht es auf sozioemotionaler Ebene nicht gut (De Houwer 2020), und Kindergärten und Vorschulen sollten dafür sorgen, dass es nicht dazu kommt. Eine mehrsprachige Bildung, wie u. a. von Chilla/ Niebuhr-Siebert (2017) beschrieben, ist hierzu unerlässlich. Die große Variabilität im Lerntempo für die S2 bei FZSE-Kindern sehen wir auch bei ZSE (De Houwer 2021). In einer seltenen Längsschnittstudie stellten MacSwan/ Pray (2005) fest, dass es ZSE-Kinder gibt, die bereits nach einem Jahr in der Grundschule die S2 gut sprechen können. Dennoch gibt es andere, die dazu 6,5 Jahre brauchen. 92 % der 89 ZSE-Kinder in der Studie brauchten jedoch fünf Jahre, um ein hohes Niveau an S2-Kenntnissen zu erreichen. Haberzettl u. a. (2013) haben die Verwendung der Verbstellung und der Verbalflexion von vier ZSE-Kindern mit Deutsch als S2 mit der von viel jüngeren monolingual deutschsprachigen Kindern verglichen. Sie fanden ebenfalls Unterschiede im Lerntempo zwischen den Kindern. Jedoch, ähnlich wie MacSwan/Pray (2005), fanden Haberzettl u. a. (2013) Beweise dafür, dass je älter die Kinder sind, wenn sie mit dem Erwerb der S2 beginnen, sie desto weniger Zeit benötigen, um gute Fähigkeiten in der S2 zu erlangen. Daher findet die häufig verwendete Formulierung je früher, desto besser keine empirische Unterstützung (De Houwer 2021). Bei FZSE und ZSE entwickelt sich die S1 meistens weiter, obwohl wir dazu nicht viel wissen (s. jedoch Gagarina/Klassert 2018). Auf jeden Fall kommt es selten vor, dass mehrsprachige Kinder, die zu Hause nur eine Sprache hören, ihre S1 nicht (mehr) sprechen (laut der Studie von De Houwer 2007 passiert dies nur in 3 % der Fälle).
2.3 Sprachwahl bei DES, FZSE und ZSE Die Tatsache, dass manche mehrsprachigen Kinder in der Lage sind, zwei Sprachen zu sprechen, bedeutet automatisch, dass bei jeder Äußerung eine (meistens unbewusste) Wahl getroffen werden muss zwischen Sprache A oder Sprache Alpha (bei DES) bzw. zwischen S1 und S2 (bei FZSE und ZSE). Darüber hinaus können Kinder sprachgemischte Äußerungen verwenden (De Houwer 2009), das heißt Äußerungen mit lexikalischem Material von sowohl Sprache A als auch Sprache Alpha oder von sowohl S1 als auch S2. Letztere Äußerungen werden oft als Beispiele von code-mixing oder code-switching bezeichnet. Diese mit unterschiedlichen Inhalten und theoretischen Positionen verbundenen Begriffe können sich jedoch auch auf größere Einheiten als individuelle Äußerungen (z. B. ganze Gespräche) beziehen. Die beschreibende Phrase sprachgemischte Äußerungen ist dahingegen theoretisch neutral und klar (De Houwer 2019). Bei mehrsprachigen Kleinkindern kommen sprachgemischte Äußerungen weniger vor als Äußerungen in einer einzigen Sprache. Viele mehrsprachige Kleinkinder verwenden fast nie eine sprachgemischte Äußerung. Sowohl bei DES als auch bei FZSE betreffen gemischte Äußerungen meistens die Einbettung eines einzigen freien
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Morphems (meistens eines Nomens) von Sprache X in einer Äußerung in Sprache Y (Cantone 2007; De Houwer 2009; Reich 2009). Auf Basis ihrer Observierungen von meist ZSE-Kindern in einer deutsch-englischen Grundschule in Berlin fand Fuller (2012) vorwiegend nur Einbettungen auf Wortebene. Einbettungen auf Phrasenebene gibt es im Grundschulalter auch. Allerdings wurden sie bisher bei DES- und FZSE-Kindern im Grundschulalter aufgezeichnet (Zentella 1997) und nicht bei ZSE-Kindern, die erst vor Kurzem angefangen haben, die neue Sprache zu erlernen. Um komplexere gemischte Äußerungen produzieren zu können, muss man also höhere Sprachfähigkeiten in zwei Sprachen entwickelt haben. DES-Kinder, die zwei Sprachen sprechen (es gibt DES-Kinder, die nur eine Sprache sprechen, s. Kapitel 3.2), können schon vor dem dritten Lebensjahr die Sprache nach Adressaten und Situation wechseln (De Houwer 2009). So bald FZSE-Kinder zwei Sprachen sprechen können, verwenden sie meistens die ,richtige‘, d. h. die Sprache, die in einer Situation erwartet wird (Reich 2009). So würde ein Kind im Kindergarten in Deutschland normalerweise kein Russisch, sondern nur Deutsch mit der Erzieherin sprechen, es sei denn, sie hat es auf Russisch angesprochen. Ähnliches gilt für ZSEKinder. Der Sprachwechsel scheint meistens fließend, d. h. ohne Verzögerungen zu verlaufen.
3 Die beiden sich entwickelnden Sprachen im Vergleich 3.1 Gegenseitiger Einfluss oder nicht? Eine Frage, die vor allem in den 1990er Jahren im Vordergrund stand, ist die zum Verhältnis der beiden sich entwickelnden Sprachen. Strukturell entwickeln DES-Kinder jede ihrer Sprachen wie grundsätzlich separate morphosyntaktische Systeme (was die Separate Entwicklungshypothese bestätigt, s. De Houwer 1990; 2009). Gegenseitiger Einfluss auf der morphosyntaktischen Ebene ist selten bei DES und nicht systematisch. Bei FZSE sieht man jedoch öfter einen morphosyntaktischen Einfluss der S1 auf die S2. Dieser ist allerdings nur zu bemerken, wenn FZSE-Kinder schon in der Lage sind, kurze Sätze in der S2 zu bilden. In der Literatur gibt es viele Beispiele in verschiedenen Sprachen, die von FZSE-Kindern unter sechs Jahren als S2 gelernt werden, die Strukturelemente aus der S1 verwenden. Ein Beispiel ist der deutsche Satz eines Kindes mit Türkisch als S1 (Pfaff 1994, 86): „Alle Kinder sind Jocken anziehen“, um anzudeuten, dass alle Kinder gerade dabei sind, ihre Jogginganzüge anzuziehen. Dieser Satz enthält einen Versuch, ein present progressive auszudrücken, das im Deutschen nicht existiert, wohl aber im Türkischen. Der Anteil derartiger Sätze an der S2-Gesamtproduktion ist nicht bekannt, scheint jedoch recht häufig und innerhalb einer be-
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grenzten Lernphase systematisch zu sein (s. z. B. Schwartz u. a. 2015). Normalerweise sehen wir solche Sätze bei DES-Kindern kaum. Auch fehlende Formen können auf einen Einfluss der S1 auf die S2 hinweisen. Z. B. zeigt das unangemessene Fehlen von deutschen Artikeln bei jungen FZSE-Kindern mit Türkisch als S1 (Reich 2009; Rothweiler 2016) trotz gut entwickelter deutscher Satzstrukturen, Verbflexion und Kasusmarkierungen möglicherweise einen systematischen Einfluss der türkischen Sprache, die keine Artikel hat. Solch unangemessenes systematisches Fehlen von bestimmten morphosyntaktischen Kategorien wurde bisher für DES noch nicht dokumentiert. Etwas ältere FZSE-Kinder, die im vierten Lebensjahr oder etwas später begonnen haben, regelmäßig eine S2 zu hören, zeigen eine Reihe von unterschiedlichen Mustern bei der Satzbildung im Vergleich zu Kindern, die diese Sprache als erste Sprache (entweder beim DES oder beim monolingualen Erwerb) erwerben. Diese unterschiedlichen Muster zeigen jedoch nicht unbedingt einen direkten Einfluss der S1 der FZSEKinder (Granfeldt/Schlyter/Kihlstedt 2007). Umgekehrt kann die neue S2 morphosyntaktische Phänomene in der S1 beeinflussen (Gagarina/Klassert 2018). Studien zum gegenseitigen morphosyntaktischen Einfluss (oder dessen Fehlen) bei ZSE-Kindern, die gerade dabei sind, eine neue S2 zu lernen, lassen sich nicht finden. Auf phonologischer Ebene ist die Sachlage eher gemischt (s. z. B. die Literaturübersicht in Marecka u. a. 2020). Es gibt sowohl gegenseitige Einflüsse als auch Merkmale einer separaten Entwicklung, obwohl beim DES im Allgemeinen eher eine separate Entwicklung gefunden wird. Allerdings sind die Befunde abhängig davon, was genau untersucht wird: Phoneme an sich, Phoneme in Kombination miteinander, Prosodie auf Wortebene, Prosodie auf Satzebene usw. Das Kindesalter spielt eine große Rolle: Es dauert viele Jahre, bis Kinder sich die Phonologie einer Sprache angeeignet haben. Die rezeptive Wortschatzgröße von jungen FZSE-Kindern in der S1 sagt die rezeptive Wortschatzgröße in der S2 vorher (Sierens u. a. 2019). Ob es bei mehrsprachigen Kindern auf lexikalischer und semantischer Ebene weitere systematische Einflüsse zwischen den beiden sich entwickelnden Sprachen gibt, wurde bisher wenig erforscht. Einige Ausnahmen sind die Studien von Schelletter (2002) zu einem sehr jungen deutsch-englischsprachigen DES-Kind und von Persici u. a. (2019), die zu Kindern im Grundschulalter mit Deutsch als S2 geforscht haben. Ganz allgemein wurde belegt, dass bei FZSE eine früh entwickelte Kompetenz in der S1 die Entwicklung der S2 unterstützt (Winsler/Yoon/Richard 2014).
3.2 Ungleichmäßige Entwicklung Eine ungleichmäßige Entwicklung bezieht sich auf die allgemein beobachtete Tatsache, dass mehrsprachige Kinder in der Regel in beiden Sprachen nicht gleich gut abschneiden (De Houwer 2009; 2021), d. h., sie sprechen die beiden Sprachen nicht auf dem gleichen Niveau. Dies gilt für einen bestimmten Zeitpunkt und für die Entwicklung der Kinder im Laufe der Zeit. Eine Sprache kann sich schneller entwickeln als die
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andere, dann langsamer werden, und die andere Sprache kann dann ,überholen‘. Eine ungleichmäßige Entwicklung zeigt sich sowohl im Verständnis (s. z. B. MacLeod u. a. 2013 zu DES-Kindern mit Deutsch und Französisch als Erstsprachen) als auch in der Produktion (s. Rinker/Budde-Spengler/Sachse 2016 zu türkisch- und deutschsprechenden DES- und FZSE-Kindern) oder eben in beidem (s. Ertanir u. a. 2018 zu DESund FZSE-Kindern, die ebenfalls Türkisch und Deutsch lernen). Es ist möglich, dass junge mehrsprachige Kinder in einem bestimmten Bereich des Sprachgebrauchs stärker in der Sprache X, jedoch in einem anderen Bereich stärker in der Sprache Y sind. Z. B. haben De Houwer/Bornstein (2016) gezeigt, dass junge DESKinder viel mehr Wörter in der Sprache A als in der Sprache Alpha verstehen, jedoch gleichzeitig mehr Wörter in der Sprache Alpha als in der Sprache A produzieren. D. h., es gibt nicht unbedingt eine Sprache, die in allen Bereichen stärker entwickelt ist. Im Bereich des Wortschatzes ist bekannt, dass mehrsprachige Kinder manche Dinge nur in einer Sprache und andere in zwei Sprachen kennen. Ein möglicher Effekt ist, dass Kinder mehr Wörter in der einen als in der anderen Sprache kennen. Zum Beispiel produzierten 92 mehrsprachige DES- und FZSE-Kinder mit den Sprachen Türkisch und Deutsch im Alter von 18 und 30 Monaten im Durchschnitt viel mehr türkische als deutsche Wörter (Budde-Spengler/Sachse/Rinker 2021; s. Ertanir u. a. 2018 für Vorschulkinder). Sowohl beim DES (De Houwer 2009) als auch beim FZSE (Reich 2009) gibt es bei der Entwicklung der Morphologie und Syntax oft große Unterschiede zwischen den Sprachen. Es gibt sogar DES-Kinder, die nicht dahin kommen, längere Sätze in einer ihrer Sprachen zu formen. Manchmal sprechen junge DES-Kinder in der Tat nur eine Sprache. Dies ist fast immer die Sprache, die im weiteren Umfeld gesprochen wird und die auch später in der Schule benutzt wird. Auch Kinder, die vor Eintritt in die Vorschule oder im Kindergarten fließend längere Sätze in zwei Sprachen verwenden konnten, hören oft auf, die Nichtschulsprache zu sprechen. DES-Kinder, die nur eine Sprache sprechen, stellen ein Viertel aller DES-Kinder dar (De Houwer 2007). Die Tatsache, dass Kinder nur eine Sprache sprechen, während zu Hause zwei Sprachen gesprochen werden, bedeutet, dass viele Eltern eine andere Sprache mit dem Kind sprechen als das Kind mit seinem Elternteil. Dieses inkongruente Sprachwahlmuster ist suboptimal für die Beziehung zwischen Kindern und Eltern und beeinträchtigt das familiäre Wohlbefinden (De Houwer 2020). Bei FZSE ist die S1 oft schon recht gut entwickelt, bevor Kinder anfangen, kleine Sätze in der S2 zu produzieren. Sehr wenige Studien belegen jedoch, was im Verlauf der Entwicklung bei FZSE sowohl mit der S1 als auch mit der S2 passiert. Die Studie von Reich (2009) ist eine wichtige Ausnahme. Reich hat belegen können, dass Dreijährige Sätze mit drei oder vier Wörtern in der S1 formen (und auch längere), aber dass sie gleichzeitig in der neuen S2 nur Ein- oder Zwei-Wort-Äußerungen produzieren. Einige Fallstudien in Reich (2009) zeigen, dass es lange dauern kann, bis Kinder im Alter von drei Jahren, die ihre S1 recht gut sprechen, längere Sätze im Deutschen, ihrer S2, bilden können. Bis zum Ende des vierten Lebensjahres verbessern sich allmählich
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die Ausdrucksmöglichkeiten sowohl in der S1 als auch in der S2 mit immer komplexeren Sätzen in beiden. Jedoch bleibt die S2 ein wenig zurück im Vergleich zu der S1. Das ändert sich im fünften Lebensjahr, wenn die S2 bei manchen FZSE-Kindern deutlich besser wird als die S1. Ahrenholtz u. a. (2013) berichten von erheblichen Unterschieden zwischen den selbsteingeschätzten mündlichen Sprachkompetenzen im Russischen und Deutschen bei ZSE. Sowohl DES- (De Houwer 2009) als auch FZSE-Kinder (Reich 2009) leiden möglicherweise unter einem Rückgang einer ihrer Sprachen, d. h., ihr Niveau in einer Sprache kann stagnieren oder sinken. Dieser Rückgang beginnt gewöhnlich im ersten Jahr der Kinderbetreuung oder des Vorschulbesuchs und betrifft meistens die Sprache, die in der Kita oder in der Vorschule nicht verwendet wird. Auf Basis seiner Langzeitstudie mit u. a. 20 FZSE-Kindern hat Reich (2009) feststellen können, dass sich die S1 zwischen dem vierten und fünften Lebensjahr noch recht gut entwickelt, aber dass es zwischen dem fünften und sechsten Lebensjahr zu einer Stagnierung kommen kann. Die Lernrate für neue Wörter in der S1 kann bei FZSE-Kindern abnehmen, wenn sie eine Vorschule in der S2 besuchen. Ein ähnlicher Effekt kann für die Sprache auftreten, die DES-Kinder in der Schule nicht hören. Inwieweit es zu einer Abnahme der Produktions- und Verständnisfähigkeiten in der nichtschulischen Sprache kommen wird, kann nicht vorhergesagt werden. Dies hängt jedoch stark vom anhaltenden und reichen häuslichen Input ab (s. Kapitel 4). Die Entwicklung von Lesefähigkeiten in der Sprache, die in der Schule nicht gehört wird, wird von großem Vorteil sein, um dem Verlust von Verständnisfähigkeiten entgegenzuwirken. Unterschiedliche Sprachprofile, die sich aus einer ungleichmäßigen Entwicklung ergeben, und die große Vielfalt an zu erlernenden Formen in einer mehrsprachigen Umgebung führen bei mehrsprachigen Kindern zu sehr unterschiedlichen Sprachkenntnissen.
3.3 Vergleiche unter Kindern Oft werden Vergleiche zwischen mehrsprachigen und einsprachigen Kindern gezogen. Es soll hervorgehoben werden, dass solche Vergleiche für ein besseres Verständnis der mehrsprachigen Entwicklung prinzipiell völlig unnötig sind. Ein mehrsprachiges Kind ist nicht die Summe von mehreren einsprachigen Kindern und soll auch nicht als solches gesehen oder verstanden werden. Leider erwarten viele Laien, dass mehrsprachige Kinder sich in all ihren Sprachen ähnlich wie gleichaltrige einsprachige verhalten. Es soll dabei nicht aus den Augen verloren werden, dass es bei einsprachigen Kindern sehr viel Variabilität gibt. Z. B. gibt es vierjährige einsprachige Kinder, die schon recht gut eine Geschichte erzählen können, während es auch viele gibt, die hierzu noch nicht in der Lage sind (De Houwer 2009; Gagarina 2016). Oft wird behauptet, mehrsprachige Kinder sind sprachverzögert im Vergleich zu gleichaltrigen einsprachigen. Beweise dafür gibt es jedoch nicht. In mindestens einer
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ihrer Sprachen erreichen junge DES-Kinder in der Regel ähnliche Meilensteine in der Sprachentwicklung und zeigen die gleichen interindividuellen Unterschiede wie einsprachige Kinder im gleichen Alter. Die kombinierte Evidenz für DES zeigt für jede Sprache ein hohes Maß an Ähnlichkeit mit einsprachigen Kindern in der gesamten Sprachentwicklung (De Houwer 2009). Anders ist es für FZSE: Aufgrund ihres höheren Alters bei Erwerbsbeginn des Deutschen und der daraus resultierenden kürzeren Kontaktdauer zum Deutschen sind schlechtere sprachliche Fähigkeiten bei Kindern und Jugendlichen mit DaZ im Vergleich zu gleichaltrigen Kindern und Jugendlichen mit Deutsch als Muttersprache (DaM) aus Sicht der empirischen Spracherwerbsforschung zu erwarten und stellen demzufolge kein sprachliches Defizit dar. (Müller/Geist/Grimm 2016, 3)
Bis zum Alter von fünf Jahren liegt die Stufe des S2-Vokabelverständnisses mancher FZSE-Kinder deutlich unter der Stufe gleichaltriger einsprachiger Kinder. Im Vergleich zu Kindern, die von Geburt an ständig ihre einzige Sprache gehört hatten, schneiden FZSE-Kinder in dieser Sprache als S2 bei Vokabeltests, die für einsprachige Gleichaltrige standardisiert sind, weniger gut ab. Angesichts der Tatsache, dass das Lernen von Wörtern in hohem Maße von deren Frequenz im Input abhängt und dass FZSE-Kinder weitaus weniger mit ihrer S2 in Berührung kommen als einsprachige Kinder mit ihrer einzigen Sprache, sind diese Ergebnisse zu erwarten. Glücklicherweise können alle Kinder durch erhöhten Input schnell mehr Wörter lernen. Lesen bietet hier große Vorteile. Im Vergleich zu einsprachigen Kindern zeigen junge DES-Kinder im zweiten Lebensjahr im Großen und Ganzen kaum Unterschiede im Umfang des Wortschatzes, weder im Verständnis noch in der Produktion, weder im gesamten Wortschatz noch im Wortschatz in nur einer Sprache (De Houwer/Bornstein/Putnick 2014). Einige mehrsprachige Kleinkinder produzieren jedoch mehr als doppelt so viele Wörter als einsprachige Kinder im gleichen Alter (ebd.). Dies bestätigt nochmals, dass Mehrsprachigkeit nicht, wie häufig fälschlicherweise angenommen wird, zu einer Verzögerung der Sprachentwicklung führt. Die Studie von Budde-Spengler/Sachse/Rinker (2021) zum Wortschatz von mehrsprachigen Kindern im Alter von 18 und 30 Monaten, die sowohl Türkisch als auch Deutsch lernten (es waren meistens DES-Kinder), fand heraus, dass im Vergleich zu gleichaltrigen einsprachig deutschsprachigen Kindern die mehrsprachigen Kinder ebenso viele Wörter produzierten (im Türkischen und Deutschen insgesamt). In einem non-verbalen Test fanden Grimm/Schulz (2016) heraus, dass junge DES-Kinder viel besser abschnitten als gleichaltrige einsprachig deutschsprachige Kinder (oder als gleichaltrige FZSE-Kinder). Interessanter und wichtiger als Vergleiche zwischen mehrsprachigen und einsprachigen Kindern sind Vergleiche zwischen mehrsprachigen Kindern untereinander. Abschnitt 2.2 hat gezeigt, wie heterogen die Entwicklung bei mehrsprachigen Kindern sein kann. Diese Heterogenität hat wichtige Konsequenzen für die logopädische Praxis und für die frühe Bildung (Chilla/Niebuhr-Siebert 2017; Grimm/Schulz 2016).
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Leider gibt es wenige gezielte Vergleiche zwischen DES und FZSE (oder eben ZSE). Auf Mikro-Ebene gibt es jedoch einen einzigartigen Vergleich zwischen jungen S2-Lernenden mit Deutsch als S1, die das Französische in einer Immersion-Situation als S2 lernten, und altersentsprechenden DES-Kindern, die Deutsch und Französisch von Geburt an lernten. In diesem Vergleich stellte Meisel (2008) fest, dass die FZSE-Kinder Fehler machten, die die DES-Kinder nicht machten (die Fehler bestanden darin, nicht finite Verben zu produzieren, für die finite Formen erforderlich waren). Allgemeiner lässt sich die bisherige Forschungslage selektiv wie folgt zusammenfassen: – DES-Kinder lernen von Anfang an, zwei Sprachen zu verstehen. Das ist beim (F)ZSE nicht der Fall. – DES-Kinder sagen im zweiten Lebensjahr Wörter in zwei Sprachen. Das ist beim (F)ZSE nicht der Fall. – Viele DES-Kinder fangen gleichzeitig an, erst kurze und danach längere und komplexe Sätze in zwei Sprachen zu bilden. Das ist beim (F)ZSE nicht der Fall: Es werden erst Sätze in der S1 gebildet, und nur viel später kommt es auch zu Sätzen in der S2. – DES-Kinder sprechen jede ihrer Sprachen ohne merkbaren systematischen morphosyntaktischen Einfluss der anderen. Das ist beim FZSE nicht der Fall. – Ein Viertel (oder mehr) der DES-Kinder im Grundschulalter sprechen nur die Schulsprache. Das ist beim (F)ZSE kaum der Fall. – Bei DES-Kindern ist nach (Vor-)Schuleintritt die Schulsprache oft bald die am besten entwickelte Sprache. Bei (F)ZSE-Kindern ist die S1 zuerst die bestentwickelte Sprache. Die Schulsprache (die S2) entwickelt sich viel langsamer. Jedoch ist sowohl bei DES- als auch bei (F)ZSE-Kindern die Schulsprache bis zum Alter von ca. zehn Jahren möglicherweise sehr gut entwickelt. – Allgemein haben DES-Kinder kaum einen ,Akzent‘ in ihren beiden Sprachen. Ein solcher Akzent kommt jedoch bei (F)ZSE-Kindern häufig vor, das heißt, in ihrer S2 zeigen die Kinder auf der Klangebene klare Einflüsse der S1. – Sowohl bei DES- als auch bei (F)ZSE-Kindern, die Sätze in zwei Sprachen bilden können, passiert der Sprachwechsel von der einen in die andere Sprache meistens fließend. Kindliche sprachgemischte Äußerungen, wenn es sie überhaupt gibt, sind strukturell meistens wenig interessant. Kontaktdauer und Alter bei Erwerbsbeginn einer Sprache spielen eine große Rolle (Schulz 2013). Deswegen sind die Unterschiede zwischen DES und (F)ZSE grundlegend damit verbunden, ob Kinder ihre zwei Sprachen wirklich gleichzeitig von Geburt an gehört haben oder nicht. Es gibt darüber hinaus noch viele andere Faktoren, die die mehrsprachige Entwicklung beeinflussen. Diese werden im folgenden Kapitel besprochen.
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4 Faktoren, die die mehrsprachige Sprachentwicklung beeinflussen 4.1 Kindinterne Faktoren Es gibt viele kindinterne Faktoren, die die frühe Sprachentwicklung beeinflussen. Obwohl viele davon im Gegenzug auf externe Faktoren zurückgeführt werden können, die die allgemeine Entwicklung von Kindern mitbestimmen, sind diese kindinternen Faktoren kaum gezielt steuerbar. Zu den kindinternen Faktoren, die ziemlich direkt in Verbindung mit Sprachentwicklung stehen, zählen z. B. die Qualität der auditiven Wahrnehmung und das Arbeitsgedächtnis. Beide sind bei sich normal entwickelnden Kindern sehr variabel. Schüchternheit kann die Sprachproduktion sehr beeinträchtigen und ist in mehrsprachigen Umgebungen oft ein Grund für eine langsame Entwicklung in der S2 (Keller/ Troesch/Grob 2013). Kinder, die überhaupt nicht schüchtern sind, haben beim FZSE sicherlich einen Vorteil (Reich 2009). Bei FZSE und vermutlich auch bei ZSE gilt, dass je besser die S1 der Kinder entwickelt ist, sich die S2 desto besser entwickeln wird. Das Niveau der S1-Kenntnisse ist also ein bedeutsamer kindinterner Faktor für das Erlernen der neuen S2. Ein weiterer wichtiger kindinterner Faktor ist die Motivation, eine bestimmte S2 zu lernen (Haberzettl u. a. 2013). Dieser Faktor ist wahrscheinlich eher für ZSE- als für FZSE-Kinder von Belang, denn ZSE-Kinder sind schon älter und können sich deswegen viel bewusster überlegen, ob sie eine bestimmte Sprache lernen wollen oder eher nicht (z. B. wird ein Kind im Grundschulalter, das weiß, dass es innerhalb eines Schuljahres wieder in ein anderes Land umzieht, wahrscheinlich weniger in die S2 investieren wollen, als ein Kind, das weiß, dass es auf Dauer im neuen Land bleiben wird). Umgekehrt gibt es viele Meldungen von DES-Kindern im späteren Vorschulalter und im Grundschulalter, die ihre Nichtschulsprache bewusst ablehnen und nicht mehr sprechen wollen (De Houwer 2020). Die negativen Spracheinstellungen dieser Kinder werden möglicherweise von negativen Einstellungen der Umgebung zu Sprachen, die in der (Vor-) Schule keine Verwendung finden, bestimmt. Betrachten wir jetzt die kindexternen Faktoren, die die Sprachentwicklung in einer mehrsprachigen Umgebung beeinflussen.
4.2 Externe Faktoren Es gibt sehr viele Umgebungsfaktoren, die die mehrsprachige Entwicklung beeinflussen können (De Houwer 2018). Der vielleicht wichtigste Faktor ist die Menge des Sprachangebots oder Inputs, sowohl im absoluten (wie oft hört ein Kind eine Sprache?) wie auch im relativen (welche Sprache wird mehr gehört?) Sinne.
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Die Menge des Sprachangebots hängt oft mit der Dauer, in der Kinder eine Sprache gehört haben, zusammen. Budde-Spengler/Sachse/Rinker (2021) zeigten, dass junge Kinder bis zum Alter von 30 Monaten, die zu Hause sowohl Deutsch als auch Türkisch hörten (DES-Kinder), viel mehr deutsche Wörter produzierten als Kinder, die zu Hause nur Türkisch hörten (FZSE-Kinder). Ähnlich hat Reich (2009, 39) festgestellt, dass elterliche Einschätzungen der Sprachkenntnisse ihrer mehrsprachig aufwachsenden Kinder im Vorschulalter mit dem Sprachengebrauch in der Familie zusammenhängen: Je weniger Deutsch in der Familie gesprochen wird, desto niedriger schätzen die Eltern die Deutschkenntnisse ihres Kindes ein. Umgekehrt ist der eingeschätzte Sprachstand in der S1/Sprache A umso höher, je mehr diese Sprache innerhalb der Familie verwendet wird. Die in Kapitel 2 und 3 beschriebenen Unterschiede zwischen DES und FZSE können also (teilweise) auf Unterschiede in der kumulativen Menge des Sprachangebots zurückgeführt werden. Auch innerhalb der Gruppe von DES-Kindern kann die Menge des Inputs in einer bestimmten Sprache teilweise erklären, warum ein Kind zu einem gewissen Zeitpunkt die Sprache A besser als die Sprache Alpha beherrscht (für eine Übersicht s. De Houwer 2018): Die öfter gehörte Sprache ist meistens die besser entwickelte. Auf Basis einer Langzeitstudie zu FZSE-Kindern in Wien mit Deutsch als S2 und Türkisch als S1 haben Czinglar u. a. (2017) für den rezeptiven Wortschatz belegen können, dass dieser sich umso schneller entwickelt, je früher und je mehr Stunden die Kinder eine deutschsprachige Kinderbetreuungseinrichtung besuchen. Die Menge des Inputs in einer bestimmten Sprache kann sich mit der Zeit stark ändern. Sie ist nur ein einziger kindexterner Faktor. Wie oft FZSE-Kinder tatsächlich die neue S2 sprechen, wirkt sich wie der Grad der interaktiven Unterstützung in der neuen S2 ebenfalls auf das Tempo aus, mit dem sie ihre S2-Kompetenzen entwickeln (Czinglar u. a. 2017). MacLeod u. a. (2013) haben gezeigt, dass ein kontinuierliches und reiches Sprachangebot für DES-Kinder einem Rückgang der Sprache, die in der Vorschule nicht verwendet wird, entgegenwirken kann. De Houwer (2007) fand Zusammenhänge zwischen der Verteilung von den zu Hause von den Eltern gesprochenen Sprachen und der häuslichen Verwendung einer Nichtschulsprache durch die Kinder: Z. B. hatten Familien, in denen beide Eltern zu Hause die gleiche Nichtschulsprache verwendeten und ein Elternteil darüber hinaus die Schulsprache zu Hause verwendete, eine dreimal so große Chance, Kinder zu haben, die ebenso die Nichtschulsprache verwendeten, wie Familien, in denen beide Eltern zu Hause die Schulsprache verwendeten und ein Elternteil darüber hinaus die Nichtschulsprache zu Hause verwendete. Wie oben angedeutet, sind Kinder aufgrund der sich entwickelnden Einstellungen gegenüber bestimmten Sprachen möglicherweise nicht (mehr) bereit, die Nichtschulsprache zu verwenden. Dies kann dazu führen, dass Eltern ihre Sprachwahl anpassen und die Nichtschulsprache immer seltener verwenden. Während kindexterne Faktoren sehr wichtig sind, zeigt diese Tatsache jedoch, dass sie die mehrsprachige Entwicklung an sich nicht ausreichend erklären können, denn wie unten kurz dargelegt, stehen sie immer in Verbindung mit kindinternen Faktoren.
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4.3 Ein Wechselspiel zwischen kindinternen und kindexternen Faktoren Kinder imitieren nicht automatisch alle gesprochenen Äußerungen, die sie hören. Sie sind vielmehr stetig reifende Individuen, die in einer intensiven persönlichen Erfahrung Aspekte ihres Sprachangebots verarbeiten und auswählen müssen. Dies ist ihre Sprachaufnahme oder ihr intake. Dieser intake bestimmt die sich entwickelnden Sprachkenntnisse auf dynamische Weise (De Houwer 2018). Unabhängig davon, wie viele Sprachen Kinder hören, hängt ihr Intake von einer Vielzahl kindlicher Faktoren ab. Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen sprachlichem Input und der Sprachbeherrschung mehrsprachiger Kinder ist daher nicht zu erwarten.
5 Fazit Meistens ist mehrsprachig aufzuwachsen niemandes ausdrückliche Entscheidung, sondern vielmehr die Folge wichtiger Lebensereignisse, wie z. B. der Umzug in ein anderes Land oder die Tatsache, dass Kinder Eltern mit verschiedener Sprachherkunft haben. Diese verschiedenen Lebensumstände führen zu grundlegend verschiedenen Erwerbssituationen für junge Kinder: Entweder hören sie zwei (oder mehr) Sprachen von Geburt an (Doppelter Erstspracherwerb, DES), oder sie fangen an, eine zweite Sprache zu hören, nachdem sie eine Zeitlang nur eine einzige Sprache gehört haben (Früher Zweitspracherwerb oder FZSE, wenn dies vor dem Schuleintritt passiert; Zweitspracherwerb oder ZSE, wenn dies im Grundschulalter passiert). Bei ausreichenden Lern- und Übungsmöglichkeiten können sowohl DES- als auch (F)ZSE-Kinder mehrere Sprachen sehr gut verstehen und sprechen lernen. Ein ähnliches Entwicklungsniveau ist jedoch nicht für beide Sprachen zu erwarten: Eine ungleichmäßige Entwicklung ist nicht nur bei DES, sondern auch bei (F)ZSE Teil der typischen Entwicklung. Die beiden Sprachen mehrsprachig aufwachsender Kinder können gegenseitige Einflüsse zeigen. Diese können eher gering sein oder recht erheblich. Auf jeden Fall entspricht die oft implizite Ansicht, dass mehrsprachige Kinder verschiedene einsprachige in sich vereinen, nicht der Realität. Es wird darüber hinaus oft behauptet, dass mehrsprachige Kinder weniger Wörter kennen als einsprachige. Wenn der gesamte Wortschatz von mehrsprachigen und einsprachigen Kindern verglichen wird, verschwinden jedoch jegliche Unterschiede. Es liegen umfangreiche Forschungsergebnisse zu den typischen Entwicklungspfaden vor, die junge DES-Kinder in jeder ihrer Sprachen einschlagen. Der Mangel an detaillierten linguistisch orientierten Längsschnittstudien zu (F)ZSE und die enorme Heterogenität innerhalb von (F)ZSE bedeuten hingegen, dass wir weit weniger über typische (F)ZSE-Entwicklungsverläufe wissen und dass diese schwieriger zu identifizieren sind oder möglicherweise gar nicht existieren. Das Projekt zu ZSE, geleitet von
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Chilla und Hamann (BiliSAT: Bilinguale Sprachentwicklung von Kindern und Jugendlichen im Schulalter mit und ohne Sprachentwicklungsstörungen mit Arabisch und Türkisch als Erstsprachen; https://www.uni-flensburg.de/pmsks/projekte/ professorin-dr-phil-solveig-chilla/abgeschlossene-forschungsprojekte/bilisat/), hilft dabei, diese Lücke zu schließen (Hamann u. a. 2020). Fachkräfte in der frühkindlichen Bildung und Lehrkräfte erwarten oft, dass FZSEund ZSE-Kinder die neue Schulsprache sehr bald sprechen lernen. Solche Erwartungen sind unrealistisch: Kinder brauchen Zeit, um eine neue Sprache zu lernen. Diese Zeit bietet Kindern die Möglichkeit, ihre neue Sprache in vielen verschiedenen Umständen und oft zu hören. Auch bei DES ist die Menge des Sprachangebots in beiden Sprachen von großer Bedeutung. Die Menge des Inputs in einer Sprache hängt zwar ein wenig vom Alter ab, denn ältere Kinder haben oft mehr Möglichkeiten, eine Sprache zu hören; dennoch ist Alter an sich kein Faktor, der als Erklärung für sprachliche Fähigkeiten gelten kann, es sei denn in sehr frühem Kindesalter, wo es kognitive und physische Einschränkungen gibt, die die sprachlichen Möglichkeiten limitieren. Die Beziehungen zwischen Umgebungsfaktoren wie der Menge des Sprachangebots und der frühen mehrsprachigen Entwicklung sind komplex und dynamisch. Sie sind eng mit den spezifischen soziokulturellen Machtkonstellationen in der Gesellschaft verbunden, in der Kinder und ihre Familien leben. Nur wenn wir diese Konstellationen in Kombination mit dem Input und mit dem kindlichen Entwicklungsstand untersuchen, können wir zu einem tieferen Verständnis der mehrsprachigen Entwicklung gelangen.
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Stefanie Bredthauer
15. Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht Abstract: Fremdsprachenunterricht findet in zweierlei Hinsicht im Kontext von Mehrsprachigkeit statt. Denn zum einen stellt Mehrsprachigkeit eine Zielsetzung, zum anderen jedoch auch eine Lernvoraussetzung der Teilnehmenden im Fremdsprachenunterricht dar. Dies wird von mehrsprachigkeitsdidaktischen Ansätzen aufgegriffen, indem sie die mehrsprachigen Kompetenzen der Lernenden gezielt in den Unterricht einbeziehen. Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick über entsprechende Gestaltungsmöglichkeiten des Fremdsprachenunterrichts, ihrer bisherigen Erforschung sowie zum aktuellen Stand ihrer Implementation in der Unterrichtspraxis. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass das Zusammenspiel von Wissenschaft und Praxis bei der weiteren Entwicklung und Erforschung mehrsprachigkeitsdidaktischer Konzepte voraussichtlich eine Schlüsselrolle spielen wird. 1 2 3 4 5 6 7 8
Einleitung Mehrsprachigkeit als Lernvoraussetzung im Fremdsprachenunterricht Mehrsprachigkeitsdidaktische Gestaltung von Fremdsprachenunterricht Wirkweisen von Mehrsprachigkeitsdidaktik Mehrsprachigkeitsdidaktik in sprachlich hyperdiversen Lerngruppen Implementation von Mehrsprachigkeitsdidaktik in der Praxis Fazit und Ausblick Literatur
1 Einleitung Menschen erwerben und erlernen in unterschiedlichen Phasen ihres Lebens neue Sprachen. Wenn sie damit beginnen, nachdem der grundlegende Erwerb ihrer Erstsprachen abgeschlossen ist, und die betreffende Sprache zum Zeitpunkt des Erlernens keine Umgebungssprache der Person darstellt, dann wird dies als Fremdspracherwerb bezeichnet. Fremdsprachen können zwar autonom (ungesteuert) erlernt werden, das heißt ohne einen Unterrichtsbesuch, meist erwerben Kinder oder Erwachsene Fremdsprachen jedoch im Rahmen von Fremdsprachenunterricht (gesteuert). Hierbei bestimmen in erster Linie nicht die Lernenden oder ihre sprachliche Umgebung, was, wann und wie sie lernen. Stattdessen wird dies in hohem Maße von Lehrplänen, Lernmaterialien und von den Lehrkräften durch den Unterricht vorgegeben. Damit geht auch einher, dass der Lernprozess einer Fremdsprache häufig bewusster verläuft als der Erwerb von Erst- und Zweitsprachen. Die Fähigkeit, in mehreren Sprachen kommunizieren zu können, hat zahlreiche Vorteile. Das gilt sowohl für den privaten als auch für den beruflichen Bereich. Deshttps://doi.org/10.1515/9783110623444-015
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halb hat Fremdsprachenunterricht eine sehr lange Tradition (Burwitz-Melzer u. a. 2016). In der heutigen Zeit von Globalisierung und Mobilität werden Fremdsprachenkenntnisse sogar als Grundkompetenz angesehen. So gehört zu den Zielen der Sprachenpolitik der Europäischen Union, dass jeder Bürger und jede Bürgerin zusätzlich zu seiner oder ihrer Erstsprache zwei weitere Sprachen beherrschen sollte, und der Unterricht von Fremdsprachen ist fester Bestandteil des schulischen Fächerkanons. Mehrsprachigkeit ist demnach ein europäisches Bildungsziel, bei dessen Verfolgung Fremdsprachenunterricht eine wesentliche Rolle spielt (Europarat 2001; Kommission der europäischen Gemeinschaften 2005; Europäische Kommission 2008). Mehrsprachigkeit stellt außerdem nicht nur eine Zielsetzung von Fremdsprachenunterricht dar, sondern auch eine Lernvoraussetzung. Denn spätestens mit dem Erwerb einer neuen Fremdsprache werden die Lernenden mehrsprachig; oftmals verfügen sie bereits zuvor über Kompetenzen in mehreren Sprachen. Diese zweifache Verbindung von Fremdsprachenunterricht und Mehrsprachigkeit (Zielsetzung und Lernvoraussetzung) wird von der sogenannten Mehrsprachigkeitsdidaktik aufgegriffen. Dieser Beitrag gibt einen Überblick über mehrsprachigkeitsdidaktische Gestaltungsmöglichkeiten des Fremdsprachenunterrichts, ihre bisherige Erforschung sowie zum aktuellen Stand ihrer Implementation in der Unterrichtspraxis.
2 Mehrsprachigkeit als Lernvoraussetzung im Fremdsprachenunterricht Wie schnell und wie gut ein Mensch eine Sprache erlernt, ist von zahlreichen Faktoren abhängig (Hufeisen 2010). Viele von ihnen wirken auf jeden Spracherwerbsprozess ein, unabhängig davon, ob es sich um den Erwerb einer Erst-, Zweit- oder Fremdsprache handelt. Hierzu zählen unter anderem die generelle Fähigkeit, eine Sprache zu erwerben, das Alter, die Motivation und allgemeine kognitive Fähigkeiten der Lernenden sowie die Lernumgebung. Allerdings wirken beim Fremdspracherwerb zusätzlich sogenannte fremdsprachenspezifische Faktoren. Diese ergeben sich aus der Tatsache, dass die Lernenden vor der Fremdsprache schon mindestens eine Sprache als Erstsprache erworben haben, vielleicht aber auch mehrere Erstsprachen, eine Zweitsprache sowie bereits andere Fremdsprachen. Auf das Erlernen einer Fremdsprache haben deshalb die Lernerfahrungen, die die Lernenden bereits mit anderen oder dieser Sprache gemacht haben, sowie Lernstrategien und alle bereits erworbenen Sprachen der Lernenden einen großen Einfluss. Der Großteil aller Schülerinnen und Schüler an deutschen Schulen und den Teilnehmenden in Fremdsprachenkursen ist heutzutage mehrsprachig. Diese Mehrsprachigkeit entsteht vor allem durch Migrationshintergründe, bilinguale Elternhäuser und schulischen Fremdsprachenunterricht. Lernende bringen demnach eine große
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Vielfalt an mehrsprachigen Kompetenzen in den Unterricht mit. Als mehrsprachig können hierbei nicht nur jene Personen angesehen werden, die auf muttersprachlichem Niveau zwei oder mehr Sprachen beherrschen, sondern auch jene, die weitere Sprachen nur rudimentär erworben haben. Denn als mehrsprachig gelten alle Personen, die in mehr als einer Sprache kommunizieren können – unabhängig davon, ob diese Kompetenzen produktiv und/oder rezeptiv (z. B. nur lesen, aber nicht schreiben), mündlich und/oder schriftlich, gut ausgeprägt oder rudimentär sowie in der Familie erworben oder in der Schule erlernt sind (Gogolin/Lüdi 2015). Dies wird häufig als funktionale oder funktionelle Mehrsprachigkeit bezeichnet; das heißt, es wird ein Repertoire mit unterschiedlich ausgeprägten Fähigkeiten in verschiedenen Kompetenzbereichen (z. B. domänenspezifisch oder mündlich vs. schriftlich) und verschiedenen Sprachen angestrebt, um in unterschiedlichen Situationen sprachlich erfolgreich handeln zu können (Europarat 2001). Spätestens ab dem Englischunterricht in der Grundschule verfügen alle Schülerinnen und Schüler über solche Kompetenzen (Cantone/Di Venanzio 2015). Die Kompetenzen in den verschiedenen Sprachen bestehen nicht nur additiv nebeneinander, sondern es findet eine wechselseitige Beeinflussung statt (Europarat 2001) und es bildet sich eine spezielle Mehrsprachigkeitsfähigkeit aus, die über die Kompetenzen in den Einzelsprachen hinausgeht (Herdina/Jessner 2002). Damit ist z. B. ein größeres Bewusstsein für sprachliche Strukturen und Sprachgebrauch gemeint. Die Mehrsprachigkeit aller Menschen ist eine dynamische Kompetenz, weil sie sich im Laufe eines Lebens immer wieder ändert. Alle Formen multilingualer Kompetenzen können im Rahmen von mehrsprachigen Unterrichtselementen als Vorerfahrungen der Lernenden einbezogen werden, so dass jeweils die gesamte Klasse oder Lerngruppe davon profitieren kann. Das nächste Unterkapitel widmet sich deshalb den verschiedenen mehrsprachigkeitsdidaktischen Konzepten für den Fremdsprachenunterricht.
3 Mehrsprachigkeitsdidaktische Gestaltung von Fremdsprachenunterricht Ende des 19. Jahrhunderts fand der erste große Paradigmenwechsel des Fremdsprachenunterrichts statt. Vietor brachte das damals in seiner programmatischen Schrift Der Fremdsprachenunterricht muß umkehren! (1882) zum Ausdruck. Die damals entwickelte Direkte Methode versuchte, die Erstsprache der Lernenden aus dem Lernprozess völlig auszuschließen und die Zielsprache als alleiniges Kommunikationsmittel zuzulassen (Prinzip der Absoluten Einsprachigkeit). In den nächsten hundert Jahren wurde deutlich, dass dies kaum möglich ist, da jede neu erlernte Sprache automatisch Sprachkontakt mit der Erstsprache impliziert. Deshalb wurde das strikte Einsprachigkeitsprinzip verworfen und vom Englischdidaktiker Butzkamm im Jahr 1973 durch das
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Prinzip der Aufgeklärten Einsprachigkeit abgelöst. Die Zielsprache wurde als Verkehrssprache des Unterrichts zwar beibehalten, jedoch durch dosierten Einsatz der Erstsprache der Lerngruppe in bestimmten Situationen ergänzt. Der nächste Paradigmenwechsel ließ dann nur weitere zwanzig bis dreißig Jahre auf sich warten und wurde durch gesellschaftliche Veränderungen ausgelöst – in erster Linie durch starke Migrationsbewegungen. An die Stelle der Aufgeklärten Einsprachigkeit trat nun die Mehrsprachigkeitsdidaktik. Denn am Fremdsprachenunterricht nehmen heutzutage, wie im vorangegangenen Abschnitt erläutert wurde, Lernende mit vielfältigen Mehrsprachigkeitsprofilen teil. Daher wurden verschiedene Konzepte entwickelt, die zum Ziel haben, die mehrsprachigen Ressourcen der Lernenden im Sprachunterricht vorteilhaft zu nutzen; z. B. der Interkomprehensionsansatz (u. a. Meißner 1995) oder die Tertiärsprachendidaktik (u. a. Hufeisen/Neuner 2003) u. v. m. Diese Konzepte lassen sich unter dem Begriff Mehrsprachigkeitsdidaktik zusammenfassen, auch die Begriffe Didaktik der Mehrsprachigkeit und mehrsprachige Pädagogik werden verwendet, oftmals synonym. Sie dienen als Sammelbegriffe für eine große Bandbreite an didaktischen Konzepten, denen allen die Nutzung von mehreren Sprachen im Unterricht gemein ist. Sie versammeln eine Vielzahl von Lehr- und Lernaktivitäten, bei denen die Beteiligten didaktisch geplant jeweils mehr als eine Sprache bis hin zu vielen Sprachen nutzen. Das kann rezeptiv (beim Lesen oder Hören) und/oder produktiv (beim Schreiben oder Sprechen) sein (u. a. Europarat 2009). Damit zielen sie auf den Aufbau einer integrativen Sprachkompetenz ab, zu der alle Sprachen und Sprachlernerfahrungen eines Lernenden beitragen und miteinander interagieren (Europarat 2001). Denn mehrsprachige Unterrichtselemente bieten Lehrkräften die Möglichkeit, die mehrsprachigen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler oder Teilnehmenden in den Unterricht zu integrieren und zu fördern (Hu 2010). Dabei können alle Sprachkompetenzen der Lernenden einbezogen werden, unabhängig davon, wie diese erworben wurden oder wie gut sie ausgeprägt sind. Indem an die sprachlichen Vorerfahrungen und Vorkenntnisse der Schülerinnen und Schüler oder Teilnehmenden angeknüpft wird, sollen (z. B. durch positiven Transfer) Synergieeffekte und somit eine Ökonomisierung des Sprachenlernens erreicht werden (Krumm 2010). Mehrsprachigkeitsdidaktik fungiert hierbei als Transversaldidaktik; das heißt, sie ersetzt die Einzelsprachdidaktiken nicht, sondern flankiert sie (Meißner 2004). Sie kann in allen sprachlichen Fächern und Sprachkursen eingesetzt werden, unabhängig davon, ob es sich um Unterricht in einer Erstsprache/Herkunftssprache, einer Zweitsprache oder einer Fremdsprache handelt. Die verschiedenen für den Unterricht entwickelten Konzepte setzen unterschiedliche Schwerpunkte, jedoch liegen ihnen allen dieselben didaktischen Prinzipien zugrunde. Diese sind vor allem: interlingualen Transfer anzuregen, Sprachbewusstheit zu schulen und Lernstrategien zu vermitteln. Die Gewichtung der Prinzipien kann je nach Ansatz unterschiedlich ausfallen; auch ist eine Verschränkung verschiedener Elemente innerhalb einer Unterrichtssequenz möglich.
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Abb. 1: Ausgangslage und Zielsetzung von Mehrsprachigkeitsdidaktik (=MSD) (aus Bredthauer 2018a, 276)
Aufgrund der Fülle an mehrsprachigkeitsdidaktischen Konzepten wird an dieser Stelle statt eines Überblicks über die verschiedenen Konzepte eine Übersicht über mehrsprachige Unterrichtsaktivitäten gegeben, die häufig Bestandteil solcher Konzepte sind (vgl. Tab. 1). Tab. 1: Mehrsprachigkeitsdidaktische Unterrichtsaktivitäten (aus Bredthauer/Kaleta/Triulzi 2021a, 2–3) 1. Quellen recherchieren
Wenn Quellen in unterschiedlichen Sprachen recherchiert werden, dann stehen den Lernenden insgesamt mehr Quellen zur Verfügung und diese können außerdem vielfältigere Perspektiven enthalten.
2. Inhalte von Quellen erschließen
Damit die Lernenden die Möglichkeit haben, Informationen selbst aus authentischen Quellen zu entnehmen, ist es je nach Unterrichtsthema sinnvoll, hierfür Quellen in verschiedenen Sprachen auszuwählen. Je nach Erkenntnisinteresse müssen die Lernenden die Sprache der Quelle hierfür nicht oder nur rudimentär beherrschen.
3. Notizen machen
Bei der Bearbeitung von Aufgaben ist es sinnvoll, wenn die Lernenden Notizen in allen Sprachen machen können, die sie kennen. Es kann z. B. sein, dass die Lernenden Begriffe in ihren Herkunftssprachen notieren, wenn dies die Sprachen sind, in denen sie häufig mit diesem Thema in Kontakt kommen. So wird das Abbrechen von Gedankengängen verhindert und für eine kognitive Entlastung gesorgt.
4. Austausch mit Arbeitspartnern
Auch beim Austausch mit Arbeitspartnern ist es für den Fluss von Gedankengängen und die kognitive Entlastung sinnvoll, wenn die Lernenden alle Sprachen zur Kommunikation nutzen können, die sie kennen.
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Tab. 1: (fortgesetzt) 5. Texte schreiben
Beim Verfassen von Texten kann durch den Einbezug der mehrsprachigen Ressourcen der Lernenden der Aufbau bildungssprachlicher Kompetenzen unterstützt werden. Entweder, indem bei allen Schritten der Textproduktion freie Sprachwahl gilt, oder aber, indem die Kompetenzen in anderen Sprachen bei der Vorbereitung der Textproduktion zur Entlastung genutzt werden. Dies kann z. B. beim Erstellen einer Gliederung oder aber dem Sammeln von relevanten Ausdrücken für die jeweilige Textsorte vor dem Schreiben des Textes geschehen.
6. Ergebnisse präsentieren
Auch bei der Präsentation von Ergebnissen kann es sinnvoll sein, unterschiedliche Sprachen einzubeziehen. Das gilt z. B. für Zitate, die in ihren Originalsprachen belassen werden, oder aber Mindmaps, in die bei der Ideensammlung Wörter und Ausdrücke in mehreren Sprachen eingeflossen sind.
7. Strukturen und Gebrauch von Sprache/n kennenlernen und vergleichen
Durch den Vergleich von Strukturen und Gebrauchsweisen in verschiedenen Sprachen werden die Kompetenzen in allen beteiligten Sprachen sowie das Sprachbewusstsein der Lernenden gestärkt. Dies gilt sowohl für die allgemein bildungssprachlichen als auch fachsprachlichen Kompetenzen.
8. Lern- und Arbeitsstrategien reflektieren
Nicht nur an das sprachliche Vorwissen der Lernenden, sondern auch an ihre bereits vorhandenen Sprachlernerfahrungen kann angeknüpft werden. So wird ihr Repertoire an Lern- und Arbeitsstrategien erweitert. Auch dies gilt wieder sowohl für die allgemein bildungssprachlichen als auch für fachsprachliche Kompetenzen.
9. Sprachenbiographien reflektieren
Wenn Aufgaben eine Reflexion der individuellen Sprachenbiographien einschließen, dann erhalten sie einen stärkeren Lebensweltbezug. Hierfür eignen sich z. B. persönliche Migrations- und Reiseerfahrungen der Lernenden. Darüber hinaus wird so ein mehrsprachiges Selbstverständnis der Lernenden gefördert.
Beispiele, wie diese mehrsprachigen Aktivitäten im Unterricht eingesetzt werden können, finden sich in Bredthauer/Kaleta/Triulzi (2021b).
4 Wirkweisen von Mehrsprachigkeitsdidaktik Bei allen Formen des Lernens ist es hilfreich, wenn Lernende an bereits vorhandenes Vorwissen oder Vorerfahrungen anknüpfen können (Ausubel 1968), zum Beispiel wenn wir Motorrad fahren lernen und vorher schon Fahrrad fahren können. So kann auch das Einbeziehen von mehrsprachigen Kompetenzen zu Synergieeffekten führen
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und dazu, dass Lernprozesse besonders effizient ablaufen. Obwohl bereits verschiedene mehrsprachigkeitsdidaktische Konzepte entwickelt wurden, liegen bislang nur wenige empirische Studien zu ihren Wirkweisen vor (Reich/Krumm 2013). Diese Untersuchungen berichten von Steigerungen in folgenden Bereichen (vgl. u. a. Bär 2009; 2010; Behr 2007; Bredthauer 2016; Marx 2005; 2010; Meißner 1997; 2010; Morkötter 2016; Zeevaert/Möller 2011): 1) Die Sprachbewusstheit der Lernenden wird gefördert. Darunter wird explizites Wissen über Sprache und bewusste Wahrnehmung und Sensibilität beim Sprachlernen, -lehren und -gebrauch verstanden. 2) Die interlinguale Transferfähigkeit der Lernenden, sprich: ihre Kompetenz zum Entdecken von Transferbasen zwischen verschiedenen Sprachen, wird erhöht. 3) Die Lernleistungen werden gesteigert, in diesem Fall die Sprachkompetenzen der Lernenden in den einzelnen Sprachen – und zwar sowohl in der Zielsprache als auch in den einbezogenen Sprachen. Denn das Anknüpfen an die Vorerfahrungen und das Vorwissen führt zu einer Lernerleichterung. 4) Neben der Sprachbewusstheit und den Sprachkompetenzen werden auch Sprachlernbewusstheit und Sprachlernkompetenz der Lernenden (z. B. Strategieeinsatz) gefördert, sprich: Fähigkeiten in Bezug auf die Lernprozesse. Dies unterstützt die Entwicklung von Lernerautonomie. 5) Verbunden mit den zuvor genannten Effekten wird die Sprachlernmotivation der Lernenden gesteigert. Denn natürlich ist es motivierend, wenn man merkt, dass Dinge, die man schon kann und weiß, im Unterricht aufgegriffen werden und einem das Lernen erleichtern. 6) Durch die erhöhte Lernmotivation steigen auch die Beteiligung und Freude der Lernenden am Unterricht. 7) Nicht nur für die Lernenden werden Synergie-Potenziale deutlich, sondern auch das Bewusstsein der Lehrkräfte für Synergieeffekte zwischen den Sprachen wird gefördert.
Diesen Ergebnissen zufolge können auf mindestens drei Ebenen Wirkweisen von Mehrsprachigkeitsdidaktik angenommen werden: a) Effekte auf die Lernenden, b) Effekte auf die Lehrenden und c) Effekte auf das Unterrichtsgeschehen (Bredthauer 2018a). Aufgrund der geringen Studienmenge sind diese Erkenntnisse bisher als Tendenzen zu verstehen, zu denen weitere Untersuchungen benötigt werden (Hopp/Jakisch 2020). Nachteile durch den Einsatz mehrsprachiger Unterrichtselemente sind aus der bisherigen Forschung hingegen nicht bekannt. So kann beispielsweise die Frage, ob der Einbezug von Mehrsprachigkeit Lernende überfordert, verneint werden. Denn Studienergebnisse zeigen, dass Lernende unterschiedlicher Altersklassen von sich aus Verbindungen zwischen ihren Kompetenzen in verschiedenen Sprachen herstellen und diese automatischen Transferprozesse zusätzlich verstärkt werden können, wenn
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diese durch die Lehrperson aufgegriffen werden (Morkötter 2014; 2016). Für die Verwendung anderer Sprachen zur Kommunikation während Arbeitsphasen wurden ebenfalls keine Nachteile nachgewiesen. Denn der überwiegende Teil dieser Kommunikationen bezieht sich auf die Bewältigung der gestellten Aufgaben (Duarte 2019). Aufgrund der mit Mehrsprachigkeitsdidaktik verbundenen Zielsetzungen im Unterricht und den bisher erforschten Wirkweisen werden inzwischen verstärkt Verbindungen zwischen mehrsprachigen Unterrichtskonzepten und dem aus dem Sachfachunterricht stammenden, sogenannten Scaffolding-Ansatz, hergestellt. So schrieben bereits García/Flores (2010, 243), „the core of multilingual pedagogies is the strategy of scaffolding“. Scaffolding wird als Unterstützungssystem verstanden und gilt als „support given by a teacher to a student when performing a task that the student might otherwise not be able to accomplish“ (van de Pol/Volman/Beishuizen 2010, 274). Der Ansatz fokussiert somit den Unterschied zwischen dem, was ein Lerner oder eine Lernerin alleine bewältigen kann, und dem, was er oder sie mit Unterstützung schaffen kann: This sociocultural approach to learning recognizes that with assistance, learners can reach beyond what they can do unaided, participate in new situations, and take on new roles. [...] This assisted performance is encapsulated in Vygotsky’s notion of the zone of proximal development, or ZPD, which describes the ‚gap‘ between what learners can do alone and what they can do with help from someone more skilled. This situated help is often known as ‚scaffolding‘. (Gibbons 2009, 15)
Bei der Verbindung der Ansätze von Mehrsprachigkeitsdidaktik und scaffolding wird eben diese Unterstützungsfunktion dem Einbezug der mehrsprachigen Kompetenzen der Lernenden beim Erlernen einer Sprache zugeschrieben, z. B. im Fremdsprachenunterricht. Bezeichnet werden kann dies als „multilingual scaffolding“ (Bredthauer 2019). Empirische Untersuchungen hierzu liegen bislang für zwei Elemente der Mehrsprachigkeitsdidaktik vor, zum einen für die Kommunikation mit Arbeitspartnern und -partnerinnen beim Bearbeiten von Aufgaben im Unterricht (Swain/Lapkin 2013) und zum anderen für von der Lehrkraft initiierte Vergleiche von Strukturen und Gebrauchsweisen in mehreren Sprachen (Bredthauer 2019). Sie deuten darauf hin, dass mehrsprachige Elemente tatsächlich als Scaffolding im Unterricht eingesetzt werden können, und ihre Befunde sollten in weiteren empirischen Studien überprüft und ergänzt werden.
5 Mehrsprachigkeitsdidaktik in sprachlich hyperdiversen Lerngruppen Mehrsprachigkeitsdidaktische Unterrichtskonzepte orientieren sich bislang überwiegend an bilingualen und homogen-mehrsprachigen Lerngruppen – d. h. Lernenden
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mit derselben Erstsprache, derselben Abfolge von Fremdsprachen und vergleichbaren Sprachniveaus. Diese Konzepte treffen in der heutigen Unterrichtsrealität allerdings oftmals auf eine hyperdiverse Mehrsprachigkeit (auch superdivers, vgl. Földes 2020) in den Schulklassen und Lerngruppen, da die Lernenden z. B. verschiedene Herkunftssprachen sprechen, unterschiedliche Zweit- und Fremdsprachen erlernt haben und in all diesen Sprachen über differierende Sprachniveaus verfügen. Deshalb wird vermehrt die Notwendigkeit neuer bzw. adaptierter Konzepte betont:
Increasingly, all over the world, classrooms have children with different linguistic profiles and practices. It is clear that foreign language, second language, and even traditional bilingual education programs are no longer sufficient when classrooms are highly heterogeneous linguistically. [...] We must experiment and innovate with dynamic plurilingual pedagogies that respond to the more complex bilingualism of students and to the more linguistically heterogeneous classrooms of the twenty-first century. (García/Flores 2010, 235 ff.)
Die Weiterentwicklung und weitere Erforschung von mehrsprachigen Unterrichtskonzepten sind deshalb dringend erforderlich. Eine zentrale Herausforderung besteht hierbei darin, dass die Lernenden Kompetenzen in Sprachen in den Unterricht mitbringen, die von den Lehrpersonen nicht beherrscht werden, und dies die Lehrkräfte davon abhält, mehrsprachigkeitsdidaktisch in ihrem Unterricht zu arbeiten (u. a. Kniffka/Siebert-Ott 2007). Diese Hürde kann jedoch überwunden werden, indem die Expertisen der Lernenden in den Unterricht einbezogen werden, z. B. durch freie Sprachwahl in Gruppenarbeitsphasen (Brandt/ Gogolin 2016) oder angeleitete Sprachvergleiche (Bredthauer 2020). Hierfür müssen die Lehrkräfte bereit sein, einen Teil ihrer Kontrolle abzugeben (Oomen-Welke 2002). Im Gegenzug können sich Lernende so aufgewertet und mit ihren Kompetenzen ernst genommen fühlen (Jeuk 2014). Dennoch ist eine Begleitung durch die Lehrkraft wichtig, damit bei den Lernenden keine Überforderung entsteht. Denn der Einbezug von Expertisen der Lernenden macht die Rolle der Lehrkraft nicht minder bedeutsam, sondern verschiebt sie lediglich hin zu einer begleitenden und moderierenden Funktion (Bredthauer 2020). Und neben dem Wissen ihrer Lernenden können Lehrkräfte auch auf speziell für diesen Zweck aufbereitete Informationen zu den unterschiedlichen Herkunfts-, Zweit- und Fremdsprachen zurückgreifen, die Hinweise auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit dem Deutschen und mit typischen Fremdsprachen enthalten (Krifka u. a. 2014; ProDaZ fortlaufend). Von besonderer Relevanz in Bezug auf sprachlich hyperdiverse Lerngruppen ist das Social-justice-Prinzip von García und Flores:
Providing equity for the students, their languages, their cultures and their communities by guaranteeing equal participation in a democratic classroom and school context. To do this, educators create democratic classrooms where everyone has an equal opportunity to participate. (2010, 242)
Denn häufig werden typologisch ähnlichere Sprachen, Sprachen mit einem höheren Prestige oder häufiger vorkommende Herkunfts-, Zweit- und Fremdsprachen eher in
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den Unterricht einbezogen als andere Sprachen (Göbel/Vieluf/Hesse 2010). Dies führt dazu, dass die Lernenden nicht alle im gleichen Maße die Möglichkeit bekommen, ihre Vorerfahrungen und Vorkenntnisse in den Unterricht einzubringen und mit dem neu zu Lernenden an diese anzuknüpfen. Daran schließt ein zweites Phänomen an, das hinsichtlich einer hyperdiversen mehrsprachigen Lernendenschaft im Unterricht große Bedeutung hat: Im alltäglichen Sprachgebrauch sind oft nur bestimmte Subgruppen gemeint, wenn von Mehrsprachigkeit gesprochen wird – z. B. nur Menschen, die von Geburt an mit mehreren Sprachen aufgewachsen sind, oder aber nur Personen, die mehrere Sprachen auf jeweils muttersprachlichem Niveau beherrschen. Das führt dazu, dass viele Lernende (und auch Lehrpersonen) sich selbst nicht als mehrsprachig wahrnehmen, obwohl sie es tatsächlich aber sind (Natarajan 2016). Es wird eine Unterscheidung zwischen mehrsprachigen und vermeintlich einsprachigen Lernenden vorgenommen, so dass die Mehrsprachigkeit aller Lernenden nicht als verbindendes Merkmal wahrgenommen werden kann. Dieses Phänomen wird als othering bezeichnet, gefährdet das Gemeinschaftsgefühl in einer Lerngruppe und birgt eventuelle Ausgrenzungsrisiken (Terhart/von Dewitz 2017). Lehrpersonen können diesem entgegenwirken, indem sie ihre Lernenden dabei unterstützen, sich ihrer eigenen Mehrsprachigkeit bewusst zu werden. Denn so kann in den Lerngruppen ein Wissen über die Vielseitigkeit von Mehrsprachigkeit entstehen und somit eine Grundlage für den Einbezug der mehrsprachigen Kompetenzen aller Lernenden gebildet werden.
6 Implementation von Mehrsprachigkeitsdidaktik in der Praxis Nicht nur zu den Wirkweisen von Mehrsprachigkeitsdidaktik, sondern auch zu ihrer bisherigen Implementation in der Bildungspraxis liegen empirische Studien vor. Diese kommen zu folgenden Ergebnissen: Die Haltungen der Lehrenden gegenüber Mehrsprachigkeitsdidaktik sind in der Regel positiv, aber die Mehrzahl von ihnen hat keine Vorstellung davon, wie eine Umsetzung im Unterricht aussehen kann, oder ist skeptisch hinsichtlich der Realisierbarkeit (u. a. Heyder/Schädlich 2014). Das führt dazu, dass eine Umsetzung von Mehrsprachigkeitsdidaktik im Sprachunterricht bisher nur selten stattfindet (zum Überblick Reich/Krumm 2013). Um hier eine Veränderung herbeizuführen, bedarf es entsprechender Professionalisierungsmaßnahmen für die Lehrkräfte. Denn Befragungsstudien von Lehrerinnen und Lehrern ergeben, dass sie sich meist kaum bis gar nicht darauf vorbereitet fühlen, mehrsprachigkeitsdidaktisch zu arbeiten (zum Überblick Bredthauer/Engfer 2016). Eine Sensibilisierung für sprachliche Heterogenität und Mehrsprachigkeit im Unterricht ist zwar inzwischen oftmals Bestandteil von Lehramtsstudiengängen (Witte
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2017), diese bezieht sich jedoch in aller Regel ausschließlich auf sprachsensiblen Fachunterricht, nicht auch auf mehrsprachigkeitsdidaktischen Sprachunterricht. Erste Ansätze zur Integration von Mehrsprachigkeitsdidaktik in die Lehramtsstudiengänge entstehen aktuell (u. a. Bredthauer 2018b). Eine wesentliche Rolle spielt auch, ob die Lehrenden beim Einbezug der mehrsprachigen Ressourcen ihrer Lernenden in den Unterricht von den zugelassenen Lehrwerken unterstützt werden. In Sprachlehrwerken werden mehrsprachigkeitsdidaktische Ansätze bisher jedoch selten und nur unsystematisch berücksichtigt (u. a. Marx 2014). Materialsammlungen, die als Vorbild für eine Integration in Lehrwerke dienen könnten, existieren jedoch bereits (u. a. Schader 2004; Schöberle 2015). Die bildungspolitischen Anforderungen an Sprachunterricht sind der Unterrichtspraxis in Bezug auf Mehrsprachigkeitsdidaktik schon etwas voraus. In verschiedenen Kernlehrplänen sowie Vorgaben im Bereich der Erwachsenenbildung finden sich Hinweise und für den österreichischen Raum haben Reich und Krumm (2013) sogar ein detailliertes Curriculum der Mehrsprachigkeit entwickelt, das alle Fächer und Schulstufen umfasst. Mit Blick auf die Diskrepanz zwischen bildungspolitischen Anforderungen und unterrichtspraktischer Umsetzung finden sich an verschiedenen Stellen Hinweise darauf, dass sprachenübergreifendes Arbeiten gleichermaßen als Element von Unterrichts- und Institutionsentwicklung betrachtet werden sollte (u. a. Behr 2007). Implementationsmaßnahmen zur Mehrsprachigkeitsdidaktik sollten demnach sowohl die Aus-/Fortbildung von Lehrkräften sowie die Entwicklung, Adaption und Auswahl von geeigneten Unterrichtsmaterialien als auch die Entwicklung von entsprechenden Konzepten auf Schul- und Institutionsebene umfassen.
7 Fazit und Ausblick Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Einsatz von Mehrsprachigkeitsdidaktik im Sprachenunterricht bildungspolitisch gefordert wird, entsprechende Unterrichtskonzepte und lehrwerksunabhängige Materialien verfügbar sind sowie erste positive empirische Befunde vorliegen. Desiderata bestehen a) in der Weiterentwicklung der bestehenden Konzepte für sprachlich hyperdiverse Lerngruppen, b) in der detaillierteren Erforschung von Didaktik und Wirkweisen sowie c) der Implementation in der breiten Unterrichtspraxis, der Lehrkräftebildung und in den Lehrbüchern. Zwischen diesen drei Desiderata besteht dabei ein komplexes Wechselverhältnis: Praxistaugliche Konzepte (also auch auf sprachliche Hyperdiversität der Lerngruppen ausgerichtet) sind Voraussetzung für die Annahme der Konzepte durch Lehrkräfte, diese Implementation ist wiederum Voraussetzung für die Möglichkeit der Erforschung und hieraus können sich wiederum Anhaltspunkte für die Weiterentwicklung der Konzepte ergeben. Das macht deutlich, dass das Zusammenspiel von Wissenschaft und Praxis bei der weiteren Entwicklung und Erforschung mehrsprachigkeitsdidaktischer Konzepte voraussichtlich eine Schlüsselrolle spielen wird (Sierens/van Avermaet
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2014). Denn nur so können wissenschaftliche Fundierung und Praxistauglichkeit in den Konzepten miteinander vereint werden.
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Stefanie Bredthauer
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Anja Binanzer
16. Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an Schulen des deutschen Sprachraums Abstract: Auf mindestens jeden vierten Schüler bzw. jede vierte Schülerin in deutschen, österreichischen und Schweizer Schulen trifft zu, dass er/sie Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache erworben/gelernt hat bzw. spricht. Die akademischen (Teil-)Disziplinen Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache und die durch sie bereitzustellenden Wissensbestände zum mehrsprachigen Spracherwerb und zu Fragen der Vermittlung und Förderung des Deutschen als Fremd- und Zweitsprache sind für die Schule und Lehrkräftebildung entsprechend von hoher Relevanz. Der Beitrag leuchtet vor diesem Hintergrund zum einen aus, wie es um die (sprachlichen) Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen mit Deutsch als Fremd- und Zweitsprache in den Schulsystemen der drei Länder Deutschland, Österreich und Schweiz bestellt ist. Zum anderen wird in den Blick genommen, inwieweit die beiden Disziplinen Eingang in die Lehrkräftebildung gefunden haben und angehende Lehrkräfte auf den Umgang mit Mehrsprachigkeit in der Schulpraxis vorbereitet werden. 1 2 3 4 5 6
Einleitung und Eingrenzung DaF- und DaZ-Schüler und -Schülerinnen an Schulen des deutschen Sprachraums Schulische Rahmenbedingungen, DaF-/DaZ-Unterricht und Mehrsprachigkeit DaF und DaZ in der Lehrkräftebildung Fazit Literatur
1 Einleitung und Eingrenzung Dieser Überblick zu Deutsch als Fremdsprache (DaF) und Deutsch als Zweitsprache (DaZ) an Schulen des deutschen Sprachraums beschränkt sich sowohl in seiner räumlichen als auch thematischen Dimension. Räumlich wird die Betrachtung von DaF und DaZ im Kontext Schule auf das zusammenhängende deutschsprachige Gebiet der drei Staaten Bundesrepublik Deutschland, Österreich und Schweiz eingegrenzt, in denen Deutsch (u. a.) Amtssprache ist und vom Großteil der Bevölkerung als Erstsprache gesprochen wird (De Cillia 2013, 24). Nicht behandelt wird die Situation der daran angrenzenden Länder, in denen neben anderen vergleichsweise majoritär verbreiteten Amtssprachen Deutsch als z. T. rechtlich anerkannte Minderheitensprache gesprochen wird (vgl. dazu Földes, Beitrag 12 in diesem Band) und infolgedessen sowie aufgrund der geographischen Nachbarschaft zu Deutschland, Österreich und der Schweiz auch als Zweit- oder Fremdsprache Verbreitung findet (ausführliche Darstellungen zur Stellung und Verbreitung des Deutschen als Erst-, Zweit- und Fremdspra
https://doi.org/10.1515/9783110623444-016
354
Anja Binanzer
che in diesen und anderen Ländern finden sich z. B. in Herrgen/Schmidt (2019), Auswärtiges Amt (2020) und Hägi-Mead (Beitrag 10 in diesem Band). Thematisch konzentriert sich der Beitrag auf folgende Aspekte: Zunächst wird erörtert, von wie vielen DaF-/DaZ-Schülerinnen und -Schülern in Deutschland, Österreich und der Schweiz auszugehen ist (Abschnitt 2). Daran anschließend fokussiert der Beitrag die schulischen Rahmenbedingungen, einschließlich einer Darstellung der Organisationsformen des DaF-/DaZ- und des Herkunftssprachenunterrichts (Abschnitt 3), um schließlich auf die Bedeutung von DaF und DaZ in der Lehrkräftebildung einzugehen (Abschnitt 4). Neben diesen hier näher zu betrachtenden Themen könnten u. a. auch folgende Forschungsfelder zu DaF/DaZ im schulischen Kontext Gegenstand dieses Beitrags sein, auf die an dieser Stelle nur (mit für sie exemplarisch stehenden Publikationen jüngerer Zeit) verwiesen sei: Erwerbsstudien (Gamper 2016; Wecker 2016; Binanzer 2017), Interventionsstudien (Stanat u. a. 2012; Kauschke/Rath 2017), Diagnostik (Jeuk/Settinieri 2019), Schrifterwerb und Literalitätsentwicklung (Grießhaber u. a. 2018), Lehrmaterialien (Döll/Michalak 2021). Gemäß diesen Schwerpunktsetzungen werden die Bezeichnungen DaF und DaZ hier in zwei Bedeutungsdimensionen verwendet: Mit dem Blick auf individuelle Mehrsprachigkeit zur Differenzierung von zwei unterschiedlichen Spracherwerbstypen, mit dem Blick auf die Lehrkräftebildung zur Bezeichnung akademischer Disziplinen, die auch als Fächer studiert werden können und für die Lehrkräftebildung von Bedeutung sind. Hinsichtlich der Spracherwerbstypen zur Bezeichnung von Formen individueller Mehrsprachigkeit (vgl. dazu Roelcke, Beitrag 1 in diesem Band) hat sich im wissenschaftlichen Diskurs des deutschsprachigen Raums mit dem Terminus DaF tendenziell eine Verknüpfung mit dem institutionell gesteuerten Deutschlernen jugendlicher und erwachsener Personen in einem nicht-deutschsprachigen Umfeld, mit dem Terminus DaZ tendenziell eine Verknüpfung mit dem kindlichen oder jugendlichen ungesteuerten Deutscherwerb, bedingt durch familiäre Migrationserfahrungen, in einem deutschsprachigen Umfeld etabliert (Ahrenholz 2013; 2017b, 102). Angelehnt an Ahrenholz (2017a, 13) werden die beiden Spracherwerbstypen bezogen auf die unterschiedlichen Erwerbs-/Lernkontexte in Tabelle 1 gegenübergestellt. Diese Darstellung mit der Zuordnung unterschiedlicher, für die beiden Spracherwerbstypen kennzeichnenden Merkmale versteht sich als idealtypische Charakterisierung. Im individuellen Fall können Überschneidungen der Erwerbs- bzw. Lernkontexte eintreten, die sich zudem lernbiographisch verändern können. Eine eindeutige Zuordnung zu einem der beiden Spracherwerbstypen ist deshalb nicht immer möglich.
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Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an Schulen des deutschen Sprachraums
Tab. 1: Erwerbs-/Lernkontext DaF und DaZ (nach Ahrenholz 2017a, 13) Deutsch als Fremdsprache
Deutsch als Zweitsprache
Aneignungsbedingungen
gesteuertes Lernen: Aneignung der Sprache überwiegend im Unterricht in einer Bildungseinrichtung
ungesteuerter Erwerb: Aneignung der Sprache überwiegend in alltäglicher Kommunikation, manchmal begleitet durch Sprachunterricht
Beginn der Sprachaneignung
Kinder: Elementar-/Primarbereich mit frühem Fremdsprachunterricht Jugendliche: Fremdsprachunterricht in der Schule Erwachsene: Fremdsprachunterricht in Bildungseinrichtungen wie Universitäten, Goethe-Institut, Volkshochschulen etc.
Kinder: mit oder ohne eigene Migrationserfahrung i. d. R. ab Eintritt in soziale Kontexte wie KiTa/Vorschule ab dem 3. Lebensjahr Jugendliche: mit eigener Migrationserfahrung ab Schuleintritt Erwachsene: mit eigener Migrationserfahrung mit Beginn des Aufenthalts im Zielsprachenland
Kinder/Jugendliche/Erwachsene: Aneignung im institutionellen Kontext: Interaktion im Unterricht mit DaF-Lehrkräften und anderen DaF-Lernenden vergleichbaren Lernstands; evtl. durch alternative Settings wie Sprachtandems, Selbststudium durch digitale Lernangebote im Internet
Kinder/Jugendliche: Aneignung im engen sozialen Umfeld; Interaktion nur z. T. mit Eltern, häufiger mit Geschwistern und Freunden; Kontakte in Bildungseinrichtungen (KiTa, Schule) Erwachsene: Interaktionen häufig nur am Arbeitsplatz, Alltagssituationen wie Einkaufen, Ämter
Interaktionsbedingungen
kommunikative Anforderungen Sprachaneignungsprozess durch unterrichtliche Anforderungen geprägt, kommunikative Aufgaben sind am Lernstand der Lernenden ausgerichtet; Normorientierung
Sprachaneignungsprozess durch (ggf. noch überfordernde) kommunikative Anforderungen der Alltagsumgebung geprägt, nicht am Lernstand ausgerichtet
Bezogen auf die in diesem Beitrag vorzunehmende Fokussierung auf DaF und DaZ an Schulen des deutschen Sprachraums bleibt mit dem Blick auf den institutionellen und räumlichen Kontext sogleich in dieser Einleitung festzuhalten, dass Schülerinnen und Schüler nicht-deutscher Erstsprache das Deutsche im deutschen Sprachraum i. d. R. sowohl ungesteuert in der Alltagskommunikation erwerben als auch – spätestens mit dem Eintritt in eine Bildungsinstitution – gesteuert in der Sprachförderung oder im (Deutsch-)Unterricht lernen, wodurch sich „außerunterrichtliche Erwerbsprozesse mit unterrichtlicher Förderung verbinden“ (Ahrenholz 2017b, 103). Gleichwohl bleibt die
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Anja Binanzer
gesteuerte Aneignung des Deutschen im Rahmen von DaZ-Förderung von jener im Anfangsunterricht für im Schulalter neu zugewanderte Kinder und Jugendliche zu unterscheiden, die mehr Überschneidungen mit den Merkmalen traditionellen DaFLernens wie oben charakterisiert aufweist (homogene Lerngruppe ohne sprachliche Vorkenntnisse, Unterrichtprogression am Sprachstand der Lernenden/einem Curriculum ausgerichtet). Bei der Betrachtung von DaF und DaZ als lehrkräftebildungsrelevante akademische Teildisziplinen und Studienfächer zeichnet sich in den letzten zwanzig Jahren eine Synthese ab. Während sich die institutionelle Konsolidierung von DaF ausgehend von den 1970er Jahren in Deutschland bis zur Jahrtausendwende als weitgehend vollzogen beschreiben lässt, setzte dieser Prozess für die Teildisziplin DaZ verstärkt zur Jahrtausendwende ein und erfährt seitdem eine kontinuierliche Festigung (vgl. zur Entwicklung der Teildisziplinen Krumm/Skibitzki/Sorger 2010; Krumm 2017 und Meier, Beitrag 8 in diesem Band für DaF; Reich 2010 für DaZ). Ausschlaggebend für diese Entwicklung mag die zeitlich versetzt erfolgte und zunächst mit dem ,Pisa-Schock‘ einhergehende bildungspolitische und gesellschaftliche Anerkennung der Teildisziplin DaZ sein, insbesondere hinsichtlich ihrer Relevanz für den schulischen Kontext und die Lehrkräftebildung (Apeltauer/Baur/Roche 2010). Die durch Flucht bedingten Zuwanderungshöchststände im Jahr 2015 haben zuletzt zur weiteren Konsolidierung des Faches DaZ beigetragen. Es mehren sich sowohl (Aufbau-, Zusatz-, Ergänzungs-)Studiengänge, die beide Kürzel im Titel tragen (z. B. Universität Bielefeld, Universität Innsbruck), universitäre Arbeitsgebiete und Professuren mit dieser Doppeldenomination (z. B. Universität Duisburg-Essen, Universität Wien), Einführungen, Handbücher (z. B. Krumm u. a. 2010; Altmayer u. a. 2021) und Buchreihen (Grundwissen DaF/DaZ bei UTB), die beide Disziplinen zusammen behandeln. Nicht zuletzt hat z. B. auch der deutsche Fachverband Deutsch als Fremdsprache, gegründet 1971, im Jahr 2013 seinen Verbandsnamen ergänzt zu Fachverband Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, womit er
eine schon länger anhaltende Entwicklung, bei der sich der Fokus […] von der Perspektive des „Deutsch in der Welt“ zunehmend auf die „Welt in Deutschland“ und die gesellschaftlich-sprachliche Integration bis hin zur heutigen DaF-/DaZ-Dualität verschoben hatte. (FaDaF 2016)
2 DaF- und DaZ-Schüler und -Schülerinnen an Schulen des deutschen Sprachraums Genaue Aussagen darüber zu treffen, wie viele kindliche und jugendliche DaF-/DaZSprecherinnen und -Sprecher im Schulalter im deutschen Sprachraum zu zählen sind, ist auf der Basis der jüngsten Bildungsberichte der Länder Deutschland (2020), Österreich (2021) und Schweiz (2018) nur annähernd möglich. Mit Herzog-Punzenberger (2019, 58) kann zwar festgestellt werden, dass Statistiken „zunehmend […] Informationen zum familiären oder lebensweltlichen Sprachgebrauch [enthalten] […], viele Da-
Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an Schulen des deutschen Sprachraums
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tenquellen jedoch nur Angaben über die Staatsbürgerschaft oder das Geburtsland“ bereitstellen. So wurden in den jüngsten Bildungsberichten Deutschlands und der Schweiz nicht die von den Kindern und Jugendlichen bzw. die in ihren Familien überwiegend gesprochenen Sprachen erfasst, sondern die in den amtlichen Statistiken gängigen sozialen Merkmalsvariablen übernommen, in denen zur Beschreibung der Bevölkerungsgruppen zwischen Personen mit und ohne Migrationshintergrund bzw. zwischen in- und ausländischen Personen unterschieden wird. Von diesen sozialen Merkmalen kann sodann nur behelfsmäßig geschlussfolgert werden, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund bzw. ausländische Kinder und Jugendliche das Deutsche nicht als Erst-, sondern als Zweit- oder Fremdsprache erworben/gelernt haben (vgl. auch Adler 2019 zur kritischen Diskussion von Sprachfragen am Beispiel des deutschen Mikrozensus). Wird zwischen diesen sozialen Merkmalen und dem Sprechen von DaF/DaZ eine Korrelation hergestellt, lässt sich den Bildungsberichten aus den Jahren 2018, 2020 und 2021 zufolge zusammenfassend konstatieren, dass sich die Anzahl dieser Schülerinnen und Schüler seit der Jahrtausendwende in allen drei Ländern erhöht hat. Demnach trifft mindestens auf jede vierte Schülerin bzw. jeden vierten Schüler zu, dass sie/er DaF/DaZ spricht. In Deutschland beträgt der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund im Alter von sechs bis zehn Jahren 40 %, im Alter von zehn bis 15 Jahren 38 %, im Alter von 15 bis 20 Jahren 34 % (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020, 27). Auch in der Schweiz hat sich seit 2002 der Anteil der „ausländischen Wohnbevölkerung“ mit einer ausländischen Nationalität auf 25 % verdoppelt (SKFB 2018, 16). Für Österreich bleibt festzuhalten, dass seit dem Schuljahr 2003/04 unabhängig von der Staatsbürgerschaft der Schülerinnen und Schüler erfasst wird, ob ihre „Primärsprache eine andere als Deutsch ist“ (BMB 2017, 3). Für das Jahr 2018 wird im österreichischen Bildungsbericht angegeben, dass ca. 31 % der Grundschülerinnen und -schüler Deutsch und/oder eine andere Sprache sprechen (Oberwimmer u. a. 2021, 183). Dem Desiderat einer differenzierten Erfassung des lebensweltlichen Sprachgebrauchs von Schülerinnen und Schülern kommen mittlerweile die internationalen Schulleistungsstudien IGLU (Primarbereich) und PISA (Sekundarstufe I) nach, in denen die Kinder und Jugendlichen die Frage beantworten, wie häufig sie zu Hause die Testsprache sprechen. In Tabelle 2 werden die Ergebnisse zu dieser Frage der letzten IGLU-Studie (2016) für Deutschland und Österreich und der letzten PISA-Studie (2018) für Deutschland, Österreich und die Schweiz angeführt. Für IGLU wurde zusammengefasst, wie häufig die Kinder angaben, zu Hause die Testsprache „manchmal“ bzw. „nie“ zu sprechen (weitere Antwortmöglichkeiten: „immer“, „fast immer“), wovon abgeleitet werden kann, dass die Erstsprache der Kinder eine andere als die Testsprache ist – analog zu den berichteten PISA-Daten, für die angegeben wird, wie häufig sich die zu Hause gesprochene Sprache von der Testsprache unterscheidet.
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Anja Binanzer
Tab. 2: IGLU 2016 und PISA 2018: Anteil an Schülerinnen und Schülern, die zum Testzeitpunkt zu Hause überwiegend eine andere als die Testsprache sprechen (IGLU: Salchegger u. a. 2017, 54; PISA: PISA Data Explorer 2020)
Testsprache ≠ Primärsprache
IGLU 2016
PISA 2018
Deutschland
16,6 %
19,5 %
Österreich
18,7 %
18,1 %
Schweiz
nicht teilgenommen
26,2 %
Der familiäre Sprachgebrauch unterscheidet sich zudem in Abhängigkeit davon, ob die Schülerinnen und Schüler eigene Migrationserfahrung aufweisen oder nur ihre Eltern. So zeigen sich für die in der PISA-Studie 2018 befragten Jugendlichen in Abhängigkeit von ihrer Zugehörigkeit zur ersten bzw. zweiten Generation die in Tabelle 3 dargestellten Unterschiede. Tab. 3: Anteil an Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund, die zu Hause überwiegend die Testsprache sprechen (Höller u. a. 2019, 76)
Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund: Testsprache = Primärsprache
gesamt
zweite Generation
erste Generation
Deutschland
37,5 %
47,1 %
14,0 %
Österreich
26,2 %
27,6 %
23,7 %
Schweiz
35,9 %
39,5 %
29,3 %
Diejenigen Schülerinnen und Schüler, die wie ihre Eltern selbst im Ausland geboren wurden (erste Generation), sprechen zu Hause deutlich weniger häufig die Testsprache als diejenigen Schülerinnen und Schüler, die im Gegensatz zu ihren beiden Elternteilen selbst in Deutschland/Österreich/der Schweiz geboren wurden (zweite Generation). Am deutlichsten zeigt sich dieser Unterschied in Deutschland: Nahezu die Hälfte der Jugendlichen mit Migrationshintergrund der zweiten Generation gibt an, zu Hause überwiegend Deutsch zu sprechen, während dies nur auf 14 % der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund der ersten Generation zutrifft. Dennoch sind auch diese Zahlen als Annäherungswerte zu betrachten. Zum einen erfassen die beiden Studien jeweils nur einen Teil aller Schülerinnen und Schüler, nämlich den vierten Jahrgang der Primarstufe (IGLU) bzw. 15-jährige Schülerinnen und Schüler (PISA). Zum anderen gibt es für die drei Nationen unterschiedliche Verpflichtungsgrade, was die Teilnahme an den beiden Schulleistungsstudien betrifft. Während 2016 in Österreich z. B. alle Bundesländer an der IGLU-Studie teil
Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an Schulen des deutschen Sprachraums
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nahmen, waren es in Deutschland nur die Hälfte der Bundesländer (Hußmann u. a. 2017, 44). Für die hier behandelte Frage nach der Anzahl an DaF-/DaZ-Sprecherinnen und -Sprecher an Schulen des deutschen Sprachraums ist außerdem von Relevanz, dass Kinder und Jugendliche mit unzureichenden Deutschkenntnissen von beiden Studien von vornherein ausgeschlossen wurden, um eine Ergebnisverzerrung aufgrund mangelnden Sprachverständnisses für die gestellten Aufgaben zu vermeiden. Aus den IGLU-Stichproben Deutschlands und Österreichs wurden demnach 2 % der Schülerinnen und Schüler nicht berücksichtigt (vgl. für Deutschland Hußmann u. a. 2017, 49, für Österreich Salchegger u. a. 2017, 54). Die im Rahmen der Fluchtbewegung 2015 neu zugewanderten Kinder und Jugendlichen schlagen sich nicht nur deshalb noch nicht in den Statistiken der beiden Schulleistungsstudien nieder. Als weiterer Grund kommt hinzu, dass viele von ihnen zum Zeitpunkt der Durchführung der beiden Studien z. B. in Deutschland noch nicht als Geflüchtete anerkannt und entsprechend auch noch nicht in das Schulsystem integriert waren (Massumi u. a. 2015, 6). Die Gesamtzahl von im Jahr 2015 zugezogenen ausländischen Kindern und Jugendlichen zwischen sechs und 18 Jahren mit einer Aufenthaltsdauer von unter einem Jahr geben von Dewitz/Massumi/Grießbach (2016, 12) für Deutschland mit 200 259 an, was in Relation zur Gesamtzahl der Sechs- bis 18-Jährigen 2,03 % entsprach. Schließlich kann anhand der Frage, wie häufig die Kinder und Jugendlichen zum Testzeitpunkt zu Hause die Testsprache sprechen, nicht eindeutig geklärt werden, welchen Spracherwerbstypen – Deutsch als Erst-, Zweit- oder Fremdsprache – die Schülerinnen und Schüler zuzuordnen sind (vgl. auch Salchegger u. a. 2017, 53) oder auf welchem Kompetenzniveau sie die Testsprache beherrschen, was v. a. für ihre Anschlussfähigkeit an die in der Schule zur Wissensvermittlung verwendeten sprachlichen Register ausschlaggebend ist. So könnten im Vergleich dazu die Fragen, welche Sprachen bis zu ihrem dritten Lebensjahr erworben wurden oder seit wann die Testsprache gelernt/gesprochen wird, aussagekräftiger sein. Vor dem Hintergrund, dass internationale Schulleistungsstudien seit der Jahrtausendwende wiederholt zeigen, dass Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund von der Primarstufe bis zur Sekundarstufe II über verschiedene Fächer hinweg (Deutsch, Fremdsprachen, Mathematik, Naturwissenschaften) insgesamt niedrigere Kompetenzstände aufweisen als Schülerinnen und Schüler ohne Zuwanderungshintergrund (Cattaneo/Wolter 2015), sind für diese Schülerinnen und Schüler also zuwanderungsbezogene Disparitäten nachzuweisen (vgl. auch Böhme/Heppt/Stanat 2017; Khan 2018; Olczyk 2018; Pilz 2018; Baros/Theurer 2019). Als allgemein anerkannte Erklärungsansätze werden hierfür unterschiedliche soziale, aber eben auch unterschiedliche sprachliche Voraussetzungen im Vergleich zu Schülerinnen und Schülern mit deutscher Erstsprache diskutiert. Schule sollte hier ausgleichend wirken und Bildungsangebote, insbesondere für die sprachliche Entwicklung, bereitstellen. Welche schulischen Rahmenbedingungen für Kinder und Jugendliche mit DaF/DaZ in Deutschland,
360
Anja Binanzer
Österreich und der Schweiz gelten und wie ihre DaF-/DaZ-Aneignung sowie ihre migrationsbedingte Mehrsprachigkeit schulisch gefördert wird, beleuchtet deshalb Abschnitt 3.
3 Schulische Rahmenbedingungen, DaF-/DaZ-Unterricht und Mehrsprachigkeit 3.1 Schulische Rahmenbedingungen Die föderalen Bildungssysteme Deutschlands und der Schweiz und die damit einhergehenden unterschiedlichen Regelungen und Strukturen in den einzelnen Bundesländern bzw. Kantonen erschweren einen Vergleich auf Nationenebene. Wesentliche allgemeine Strukturmerkmale der Bildungssysteme werden in Tabelle 4 nach HerzogPunzenberger (2019, 60) wiedergegeben und hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf sprachliche Entwicklungsmöglichkeiten besprochen. Tab. 4: Bildungssysteme in Deutschland, Österreich und der Schweiz im Vergleich (nach HerzogPunzenberger 2019, 60) Deutschland
Österreich
Schweiz
Welche Pflicht?
Schulpflicht: Vollzeit- und Teilzeitschulpflicht
Unterrichtspflicht: in der Schule oder zu Hause
Bildungspflicht: Kindergarten, Schule, Ausbildung
Wie lange?
bundeslandspezifisch neun oder zehn Jahre
neun Jahre
elf Jahre
Ab wann?
sechs Jahre
sechs Jahre
vier Jahre
Vorschulisch
seit 2013: keine Verpflichtung, aber Recht auf einen Betreuungsplatz ab dem ersten Lebensjahr
seit 2010: verpflichtender Kindergartenbesuch ab dem letzten Jahr vor Schulpflicht
seit 2010: in den meisten Kantonen zweijährig verpflichtender Kindergartenbesuch
Primarstufe
vier bis sechs Jahre (bundeslandspezifisch)
vier Jahre
acht Jahre (inkl. zwei Jahre Kindergarten)
Sekundarstufe
– fünf Jahre Haupt– vier Jahre Mittelschule schule/frühe Haupt– sechs Jahre Realschule und ein Jahr schule Polytechnikum – acht bis neun Jahre – acht Jahre Gymnasium Gymnasium – Förder-/Sonderschule – Sonderschule
– drei bis vier Jahre Sek. I sowie Sek. II (kantonale Unterschiede) – Übertritt in das Gymnasium in der Sek. I oder Langform
361
Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an Schulen des deutschen Sprachraums
In allen drei Ländern ist die Schul-, Unterrichts- bzw. Bildungspflicht verankert, die zwischen neun und elf Jahren dauert. Ein Unterschied zwischen den Ländern besteht hinsichtlich des Alters, in dem sie einsetzt: Während in Deutschland die Schulpflicht erst mit sechs Jahren beginnt, haben die Schweiz und Österreich 2010 einen verpflichtenden Kindergartenbesuch eingeführt, wobei dieser in der Schweiz ab einem Alter von vier Jahren, in Österreich ein Jahr vor dem Schuleintritt einsetzt. Mit Blick auf die zentrale Rolle des Alters beim Erwerbsbeginn einer weiteren Sprache bzw. auf die empirischen Befunde, dass der frühe kindliche Zweitspracherwerb bis zum Alter von vier Jahren zu vergleichbaren Sprachkompetenzen führen kann wie der Erstspracherwerb (Thoma/Tracy 2006; Grimm/Schulz 2016; vgl. auch De Houwer, Beitrag 14 in diesem Band), kann die früh einsetzende Bildungspflicht für Kinder mit familiär bedingt geringer Kontaktzeit zum Deutschen vorteilhaft für ihre sprachliche Entwicklung sein (Grob/Keller/Trösch 2014), insbesondere, wenn sprachliche Frühförderung im Bildungsangebot integriert ist (Isler/Aeby Daghé/Krompàk 2015; Geyer/ Schwarze/Müller 2017; Edelmann 2018). Den Bedarf einer solchen frühzeitigen sprachlichen Förderung illustrieren Zahlen aus Österreich zur Sprachstandsbeobachtung bei drei- bis sechsjährigen Kindern im Jahr 2016/17 (Statistik Austria 2019, 46): Insgesamt wiesen 35 % der getesteten Kinder Förderbedarf auf, wobei ein deutlicher Unterschied zwischen den Kindern, für die Deutsch als Erstsprache angegeben wurde (17 %), und den Kindern, für die andere Erstsprachen angegeben wurden (70 %), festzustellen war. Als ein weiteres Bildungsungleichheit begünstigendes Strukturmerkmal, das den drei Bildungssystemen gemeinsam ist, ist die frühe leistungsbezogene Verteilung auf die weiterführenden Schultypen nach dem Primarstufenabschluss hervorzuheben. Mit Herzog-Punzenberger (2019, 72; vgl. auch Burger 2016; Crul u. a. 2012) ist festzustellen, dass
[i]m Unterschied zu allen andern OECD-Ländern […] in Österreich, in den meisten Bundesländern Deutschlands und Kantonen der Schweiz bereits nach der vierten Schulstufe, also ca. mit zehn Jahren, in unterschiedliche Schulformen mit unterschiedlichen Leistungsanforderungen getrennt [wird]. In den vielfach vorgelegten Analysen unterschiedlicher Datensätze zeigte sich nicht nur, dass die frühe Selektion keinen Vorteil für das Gesamtsystem erbringt, sondern auch die Erfolgschancen der Nachkommen von Eingewanderten negativ beeinflusst.
Der Befund, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund niedrigere Bildungsabschlüsse erzielen als Kinder und Jugendliche ohne Migrationshintergrund, wird auch in jüngeren Erhebungen der drei Länder repliziert (für Deutschland Beicht/Walden 2019, 25, für Österreich Statistik Austria 2019, 48 und die Schweiz BFS 2017, 46). So liegt es nahe, dass die i. d. R. vierjährige Grundschulzeit, in der mehrsprachige Kinder ggf. auch zusätzliche Deutschförderung erhalten, nicht ausreicht, um die ungleichen Sprachausgangslagen ein- und mehrsprachiger Kinder zu egalisieren. Alarmierend ist auch das Ergebnis der Studie von de Paiva Lareiro (2019, 8) zur Bildungsbeteiligung von im Jahr 2016 neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen in Deutschland,
362
Anja Binanzer
dass Schülerinnen und Schüler mit Fluchthintergrund auf Schulen, die zu mittleren und insbesondere höheren Schulabschlüssen führen, deutlich unterrepräsentiert [waren], wohingegen sie häufiger eine Haupt- oder keine Schule besuchten als die Vergleichsgruppe.
Die Autorin stellt heraus, dass gerade diese Gruppe von DaF-/DaZ-Schülern und -Schülerinnen aufgrund ihrer kurzen Aufenthaltsdauer im Aufnahmeland und der damit einhergehenden geringen Sprachkompetenzen besonders ungünstige Voraussetzungen für die Bildungspartizipation aufweist (vgl. auch El-Mafaalani/Massumi 2019).
3.2 Gesetzlich Vorgaben und Organisationsformen des DaF-/DaZUnterrichts Die Ausführungen des vorangehenden Abschnitts machen deutlich, dass sowohl für in deutschsprachigen Ländern aufgewachsene als auch für neu zugewanderte DaF-/ DaZ-Schülerinnen und -Schüler Sprachförderangebote von essentieller Bedeutung für ihren Bildungsverlauf sind. Welche Sprachfördermaßnahmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz gesetzlich verankert sind, wird in diesem Abschnitt im Einzelnen dargestellt.
Deutschland Wenngleich für Deutschland festzustellen ist, dass sich „[e]ine bildungspolitische Gesamtstrategie zur Sprachförderung aller Kinder […] – trotz der gemeinsamen BundLänder-Initiative ‚Bildung durch Sprache und Schrift‘ – gegenwärtig nicht ab[zeichnet]“ (Autorengruppe Bildungsbericht Deutschland 2020, 8), kann festgehalten werden, dass in allen 16 Bundesländern in Abhängigkeit vom Kompetenzniveau der DaF-/DaZ-Schülerinnen und -Schüler durch spezifische Verordnungen, Erlasse u. Ä. unterschiedliche Sprachfördermaßnahmen geregelt werden. So gibt es Sprachfördermaßnahmen sowohl für in Deutschland aufgewachsene Kinder und Jugendliche, die DaZ bereits vor dem Eintritt in die Schule ungesteuert erworben haben, als auch für Kinder und Jugendliche, die erst zu Beginn oder im Laufe ihrer Schullaufbahn als sog. „Seiteneinsteiger und -einsteigerinnen“ ohne Kenntnisse der deutschen Sprache in deutsche Schulen kommen. Für diese Gruppe werden schulbezogene Rahmenbedingungen für die Einrichtung von eigenen Klassen oder Fördergruppen (z. B. Mindest-/ Höchstanzahl von Schülerinnen und Schülern in einer Klasse, maximal erlaubte Altersspanne, maximale Verweildauer), die Alphabetisierung in der deutschen Sprache, die Anteile und Stundenanzahl von Fachunterricht und Sprachförderung spezifisch geregelt (Massumi u. a. 2015, 41). Seit 2015 haben verschiedene Bundesländer aufgrund der in diesem Jahr massiv gestiegenen Anzahl der neu zugewanderten Kinder und Jugendlichen diese Regelungen aktualisiert und Handreichungen und Leitfäden
Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an Schulen des deutschen Sprachraums
363
erarbeitet, die die Rechtsgrundlage für den Schulbesuch und die Sprachfördermaßnahmen klarstellen (von Dewitz/Massumi/Grießbach 2016, 25). Im Rahmen ihrer systematischen Bestandsaufnahme zur Situation dieser neu zugewanderten Kinder und Jugendlichen in den verschiedenen deutschen Bundesländern haben Massumi u. a. (2015, 44 f.) ein Kontinuum von im deutschen Schulsystem vorhandenen Unterrichtsmodellen erstellt, an dessen äußeren Polen sie die beiden grundsätzlich unterschiedlichen Organisationsformen „submersives Modell“ und „paralleles Modell“, die Formen „integratives Modell“ und „teilintegratives Modell“ dazwischen situieren (vgl. Tabelle 5). Zu differenzieren sind die Modelle zum einen danach, ob sie sich an in Deutschland geborene und/oder neu zugewanderte DaF-/DaZ-Schülerinnen und -Schüler richten. Zum anderen unterscheiden sich die Modelle nach den abgestuften Anteilen von (additiver) sprachlicher Förderung und Regelunterricht. In submersiven Modellen (nach Cummins 1980) besuchen die DaF-/ DaZ-Schülerinnen und -Schüler den Regelunterricht zwar gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern, die die Unterrichtssprache Deutsch als Erstsprache erworben haben, was unter der Perspektive der sozialen Teilhabe im Vergleich zum parallelen Modell als positives Merkmal zu werten ist. Da in solchen Modellen jedoch keine spezifische sprachliche Förderung der DaF-/DaZ-Schülerinnen und -Schüler erfolgt, ,tauchen‘ sie sprachlich ,unter‘ (vgl. auch Knapp/Oomen-Welke 2017).
Tab. 5: Unterrichtsmodelle sprachlicher Förderung in Deutschland (nach Massumi u. a. 2015)
Modell
Zielgruppen
Submersives Modell
Unterricht in der Regelklasse ohne spezifische Deutschförderung
für in Deutschland geborene und neu zugewanderte Schüler und Schülerinnen
Integratives Modell
a) Unterricht in einer Regelklasse zzgl. spezifische Sprachförderung für alle Schüler und Schülerinnen mit Sprachförderbedarf b) spezifische Sprachförderung für Schüler und Schülerinnen, deren Erstsprache nicht Deutsch ist
für in Deutschland geborene und neu zugewanderte Schüler und Schülerinnen
Teilintegratives Modell
spezifische Sprachförderung in eigenen Klassen und sukzessive, anteilige Teilnahme am Unterricht in der Regelklasse
für neu zugewanderte Schüler und Schülerinnen
Paralleles Modell
Unterricht in allen Fächern in einer speziell eingerichteten Klasse a) 6–18 Monate b) bis zum Schulabschluss
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Immerhin zeigt der PISA-Bericht 2018 im Vergleich zu PISA 2009, dass sowohl additive sprachliche Fördermaßnahmen als auch den Regelunterricht vorbereitende Sprachfördermaßnahmen für Schülerinnen und Schüler mit anderen Herkunftssprachen als Deutsch in Deutschland signifikant gestiegen sind. So lässt sich mit Hofer u. a. (2019, 125) konstatieren, dass
[z]usätzlicher Förderunterricht […] nun nicht mehr nur an etwa einem Drittel, sondern an zwei Drittel der Schulen angeboten [wird]. Auch das Angebot an Deutsch-Vorbereitungskursen scheint sich knapp vervierfacht zu haben.
Jüngste Studien zu den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf den Fremd- bzw. Zweitsprachunterricht in Deutschland zeigen jedoch, dass diese spezifischen Sprachfördermaßnahmen für DaF-/DaZ-Schülerinnen und -Schüler besonders stark vom Unterrichtsausfall betroffen waren (vgl. Gamper/Hövelbrinks/Schlauch 2021; Binanzer/ Cristante/Wecker 2022).
Österreich In Österreich ist die sprachliche Förderung und der Zugang zu schulischer Bildung für Kinder und Jugendliche mit anderen Erstsprachen als Deutsch gesetzlich einheitlich geregelt (BBWF 2019). Recht auf eine sprachliche Förderung besteht demnach schon in der Schuleingangsphase. Ist im Jahr vor dem Schuleintritt ein Sprachförderbedarf gegeben, ist schon im Kindergarten sprachliche Förderung vorzusehen. Ab einem Alter von sechs Jahren sind alle Kinder schulpflichtig – auch Kinder von Asylbewerberinnen und -bewerbern und Kinder, deren Aufenthaltsstatus nicht geklärt ist (BMB 2016, 7). Durch das österreichweit eingesetzte einheitliche, standardisierte Diagnoseinstrument MIKA-D (Messinstrument zur Kompetenzanalyse – Deutsch) werden die Deutschkenntnisse ermittelt, wobei das Instrument für die Primarstufe und die Sekundarstufe I und II zur Verfügung steht. Im Falle nicht ausreichender Deutschkenntnisse erhalten die Schülerinnen und Schüler den Status „außerordentliche SchülerInnen“, womit seit dem Schuljahr 2018/19 eine besondere Sprachförderung auf allen Schulstufen (Primarstufe, Sekundarstufe) einhergeht. Sie wird in zwei Typen unterschieden: Deutschförderklassen (separierter Unterricht) für Schülerinnen und Schüler mit „ungenügenden“ Deutschkenntnissen und Deutschförderkurse (integrativer Unterricht) für Schülerinnen und Schüler mit „mangelhaften“ Deutschkenntnissen (vgl. Tabelle 6).
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Tab. 6: Unterrichtsmodelle sprachlicher Förderung in Österreich (nach BBWF 2019) Deutschförderklassen (alle Schularten, außer Berufsschulen)
– 15 Wochenstunden/Primarstufe; 20 Wochenstunden/ Sekundarstufe anstelle des Regelunterrichts – Dauer: mind. ein, max. vier Semester – unterrichtssegregativ – klassen-, schulstufen- oder schulartübergreifend möglich – ab einer Anzahl von acht Schülerinnen bzw. Schülern – durchzuführen von im Bereich DaZ einschlägig qualifizierten Lehrkräften
Deutschförderkurse (alle Schularten, außer Sonderschule)
– – – – –
sechs Wochenstunden, parallel zum Unterricht unterrichtsintegrativ ab einer Anzahl von acht Schülerinnen bzw. Schülern klassen-, schulstufen- oder schulartübergreifend möglich durchzuführen von im Bereich DaZ einschlägig qualifizierten Lehrkräften
Nach jedem Semester müssen die sprachlichen Fähigkeiten mit MIKA-D verpflichtend getestet werden, um ggf. weiteren Förderbedarf festzustellen oder einen Wechsel entweder von der Deutschförderklasse in den Deutschförderkurs oder vom Deutschförderkurs in den Regelunterricht vorzunehmen. Dieses 2018 verabschiedete Sprachfördermodell Österreichs wurde von bildungswissenschaftlichen, sprachwissenschaftlichen und sprachdidaktischen Fachverbänden kritisiert (vgl. Kasberger/Klaus 2019, 127 f. oder Schweiger/Müller 2021, 43 f.). Kritikpunkte stellen u. a. die nicht empirisch gestützten schulorganisatorischen Veränderungen, die separierende Förderung im Vergleich zu inklusiven Sprachfördermodellen oder die fragwürdige Validität und Reliabilität der Testverfahren dar, durch die die Zuweisung zu einer Deutschförderklasse bzw. einem Deutschförderkurs erfolgt.
Schweiz Die Schweiz ist mit den vier amtlich anerkannten Landessprachen Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch ein offiziell gesellschaftlich mehrsprachiges Land und unterscheidet sich somit wesentlich von Deutschland und Österreich. Aufgrund dieser mehrsprachigen Konstellation mit vielen Kontaktmöglichkeiten zwischen den Sprachgruppen besteht auch hier eine gewisse Schwierigkeit, DaF und DaZ voneinander abzugrenzen (Langner 2010). DaF ist in der Schweiz – im Gegensatz zu Deutschland und Österreich – aber als curricular verankertes Schulfach vorhanden, weshalb nachfolgend mit DaF- und DaZ-Schülerinnen und -Schülern folgende Unterscheidung gemeint ist: DaF-Schülerinnen und -Schüler sprechen eine der anderen drei Landessprachen, DaZ-Schülerinnen und -Schüler andere Sprachen als Erstsprache.
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Die schulischen Rahmenbedingungen, einschließlich der Regelungen zum DaF-/ DaZ-Unterricht, werden in der föderal organisierten Schweiz kantonal bestimmt, was – wie in Deutschland – z. T. zu großen Unterschieden führt. Zugunsten der Durchlässigkeit und Qualitätssicherung im nationalen Bildungssystem wird aber seit 2007 eine interkantonale Vereinbarung zur Harmonisierung der Pflichtschule, das HarmoS-Konkordat, umgesetzt. Dieses regelt auch das Fremdsprachencurriculum und somit den DaF-Unterricht für französisch-, italienisch- und rätoromanischsprachige Schülerinnen und Schüler. Im Verlauf der Pflichtschule erlernen alle Schülerinnen und Schüler obligatorisch zwei Fremdsprachen, wobei eine dieser beiden Fremdsprachen eine weitere Landessprache, die andere Fremdsprache i. d. R. Englisch ist (Khan 2018). Entsprechend der regionalen Verteilung der Amtssprachen Französisch, Italienisch und Rätoromanisch findet DaF v. a. in der West- und Ostschweiz Verbreitung und wird i. d. R. auch als erste Fremdsprache gelernt. Der Fremdsprachenunterricht der ersten Sprache setzt spätestens ab dem 5. Schuljahr, der Unterricht der zweiten Sprache ab dem 7. Schuljahr ein (EDK 2022). Je nach angestrebtem Bildungsabschluss lernen die Schülerinnen und Schüler mit anderen Landessprachen DaF also für sechs bis neun Jahre. Das Sprachförderangebot für DaZ-Schülerinnen und -Schüler ist, wie bereits erwähnt, ähnlich heterogen wie in Deutschland. Auch hier gibt es von den Kantonen herausgegebene Leitfäden, Broschüren oder Handreichungen, die unterschiedliche Unterrichtsformen, Lern- und Förderziele, Zuständigkeiten und personelle Rahmenbedingungen u. Ä. regeln. Grundsätzlich wird beim Schuleintritt – analog zu Deutschland und Österreich – zwischen Kindern mit und ohne Vorkenntnisse des Deutschen unterschieden, für die es – mitunter in Abhängigkeit von der Anzahl der Schülerinnen und Schüler – separierten DaZ-Anfangsunterricht in eigenen Klassen oder den Regelunterricht begleitenden DaZ-Aufbauunterricht gibt (die Regelungen in den unterschiedlichen Kantonen können auf https://www.ch.ch/de/angebote-kinder-mit-migrationshintergrund/ abgerufen werden).
Zusammenfassend kann für alle drei Länder festgehalten werden, dass die besonderen sprachlichen Förderbedarfe von DaF-/DaZ-Schülerinnen und -Schülern mittlerweile erkannt wurden und diese in den gesetzlichen Beschulungsvorgaben grundsätzlich Berücksichtigung finden. Auf einer anderen, bisher noch nicht näher betrachteten Ebene liegt jedoch die konkrete Ausgestaltung des sprachlichen Förderunterrichts. Wer erteilt den DaF-/DaZ-Unterricht? Welche Qualifikationen müssen Lehrkräfte aufweisen (Hopp/Thoma/Tracy 2010; Paetsch/Beck 2018; Lütke 2019)? Folgt er Lehrplänen, die verbindlich festlegen, welche Lernziele auf unterschiedlichen sprachlichen Ebenen zu welchen Zeitpunkten erreicht sein sollen? Wenn ja, sind diese sprachwissenschaftlich und -didaktisch begründet (vgl. dazu Bredthauer, Beitrag 15 in diesem Band) und in ihrer Progression in Abhängigkeit vom Lernstand der DaF-/ DaZ-Schülerinnen und -Schüler an spezifischen Lerngegenständen und Vermittlungsstrategien orientiert (Gamper/Schroeder 2016; Binanzer/Wecker 2020)?
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Abgesehen von dem für den in der Schweiz curricular verankerten DaF-Unterricht vorhandenen Lehrplan gibt es für DaZ-Schülerinnen und -Schüler nur in Österreich national einheitliche Lehrpläne bzw. Lehrplanzusätze (Elmiger/Boeckmann 2019). Diese werden vom Österreichischen Fachverband Deutsch als Fremd- und Zweitsprache allerdings kritisch diskutiert (vgl. ÖDaF 2018). Für den DaZ-Unterricht in Deutschland und der Schweiz lässt sich abermals feststellen, dass die föderal organisierten Bildungssysteme sehr uneinheitlich agieren. Für Deutschland stellen Harr/TerrasiHaufe/Woerfel (2018, 184) z. B. heraus, dass nur einige Bundesländer curriculare Richtlinien erarbeitet haben, andere solche Vorgaben in die Rahmenlehrpläne integrieren, einzelne Bundesländer wiederum keine Vorgaben entwickelt haben. Zudem seien die vorhandenen Richtlinien „extrem uneinheitlich und kaum wissenschaftlich fundiert“ (ebd., 172). Für die Schweiz konstatieren Elmiger/Boeckmann (2019, 156) sogar: „Eigentliche DaZ-Lehrpläne sind […] selten“. Auf einem noch anderen Blatt steht die Wirksamkeit unterschiedlicher DaZSprachfördermaßnahmen. Einen aktuellen Überblick hierzu geben Geist/Thomas (2019). Als relevante Parameter stellen sie insbesondere die Qualität der Förderung bzw. die dafür erforderliche Qualifizierung der pädagogischen Fachkräfte heraus. So resümieren die Autorinnen (ebd., 163),
dass eine gezielte Sprachförderung, die an den bereits erworbenen Fähigkeiten ansetzt und individuell gestaltet sowie von sehr gut ausgebildeten Fachkräften durchgeführt wird, Voraussetzung für deren Wirksamkeit ist. Unabdingbar ist somit, dass die Sprachförderkräfte über diagnostische Kompetenzen verfügen, um den Sprachstand erfassen und davon ausgehend die Förderung planen zu können.
3.3 Mehrsprachigkeit und Herkunftssprachenunterricht Die bisherigen Ausführungen konzentrierten sich darauf, inwiefern durch die Bildungssysteme des deutschsprachigen Raums die Unterstützung von DaF-/DaZ-Schülerinnen und -Schülern hinsichtlich der Sprachaneignung des Deutschen gewährleistet wird. Dass es sich bei diesen um mehrsprachige Schülerinnen und Schüler handelt, die Sprachfähigkeiten in anderen Sprachen mit in die deutschsprachigen Schulen bringen, wurde dagegen noch nicht thematisiert. Zwar gilt individuelle Mehrsprachigkeit in Europa als ein traditionsreiches Bildungsgut, doch zeigen verschiedene Studien aus Deutschland und Österreich, dass das Beherrschen von sog. ,Migrantensprachen‘ wie Arabisch, Russisch oder Türkisch mit wenig Prestige einhergeht und (angehende) Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler mit deutscher Erstsprache gegenüber migrationsbedingter Mehrsprachigkeit teilweise eine ablehnende Haltung aufweisen (Gogolin 1994; Koliander-Bayer 1998; Wojnesitz 2009; Plewnia/Rothe 2011; Binanzer/Jessen 2020). Entgegen diesen gesellschaftlich verbreiteten subjektiven Einstellungen ist in der Mehrsprachigkeitsforschung eine andere Sichtweise Konsens: Mehrsprachigkeit, unbedingt auch migrationsbedingte, wird als zusätzliche Ressource betrachtet, die
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Vorteile mit sich bringt und auch gesellschaftliche Anerkennung finden soll (Hesse/ Göbel 2009; Mehlhorn/Brehmer 2018). Es liegen demnach nicht nur unterschiedliche Vorschläge vor, wie diese Mehrsprachigkeit gewinnbringend in den Unterricht eingebracht, sondern auch, wie die bereits vorhandene Mehrsprachigkeit der Schülerinnen und Schüler abseits vom Bildungskanon der traditionellen schulischen Fremdsprachen Englisch, Französisch oder Latein weiter gefördert werden kann, auch mit dem Blick auf deutschsprachig aufgewachsene Kinder und Jugendliche (vgl. z. B. Krumm/ Reich 2011; Belke 2012; Küppers/Schroeder 2017; Wiese/Tracy/Sennema 2020). In dieser Hinsicht stellt der Herkunftssprachenunterricht, den es sowohl in Deutschland, Österreich (Muttersprachlicher [Ergänzungs-]Unterricht) als auch in der Schweiz (Kurse in heimatlicher Sprache und Kultur) gibt, die schulisch am stärksten institutionalisierte Form dar. Bestandsaufnahmen zu den Regelungen in den drei Ländern liegen von Giudici/Bühlmann (2014) und Löser/Wörfel (2017) vor, vgl. Tabelle 7. Ähnlich wie bereits oben für den DaF-/DaZ-Unterricht und entsprechende Curricula festgestellt worden ist, nimmt auch hier Österreich eine Sonderstellung ein, insofern im Vergleich zu Deutschland und der Schweiz „der österreichische Muttersprachenunterricht flächendeckend am engsten mit dem Angebot der Regelschule verzahnt“ (Löser/Wörfel 2017, 579) ist. In den anderen beiden Ländern finden sich föderalismusbedingt wiederum verschiedene Auslegungen der KMK- bzw. EDK-Empfehlungen.
Tab. 7: Herkunftssprachenunterricht in Deutschland, Österreich und der Schweiz im Vergleich (nach Giudici/Bühlmann 2014 und Löser/Wörfel 2017) Deutschland
Österreich
Schweiz
Zuständigkeit
teilweise Herkunftsländer, teilweise Schulbehörden
Österreichische Schulbehörde/Regelschulen
Herkunftsländer mit kantonaler organisatorischer Unterstützung
Lehrkräfte
Auswahl und in Deutschland oder Herkunftsländern aus- Finanzierung durch Schulbehörde gebildet, z. T. im deutschen Schuldienst, z. T. im Dienst der Herkunftsländer
Umfang
bundeslandspezifisch
Curriculare Vorgaben
z. T. auf der Basis eines Fachlehrpläne für GER-orientierten Kern- verschiedene Schulcurriculums arten
mindestens zwei Wochenstunden
Strukturelle Einbettung i. d. R. additiv; z. T. als 2./3. Fremdsprache anerkannt (NRW), z. T. Wahlpflicht
parallel zum Regelunterricht möglich, häufig additiv
mindestens zwei Wochenstunden kantonal abhängig; in das HarmoS-Konkordat aufgenommen Grundschule, gesetzlich als ergänzender Unterricht zugelassen; häufig additiv
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4 DaF und DaZ in der Lehrkräftebildung Bei der knappen Skizzierung der Entwicklungslinien der beiden akademischen Disziplinen DaF und DaZ wurde in der Einleitung dieses Beitrags bereits herausgestellt, dass sich v. a. für die Teildisziplin DaZ seit der Jahrtausendwende eine Stärkung abzeichnet. Diese ist eng mit dem ,PISA-Schock‘ sowie zuletzt mit der Fluchtbewegung im Jahr 2015 und dem damit einhergehenden Ruf nach einem „Perspektivwechsel in der Migrations- und Integrationspolitik“ (Krüger-Potratz 2017, 387) verknüpft. Die daraus entstandenen bildungspolitischen Diskurse schlossen auch die Forderungen nach Innovationen in der Lehrkräftebildung ein, insbesondere die curriculare Verankerung von DaZ-Studienanteilen betreffend. In diesem Zusammenhang hat auch der Begriff Bildungssprache der bereits im Modellprojekt FörMig (Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, 2004–2013) zur Bezeichnung der in Bildungsinstitutionen zur Wissensvermittlung verwendeten sprachlichen Register eingeführt wurde (Gogolin/Duarte 2016), über die Fachgrenzen von DaZ hinaus Prominenz erlangt (vgl. zur Begriffsgenese und anderen Bedeutungsdimensionen auch Roth 2015 oder Becker-Mrotzek/Roth 2017). So steht der Begriff nach Steinhoff (2019, 328) mittlerweile
im Zentrum eines umfassenden Diskurses, an dem neben der Linguistik und Sprachdidaktik auch die Erziehungswissenschaft und die Psychologie sowie die Fachdidaktiken der Gesellschaftswissenschaften, der Naturwissenschaften und der Mathematik partizipieren.
Dass die Bildungssprache zum ,Exportschlager‘ wurde, erklärt Steinhoff damit, dass einhergehend mit den enttäuschenden Ergebnissen der Schulleistungsstudien der viel diskutierte Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und der Beherrschung der zur Wissensvermittlung verwendeten sprachlichen Register auch in anderen Fächern „einen Nerv [getroffen hat]“ (ebd.). Als eine aus diesem Diskurs resultierende positive bildungspolitische Entwicklung lässt sich heute auch feststellen, dass entsprechende Studieninhalte zumindest in Deutschland und Österreich Eingang in die Lehrkräftebildung gefunden haben. In Deutschland wurde diese Entwicklung besonders durch das Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache (Gründung 2012) sowie durch einschlägige Projekte des von Bund und Ländern initiierten Förderprogramms Qualitätsoffensive Lehrerbildung (2015–2023) vorangetrieben. Für die Schweiz stellt Schmellentin (2018, 126) dagegen heraus, dass die Themen „Sprachbewusster Fachunterricht bzw. durchgängige Sprachbildung kaum in den Ausbildungszielen der Pädagogischen Hochschulen erwähnt“ werden und es „auch in der Weiterbildung […] wenig bis keine Angebote dazu [gibt].“ Entsprechende Inhalte finden sich zwar in Curricula des Unterrichtsfachs Deutsch (z. B. PH Zürich) oder in Einzelprojekten wie QUIMS (Qualität in multikulturellen Schulen) oder SimS (Sprachförderung in mehrsprachigen Schulen), in der Lehrkräftebildung flächendeckend verankert sind sie jedoch nicht.
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Inwiefern in Deutschland und Österreich eine gesetzlich flächendeckende und obligatorische Implementierung entsprechender Lehrinhalte in die Curricula lehrkräftebildender Universitäten und Pädagogischer Hochschulen erfolgt ist, illustrieren die folgenden Abschnitte. Unterschieden wird hier zwischen Bildungsangeboten, die sich an angehende Lehrkräfte aller Unterrichtsfächer richten, um diese für die Rolle der Bildungs- und Fachsprache bei der schulischen Wissensvermittlung und den davon abgeleiteten Prinzipien der durchgängigen Sprachbildung zu sensibilisieren, und (fakultativen) DaF-/DaZ-spezifischen Studiengängen, die eine umfänglichere Zusatzqualifikation für den Unterricht von DaF-/DaZ-Kindern und -Jugendlichen in entweder Willkommens- bzw. Vorbereitungsklassen oder der DaZ-Förderung bieten.
Deutschland Für Deutschland haben Baumann/Becker-Mrotzek (2014) sowie darauf aufbauend Baumann (2017) und Witte (2017) systematische Überblicke erarbeitet, in welchen Bundesländern die durchgängige Sprachbildung als Gegenstand der Lehrkräftebildung gesetzlich verankert ist. 2016 formulierten demnach elf von 16 Bundesländern Vorgaben für die Lehrkräftebildung, womit eine positive Veränderung im Vergleich zu 2014 zu verzeichnen war (neun Bundesländer). Bei der Betrachtung, inwiefern sich diese gesetzlichen Vorgaben in den hochschulischen Studienregelungen niederschlagen, zeigt sich ein heterogenes Bild, insofern entsprechende obligatorische Studieninhalte für Studierende des Unterrichtsfachs Deutsch und Studierende des Grundschullehramts häufiger als für Studierende anderer Unterrichtsfächer bzw. anderer Schulformen auszumachen waren (Witte 2017, 352). Die Art der strukturellen Verortung im Studienverlauf unterscheidet Witte (ebd.) in fünf Typen: 1. DaZ als Modul (Bsp. Nordrhein-Westfalen) 2. DaZ integriert in die Fachdidaktiken (Bsp. Niedersachsen) 3. Fächerübergreifendes DaZ-Modul plus Integration von DaZ in bestehende Module (Bsp. Berlin) 4. Integration von DaZ in ein Heterogenitätsmodul (Bsp. Bremen) 5. DaZ als Unterrichtsfach (Bsp. Bayern) Die Typen 1 bis 4 unterscheiden sich erheblich in ihrem Umfang. Die mindestens zu erwerbenden Leistungspunkte reichen von sechs bis 15, entsprechend unterschiedlich fällt auch die Anzahl der zu belegenden Lehrveranstaltungen aus. Bei der Integration der DaZ-Inhalte in Heterogenitäts- bzw. Inklusionsmodule oder in die Fachdidaktiken ist die Implementierung stark abhängig von der konkreten Ausgestaltung oder der Zusammenarbeit der Fächer. So reicht das themenspezifische Bildungsangebot von der Minimalanforderung bis hin zu ganzen (fakultativen) Ergänzungsstudiengängen (Typ 5).
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Das Angebot solcher fakultativen, umfänglicheren DaF-/DaZ-spezifischen Studiengänge haben Jung/Middeke/Panferov (2017) an 400 deutschen Hochschulen abgefragt. In die Studie aufgenommen wurden schließlich nur solche DaF-/DaZ-Studienangebote von 59 Universitäten, die den nach dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge definierten Qualifizierungskriterien (Anerkennung der Abschlüsse auf dem Arbeitsmarkt, unmittelbare Unterrichtsbefähigung) entsprachen. Wenngleich der Autor und die Autorinnen die „Vielfalt der an Hochschulen angebotenen DaF-/DaZ-Qualifikationen und [die] nicht standardisierten Selbstbezeichnungen“ als Schwierigkeit bei der Kategorienbildung benennen, gelangen sie zu vier unterschiedlichen Typen: 1. Mono-/Zweifachstudiengänge a. Haupt-/Kernfach (90–180 LP) b. Neben-/Zusatzfach (mind. 60 LP) 2. Erweiterungs-/Ergänzungsfach in Lehramtsstudiengängen (35–90 LP) 3. Zertifikate (28–59 LP) 4. Wahlpflichtmodule und -Zertifikate (weniger als 28 LP) Die Erhebung zeigte auch, dass sich parallel zur angestiegenen Fluchtmigration nach Deutschland von 2014/15 bis 2016/17 die Anzahl an Einschreibungen in solche Studienangebote um 32 % erhöht hat. Der höchste Zuwachs war bei den für Lehramtsstudierende vorgesehenen DaF-/DaZ-Erweiterungsstudiengängen zu verzeichnen. Während sich unter den Lehramtsstudierenden also eine deutlich gestiegene Nachfrage abzeichnet, bemängeln Jung/Middeke/Panferov (ebd., 25), dass die Kultusministerien DaF/DaZ noch nicht als selbstständiges Erst-/Zweitfach anerkannt haben, und fordern auch von den Studiengängen selbst, dass sie sich „besser, etwa durch Einführung einer zweiten, dem Referendariat vergleichbaren Ausbildungsphase, hinsichtlich einer Schulausbildung positionieren.“
Österreich In Österreich beauftragte das Bundesministerium für Bildung und Frauen 2010 verschiedene Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft und Schule auf der Grundlage des Curriculums Mehrsprachigkeit (Krumm/Reich 2011) ein Rahmencurriculum zu den Themen durchgängige Sprachbildung und Mehrsprachigkeit für angehende Lehrkräfte aller Unterrichtsfächer zu erarbeiten und zu pilotieren. Schließlich sollte es im Rahmen der Reform der Lehrkräftebildung (PädagogInnenbildung Neu) an allen österreichischen lehrkräftebildenden Universitäten und Pädagogischen Hochschulen implementiert werden (Österreichisches Sprachen-Kompetenz-Zentrum 2014). Das Modul umfasst nach Krumm (2015, 290 f.) 6 ECTS und ist in vier inhaltliche Blöcke (1. Vielfalt der eigenen Sprachlichkeit; 2. Sprachlernerfahrung – Spracherwerb; 3. Sprachen in der Institution Schule I: Diagnose, Förderung, sprachsensibler Unterricht; 4. Sprachen in der Institution Schule II: Rahmenbedingungen) gegliedert. Strukturell sollte das Rah-
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mencurriculum nach Schrammel-Leber u. a. (2019) auf verschiedenen Ebenen verankert werden: für alle Studierenden als Querschnittsthema auf der Kompetenzebene sowie als verpflichtender Studienanteil auf Modul- und Lehrveranstaltungsebene, für die Primarstufe als spezifisches Qualifikationsprofil durch frei wählbare Schwerpunktsetzung, für die Sekundarstufe als Spezialisierung. Schrammel-Leber u. a. (ebd., 245) kommen bei der ersten Auswertung zur Implementierung des Rahmencurriculums in den Lehramtsstudiengängen von sieben Pädagogischen Hochschulen aber zu dem Schluss, dass die Zielsetzung einer möglichst breiten Verankerung bisher „nur teilweise und auf keinen Fall im erwünschten Umfang und mit der erforderlichen Nachhaltigkeit gelungen ist“. Bei der Weiterentwicklung sei demnach eine Verankerung des Themenfelds in den verpflichtenden Studienanteilen, v. a. in den Fachdidaktiken, anzustreben. Die Autorinnen und Autoren verweisen auch auf die an verschiedenen Pädagogischen Hochschulen vorhandenen umfassenderen DaZ-Hochschullehrgänge, die gerade aufgrund der mangelnden Integration des Themenfelds in die grundständige Lehrkräftebildung noch immer von großer Bedeutung seien. Solche Studiengänge umfassen drei bis vier Module mit 15 bis 20 ECTS und richten sich vornehmlich an Absolventinnen und Absolventen eines Lehramtsstudiums. Vereinzelt sind die Angebote aber auch für Studierende geöffnet, die bereits einen BA im Bereich Lehramt abgeschlossen haben.
5 Fazit Eingangs dieses Beitrags wurde anhand der für deutsche, österreichische und Schweizer Schulen verfügbaren Statistiken herausgearbeitet, dass derzeit ca. ein Viertel aller Schülerinnen und Schüler des deutschen Sprachraums Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache sprechen/erwerben/lernen, Tendenz steigend. Das Ergebnis repräsentativer Schulleistungsstudien, dass in den genannten Ländern (mehrsprachige) Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund im Durchschnitt nicht über die gleichen Bildungschancen wie (einsprachig aufgewachsene) Schülerinnen und Schüler ohne Migrationshintergrund verfügen, bildete dann das Fundament für eine nähere Betrachtung wesentlicher allgemeiner Strukturmerkmale der Bildungssysteme und der gesetzlichen Regelungen für DaF-/DaZ-Unterricht. Während für alle drei Länder festgestellt wurde, dass die allgemeinen schulischen Rahmenbedingungen tendenziell nicht zur Egalisierung der ungleichen sprachlichen Ausgangslagen ein- und mehrsprachiger Kinder und Jugendlicher beitragen, kann für den DaF-/DaZ-Unterricht insgesamt festgehalten werden, dass mittlerweile flächendeckend gesetzliche Bestimmungen für seine Umsetzung vorliegen. Im Detail zeigt sich im Vergleich der drei Länder bzw. deren Bundesländer und Kantone jedoch ein sehr heterogenes Bild, was das Ausmaß der Integration in den Regelunterricht, die Quantität und die Qualität solcher DaF-/DaZ-Angebote betrifft. Das gilt ebenso für die Regelungen zum Her-
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kunftssprachenunterricht, der die Förderung der bereits vor Schuleintritt vorhandenen Mehrsprachigkeit dieser Schülerinnen und Schüler – jenseits des klassischen schulischen Fremdsprachenkanons – institutionell absichern könnte. Die Befunde zu zuwanderungsbezogenen Bildungsdisparitäten sowie die kontinuierlich steigende Zahl der DaF-/DaZ-Schülerinnen und -Schüler, zuletzt durch die im Jahr 2015 stark angestiegene Fluchtmigration in die drei Länder, haben allerdings bildungspolitische Innovationen befördert. So zeigen sich für die beiden letzten Jahrzehnte positive Entwicklungen, was die curriculare Verankerung von Studienanteilen zu den Themen Mehrsprachigkeit, DaF/DaZ und sprachliche Bildung in Lehramtsstudiengängen angeht. Dennoch bleibt auch in dieser Hinsicht festzuhalten, dass die drei Länder bzw. die jeweiligen Bundesländer und Kantone sehr unterschiedlich agieren. Die Bandbreite reicht hier von einer Grundsensibilisierung bis hin zu obligatorisch zu belegenden umfangreichen Modulen. Daneben gibt es aber auch noch Bundesländer und Kantone, in denen die Themen noch nicht verpflichtender Bestandteil der Lehrkräftebildung sind. Da anzunehmen ist, dass die Anzahl der DaF-/DaZ-Schülerinnen und -Schüler weiterhin zunehmen und entsprechend die DaF-/DaZ-Expertise an Schulen auch perspektivisch flächendeckend dringend benötigt werden wird, bleibt zu resümieren, dass Anstrengungen zur Stärkung von DaF-/DaZ-Angeboten für Schülerinnen und Schüler und Lehramtsstudierende auf institutionell-regulativer Ebene sowie ihre wissenschaftliche Fundierung und Begleitung weiter forciert werden müssen.
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V Gestaltung und Management von Mehrsprachigkeit
Marijana Kresić Vukosav
17. Kulturelle Identität in plurikulturellen Kontexten Abstract: Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem Konzept der kulturellen Identität in plurikulturellen gesellschaftlichen Kontexten mit interdisziplinärem Bezug zu Erkenntnissen aus der Sprachwissenschaft, der Psychologie, Soziologie, Anthropologie und verwandter Forschung. Zunächst werden die Grundbegriffe Identität, Kultur, Sprache und Mehrsprachigkeit definiert. Im Anschluss folgt eine Klärung der Zusammenhänge zwischen diesen Phänomenen, wobei insbesondere Fragen kultureller Identität sowie mehrsprachiger Identität in plurikulturellen Gesellschaften erörtert werden. Der Begriff der kulturellen Identität wird problematisiert und es erfolgt eine kritische Bestimmung der miteinander verwandten Begriffe Interkulturalität, Multikulturalität, Plurikulturalität und Transkulturalität. Es folgt ein Blick auf das empirische Fallbeispiel kroatischstämmiger Sprecher und Sprecherinnen in Deutschland. Der Beitrag schließt mit einem resümierenden Fazit, in dem ein Ausblick auf offene Forschungsfragen im Hinblick auf das Phänomen der kulturellen Identität in plurikulturellen Kontexten gegeben wird. 1 2 3 4 5
Einleitung Grundbegriffe Zusammenhänge Fazit und Forschungsausblick Literatur
1 Einleitung Identität ist ohne Zweifel ein Phänomen, das sich im Spannungsfeld von Kultur, Sprache und gesellschaftlichem Kontext konstitutiert (zu diesem Spannungsfeld vgl. D. Busch, Beitrag 4 in diesem Band). Gleichzeitig ist es ein kontroverser und viel diskutierter Begriff, der einer präzisen und theoretisch gut begründeten Definition bedarf, wenn er als Grundlage für Fachdiskussionen, wissenschaftliche Forschung und in der Folge auch für bildungs- und sprachpolitische Entscheidungen dienen soll. All dies vollzieht sich in einer Zeit, die durch eine Multiplizierung und Diversifizierung der kulturellen, sprachlichen, individuellen und sozial geteilten Lebenswirklichkeit gekennzeichnet ist, was das Bestreben nach Klarheit und Eindeutigkeit von wissenschaftlichen Konzepten, Analysen, Interpretationen und entsprechenden Schlussfolgerungen erschwert. Vor diesem Hintergrund zielt dieser Überblick zum Phänomen der kulturellen Identität in plurikulturellen gesellschaftlichen Kontexten darauf, durch eine Klärung der relevanten Grundbegriffe mehr Klarheit in diese komplexen https://doi.org/10.1515/9783110623444-017
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Marijana Kresić Vukosav
Zusammenhänge zu bringen. Zudem sollen Besonderheiten der Konstitution kultureller Identitäten in plurikulturellen Kontexten erörtert werden.
2 Grundbegriffe 2.1 Identität(en) Die Identitätsforschung ist ein interdisziplinäres Feld, das u. a. semiotische, geografische, soziologische, psychologische, anthropologische, sprach- und kulturwissenschaftliche Zugangsweisen einschließt und in dem mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden das Zustandekommen und die Merkmale von Selbst- und Fremddefinitionen untersucht werden. Identität lässt sich zunächst in allgemeiner Weise als So-Sein eines unverwechselbaren, menschlichen, individuellen oder kollektiven Selbst beschreiben, wobei multiple Perspektiven, Facetten und Dimensionen (personal und sozial, sprachlich und außersprachlich etc., s. u.) wesentliche Kennzeichen dieses Phänomens darstellen (vgl. Kresić 2006, 62 ff.). Auf zentrale Aspekte der Identitätskonstitution wird im Folgenden eingangen. Während sich die Begriffe personale und individuelle Identität auf bestimmte, für eine Einzelperson spezifische und unverwechselbare Merkmale des Selbst beziehen, stehen die Termini soziale und kollektive Identität für ein Bündel von Charakteristika sozialer Gruppen oder Kollektive, durch das sich diese von anderen Gruppen unterscheiden. In vielen Darstellungen wird das Begriffspaar personal vs. sozial als Dichotomie behandelt, was angesichts des sozialen Charakters auch individueller Identitäten nicht gerechtfertigt erscheint: Jede personale Identität vereint in sich die Zugehörigkeit zu einer Vielzahl sozialer Gruppen, z. B. die parallele Mitgliedschaft in beruflichen, sportlichen usw. Gemeinschaften. Wenn im Folgenden von Identität gesprochen wird, geschieht dies daher primär mit Bezug auf personale Identität (eines Individuums), die eine Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Gruppen (Sprachgemeinschaften, kulturell definierten Gruppen etc.) impliziert. Die Konstitution von Identität vollzieht sich in wichtigen Aspekten durch sprachliche Kommunikation (vgl. Kresić 2006; 2011; 2016; Janich/Thim-Mabrey 2003; Edwards 2009; Preece 2016), wobei diskursanalytisch und soziolinguistisch (vgl. De Fina/Shiffrin/Bamberg 2006) Studien den sprachlichen Konstruktionscharakter von Identität teilweise überbetonen, insofern impliziert wird, sämtliche Identitätsaspekte (von körperlich fundierten bis hin zu kommunikativ vermittelten) ließen sich durch die an einem Diskurs Beteiligten mehr oder weniger frei konstruieren. Hier ist hervorzuheben, dass Identität auch durch verschiedene außersprachliche Zeichensysteme ausgedrückt, vermittelt und verhandelt wird, etwa durch Gesichtsausdruck, Gesten, Körperhaltung und -bewegung, Proxemik, Kleidungs- und Einrichtungsstil u. v. a. m. Gleichzeitig wird Identität stets im Spannungsfeld von vorgegebenen und dynamischen, d. h. zu Beginn einer Kommunikationssituation gegebenen und sich im
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Kulturelle Identität in plurikulturellen Kontexten
kommunikativen Verlauf ändernden oder überhaupt erst verhandelten Selbstaspekten konstituiert (vgl. dazu Kresić Vukosav/Vukosav 2020 sowie Vukosav/Kresić Vukosav 2021b). So greift etwa ein Sprecher bzw. eine Sprecherin in einer gegeben Kommunikationssituation auf ein bestimmtes sprachliches Repertoire, d. h. auf vorhandene und damit aktuell gegebene Kompetenzen in Bezug auf verschiedene Einzelsprachen und sprachliche Varietäten, zurück, um eine bestimmte Identität zu verhandeln. Parallel kann der Sprecher bzw. die Sprecherin im Verlauf der Zeit weitere Sprachkompetenzen neu erwerben, oder aber auch verlernen, und damit seine bzw. ihre Möglichkeiten der Identitätskonstitution erweitern oder begrenzen. Darin besteht der flexible Charakter sprachlich-kommunikativer Möglichkeiten der Selbstkonstitution. Multiple Perspektiven spielen insofern eine Rolle beim Ausdruck und beim Verhandeln von Identität, als diese aus der Innenperspektive der Beteiligten oder aus der Außenperspektive (vgl. James 1890) erfolgen und entsprechend im Dialog als Selbstund als Femdpositionierungen in Erscheinung treten können (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2004, 168 ff.):
Die Perspektive der Positionierung hebt also vor allem ab auf die qualitative Dimension der Identitätskonstruktion, die klassische Identitätsfrage: „Was bin ich für ein Mensch, als was für ein Mensch möchte ich von meinem Interaktionspartner betrachtet werden?“ Sie fokussiert diejenigen Aspekte sprachlicher Handlungen, mit denen ein Sprecher sich in einer Interaktion zu einer sozial bestimmbaren Person macht, eben eine bestimme „Position“ im sozialen Raum für sich in Anspruch nimmt und mit denen er dem Interaktionspartner zu verstehen gibt, wie er selbst gesehen werden möchte (Selbstpositionierung). Mit einer solchen Selbstpositionierung ebenso wie mit Addressierungen des Interaktionspartners und auf ihn bezogenen Handlungen weist er diesem ebenso eine soziale Position zu und verdeutlicht ihm damit, wie er ihn sieht (Fremdpositionierung). (ebd., 168 f.)
Die Konstitution von Identität vollzieht sich in verschiedenen „Definitionsräumen für Identität“ (Frey/Haußer 1987, 14), die Individuen in einer bestimmten Gesellschaft zur Verfügung stehen. Diese werden bisweilen auch als Identitätsaspekte bezeichnet (vgl. Kresić 2006, 67), die sich in Kernidentität und verschiedene Teil- oder Subidentitäten (vgl. Haußer 1995, 9) ausdifferenzieren. Sie umfassen z. B. die Bereiche Beziehungen/ Familie, Ausbildung/Beruf (vgl. Haußer 2002, 219), regionale Zugehörigkeit. Bei den Definitionsräumen handelt es sich gewissermaßen um Interaktionsfelder für Identität, die als institutionalisierte und/oder medial vermittelte Plattformen für die Aushandlung und Darstellung des Selbst dienen, z. B. das Bildungssystem (Schule, Universität), kommunikative Netzwerke im Internet, in sozialen Medien usw. Dabei nehmen für jedes Individuum bestimmte Interaktionsfelder einen wichtigen Stellenwert für die Konstitution des Selbst ein, und seine Identitätsaspekte werden diesen Schwerpunkten gemäß ausgehandelt und ausgedrückt. Bei der Erforschung von Identität gibt es disziplinabhängig eine Reihe unterschiedlicher theoretischer Zugänge, die entweder den Einfluss sozialer Erwartungen und Rollenzuschreibungen (soziologische Perspektive) oder individueller Selbstwahr
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Marijana Kresić Vukosav
nehmungen und -zuschreibungen (psychologische Perspektive) betonen. Häufig werden Identitätstheorien in sogenannte essenzialistische und in konstruktivistische Positionen unterteilt. Den erstgenannten wird vorgeworfen, sie würden deterministisch von bestimmten vorgegebenen, etwa biologischen Identitätsmerkmalen ausgehen (vgl. dazu z. B. Block 2007), während die letztgenannten den Konstruktionscharakter und die soziokulturelle und sprachliche Prägung von Identitätsaspekten für maßgeblich halten. Innerhalb des konstruktivistischen Paradigmas der Identitätsforschung lässt sich daher eine deutliche Affinität zu sprach- und kulturwissenschaftlichen Zugangsweisen und zu postmodernen und insbesondere poststrukturalistischen theoretischen Ansätzen ausmachen (vgl. z. B. Weedon 1997). Von dieser Polarisierung (vgl. Kresić 2006, 62 ff.) wird hier Abstand genommen (vgl. auch Vukosav/Kresić Vukosav 2021b), um bei der Definition von Identität einer ausbalancierten Mittelstellung den Vorrang zu geben: Identität hat eine soziale und eine individiduelle Dimension. Diese sind nur theoretisch voneinander trennbar, da jedes Kollektiv aus Einzelpersonen mit ihren individuellen Merkmalen besteht, während das individuelle Selbst durch eine Vielzahl von (sozial, kulturell, regional etc. geprägten) Gruppenzugehörigkeiten charakterisiert ist. Identität wird durch sprachlich-diskursive Mittel ausgehandelt, dargestellt und ausgedrückt, und gleichzeitig vollzieht sich ihre Konstitution in einer Vielzahl nichtsprachlicher Zeichensysteme und hängt auch von außersprachlichen Einflussfaktoren ab. Die sprachliche Aushandlung und Darstellung von Identität vollzieht sich im Spannungsfeld von vorhandenen sprachlichen Repertoires und sich neu entwickelnden Sprachkompetenzen, so wie sich Identitätskonstitution allgemein zwischen objektiv und situativ Gegebenem und Neuem, Flexiblem und Veränderlichem vollzieht. Selbst- und Fremdpositionierung sowie Selbstdarstellung und Eindrucksbildung entsprechen der Innen- und Außenperspektive, die im Prozess der Konstitution von Identität gleichermaßen eine Rolle spielen. Dabei kommt verschiedenen Definitions- oder Interaktionsräumen bei der Konstitution unterschiedlicher Identitätsaspekte eine zentrale Funktion zu, zumal für diese verschiedene Sprachkompetenzen und sprachliche Varietäten bedeutsam sein können (z. B. berufliche Identität – Fachsprache, Familienidentität – Familiensprache). Sowohl die von einigen Seiten geforderte Abschaffung des Identitätsbegriffs als auch seine Überfrachtung im Rahmen der sogenannten identity politics, d. h. die Fokussierung hauptsächlich auf Gruppenidentitäten (soziale Schicht, ethnische Zugehörigkeit etc.) innerhalb postmoderner Diskurse, sind abzulehnen. Diese beiden extremen Position verkennen, dass Identität ein nützlicher und sinnvoller Begriff ist, der aus der Perspektive des individuellen Identitätsträgers bzw. der Identitätsträgerin durch Kohärenz, (Wieder-)Erkennbarkeit und Unverwechselbarkeit gekennzeichnet sein kann und muss. Die Ausführungen in diesem Kapitel haben gezeigt, dass der Begriff der Identität trotz Kritiken wie „Inhaltsleere“, „Überflüssigkeit“, „Tod des Subjekts“ beibehalten werden kann, da er wissenschaftlich und lebenswirklich sinnvoll und real ist, insofern er treffend das So-und-so-Sein von Personen und sozialen Grup
Kulturelle Identität in plurikulturellen Kontexten
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pen zu erfassen vermag. Dass der Begriff dabei semantisch relativ leer ist, darf nicht verwundern, insofern er durch spezifische sprachliche, kulturelle, historische, geografische etc. Gegebenheiten für jedes Individuum und jede soziale Gruppe semantisch zu füllen ist. Sich des Begriffs zu entledigen, würde bedeuten, ,das Kind mit dem Bade auszuschütten‘. Das wäre so, als würde man den Begriff Staat für überflüssig erklären, weil er nicht spezifisch genug ist. Er wird im konkreten Fall spezifisch, wenn von einem bestimmten Staat, d. h. von einer Republik, einer Demokratie, einem Staatenbund, mit einer bestimmten politischen Verfassung, einer bestimmten geografischen Lage etc. die Rede ist.
2.2 Kultur(en) Kultur ist, ähnlich wie Identität, ein allgegenwärtiger und kontrovers diskutierter Begriff, zu dem es eine Vielzahl unterschiedlicher theoretischer und disziplinärer Zugangsweisen gibt und der entsprechend schwer zu definieren ist. In der Sozial- und Kulturanthropologie gehen Definitionen auf Mead zurück, dem zufolge zwischen Kultur im Allgemeinen und einer bestimmten Kultur zu unterscheiden ist: Culture means the whole complex of traditional behavior which has been developed by the human race and is successively learned by each generation. A culture is less precise. It can mean the forms of traditional behavior which are characteristic of a given society, or of a group of societies, or of a certain race, or of a certain area, or of a certain period of time. (Mead 1937, 17; vgl. Brumann 1999, 4)
Aus soziologischer Perspektive (vgl. Cole 2019) bezieht sich der Terminus Kultur auf eine Vielzahl unterschiedlicher Aspekte des sozialen Zusammenlebens der Mitglieder einer bestimmten Gruppe. Kultur umfasst dieser Auffassung zufolge Werte, Glaubensvorstellungen, Haltungen, Sprache, Kommunikationssysteme und -weisen sowie Bräuche, die die betreffenden Menschen teilen und die herangezogen werden können, um sie als Kollektiv zu definieren. Kultur umfasst sowohl materielle als auch nichtmaterielle Objekte, z. B. Denkmäler und Kunstwerke, die für eine Gruppe oder Gemeinschaft typisch sind (ebd.). Spezifische Traditionen, Moralvorstellungen, Ideen, auch wissenschaftliche und sonstige für eine Gemeinschaft relevante Erkenntnisse, Sprachen und Sprechweisen werden als typisch für eine Kultur erachtet, d. h., sie stellen die wesentlichen Aspekte für die Beschreibung einer bestimmten Kultur dar (vgl. N., Sam M.S. 2013), durch welche sie sich von anderen Kulturen (synchron und historisch betrachtet) unterscheidet (zum Zusammenhang von Sprache und Kultur vgl. auch D. Busch, Beitrag 4 in diesem Band). Der Kulturbegriff bezieht sich zudem auf die spezifischen Sichtweisen und entsprechende Handlungen in einer bestimmten Gruppe innerhalb einer Gesellschaft, die durch Faktoren wie Alter, Beruf etc. beeinflusst sein können (vgl. N., Sam M. S. 2013).
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Von Seiten poststrukturalistisch und dekonstruktivistisch orientierter Autoren und Autorinnen wurde, ähnlich wie in Bezug auf das Konzept der Identität, der Vorschlag unterbreitet, den Kulturbegriff gänzlich abzuschaffen, da er eine Homogenität, Abgegrenztheit, Kohärenz und Stabilität implizieren würde (vgl. Brumann 1999, 1), die der komplexen Wirklichkeit des Phänomens Kultur nicht gerecht würde. Es soll hier dem Vorschlag (ebd.) gefolgt werden, den Kulturbegriff beizubehalten, da er sich als nützlich erwiesen hat, um die wiederkehrenden und geteilten Konzepte, Emotionen, Routinen und Handlungsweisen zu bezeichnen, die entstehen, wenn die Mitglieder einer menschlichen Gemeinschaft regelmäßig interagieren. Denn obwohl die genannten Phänomene niemals von allen Mitgliedern geteilt werden, so sind sie dennoch nie willkürlich verteilt oder bei allen Mitgliedern dieser Gemeinschaft unterschiedlich, sondern es lassen sich zahlreiche Gemeinsamkeiten und Tendenzen feststellen. Wie bei allen wissenschaftlichen, insbesondere theoretischen Konzepten scheint es erforderlich und sinnvoll, von der Vielfalt und dem Chaos der Lebenswirklichkeit zu abstrahieren, um wichtige Elemente dieser Wirklichkeit zu identifizieren, zu klassifizieren und zu analysieren. Viele Autoren und Autorinnen geben der Vorstellung den Vorzug, dass Kulturen keine klar abgegrenzten und homogenen Gebilde darstellen, sondern als komplexe, dynamische und heterogene Gebilde (vgl. Welsch 1999, 198; Rellstab 2011, 39 ff.) zu konzeptualisieren sind. Einerseits trägt die in vielen Lebenssphären mittlerweile weit verbreitete Verwendung des Begriffs Kultur (vgl. Brumann 1999, 9 ff.) – von der alltäglichen Esskultur bis hin zu der akademischen Disziplin der Kulturwissenschaften – dazu bei, dass wir um ihn kaum mehr herumkommen. Andererseits kommt es zu einer zunehmenden Begegnung und zu einer Ko-existenz und Synchronizität verschiedener Kulturen im gesellschaftlichen Kontext, weshalb es geboten scheint, den Begriff Kultur mit dem Begriff der Identität gemeinsam zu reflektieren (vgl. Abschnitt 3.1).
2.3 Sprache(n) Für das Phänomen der Sprache gibt es in den Sprachwissenschaften zahlreiche Definitionen und Bezeichnungen, von denen im Folgenden nur solche erörtert werden, die in Bezug auf Identitätskonstitution in plurikulturellen Kontexten von Bedeutung sind. Zunächst einmal scheint die Unterscheidung zwischen Sprache und Sprechen relevant. Während seit de Saussures Unterscheidung zwischen langue und parole in der systemorientierten Linguistik der Untersuchung des abstrakten Sprachsystems und der sprachlichen Kompetenz von Sprechenden der Vorrang gegeben wird, soll hier der Primat des lebendigen, sich in der Lebenswirklichkeit tatsächlich vollziehenden Sprechens betont werden (vgl. Kresić 2006, 159 ff.), da sich in den konkreten Sprechweisen und -praktiken die Identitäten der Sprechenden ausdrücken und auf diese Weise dargestellt und ausgehandelt werden. Auch Kultur(en) sind durch geteilte, wenn auch potenziell multiple Sprechweisen gekennzeichnet, sodass in jedem Fall festgestellt
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werden kann, dass für die Konstitution von Identität und die Besonderheit von Kulturen der Sprachgebrauch und der Performanzcharakter der Sprache entscheidend ist. Welche Funktionen erfüllt das Sprechen, d. h. die Verwendung konkreter sprachlicher Zeichen, in kommunikativen Situationen für die Sprechenden? Bühlers Organonmodell zufolge sind drei Funktionen für den Gebrauch des sprachlichen Zeichens grundlegend:
Es ist Symbol kraft seiner Zuordnung zu Gegenständen und Sachverhalten, Symptom (Anzeichen, Indicium) kraft seiner Abhängigkeit vom Sender, dessen Innerlichkeit es ausdrückt, und Signal kraft seines Appells an den Hörer, dessen äußeres oder inneres Verhalten es steuert. (Bühler 1982, 28)
Zu der Darstellungs-, der Ausdrucks- und der Apellfunktion kommt die Funktion des Ausdrucks/der Konstitution der Sprecheridentität hinzu, die zentral ist, insofern sie die drei anderen Zeichenfunktionen umfasst und stets begleitet. D. h., dass Sprechende mit jeder sprachlichen Äußerung ausdrücken, darstellen oder verhandeln, wer sie als Individuum sind oder wie sie im Sinne einer sozialen Gruppenzugehörigkeit zu verorten sind (vgl. Kresić 2006, 191 ff.). Ein weiterer sprachtheoretischer Ansatz, der die Relevanz des in der Rede realisierten Sprechens hervorhebt, wurde vom Romanisten Coseriu (1976) entwickelt. Zentral für diesen Ansatz ist das Konzept der funktionellen Sprache, die Coseriu weiter in System und Norm unterteilt (ebd., 34). Auf der phonetisch-phonologischen Ebene umfasst das System z. B. das komplette Lautsystem einer Einzelsprache, während die Norm die Realisierung eines Lautes im Hochdeutschen gegenüber seiner Realisierung in einem bestimmten Dialekt bezeichnet. In der konkreten Rede wiederum entsprechen diesen eine Vielzahl von individuellen Realisierungen des betreffenden Lautes, etwa durch Sprecher bzw. Sprecherin A in Sprechsituation X, durch Sprecher bzw. Sprecherin B in Sprechsituation Y usw. Nützlich für die Konzeptualisierung von Sprache im Zusammenhang mit dem hier behandelten Themenkomplex ist, dass die funktionelle Sprache zunächst als Sprachsystem jene Strukturen vorhält, die eine Vielzahl an konkreten Realisierungen als Normen (Standardsprache, Dialekte etc.) und Reden (idiosynkratische Sprechweisen) und damit die Konstitution unterschiedlicher sozial, regional, kulturell etc. geprägter Identitäten ermöglichen (vgl. Kresić 2006, 166 ff.). Ergänzend zu der Sichtweise, dass die sprachliche Performanz und das Sprechen in Bezug auf die Konstitution von Identität und kultureller Zugehörigkeit Vorrang haben, ist die Vorstellung von Sprache als Polysystem und in Bezug auf das Sprechen als Polyperformanz relevant. Im Gegensatz zu der systemlinguistischen Sichtweise auf Sprache als abstraktes System, die z. B. im Rahmen der Analyse formaler syntaktischer Strukturen sinnvoll sein mag, führt der sozio- und insbesondere varietätenlinguistisch (vgl. Halwachs 1993) motivierte Blick auf verschiedene Sprechweisen sozialer Gruppen zu der Erkenntnis, dass Sprache kein in sich geschlossenes und starres Monosystem darstellt, sondern vielmehr ein „komplexes, flexibles, dynamisches Polysystem, ein Konglomerat von Sprachen“ (Wandruszka 1979, 39) und Sprechweisen ist. Entspre
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chend verwendet Halwachs (1993) den Begriff Repertoire, um die vielfältige sprachliche Kompetenz und Performanz der Sprecher und Sprecherinnen einer Sprache zu beschreiben. Das Repertoire von Sprechern und Sprecherinnen einer Sprache umfasst dabei den so genannten Basilekt, d. h. die Varietäten des sozialen Mikrokosmos (Dialekte, Mundarten, Kleingruppen-Soziolekte), den Mesolekt, d. h. die Varietäten des sozialen Makrokosmos (Regiolekte, Technolekte, Großgruppen-Soziolekte), sowie den Akrolekt, der die normierten Varietäten „der Öffentlichkeit im kulturellen Großraum“ (ebd., 73), d. h. die in Verwaltung, Medien, im Bildungssystem etc. verwendete Standardsprache, bezeichnet. So wird deutlich, dass die schon innerhalb einer Einzelsprache mehrsprachigen Repertoires von Sprechern und Sprecherinnen eine wichtige Voraussetzung sind für gelingende Kommunikation in verschiedenen Lebensbereichen und gesellschaftlichen Sphären.
Moreover, multilingual competence and behaviour is a highly salient characteristic of human society, and in the modern world it is such an integral and crucial component that without contemporary global human society simply would not function. (Aronin/Singleton 2012, 187)
Mehrsprachige Repertoires und Kompetenzen bilden daher eine der Grundvoraussetzungen für den Ausdruck, das Verhandeln und die Darstellung unserer vielfältigen individuellen, sozialen und kulturellen Identitäten. Zu diesen Zusammenhängen vgl. auch Roelcke, Beitrag 1, Gövert/Havkić/Settinieri, Beitrag 2 und B. Busch, Beitrag 3 in diesem Band.
3 Zusammenhänge 3.1 Kulturelle Identität In der anthroplogischen Forschung besteht die Forderung, Kultur von Identität und Ethnizität zu unterscheiden (Brumann 1999, 1, 11), da ansonsten die Gefahr der Essenzialisierung, Absolutisierung oder gar Abschottung von Kulturen bestünde. Dass Kulturen keineswegs an bestimmte Ethnizitäten oder kollektive Identitäten gebunden sind (vgl. ebd.), ist unbestreitbar und evident. Allerdings bilden sich durch geteilte Praktiken und Handlungsweisen im Zusammenleben von Gemeinschaften kulturelle Identitäten heraus. Aus der Sicht des Individuums bedeutet dies die Entwicklung des Gefühls einer Zugehörigkeit zu einer Kultur, aus der Perspektive des Kollektivs hingegen bezieht sich dies auf das Zusammengehörigkeitsgefühl einer in kultureller Hinsicht auf ähnliche Weise geprägten Gruppe. Unter den Gruppenmitgliedern bilden sich im Laufe der Zeit geteilte Werte, gewisse religiöse Vorstellungen, Haltungen, gemeinsame Ideen, Konzepte, Sprechweisen und Kommunikationsformen heraus, d. h. für die Gemeinschaft bedeutsame nicht-materielle und materielle Elemente. Zu letzteren zählen Denkmäler und architektonische Werke. So lässt sich in vielen europäischen Gesellschaften in jüngerer Zeit eine starke
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Tendenz zur Abkehr von der eigenen jüdisch-christlichen Tradition hin zum Agnostizismus und Atheismus vieler ihrer Mitglieder beobachten, wovon die zahlreichen Kirchenaustritte etwa in Deutschland zeugen. Daher sind heute religionsferne Weltanschauungen Merkmal vieler nord- und westeuropäischer Gesellschaften und der betreffenden Kulturen. Dies zeigt, dass Kulturspezifika innerhalb einer Gruppe dynamischem Wandel unterworfen sind; Kontinuität ist keinesfalls als stabiles Merkmal von Kulturen anzusehen. Als typisch für die Mitglieder einer Kultur gilt etwa auch die Art und Weise, Emotionen auszudrücken, wobei es im Hinblick auf alle kulturellen Spezifika gilt, stereotype Vorstellungen und Erwartungen an die jeweiligen Gruppenmitglieder zu vermeiden. Dennoch wird sich in Bezug auf jede Kultur ein Bündel von – nicht durch alle, aber viele Mitglieder der betreffenden Gemeinschaft – geteilten kulturellen Besonderheiten feststellen lassen, die gemeinsam zentral für die kulturelle Identität der betreffenden Gruppe sind und die sie in ihrer spezifischen Ausprägung von anderen Gruppen unterscheiden. Hervorzuheben ist, dass das hier vorgeschlagene Konzept der kulturellen Identität nahezu alle Merkmale aufweist, die in Abschnitt 2.1 als kennzeichnend für das Phänomen der Identität aufgelistet wurden: Kulturelle Identität hat einen sozialen und einen personalen Aspekt, sie kann sprachlich (durch interaktive und textuelle sprachliche Kommunikation, vgl. auch D. Busch, Beitrag 4 in diesem Band) und nichtsprachlich (durch Gesten, Mimik, nichtmaterielle Objekte etc.) ausgedrückt und vermittelt werden, sie umfasst gegebene, d. h. tradierte und neue hinzukommende oder durch Veränderung (der vorhandenen) entstehende Elemente. Kulturelle Identität kann aus der Innenperspektive, d. h. durch Mitglieder der betreffenden Gemeinschaft, oder aus der Außenperspektive beobachtet, beschrieben und untersucht werden, sodass sie auch den Prozessen der Selbst- und Fremdpositionierung unterliegt. Unser Zeitalter ist durch ein zunehmendes Aufeinandertreffen, durch die Koexistenz und teilweise Vermischung von Kulturen gekennzeichnet, sodass insbesondere in sogenannten Einwanderungsgesellschaften, etwa im Falle von Migranten und Migrantinnen und mehrsprachigen Personen, plurikulturelle Identität eine typische Erscheinung ist. Mehrsprachigkeit ist dabei Voraussetzung oder zumindest sehr häufige Begleiterscheinung plurikultureller, d. h. in mehreren kulturellen Kontexten verankerter Identitäten. Dabei lässt sich beobachten, dass je nach politischer Gesinnung und Weltanschauung von verschiedenen Lagern entweder das Zeitalter der Multikulturalität verkündet wird, oder aber zu einer Besinnung auf die eigene kulturelle Identität aufgerufen wird (vgl. Scholz 2008, 35).
3.2 Plurikulturelle Kontexte In der heutigen, durch Migration und Mobilität sowie Globalisierungsprozesse charakterisierten Welt wird der sogenannte ,interkulturelle Zustand‘ (intercultural condition)
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bzw. Plurikulturalität als aktuelle conditio humana (Leggewie/Zifonun 2010, 14) angesehen. Dabei scheint es aus terminologischer Sicht geboten, zwischen den miteinander verwandten Begriffen Plurikulturalität, Multikulturalität, Interkulturalität und Transkulturalität zu unterscheiden. All diese Termini beziehen sich zunächst auf das Phänomen der Begegnung und/oder Koexistenz der Mitglieder verschiedener Kulturen, die in einem bestimmten historischen, gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und kulturellen Kontext aufeinandertreffen. Allerdings implizieren die genannten Begriffe unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der Merkmale des betreffenden Prozesses selbst sowie hinsichtlich der Konsequenzen des Aufeinandertreffens von Kulturen bzw. der Träger und Trägerinnen kultureller Identitäten. Zunächst einmal ist festzustellen, dass jedes Zusammentreffen von Kulturen innerhalb eines bestimmten gegebenen kulturellen Kontexts stattfindet, der die betreffenden zwischenkulturellen Prozesse maßgeblich beeinflusst. Die Termini Plurikulturalität und Multikulturalität sollen für die Zwecke dieses Beitrags synonym verwendet werden und die Koexistenz verschiedener Kulturen bezeichnen, wobei eine kulturelle Veränderung oder wechselseitige Einflussnahme der Kulturen aufeinander möglich ist, aber nicht zwangsläufig erfolgen muss. Interkulturalität kann im Anschluss an Wierlacher (2003, 25 f.) als Wissenschaftspraxis – und folglich auch als Lebenspraxis – bezeichnet werden, die „Kulturunterschiede mitdenkt und somit zugleich über Kulturgrenzen hinausdenkt“ (ebd.). Voraussetzungen für diese Sichtweise, die für die Interkulturelle Germanistik im Anschluss an Wierlacher (ebd.) kennzeichnend ist, sind die Fähigkeit zur Distanzeinnahme von Seiten der Teilnehmenden in interkulturellen Begegnungen und die Bereitschaft zur Beziehungsgestaltung. Typisch für solche Prozesse sind Kommunikationssituationen, die auf dem Weg der wechselseitigen Bewusstwerdung (Abhebung) der kulturellen Annahmen zustande kommen und die Handelnden im kommunikativen Handlungsspiel sowohl zu teilnehmenden Beobachtern als auch zu Mitspielern werden lassen, die sich in ihren Sehgewohnheiten und ihrem Weltwissen gegenseitig ergänzen und kulturelle Gemeinschaftspositionen konstituieren, die verstehens- und verständigungsrelevant sind, weil sie Interdependenzen zwischen den agierenden Identitäten als Alteritäten entstehen lassen, die Teilhabe an Gemeinsamkeiten stiften und für alle Partizipierenden eine Veränderung ihrer selbst mit sich bringen. (Wierlacher 2003, 25 f.)
Im Falle von interkulturellen Begegnungen und Situationen kommt es demnach zu einer wechselseitigen kommunikativen, perspektivischen, handlungs- und identitätsbezogenen Beeinflussung der Beteiligten. Zwei konträre Sichtweisen bestehen in Bezug auf das Phänomen des zwischenkulturellen Austauschs und Zusammenlebens: Zum einen gibt es Stimmen, die im Sinne einer neuen Transkulturalität (Welsch 1999) von einem Ineinandergreifen und Vermischen der Elemente verschiedener Kulturen ausgehen, wobei kulturelle Abgrenzungen und die Idee einer homogenen, national geprägten ‚Leitkultur‘ als obsolet gelten, da in aktuellen gesellschaftlichen Kontexten verschiedene Kulturen miteinander
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verschmelzen. Diversität, sogar Superdiversität (vgl. Blommaert/Spotti/Van der Aa 2017, 350) gelten in diesem Zusammenhang als neue gesellschaftliche und wissenschaftsmethodologische Paradigmen, die kulturelle, sprachliche, ethnische usw. Vielfalt, Komplexität und Hybridität als gesellschaftliche Norm ansehen, was vor allem von Autoren und Autorinnen aus dem poststrukturalistisch und postkolonial orientierten Lager geäußert wird (vgl. z. B. die Beiträge in Canagarajah 2017). Zum anderen werden insbesondere aus politischer Perspektive Bedenken geäußert, das gesellschaftliche Projekt des Multikulturalismus sei „verfehlt und gefährlich, weil e[s] – zumindest implizit – auch die Relativierung, möglicherweise sogar die Negation der eigenen kulturellen Identität einschließt“ (Scholz 2008, 39). Hier ist auch die berühmte Aussage von der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel einzuordnen, die am 16.10.2010 auf dem Deutschlandtag der Jungen Union in Potsdam erklärte: „Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert, absolut gescheitert!“ (vgl. Schrader 2010). Ohne weiter auf gesellschaftspolitische Implikationen des unbestreitbar vorhandenen Zustands der oben definierten, gesellschaftlichen Plurikulturalität eingehen zu können, bleibt festzuhalten, dass Prozesse wie Migration und Globalisierung zum Beispiel in den skandinavischen Ländern, in Großbritannien und auch in Deutschland Politik, Bildungssystem und Wissenschaft vor neue Herausforderungen stellen. Dabei ist es eine besondere Aufgabe auch sprachwissenschaftlicher Forschung, Zusammenhänge von Spracherwerb, Mehrsprachigkeit (vgl. dazu Gövert/Havkić/Settinieri, Beitrag 2 in diesem Band) und Identitätskonstitution in plurikulturellen Kontexten zu untersuchen.
3.3 Beispiel: Kroatischstämmige in Deutschland Die oben theoretisch und terminologisch erörterten Zusammenhänge werden im Folgenden am empirischen Beispiel einer Gruppe von Migranten und Migrantinnen im deutschen plurikulturellen gesellschaftlichen Kontext konkretisiert. Die Einwanderung von Menschen verschiedener kultureller, ethnischer und nationaler Herkunft nach Deutschland erfolgte in den 1950er Jahre in Folge der Anwerbung von dringend gebrauchten Arbeitskräften, die sich insbesondere aus Griechenland, Spanien, der Türkei, dem ehemaligen Jugoslawien und anderen Ländern in der Bundesrepublik meist dauerhaft ansiedelten. Die Arbeitsmigration ließ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wellenartig nach und nahm wieder zu. In jüngerer Zeit besteht die Tendenz, etwa Fachkräfte im IT-Bereich für den deutschen Arbeitsmarkt anzuwerben (vgl. Brodmerkel 2017). Auch in anderen Segmenten, wie z. B. dem Baugewerbe, gibt es Bedarf für Zuwanderung aus dem Ausland, da in Deutschland aufgrund des demografischen Wandels nicht mehr genügend Arbeitskräfte zur Verfügung stehen (werden). Auch durch die Einwanderung von Geflüchteten aus verschiedenen Krisengebieten der Welt, etwa aus Syrien, hat sich die deutsche Gesellschaft in den vergan
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genen Jahrzehnten in einen ‚plurikulturellen Kontext‘ verwandelt, in dem Angehörige verschiedener Herkunftskulturen aufeinandertreffen. So lebten laut Mirkozensus des Statistischen Bundesamtes (vgl. Statista 2018) Ende 2018 rund 10 915 000 Ausländer in Deutschland, mit stark steigender Tendenz in den vergangenen zehn Jahren, d. h. mit einem Zuwachs um mehr als 60 %, vor allem infolge der sogenannten Flüchtlingskrise in den Jahren 2015 und 2016. Politik und Bildungssystem haben die deutsche Einwanderungsrealität lange Zeit nicht (an)erkannt und insbesondere im bildungspolitischen Bereich entsprechend langsam mit der Einführung etwa spracherwerbsbezogener Maßnahmen reagiert. Menschen kroatischer Herkunft sind seit dem 20. Jahrhundert in drei großen Wellen nach Deutschland eingewandert: zunächst als Gastarbeiter und -arbeiterinnen im Zuge der Anwerbung von Arbeitsmigranten und -migrantinnen in den 1950er und 1960er Jahren, dann während des Krieges in Kroatien von 1990 bis 1995 und seit dem Beitritt Kroatiens zur Europäischen Union im Jahr 2013. Seitdem ist ein stetiger Zuwachs der Zuwanderung aus Kroatien zu verzeichnen und die Zahl der kroatischen Staatsangehörigen und Kroatischstämmigen in Deutschland wird auf ca. 400 000 geschätzt (vgl. Kroatischer Weltkongress 2020), sodass sie die fünftgrößte Gruppe von Migranten und Migrantinnen bilden. Im Rahmen eines Forschungsprojekts zur kroatischen Sprache unter DiasporaSprechern und -Sprecherinnen weltweit wurden im Jahr 2016 in Hannover mit Hilfe verschiedener Erhebungsmethoden Daten zu Kroatischsprechern und -sprecherinnen, zu ihrem Sprachgebrauch, ihren Spracheinstellungen und verschiedenen deutsch-kroatischen Sprachkontaktphänomenen erhoben (vgl. Kresić Vukosav/Šimičić 2021; Kresić Vukosav 2021 und Vukosav/Kresić Vukosav 2021a). Zu den wichtigsten Erkenntnissen dieser Untersuchung gehört, dass mit zunehmender Generationszugehörigkeit (Generation 1: in Kroatien geborene Teilnehmer und Teilnehmerinnen; Generation 2: die Kinder von Generation 1, überwiegend in Deutschland geboren; Generation 3: die Kinder von Generation 2, durchweg in Deutschland geboren) ein zunehmender Sprachverlust bezogen auf das Kroatische zu beobachten ist, während insbesondere der Sprachgebrauch unter Angehörigen von Generation 2 verschiedene Formen der Sprachmischung aufweist (vgl. Kresić Vukosav/Šimičić 2021). Dieses gemischtsprachliche Sprechen ist als kreativer Ausdruck der plurikulturellen Identität und Zugehörigkeit der betreffenden Sprecher und Sprecherinnen zu werten. Im Rahmen von halbstrukturierten Interviews mit einzelnen Mitgliedern der 2. Generation kroatischer Migranten und Migrantinnen und im Rahmen einer mit ihnen durchgeführten Fokusgruppe konnten dabei aufschlussreiche Einsichten zur Frage der kulturellen Identität dieser Sprecher und Sprecherinnen im plurikulturellen gesellschaftlichen Kontext in Deutschland gewonnen werden. Ein wichtiger Aspekt waren dabei Reflexionen hinsichtlich des relativ hohen Grades an Integration und des damit einhergehenden Sprachverlusts, auch im Vergleich zu anderen Migranten und Migrantinnen, wie der folgende Auszug aus einem Interview mit einer 42-jährigen Angehörigen der 2. Generation illustriert:
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(1) Ich glaube, dass die Deutschen uns [Kroaten und Kroatinnen, M.K.V.] tolerieren und respektieren […]. Wir stellen unsere Sprache vielleicht hintenan, weil wir Angst haben, dass wir nicht gut genug Deutsch lernen, und sprechen daher zu Hause eher Deutsch als Kroatisch. Das habe ich auch erlebt. Die Türken sind da anders, die bewahren das Ihre. Sie lernen auf jeden Fall Türkisch.
Die Analyse des erhobenen Sprachmaterials hat dabei einerseits ergeben, dass sich die Konstitution der kulturellen Identität der Kroatischstämmigen bewusst im plurikulturellen Kontext, d. h. im Kontakt nicht nur mit der deutschen Mehrheitskultur, sondern auch im Kontakt mit den Herkunftskulturen anderer Migranten und Migrantinnen vollzieht, was sich im Material in Form von Vergleichen mit den Lebensweisen und Integrationsprozessen anderer Gruppen (s. o.) manifestiert. Andererseits erweist sich angesichts der Dominanz der deutschen Kultur im Fall der untersuchten Kroaten und Kroatinnen in Deutschland die Konstituierung kultureller Identität vorwiegend als bikultureller Prozess, der durch das ständige Positionieren und Aushandeln der eigenen Identität auf der Folie der Herkunftskultur und in Bezug zur deutschen Mehrheitskultur erfolgt. Plurikulturalität stellt sich aus der Perspektive des Individuums in einer solchen gesellschaftlichen Konstellation als Bikulturalität dar, was ein 42-jähriger Teilnehmer der 2. Migranten- bzw. Migrantinnengeneration in der o. g. Fokusgruppe auf folgende Weise beschreibt:
(2) Ich habe sicher kroatische und deutsche Identitätsanteile, auch wenn ich mich eher in Kroatien [...] als in Deutschland als Fremder fühle [...]. Wenn mich jemand fragt, woher ich komme, sage ich: Ich bin Kroate, aber Kroate aus Deutschland.
4 Fazit und Forschungsausblick Es wurde in diesem Beitrag dafür plädiert, die in der Literatur teilweise kontrovers diskutierten Begriffe Identität und Kultur nicht zu verwerfen, sondern die den betreffenden Phänomenen inhärente, potenzielle Pluralität und Komplexität konzeptuell in die Begriffsbestimmungen zu integrieren. Sie erweisen sich insbesondere deshalb als sinnvoll und brauchbar, weil sie terminologisch und konzeptuell widerspiegeln, was sich lebensweltlich erfahren lässt, und zwar die Identifizierbarkeit, Einmaligkeit, Besonderheit und Abgrenzbarkeit bestimmter kultureller Identitäten im Vergleich zu anderen. Auch sind die den Begriffen Kultur und Identität impliziten und notwendigen theoretischen Abstrahierungen keineswegs als Nachteile zu bewerten, sondern ermöglichen eine Konkretisierung bestimmter Identitäts- und Kulturmerkmale am jeweiligen Fall. Das Beispiel kroatischer Migranten und Migrantinnen und ihrer Identitäten im deutschen plurikulturellen Kontext zeigt, dass die gelebte Realität kultureller Identität komplexer sein kann als der abstrakte, möglicherweise Einheitlichkeit suggerierende Begriff der Identität auf den ersten Blick vermuten lässt: Es handelt sich um
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Identitäten, die zwischen mindestens zwei kulturellen Bezugs- und Ausgangspunkten gelebt, ausgedrückt und verhandelt werden. Für die Konstitution plurikultureller Identitäten ist das – häufig durch Sprachmischungen und Sprachwechsel gekennzeichnete – Sprechen, d. h. das zwei- und mehrsprachige Repertoire der betreffenden Sprecher und Sprecherinnen, von zentraler Bedeutung (vgl. auch Tracy, Beitrag 18 in diesem Band sowie Kresić Vukosav/Šimičić 2021 und Vukosav/Kresić Vukosav 2021a). Mit zunehmendem Sprachverlust bezogen auf die Herkunftssprache ist entsprechend eine Schwächung der Identifikation mit der Herkunftskultur zu erwarten, da die andere Kultur im Erleben und Handeln des betreffenden Individuums zunehmend dominant wird. Es mangelt an wissenschaftlichen Untersuchungen, die auf der Grundlage von Erkenntnissen breit angelegter empirischer Studien ein Konzept kultureller Identität erarbeiten, das die spezifische Funktion von Sprache und auch anderer, nichtsprachlicher Praktiken und Routinen für die Konstitution der Zugehörigkeit zu Kulturen erfasst. Insbesondere die Sprachwissenschaft kann dazu beitragen, die Rolle mehrsprachiger Kompetenzen und Sprachprofile in diesem Zusammenhang zu erhellen (vgl. hierzu Gövert/Havkić/Settinieri, Beitrag 2 in diesem Band). Des Weiteren stellen ebenfalls breit angelegte, quantitative und qualitative soziologische, psychologische und anthropologische Untersuchungen zu den folgenden Fragestellungen ein Desiderat dar: Kommt es und zu welchem Grad und auf welche Weise zu Vermischungen oder zur relativ unbeeinflussten Koexistenz kultureller Spezifika sozialer Gruppen und Individuen in plurikulturellen Kontexten? In Bezug auf diese Prozesse sind kulturspezifische Besonderheiten zu erwarten, insofern manche Kulturen für anderskulturellen Einfluss offener und durchlässiger sein dürften als andere. Zwischenzeitlich soll dem Begriff der Plurikulturalität vor anderen, verwandten Begriffen (vgl. Abschnitt 3.1) der Vorzug gegeben werden, da er das Zusammenleben von Menschen verschiedener Ausgangs- oder Herkunftskulturen impliziert und dies mit der Möglichkeit, aber nicht der Zwangsläufigkeit kultureller Veränderung oder wechselseitiger Einflussnahme der beteiligten Kulturen verbindet. Eine Beeinflussung der Akteure und Akteurinnen durch die dominante Umgebungskultur ist zu erwarten, es bleibt aber zu erforschen, ob und in welcher Wechselwirkung verschiedene, in einem bestimmten Kontext nichtdominante Kulturen zueinander stehen. Es kann jedoch sicher davon ausgegangen werden, dass es in plurikulturellen Begegnungen und Situationen zu andersartigen kommunikativen, handlungs- und identitätsrelevanten Verhaltensweisen der Beteiligten kommt, als dies in monokulturellen Begegnungen und Situationen der Fall ist. Translokalität und Mehrsprachigkeit stellen dabei kennzeichnende Merkmale plurikulturell verankerter Lebensentwürfe dar (vgl. Vukosav/ Kresić Vukosav 2021a).
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Marijana Kresić Vukosav
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Rosemarie Tracy
18. Gemischtsprachiges Sprechen: Formen, Funktionen, Dynamik Abstract: Das Verknüpfen von Elementen und Merkmalen verschiedener Sprachen innerhalb einer Äußerung gehört zur Lebenswelt mehrsprachiger Menschen. Obwohl die dafür notwendige Sprachbeherrschung und die Normalität gemischter Register von der Forschung nicht mehr infrage gestellt werden, geben uns Details dieses Verhaltens immer noch Rätsel auf. Ziel des Beitrags ist es, Forschungsfragen und Erkenntnisse bezüglich der Form und Funktion gemischter Äußerungen anhand deutsch-englischer Kontaktphänomene zu illustrieren sowie analytische und theoretische Herausforderungen aufzuzeigen. Verdeutlicht wird, was wir aus gemischtsprachigen Daten über die simultane Aktivierung, Konkurrenz und Kooperation mehrsprachiger Ressourcen bei der Sprachproduktion lernen können. Gemischtsprachige Performanz, so die zentrale Aussage, ist keineswegs beliebig, sondern sowohl funktional motiviert als auch systemgesteuert. Sie eröffnet privilegierte Einblicke in die Kompetenzen mehrsprachiger Sprecherinnen und Sprecher, in die Dynamik individuellen Sprachwandels und in menschliche Sprachfähigkeit im Allgemeinen. 1 2 3 4 5 6 7 8
Einleitung Sprachliches Mischen als Forschungsgegenstand Kontaktphänomene: Prototypen und Grauzonen Funktionales Potential Dynamik kompetenter Performanz Von Koexistenz und Konkurrenz zum individuellen Wandel Fazit und Ausblick Literatur
1 Einleitung (1)
KL: Weißt’, was mir eing’fallen is’? EL: Was? KL: I don’t know if you’re interested. Would you like to go to the dog races? Today they have matinee. EL: Aha, alright, why not? KL: Well, I mean, that’s up (.) t-to you. Maybe you lose ten Dollars, or maybe you gain twenty, I don’t know, you know. Des liegt bei dir, wenn’st meinst, du kannst zehn, fuchzehn Dollar äh verliern. EL: Des wer’ i’ no’ verkraften! [BEIDE LACHEN] KL: So, but da müss’mer aber dann um/ so um dreiviertel elf Uhr wegfahrn. (KL10)
https://doi.org/10.1515/9783110623444-018
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Dieser Dialogausschnitt illustriert, worum es in diesem Beitrag geht. Man erkennt Anteile von Englisch (kursiv) und bairischem Deutsch (recte), darunter englische (so, but, you know), deutsche (ne) und ambige (aha) Partikeln. Das Beispiel, ebenso wie die meisten in diesem Beitrag zitierten Belege, stammt aus DFG-geförderten Projekten (Sprachkontakt Deutsch-Englisch, Tr 238/3 u. 4, Lattey/Tracy 2001; Tracy/Lattey 2010; vgl. Tracy/Stolberg 2008 für Audioausschnitte). Zur besseren Lesbarkeit wurden hier und bei weiteren Belegen Satzzeichen eingefügt. Darüber hinaus verweist (.) auf kurze Pausen, / auf Satzabbrüche, – auf Abbruch im Wort; Siglen identifizieren Korpora. Dialektbedingte Aussprache wird gelegentlich durch standardnahe Formen in eckigen Klammern ergänzt. Es handelt sich bei (1) um ein in den USA aufgezeichnetes Gespräch. Die Sprecherin KL, zum Aufnahmezeitpunkt 80 Jahre alt, stammt aus Bayern und wanderte 1932 als Vierzehnjährige mit ihren Eltern und einer vier Jahre älteren Schwester in die USA aus. Englisch lernte sie erst dort. Ihre Gesprächspartnerin ist ihre sechzigjährige Cousine EL. Sie wurde in den USA geboren und erwarb bairisches Deutsch als Familienund sogenannte Herkunftssprache im englischsprachigen Majoritätskontext. Sie ging in New York zur Schule und lernte durch zusätzlichen Unterricht Lesen und Schreiben im Standarddeutschen. Nach ihrem Studium zog sie berufsbedingt nach Deutschland und kam nur zu Besuchen in die USA. Beide Gesprächspartnerinnen könnten problemlos entweder nur deutsch (standardnah und bairisch) oder nur englisch (General American und Brooklynese) miteinander sprechen. Warum tun sie es nicht? Aber suggeriert diese Frage nicht, dass ungemischtes Sprechen den Normalfall darstellt und Abweichungen davon einer Rechtfertigung bedürfen? Man könnte daher mit folgender Gegenfrage reagieren: „Warum sollten sich Mehrsprachige eigentlich auf einen Teil ihres Repertoires beschränken, wenn keine Person in der Nähe ist, die sich durch die eine oder die andere Sprache ausgeschlossen fühlen könnte?“ Schließlich variieren wir auch im (vermeintlich) einsprachigen Diskurs Stile, Register und Dialekte. Für die Gesprächspartnerinnen in (1) ist gemischtsprachiges Sprechen jedenfalls der typische und wechselseitig erwartete Stil vertrauter Kommunikation und entspricht dem, was die Forschung als bilingualen Modus (Grosjean 1982; 2008) und unmarkierte verbale Interaktion in mehrsprachigen sozialen Netzen anerkennt (Auer 1998; Földes 2005; Keim 2007; Muysken 2000; 2013; Myers-Scotton 2006; Romaine 1989; Treffers-Daller u. a. 2020). Angesichts der Reibungslosigkeit und der Geschwindigkeit des Wechsels zwischen Sprachen stellt sich aus psycholinguistischer Sicht eher die Frage, wie es Mehrsprachige bewerkstelligen, sich in monolingualen Kontexten auf nur eine ihrer Sprachen zu beschränken. Die Frage nach der Trennbarkeit sprachlicher Repräsentationen innerhalb unserer Kenntnissysteme und während des Produktionsprozesses kann im Folgenden zwar nicht beantwortet werden, wird aber immer wieder gestreift. Stattdessen werden Einblicke in qualitative Eigenschaften von Mischphänomenen vermittelt sowie analytische und theoretische Herausforderungen identifiziert. Gemischtsprachiges Sprechen – einige Male ergänzt durch schriftliche Belege – wird aus drei komplementären
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Perspektiven betrachtet: im Hinblick auf seine formalen Eigenschaften, seine funktionale Leistung im Diskurs sowie bezüglich dessen, was es uns über die Konkurrenz und Kooperation sprachlicher Ressourcen verrät. Mehrsprachige Sprecherinnen und Sprecher sind, wie schon Weinreich betont, der „ultimate locus of language contact“ (1953, 71) und eröffnen der Forschung Einblicke in ein polyphones Ganzes, das – ganz im gestaltpsychologischen Sinn – mehr ist als die Summe seiner Teile (vgl. Tracy 1996 für den bilingualen Erstspracherwerb). Die Struktur des Beitrags ist folgendermaßen. In Abschnitt 2 werden Begrifflichkeiten und methodische Aspekte besprochen. Abschnitt 3 stellt eine gängige Typologie sprachlichen Mischens und ausgewählte Erklärungsansätze vor. Abschnitt 4 unterstreicht das funktionale Kooperationspotential verfügbarer Ressourcen. Vor dem Hintergrund psycholinguistischer Modelle geht Abschnitt 5 auf Evidenz für lokale Konkurrenz und Monitoring ein. In Abschnitt 6 wird die Frage angeschnitten, was Kontaktphänomene der skizzierten Art zu unserem Verständnis individuellen Sprachwandels beitragen. Abschnitt 7 zieht ein Fazit und verweist auf offene Fragen.
2 Sprachliches Mischen als Forschungsgegenstand 2.1 Konzeptuelle Grundlagen Die von Weinreich vor 70 Jahren getroffene Aussage, „each speech event is in a definite language“ (1953, 7), trifft auf die in diesem Beitrag diskutierten Daten nicht zu, und zwar unabhängig davon, wie man sprachliches Ereignis definiert: als Gespräch wie in (1), als einzelnen Redezug, als Äußerung oder – auf abstrakterer Ebene – als Satz oder Wort. In einer weiteren Passage schreibt Weinreich: The ideal bilingual switches from one language to the other according to appropriate changes in the speech situation (interlocutor, topics, etc.), but not in an unchanged speech situation, and certainly not within a single sentence. (ebd., 56)
Diesen Anspruch erfüllen KL und EL nicht, ebenso wenig wie die Mitglieder vieler mehrsprachiger Sprachgemeinschaften. Aus Sicht der Sprachwissenschaft ist dies ein Glücksfall, weil es Licht auf eine bemerkenswert kompetente Performanz wirft. Während für viele mehrsprachige Gruppen sprachliches Mischen Ausdruck geteilter Identität ist und selbstbewusst praktiziert wird (vgl. Keim 2007), sehen andere Mehrsprachige das eigene Mischverhalten und das anderer kritisch. In (2), beispielsweise, mokiert sich die siebzigjährige LK – wie KL ebenfalls Deutschamerikanerin erster Generation – über die Wortform teacherin eines Gesprächspartners. Sie zitiert mit Zwei languages zusammenputten eine ironisierende Kollokation, mit der sich ihr deutschamerikanischer Freundeskreis selbst karikiert (Tracy/Stolberg 2008, 203; Stolberg/ Münch 2010).
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(2)
AS: Also war’n se da e junge Leh-/ e junge teacherin? [...] [LK-TELMA1] LK: Teacherin? Gibt’s sowas, e teacherin? Zwei languages zusammenputten!
Eigenes Mischverhalten wird nicht selten auf Wissenslücken oder Bequemlichkeit zurückgeführt. Romaine hatte vor 30 Jahren folgendermaßen auf die Diskrepanz zwischen Selbsteinschätzung und Forschungsstand hingewiesen: In general, it would not be correct to say that speakers code-switch or mix to fill lexical gaps, at least not in the case of fluent bilinguals [...]. Although it is popularly believed by bilingual speakers themselves that they mix or borrow because they don’t know the term in one language or another, it is often the case that switching occurs most often for items which people know and use in both languages [...]. (1989, 132)
Poplack (1980) konnte in Studien zu englisch-spanischem code-switching nachweisen, dass dichter, satzinterner Sprachwechsel insbesondere von denjenigen Sprecherinnen und Sprechern praktiziert wurde, die beide Sprachen auch im monolingualen Modus, also ungemischt, sehr gut beherrschten. Von fehlender Kompetenz als zentrales Motiv für die Mischung kann daher nicht die Rede sein. Die aktuelle Forschung hat sich von der Vorstellung perfekter Sprachbeherrschung, ob ein- oder mehrsprachig, entfernt, ebenso von der Ansicht, dass man nur dann ‚wirklich‘ mehrsprachig ist, wenn man von Geburt oder früher Kindheit an mit mehr als einer Sprache aufwächst und alle auf gleichem Niveau (ausbalanciert) beherrscht. Vielmehr wird in Abhängigkeit von der jeweiligen Lebenswelt, dem Minoritäts- oder Majoritätsstatus der Sprachen und der Verwendungsgelegenheit die Dominanz der einen oder anderen Sprache verständlich. Aufgegeben wurde auch die Erwartung, dass sich Mehrsprachige wie mehrfach Einsprachige verhalten sollten (Grosjean 1982, vgl. auch „Viel- und Mehrsprachigkeit“, Roelcke, Beitrag 1, und „Mehrsprachigkeit: Aspekte von Forschung und Messung“, Settinieri/Havkić/Gövert, Beitrag 2 in diesem Band). Die sprachlichen Fähigkeiten Einsprachiger werden auch nicht mehr als Goldstandard und geeignete baseline für die Sprachen Mehrsprachiger betrachtet, insbesondere dann nicht, wenn eine der Sprachen als sogenannte Heritage-Sprache erworben wird (Polinsky 2018). Ohnehin ist eine Dichotomie von Ein- vs. Zwei- oder Mehrsprachigkeit fragwürdig, weil das Gesamtrepertoire vermeintlich Einsprachiger bereits unterschiedliche individuelle Stile, schriftliche und mündliche Register und Dialekte, also ein ganzes Spektrum sprachlicher Varietäten umfasst: ein Fall sogenannter innerer Mehrsprachigkeit. Daher finden sich in den später angeführten Beispielen auch innerhalb deutscher Passagen standardnahe, umgangssprachliche sowie stark bairisch gefärbte Äquivalente (z. B. sin(d) wir, sin mir, san ma; ein(en), an, a). Daher ist es kein großer Schritt von der Idee eines Kontinuums, auf dem sich vermeintlich monolinguale, aber im Grunde schon multilektale Sprecherinnen und Sprecher souverän bewegen, hin zu einem Kontinuum, das die Koexistenz und Kombination typologisch unterschiedlicher Sprachen einschließt.
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Im Folgenden gilt als bilingual oder mehrsprachig – hier synonym verwendet –, wer in mehr als einer Sprache Alltagsgespräche führen kann (Myers-Scotton 2006, 65; Grosjean 2008, 10). Dabei werden die Termini gemischtsprachiges Sprechen, (code-)mixing/switching oder Mischung als Synonyme und Oberbegriffe für diverse Kontaktphänomene verwendet, von lexikalischer Entlehnung und Lehnübersetzung bis zu dichter struktureller Interaktion. Anstelle von Transfer und Interferenz wird von Interaktion gesprochen, um negative Konnotationen zu vermeiden (vgl. Clyne 2003, Odlin 2003). Wenn von code-switching die Rede ist, so ist damit nicht gemeint, dass der Wechsel von einer Sprache zur anderen über alle sprachlichen Ebenen hinweg in einem ,harten Schnitt‘, also gleichzeitig erfolgt. Nicht selten sind beide Sprachen über längere Strecken einer Äußerung parallel involviert, beispielsweise wenn die syntaktische Architektur eines Satzes der Grammatik einer Sprache folgt, die overte Lexikalisierung jedoch einer anderen. Lattey/Tracy (2001; 2005) sprechen bei solchen Phänomenen, traditionell als Lehnübersetzungen bezeichnet, von crossover. Anhand der später diskutierten Daten wird deutlicher werden, warum es schwierig oder gar unmöglich sein kann, bei gemischtsprachigen Äußerungen die Anteile der verfügbaren Sprachen klar zu differenzieren (vgl. Muysken 2000, 4; Földes 2005, 68 ff.; López 2020). Gemischtsprachiges Sprechen liefert vielfältige Evidenz dafür, welche Elemente und Strukturen unterschiedlicher Sprachen von ihren Sprecherinnen und Sprechern für hinreichend äquivalent gehalten werden, um miteinander zu konkurrieren und sogar zu konvergieren. Wir finden auch Belege für die Suche nach dem mot juste, einer optimalen Formulierung, für den Fall einer empfundenen Nichtäquivalenz oder lexikalischen Lücke. Spontansprachliche Performanz ist daher kein Störfaktor, von dem man abstrahieren müsste. Sie erlaubt sowohl Einblicke in Wissen von Sprechenden um feinteilige Kompositionalität von Ausdrücken als auch in die Durchsetzungsfähigkeit von Satzbauprinzipien. Sprachmischung ist zweifellos, wie von Gardner-Chloros in ihrem Buch über code-switching formuliert, „a goldmine for linguists because it highlights so many important questions about the relationship of languages to language“ (2009, 180), also Fragen hinsichtlich der menschlichen Sprachfähigkeit schlechthin. Darüber hinaus versprechen Mischphänomene Einblick in die Schnittstelle von sprachlichen und allgemeineren kognitiven Fähigkeiten und Improvisationspotential. Mittlerweile häufen sich Belege dafür, dass die Notwendigkeit, in einsprachigen Kontexten eine der aktivierten Sprachen zu unterdrücken und ihre Interaktion beim gemischtsprachigen Sprechen zu regulieren, dazu beiträgt, exekutive Prozesse der Selbststeuerung auch bei nicht-sprachlichen Aufgaben zu optimieren und kognitives Altern sowie pathologische Degenerationsprozesse hinauszuzögern (Anderson/Saleemi/Bialystok 2017; Abutalebi/Green 2008; Kroll/Bialystok 2013; Treffers-Daller u. a. 2020).
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2.2 Sprachkontrast Deutsch-Englisch Da nachfolgend sprachliches Mischen überwiegend anhand deutsch-englischer Kontaktphänomene illustriert wird, sei vorab an eine Auswahl relevanter typologischer Kontraste erinnert, vgl. Tabelle 1. Deutsch ist eine V2-Sprache mit Verbzweit-Effekten (Zeile A). Das heißt, dass unterschiedliche Konstituenten im Vorfeld – der Position vor dem finiten Verb im Matrixsatz – auftreten können (Max hatte das Buch schon längst gelesen. Das Buch hatte Max […]. Schon längst hatte Max […]. Lesen wollte Max das Buch schon längst.). In Ja/Nein-Fragen (Hast du das Buch gelesen?), Irrealis-Strukturen (Hättest du das Buch nur gelesen!) oder Topic-drop-Syntagmen (Hab’ ich doch längst.) bleibt das Vorfeld leer. Vor dem Vorfeld treten satzverknüpfende Elemente auf (Denn/Aber das Buch kannte Max nicht), ebenso Konstituenten, die im eigentlichen V2-Satz durch Anaphern aufgegriffen werden (Den Max, den kennt doch jeder.). Englisch hingegen ist eine (X)SVO-Sprache. An der linken Satzperipherie von Hauptsätzen treten Adjunkte und topikalisierte Objekte auf, in Tabelle 1 durch (X) gekennzeichnet (That book I’d never read! Last night I read a fascinating book.). Es gibt allerdings residuelle V2-Effekte, u. a. die Inversion von Subjekt und Auxiliar (What will you read?) oder intransitivem finitem Verb (Away raced the little pig. To the right stood a lamppost.). Die Position des finiten Verbs unterscheidet sich in deutschen Hauptsätzen und Nebensätzen, sofern letztere durch Konjunktionen und Relativpronomen eingeleitet werden (V2- vs. Verb-Endstellung, Zeile B: Ich habe das Buch gelesen, das du mir geschickt hast.). Im Deutschen stehen Komplemente vor nicht-finiten verbalen Köpfen; im Englischen folgen sie (Zeile C, Max hat Moritz das Buch vorgelesen. Max has read the book to Moritz.). Zeile D der Tabelle weist darauf hin, dass sich beide Sprachen in ihren morphologischen Merkmalen, insbesondere hinsichtlich Genus, Kasus und Verbflexion, signifikant unterscheiden. Der formalen Vielfalt des Deutschen steht im heutigen Englisch ein sehr reduziertes Inventar gegenüber. Dieser Kontrast ist relevant, weil aus dem Englischen entlehnte Nomen im Deutschen mit Genusund Kasusmerkmalen versehen werden müssen, markiert an Artikeln und Adjektiven innerhalb von Nominalphrasen.
Tab. 1: Auswahl von Kontrasten zwischen Deutsch und Englisch Kriterium
Deutsch
Englisch
A
V2-Effekte
ja: (X) V2 …
nein: SVO (nur residuell V2)
B
Haupt- vs. Nebensatz
V2 vs. V-End
SVO
C
Kopfplatzierung in der VP
Objekt V
V Objekt
D
Morphologie
reiche Paradigmen
reduzierte bzw. nicht vorhandene Paradigmen
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2.3 Methodische Aspekte Die Mehrsprachigkeitsforschung verfügt über ein umfangreiches Repertoire korpuslinguistischer, psycho-, sozio- und neurolinguistischer Methoden, von denen sich einige für die Untersuchung gemischtsprachigen Sprechens besonders eignen (Grosjean 2008; Gullberg/Indefrey/Muysken 2009; Wei/Moyer 2008; Isurin/Winford/de Bot 2009). Da die Bereitschaft zur Sprachmischung in hohem Maße kontextabhängig ist, lassen sich annähernd natürliche Bedingungen im Labor nicht leicht reproduzieren. Mittlerweile liegen Studien vor, die spezifische Mischtypen primen, indem sie die natürliche Tendenz von Sprecherinnen und Sprechern nutzen, in eigenen Äußerungen zuvor gehörte oder gelesene Muster zu reproduzieren (Kootstra/van Hell/Dijkstra 2009). Vielversprechend sind auch Experimente zum forced switching, wobei an bestimmten Stellen zu einem Sprachwechsel aufgefordert wird, u. a. um den mit dem Switch verbundenen zeitlichen Aufwand zu messen (Kroll/Gollan 2014) oder um Zusammenhänge zwischen sprachlichem Mischverhalten und dem Hin- und Herwechseln zwischen kognitiven Aufgaben festzustellen (Prior/Gollan 2011). Die meisten korpusbasierten Studien, in denen gemischtsprachiges Sprechen untersucht wird, basieren auf Audio- und/oder Videoaufnahmen und bedienen sich etablierter Methoden der Feldforschung und Konversationsanalyse (vgl. in Auswahl Auer 1998; Bullock/Toribio 2009; Clyne 2003; Földes 2021; Gardner-Chloros 2009; Myers-Scotton 2006; Muysken 2000; Pfaff 1979; Poplack 1980), idealerweise unter aktiver Beteiligung von Gruppenmitgliedern als (Ko-)Erhebenden, um Beobachterparadoxien zu reduzieren. Manchmal werden solche Daten durch gezielte Elizitationen ergänzt (z. B. durch Erzählungen zu Bildergeschichten, Nacherzählungen von Filmen, Assoziationstests, Übersetzungsaufgaben etc.). Andere Forschungsansätze setzen vor allem auf Akzeptabilitätsratings, die aufgrund des Einflusses normativer Einstellungen sowie begrenzter Einblicke in eigenes Verhalten mit Vorsicht zu interpretieren sind (vgl. die Diskussion in Alexiadou/Lohndal 2018; López 2020; MacSwan 1999; 2014). Angesichts der Abwägung methodischer Entscheidungen betonen Gullberg/Indefrey/Muysken (2009, 22):
The tension between naturalistic, ecologically valid approaches and more artificial, controlled experimental techniques should be recognized as a source of complementary information rather than as a (false) dichotomy between „good“ and „bad“ approaches to the study of CS [= codeswitching].
Die Komplexität des Untersuchungsgegenstands legt es nahe, Methoden zu kombinieren und Modellierungen anzustreben, die der Vielfalt kontinuierlicher, nicht-kategorialer Variablen Rechnung tragen (Treffers-Daller u. a. 2020). Die in diesem Beitrag angeführten deutsch-englischen Belege wurden im Rahmen einer korpuslinguistischen Longitudinalstudie erhoben (Keller 2014; Lattey/Tracy 2005, Münch 2006 Tracy/Lattey 2010; Tracy/Stolberg 2008). Sie basieren vorwiegend auf Alltagsgesprächen, die mit zwölf deutschen Ausgewanderten der ersten Generati
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on mittels teilnehmender Beobachtung (vor allem Ton-, einige Videoaufnahmen) über einen Zeitraum von sechs Jahren geführt wurden. Für einige Teilnehmende liegt ein handschriftliches Briefkorpus vor (Lattey/Tracy 2001). Bis auf Situationen, in denen sie explizit um Berichte von Ereignissen und Beschreibungen von Szenen auf Deutsch oder Englisch gebeten wurden und an Quasi-Experimenten (u. a. Assoziationstests, lautes Lesen ambiger Wortformen, Erzählungen anhand von Bildergeschichten) teilnahmen, waren Beteiligte frei in ihrer Sprachwahl. Alle Aufnahmen fanden im privaten Umfeld statt.
3 Kontaktphänomene: Prototypen und Grauzonen 3.1 Typologie gemischtsprachigen Sprechens: Überblick Sprachproduktion ist zwar intentional, aber wir haben als Sprechende keinen bewussten Einblick in die Details dabei ablaufender Prozesse und die zugrundeliegenden Wissenssysteme. Das Ergebnis – unsere Äußerungen, ein- oder mehrsprachig – sind dennoch systematisch und erstaunlich selten reparaturbedürftig (Levelt 1989; Fromkin 1973, Bock/Ferreira 2014). Was im Fall gemischtsprachigen Sprechens unter Systematik zu verstehen ist, lässt sich anhand der folgenden Klassifikation illustrieren: (a) Alternieren von Sprachen zwischen Redezügen, vgl. (1), (b) Alternieren an (Teil-)Satzgrenzen innerhalb gemischter Turns, (c) mehr oder weniger dichtes satzinternes Mischen. An diversen Stellen wird auf Entlehnungen (borrowing) hingewiesen, die allein oder in Kombination mit diesen Mischtypen belegt sind; sie werden vor allem aus funktionaler Perspektive in Abschnitt 4 behandelt. Kontroversen um den Status von Wörtern als borrowing oder code-switch bleiben ausgespart (Myers-Scotton 2006; vgl. auch Poplack 2018; zum Vergleich von Entlehnung und Transfer vgl. Treffers-Daller 2009), ebenso eine Detailbetrachtung wortinterner Mischformen, da dies eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Syntax, Morphologie und Lexikon erfordern würde (vgl. aber Alexiadou 2020; Alexiadou/Lohndal 2018; Grimstad u. a. 2018; López 2020).
3.2 Sprachwechsel im Gesprächsverlauf: Alternation von Turn zu Turn Der in (3) illustrierte Sprachwechsel zwischen Redebeiträgen von TG, der älteren Schwester von KL und bei der Auswanderung 18 Jahre alt, entspräche wohl am ehesten dem Verhalten ,idealer‘ bilingualer Sprecher und Sprecherinnen im Sinne Weinreichs. Dabei korreliert der Übergang zwar nicht mit einer situativen Veränderung – es
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handelt sich um ein Telefonat mit EL –, aber mit einem Themenwechsel (vgl. den längeren Ausschnitt in Lattey/Tracy 2005, 351; Eigennamen anonymisiert). (3)
TG: Sonst geht’s dir gut? EL: Ja, ja, kann mich nicht beklagen. TG: Wunderbar. EL: Ja. TG: Lisa was alright too, she had little John again.
(TG7)
Da der Fokus dieses Beitrags auf dem Sprachkontakt innerhalb von Redezügen liegt, wird der Wechsel an Turngrenzen nicht weiterverfolgt. Ausgeklammert bleibt daher auch die Forschung zur wechselseitigen Anpassung (Alignierung) der Sprachwahl.
3.3 Alternation an Satzgrenzen Die Erzählung in (4) enthält Belege für inter-sententiellen Sprachwechsel (vgl. Poplack 1980), sowohl zwischen Hauptsätzen als auch zwischen Haupt- und Nebensätzen/Komplementsätzen. Außerdem erscheinen in den deutschen Sätzen englische Einschübe: actually, zweimal office mit einem von der deutschen Grammatik verlangten genus- und kasusmarkierten Artikel, der nicht einem naheliegenden deutschen Äquivalent (das Büro) entspricht, zweimal der Diskursmarker you know. (4) [...] so then (.) der war verrückt (.), one day he said to me, Madam / er hat zu mir g’sagt Madam, actually, weil i schon verheirat’ war damals (.), kommen äh kommen Sie in die office rein, ne, so I went in, i hob mer denkt, Mensch, was hab’n i do [getan], dass der mich in der office seng [sehen] will, you know, na sagt er zu mir, Madame Antoinette, your slip is showing [lacht], na hab i mer denkt [gedacht], na is that all, you know [lacht], ach Gott, des war a spinnerter Kerl, sag ich dir. (TG2)
Sowohl Alternation als auch Entlehnung einzelner Lexeme lassen die satzinterne Syntax der beteiligten Sprachen unberührt. Bemerkenswert ist, dass der mehrfache Sprachwechsel ohne nennenswerte Verzögerungen oder Korrektur der Sprachwahl erfolgt. Offensichtlich liegen weder aus Sicht der Sprecherin Fehlleistungen vor, noch haben die anwesenden Personen Probleme, der Erzählung zu folgen. Die funktionale Motivation für diese Art der Sprachmischung wird in Abschnitt 4 verdeutlicht.
3.4 Satzinternes Mischen Das Mischen innerhalb von Sätzen, Poplacks (1980) intra-sententielles code-switching, lässt sich in einem ersten Anlauf wie folgt illustrieren. In (5), aus einer Studie von Backus (2009), wird ein niederländischer entlehnter Infinitiv (uitgaan, ausgehen) syntaktisch in einen finiten türkischen Satz integriert. In (6), aus Poplack (1980), erfolgt zu-
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nächst ein Wechsel zwischen einem englischen Infinitiv und seinem spanischen Komplement. In dem anschließenden spanischen Satz folgt dem finiten Verb (vivi) und einer spanischen PP eine englische PP. (5)
biz bugün uit-gaan yap-iyor-uz we today out.go.INF do.PROG.1pl (We’re going out today)
Backus (2009, 320)
(6) And from there I went to live pa' muchos sitios. Después vivien en la ciento diecisiete an vielen Orten. Dann lebte ich in der hundertsiebzehn with my husband mit meinem Mann Poplack (1980, 597)
In (7) erscheint eine englische NP als Komplement eines finiten deutschen Verbs. In (8) folgt eine komplexe englische Adjektivphrase einer finiten deutschen Kopula, während der anschließende Satz wiederum auf Deutsch realisiert wird. (7)
ich kauf mer the regular one
(KL22)
(8) und äh da waren Tische aufgestellt, die waren schon gedeckt, wie wir rein sind, die Frauen waren schon ready to serve the food, so ist schnell gegangen (TG3)
In (9) werden zwei koordinierte Hauptsätze durch temporale deutsche Präpositionalphrasen eingeleitet. Aber nur der erste Satz wird vollständig auf Deutsch realisiert, während im zweiten nach dem temporalen Adverbial um neun Uhr ein englischer SVO-Satz folgt. In (10) erscheint eine englische konventionalisierte Mehrwortverbindung (all of a sudden) im Vorfeld eines deutschen V2-Satzes. (9) […] dann um achte red i mit der Frau dahinten am Telefon und um neun Uhr I call Franz, and he is nice, he even fixed Lisa’s sprinkler system over there (TG2) (10) All of a sudden geht mir ein Licht auf
(TG11)
In (11) koordiniert and zwei in syntaktischer Hinsicht deutsche Hauptsätze. Der zweite wird allerdings von einem englischen temporalen Adverb (the next morning) eingeleitet, dem ein ambiges [dɛn] vorausgeht, das anhand der Aussprache (Verschlusslaut statt Frikativ) vom deutschen denn nicht unterschieden werden kann – daher hier die Wahl einer phonetischen Transkription. Vermutlich handelt es sich um die Neutralisierung von dann und then, d. h. um ein „homophones Diamorph“ im Sinne Clynes (1987, 2003). Das deutsche denn wäre aus Sicht des Standarddeutschen im gleichen Kontext in semantischer Hinsicht nicht kanonisch.
(11) und dann war ma [= waren wir] endlich in Oslo Norway auf d' Nacht and [dɛn] the next morning hob i mer denkt, Mensch, jetzt hoff ich, dass ma aber bald hoamkomme [TG2]
In (9) bis (11) ist der syntaktische Status der temporalen Adverbien dann/[dɛn] unklar. Stehen sie vor dem Vorfeld, d. h., liegt bei den Hauptsätzen eine V3-Struktur vor, wie
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sie im informellen Deutsch mit weil analog zu denn existiert (Antomo/Steinbach 2010; Freywald 2016; Reis 2013)? Oder sind die benachbarten Adverbialphrasen (um acht, the next morning) lediglich Adjunkte des jeweiligen Adverbs? In diesem Fall wäre die Gesamtstruktur wiederum kanonisch V2. Umgekehrt geht in (12) ein Satz nach einem deutschen Adverb und einem deutschen Subjekt englisch weiter, folgt also eigentlich von Anfang an der Syntax des Englischen, während die Sprecherin im anschließenden Satz (V2? V3?) ungeachtet des englischen Komplementierers because deutsch fortfährt. (12) [...] und scheinbar die Mutter wasn’t a good housekeeper because die war des von dahoam net g’wöhnt, dass man’n Boden putzen muss. (TG2)
Die oben angeschnittenen analytischen Details sind nicht trivial. Sie berühren auch die Frage, wodurch und wie rasch sich bei nachfolgenden Generationen von Sprecherinnen und Sprechern des Deutschen als Herkunftssprache die linke Satzperipherie in Folge von Sprachkontakt verändern kann.
3.5 Erklärungsansätze Das Spektrum der Erklärungsbemühungen reicht von der mittlerweile nicht mehr vertretenen Annahme einer dritten, auf gemischte Sätze ‚spezialisierten‘ Grammatik über universelle Beschränkungen des code-switching (Pfaff 1979; Poplack 1980; DiSciullo/ Muysken/Singh 1986) zu theoretischen Positionen, die im Wesentlichen auf Mechanismen setzen, die auch für monolinguale Grammatiken angenommen werden (vgl. für das Spektrum an Positionen Bullock/Toribio 2009; López 2020; MacSwan 2014; Muysken 2000; 2016). Ungeachtet theoretischer Kontroversen gibt es durchaus konsensfähige Grundannahmen. Sie betreffen: (a) die Begünstigung der Mischung durch syntaktische Parallelen, (b) die asymmetrische Beteiligung morphosyntaktischer Kategorien und Merkmale, (c) die Rolle von Kognaten und homophonen Formen, (d) die Entlehnbarkeit von Diskursmarkern und satzperipheren Konnektoren. Bereits vor Jahrzehnten hatten Pfaff (1979) und Poplack (1980) darauf hingewiesen, dass syntaktische Parallelen den satzinternen Sprachwechsel begünstigen – eine Beobachtung, die Poplack als equivalence constraint (1980) formulierte. Demzufolge wäre die Kookkurrenz von Konstituenten unterschiedlicher Sprachen innerhalb eines Satzes unproblematisch, sofern die Wortstellung in den anvisierten Satzbauplänen der beteiligten Sprachen (weitgehend) identisch ist. Muysken (2000; 2013) spricht diesbezüglich von „kongruenter Lexikalisierung”. Verkompliziert wird die Kongruenzhypothese dadurch, dass nicht alle Sprachpaare über annähernd vergleichbare Merkmale und Kategorien verfügen. Man denke an Klitika, leere Subjekte und Objekte, nicht-existente Artikel, Prä- vs. Postpositionen, divergierende nominale Klassifika-
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tions- und Kasussysteme, um nur einige Unterschiede zu nennen (Sebba 2009). Wie sich morphologische Unterschiede auf gemischte Phrasen und Wörter auswirken, ist ein aktuell intensiv diskutiertes Thema (Alexiadou/Lohndal 2018; Grimstad u. a. 2018; López 2020). Nun mag zwar syntaktische und morphologische Äquivalenz Sprachmischung begünstigen, aber Nichtäquivalenz verhindert sie nicht. Wie also kann man sich das Zustandekommen von (9) bis (12) erklären, obwohl wegen fehlender syntaktischer Parallelen ein Konflikt vorliegt? Für Muysken (2000; 2013) liegt die Lösung des Problems in der Wahl einer Basis-/Matrixsprache, in welche die zu dieser Sprache passenden Lexeme zeitverzögert eingefügt werden können (delayed lexicalization). Demnach erfolgt – hier metaphorisch formuliert – die Staffelübergabe vom Lexikon einer Sprache an das Lexikon einer anderen, nachdem ein Übergang auf syntaktischer Ebene bereits vollzogen wurde. Entsprechend wäre und um neun Uhr I call Franz insgesamt syntaktisch englisch, ebenso und scheinbar die Mutter wasn’t a good housekeeper. Auch Myers-Scotton/Jake (2009; 2017) gehen von einer Matrixsprache pro Satz aus, die einen uniformen hierarchischen Rahmen (Matrix Language Frame, MLF) und die Konstituentenfolge vorgibt (Morpheme Order Principle). Die Matrixsprache diktiert auch, welche Morphemtypen passend zur Sprache der jeweiligen Satzarchitektur ausbuchstabiert werden (System Morpheme Principle). Die Wahl lexikalischer Klassen (Nomen, Verben etc.) sowie semantisch relevanter Systemmorpheme (Artikel, Derivationsaffixe, Pluralmarkierung, einige Komplementierer und einige Präpositionen) ist konzeptuell motiviert. Sie werden daher bei der Planung früher aktiviert als andere (,späte‘) Systemmorpheme, die erst ins Spiel kommen, nachdem das syntaktische Gerüst, das ihre Form bestimmt, bereits erstellt ist, z. B. die Präposition of in einer komplexen englischen NP (the sound of music) oder der Komplementierer dass an der Schnittstelle von deutschem Haupt- und Komplementsatz. Gleichermaßen von der syntaktischen Architektur abhängig sind Flexions- und Kasusmorpheme (late outsider morphemes). Aus Sicht des MLF-Modells wären Fälle wie (9) bis (12) wohlgeformt, weil syntaktische Struktur und systemrelevante Morpheme von einer Matrixsprache, entweder Englisch oder Deutsch, diktiert werden. In einen Matrixrahmen können aber auch Inselkonstituenten (embedded language islands) einer anderen Sprache eingefügt werden, für deren interne Architektur die jeweilige Gebersprache ausschlaggebend ist. Daher folgt in der komplexen Adjektivphrase ready to serve the food in (8) das Komplement the food dem Infinitiv serve, wie es die englische Grammatik verlangt. Das MLF-Modell geht von der prinzipiell asymmetrischen Verteilung von Verantwortlichkeiten der beteiligten Sprachen aus (vgl. auch Boumans 1998 zum Status einer Matrix- bzw. Basissprache). Während die Matrixsprache von Satz zu Satz wechseln kann, determiniert sie das syntaktische und (weitgehend) das morphologische Geschehen innerhalb ihrer Strukturdomäne und damit auch die Form, in der die Lexeme beliebiger Sprachen letztlich realisiert werden können.
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3.6 Grauzonen, verdeckte Kontaktphänomene und Grenzgänger Das zuletzt illustrierte mixing fällt in eine von Myers-Scotton (2002) und MyersScotton/Jake (2009) als klassisches code-switching bezeichnete Kategorie. Daneben ziehen sie auch die Bildung einer composite matrix language in Betracht, bei der die Anteile beteiligter Sprachen kaum mehr zu identifizieren sind. Auch im Folgenden geht es um Mischungen, die für die linguistische Analyse besonders herausfordernd sind. Dabei spielt die lexikalische Ähnlichkeit – darunter vor allem der Kognatstatus, aber auch Homophonie/Homographie – eine wichtige Rolle, weil sie zum Entstehen sprachübergreifender Grauzonen (Clyne 1987, 755) beiträgt. Im Fall verwandter Sprachen, z. B. Deutsch, Niederländisch und Englisch, zeigt sich die schon im Zusammenhang mit (11) thematisierte Neutralisierung, die laut Clyne (1987; 2003) Sprachwechsel auslösen oder erleichtern kann. Die Problematik der Identifikation von Grauzonen lässt sich anhand der Beispiele (13) bis (20) verdeutlichen.
(13) Und was [ɪs] neu mit euch?
(TG7)
Hier bietet sich zunächst spontan eine Lehnübersetzung, ausgehend von And what’s new with you?, als Ausgangsbasis an. Eine idiomatische deutsche Entsprechung wäre Und was gibt’s Neues bei euch? Aber wurde in (13) tatsächlich ein englischer Fragesatz vollständig relexifiziert, nicht nur die PP with you? Oder handelt es sich nur um die Lehnübersetzung der AP new with you? Wurde vielleicht sogar nur die Präposition with durch mit ersetzt? Backus/Dorleijn (2009) diskutieren vergleichbare Fälle im niederländischen Türkisch und weisen darauf hin, dass verdeckte Interaktionen dieser Art in Korpora „unteridentifiziert” (ebd., 91) sind. Im Fall des deutsch-englischen Sprachkontakts eröffnet die Kopula der 3. Person Singular eine Grauzone besonderer Art, zumal stimmhafte Sibilanten des Englischen von Sprecherinnen und Sprechern mit L1 Deutsch nicht immer zielsprachlich realisiert werden. Daher überrascht es nicht, dass die Kopula, wie in (13) oben, besonders häufig an Übergängen beteiligt ist, vgl. (14) bis (15). (14) und des [ɪs] a plastic-cup.
(TG30)
(15) und des [ɪs] what I need yet, to get anaemic
(KL22)
In (9) bis (12) setzt sich die Sprache der Lexikalisierung über eine Satzgrenze hinaus bis in den Folgesatz hinein fort. Gleiches zeigt sich auch bei but und because in (16) und (17). (16) There were nice people in this world and äh was / it wasn’t easy but irgendwie / äh da hat sich’s rentiert, net? (TG2) (17) I don’t know why because so großartig warn die aa net, ne?
(TG2)
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Myers-Scotton/Jake (2009, 351) bemerken angesichts vergleichbarer Daten: „Most complementizers straddle two CPs. In this way, they are at the intersection between inter-sentential CS and intra-sentential CS.“ Obgleich but und because eine doppelte Brückenfunktion zu erfüllen scheinen, nämlich am Übergang von Sätzen und am Übergang von Sprachen, treten sie auch als Einzelgänger zwischen deutschen Sätzen auf (vgl. auch Eppler 1999). Dies legt nahe, dass sie, wie die später besprochenen Diskursmarker, bereits zu einem neutralisierten lexikalischen Repertoire gehören, vgl. (18) und (19). (18) Dann hab i rumg’schagt [rumgeschaut] für a Haus because damals ham mer grad a paar tausend Dollar kriagt [gekriegt] von der Tante Ida (TG4) (19) Ja, aber do you know warum? Because ihr in Deutschland habt jetzt viele englische Wörter (TG4)
Allerdings ist bei (18) einzuräumen, dass sich für a Haus rumschauen (statt nach einem Haus umschauen/umsehen) wohl der Kalkierung von look around for a house verdankt, so dass an diesem Satz bereits vor dem solitären because nicht allein das Deutsche beteiligt ist. Wie bei (13) stellt sich also die Frage nach dem Detail des Anteils beider Sprachen. Das Problem der Identifikation formaler Bestandteile zeigt sich deutlich, wenn koaktivierte idiomatische Wendungen konkurrieren. Keller (2014) analysiert Fälle wie (20), wo eine deutsche Kollokation (ans Ruder kommen) und ein englisches Äquivalent (come to power) überblendet werden. Bemerkenswert ist, dass die relexifizierte Präposition zum im zweiten Anlauf genus- und kasusmarkiert erscheint, also grammatisch kontrolliert wird. Die geschweiften Klammern in (20) weisen auf die Unmöglichkeit einer auditiven Differenzierung von when und wenn hin. Beachtenswert ist weiterhin, dass eigentlich statt wenn in diesem Zusammenhang als oder bairisch wie kanonisch wären. (20) I remember {when?wenn} der Hitler zu-zum äh Ruder gekommen is, da war’n wir noch drüben [T2]
Auf diese Graubereiche lexikalischer oder struktureller Art wird an späterer Stelle im Zusammenhang mit Fragen der Verarbeitung und des Wandels noch einmal eingegangen.
4 Funktionales Potential 4.1 Multifunktionalität Bühler hatte 1934 in seinem Organon-Modell die Gleichzeitigkeit multipler Funktionen eines Zeichens betont (1934/1965, 28): Als Symbol referiert und denotiert es, als
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Symptom drückt es – in Bühlers Worten – „Innerlichkeit“ aus; als Signal appelliert es an unser Gegenüber und dient „wie andere Verkehrszeichen“ der Steuerung (1934/ 1965, 28). Auch sprachliche Mischung leistet vieles gleichzeitig. Daher ist es oft unmöglich zu entscheiden, welcher Funktion Priorität eingeräumt werden sollte. Wer seine Sprachen mischt, konstruiert Identität und gibt sie preis, appelliert an Gesprächspartnerinnen und -partner als Teil eines ,wir‘ und liefert Kontextualisierungshinweise dahingehend, wie Äußerungen zu interpretieren sind. Aus mehrsprachigen Sprachgemeinschaften wissen wir, dass intensives code-mixing den unmarkierten Fall verbaler Interaktion darstellen kann und somit Teil konventionalisierter Rechte und Pflichten ist (Auer 1998; Földes 2005; Keim 2007; Myers-Scotton 2006). Ein Wechsel zu nur einer Sprache würde als markierte Wahl interpretiert, als Index von Distanzierung, Zurechtweisung oder Statusgefälle. Aber gemischtes Sprechen leistet über soziosymbolische Funktionen hinaus mehr, wie im Folgenden illustriert wird.
4.2 Borrowing mit und ohne Notwendigkeit Einleuchtend und funktional unspektakulär ist die Notwendigkeit einer Übernahme von Wörtern für neue kultur- und umgebungsspezifische Konzepte. Zu den englischen Wörtern, die in unserem Korpus in deutschen Passagen schriftlich wie mündlich häufig und ausschließlich auf Englisch verwendet werden, gehören fridge, icebox, subway, driveway, highway, cruise ship, gemischte Komposita wie Microwave [ou]fen, Laundry Besitzer, Verben wie volunteeren, supporten (Lattey/Tracy 2001). Dies betrifft auch Bezeichnungen für Nahrungsmittel und gesundheitsbezogene Themen, die erst im englischsprachigen Kontext angetroffen wurden, wie die medizinischen Termini, aber auch die beiden idiomatischen Wendungen am Ende von (21) von einer handschriftlichen Geburtstagskarte. (21) Man hat gefunden, dass ich ein Cyst hinter dem rechten Knie habe und ein leaking Valve am Herz. Never a dull Moment. Here’s to you! (schriftlich, TG19)
Neben Entlehnungen, die Lücken im Lexikon der L1 füllen (cultural borrowing), findet sich core borrowing, so genannt, weil im Kernvokabular der integrierenden Sprache und im Lexikon individueller Sprecherinnen und Sprecher Äquivalente vorhanden sind. Oft wird ein bereits vorhandenes Wort der aufnehmenden Sprache in seiner Bedeutung erweitert, wie in (22) im Fall von Platz, analog zu englisch place, Hyperonym für Gebäude, Geschäfte, Hotels, Restaurants. Thema ist der Verkauf einer Wäscherei. In (23) geht es nicht um aushorchen oder (etwas) heraus/raushören; vielmehr hat ein Vater kein offenes Ohr für Argumente seiner Kinder, basierend auf englisch hear someone out. (22) denn die Laundry Besitzer wollen den Platz verkaufen
(Brief, Lattey/Tracy 2001, 423)
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(23) und der hat sie gar nicht ausgehört
(KL22)
Die Identifikation semantischer Erweiterung und Verschiebung, z. B. Hochschule (Ursprung ist highschool) statt Gymnasium, setzt Kenntnis des Gesprächsinhalts und des situativen Kontexts voraus. Manchmal lässt sich nicht klären, ob es sich bei einzelnen Sprechenden noch um ein spontanes core oder cultural borrowing oder um ein bereits etabliertes Lehnwort handelt. Um eine valide Entscheidung treffen zu können, müsste man das idiolektale L1-Lexikon vor und nach der Auswanderung kennen. Gab es ein bestimmtes Konzept und eine dazugehörige Lexikalisierung schon in der L1? Zweifellos haben englische Äquivalente von bekannten L1-Lexemen in der Lebenswelt der Sprecherinnen größere Salienz, sind frequenter als deutsche Dubletten und müssen daher nur eine niedrige Aktivierungsschwelle überwinden. Sie haben, in den Worten Latteys (1979), höheres „utterance potential“.
(24) da auf der Straße der garbage, die die potato peels, alles war angefrorn
(TG-TELMA1)
(25) […] wie unser father immer g’sagt hat [...]
(KL10)
Sprecherinnen und Sprecher liefern oftmals selbst Antworten auf die (unausgesprochene) Frage, ob ihnen Äquivalente zur Verfügung stehen, z. B. in (26) und (27).
(26) da kannst auch rhubarb nehmen, ich mach's aa manchmal mit Rhabarber
(TG2)
(27) und alles war wunderbar, meine Familie war wirklich / ähm also blessed sagt man hier, gesegnet, nich? (GP1)
Aufgrund der Verwendung englischen Alltagsvokabulars in deutschen Sätzen oder eines verzögerten lexikalischen Zugriffs sollte man nicht voreilig auf die Attrition von L1-Lexemen schließen, ein Punkt, den auch Schmid (2011, 26) unterstreicht. Studien zeigen auch Revitalisierungseffekte, erkennbar am beschleunigten Zugriff auf lexikalische Einheiten, sobald der Input in einer länger nicht gesprochenen L1 wieder intensiviert wird (vgl. Stolberg/Münch 2010 zu den hier besprochenen Daten).
4.3 Diskursmarker, Konnektoren und weitere privilegierte Entlehnungen Die Integration von Diskursmarkern gehört zu den prominentesten Merkmalen gemischtsprachigen Sprechens (Boas 2010; Földes 2005; Fuller 2003; Matras 1998; Myers-Scotton/Jake 2009; Poplack 1980; Salmons 2003, um nur einige zu nennen). Muysken (2013) weist auf die emblematische Funktion von Diskursmarkern und anderen Fragmenten hin, die von mehrsprachigen Sprecherinnen und Sprechern einer Heritage-Sprache zum Zweck des back flagging, d. h. der kulturellen Verortung, produziert werden, auch wenn sie mittlerweile vorwiegend ihre Majoritätssprache verwenden. In
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den hier zugrunde gelegten deutsch-englischen Daten zeigt sich vor allem der Einfluss der L2, Englisch, d. h., man könnte eher von einer Art des forward flagging sprechen, einem Korrelat selbstbewusster amerikanischer Identität. Dabei treten auch in ansonsten deutschen Sätzen well, anyhow, anyway, so, you know, I mean, I guess besonders häufig auf, ebenso Interjektionen und emphatische Verstärker (oh my God! Gee! I tell you) sowie satzverknüpfende Lexeme, die konversationelle Züge verdeutlichen (z. B. but, [be]cause). Bei Diskursmarkern handelt es sich um ein syntaktisch heterogenes Set von Ausdrücken (einzelne Wörter unterschiedlicher Wortklassen ebenso wie Wortkombinationen, z. B. you know, s. o.), die Matras (1998) in Abhängigkeit vom jeweiligen semantischen Gehalt auf einer Skala pragmatischer Herauslösbarkeit (pragmatic detachability) lokalisiert. Sie sind weder an satzinterner Subkategorisierung oder Selektionsbeziehungen beteiligt, noch beeinflussen sie, von Reparaturausdrücken abgesehen, den Wahrheitswert von Sätzen. Einige Diskursmarker liefern Kontextualisierungshinweise und appellieren an vorausgesetztes Wissen und common ground. Gemeinsam mit (un)gefüllten Pausen weisen sie auch – unabhängig von Ein- oder Mehrsprachigkeit – auf Wortsuchprozesse und Reparaturbedarf hin und tragen insgesamt dazu bei, den Redefluss zu erhalten (Clark/Fox Tree 2002; Levelt 1989). In (28) tritt you know sogar wortintern zwischen deutscher Partikel und Verbstamm auf, während die Sprecherin nach einer deutschen Entsprechung von lift sucht. Die Rede ist von einer Schönheitsoperation; angemessen wären straffen oder – eigentlich naheliegend – die Entlehnung und morphologische Integration von lift zu liften.
(28) [...] aber dann müssen sie alles auf- you know aufheben
(KL2)
Die folgenden Belege zeigen gleich mehrere dieser Kontaktphänomene: In (29) kündigt die Sequenz äh I mean explizit eine Reparatur an. Danach folgt im Anschluss an die vergebliche Suche nach einem Hotelnamen eine selbstadressierte Frage auf Deutsch, schließlich well und anyhow als Hinweis auf den Verzicht weiteren Suchens und auf das Wiederaufgreifen des Erzählfadens. (29) Ihr Vater / äh, I mean, ihr Mann und ihr Bruder, they were waiters in ähm the Carlton, no, ah wie hat’n des glei wieder ghoassn [geheißen], on Seventy-first, dieses Hotel, well, anyhow […] (TG2)
Obwohl oft Diskursmarkern zugeordnet (u. a. Matras 1998; Fuller 2003), unterscheiden sich Lexeme wie but und because von syntaktisch flexiblen und semantisch vageren Diskurspartikeln auch durch ihre Position an der linken Satzperipherie, und weil sie zur Kohäsion und Kohärenz von Texten beitragen. Because ist für den deutschenglischen Sprachkontakt besonders interessant, da im Deutschen, wie bereits erwähnt, zwei homophone weil unterschieden werden (Antomo/Steinbach 2010; Freywald 2016; Reis 2013): ein Komplementierer-weil, dessen Präsenz in der linken Satzklammer das Vorrücken eines finiten Verbs im Nebensatz blockiert, und ein
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Hauptsatz-weil, das analog zu denn vor dem Vorfeld deutscher Haupsätze auftritt. Wenn deutsch-englisch Bilinguale nicht-kanonische deutsche Haupt- und Nebensatzstrukturen mit because produzieren, wie bereits oben angesichts von (12) und (17) bis (19) erwähnt, so liegt dies also nicht unbedingt am Einfluss des Englischen (vgl. auch Hopp/Putnam 2015 für eine deutsche Sprachinsel in Kansas). Entlehntes because kann ohne weitere Hilfe des Englischen in die Fußstapfen von denn/weil treten.
4.4 Echte und virtuelle Zitate Die Daten in (30) und (31) illustrieren die Instrumentalisierung eines Sprachwechsels im Kontext von Zitaten, wobei die Sprache des Zitats nicht der geschilderten Situation entsprechen muss. Die Unterhaltung, von der TG in (30) berichtet, wurde sechzig Jahre zuvor auf Deutsch geführt. In (31) beklagt sich KL über die aus ihrer Sicht unsinnige Verschreibung eines Medikaments. In diesem Fall handelt es sich nicht einmal um ein echtes Zitat, sondern um ein imaginiertes Selbstgespräch, das in einer idiomatischen deutschen Wendung endet. (30) dann hat sei Frau zu mir gesagt, why are you leaving us now? Da sog i, because I would like to laugh once in a while, und dann hats’ g’sagt, well, I’m here too an’ ich leb noch, hots’ gmoant [gemeint], na hab ich g’sagt, well, gee (TG1) (31) so I stopped it, I said to myself, die können mich gern haben
(KL22)
4.5 Hintergrundinformation Der strukturierende Mehrwert des code-mixing zeigt sich insbesondere in längeren Erzählungen, wenn der Hauptstrang in einer Sprache erfolgt und in der anderen Sprache Ergänzungen und Bewertungen vorgenommen oder Vergleiche und Folgerungen gezogen werden, vgl. dazu auch Beispiel (4) in Abschnitt 3.3. In (32) korreliert TGs Assertion ihrer Wertschätzung gegenüber einer erwähnten Person mit einem Sprachwechsel. In (33) drückt die deutsche Parenthese die anfängliche Abneigung gegenüber der New Yorker U-Bahn aus; in (34) wird auf negative Folgen übermäßigen Medikamentengebrauchs verwiesen. Beachtenswert ist hier wieder das Auftreten von Diskursmarkern und ambigen Lexemen an Übergängen. (32) und dann hot mei Doktor / der war von Hamburg, Doktor L., he was nice and I liked him very much, der hot zu mir gsogt, [...] (TG1) (33) und [dɛn] when we got on the subway / die subway hat uns aa net gfalln, you know / from Manhattan to go / but then when we got out in in the Bronx, there were trees [...](TG-TELMA1)
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(34) dann nehmen sie das und nehmen das andere vom anderen Doktor auch noch und [dεn] they go around like a zombie (KL22)
Dabei spielt es für die hier zitierten Sprecherinnen keine Rolle, welche Sprache die grundlegende ,Tonspur‘ einer Erzählung liefert. Sowohl Deutsch als auch Englisch können streckenweise die Verantwortung für den Hauptstrang einer Erzählung tragen, mit der jeweils anderen Sprache als Lieferantin ergänzender Information und Bewertung (Lattey/Tracy 2005; Tracy/Stolberg 2008).
5 Dynamik mehrsprachiger Performanz Entsprechende Ressourcen vorausgesetzt, erfordert jede Sprachproduktion nicht nur eine Wahl zwischen mehr oder weniger koaktivierten Ausdrucksoptionen, sondern auch die Synchronisierung von Einheiten auf vielen sprachlichen und paralinguistischen Ebenen (Phonologie, Prosodie, Morphologie, Syntax, Semantik, Pragmatik, Gestik). Unterschiedlichste Prozesse laufen sowohl inkrementell als auch parallel ab. Nach einem kleinen Vorsprung der konzeptuellen Planung (u. a. Thema, Intention, Sprechakt, Perspektivierung, Informationsstruktur) und der Aktivierung von Lemmata und Argumentstruktur werden syntaktische Formate konstruiert, die schließlich lexikalisch, morphologisch, phonologisch und prosodisch spezifiziert und seriell artikuliert werden (Levelt 1989). Mit zwei bis drei Wörtern pro Sekunde verläuft die Sprachproduktion rasant schnell und angesichts der angesprochenen Komplexität bemerkenswert störungsfrei (Bock/Ferreira 2014; Levelt 1989). Möglich ist dies, weil das meiste automatisiert erfolgt und keine bewussten Entscheidungen verlangt. Offensichtlich ist das für die Produktion in Echtzeit verantwortliche kognitive Monitoringsystem, an dem unser Verstehen beteiligt ist, hervorragend in der Lage, unerwünschte Konkurrenten rechtzeitig zu verwerfen oder Äußerungen im Fall eines Versprechers proaktiv (also noch vor dem Äußern) oder retroaktiv zu reparieren. Levelt bemerkt dazu: „Speakers can monitor for almost any output of their own speech“ (1989, 436). Versprecher führen meistens zu existierenden und vor allem durchweg möglichen Wortformen (d. h., es liegt ein lexikalischer Bias vor; Levelt 1989, 465). Echte syntaktische Fehlleistungen sind selten. Bock/Ferreira (2014, 25) bemerken daher, „the structural machinery of language continues to work when good messages go bad. This is the backbone of speech“. Von daher ist die Frage besonders interessant, wie wir damit umgehen, wenn auf Grund einer der beteiligten Grammatiken eine Struktur entsteht, die von der anderen nicht erwünscht ist. Was bewegt den Monitor zur Toleranz? Levelts Produktionsmodell wurde mittlerweile im Hinblick auf Mehrsprachigkeit erweitert (z. B. Clyne 2003; de Bot 1992; Kroll/Gollan 2014). Diese Modelle berücksichtigen auch die Erkenntnis der Worterkennungsforschung, dass der Zugriff auf das mentale Lexikon bei Mehrsprachigen ,nicht-selektiv‘, also nicht sprachspezifisch er
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folgt (u. a. Grosjean 2008; Kroll/Bobb/Wodniecka 2006; Kroll/Gollan 2014). Semantisch und/oder formal ähnliche Lexeme aktivieren einander sprachübergreifend. Gut sichtbar wird dies u. a. bei solchen Kognaten, die sich nur minimal prosodisch unterscheiden. In unseren Daten finden sich beispielsweise Überblendungen bzw. ,Kompromisslösungen‘, indem der Wortakzent mehrsilbiger Wortkonkurrenten doppelt realisiert wird: [ˈarˈmeː] anstatt [ˈarmi] oder [arˈmeː], ebenso [ˈkɔnfərˈens] sowie die Kombination von deutscher Phonologie und englischem Betonungsmuster, z. B. [jaˈpan]. Überblendet findet man auch captain und Kapitän in [kæpiˈtæ:n]. Weiterhin wird davon ausgegangen, dass mehrsprachige Sprecherinnen und Sprecher gleichzeitig mehrere Satzpläne entwerfen (Green 1998). Im Fall konfligierender Satzmuster, wie sie schon in Abschnitt 3 illustriert wurden, muss das System dazu in der Lage sein, die Satzarchitektur einer Sprache konsequent durchzusetzen, lexikalische Anpassungen vorzunehmen und unpassende Optionen zu inhibieren. Dabei eröffnen natürliche Gesprächsdaten die Gelegenheit, penibles Monitoring in Aktion zu sehen. Dies zeigt sich sogar grundlos in Situationen, in denen eigentlich ungehemmt gemischt werden kann, weil alle Gesprächspartnerinnen und -partner die beteiligten Sprachen verstehen, vgl. (35) und (36).
(35) they’re coming over for breakfast, I’m having pan-/ Pfannkuchen (36) I was hoffing äh hoffing äh hoping
(TG41) (TG2)
In (35) hätte die Sprecherin ihre Äußerung problemlos auf Englisch mit pancakes beenden können. Aber da sich amerikanische und deutsche Pfannkuchen de facto unterscheiden, mag die Wahl von Pfannkuchen als mot juste besonders gut motiviert sein. In (36) hingegen findet sich eine diskurspragmatisch unnötige Korrektur, die vielleicht dadurch zustande kommt, dass die Sprecherin präferiert englische Wörter in deutsche Sätze integriert und umgekehrt Entlehnung aus dem Deutschen eher vermeidet. Im Übrigen folgt die Form beider Interventionen exakt der von Levelt formulierten Hauptregel für Selbstkorrekturen: baldmöglichst (1989, 478: „Stop the flow of speech immediately after detecting trouble.“). Unabhängig von Ein- oder Mehrsprachigkeit zeichnet sich spontanes Sprechen durch Brüche der Flüssigkeit aus, die Hinweise auf Planungsprozesse liefern (Bock/ Ferreira 2014; Clark/Fox Tree 2002; Levelt 1989). Indikatoren sind gefüllte und ungefüllte Pausen, Silbenlängung sowie das Iterieren von Wörtern und Silben, ohne dass eine Korrektur intendiert wäre. Im mehrsprachigen Fall erfolgen Wiederholungen auch als Abfolgen von Dubletten und liefern somit besonders deutliche Hinweise auf Koaktivierung, vgl. (37) und (38). (37) die hat zu mir g’sagt, ich / I ca-/ ich kann dir nich mehr bezahlen
(TG2)
(38) I didn't even go in because ich / I could see that much
(KL2)
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Sequenzen dieser Art finden sich auch unter Einschluss dialektaler Formen, z. B. [aɪ], [ɪ] (= bairisch) und [ɪç] im Fall der 1. Person Singular; gleiches findet sich für andere Pronomina. Diese Interaktion zeigt, bei welchen Elementen es anscheinend besonders schwerfällt, Konkurrenten proaktiv zu unterbinden, was möglicherweise auch mit der Frequenz pronominaler Formen in (Ich-)Erzählungen zusammenhängt. In diesem Zusammenhang sei an die erwähnten minimal differierenden Dubletten then/dann bzw. ihre Neutralisierung [dεn] erinnert, da sie nicht nur in freier Variation, sondern auch in Kombination auftreten. In (39) befindet sich then zunächst am Übergang von Englisch zu Deutsch im Vorfeld eines deutschen Satzes. Beim zweiten Wechsel vom Englischen zum Deutschen folgt dem englischen then direkt ein neutralisiertes [dεn]. Diese Reihenfolge ist nicht zufällig: Die phonetisch ,deutschere‘ Variante korreliert mit dem anschließenden deutschen Satz. In (40) werden beide in genau dieser Abfolge durch and explizit koordiniert.
(39) Das war was, ach du liebe Zeit, and the funniest thing is then san ma von / ähm ja, I was with the Flying Tiger Line because there was no regular scheduled, you know, äh plan to / and then [dεn] sin mir nach / na hat der Käpitän g’sagt, wir müssn nach Norwegen (TG2) (40) and then and [dεn] ham mer nach Rom müssen
(TG2)
Dabei entspricht (40) einem von Levelt identifizierten Muster für Reparaturen (1989, 486 ff.), dem zufolge Reparandum und Korrektur koordiniert werden können. Offene Konkurrenz zeigt sich auch im Fall von when und wenn, vgl. (41). (41) dann denk ich oft, we-when people complain, was wir alles ham
(TG2)
Hier wird der labiodentale stimmhafte Frikativ des deutschen Komplementierers wenn, der die Sprache des vorangehenden Hauptsatzes fortführt, durch den bilabialen velaren stimmhaften Approximanten [w] eines englischen when ersetzt, sprachlich passend zur Parenthese, in die er syntaktisch gehört. Viele der angesprochenen Interaktionen spielen sich unterhalb der Bewusstseinsschwelle ab. Hinweise auf das Überschreiten von Aufmerksamkeitsschwellen zeigt sich, wenn Sprecherinnen und Sprecher länger nach Wörtern suchen und gegebenenfalls nachfragen. Besonders aufschlussreich sind Situationen, in denen sich Sprechende einer momentanen lexikalischen Lücke bewusst werden, ohne dass ein echter kommunikationsbedingter Bedarf entsteht. In Beispiel (42) geht es um einen solchen Fall. Die gesamte Unterhaltung wird hier auf Englisch geführt, bis es TG auffällt, dass sie sich an das deutsche Äquivalent eines soeben von ihr selbst produzierten englischen Worts (almond) nicht erinnern kann. Sie unterbricht sich und bittet auf Deutsch um eine Übersetzung (vgl. Lattey/Tracy 2005; Tracy/Lattey 2010 für die gesamte Sequenz).
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(42) TG: You go over the Thunder Pass and then you get up to Lake Tahoe from Sacramento, and that’s all äh / [leiser] wie sagt man äh zu almond in Deutsch? EL: Zu was? TG: [lauter] Almonds. EL: Äh, Mandel. TG: Mandelbäume ja, und die blühen schön und [dεn] äh you get up there and then you remember, you know, the story about the people that froze to death [...] (TG3)
TGs Anliegen wird von EL zunächst nicht verstanden, zumal in der englischen Unterhaltung nichts fehlt oder etwa unklar ist. Nach Erhalt des Übersetzungsäquivalents (Mandel) und einem weiteren deutschen Satz kehrt TG über das homophone Diamorph [dεn] wieder zu ihrem englischen Erzählstrang zurück. Anekdotische Evidenz dieser Art unterstreicht einmal mehr die Fähigkeit, das eigene Sprechen sehr engmaschig zu begleiten. Dabei finden sich in natürlichen Gesprächsdaten als Evidenz für Selbstmonitoring auch nicht-sprachliche Reaktionen auf eigene spontane Problemlösungen. Die Passage in (43) zeigt sowohl die lexikalische Suche (gefüllte und ungefüllte Pausen, Appell an Hörerwissen durch you know) nach einem Wort (Stiel) als auch die belustigte Reaktion angesichts ihrer semantischen Improvisation handle, mit der sich TG zu helfen weiß. Thema ist die Zubereitung von Bratäpfeln (vgl. Tracy/ Stolberg 2008). (43) ich tu sie oben (.) abschälen um um / äh äh you know w-wo der handle [ɪs] [kichert] und unten a bisschen, dann nehm ich den Kartoffel(.)schäler und tu das raus, das Kernhaus(TG41)
6 Von Koexistenz und Konkurrenz zum individuellen Wandel Im Fall langjährigen Sprachkontakts stellt sich über Echtzeit-Interaktionen der soeben geschilderten Art hinaus die Frage nach individuellem Wandel zugrundeliegender Wissenssysteme. Während sich die Syntax der hier zitierten Personen in ihrer L1 Deutsch als stabil erweist, zeigen sich durchaus systematische Veränderungen in Lexikalisierungsmustern, für die sich Lehnübersetzungen englischer Kollokationen als Ausgangbasis anbieten, wie z. B. (44) und (45), basierend auf take long (vgl. auch Keller 2014); (44) entstammt einem handschriftlichen Briefkorpus (Abkürzung im Original).
(44) Wie lange d. Post nun nimmt!
(Brief EE, 30.1.78)
(45) […] da hat man mit’m / mit der Eisenbahn von Zürich ja auch fahren können oder mit’m Schiff, mit’m Schiff hat’s a bissel länger genommen
(TG30)
Schmid (2011, 28) findet in ihren Daten deutscher Ausgewanderter vergleichbare Kollokationen, z. B. die Mühe nehmen, eine Lehnübersetzung von take the trouble. Zu den
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besonders salienten Veränderungen an der Schnittstelle von Lexikon, Semantik und Syntax gehört die Reduktion der Argumentstruktur, wie im Fall des Wegfalls von Reflexivpronomina, vgl. (46), wahrscheinlich unter dem Einfluss von engl. feel better. (46) [...] dass se meinen, dann fühlen se besser
(KL22)
Veränderungen der Argumentstruktur, die aus etablierten deutschen Sprachinseln im englischen Majoritätskontext bekannt sind (Stolberg 2014; 2015), lassen sich also schon in der ersten Auswanderergeneration belegen und werden damit Teil des Inputs und der Baseline der Folgegeneration. Dabei erweisen sich im Fall des hier zugrunde gelegten Korpus handschriftliche Briefe als besonders aufschlussreich. So zeigt (47) ein nachträglich eingefügtes Reflexivum. In (48) und (49) erkennt man sowohl die Optionalität der trennbaren Verbpartikel aus (analog zu look good/great) als auch den noch vorhandenen Korrekturbedarf. Alle Belege stammen aus Briefen derselben Verfasserin (Münch 2006, 142). mich (47) Glaube dass ich \/ besser fühle (48) die sehen toll aus, liebe U., du siehst auch gut. aus (49) Das Grab sieht so schön \/ .
Da das Schreiben größerer Kontrolle unterliegt als die mündliche Produktion, liefern solche Daten valide Hinweise auf konkurrierende Optionen und Neutralisierungen. In dem ebenfalls handschriftlichen Brief in (50) verknüpft and mehrfach englische und deutsche Konjunkte, und neben wenn tritt auch when im ansonsten deutschen Kontext auf (Lattey/Tracy 2001; orthographische Besonderheiten wurden beibehalten). (50) Alles Kristall and die Eiszapfen wie in Reih and Glied and erst wenn Die Sonne hin scheint; ein Glitzern eine Pracht, when man von innen rausschauen kann (E.E., 17.1.78)
Zu den deutlichen und semantisch relevanten Veränderungen gehört bei allen Teilnehmenden auch in den mündlichen Daten die nicht-kanonische Verwendung von wenn unter dem Einfluss von Englisch when, wo bei einem punktuellen vergangenen Ereignis im Standarddeutschen als und im Bairischen wie erwartet würde, vgl. (51) bis (53) (vgl. auch Schmid 2011, 33; Tracy/Stolberg 2008). In (52) ist anhand der Aussprache des Komplementierers keine Zuordnung zu [v] oder [w] möglich, hier durch {when?wenn} signalisiert. In (53) koexistiert wenn neben der bairischen Variante wie im letzten Nebensatz. (51) Die mussten immer im im Feld helfen im Sommer, wenn sie auch noch in der Schule war’n, ne? (TG41)
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(52) {when?wenn} mei Großmutter e Kind war, they used a lot of French words because in eighteen-seventy-two hat Bayern zu Frankreich g’heert [gehört] (TG1) (53) I never, you know, I never forget wenn er auf der Stiegn gstanden is, wie er-er auszogn is nachher (TG1)
Dabei zeigt sich in (52) im Anschluss an because auch die bereits erwähnte syntaktische Konvergenz mit den von weil/denn eingeleiteten deutschen V2-Sätzen.
7 Fazit und Ausblick Ziel des Beitrags war es, das Spektrum besonders salienter Kontaktphänomene, das sich in mehrsprachigen Gesprächskontexten manifestiert, sowie damit verbundene analytische und deskriptive Herausforderungen zu illustrieren. Da sich die Diskussion auf die Interaktion nah verwandter Sprachen beschränkte, blieben weitere typologische Konstellationen ausgeblendet. Die theoretische Relevanz gemischtsprachigen Sprechens und Schreibens besteht darin, dass es insbesondere dann Einblicke in Strukturbildung und Kompositionalität eröffnet, wenn konventionalisierte Muster einer Sprache durch sprachübergreifende Kombinationen aufgebrochen werden. Es ist nicht ohne Ironie, dass ein Bereich der Performanz, der auf den ersten Blick einen chaotischen Eindruck macht, in besonderer Weise dazu beitragen kann, architektonischen Prinzipien natürlicher Sprachen auf die Spur zu kommen. Sprachkontaktdaten der andiskutierten Art liefern auch Aufschluss dahingehend, wie und in welchen Bereichen sich sprachlicher Wandel einer L1 zunächst idiolektal ankündigt. Wie Backus (2009) betont, müssen Systemveränderungen irgendwo ihren Anfang nehmen, bevor sie sich ausbreiten können. Bei den hier zitierten Sprecherinnen zeigt sich individueller Wandel in Form eines erweiterten Spielraums und weist bereits in Richtung dessen, was wir aus etablierten deutschen Sprachinseln im Kontakt mit dem Englischen kennen (Boas 2010; Clyne 2003; Hopp/Putnam 2015; Stolberg 2014, um nur einige zu nennen). Wie eingangs erwähnt, hat die Forschung Fiktionen einer idealen Ein- und Mehrsprachigkeit und eine kategorische Unterscheidung beider zugunsten einer differenzierteren Sichtweise hinter sich gelassen. Sollte es nicht an der Zeit sein, wie bereits von Gardner-Chloros (1995, 65) angedacht, auch „den Mythos diskreter linguistischer Systeme“ aufzugeben? Zum gegenwärtigen Zeitpunkt würde die Antwort wohl lauten: Ja und Nein. Die Verhaltensoptionen mehrsprachiger Menschen zeigen zweierlei: Offensichtlich ist es der menschlichen Kognition problemlos möglich, Bestandteile unterschiedlicher sprachlicher Herkunft zeitgleich zu aktivieren und zu einem für das eigene Monitoring akzeptablen Ganzen, also zu bemerkenswert wohlgeformten Sätzen, zu verketten. Läge dann Weinreich mit seiner Aussage, „each speech event is in a definite language“ (1953, 7) vielleicht doch richtig, sofern man das Konzept einer „definite language“ im Sinne einer möglichen natürlichen Sprache, also einem prinzipiell
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zulässigen Kenntnissystem und ungeachtet seiner einzelsprachlichen Ausstaffierung erweitert? Andererseits haben wir gesehen, dass sich die gemischtsprachige Produktion innerhalb von Satzgrenzen durchaus eng an konkreten Merkmalen spezifischer einzelsprachlicher Grammatiken orientiert. Bemerkenswerterweise erweist sich flüssiges und dichtes mixing sogar für diejenigen als unproblematisch, die eine neue Sprache erst als Jugendliche und junge Erwachsene erwerben, wie im Fall der hier zitierten Daten. Dabei kommt dem Konstrukt Satz und seiner Architektur in der Sprachproduktion sowohl aus funktionaler als auch formaler Perspektive besondere Relevanz zu, da sich Kontaktphänomene überwiegend an oder in der Nähe einer Satzgrenze nachweisen lassen. Ein Vergleich ausgewählter Korpora der Schwestern TG und KL ergibt für alle Satzkonstituenten jeweils etwa 60 % inter-sententielles zu 40 % intra-sententiellem code-mixing. Zugleich zeigt die Diskussion von Graubereichen, homophonen Diamorphen und Diskursmarkern, dass eine klare Demarkation von Sprachen, Dialekten und Mischtypen nicht immer zuverlässig möglich ist. Doch was uns in der Forschung die linguistische Analyse erschwert, scheint Sprecherinnen und Sprechern die Navigation durch das Repertoire ihrer Optionen und insbesondere flüssiges Produzieren zu erleichtern. Abschließend sei noch die Frage angeschnitten, wie sich die geschilderte formale Systematik und das funktionale Spektrum überhaupt erst einmal herausbilden können. Offensichtlich sind die hier identifizierten Mischtendenzen weder auf frühe Mehrsprachigkeit noch auf gemischten Input als Modell angewiesen. Aus der Forschung zum doppelten Erstspracherwerb wissen wir, dass sich bereits in den ersten Wortkombinationen von Kindern sowohl differenzierbare Grammatiken als auch systematische, an dem jeweiligen Entwicklungsstand orientierte Mischphänomene manifestieren (vgl. die Beiträge in Döpke 2000; Gawlitzek-Maiwald/Tracy 1996; Tracy 1996, 2000; Tracy/Gawlitzek-Maiwald 2005; vgl. auch De Houwer, Beitrag 14 in diesem Band). Gemischtsprachiges Sprechen muss also nicht gelernt werden: Seine Form ist ,gratis‘, eine natürliche Konsequenz vorhandener Ressourcen. Es bietet uns über das gesamte Altersspektrum und alle Erwerbsarten hinweg sowohl aus formaler als auch funktionaler Perspektive ein spannendes Forschungsfeld, um nähere Einblicke in den Umgang des Gehirns mit seinen sprachlichen Ressourcen und seinem Improvisationsund Innovationspotential zu gewinnen.
Danksagung: Für hilfreiche Kommentare danke ich Csaba Földes, Dafydd Gibbon, Mareike Keller, Doris Stolberg und Johanna Tausch. Der DFG danke ich für die Förderung der Projekte, im Rahmen derer die zitierten Daten erhoben wurden.
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19. Mehrsprachiges Übersetzen und Dolmetschen Abstract: Fiktionale und nichtfiktionale Werke und Medienprodukte können in sich mehrsprachig sein, oft indem einzelne Einsprengsel oder längere Passagen in einer anderen als der Hauptsprache gehalten sind. Für eine Übersetzung oder eine Verdolmetschung einer solchen Vorlage ist die kommunikative Funktion der anderssprachigen Textelemente ausschlaggebend. Die Translationswissenschaft sucht keine für ganze Sprachsysteme gültigen Entsprechungsschemata, sondern wägt die kommunikative Funktion des Gesamttextes ebenso wie einzelner Abschnitte mit Blick auf die Zielrezipienten und ihr sprachliches und kulturelles Umfeld ab. Sie sucht auf dieser Grundlage nach einer adäquaten Wiedergabe in einer konkreten Kommunikationssituation. 1 2 3 4 5
Mehrsprachigkeit und Translation Mehrsprachige Ausgangstexte Translationsverfahren Fazit Literatur
1 Mehrsprachigkeit und Translation Übersetzen und Dolmetschen sind Tätigkeiten der vermittelten Kommunikation (Kade 1980, 15; Schubert 2007, 136) und werden im Deutschen seit Kade (1963) mit einem Oberbegriff auch als Translation bezeichnet. Mehrsprachigkeit spielt in der Translation in zweifacher Hinsicht eine Rolle. Zum einen ist Mehrsprachigkeit für die Translation konstitutiv, da es sich per Definition um Tätigkeiten handelt, bei denen ein Text aus einer Sprache in eine andere übertragen wird (Schreiber 1993, 24). Zum anderen gibt es eine ganze Palette an Kommunikationssituationen, in denen schon der zu übertragende Ausgangstext für sich genommen mehrsprachig ist. Von diesen Mehrsprachigkeitssituationen handelt der vorliegende Beitrag. Ich spreche der Einfachheit halber bei solchen Situationen von einer zweiten Ausgangssprache. Damit sollen auch Fälle gemeint sein, in denen keine der im Ausgangstext verwendeten Sprachen als erste Ausgangssprache dominiert, und auch Fälle mit einer dritten, einer vierten und weiteren Ausgangssprachen. Ehe der Gedanke weiterverfolgt werden kann, wie sich das Überführen von etwas Mehrsprachigem in eine andere Sprache theoretisch erfassen lässt, ist es notwendig, den Begriff andere Sprache näher zu beleuchten. Es gibt Formen der vermittelten Kommunikation, bei denen Ausgangs- und Zielsprache dieselbe sind. Diese Überhttps://doi.org/10.1515/9783110623444-019
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tragungsarten werden bisweilen als intralinguales Übersetzen oder Dolmetschen bezeichnet, so etwa, wenn ein Text aus dem Schweizerdeutschen ins Hochdeutsche oder aus dem Standarddeutschen in eine vereinfachte Sprachform gebracht wird. Bei der Einordnung solcher Übertragungen in die Translation beruft man sich auf der theoretischen Seite oft auf Schleiermacher oder Jakobson. Im Jahre 1813, in der Zeit, in der er das gesamte bekannte Werk Platons ins Deutsche übersetzt, hält Schleiermacher vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften einen in der heutigen Translationswissenschaft sehr berühmten Vortrag über zwei Methoden des Übersetzens, die mit in der späteren Rezeption geprägten Termini als einbürgerndes und verfremdendes Übersetzen bezeichnet werden. Schleiermacher (1813/1816) spricht in erster Linie über die Übertragung klassischer griechischer und lateinischer Texte literarischen oder philosophischen Anspruchs in das Deutsch seiner Gegenwart und entscheidet sich für diese Textsorten nachdrücklich für das verfremdende, also für das die sprachliche Form des Ausgangstextes nachahmende Übersetzen. Ihm geht es, wie vielfach in der Übersetzungsreflexion der Romantik (Kitzbichler 2009), um Fragen wie die Übertragbarkeit der gebundenen Form, insbesondere von Rhythmus und Versmaß, oder die bewusste Archaisierung des Zieltextes. In der Einleitung zu diesem Vortrag geht Schleiermacher auch kurz auf andere als die klassischen Textsorten und Kommunikationssituationen ein und erwähnt dabei, mit heutigen Termini ausgedrückt, auch Übertragungen aus Dialekten, Soziolekten und historischen Sprachstufen, die man heute manchmal als intralinguale Übertragungen sieht (Schleiermacher 1813/1816, 143; dazu sekundär Kitzbichler 2009, 53–63; Berner 2015). Jakobson unterscheidet „Intralingual translation or rewording“, „Interlingual translation or translation proper“ und „Intersemiotic translation or transmutation“ (alle Stellen Jakobson 1959/1966, 233). Der erste von Jakobson genannte Typ wird in deutschsprachige Arbeiten gern als intralinguale Übersetzung übernommen, wobei manche Autoren in einer für Translationswissenschaftler doch etwas überraschenden Weise stillschweigend und ohne kritische Diskussion das englische translation mit dem deutschen Übersetzung vollumfänglich gleichsetzen. Bei der Wiedergabe der Worte Jakobsons im Deutschen wäre es, wie mir scheint, durchaus am Platze, die drei Termini etwa im Hinblick auf Schreibers wohletablierte Begriffsunterscheidung zwischen Übersetzung und Bearbeitung zu positionieren (Schreiber 1993, 24–29, 81–82 und mehrfach). Jakobson selbst versteht unter intralingual translation primär eine Paraphrasierung durch Synonyme. Die deutsche Benennung intralinguales Übersetzen wird heute vor allem für Übertragungen zwischen der Standardsprache und zwei Arten von Sprachformen verwendet. Dies sind erstens durch ungelenkte und ungeplante historische Sprachentwicklung entstandene Varietäten wie Dialekte, Soziolekte und andere Gruppensprachen, die bei der Übertragung meist Ausgangssprache sind, sowie zweitens gestaltete Sprachen, die meist Zielsprache sind. Den Terminus gestaltete Sprache habe ich als Oberbegriff für Sprachen vorgeschlagen, die durch bewussten lenkenden Eingriff geschaffen oder modifiziert sind und bei denen der Lenkungsgrad höher liegt als bei der
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Hochsprachenstandardisierung oder der allgemeinen Sprachplanung (Schubert 2001; 2017; vgl. Schubert 2008; Suchowolec 2018). Von intralingualem Übersetzen in gestaltete Sprachen ist insbesondere bei den Reduktionsformen der barrierefreien Kommunikation und bei den regulierten Sprachen die Rede. Zur barrierefreien Kommunikation zählen insbesondere einfache Sprache (Baumert 2016; Schubert 2019), bürgernahe Sprache (Schubert 2013; Heidrich 2019, 145) und Leichte Sprache (Bock 2014; Bock/Fix/Lange 2017; übergreifend zu Sprachformen der barrierefreien Kommunikation: Schubert 2008; Oomen-Welke 2015; Baumert 2016). Die regulierten Sprachen werden in der technischen Fachkommunikation eingesetzt (Lehrndorfer 1996; Kuhn 2014; Suchowolec 2018). Zumindest in manchen englischsprachigen Arbeiten wird zudem auch bisweilen eine Bearbeitung eines Fachtextes zum Zweck einer zielgruppenorientierten Absenkung des Fachlichkeits- und des Fachsprachlichkeitsgrades als intralingual translation bezeichnet. Ein typisches Beispiel sind Medikamentenpackungsbeilagen, die nach EU-Vorgaben dieselbe Information einmal für den Arzt und einmal für den Patienten formulieren. Zethsen und Hill-Madsen (2016) ordnen dies als intralingual translation ein. Vaerenbergh (2003, 222) vertritt bei derselben Textsorte zur Frage der Einordnung als Übersetzung eine deutlich differenziertere Sicht. Ob in Kommunikationssituationen dieser Art aus einer Sprache in eine andere oder vielmehr aus einer Varietät einer Sprache in eine andere Varietät derselben Sprache übertragen wird, ist Definitionssache und hängt, wie ich glaube, primär von der Frage ab, ob man Ausgangs- und Zielsprachform als zwei unterschiedliche Sprachsysteme betrachtet, was ja eine Sache wohlbegründeter, aber letztlich willkürlicher Festlegung ist. Für die vorliegende Untersuchung stehen die Reduktionsformen der barrierefreien Kommunikation und der technischen Fachkommunikation ebenso wenig im Vordergrund wie die Fachsprachlichkeitsabsenkung. Dagegen kommen Dialekte, Soziolekte und andere Gruppensprachen häufig als zweite Ausgangssprache vor.
2 Mehrsprachige Ausgangstexte Bei der Translation geht es darum, einen Ausgangstext in einen Zieltext zu überführen. Welcher Art das Verhältnis zwischen den beiden Texten ist oder zu sein hat, ist Gegenstand jahrzehntelanger Debatten in der Translationswissenschaft. Sie kreisen um die Begriffe Äquivalenz und Adäquatheit. Die Literatur zu diesem Thema ist sehr umfangreich und vielfältig (einführend: Schreiber 1993, 29–36, 55–66 und mehrfach; Stolze 2018, 54–56, 89–106 und mehrfach; Koller 2004; ausführlich: Koller/Henjum 2020, 185–354). Will man eine sehr komplexe Debatte plakativ zusammenfassen, so kann man sagen, dass unter Äquivalenz meist eine semantisch orientierte Wiedergabe des propositionalen Inhalts der Sätze und Texte verstanden wird, unter Adäquatheit die Wiedergabe durch eine pragmatisch situierte Äußerung, die in Zielsprache, Ziel-
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kultur und Zielkommunikationssituation angemessen ist. Es sind zahlreiche andere Übersetzungstypisierungen vorgeschlagen worden, die sich jeweils auf eine duale Begriffsunterscheidung wie beispielsweise frei–wörtlich stützen. Einen Überblick gibt House (2004) und, auch mit weiterführenden Literaturangaben, Kitzbichler (2007). In einer vielfach als grundlegend anerkannten Klassifikation unterscheidet Koller fünf Typen der Äquivalenz: denotative, konnotative, textnormative, pragmatische und formal-ästhetische Äquivalenz (Koller/Henjum 2020, 251–320). Ein wichtiger translationswissenschaftlicher Diskussionspunkt ist die Frage, ob und bis zu welchem Grade hierbei auch dann noch von Translation die Rede sein kann, wenn die Bedingungen der zielseitigen Kommunikationssituation Änderungen gegenüber der äquivalenten Übertragung erfordern – also im Grunde die Frage des Tertium comparationis. Hinzu kommt der Faktor Lenkung, sei sie unbewusst und ungeplant durch ein Kollektiv ausgeübt, sei sie das Ergebnis eines bewussten lenkenden Eingreifens einzelner Akteure (zum Begriff der Lenkung: Schubert 2007, 136 und mehrfach; 2011). Lenkung durch Kollektive kann sich in Form implizit durch Makrooder Mikrokultur (Schmitt 1999, 157) etablierter Bedingungen äußern, während es sich bei bewusster Lenkung beispielsweise um explizit von einem Auftraggeber oder (gerade bei Fachübersetzungen) um von Gesetzgebern, Behörden, Normungsinstituten, Handbuchautoren oder von den Verfassern von Best-Practice- und Corporate-IdentityRegelwerken formulierte Vorgaben handeln kann. Von der Frage der in einer Übersetzung zulässigen oder notwendigen Änderungen gegenüber dem Ausgangstext bzw. gegenüber einem imaginären Tertium comparationis, also der Anpassungen an die Erfordernisse der Zielsituation, handeln auch die translationswissenschaftliche Skopostheorie Vermeers (Reiß/Vermeer 1984; Vermeer 1996) sowie neuere Untersuchungen zu dem nach Stetting (1989) so genannten transediting (z. B. Schrijver 2014). Die Skopostheorie wird zwar wegen ihrer sehr absoluten Thesen zu Recht stark kritisiert, besitzt aber zumindest für das Fachübersetzen durchaus Aufschlusswert. Aussagekräftiger als die recht apodiktisch formulierte Skopostheorie ist die Theorie des translatorischen Handelns von Holz-Mänttäri (1984), die pragmatische und handlungstheoretische Faktoren ebenso aufgreift wie Elemente der Arbeitssituation und die, in besonders prominenter Weise von Risku (1998; 2000), als kognitive Theorie der situierten Translation weiterentwickelt wird. Wenn also, von welcher Translationstheorie man auch immer ausgeht, dem kommunikativen Funktionieren des Translats in der Zielsituation eine zentrale Bedeutung zukommt, dann ist für den Sonderfall mehrsprachiger Ausgangstexte zu fragen, welcher Art ihre Mehrsprachigkeit ist, welche Funktion sie in der jeweiligen ausgangsseitigen Kommunikationssituation erfüllt und was eine funktionsadäquate zielseitige Entsprechung sein könnte.
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2.1 Typen mehrsprachiger Ausgangstexte Mehrsprachige Texte, die in Übersetzungsprozessen als Ausgangstexte fungieren, kommen in fiktionalen und in nichtfiktionalen Werken und Medienprodukten vor. Ein sehr großer Anteil an den nichtfiktionalen Dokumenten (Schubert 2007, 7) entfällt auf die technische Fachkommunikation. Hier kommen anderssprachige Passagen selten vor. In technischer Produktdokumentation ist eine mögliche Quelle anderssprachigen Textes die Zulieferdokumentation, also die Dokumentation zu Komponenten einer Maschine, einer Anlage oder eines Softwaresystems, die von einem anderen Unternehmen als dem Hersteller des Gesamtprodukts zugeliefert werden. Üblich ist es jedoch, die Zulieferdokumentation in die Sprache der Gesamtdokumentation zu übersetzen, sodass keine mehrsprachigen Dokumente entstehen. Nichtfiktionale Medienprodukte sind beispielsweise Nachrichtensendungen in Rundfunk und Fernsehen. Hier werden (zumindest in Europa) anderssprachige Passagen den Rezipienten meist nicht nur im Original, sondern nur oder auch in einer in die erste Sprache übertragenen Form angeboten, also mit Untertiteln, mit Voice-over, synchronisiert oder mit einer referierenden Wiedergabe durch eine Sprecherstimme. Während technische Dokumentation in sehr großem Umfang übersetzt wird, ist dies bei Nachrichtensendungen und ähnlichen Medienprodukten selten. Der überwiegende Anteil mehrsprachiger Werke findet sich im fiktionalen Bereich, also in schöner Literatur, in Filmen für Kino, Fernsehen und Streaming-Anbieter, in Computerspielen und ähnlichen Medienprodukten. In solchen Werken kommt ausgangsseitige Mehrsprachigkeit in zahlreichen unterschiedlichen Konstellationen vor. Ein literarischer Text, etwa ein Roman, kann hier als Beispiel dienen. Ein Roman ist Mitteilungsträger in einer Kommunikationssituation mit mehreren Akteuren. Dies sind außerhalb der mimetischen Situation der Autor und die Leserschaft, für die der Autor schreibt, sowie innerhalb der mimetischen Situation ein eventueller Erzähler und die Figuren. Von jedem dieser Akteure kann Text in der ersten Ausgangssprache, aber in den hier interessierenden Fällen auch in einer zweiten Ausgangssprache ausgehen. Es liegt dabei in der Natur der literarischen Kommunikation, dass der Autor Urheber all dieser Textkomponenten ist. Beim Roman liegt ein typischer Fall vor, wenn ein Akteur in einer zweiten Ausgangssprache spricht oder schreibt. Eine solche Textpassage kann beispielsweise in einem Dialog (also in fingierter Mündlichkeit), einem inneren Monolog oder in einem Brief, einem Plakat oder einem anderen in der mimetischen Situation vorkommenden schriftlichen Text enthalten sein (vgl. ausführlicher Radaelli 2011, 124–152). Bei einem Spielfilm und anderen fiktionalen Medienformaten verhält es sich ähnlich. Bei den nichtfiktionalen Medienprodukten wie Fernsehberichten, Nachrichtensendungen und zum Teil bei Dokumentationen in Film und Fernsehen ist die Kommunikationssituation dagegen meist nicht mimetisch, sodass Personen auftreten können, die nicht Darsteller sind und nicht Texte eines Autors vortragen, sondern als
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tatsächliche Menschen im eigenen Namen sprechen und agieren und somit selbst Urheber ihrer Texte sind. Um translationsrelevante Merkmale dieser verschiedenen Kommunikationssituationen feststellen zu können, soll im Folgenden zunächst die Art der anderssprachigen Textteile betrachtet werden.
2.2 Typen anderssprachiger Passagen Die kommunikative Funktion einer Äußerung in zweiter Ausgangssprache lässt sich in manchen Fällen auch am Umfang des anderssprachigen Textteils ablesen. Wenn beispielsweise in einem deutschen Romantext eine Figur andere Figuren mit Madame anspricht und in ihre im Übrigen auf Deutsch formulierten Äußerungen hier und da Formulierungen wie Voilà! oder Eh bien! einschiebt, so haben solche Einsprengsel kaum Informationsgehalt, sondern sind eher phatischen Charakters und dienen der Figurencharakterisierung oder dem Lokalkolorit. Mehr als bloßes Lokalkolorit ist es, wenn in einem deutschsprachigen Roman auf Deutsch und mit deutschen Dialogen eine Szene dargestellt wird, bei der sich die Leserschaft vorstellen soll, sie spiele sich im französischsprachigen Umfeld und mit französischen Dialogen ab. Auch eine solche Szenencharakterisierung kann durch Einsprengsel der genannten Art markiert werden. Eine ähnliche Kennzeichnungsform findet sich in mündlichen oder fingiert mündlichen Texten, in denen eine Figur mit fremdsprachlichem Akzent spricht. Anders verhält es sich, wenn eine Äußerung in zweiter Ausgangssprache ganze Sätze, Absätze oder gar mehrere Seiten umfasst. Im Gegensatz zu anderssprachigen Einsprengseln sind solche längeren Textpassagen meist durchaus Informationsträger. Die anderssprachigen Textpassagen sind zudem unterschiedlich einzuschätzen, je nachdem, ob eine Figur sich stets in der zweiten Ausgangssprache äußert oder ob ein und dieselbe Figur zwischen erster und zweiter Ausgangssprache wechselt (codeswitching).
2.3 Typen zweiter Ausgangssprachen Eine weitere Frage lautet, welcher Art die zweite Ausgangssprache ist. Hier sind mehrere Aspekte zu berücksichtigen. Der vielleicht offensichtlichste Fall ist ein Einschub in einer zweiten Sprache, die so deutlich anders ist als die erste, dass sie unzweifelhaft als andere Sprache gelten kann. Im oben gewählten Beispiel also französische Einschübe im deutschen Text. Ist die zweite Sprache aber nicht so deutlich anders, dann führt die Überlegung zurück zu der eingangs beim Thema des intralingualen Übersetzens aufgeworfenen Frage. Ebenso wie kurze Einsprengsel und längere Textpassagen in einer unzweifelhaft anderen Sprache in einen fiktionalen Text eingefügt sein können, kommen auch
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Texte vor, die kürzere oder längere Einschübe in einem Dialekt, einem Soziolekt oder einer Gruppensprache enthalten. Dabei ist zu beobachten, dass solche Einschübe als Elemente eines gemein- oder literatursprachlichen Gesamttextes zu werten sind. Sie brauchen nicht genuiner Dialekt zu sein; auch dialektal oder regional gefärbte Hochsprache kommt nicht selten vor. Hierdurch wird noch deutlicher, dass zwischen Einsprachigkeit, code-switching und Mehrsprachigkeit ein fließender Übergang besteht, wodurch es oft schwierig ist, einzelne Fälle eindeutig zuzuordnen. Auch fachsprachliche Einschübe kommen in literarischen Texten vor. Hierbei muss es sich nicht um korrekte Fachsprache mit terminologischer Konsistenz und sachlich richtiger Gegenstandsbenennung handeln. Vielmehr fungieren auch fachsprachliche Einsprengsel oder Passagen oftmals lediglich als Kennzeichnungen einer Figur oder einer Stilebene (vgl. Wienen 2017). In ähnlicher Weise kommen in Filmen und anderen Medienprodukten recht häufig Figuren vor, die mit einigen Merkmalen eines künstlichen und auffälligen Akzents sprechen, dabei aber andere Ausspracheschwierigkeiten souverän beherrschen und keines der lexikalen, morphologischen oder syntaktischen Merkmale einer unvollständigen Fremdsprachenbeherrschung an den Tag legen. Auch hier wird nicht eine echte Lernersprache wiedergegeben, sondern es werden Figuren‑, Szenen- oder Lokalkoloritsignale gesetzt. Eine weitere Frage lautet, ob die zweite Ausgangssprache eine existierende oder eine eigens für das jeweilige Werk geschaffene Sprache ist. Sprachen der letzteren Gruppe werden üblicherweise als fiktionale Sprachen bezeichnet. Suchowolec (2018, 62–64) rechnet sie der übergeordneten Klasse der künstlerischen Sprachen zu. Sie kommen in literarischen Werken, Filmen und Computerspielen insbesondere aus den Bereichen Fantasy und Science-Fiction vor (Stria 2016, 79 f.). Sie werden meist von den Autoren literarischer Werke oder fiktionaler Medienprodukte selbst oder in ihrem Auftrag von Sprachwissenschaftlern entwickelt (Fiedler 2019, 141). Ob sie im strengen linguistischen Sinne als Sprachen gelten können, ist, da sie keiner realen Kommunikation dienen, eine komplexe Frage, die hier nicht weiter untersucht werden soll. Fiktionale Sprachen sind klar von Plansprachen zu unterscheiden (Fiedler 2011, 10 f.). Plansprachen wie Esperanto dienen realer mündlicher und schriftlicher Kommunikation und durchlaufen eine Entwicklung vom Projekt zur vollgültigen Sprache (Blanke 1985, 105–108; 2001). Zu einigen der bekannteren fiktionalen Sprachen sind Fangemeinden entstanden, die die jeweilige Sprache zu spielerischer, aber damit doch realer Kommunikation verwenden und weiterentwickeln (vgl. z. B. Mannewitz 2002). Auf diesem Wege können fiktionale Sprachen in die Gruppe der Plansprachen hinübergleiten.
2.4 Typen kommunikativer Funktionen Bei allen Typen anderssprachiger Passagen in fiktionalen Texten und Medienprodukten ist zu untersuchen, welche kommunikative Funktion sie in ihrem konkreten Kon-
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text erfüllen. Dies gilt für alle Teile eines zu übersetzenden Textes; bei Passagen in zweiter Ausgangssprache sind jedoch zusätzlich besondere Funktionen zu erwarten und zu berücksichtigen. Nur von diesen spreche ich hier. Welche kommunikative Funktion eine anderssprachige Textpassage erfüllen kann, hängt wesentlich davon ab, ob sie verstanden wird. Ist die von einer Figur geäußerte Passage für die anderen Figuren verständlich? Setzt der Autor voraus, dass sie für die anderen Figuren verständlich ist? Setzt der Autor voraus, dass sie für die Leser verständlich ist? Eine Äußerung in zweiter Ausgangssprache, ob sie von den anderen Figuren verstanden wird oder nicht, kann zudem in der mimetischen Situation übersetzt oder gedolmetscht werden. Hierdurch entsteht eine parallele Fassung der Äußerung in der ersten Ausgangssprache und es ist unwesentlich, ob die Leserschaft die zweite Ausgangssprache versteht. Denkbar ist allerdings auch, dass die Übersetzung oder Verdolmetschung absichtlich oder unbeabsichtigt fehlerhaft oder verfälschend ist, was dann bedeuten würde, dass die Leser zum vollen Verständnis der dargestellten Situation sowohl die anderssprachige Äußerung verstehen als auch das Abweichende der Übertragung erkennen können müssen. Hiervon zu unterscheiden sind Fälle, in denen Äußerungen in zweiter Ausgangssprache im Ausgangsdokument, aber außerhalb der mimetischen Situation für die Leser übersetzt werden. Die Einschätzung, ob eine solche Übersetzung für die Leserschaft erforderlich ist, kann sich im Laufe der Zeit verändern. So findet man in Ausgaben russischer Romane vor der Oktoberrevolution französische Passagen meist im Original ohne weitere Erläuterungen, während in der Sowjetunion herausgegebene Ausgaben derselben Romane häufig in Fußnoten oder im Anhang russische Übersetzungen dieser Passagen anbieten. In den neueren Ausgaben wird damit eine Situation geschaffen, in der die mehrsprachigen Stellen ohne Fremdsprachkenntnisse verständlich werden.
3 Translationsverfahren Nachdem ein Überblick über gängige Typen mehrsprachiger Ausgangstexte und über die wichtigsten Spielarten der kommunikativen Funktion solcher Textpassagen gegeben ist, soll im Folgenden die Frage ihrer Übersetzung oder Verdolmetschung untersucht werden. Hierzu stelle ich zunächst die gefundenen kommunikativen Funktionen zusammen und gehe anschließend auf ihre Übertragung ein.
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3.1 Translationsrelevante kommunikative Funktionen anderssprachiger Passagen Die oben besprochenen Formen mehrsprachiger Ausgangsdokumente und darin enthaltener Passagen in zweiter Ausgangssprache lassen sich bei einer gewissen Vereinheitlichung und Abstraktion mit Blick auf eine nachfolgende Translation anhand folgender Fragen ordnen: – Ist eine Passage in zweiter Ausgangssprache vorhanden? – Ist die Passage in zweiter Ausgangssprache ein weitgehend informationsleeres Einsprengsel oder ein informationstragendes Textelement? – Ist zwischen Erzählerrede und Figurenrede zu unterscheiden? – Ist zwischen Textelementen innerhalb und außerhalb einer mimetischen Situation zu unterscheiden? – Wird die Passage in der mimetischen Situation von den anderen Figuren verstanden? – Wird die Passage innerhalb der mimetischen Situation für andere Figuren übersetzt oder gedolmetscht? – Rechnet der Autor damit, dass die Passage von der Rezipientenschaft des Ausgangsdokuments verstanden wird? – Wird die Passage außerhalb der mimetischen Situation für die Rezipienten übersetzt oder gedolmetscht? – Ist die verwendete zweite Ausgangssprache eine Varietät der ersten, eine existierende andere Sprache oder eine fiktionale Sprache? Obwohl der Gedanke naheliegt, verzichte ich bewusst darauf, aus diesen Fragen ein Flussdiagramm zu entwerfen, weil dadurch meines Erachtens der Eindruck einer Lösung deutlich schematischeren Charakters entstehen könnte, als es das Fließende und Abwägungsreiche des Übersetzens und Dolmetschens gerade im literarischen und fiktionalen Bereich tatsächlich erfordert und erlaubt.
3.2 Übertragungsoptionen Wenn sich all diese Fragen anhand des Ausgangsdokuments oder durch Rückfragen und Recherchen klären lassen, dann kann schließlich über die Übersetzung oder Verdolmetschung nachgedacht werden. Der häufigste und zugleich wohl offensichtlichste Fall ist der einer zweiten Ausgangssprache, die unzweifelhaft als andere Sprache einzustufen ist. Also etwa Französisch als zweite Ausgangssprache in einem Text in erster Ausgangssprache Englisch, der in die Zielsprache Deutsch übersetzt werden soll. Geht man die Aufgabe des Übertragens von Ausganstexten mit Passagen in zweiter Ausgangssprache einmal schematisch an, so bieten sich drei Optionen:
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die Passage in der zweiten Ausgangssprache unverändert stehen lassen; die Passage in die Zielsprache übertragen; die Passage in eine zweite Zielsprache übertragen, die nicht mit der zweiten Ausgangssprache identisch ist.
Diese Optionen lassen sich weiter variieren: – die Passage in der zweiten Ausgangssprache unverändert stehen lassen und (in Klammern, in einer Fußnote, im Anhang oder anders) parallel in die Zielsprache übertragen; – die Passage in die Zielsprache übertragen und (durch Kursivierung, in einer Fußnote oder anders) angeben, in welcher Sprache diese Passage im Ausgangstext formuliert ist; – die Passage in eine zweite Zielsprache übertragen, die nicht mit der zweiten Ausgangssprache identisch ist, und angeben, in welcher Sprache diese Passage im Ausgangstext formuliert ist. Die Übertragungsaufgabe kann durch mindestens zwei Faktoren weiter kompliziert werden: Erstens ist eine adäquate Übertragung immer besonders schwierig oder sogar unmöglich, wenn gleichzeitig der Inhalt und die sprachliche Form wiedergegeben werden sollen. Dies gilt für gebundene Sprachformen wie etwa Reime, aber in noch stärkerem Maße für Wortspiele. Wortspiele lassen sich im Allgemeinen entweder inhaltlich oder formal-ästhetisch übertragen, wobei beides zugleich in den allermeisten Fällen nicht gelingt. Gern wird dann die Technik des kompensierenden Übersetzens (Thome 2002) verwendet, wobei beispielsweise an der Stelle selbst nur der Inhalt wiedergegeben und an anderer geeigneter Stelle ein Wortspiel in der Zielsprache eingefügt wird. Zweitens wird die Übertragungsaufgabe kompliziert, wenn die zweite Ausgangssprache mit der Zielsprache identisch ist, also wenn beispielsweise ein englischer Roman mit deutschen Einschüben ins Deutsche übersetzt werden soll. Hier wird gern eine Kennzeichnung verwendet, im Beispiel etwa durch kursiven Schriftschnitt mit einer Übersetzeranmerkung, die darauf hinweist, dass die kursiven Passagen im Original deutsch sind. Abgesehen von diesen Sonderfällen stellt sich aber die grundlegende Frage, ob Passagen in zweiter Ausgangssprache stehen bleiben können oder nicht. Um hier Adäquatheit zu erreichen, ist zu fragen, ob die zweite Ausgangssprache in der mimetischen Situation oder außerhalb der Situation von den Rezipienten verstanden werden soll oder nicht. Wenn man zudem berücksichtigt, dass sich bei sprachlichen Arbeitsgängen und bei der Beurteilung kommunikativen Handelns praktisch nie wirkliche Ja/Nein-Entscheidungen, sondern eigentlich immer graduelle Abstufungen ergeben, wäre genauer zu fragen, ob die zweite Ausgangssprache in der Zielsprachgemeinschaft und der Zielkultur in demselben Maße bekannt bzw. fremd ist wie in der Ausgangssprache und -kultur. Wenn ja, kann die Passage in zweiter Ausgangssprache unverändert übernommen werden.
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Wenn aber die zweite Ausgangssprache in der Zielsprachgemeinschaft deutlich bekannter oder deutlich fremder ist als in der Ausgangssprachgemeinschaft, dann führt eine unveränderte Übernahme nicht mehr zu einer adäquaten Übertragung. Hier ist übersetzerische Kreativität gefragt, und nicht immer findet sich eine gute Lösung. Darf man eine zweite Ausgangssprache durch eine andere ersetzen? Diese zweite Zielsprache könnte dann in dem Sinne adäquat sein, dass sie gegenüber der ersten Zielsprache ähnlich bekannt oder fremd wäre wie die zweite gegenüber der ersten Ausgangssprache. Aber man führt damit möglicherweise zugleich eine neue Inadäquatheit ein, indem man eine falsche, also eine die Intention des Autors verfälschende Figurenkennzeichnung vornimmt. Schließlich verschiebt man die Figur in eine andere Gemeinschaft mit einer anderen Kultur. Die Entscheidung, ob eine solche Ersetzung erwägenswert ist, hängt auch davon ab, ob die Übersetzung als Ganzes der einbürgernden oder der verfremdenden Strategie folgt. In der einbürgernden wäre die Wahrung des Fremdheitsgrades wichtiger als die im Ausgangstext vorgenommene Figurenkennzeichnung. In der verfremdenden muss deutlich werden, dass der Text aus der Ausgangssprache und -kultur stammt, womit dann auch die zweite Ausgangssprache nicht ausgetauscht werden darf. Ist die zweite Ausgangssprache eine fiktionale Sprache und wird diese Sprache in dem zu übertragenden Werk erstmalig verwendet, dann darf wiederum angenommen werden, dass diese Sprache Ausgangs- und Zielsprachenrezipienten gleichermaßen fremd ist. Eine zusätzliche Komplikation tritt ein, wenn der Autor des Ausgangswerks die zweite Ausgangssprache in seiner Kommunikationssituation für unverständlich hält, einzelne ausgangs- oder zielsprachliche Leser sie aber dennoch beherrschen. Solchen Lesern fällt es dann auf, wenn ein Autor, vielleicht aufgrund ungenügender Fremdsprachenkenntnisse, Passagen einfügt, die Fehler oder Unsinn enthalten, und für die Übersetzung stellt sich die Frage, ob man Fehler durch Fehler wiedergeben, die Fehler stillschweigend korrigieren oder, wenn das überhaupt möglich ist, beim Autor nachfragen soll.
4 Fazit Der Umgang mit mehrsprachigen Ausgangsdokumenten in der Translation ist facettenreich und vielschichtig. Während die kontrastive Linguistik nach regelmäßigen Entsprechungen zwischen Sprachsystemen sucht, ist es Gegenstand der Translationswissenschaft, die Bedingungen und Parameter zu erkunden, unter denen für ein konkretes schriftliches Werk oder einen konkreten mündlichen Text in der konkreten ausgangs- und zielseitigen Kommunikationssituation eine adäquate Entsprechung gefunden werden kann. Ihre Befunde, wie auch die Ausprägungen in einem bestimmten exemplarischen Realisierungsfall, können daher nicht regelhaft, sondern müssen immer bedingt und fallbezogen sein.
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20. Mehrsprachigkeit in der Literatur Abstract: Die Verwendung von Sprachvielfalt in literarischen Texten kennt viele Formen. Dabei sorgt Literarizität als Verfahren der Verfremdung sprachlicher Mittel potentiell immer für eine Steigerung sprachlicher Diversität, die jenseits auffälliger Formen der Glossodiversität (Nebeneinander klar getrennter, systemisch bestimmter Einzelsprachen) auch unterschiedliche Formen der Semiodiversität (der schieren Vervielfältigung von Ausdrucksformen) umfasst. Aus der Perspektive einer Mehrsprachigkeitsphilologie, die nicht die Einsprachigkeit von Texten voraussetzt, sondern mit Blick auf jeden Text fragt, wie er von Sprachvielfalt Gebrauch macht, lassen sich (mindestens) folgende Perspektiven für die Analyse von Sprachvielfalt in literarischen Texten unterscheiden: Gebrauch von unterschiedlichen (Formen von) Idiomen (Dialekten, standardisierte Nationalsprachen usw.), Einbegreifen unterschiedlicher Ebenen der Sprachstruktur (z. B. Syntax eines Idioms, aber Lexik eines anderen), Idiomkontrastierung durch Sprachwechsel und Sprachmischung, durch Verfahren der (stillschweigenden) Übersetzung, durch Verteilung auf Sprecher. Als zentraler Wendepunkt der Geschichte literarischer Mehrsprachigkeit kann die Etablierung der modernen Einsprachigkeit (Glossodiversität) spätestens um 1800 gelten.
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Einleitung Begriffsklärung und Methodik Spielarten Historischer Überblick Literatur
1 Einleitung In der Literatur aller (oder doch der meisten) Epochen wird Sprachvielfalt sehr viel ausgiebiger genutzt, als man gemeinhin annimmt. Zwar wird man einräumen müssen, dass die weit überwiegende Zahl der Texte sich mehr oder weniger klar einer Einzelsprache wie Deutsch oder Englisch zuordnen lässt. Diesem Umstand verdankt sich bis heute die weitreichende Einteilung der Literaturwissenschaft in sogenannte Nationalphilologien. Doch reicht es keinesfalls aus, bei diesem Befund haltzumachen. Nicht nur gilt es den zahlreichen offenkundigen Ausnahmen vom scheinbaren Regelfall gerecht zu werden, von Lev Tolstois Война и мир (1868/69) über Thomas Manns Zauberberg (1924) und James Joyce’ Finnegans Wake (1939) bis hin zur zeitgenössischen Literatur der Migration. Vielmehr muss grundsätzlich gefragt werden, auf welche unterschiedlichen Arten und Weisen Sprachvielfalt in literarischen Texten genutzt werden kann. https://doi.org/10.1515/9783110623444-020
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In diesem Sinne ist seit spätestens der Jahrtausendwende mit mehr oder weniger ausgeprägter theoretischer Stringenz versucht worden, unterschiedliche Spielarten des literarischen Umgangs mit Sprachvielfalt auszumachen, meist unter dem Stichwort mehrsprachige Literatur und oft im Rahmen von Interpretationen, die im weitesten Sinne dem Paradigma der Interkulturalität zuzuordnen sind. Vorgelegt wurden dabei erstens ausführliche Rekonstruktionen der historischen Semantik von Sprachvielfalt, vor allem mit Blick auf die in der westlichen Moderne vorherrschende Politik der Einsprachigkeit, die sowohl mit vormodernen als auch mit nicht-westlichen Semantiken kontrastiert. Zweitens wurden Versuche unternommen, die unterschiedlichen Formen der literarischen Verwendung von Sprachvielfalt systematisch zu erfassen, z. B. in Form von Typologien. Drittens wurde eine Vielzahl von Einzelstudien vorgelegt. Und viertens hat man methodisch-theoretische Überlegungen angestellt, die unter anderem den spezifisch literaturwissenschaftlichen Zugriff auf den Gegenstand betreffen. Die folgende Darstellung setzt mit diesem letzten Punkt ein und entwickelt in diesem Zusammenhang in Auseinandersetzung mit der Forschung den begrifflichen Rahmen, der dem Rest der Darstellung zugrunde liegt. Unter anderem wird dabei geklärt, aus welchem Grund in dieser Einleitung von Sprachvielfalt die Rede ist und nicht von Mehrsprachigkeit (Abschnitt 2). Zwar werden schon in diesem Zusammenhang unterschiedliche Spielarten des literarischen Umgangs mit Sprachvielfalt erwähnt, sie verdienen aber eine ausführliche und systematische Darstellung (Abschnitt 3). Ähnliches gilt für den sodann folgenden skizzenhaften historischen Überblick (Abschnitt 4).
2 Begriffsklärung und Methodik Die Literaturwissenschaft hat Sprachvielfalt als Gegenstand ihres Interesses vergleichsweise spät entdeckt, und es verwundert daher nicht, dass dabei zum einen die Orientierung an der vorliegenden linguistischen Forschung und Begriffsbildung nahelag und zum anderen vor allem eher auffällige Phänomene in den Blick gerieten. Beide Tendenzen sind nach wie vor beobachtbar oder sogar vorherrschend. Allerdings sind für die methodisch-theoretische Diskussion Ansätze wegweisend, die sie als unnötige, der Sache nicht gerecht werdende Einschränkungen erscheinen lassen. Entscheidend ist dabei einerseits die Reflexion auf Grundzüge literarischer Textualität, andererseits die Besinnung auf die Spezifik des literaturwissenschaftlichen Umgangs mit sprachlichen Phänomenen, der sich distinkt von demjenigen der Linguistik unterscheiden lässt. Als besonders auffällig kann die literarische Verwendung von Sprachvielfalt sicherlich dann gelten, wenn in einem literarischen Text unterschiedliche Einzelsprachen verwendet werden, deren Sprecher sich normalerweise nicht ohne weiteres verständigen können: Der des Französischen nicht mächtige Leser bekommt im Zauberberg an entscheidender Stelle Schwierigkeiten. Liegen ‚nur‘ unterschiedliche Dia-
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lekte vor, wie es z. B. in vielen Komödien seit Aristophanes der Fall ist, ergeben sich solche Verwerfungen meist nicht. Gerade aber indem Verständnishürden ins Spiel gebracht und thematisch werden, lassen sich besonders gut Probleme der Interkulturalität sowohl literarisch behandeln als auch literaturwissenschaftlich aufarbeiten, und es ist gewiss kein Zufall, dass gerade die von Migration geprägte Gegenwartsliteratur, der weite Teile der Forschung gelten, ausgiebig so verfährt. Dennoch wird die gängige Beschränkung der Forschung auf diese Art von Sprachvielfalt erstaunlich selten begründet. Und wenn sie einmal auftauchen, wirken die Begründungen willkürlich, etwa in der umfassenden und verdienstreichen Arbeit von Werner Helmich, der zwar ankündigt, sich auf solche ‚Sprachwechsel ‘ zu beschränken, die Sprachen zeigen, deren Sprecher sich normalerweise wechselseitig nicht verständigen können (2016, 14, 17–22), tatsächlich aber an vielen Stellen z. B. auch auf dialektale und soziolektale Differenzierungen ausführlich eingeht. Es fehlt denn auch nicht an Stimmen, die dafür plädieren, die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Sprachvielfalt müsse auch Soziolekte, Dialekte, Register etc. mit einbeziehen. Dies hat bereits das von Rainier Grutman Ende der 1990er Jahre vorgelegte Konzept des „hétérolinguisme“ ausdrücklich nahegelegt (1997). Eine solche Ausweitung des Gegenstandsbereichs liegt auch insofern nahe, als viele Einzelanalysen haben zeigen können, dass es im Medium der Darstellung, zumal der fiktionalen, möglich und sogar sehr gängig ist, weniger auffällige Formen von Sprachvielfalt für die Simulation auffälliger Formen zu nutzen. Eine einschlägige frühe Arbeit von Meir Sternberg hat darauf hingewiesen, dass im Namen der von ihm so genannten „homogenizing convention“ (1981, 224) auf vielfache Weise markiert werden kann, dass Figurenrede in anderen Sprachen stattfindet als denen, in denen sie der Text wiedergibt. In der Tat können im Rahmen dieses Verfahrens beispielsweise ein Dialekt oder sogar ein metrisches Muster für eine standardisierte Nationalsprache einstehen. Ersteres ist der Fall in vielen Romanen Karl Mays, in denen erst der Übergang in den sächsischen Dialekt offenbart, dass eine Unterhaltung bisher auf Englisch geführt worden ist, nun aber auf Deutsch fortgesetzt wird, was einen Teil der Beteiligten innerhalb der Geschichte vom Verstehen ausschließt, obgleich (deutschsprachige) Leser alles verstehen. Letzteres begegnet beispielsweise bei Shakespeare, in dessen Dramen sich der Wechsel zwischen Blankvers und Prosa als literarisches Spiel mit soziolektaler Differenzierung auffassen lässt, oder bei Franz Grillparzer, in dessen Triologie Das goldne Flies (1821) der Blankvers das Griechische markiert, der freie Vers aber das Kolchische (Weissmann 2017). Zumindest im Rahmen (literarischer, fiktionaler) Darstellung gibt es also funktionale Äquivalenzen zwischen unterschiedlichen Formen von Sprachvielfalt, auch wenn diese sich nach linguistischen Kriterien klar unterscheiden lassen. Es spricht allerdings einiges dafür, dass auch die Berücksichtigung all jener unterschiedlichen Ebenen, auf denen die Linguistik Sprachvielfalt definiert, der Sache noch nicht genüge tut. Genauer ist eine Beschreibung unzulänglich, die ihr begriffliches und analytisches Instrumentarium auf die letztlich statistisch begründete Be
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stimmung von Sprachstandards gründet, wie sie Soziolekte, Dialekte, Register, standardisierte Nationalsprachen usw. zwangsläufig sind. Das liegt daran, so ließe sich in einem ersten Zugriff formulieren, dass sich Literatur ganz allgemein mit denjenigen Kräften in Verbindung bringen lässt, die für die Veränderung und Auflösung sprachlicher Standards auf allen Ebenen der Sprachstruktur verantwortlich sind. Das wird deutlich, wenn man sich die literaturtheoretische Diskussion um Literarizität vor Augen führt. Als Eigenart von Literatur gilt spätestens seit Viktor B. Šklovskijs Искусство как приём (Kunst als Verfahren) von 1917 die Verfremdung (остранение) der darstellerischen und mithin auch der sprachlichen Mittel, die unter anderem zur Steigerung der textuellen Selbstreflexivität führt. Auch wenn dies gemeinhin eher als ein Geschehen beschrieben wird, das sich innerhalb von Einzelsprachen abspielt und diese als solche unangetastet lässt, haben die Überlegungen von Šklovskij es durchaus denkbar werden lassen, dass Verfahren der Verfremdung in literarischen Texten entweder Material aus unterschiedlichen Einzelsprachen/Sprachstandards verwenden oder aber in der Auseinandersetzung mit der Einzelsprache/dem einzelnen Sprachstandard einen Grad von Variation erreichen, der im Ergebnis nicht mehr mit den Vorgaben dieses Standards vereinbar ist. So macht beispielsweise Joyce’ Finnegans Wake die mehrsprachige Paronomasie zu einem zentralen Bauprinzip (siehe z. B. Reichert 1989) – dies führt zu einer so hochgradigen Verfremdung des ‚englischen‘ Ausgangsmaterials, dass die Rede davon populär geworden ist, das Werk sei in einer ganz neuen Sprache verfasst. Und Ernst Jandls späte Versuche, in ‚gebrochener Sprache‘ zu schreiben, erzeugen, ohne dass anderssprachiges Material benutzt würde, Texte, die nicht mehr wirklich deutschsprachig sind – jedenfalls nicht, wenn man darunter Äußerungsformen versteht, die nach den Regeln der deutschen Grammatik als wohlgeformt gelten können. In beiden Fällen führt die Verfremdung der sprachlichen Mittel dazu, dass der Rahmen des Standards überschritten wird. Eine systematische Ergründung des Potentials oder gar der Tendenz von Literarizität, zur Auflösung von Sprachstandards beizutragen, steht noch aus (Hinweise hierzu im Rückgriff u. a. auf Šklovskij finden sich in Taylor-Batty 2013, 19–23). Auf der Grundlage wirkmächtiger Positionen innerhalb dieses Felds lassen sich aber zumindest einige Hinweise geben, die den Zusammenhang plausibilisieren. So läuft etwa die Bestimmung der poetischen Sprachfunktion bei Roman Jakobson darauf hinaus, dass der markierte Aufbau paradigmatischer Beziehungen im Syntagma stets die Hervorbringung neuer Formen der Bedeutsamkeit provoziert. Man muss dann fragen, inwiefern beispielsweise der lautlichen Äquivalenz von Reimwörtern auch eine Äquivalenz auf der Ebene der Bedeutung entspricht (1960, 106–108) – und damit arbeitet die poetische Sprachfunktion auf spezifische Weise an der Sprachfortbildung mit. Jurij M. Lotmans frühen Überlegungen zur Struktur des künstlerischen Texts lässt sich entnehmen, dass Literarizität gerade darin besteht, irreduzible neue Formen der semiotischen Systembildung hervorzubringen (1972) – woraus im Grunde genommen hervorgeht, dass jeder ‚künstlerische Text‘ seine eigene Sprache spricht. Und auch die von
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Julia Kristeva (1974) seinerzeit beschworene Révolution du langage poétique bringt den singulären literarischen Text gegen die Übermacht der symbolischen Ordnung und damit, wenn man so will, durchaus auch gegen Sprachstandards in Stellung. In historischer Hinsicht wiederum lässt sich ganz allgemein darauf verweisen, dass ihre Autonomisierung spätestens um 1800 Kunst und Literatur mit dem Zwang zur Innovation des poetischen Ausdrucks und mit der Funktion belastet, alternative Weltentwürfe zu produzieren – und dass in beiderlei Hinsicht die Überschreitung von Sprachstandards zumindest eine Option darstellt. Folgt man der so angedeuteten Argumentation, lässt sich zumindest als eine Quelle von Literarizität der Rückbezug auf basale Vorgänge der Semiose ausmachen. Die Stiftung neuer Formen nicht nur von Bedeutung, sondern schon von schierer Bedeutsamkeit ist es dann, die von Literatur begünstigt, beschleunigt oder genutzt wird. Literarizität ist in diesem Fall gezielte, selbstreflexive Sprach(fort)entwicklung. Das hier entfaltete Argument zur Literarizität ist in unterschiedlichen Bereichen von Linguistik, Philologie und Philosophie sprach- und/oder kulturtheoretisch verallgemeinert worden. Diese Verallgemeinerung betrifft einerseits den Prozess der Sprachentwicklung, andererseits das (daraus sich ergebende) Verhältnis ‚der Sprachen‘ zueinander. Was die Sprachentwicklung angeht, so ist in der Linguistik hervorgehoben worden, dass Impulse zur Sprachveränderung immer von (womöglich zunächst nur minimal scheinenden) Bewegungen ausgehen, welche die Standardisierung unterlaufen (und dann mitunter anschließend zur Etablierung neuer Standards beitragen). Unter dem Einfluss der Evolutionstheorie hat bereits Hermann Paul diese Prozesse gegen Ende des 19. Jahrhunderts in seinen Principien der Sprachgeschichte (1880) mustergültig beschrieben. Vor allem aber aus den in den vergangenen Jahrzehnten aufgearbeiteten Notizen Ferdinand de Saussures und dem Sprachdenken Michail M. Bachtins lässt sich der systemsprengende Charakter aller sprachverändernden Impulse entnehmen. Die Rezeption des de Saussure’schen Cours de la linguistique generale (1916) ist in der Regel davon ausgegangen, die Begriffe Synchronie und Diachronie bezeichneten zwei Perspektiven, die man auf ein und denselben Gegenstand, eine Einzelsprache (une langue), anwenden kann. Demgegenüber haben u. a. Johannes Fehr (2003) und Ludwig Jäger (2010) herausgearbeitet, dass die synchronische und die diachronische Betrachtungsweise für den de Saussure der Notizen zwei unterschiedliche und nicht übereinzubringende Gegenstände erzeugen. Der eigentliche Bestehensmodus der Sprache aber sei ein Geschehen fortgesetzter Variationen und Stabilisierungen durch letztlich kontingente, aber sich rekursiv bestärkende „Identitätsurteil[e]“ (de Saussure 2003, 298), das durch die Perspektiventrennung gerade invisibilisiert werde. Davon ist das Denken Bachtins gar nicht so weit entfernt, dessen Interesse sich auf das konkrete Ineinandergreifen der Äußerungen richtet und der die eigentliche Quelle der Sprachproduktion keinesfalls in vorgegebenen Sprachsystemen sieht, sondern in der Konkretion des Aufgreifens vormaliger (fremder) Rede (Bachtin 1934/35; Holquist 2014). Vor diesem Hintergrund erscheint Literarizität als gezielte Manipulation der zentrifugalen Kräfte der Sprachentwicklung, die in der
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Sprachproduktion regelmäßig durch zentripetale, qua Rekursion etablierte Gegenkräfte im Zaum gehalten werden. Es liegt auf der Hand – und ist bereits Gegenstand der genannten Arbeiten Pauls und de Saussures (sowie natürlich bereits Wilhelm von Humboldts) –, dass Sprachentwicklung als Wechselverhältnis von Variation und Stabilisierung Sprachvielfalt erzeugt. Wichtiger noch ist aber die Schlussfolgerung, dass diese Vielfalt nicht ohne weiteres als Nebeneinander wohldefinierter Einzelsprachen vorgestellt werden darf. Dies ergibt sich im Grunde bereits aus den Überlegungen de Saussures und Bachtins. Besonders bekannt sind aber Jacques Derridas Argumente zum Monolinguisme de l’autre (1996), die aus der gleichzeitigen Singularität und vollständigen Fremdbedingtheit jedes individuellen Sprachvermögens ableiten, Sprachen seien ganz allgemein nicht zählbar. Sprachstandards, so wird man dies verstehen müssen, haben tatsächlich nicht von Natur aus Systemcharakter, sind also nicht von Natur aus mit der Fähigkeit ausgestattet, fehlerhafte von wohlgeformten Äußerungen systematisch zu unterscheiden. Wenn es diese Möglichkeit gibt, so ist sie erstens immer Ergebnis massiver sprach- und kulturpolitischer Intervention (z. B. durch Beschulung) und gelingt zweitens immer nur unvollständig (sonst müssten sich Sprachpuristen keine Sorgen machen). In diesem Zusammenhang hat Robert Stockhammer den Begriff der „Sprachigkeit“ geprägt, der den (Grad der) Zugehörigkeit sprachlicher Elemente und Strukturen zu Einzelsprachen bezeichnet (Arndt/Naguschewski/Stockhammer 2007, 26) – wobei man sich die Einzelsprachen/Sprachstandards nicht als Systeme, sondern, wie man in Anlehnung an eine an Wittgenstein anschließende Formulierung Bernard Cricks in einem anderen Zusammenhang sagen kann, als „Magnetfelder“ vorstellen muss, die mehr oder weniger stark auf die tatsächlich Sprachproduktion einwirken (Crick 1999, x). Mindestens ebenso glücklich ist der Vorschlag David Gramlings, der in seinen Arbeiten über die Entstehung der modernen Einsprachigkeit zur Bezeichnung der ständig statthabenden Vervielfältigung sprachlicher Mittel in Anlehnung an den Linguisten M. A. K. Halliday den Begriff „semiodiversity“ nutzt und diese der Vorstellung einer „glossodiversity“ entgegenstellt, also des Nebeneinanders wohldefinierter, ineinander übersetzbarer Einzelsprachen (2016, 31–36). Wenn Literatur eher auf semiodiversity setzt oder doch zumindest immer ihre Literarizität auch im Rekurs auf sie beziehen kann, so bedeutet dies nicht mehr und nicht weniger, als dass die Sprachigkeit literarischer Texte aus der Sicht der Literaturwissenschaft nie vorausgesetzt werden darf. Wer schlicht davon ausgeht, ein deutschsprachiger Text sei eben auf Deutsch verfasst, anstatt zu fragen, auf welche sprachlichen Ressourcen dieser Text in seiner Einzigartigkeit zurückgreift, macht es sich zu einfach. Hierin liegt der Unterschied zwischen einem literaturwissenschaftlichen, also genuin philologischen, und einem linguistischen Zugriff auf das Phänomen der Sprachvielfalt. Peter Szondi hat darauf hingewiesen, dass die Philologie im Gegensatz zu (fast) allen anderen wissenschaftlichen Disziplinen ausschließlich singuläre Erscheinungen, also einzelne und einzigartige Texte, zum Gegenstand hat (1967). Dieses Interesse mag sich aus der Vorliebe der (neueren) Literatur für das Singuläre erklären,
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überschreitet aber im Grunde diesen Gegenstand. Philologisch kann man sprachliche Phänomene aller Art betrachten, aber man tut dann so, als wären sie Literatur. Philologie ist diejenige Disziplin, die sich im Besonderen (also nicht nur allgemein) für den singulären Sprachgebrauch interessiert. Dieser Imperativ zur Würdigung des Singulären hat mit Blick auf Sprachvielfalt eine Perspektivumkehr zur Folge: Nicht die Regelmäßigkeit des Sprachgebrauchs steht im Mittelpunkt des Interesses, wie es noch für die soziolinguistische Erforschung von superdiversity oder translanguaging der Fall ist (dazu z. B. Blommaert 2010), sondern angesichts eines jeden Texts muss in Frage stehen, was seine Sprachen eigentlich sind (Dembeck 2018). Aus dem Gesagten ergeben sich mehrere Begriffsvorschläge: Zum ersten ist klarzustellen, dass aus philologischer Hinsicht Mehrsprachigkeit nicht auf Glossodiversität reduziert werden darf. Mehrsprachigkeit ist auch Semiodiversität. War hier bislang ausschließlich von Sprachvielfalt die Rede, so deshalb, weil die Assoziation von Glossodiversität vermieden werden sollte. Im Folgenden möchte ich unter Mehrsprachigkeit durchaus auch Semiodiversität verstanden wissen; nur dann, wenn es anders missverständlich sein könnte, spreche ich von Sprachvielfalt, um Mehrsprachigkeit im Sinne von Semiodiversität zu bezeichnen. Ferner sei angeregt, statt von Einzelsprachen und/oder Sprachstandards von Idiomen zu sprechen – also von mehr oder weniger stark standardisierten Redeweisen –, die dann wiederum gemäß der linguistischen Terminologie als Dialekte, Soziolekte, standardisierte Nationalsprachen usw. bezeichnet werden können. Schließlich möchte ich von Anderssprachigkeit (als Übersetzung von Grutmans hétérolinguisme) immer dann sprechen, wenn die Unterscheidbarkeit zweier Idiome markiert werden soll.
3 Spielarten Die Einschränkung der Forschung zur literarischen Mehrsprachigkeit auf auffällige Phänomene geht nicht zwangsläufig mit einer (stillschweigenden) Übernahme des Paradigmas der Glossodiversität einher. Vielmehr wird man ihr zubilligen müssen, dass sie mindestens zwei nachvollziehbaren Motiven folgt. Eines wurde bereits erwähnt – zweifelsfrei kann der Effekt literarischer Mehrsprachigkeit gesteigert werden, wenn Verstehenshürden ins Spiel gebracht werden. Das zweite Motiv besteht darin, dass die Notwendigkeit gesehen wird, den Gegenstandsbereich im Sinne einer konzisen Korpusbildung einzuschränken. Beide Motive erweisen sich aber bei genauerem Hinsehen als trügerisch bzw. die ihnen zugrundeliegende Argumentation als modifikationsbedürftig. So ist, was die Frage der Verstehenshürden angeht, von Brian Lennon gezeigt worden, dass die schiere Gegebenheit einer unverständlichen Sprache in einem Text keinesfalls ausreicht, um Unverständlichkeit zu erzeugen, weil gleichzeitig Mechanismen greifen können, die es ermöglichen, Verstehenslücken zu schließen (2010). Dazu gehören die implizite oder explizite Übersetzung anderssprachiger Passagen und all-
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gemein alle Formen von Redundanz, die es dem Leser ermöglichen, sich vormals Unverstandenes zu erschließen. Texte können überhaupt so angelegt sein, dass sie dem Leser ein anderes Idiom zumindest im Ansatz beibringen – die oft besprochenen Kriminalromane von Andrea Camilleri gehören dazu, die darauf setzen, dass ein Sprecher der italienischen Standardsprache im Laufe der Lektüre mehr und mehr Sizilianisch versteht (Helmich 2016, 119–125). Umgekehrt kann das Vorkommen eines einzigen unverständlichen, unerklärten, aber offenbar entscheidenden Worts in einem literarischen Text starke Verständnisprobleme hervorbringen. Es ließe sich sogar denken, dass ein entscheidendes, aber unverständliches Wort keinesfalls einem bestimmten Idiom zuordenbar ist, aber dennoch eine stark verstörende Wirkung hervorruft. Lewis Carrolls „Jabberwocky“ etwa macht aus der Erfindung englisch klingender, aber unverständlicher Wörter ein Bauprinzip, ebenso wie Christian Morgensterns „Galgenlieder“. Lennon schlägt auf der Grundlage dieses Befunds vor, graduell zwischen „strong“ und „weak multilingualism“ im Text zu unterscheiden – also zwischen solchen Formen der literarischen Mehrsprachigkeit, die (im Detail durch den Einsatz unterschiedlichster Mittel) mehr oder weniger große Verständnisprobleme bei einem hypothetischen einsprachigen Leser erzeugen (2010, 17 f., 74 f., 81 f.). Die Unterscheidung zwischen starker und schwacher literarischer Mehrsprachigkeit stellt zweifelsfrei eine grundlegende und sehr fruchtbare Unterscheidung zur Beschreibung der Spielarten literarischer Mehrsprachigkeit dar, die allerdings von der Forschung bislang sehr wenig genutzt wird. Das hängt womöglich damit zusammen, dass sie eine massive Öffnung des Gegenstandsbereichs andeutet. Gerade diejenigen Vertreter des Fachs, denen an konziser Korpusbildung gelegen ist, würden sich wahrscheinlich dagegen wehren, auch schwache Mehrsprachigkeit einzubeziehen. Es steht aber in Frage, inwiefern eine Abgrenzung ‚eigentlicher‘ Formen der Mehrsprachigkeit von nur ‚uneigentlichen‘ sachgerecht ist. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass aus methodisch-theoretischer Sicht, also auf der Grundlage der Spezifik sowohl von Literatur als auch von Philologie, eine Umkehrung der Voraussetzungen mit Blick auf die Sprachigkeit von Texten angezeigt ist. Anstatt von vornherein anzunehmen, der Text sei in einer Sprache verfasst, ist zu fragen, welche Formen von Sprachvielfalt (im Sinne von Semiodiversität) ein Text – jeder Text – nutzt. Daraus ist abgeleitet worden, dass es aus philologischer Sicht einsprachige Texte nicht geben kann – bzw. dass hohe Grade von Einsprachigkeit allenfalls als Extremfall des Normalfalls eines mehrsprachigen Texts (wieder: mehrsprachig im Sinne von Semiodiversität) angesehen werden müssen (Dembeck 2017a). Dem könnte man entgegenhalten, damit ginge der Erforschung literarischer Mehrsprachigkeit ihr Gegenstand verloren. Hier liegt aber eine methodische Verwechslung vor. Denn konzise Korpusbildung ist zwar von entscheidender Bedeutung, sobald es um die statistische Erfassung und Deutung von Daten geht, also immer dann, wenn man nach empirisch belegbaren Regelmäßigkeiten fragt. Im Falle der Philologie mit ihrem Interesse am Singulären kann sie aber nur eine scheinbare Sicherheit bieten. Die Umkehr der Voraussetzungen, die die Grundlage einer Mehrspra-
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chigkeitsphilologie ist, setzt an die Stelle der immer kontingenten Entscheidung über die Grenzen des Phänomens literarische Mehrsprachigkeit die Möglichkeit, vielfältige Formen von Mehrsprachigkeit zu unterscheiden. Die Rede ist also von einem Differenzierungsgewinn. Auf dieser Grundlage kann man die Bemühungen der Forschung um die Differenzierung der Spielarten literarischer Mehrsprachigkeit über die graduelle Unterscheidung stark/schwach hinaus systematisieren. Dabei zeigt sich, dass sehr oft starke Formen der Sprachvielfalt im Sinne von Lennon in der Tat solche sind, die wechselseitig intransparente Idiome verwenden; aber diese Spielart literarischer Mehrsprachigkeit lässt sich nun von vielen anderen sehr viel genauer unterscheiden. Eine Unterscheidung, die in der Forschung u. a. auch dazu benutzt worden ist, die Einschränkung auf auffällige Formen der literarischen Mehrsprachigkeit zu überwinden, betrifft den Grad, zu dem Sprachvielfalt im Text manifest wird. Geprägt wurde dieser Begriffsgebrauch vor allem durch Giulia Radaelli (2011), die auf der Seite der manifesten Mehrsprachigkeit vor allem Sprachwechsel und Sprachmischung unterscheidet und als Formen der Latenz beispielsweise unmarkierte/implizite Übersetzungen und Sprachverweise nennt (für eine genauere Systematisierung siehe Blum-Barth 2019, 14). Dass Übergangsformen denkbar sind, macht beispielsweise das Phänomen der Interferenz deutlich, beispielsweise also die Benutzung einer anderssprachigen Form der Wort- oder Satzbildung, die als anderssprachig auffallen kann, aber nicht muss (Blum-Barth situiert die Interferenz daher sowohl auf der Seite des Manifesten als auch auf der der Latenz). Alles in allem ist die Unterscheidung manifest/latent mit Blick auf literarische Mehrsprachigkeit auf einer ähnlichen Ebene angesiedelt wie stark/schwach: Beide kennen zum einen Gradationen und beziehen sich zweitens auf das potentielle Ergebnis sehr vieler anderer, im Einzelfall jeweils im Detail zu bestimmender Textverfahren. Wendet man sich diesen Details zu, so findet man in der Forschung eine Reihe von Analyseebenen, auf denen Textverfahren der literarischen Mehrsprachigkeit genauer beschrieben werden können (vgl. die Systematisierung in Dembeck/Parr 2017): Gefragt werden kann danach, welche Idiome bzw. Idiomtypen verwendet werden (1); auch kann untersucht werden, welche Sprachstrukturebenen dabei welche Rolle spielen (2); sodann gibt es unterschiedliche Arten und Weisen, auf die ein Kontrast zwischen unterschiedlichen Idiomen hergestellt wird – entweder mit Blick auf die Differenz von Sprachwechsel und Sprachmischung (3), mit Blick auf Verfahren der Übersetzung (4) oder mit Blick auf unterschiedliche Sprecher (5). Ausgebildet haben sich schließlich, was literaturhistorisch bedeutsam ist, gattungsspezifische Bündelungen von Textverfahren der Sprachvielfalt (6). (1) Es ist bereits deutlich geworden, dass es sinnvoll ist, bei der Einschätzung des Umgangs konkreter Texte mit Sprachvielfalt alle Typen von Idiomen zu berücksichtigen (siehe neben Grutman 1997 z. B. auch Burka 2016). Das betrifft zum ersten die bereits angesprochenen linguistischen Kategorisierungen (z. B. Dialekt und standardisierte Nationalsprache). Eingeschlossen werden müssen hier auch Plansprachen (Vo
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lapük und Esperanto kommen zum Beispiel in Finnegans Wake vor) oder andere ‚erfundene‘ Idiome (etwa die von J. R. R. Tolkien erfundenen Sprachen von Middle-earth, die bis heute ein populärkulturelles Eigenleben führen). Zum zweiten muss berücksichtigt werden, dass mit Blick auf literarische Darstellung eine funktionale Äquivalenz zwischen Idiomen, wie sie die Linguistik beschreibt, und solchen Sprachverwendungen besteht, die durch die Anwendung poetischer Regeln entstehen. Genannt wurde bereits das Phänomen, dass in der literarischen Darstellung unterschiedliche metrische Formen unterschiedliche Idiome im linguistischen Sinne repräsentieren können. Im Kontext von Oulipo ist darauf hingewiesen worden, dass die Anwendung eines poetischen contrainte einen ähnlichen Effekt hat wie das Schreiben in einer Sprache (Mathews 1998), das so gesehen nichts weiter ist als eine mögliche regelhafte Selbsteinschränkung literarischer Sprachverwendung unter anderen. Damit darf nicht gemeint sein, dass es keinen Unterschied gibt zwischen so etwas wie einem jambischen Tetrameter und so etwas wie Japanisch, aber die Beschreibung der Idiomvielfalt, die einem Text eigen ist, muss aufgrund der potentiellen funktionalen Äquivalenzen linguistische wie poetische Idiome berücksichtigen. Zum dritten kann es sein, dass aus dem Rückgriff auf mehrere Idiome ein neues Idiom entsteht – ein Vorgang, der in der Linguistik systematisch von der Kreol- und der Mixed-Language-Forschung beschrieben wird, aber schon auf der Ebene einzelner literarischer Texte beobachtet werden kann (siehe Finnegans Wake). (2) Die Tatsache, dass Textverfahren literarischer Mehrsprachigkeit alle Ebenen der Sprachstruktur einbeziehen können, wird in der Forschung bislang eher in der Praxis der Analyse unter Beweis gestellt, als dass sie theoretisch reflektiert würde. Dass hier prinzipiell ein erheblicher gestalterischer Spielraum besteht, macht aber schon ein kursorischer Blick auf die Mixed-Language-Forschung deutlich, die das Interagieren unterschiedlicher Idiome auf sehr unterschiedlichen Ebenen ausführlich beschrieben hat (Bakker/Matras 2013). Exemplarisch lässt sich aus vorliegenden Studien allerdings auch für die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Sprachvielfalt eine vorläufige Übersicht geben. Oft thematisiert wird etwa die Technik der sogenannten ‚wörtlichen Übersetzung‘, womit in der Regel nichts anderes gemeint ist als die Übernahme anderssprachiger Phraseologismen; damit verwandt ist die Anwendung anderssprachiger Satzbauweisen. Mit Blick auf die Phraseologie wie Syntax sind natürlich auch andere Mischungsformen denkbar, etwa die oblique Mischung von Phraseologismen aus unterschiedlichen Sprachzusammenhängen oder die Mischung unterschiedlicher Satzbauformen. Dass unterschiedliche Idiome auf der Ebene der Morphologie miteinander interagieren, ist in der Alltagssprache sehr häufig bei Fremdwortgebrauch bzw. der Nutzung von anderssprachigen Eigennamen zu beobachten; literarischen Gebrauch von diesem Verfahren macht beispielsweise die makkaronische Poesie, die u. a. davon lebt, dass sie volkssprachige Wörter mit lateinischen Flexionsendungen versieht. Auf der alltagssprachlichen Ebene gilt für Phonetik/Phonologie Ähnliches wie für die Wortbildung. Auch hier finden bei Fremdwort- und Eigennamenverwendung oft regulär Anpassungen an den Lautstand der
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aufnehmenden Sprache statt. Im Rahmen literarischer Schreibverfahren macht die homophone Übersetzung (Weissmann/Broqua 2019) von der Möglichkeit der phonemischen Umdeutung ebenso systematischen Gebrauch wie die mehrsprachige Paronomasie. In vielen Fällen ist diese Form der Interaktion zwischen unterschiedlichen Idiomen dabei eng mit der Ebene der (Ortho-)Graphie verbunden. Das Genre der sogenannten Lautpoesie lebt seit Hugo Ball davon, dass immer wieder nicht klar ist, wie eine bestimmte Graphemfolge auszusprechen ist, obgleich von der Aussprache abhängt, wie man ihr womöglich Bedeutsamkeit beimessen kann. Aber auch in Finnegans Wake ist im Grunde fast durchgängig unklar, welche Laut-Buchstaben-Zuordnungen man zugrunde legen darf. Mit Blick auf die phonetische/phonemische Ebene sind schließlich auch suprasegmentale Strukturen nicht zu vernachlässigen; beispielsweise können für die Bildung metrischer Muster auch solche prosodischen Eigenschaften genutzt werden, die vormals nur in einer anderen Sprache für die metrische Formbildung zur Verfügung standen. (3) Für die Beschreibung dessen, wie unterschiedliche Idiome im Text miteinander kontrastiert werden können, liegt eine (sicherlich nicht abgeschlossene) Reihe von Begriffen vor, die allerdings bislang nicht unter diesem Gesichtspunkt zusammengefasst worden sind. Zu nennen ist hier zunächst die Unterscheidung von Sprachwechsel und Sprachmischung, die von Radaelli als Spielarten manifester literarischer Mehrsprachigkeit genannt werden (2011, 54–61) (wogegen sich allerdings einwenden ließe, dass gerade die Sprachmischung auch eher latent wirken kann). Genauer bestimmen ließen sich die beiden Verfahren u. a. in Analogie zu den linguistischen Konzepten des code-switching und der Kontaktsprachen (Pidgins, Kreolsprachen, andere mixed langauges). Dann käme es darauf an zu bestimmen, ob es möglich ist, unterschiedliche Segmente unterschiedlichen Idiomen zuzuordnen (Sprachwechsel) oder nicht (Sprachmischung). Präziser ist es, den Sprachwechsel als eine Form der Verwendung unterschiedlicher Idiome zu beschreiben, bei denen die den Idiomen zuordenbaren Eigenschaften jeweils gebündelt in einzelnen Segmenten auftauchen (d. h., ein Segment, etwa ein Wort oder ein Satzteil oder ein Satz, erscheint in Schreibung, Phonemik, Wortbildung, ggf. Satzbildung und Phraseologie einsprachig). Unterschieden werden könnten dann wiederum (beispielsweise in Anlehnung an die linguistischen Arbeiten zum code-switching) unterschiedliche Arten und Weisen der Segmentierung (literatur- und kulturtheoretische Überlegungen zum Fremdwortgebrauch betreffen also im Grunde nur eine sehr spezifische Form von Sprachwechsel; siehe hierzu nach wie vor Adorno 1959). Sobald die segmentäre Bündelung der Sprachstrukturebenen nach Sprachigkeit aufgegeben wird, hat man es demgegenüber mit Sprachmischung zu tun, die dann, je nachdem, welche Ebenen der Sprachstruktur hinzugezogen werden, wiederum sehr viele verschiedene Ausprägungen haben kann (die meisten Beispiele im vorangehenden Abschnitt lassen sich hier einordnen). (4) Auch Verfahren der (impliziten oder expliziten) Übersetzung, die in literarischen Texten zur Anwendung kommen, können der Kontrastierung unterschiedlicher Idiome dienen. Auf die Bedeutung von homophoner wie ‚wörtlicher‘ Übersetzung
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wurde schon hingewiesen. Meist ist Übersetzung mit den Äußerungen unterscheidbarer Sprecher verbunden. Dasselbe gilt für die Thematisierung von Sprachvielfalt, die z. B. oft reflexiver Natur ist (Entfaltung von Theorien der Sprachvielfalt im Text), aber auch mit der Wiedergabe eines Geschehens und von Figurenrede einhergehen oder implizit schon dadurch gegeben sein kann, dass etwas als Übersetzung ausgegeben bzw. gelesen wird (siehe Rath 2017 und Babel 2015). (5) Dass literarische Texte Figurenrede von Sprechern unterschiedlicher Idiome wiedergeben und diese so gegeneinander profilieren, ist zwar der auffälligste Fall der Kontrastierung durch Verteilung auf unterschiedliche Sprecherpositionen (und, wie gesagt, der auffälligste Fall literarischer Mehrsprachigkeit überhaupt), aber keinesfalls der einzige. Als weiteres wichtiges Verfahren ist das anderssprachige Zitat zu nennen (Dembeck 2017b). In beiden Fällen ist in der Forschung vor allem herausgearbeitet worden, inwiefern Verfahren der impliziten oder expliziten sowie der mehr oder weniger wörtlichen Übersetzung eingesetzt werden. Pionierarbeit hat hier die bereits angeführte Arbeit von Sternberg geleistet (1981), die darauf hingewiesen hat, dass anderssprachige Figurenrede auf unterschiedliche Art und Weise an eine einsprachige Textumgebung angepasst werden kann – Beispiele wurden oben bereits gegeben. Ähnliche Verfahren sind für anderssprachige Zitate denkbar, zusätzlich spielt hier auch die Entscheidung eine Rolle, ob übersetzt wird oder nicht, ob diese Entscheidung explizit ist oder nicht und welcher Grad von Wörtlichkeit beim Zitieren erreicht wird. Auch eine bloße Anspielung auf einen anderssprachigen Text kann als unauffällige Form der Idiomkontrastierung durch Ausdifferenzierung von Sprecherpositionen gelten. (6) Gerade die Frage der Sprachvielfalt in der Figurenrede macht deutlich, dass es gattungstypische Konstellationen der dargestellten Verfahren gibt, mit denen literarische Texte auf Sprachvielfalt zugreifen. Denn typischerweise denkt man hier an Erzähltexte und, wenn wohl auch etwas weniger, an Dramen. Literaturhistorisch ist denn auch, wie noch zu zeigen ist, eine bestimmte Affinität einzelner Gattung zu auffälligeren Formen von Sprachvielfalt zu beobachten. Gleichwohl liegt hier in systematischer Hinsicht ein Desiderat der Forschung. Denn zu beschreiben wäre noch, inwiefern die strukturellen Spezifika, die sich im literarischen Evolutionsprozess für einzelne Gattungstraditionen ausgebildet haben, Bündelungen von Textverfahren nahelegen oder sogar befördern. Ansätze für eine solche Beschreibung liegen für die Lyrik vor. Gezeigt werden konnte etwa, dass die leichte Übertragbarkeit metrischer Schemata in anderssprachige Prosodien dazu führt, dass versspezifische Spielarten literarischer Mehrsprachigkeit nicht nur denkbar sind, sondern auch für die Entwicklung der Gattung eine zentrale Rolle gespielt haben (Bunia 2014, 207–231). Abschließend sei der Vollständigkeit halber eine analytische Begrifflichkeit angeführt, die in vielen Studien verwendet wird, nämlich die Unterscheidung unterschiedlicher Formen von literarischer Mehrsprachigkeit nach ‚Fokus‘ (siehe z. B. Radaelli 2011; Blum-Barth 2019). Diese Begrifflichkeit wird vor allem verwendet, um Formen der Translingualität (translingualism) einzubeziehen, also den Fall, in dem Autoren in
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mehreren Sprachen und vor allem in anderen Sprachen schreiben als in ihrer Muttersprache, wobei aber die einzelnen Texte jeweils oft einsprachig sind. Dieser Fall wird dann unterschieden von textinterner Mehrsprachigkeit, wie sie im Zusammenhang dieser Darstellung im Vordergrund steht. Dazu ist festzuhalten, dass das Wissen um die Sprachkompetenz eines Autors, wenn es für die philologisch valide Analyse und Interpretation eines Texts relevant sein soll, sich in irgendeiner Form auch am Text festmachen lassen muss. Insofern handelt es sich, wenn man weiß, dass beispielsweise ein auf Französisch verfasster Text von einem Muttersprachler des Italienischen verfasst wurde, nur dann um eine relevante Information, wenn man dies als eine wie auch immer implizite textuelle Kontrastierung dieser beiden Idiome versteht. Aus systematischer wie aus historischer Sicht lassen sich allerdings auch grundlegendere Einwände gegen die Translingualitätsforschung erheben. Zum einen ist bereits darauf hingewiesen worden, dass die Vorstellung von Sprachvielfalt als Glossodiversität eine grobe Reduktion einer umfassenderen Semiodiversität ist. Der Begriff der Translingualität setzt ganz offenkundig die Überschreitung von klar markierten Sprachgrenzen und damit Glossodiversität voraus. Entsprechend gehen viele Arbeiten aus diesem Bereich schlicht von wohldefinierten Einzelsprachen aus (z. B. Kellman 2000; Kremnitz 2004) – auch wenn dann das kreative Potential der Überwindung von Einsprachigkeit betont wird. Paradigmatisch wäre hier eine Umstellung auf eine Vorstellung von Sprachvielfalt, die nicht von Sprachen als zählbaren Einheiten ausgeht, hilfreich. Zum anderen greifen zumindest Teile der Translingualitätsforschung weiterhin auf die Semantik der Muttersprache zurück, entweder, indem als Gegenstand des Interesses Autoren bestimmt werden, die in einer anderen als der Muttersprache schreiben, oder aber Autoren, die über mehr als eine Muttersprache verfügen. Gegen diesen autorzentrierten Ansatz lassen sich nicht nur allgemeine literaturtheoretische Einwände vorbringen; vielmehr erweist sich die Translingualitätsforschung als Produkt einer historischen Konstellation, die in einer wirkmächtigen Arbeit von Yasemin Yildiz mit dem Begriff des „monolingual paradigm“ belegt worden ist (2012, 2).
4 Historischer Überblick An dieser Stelle zeigt sich, dass die systematische Beschreibung der Spielarten literarischer Mehrsprachigkeit selbst historisch verortet werden muss. Diese Verortung kann als Einstieg in eine Art provisorischer Sachgeschichte literarischer Mehrsprachigkeit dienen, die den Abschluss dieses Artikels bildet. Die Etablierung des Einsprachigkeitsparadigmas, die Yildiz um 1800 vollendet sieht (2012, 6–10), ist ein zentraler Wendepunkt, dessen kulturgeschichtliche Perspektivierung für die Geschichte der Mehrsprachigkeit in der Literatur zumindest in der westlichen Welt, auf die sich die Darstellung hier beschränkt, von entscheidender Bedeutung ist. Will man das Geschehen auf Kurzformeln bringen, so kann man einerseits sagen, das Einsprachigkeitsparadigma entstehe aus der Kombination der Mutter-
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sprachensemantik mit der Vorstellung von Glossodiversität; andererseits kann man Muttersprache definieren als Synthese von Volks- und Bildungssprache zu Nationalsprache. Beide Punkte verdienen eine ausführlichere Erläuterung. Dass die Differenz von Volks- und Bildungssprache von der Antike an durchgängig für die meistens schriftfähigen, aber dennoch zugleich überwiegend von Analphabetismus geprägten Gesellschaften Europas zentral war, ist ein kulturgeschichtlicher Gemeinplatz. Um die Entwicklung literarischer Mehrsprachigkeit nachzuvollziehen, ist es allerdings entscheidend, sie genau in den Blick zu nehmen. So lassen sich in der Behandlung der Bildungssprachen eine Vielzahl von Semantiken ausmachen, auf welche die Entwicklung des Einsprachigkeitsparadigmas später zurückgreifen konnte. Hierzu gehört die Unterscheidung von Hellenen und Barbaren in der griechischen Antike. Die Prägung dieser „asymmetrischen Gegenbegriffe“ (Koselleck 1975) geht einher mit der Forderung, Sprache habe als Medium möglichst unsichtbar zu werden (Trabant 2003, 25–34). Was so die vorgestellte Asymmetrie zwischen dem Griechischen und allen anderen Sprachen (die ohnehin, wie Reinhart Koselleck darlegt, nie ‚absolut‘ gedacht wurde) überlagert, ist die Vorstellung, das Griechische ließe sich zu einem Idiom reinen Denkens entwickeln, das von den Ausdruckseinschränkungen oder ‑verfälschungen jeder konkreten ‚Sprachigkeit‘ gefeit sei. Dies ist eine Semantik der Einsprachigkeit, die auf ähnliche Weise beispielsweise im Christentum in der Vorstellung einer pfingstlichen Sprache des Glaubens zu finden ist, die eine Art Erneuerung der einheitlichen adamitischen Ursprache impliziert (Trabant 2003, 45–52). Alle heiligen Sprachen zehren bis in die frühe Neuzeit hinein von der Vorstellung, sie hätten einen Grad der Ausbildung erreicht (oder seien ihm doch nahe), der sie über jede Form von Semiodiversität und die mit ihr verbundene Verwirrung der Gedanken, die mit der Sprachverwirrung von Babel in Zusammenhang gebracht wird, erhaben macht. Während eine Sprache wie das Lateinische über Jahrtausende einer weitgehenden morphosyntaktischen Kodifizierung unterliegt (Leonhardt 2009, 53–89), zeigen die gesprochenen Vernakularsprachen eine Evolution, die einen vergleichsweise hohen Grad an Semiodiversität mit sich bringt. Noch die Gegenüberstellung des (wie zeitgenössisch üblich) als grammatica bezeichneten Lateinischen mit der Volkssprache (vulgare) in Dante Alighieris De vulgari eloquentia um 1300 zeigt, dass dabei die Bildungs- und Volkssprachen als ebenso kategorial verschieden gelten wie in der griechischen Antike das Griechische und die Barbarensprachen (zur Komplexität des Verhältnisses zwischen den unterschiedlichen Sprachen des romanischen Mittelalters im Detail siehe aber Léglu 2010). Ebenso bemerkenswert wie zukunftsweisend ist dabei aber die Umwertung, die Dante vornimmt, wenn er die gramamtica auf Regelhaftigkeit festlegt, der vulgare aber Regelfreiheit und damit eine höhere Ausdrucksfähigkeit zuspricht. Die daraus folgende Aufwertung der Volkssprachen zu Literatursprachen lässt in den folgenden Jahrhunderten das Ensemble der Nationalsprachen entstehen, welche die europäische Literatur der Neuzeit prägen. Dieser Prozess ging einerseits mit einem massiven Standardisierungsschub einher, der durch die Durchsetzung des
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Buchdrucks mitbedingt war (Trabant 2003, 112–114) und aus den Volkssprachen im Grunde genommen grammaticae in Dantes Sinne machte. Andererseits wurde in diesem Zusammenhang, wie Thomas P. Bonfiglio in seiner bei Dante einsetzenden Studie über den Ausbau der Metaphorik der Muttersprachlichkeit zeigt (2010), eine vormals undenkbare, imaginäre Naturalisierung von Sprache betrieben. Ans Ende dieser Entwicklung setzen sowohl Yildiz (2012) als auch David Martyn (2014) die Zuspitzung der Muttersprachensemantik durch Johann Gottfried Herder. Auch wenn die verbreitete Unterstellung, Herder denke Muttersprachlichkeit und Nationalkultur als exkludierende, wohldefinierte Einheiten, so nicht haltbar ist, evoziert doch seine genieästhetische Neubestimmung von Literatur die Muttersprache als dasjenige Medium, das allein als Literatursprache taugt, weil der Sprecher nur hier als quasi-gesetzgeberische Instanz die poetische Sprachfortentwicklung legitimieren kann (Martyn 2014). Die Wirkmächtigkeit dieser Position für die europäisch geprägten Literaturen der letzten 250 Jahre kann kaum überschätzt werden. Die sie tragende Engführung des Natürlichkeitsversprechens der literarischen Verwendung von Volkssprachen mit deren bildungssprachlicher Aufwertung ist der Kern der modernen Muttersprachensemantik. Dadurch, dass sich parallel dazu spätestens im 19. Jahrhundert einerseits Kulturpolitiken des Nationalen (Thiesse 1999; Leerssen 2006), andererseits eine umfassende Übersetzungsindustrie und eine Fremdsprachenpädagogik entwickeln, kann sich das Einsprachigkeitsparadigma als Synthese von Muttersprachensemantik und Glossodiversität etablieren und zur tragenden Säule moderner Nationalstaatlichkeit werden. In deren imperialistischen Ausprägungen hat es dann auch zur Reaktivierung von Sprachpolitiken im Sinne des alten asymmetrischen Gegensatzes zu den ‚Barbaren‘ beigetragen. Der Grad, zu dem die Konstitution moderner Gesellschaften mit Einsprachigkeit in diesem Sinne verbunden ist, ist von der Forschung noch nicht präzise genug bestimmt worden. Autoren wie Yildiz betonen vor allem den exkludierenden Aspekt der Einsprachigkeit; allerdings ist auch darauf zu verweisen, dass dem Ausbau von Volkssprachen zu Bildungssprachen auch ein massiver emanzipativer Impetus innewohnt (Laroui 2014). Gramling hat in seiner Arbeit über die Invention of Monolingualism (2016) darauf hingewiesen, dass die Einsprachigkeit insofern auch ‚erfinderisch‘ gewesen ist, als sie viele Institutionen der Moderne ermöglicht hat, auf die zu verzichten allgemein schwerfallen würde (wie z. B. demokratische Öffentlichkeiten). Auf einer allgemeineren Ebene geht Yildiz davon aus – das deutet der Begriff des Paradigmas schon an –, dass es nicht ohne weiteres möglich sei, der modernen Einsprachigkeit zu entkommen (2012, 3 f.). Daher liest sie, ähnlich wie, wenn auch aufgrund anderer Voraussetzungen, die Translingualitätsforschung, literarische Versuche der Gegenwart bzw. des 20. Jahrhunderts, Einsprachigkeit zu überwinden, als ihrerseits emanzipatorische Versuche, auf die Etablierung eines neuen Paradigmas hinzuwirken, auch wenn einstweilen lediglich eine „postmonolingual condition“ erreicht ist. Grundsätzlich ist demgegenüber zu bedenken zu geben, dass Einsprachigkeit, wie gesehen, nur durch massive und dauerhafte kulturpolitische Intervention aufrechtzuerhalten ist,
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weshalb Momente von Semiodiversität, vor allem dann, wenn man Literarizität voraussetzt, an potentiell jeder Stelle aufscheinen und kulturpolitisch wirksam werden können. Auch in diesem Sinne lohnt sich ein offener Blick auf die literarische Verwendung von Sprachvielfalt, also ein solcher, der den Rückgriff auf unterschiedliche sprachliche Ressourcen und Idiome nicht für den Ausnahmefall hält, sondern für eine grundsätzlich (also: paradigmatisch) gegebene, wenn auch vielfältig soziokulturell wie politisch eingeschränkte Möglichkeit des (literarischen) Ausdrucks. Hiervon ausgehend lassen sich zumindest in sehr groben Umrissen Hinweise zur Sachgeschichte literarischer Mehrsprachigkeit geben (den derzeit wohl materialreichsten Überblick bietet Helmich 2016). Zwei Voraussetzungen müssen dabei gemacht werden. Zum einen ist als Grundbedingung schon vor der Etablierung der modernen Einsprachigkeit einzuräumen, dass auch die vormoderne Schriftlichkeit durch bildungssprachliche Standards eingeschränkt bleibt. Zum anderen kann die historische Entwicklung literarischer Mehrsprachigkeit zumindest einstweilen nur exemplarisch und hochselektiv als Geschichte der besonders auffälligen, meist also irgendwie Glossidiversität oder ihre Vorformen einbeziehenden Formen literarischer Mehrsprachigkeit erzählt werden – auch wenn für die Mehrsprachigkeitsphilologie die Geschichte der literarischen Mehrsprachigkeit nichts anderes wäre als eine Perspektive, die auf die gesamte Literaturgeschichte geworfen werden kann. Eine heuristische Handhabe bieten dabei, neben den eingangs angestellten grundsätzlichen historischen Überlegungen zur Emergenz moderner Glossodiversität, (mindestens) die folgenden Konstellationen: Traditionen, die bestimmte literarische Gattungen in besonderer Weise mit Mehrsprachigkeit verbinden (1); die Imperative der Originalitätsästhetik, die bestimmte, vorher so nicht wirksame Arten und Weisen des Umgangs mit literarischer Mehrsprachigkeit nahelegen (2); und schließlich historische Kontexte oder Milieus, in denen Sprachvielfalt unmittelbar sozial prägend (gewesen) ist und die in literarischen Texten Widerhall finden (3). Darüber hinaus böte sich das anderssprachige Zitat als Ansatzpunkt für eine Geschichtsschreibung literarischer Mehrsprachigkeit an. Hier sind allerdings die Vorarbeiten der Forschung bislang zu lückenhaft; daher wird hierauf im Folgenden nur punktuell eingegangen. (1) In der griechisch-römischen Antike findet sich ein besonders auffälliger Umgang mit Sprachvielfalt vor allem in zwei Gattungskontexten, in der Komödie und in der Satire. Diese Gattungen bleiben auf lange Zeit mit literarischer Mehrsprachigkeit verbunden – im Grunde genommen bis auf den heutigen Tag. Seit Aristophanes zeichnet sich die Komödie durch die Nutzung von Dialekten aus, die in der Forschung weniger als Mittel zur Erzeugung von Komik ausgewiesen wird (wie sie es später sicherlich ist), denn als Mittel des literarischen Realismus (Zimmermann 2014). Die römische Komödie und im Anschluss an sie die gesamte europäische Komödientradition setzen dies fort. Dabei kommen etwa bei Plautus neben Griechisch und Latein auch exotischere Idiome vor, beispielsweise ein von den handelnden Personen durch homophone Übersetzung verarbeitetes (Pseudo-)Punisch. Ähnliches gilt für die Komödien des Mittelalters und vor allem der frühen Neuzeit.
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Sprachvielfalt in der Figurenrede findet sich prominent etwa bei Lope de Vegas, Shakespeare (Dumitrescu 2016), Gryphius (Nebrig 2014) und schließlich Lessing (Conter 2014). In der italienischen commedia dell’arte wird dialektale Codierung durchgängig zur Markierung der Typen genutzt, deren rollengebundenes Verhalten für die gattungsprägende Komik sorgt. In all diesen Fällen entfaltet sich Sprachvielfalt vor dem Hintergrund der Konkurrenz zwischen den zur Bildungssprachlichkeit erstarkenden Volkssprachen und den etablierten Bildungssprachen (z. B. Englisch/Latein bei Shakespeare, Deutsch/Latein/Griechisch bei Gryphius – in beiden Fällen inklusive homophoner Übersetzung –, Deutsch/Französisch bei Lessing). Insbesondere die Nutzung dialektaler Differenzen bleibt im populärkulturellen Bereich für Komödien bis heute typisch (‚Volkstheater‘). Der Bereich des satirischen Schreibens wiederum ist ursprünglich schon insofern recht unmittelbar mit Sprachvielfalt verbunden, als der lateinische Begriff der satura (u. a. ‚Pastete‘, ‚Ragout‘) die Schreibweise als Form der (nahrhaften, aber womöglich auch schwer verdaulichen) Vermischung oder Vermengung von unterschiedlichsten Zutaten ausweist – konkret von gebundener und ungebundener Rede, Stillagen, Zitaten aus unterschiedlichen Quelltexten und Gattungen, aber eben auch von Idiomen, und dies vor allem in der sog. menippeischen Satire, prominent bei Petron und Lukian, aber auch in der lucilischen Tradition (siehe zu Lucilius Chahoud 2004). In der (frühen) Neuzeit schließt die formsprengende Prosa etwa von Rabelais, Fischart, Sterne, Hamann, Jean Paul und noch von Joyce und Arno Schmidt an diese Tradition an. In diesen Texten sind teils sehr viele unterschiedliche Idiome wahrnehmbar. Die Triebkraft dieser Texte liegt zu einem großen Teil darin, dass sie (selbstreflexiv) die Möglichkeiten von Semiodiversität ausschöpfen, um so immer neue und immer mehr Komplexität ermöglichende Arten und Weisen von Bedeutsamkeit freizusetzen (siehe zum Modell des saturierten Texts Dell’Anno 2020). Eine seit der frühen Neuzeit sich verbreitende Form literarischer Mehrsprachigkeit, die zumindest teilweise mit der (menippeischen) Satire verbunden ist, stellt die sogenannte makkaronische Dichtung dar, deren Bezeichnung im Anschluss an das Carmen macaronicum von Tifi degli Odasi (1488) sowie die Maccaroneae von Teofilio Folegno (1517) schon auf den Zusammenhang hindeutet, insofern sie die Texte als Mischgerichte ausweist. Prominente Autoren, die sich makkaronischer Schreibweisen bedienen, sind u. a. die bereits genannten menippeischen Satiriker Rabelais und Fischart, aber es gibt zeitweise nachgerade eine Schwemme makkaronischer Texte unterschiedlichster Provenienz (siehe z. B. die Quellensammlung in Genthe 1829). Die makkaronische Dichtung ist ein typisches Produkt der frühneuzeitlichen Sprachkonstellation in Europa. Sie betreibt systematisch die Mischung des Lateinischen (dessen Satz- und Wortbildung übernommen wird) und jeweils einer Volkssprache (der ein Teil des Vokabulars entnommen wird). Im Einzelnen sind die Verfahren der Sprachmischung, die sich in diesem Zweig der Poesie finden, sehr komplex; sie binden unterschiedliche Ebenen der Sprachstruktur ein und sind in ihrer Diversität in der Forschung bislang zu wenig beschrieben worden. Soziokulturell lässt sich die makka
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ronische Dichtung als Souveränitätsgeste deuten, durch die sich ein akademisch geprägtes Milieu sowohl über seine illiterate Umgebung als auch über das Bildungsidiom Latein selbst erhebt (siehe allgemein zur lateinisch-volkssprachigen Satire der frühen Neuzeit Hess 1971). Ein dritter Gattungszusammenhang, in dem sich spätestens seit dem Mittelalter auffällige Formen literarischer Mehrsprachigkeit finden, ist die (kürzere) Versdichtung. In der Lyrik ist etwa die Verwendung anderssprachiger Zitate schon lange üblich und beispielsweise in der antiken Gattung des cento, die Texte aus der Kompilation zitierter Verse generiert, bereits institutionalisiert. So verwendet die spätere romanische Troubadour-Lyrik gerne Zitate okzitanischer Vorbilder in der Originalsprache (Kay 2013) – ein Verfahren, das in den romanischen Volkssprachen u. a. durch die geringen Verständnishürden begünstigt wird. Noch in Dantes Commedia finden sich nicht nur Zitate aus dem Lateinischen, sondern etwa auch aus dem Okzitanischen – und darüber hinaus gibt es auch Beispiele für verballhorntes Hebräisch (Klinkert 2014). Aber auch jenseits des Zitats gibt es in der mittelalterlichen Lyrik viele Formen vor allem von Sprachwechsel, beispielsweise in der Vagantenlyrik der Carmina Burana, bei Oswald von Wolkenstein (Classen 1996; allgemeiner zu lyrischer Mehrsprachigkeit im mehr oder weniger deutschsprachigen Mittelalter Classen 2013), aber auch in Texten aus dem altfranzösischen Sprachraum (siehe Zumthor 1960; auch hier spielen Zitate eine wichtige Rolle). Allgemein lässt sich für Mittelalter wie frühe Neuzeit wohl formulieren, dass die literarische Emanzipation der Volkssprachen eine gewisse Konkurrenz nicht nur zum Lateinischen, sondern auch zwischen den unterschiedlichen Idiomen mit sich bringt, die u. a. dazu führt, dass sich die Texte gerne aufeinander beziehen, und zwar oft auch durch wörtliche, anderssprachige Zitate. Ist schon in der römischen Antike das Originalzitat aus dem Griechischen üblich, so entwickelt sich spätestens in der frühen Neuzeit eine Tradition des ‚klassischen‘ Zitats aus, das gerne im Original, also meist im Lateinischen, dargeboten wird. Prominent sind hier beispielsweise die hochgradig selbstreflexiven Zitierverfahren bei Montaigne oder Erasmus von Rotterdam. (2) Mit der Etablierung der modernen Einsprachigkeit und der Originalitätsästhetik erhält der Umgang mit literarischer Mehrsprachigkeit spätestens um 1800 eine neuartige kulturelle Relevanz. Das betrifft nicht nur den bereits erwähnten Umstand, dass translinguale Autorschaft auf eine gewisse Zeit hin vom Regel- zum Ausnahmefall wird, sondern selbstredend gerade auch das Erscheinen von Anderssprachigkeit im Text. Das bedeutet keinesfalls, dass Sprachvielfalt tatsächlich durchgängig aus den Texten getilgt würde. Es entwickeln sich aber, über die bereits für Antike, Mittelalter und frühe Neuzeit rekonstruierten Gattungsaffinitäten hinaus, die sich durchaus erhalten, nach und nach neuartige Verfahren des Umgangs mit Sprachvielfalt. Dabei gilt, dass Anderssprachigkeit grundsätzlich als Quelle literarischer Originalität behandelt wird. Spätestens um 1900 entstehen in diesem Zusammenhang dann besonders auffällige und radikale Formen des Umgangs mit literarischer Mehrsprachigkeit.
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Parallel zur programmatischen ,Vereinsprachlichung‘ der Literatur ist ab um 1800 eine Neugestaltung des literarischen Umgangs mit Sprachvielfalt in mindestens zweierlei Hinsicht zu beobachten: Zum ersten bewirkt die bereits erwähnte eklatante Steigerung der Übersetzungstätigkeit, dass verstärkt anderssprachige Gattungsvorgaben, poetische Formen, Darstellungsstrategien und überhaupt Begriffe, Metaphern und Wortbildungen übernommen und innerhalb der einen Sprache zur Steigerung der Formenvielfalt genutzt werden. Programmatisch wurde Übersetzung beispielsweise im deutschsprachigen Raum von Herder und Schleiermacher als Motor der sprachlichen wie literarischen Erneuerung ausgewiesen. Zugleich sorgt die Praxis des (übersetzten wie nicht-übersetzten) anderssprachigen Zitierens für eine Markierung der derart forcierten sprachigen Fremdreferenzialität literarischer Texte. Subtiler noch sind Formen der mehr oder weniger einsprachigen Repräsentation von Sprachvielfalt, die darauf angelegt sind, anderssprachigen literarischen Traditionen eine gewisse Präsenz im Text zu geben bzw. auf diese Art und Weise Sprachvielfalt zu simulieren. Berühmte Beispiele sind Goethes Lehrjahre (Stockhammer 2017), aber auch desselben Faust (Dembeck 2018). Auch die Konjunktur von (oft mit Herausgeberfiktionen einhergehenden) Pseudoübersetzungen, also von Texten, die als Übersetzung aus einer anderen Sprache ausgegeben werden und damit diese andere Sprache zumindest als alternativen Ausdrucksraum beständig mitführen, lässt sich als eine solche Form der sprachigen Fremdreferenzialität von Literatur begreifen (zum Begriff der Pseudoübersetzung siehe Rath 2017, weiterhin Babel 2015). Zwar ist die Tradition der Pseudoübersetzung deutlich älter, aber immerhin fallen einige ihrer Gründertexte in Epochen, die im jeweiligen Sprachraum Zeiten der systematischen Standardisierung und ‚Vereinsprachlichung‘ gewesen sind. Dies gilt beispielsweise für Cervantes’ Don Quixote (1505/10) und für Montesquieus Lettres persanes (1721). Gerade in Verbindung mit Schreibweisen der menippeischen Tradition (etwa bei Wieland) verkörpert sich in Pseudoübersetzungen wohl auch die humoristische Reflexion des Verzichts auf große Teile des potentiell zur Verfügung stehenden Sprachreservoirs im Namen der Moderne (zur Bedeutung von Übersetzungsfiktionen in der neuesten Literatur siehe Walkowitz 2015). Zum zweiten behält Anderssprachigkeit im Rahmen der ‚Vereinsprachlichung‘ der Literatur, wenn auch meist in sparsamer Dosierung, die bereits für die Komödientradition im Besonderen festgehaltene Funktion, Realismus zu signalisieren – wenn auch mitunter auf recht komplexe und teils paradoxale Weise, wie Grutman (2019) mit Blick auf anderssprachige Figurenrede in Romanen z. B. von Hugo und Tolstoi gezeigt hat. Oft reicht schon die Übernahme von einzelnen anderssprachigen Begriffen, um eine bestimmte Form von Lokalkolorit zu erzeugen (siehe hierzu ausführlicher mit Blick auf die französischsprachige Literatur Ullman 1964). Als prominente Beispiele lassen sich etwa historische Romane aufführen, von Sir Walter Scotts Ivanhoe (1820) über Alessandro Manzonis I promesi sposi (1827) zu Hugos Notre-Dame de Paris (1831) und weit darüber hinaus (für den mehr oder weniger englischsprachigen Modernismus siehe Taylor-Barry 2013, 39–79). Eine recht exzessive Form der Sprachvielfalt führt Prosper Mérimées Carmen (1847) vor; Hermann Melvilles Moby Dick (1851) macht
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Sprachvarianz zum Element einer frühen literarischen Auseinandersetzung mit Globalisierung; und Mark Twain nutzt sozio- wie dialektale Vielfalt zur Ausgestaltung von Sittenbildern der amerikanischen Gesellschaft. Noch die Romane von Thomas Mann, angefangen mit der Eingangsszene zu dessen Erstlingsroman Die Buddenbrooks (1901), stehen gewiss in dieser Tradition und auch viele Werke der Gegenwartsliteratur. Dasselbe gilt für viele derjenigen Werke, die Gegenstand des nächsten Abschnitts sind – und alles in allem ist der Versuch einer erschöpfenden Aufzählung wohl aussichtslos. Jenseits dieser im weitesten Sinne realistischen Inanspruchnahme von Sprachvielfalt lässt sich spätestens um 1900 eine avantgardistische Gegenbewegung zur modernen Einsprachigkeit beobachten. Es etablieren sich Schreibweisen, die auffällige Formen von Sprachvielfalt zur poetischen Innovation nutzbar machen. Berühmte Beispiele sind die Lyrik des Dada (Kilchmann 2016; Dembeck 2019), der заумь (Zaum) Kručenychs und Chlebnikovs (Janacek 1996), die Romane von Joyce, die Lyrik von T. S. Eliot und Pound (Firchow 2002; zu Joyce’ Ulysses Taylor-Batty 2013, 113–145). Geht es der Mehrsprachigkeit im Dada darum, eine Art vor-sprachiger Sprachkreativität zu entbergen (Dembeck 2019), sind die Experimente von Joyce, Eliot und Pound (Riesner 2014) eher getragen von einem gewissen Willen zur modernistischen, quasi-mythischen Synthese disparater Sprachzusammenhänge. Die Verwendung von Sprachvielfalt geht hier oft einher mit einem hohen Grad an Zitathaftigkeit und mit Techniken der Montage. Im Bereich des Sprachvielfalt nutzenden Erzählens (oder allgemein der hochgradig selbstreflexiven Mehrsprachigkeitsprosa) finden sich im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts zahlreiche weitere Beispiele, etwa die Texte von Arno Schmidt (besonders radikal ist hier Abend mit Goldrand von 1975), von Julián Ríos, Georges Perec, Philippe Sollers, J. M. G. le Clézio oder Maurice Roche. In der Lyrik haben etwa die Arbeiten des Oulipo oder auch Ernst Jandls, A. C. Artmanns, Oskar Pastiors an die Experimente der Avantgarden der Jahrhundertwende mit Sprachvielfalt angeknüpft. Sehr häufig gilt für diese Beispiele, dass Sprachvielfalt zur Steigerung von Ausdrucksformen genutzt wird, ganz im Sinne der Originalitätsästhetik, aber häufig auch über sie hinaus, je nachdem, welche konkreteren (kultur‑)politischen Agenden womöglich verfolgt werden (beispielsweise die Dynamisierung des Verhältnisses von contraintes und Sprachkreativität im Fall von Oulipo). Aber auch hier gilt, dass das Auflisten von Beispielen fast schon irreführend ist angesichts der Menge an Texten, die so aus der Darstellung ausgeschlossen werden. (3) Im Vorbeigehen wurden bereits eine Reihe von soziohistorischen Kontexten erwähnt, innerhalb derer Sprachvielfalt eine besonders ausgeprägte Rolle spielte, was wiederum in der in diesen Kontexten entstandenen Literatur Spuren hinterlassen hat. Die römische lateinisch-griechische Zweisprachigkeit zählt ebenso hierzu wie die mittelalterliche und frühneuzeitliche Konkurrenz zwischen dem Lateinischen und den Volkssprachen. Hinzuzufügen sind hier regionale Besonderheiten, die teils über lange Zeiträume und oft bis heute die Verwendung auffallender Formen von Sprachvielfalt in litera-
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rischen Texten begünstigt haben. Etwa ist die Entstehung der Literatursprache des Middle English insgesamt als Prozess der Kreolisierung zu verstehen – Chaucers Canterbury Tales sind vor dem zeitgenössischen Hintergrund in einem „multilingual vernacular“ (Firchow 2002, 61) verfasst. In der Forschung sind u. a. die Literaturen von Quebec (Grutman 1997) und Luxemburg (Glesener 2013) sowie diejenigen der österreichisch/ slowenischen Grenzgebiete (Leben/Koron 2019) und Südosteuropas (Blum-Barth 2019) mit Blick auf die ihnen inhärente literarische Sprachvielfalt untersucht worden. Ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich weitere soziale Kontexte und/oder Milieus benennen, die eine ähnliche Affinität zu Sprachvielfalt aufweisen. Die globalisierte Elite des Jetsets thematisiert beispielsweise Christine Brook-Roses Roman Between (1968), ein Roman über eine Simultanübersetzerin, deren Sprachkompetenzen ausführlich vorgeführt werden – und zwar in einer Schreibweise, die Festlegungen schon insofern vermeidet, als keine Verbformen von to be benutzt werden (Lennon 2010, 84 f.). Dasselbe gilt für Ingeborg Bachmanns Erzählung Simultan (1972), die in weiten Strecken in erlebter Rede die Gedanken der Hauptfigur, ebenfalls einer polyglotten Simultanübersetzerin, wiedergibt (siehe hierzu Radaelli 2011, 153– 242). In Anthony Burgess’ A Clockwork Organge (1963) wird eine Form von Jugendsprache simuliert, die das Englische mit russischen Lehnwörtern durchsetzt. Schließlich machen die postkoloniale Literatur sowie die Literatur der Migration in einem oft erheblichen Maße von Sprachvielfalt Gebrauch (siehe zu diesem Zusammenhang z. B. Sturm-Trigonakis 2007 und Vlasta 2016). Ein prominentes vergleichsweise frühes Beispiel, das Sprachvielfalt sehr auffällig einsetzt, ist G. V. Desanis 1948 erschienener Roman All about H. Hatter (Lennon 2010, 40–51); genannt werden kann auch Derek Walcotts Versepos Omeros (1990), in dem sich das Englische mit den Kreolsprachen der Karibik verbindet. Für den englischsprachigen Raum sind in der Forschung mit Blick auf literarische Mehrsprachigkeit u. a. Richard Rodriguez’ The Hunger of Memory (1982), Eva Kaufmans Lost in Translation: Life in a New Language (1989) oder Ilan Stavans On Borrowed Words: A Memoir of Language (2001) diskutiert worden (Lennon 2010), für den deutschsprachigen Raum Yoko Tawada, Emine Sevgi Özdamar und Feridun Zaimoglu (Yildiz 2012), für den französischsprachigen u. a. die sogenannte Beurs-Literatur (Helmich 2016, 131 f.). Auch diese Liste ist indes mehr als unvollständig und kann im Grunde nur die Funktion haben, einen ersten Zugriff auf die Phänomene zu bieten. Nur sehr vorsichtig lassen sich daher auch mit Blick auf alle genannten Bereiche allgemeinere Aussagen treffen. Zu konstatieren ist zumindest ausweislich der Forschung eine gewisse Vorliebe für ein Erzählen, das die Thematisierung von Spracherfahrung mit einer anspruchsvollen, die Anforderungen der Einsprachigkeit auf unterschiedlichste Art und Weise angreifenden Form der literarischen Mehrsprachigkeit verbindet. Gleichzeitig aber gibt es eine große Vielfalt anderer Gattungsformen, deren Bedeutung erst noch abgeschätzt werden müsste. Abschließend sei auf ein Genre verwiesen, das zwangsläufig Sprachvielfalt thematisiert und oft auch ausstellt, nämlich die Lagerliteratur, angefangen mit Primo Levis
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Se questo è un uomo (1947) und mit prominenten Vertretern wie Jorge Semprún, Elie Wiesel und Imre Kertész, deren Texte auf unterschiedliche Weise die Sprachvielfalt und die Sprachhierarchien in den Lagern behandeln (siehe hierzu Helmich 2016, 77– 109). Auch hier ist die Bandbreite der Verfahren zu groß, um Verallgemeinerungen zuzulassen. Nur ein Beispiel sei kurz angerissen. So wird in Jorge Semprúns Écriture ou la vie (1993) die durch die Lagererfahrung bewirkte Verdoppelung der Realität – die Überlebenden sind stets von dem Verdacht begleitet, das, was sie erleben, sei nur ein Traum – mit der Verdoppelung der Sprache in Mutter- und Schreibsprache verbunden. Alles in allem muss mit Blick auf die Sachgeschichte der literarischen Mehrsprachigkeit, gleichgültig, welches der hier skizzierten potentiellen Zugriffe man sich bedienen mag, konstatiert werden, dass die Desiderate der Forschung das bisher Erreichte bei Weitem übersteigen. Gerade mit Blick auf die oben referierte methodische Neuausrichtung der literarischen Mehrsprachigkeitsforschung als Mehrsprachigkeitsphilologie kann man diesen Zustand aber auch begrüßen. Zu erwarten sind noch viele Neu- oder Wiederbeschreibungen literaturgeschichtlicher Zusammenhänge, die dann neue Auskunft geben können über die Bedeutung von Sprachvielfalt für Literatur, Kultur und Gesellschaft.
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VI Domänen von Mehrsprachigkeit
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21. Mehrsprachigkeit in der internationalen Politik: UNO und EU Abstract: Die Vereinten Nationen (UNO) und die Europäische Union (EU) sind als große internationale Organisationen notwendig und in vielfältiger Weise durch Mehrsprachigkeit geprägt. So treffen sie auf allen Ebenen Regelungen, um organisationsintern Vertreterinnen und Vertretern sämtlicher Mitgliedsstaaten möglichst gleichwertige kommunikative Teilhabe zu ermöglichen und organisationsextern eine Sprachenpolitik zu realisieren, die welt- bzw. europaweit Sprachenvielfalt sowie den Schutz sprachbezogener Individual- und Gruppenrechte fördert. In diesem Beitrag werden zunächst die programmatischen Leitlinien dargelegt, die in UNO und EU die Grundlagen für den Umgang mit Mehrsprachigkeit bilden. Anschließend werden die Sprachregime beschrieben, mittels derer die Organisationen ihre Mehrsprachigkeitsprogramme zu realisieren suchen. Drittens werden dann die programmatischen Ansprüche und die sprachliche Realität in der Praxis einander gegenübergestellt, bevor schließlich die Ursachen für das Auseinanderklaffen der beiden erörtert werden. 1 2 3 4 5 6 7
Einleitung: Mehrsprachigkeit – Internationalität – Politik Mehrsprachigkeit in internationalen politischen Organisationen: UNO und EU Die Vereinten Nationen Die Europäische Union Programmatik, Sprachregime und die Realität von Mehrsprachigkeit und Sprachenvielfalt innerhalb von UNO und EU Schlussbemerkung Literatur
1 Einleitung: Mehrsprachigkeit – Internationalität – Politik Die Antworten auf die Frage, was Politik sei, reichen von Aristoteles’ Bestimmung von Politik als Streben nach der Verwirklichung des Allgemeinwohls bis Niccolò Machiavellis Auffassung von Politik als Kunst des Machterwerbs. Einigkeit besteht jedoch in Philosophie und Sozialwissenschaften über das, was Fröhlich prägnant zum Ausdruck bringt, wenn er feststellt: „Sprache ist das zentrale Medium der Politik“ (2013, 391), und dann fortfährt, indem er die Bestimmung des Politischen auf Aristoteles’ „doppelte Kennzeichnung des Menschen [...] als sprachbefähigtes und gemeinschaftsbildendes Wesen“ zurückführt. Menschen bilden also Gemeinschaften, und sie tun das mittels Sprache oder vielmehr – und hier wäre die oben zitierte These zu präzisieren – mittels bestimmter Sprahttps://doi.org/10.1515/9783110623444-021
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chen. Denn politische Akteure und Akteurinnen kommunizieren miteinander ja nicht in Sprache, im Singular ohne Artikel und im Sinne einer abstrakten und universellen menschlichen Fähigkeit verstanden, sondern sie äußern sich mündlich und schriftlich auf Deutsch, Tschechisch, Mandarin, Kiswahili usw. oder in einer der vielen weltweit verwendeten Gebärdensprachen. Internationale Politik ist per se mehrsprachige Politik. Politische Diskurse vollziehen sich also auch innerhalb einzelner Staaten notwendigerweise in einer oder – weil die (offizielle staatliche) Einsprachigkeit vieler europäischer Länder die Ausnahme und die territoriale und/oder gesellschaftliche Mehrsprachigkeit weltweit der Normalfall ist (vgl. Edwards 2010, 447 f.) – in mehreren Sprachen. Internationale Kommunikation, d. h. sprachliche Interaktion von Menschen aus unterschiedlichen Staaten, ist daher in aller Regel mehrsprachig. Ob in Konversationen, Verhandlungen, Arbeitstreffen, Blog-Chats Französisch, Japanisch oder Wolof gesprochen oder geschrieben wird, ist immer eine Folge von impliziten oder expliziten, in der Situation selbst erfolgenden oder aber ihr vorausliegenden Aushandlungen. Interagieren Menschen miteinander im Rahmen von Kommunikationsformen, die sie routiniert beherrschen (z. B. im beruflichen Alltag oder während Urlaubs- oder Geschäftsreisen), können sie sich auf stillschweigende, eingespielte, als selbstverständlich hingenommene Übereinkünfte verlassen. In anderen Fällen werden ad hoc gemeinsame Lösungen für die Sprachenwahl gefunden oder von einigen, je nach Machtverteilung innerhalb der jeweiligen Sprechgemeinschaft, vorgegeben und durchgesetzt. Hiervon unterscheiden sich wiederum Konstellationen, in denen explizit festgelegt und möglicherweise in kontroverser Weise darum gestritten werden muss, wer sich wann in welcher Form und in welcher Sprache äußern kann, in welchen Sprachen wichtige Informationen zur Verfügung gestellt werden, oder welche Sprachversion eines Abschlussdokuments als für alle bindend gilt. Letzteres ist in internationalen politischen Organisationen der Fall. Hier ist Mehrsprachigkeit in zweifacher Weise Gegenstand expliziter Festlegungen. Intern regeln diese Organisationen die Kommunikation zwischen ihren Funktionärinnen und Funktionären sowie den Vertreterinnen und Vertretern ihrer Mitglieder im Hinblick auf die z. B. in Parlamenten und Gremien und bei der Formulierung allgemein gültiger Dokumente verwendeten Amts- und Arbeitssprachen; nach außen verfolgen sie das Ziel, sprachliche Rechte von Individuen und Sprachgemeinschaften zu schützen sowie die sprachliche Vielfalt weltweit bzw. innerhalb ihrer territorialen Grenzen zu erhalten und zu fördern. Im Folgenden wird Mehrsprachigkeit primär unter dem Gesichtspunkt ihrer Rolle in internationalen Organisationen betrachtet. Dabei werden zum einen die Sprachregime (Coulmas 2005; Meyer 2018, 229) betrachtet, die der Kommunikation im Inneren von UNO und EU zugrunde liegen, und zum anderen untersucht, welche Anstrengungen die Organisationen unternehmen, um durch Sprachpolitiken Mehrsprachigkeit in ihren Mitgliedsstaaten zu fördern und Sprachenvielfalt zu bewahren.
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2 Mehrsprachigkeit in internationalen politischen Organisationen: UNO und EU Wie Mehrsprachigkeit Organisationen prägt, hängt wesentlich von deren Mitgliederstruktur sowie den Institutionen und Regeln ab, die sie sich im Hinblick auf die Rolle und den Gebrauch von Sprachen geben. UNO und EU sind Staatenbünde. Ihre Mitglieder bringen die Sprachen, sowohl offizielle und Mehrheitssprachen als auch Regionalund Minderheitensprachen, in die Organisationen ein. Damit stehen diese einerseits vor der Aufgabe, ihre internen und externen mündlichen und schriftlichen Kommunikationsprozesse in unterschiedlichen Organen, Einrichtungen und Medien in der Form von Sprachregimen zu gestalten, und andererseits, mit der Vielfalt der Sprachen und Sprachgemeinschaften innerhalb ihrer Mitgliedsländer und, Staatsgrenzen überschreitend, in unterschiedlichen Großregionen umzugehen. Im Hinblick auf die Binnenkommunikation sind zwei Aspekte bedeutsam, die sich in einem Spannungsverhältnis zueinander verhalten. Da sich UNO und EU qua Gründungsverträge als Vereinigungen Gleichberechtigter begreifen, sollten Entscheidungen über Amts- und Arbeitssprachen allen Berechtigten ermöglichen, sich aktiv an allen für sie relevanten Kommunikationsprozessen zu beteiligen. Gleichzeitig ist die Arbeitsfähigkeit der Organisation zu wahren, was Einschränkungen z. B. hinsichtlich der Anzahl der verwendeten Sprachen bedingt. Dass Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit im Fokus der Aufmerksamkeit von UNO und EU stehen, ist in allgemein anerkannten Normen begründet, die in der Form der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu den Gründungsdokumenten dieser Staatenbünde gehören (vgl. de Varennes 2001; Wright 2001). Unmittelbar aus dem Grundrechtekatalog werden Sprachenrechte (language rights) und die darin eingeschlossenen sprachlichen (Menschen-)Rechte (linguistic rights) abgeleitet, wie es z. B. der UN-Sonderberichterstatter für Minderheitenfragen in seinem Praxisführer mit dem Titel Language Rights of Linguistic Minorities tut (United Nations Special Rapporteur 2017, 5 f.). Auf der Basis dieses Grundverständnisses begreifen die Organisationen es als ihre Aufgabe, Mehrsprachigkeit zu fördern sowie einzelne Sprachen und Sprachgemeinschaften zu schützen. Beschäftigt man sich nun detaillierter mit Einstellungen von UNO und EU zur Mehrsprachigkeit und den praktischen Konsequenzen, die daraus gezogen werden, treten drei unterschiedliche Ebenen hervor: 1. programmatisch: Was sagen die Gründungsdokumente sowie anschließende Erklärungen und Beschlüsse, die Geschäftsordnungen der Abteilungen und der Unterorganisationen zu dem Stellenwert, der Mehrsprachigkeit im Geltungsbereich der Organisationen zugeschrieben wird, und den Umgang damit? 2. organisatorisch: Welche Sprachregime geben sich diese Organisationen z. B. in Form von Gremien, Institutionen, Normen für den Sprachgebrauch, um ihre programmatischen Ziele zu erreichen?
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praktisch: Wie ist die Kommunikation innerhalb der Organisationen und aus ihnen heraus im Hinblick auf die Realisierung von Mehrsprachigkeit in der Praxis zu analysieren? Wie tun sie dies selbst?
3 Die Vereinten Nationen Die UNO ist eine politische Organisation, deren gegenwärtig 193 einen Großteil der Staaten weltweit darstellen. Ausgeschlossen sind aufgrund von politischen und völkerrechtlichen Differenzen innerhalb des Sicherheitsrats und der Generalversammlung wenige Staaten bzw. politische Entitäten, die für sich den Status eines souveränen Staats beanspruchen. Hierzu zählen u. a. die Republik China (Taiwan), Palästina und die Republik Kosovo. Die Anzahl der weltweit und damit, mit wenigen Ausnahmen, in den UN-Mitgliedsstaaten gesprochenen Sprachen, beträgt je nach Zählweise zwischen 5 000 und 7 500. Für die Arbeit innerhalb der UNO, ihren Unterorganisationen und Gremien ergibt sich hieraus die Aufgabe, die interne Kommunikation durch eine effiziente Spracheninnenpolitik zu regeln. Nach außen leitet sich aus dem oben genannten Recht auf Sprache die Verpflichtung ab, sich aktiv für den Schutz von Sprachenrechten und Sprachenvielfalt einzusetzen.
3.1 Sprachenprogrammatik Die besondere Wichtigkeit, die die Vereinten Nationen der Sprachenpolitik innerhalb ihrer Organisation zuschreiben, findet seit ihrer Gründung im Jahr 1945 und den ersten Festlegungen der Vollversammlung auf eine Geschäftsordnung (United Nations 1946) ihren Ausdruck in einer Vielzahl von Resolutionen zu Mehrsprachigkeit sowie Amts- und Arbeitssprachen. Stellvertretend sei hier die Resolution 69/324 mit dem Titel Multilingualism zitiert (United Nations General Assembly 2015). Dieser Text, der eine Reihe von zehn früheren Resolutionen zu diesem Thema bekräftigt und fortschreibt, betont, dass es der UNO mit der Förderung von Mehrsprachigkeit nicht allein um faire Kommunikation und kulturelle Gleichberechtigung geht. Vielmehr sehen sie darin eine Voraussetzung für die Realisierung von Kernzielen insgesamt, wie sie in Artikel 1 der UN-Charta formuliert werden, wo u. a. der Weltfrieden, die internationale Sicherheit und Zusammenarbeit, die Gleichberechtigung zwischen den Völkern und ihre Selbstbestimmung angeführt werden (United Nations General Assembly 2015, 2 f.). So sehr die Vereinten Nationen in ihren Resolutionen die hervorgehobene Bedeutung von Mehrsprachigkeit für ihre Organisation betonen, so stellen die internen und diesen Arbeitsbereich betreffenden Strukturen und Regelungen die praktischen Ge
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sichtspunkte interner Dokumentations-, Veröffentlichungs-, Übersetzungs- und Dolmetschdienstleistungen in den Mittelpunkt (vgl. United Nations General Assembly 2015, 2 f.). Dieser Fokus auf die kommunikativen Abläufe und die Funktionsfähigkeit der UN-Organisation wird auch deutlich, wenn viele Resolutionen unter der Rubrik der Mehrsprachigkeit vor allem die Rolle der Amts- und Arbeitssprachen regeln. Die praktische Umsetzung dieser Vorgaben obliegt dem Department for General Assembly and Conference Management (DGACM). Eine umfassendere Sicht auf Mehrsprachigkeit formuliert die UNO in einem allgemeineren Zusammenhang, in dem es um den Status von Minderheiten weltweit geht. So definiert der Sonderberichterstatter für Minderheitenfragen in seinem Praxisführer Sprachenrechte wie folgt:
,Language rights‘ and ,linguistic rights‘ are human rights that have an impact on the language preferences or use of state authorities, individuals and other entities. [...] Linguistic rights can be described as a series of obligations on state authorities to either use certain languages in a number of contexts, or not interfere with the linguistic choices and expressions of private parties. These might extend to an obligation to recognize or support the use of languages by minorities or indigenous peoples. (United Nations Special Rapporteur 2017, 5)
3.2 Das Sprachregime der UNO Aus sprachenpolitischen Prinzipien, wie sie oben dargestellt wurden, lassen sich nicht ohne Weiteres Richtlinien für Organisationsstrukturen und Arbeitsprozesse ableiten, mittels derer sie in die Praxis zu übertragen wären. Für die UNO bedeutet dies, etablieren zu müssen, was Florian Coulmas (2005) als Sprachregime bezeichnet, also „bewusst geplante Sprachpraktiken“, die die Wahlmöglichkeiten von Sprecherinnen und Sprechern in der Kommunikation regeln und damit einschränken (Meyer 2018, 233). Zum UN-Sprachregime gehört, dass, angesichts der weltweiten sprachlichen Vielfalt, die auch dann noch mehrere Hundert umfasst, wenn man lediglich die verfassungsmäßigen oder De-facto-Amtssprachen der Mitgliedsstaaten berücksichtigt, das angestrebte Ziel einer mehrsprachigen internen Kommunikation auf einige wenige Sprachen begrenzt wird, denen in Gremien, Dokumenten, Print-Publikationen und Websites eine gleichwertige und gleichberechtigte Rolle zukommen soll. Um Sprachenvielfalt und Vielsprachigkeit in einem weiten, alle Sprachen der Welt umfassenden Sinn geht es hier nicht. So legt sich die UNO in der Geschäftsordnung ihrer Vollversammlung (rules of procedure) bis 1982 schrittweise auf Arabisch, (Mandarin-) Chinesisch, Französisch, Russisch, Englisch und Spanisch als ihre sechs Amtssprachen (official languages) fest. Dieser Status verpflichtet die UNO und ihre Unterorganisationen dazu, ihren Mitgliedern und gegebenenfalls der Öffentlichkeit alle offiziellen UN-Dokumente in diesen Sprachen zugänglich zu machen (vgl. United Nations General Assembly 2021).
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Wichtig für die praktische Arbeit auf unterschiedlichen Ebenen sind darüber hinaus die so genannten Arbeitssprachen (working languages; United Nations General Assembly 2021), die der internen, vor allem auch der mündlichen, Kommunikation innerhalb der Organisation dienen. Die UN-Unterorganisationen entscheiden, welche Arbeitssprachen in ihrem jeweiligen Geltungsbereich verwendet werden. Während in der Vollversammlung und im Sicherheitsrat, als den wesentlichen politischen Entscheidungsgremien, alle sechs Amts- auch als Arbeitssprachen fungieren, gilt dies gegenwärtig (Stand 2022) im Sekretariat, dem wichtigsten Verwaltungsorgan der UNO, nur für Englisch und Französisch, während im Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) zu diesen beiden Spanisch als dritte hinzutritt. Am Beispiel der Vollversammlung wird deutlich, welche Funktion die Arbeitssprachen für die kommunikativen Zwecke haben. So können Reden in diesem Gremium zwar prinzipiell in jeder Sprache gehalten werden – der deutsche Bundespräsident oder der Bundeskanzler sprechen beispielsweise Deutsch –, doch werden nur Beiträge in einer der Arbeitssprachen simultan in die fünf jeweils anderen gedolmetscht. Wer etwa Italienisch oder Hindi spricht, muss selbst, d. h. durch eigene Dolmetscherinnen und Dolmetscher, für die Übertragung in eine der Arbeitssprachen sorgen („provide for interpretation into one of the offical languages“; United Nations General Assembly 2021, 14 f.). Auf dieser Basis, z. B. einer spanischen Fassung, wird dann in die anderen fünf Amtssprachen übersetzt, so dass das Ergebnis als Übertragung zweiter Stufe nur in einem indirekten, vermittelten Verhältnis zur Ausgangsfassung steht. Das komplexe System für das Übersetzen und Dolmetschen innerhalb der UNO mit ihren zahlreichen Untergliederungen und Gremien dient dem Zweck, die kommunikativen Prozesse effizient und so zu gestalten, dass allen Mitgliedern möglichst gleichwertige und faire Beteiligungschancen gewährt werden. Dabei sind Übersetzungs- und Dolmetsch-Dienstleistungen innerhalb der UNO zentrale Aufgaben, die für jede der Amtssprachen durch eigene, im DGACM angesiedelte Agenturen realisiert werden. Eine Besonderheit bildet die Übersetzungsunterabteilung für Deutsch, die von den deutschsprachigen Ländern finanziert wird. Die Sprachdienste im Rahmen der UNO sind unmittelbarer Ausdruck der zentralen und integralen Rolle, die Mehrsprachigkeit für die Organisation spielt. Dabei sollen diese Dienste trotz des hohen Zeitdrucks, unter dem sie vor allem während laufender Verhandlungen zu erbringen sind, höchsten Qualitätsstandards im Hinblick auf Genauigkeit, Lesbarkeit und dem angemessenen Gebrauch der Terminologie genügen sowie Rechtssicherheit innerhalb des internationalen Rechtssystems gewährleisten. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die UNO der Mehrsprachigkeit in ihren Gründungsdokumenten, Geschäftsordnungen und öffentlichen Äußerungen programmatisch große Bedeutung zuschreibt. Sie geht dabei über rein pragmatische Aspekte der internen Verständigung hinaus und berücksichtigt die Rolle von Sprachen als Faktoren für die Realisierung zentraler UN-Anliegen, von der Erhaltung des Welt
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friedens bis hin zur Bewahrung der Menschenrechte. In den organisatorischen Strukturen und praktischen Abläufen innerhalb der UN-Gremien und -Unterorganisationen trifft dieses uneingeschränkte Bekenntnis zur Mehrsprachigkeit auf die Notwendigkeit, die interne Kommunikation zu gewährleisten und zu strukturieren. Dies äußert sich u. a. darin, dass die Bemühungen um Mehrsprachigkeit im Wesentlichen die sechs Amts- bzw. Arbeitssprachen umfassen und diese gegenüber allen anderen privilegieren.
3.3 Sprachaußenpolitik der UNO: Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit weltweit Als der zentrale Arbeitsbereich des DGACM wurden oben die organisationsinternen Mehrsprachigkeitsstrukturen und -aktivitäten, insbesondere von Sprachmittler- und Kommunikationsdiensten, beschrieben. Darüber hinaus ist diese Abteilung mit dem UN-Koordinator für Mehrsprachigkeit und dem von ihm geleiteten ressortübergreifenden Sekretariat für Mehrsprachigkeit auch für Aktivitäten verantwortlich, mit denen die UNO Programme außerhalb der Organisation in den Mitgliedsländern und regionalen Staatenbünden fördert. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Zusammenarbeit mit Staaten und Bildungseinrichtungen im Rahmen von Ausbildungsprogrammen, die dazu beitragen können, die große Nachfrage nach qualifizierten Übersetzern und Übersetzerinnen sowie Dolmetschern und Dolmetscherinnen innerhalb der Organisation zu decken. Diesem Anliegen entsprechend stehen auch hier die sechs Amts- und Arbeitssprachen im Fokus. Beispielhaft für dieses Vorgehen ist das Center for Translation and Interpretation an der University of Nairobi (Nairobi/Kenia; https://translation.uonbi.ac.ke/), das im Jahr 2010 auf Initiative und mit Unterstützung der UNO und der Europäischen Union in der Erwartung gegründet wurde, Fachkräfte für den großen UN-Campus in der kenianischen Hauptstadt auszubilden. Die zweite, die UN-Sprachenpolitik tragende Institution ist die UNESCO mit ihrem Sitz in Paris. Die United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization ist eine von den Vereinten Nationen rechtlich unabhängige Sonderorganisation, deren 193 Mitgliedsstaaten jedoch weitgehend identisch mit denen der UNO sind. Ausnahmen bilden die USA und Israel, die die UNESCO 2018 aus politischen Gründen verlassen haben, und Liechtenstein. Außerdem sind Palästina, dessen Bemühungen um eine Aufnahme in die UNO aus ebenfalls politischen Gründen bisher erfolglos blieben, und die von Neuseeland vertretenen Inselstaaten Niue und die Cook Inseln ausschließlich Mitglieder der UNESCO. Das Aufgabenspektrum der UNESCO findet seinen Ausdruck im Namen der Organisation und erstreckt sich auf alle Bereiche von Bildung, Wissenschaft und Kultur. Die UNESCO ist in ihren Mitgliedsländern durch Nationalkomitees vertreten, die als Organisationen der auswärtigen Kultur-, Bildungs- und damit auch Sprachenpolitik den Beziehungen zwischen UNESCO und den jeweiligen staatlichen Organisationen
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und Institutionen dient. In Deutschland z. B. wird diese Funktion von der Deutschen UNESCO-Kommission e. V. (DUK) ausgeübt. Diese in den Mitgliedsstaaten aktiven Organisationen sind für die UNESCO auch deshalb wichtige Partner, weil sie ein Netzwerk von Akteuren bilden, mittels dessen sie weltweit oder auch innerhalb regionaler Staatenbünde wie der Ostafrikanischen Gemeinschaft (EAC) ihre Ziele umsetzen kann. Programmatisch teilt die Weltbildungsagentur den Standpunkt der UNO bezüglich ihrer Positionen zur hervorgehobenen Rolle von Mehrsprachigkeit, der Bedeutung von sprachlicher Vielfalt für die Entwicklung der Menschheit und der Unveräußerlichkeit des Rechts auf Sprache. Entsprechend ihrem Auftrag betont die UNESCO dabei den Zusammenhang von Mehrsprachigkeit und effizienter Bildung, wie dies etwa in der Incheon Declaration Education 2030 zum Ausdruck kommt (UNESCO 2015, Target 4.1, 34). In diesem Aktionsplan legen sich die Vereinten Nationen und einige ihrer Sonderund Unterorganisationen auf Schritte zur Realisierung weltweit inklusiver, fairer und hohen Qualitätsstandards genügender Bildungsprogramme und Angebote für lebenslanges Lernen fest. Diese und ähnliche Aussagen finden ihren konkreten Ausdruck in einer großen Anzahl unterschiedlicher Programme und Aktivitäten, die in Zusammenarbeit mit UNund anderen Organisationen und Institutionen sowie mit einzelnen Staaten und Staatenbünden realisiert werden. Die Vielfalt dieser Aktivitäten zur Förderung von Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit weltweit lässt sich anhand einer Reihe von Beispielen mehr illustrieren als vollständig darstellen: So ist der von der UNESCO herausgegebene Atlas of the World’s Languages in Danger (Moseley 2010) das Ergebnis eines der durch die Organisation unterstützten Forschungsprojekte. Für Februar 2022 ist das darauf aufbauende und alle Sprachen der Welt umfassende Web-Portal UNESCO Atlas of the World’s Languages angekündigt (vgl. UNESCO 2021). Der internationale Tag der Muttersprachen (seit 2000 jeweils am 21. Februar), das von der UN-Vollversammlung beschlossene Internationale Jahr der indigenen Sprachen (2019) und die Internationale Dekade der indigenen Sprachen (IDIL 2022–2032) gehören zu den Aktivitäten, die den Wert von Mehrsprachigkeit und Sprachenvielfalt ins Zentrum der Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit rücken sollen. Die UNESCO engagiert sich ihrem Auftrag gemäß weltweit für Programme, die den Zusammenhang von Bildung und Sprache in den Mittelpunkt stellen. Dazu gehört der Einsatz für mehrsprachige Bildung, was die Einbeziehung mindestens dreier Sprachen (der Erstsprachen, einer regionalen oder nationalen Sprache und einer internationalen Sprache) bedeutet und besonders die Rolle der Erstsprachen für die kindliche Bildung als Grundlage für lebenslanges Lernen und eine erfolgreiche Entwicklung betont (UNESCO 2015, Target 4.1, 32). Insbesondere unterstützt die UNESCO Staaten dabei, die jeweiligen Erst- und Muttersprachen als Schlüssel zu einer Schul- und Ausbildung für alle zu etablieren und entsprechende Curricula aufzulegen. Vor allem in Ländern wie die Subsahara-Afrikas oder Südost-Asiens, die jeweils durch eine große
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regionale Sprachenvielfalt gekennzeichnet sind, geht es hier um eine fundamentale Voraussetzung für Bildung großer Bevölkerungsteile, wie die UNESCO-Generaldirektorin Audrey Azoulay hervorhebt: [W]hen 40 % of the world’s inhabitants do not have access to education in the language they speak or understand best, it hinders their learning, as well as their access to heritage and cultural expressions. (Azoulay 2021)
Die UNESCO reagiert auf die zunehmende Bedeutung des Internets als globales Kommunikationsmedium und die dadurch in vielen Bereichen von Wirtschaft und Kultur entstehenden global vernetzten Kommunikationsgemeinschaften, deren Akteure und Akteurinnen sich nur einiger weniger Verkehrssprachen bedienen. Um angesichts dieser Entwicklungen den als notwendig erkannten (s. o.) Bemühungen um Mehrsprachigkeit auch in der Welt der elektronischen Kommunikation gerecht zu werden und entsprechende Maßnahmen anzustoßen, zu ermöglichen und zu unterstützen, verabschiedete die UNESCO im Jahr 2003 Empfehlungen für die Realisierung von Mehrsprachigkeit im cyberspace (UNESCO 2003). Deren Umsetzung in den Mitgliedsstaaten wird seitdem regelmäßig überprüft. Schließlich seien hier noch die Aktivitäten erwähnt, mit denen die UNESCO auf Antrag einzelne Mitgliedsländer in Form von Sprachpolitikberatung unterstützt, etwa bei der Entwicklung effizienter Sprachenpolitiken, der Erhebung von Daten zur Vitalität von Sprachen und bei Bemühungen um den Schutz bedrohter Sprachen (UNESCO 2011).
3.4 Die Implementierung von Mehrsprachigkeit in der UNOrganisation Es ist nicht ohne weiteres möglich, weltweit die Entwicklungen im Hinblick auf Mehrsprachigkeit und Sprachenvielfalt auf bestimmte Programme und Aktivitäten von UNO oder UNESCO zurückzuführen. Die Formulierung und Umsetzung globaler und regionaler Sprachenpolitiken ist in der Regel das Ergebnis der Kooperation mehrerer Akteurinnen und Akteure, wozu neben der Weltorganisation vor allem die einzelnen Staaten, vertreten durch ihre nationalen und regionalen Institutionen, aber auch Nichtregierungsorganisationen gehören. Im Folgenden liegt der Fokus also auf der Implementierung des UN-Sprachregimes im Inneren der Organisation. Für eine solche Betrachtungsweise spricht auch die Überlegung, dass, wer Partner oder Partnerinnen dafür gewinnen möchte, Mehrsprachigkeit weltweit zu fördern, für die eigene Organisation zeigen können sollte, dass dies ein sinnvolles und umsetzbares Anliegen ist (vgl. Weber/Böhm 2022). Nachdem die vielfach und emphatisch zum Ausdruck gebrachte Haltung der UNO zum Wert von Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit ihren Niederschlag in einem Sprachregime findet, das in den meisten Fällen wenige Arbeitssprachen gegenüber al-
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len anderen privilegiert, ist die kommunikative Praxis im Arbeitsalltag der Organisation und ihrer Unterabteilungen zu beschreiben. Ohne dass hierzu umfassende Untersuchungen vorliegen, lassen doch die regelmäßig durchgeführten Selbstevaluationen zum Stand der Mehrsprachigkeit in der UNO einen Einblick zu. Als wichtigstes Ergebnis dieser Untersuchungen lässt sich feststellen, dass aus der Perspektive der UNO selbst die wesentlichen, mit der Realisierung von Mehrsprachigkeit verbundenen Ziele der Organisation nicht erreicht wurden. Im Gegenteil scheint demnach die Entwicklung der UN-internen kommunikativen Praxis in jüngerer Zeit auf eine immer dominierendere Rolle des Englischen zulasten der intendierten Mehrsprachigkeit hinauszulaufen. Bereits im Jahr 1985 äußerte der damalige UN-Generalsekretär Javier Perez de Cuellar (1985) seine Unzufriedenheit mit dem Stand der organisationsinternen Mehrsprachigkeit in einem Bulletin an seine Mitarbeiter. Insbesondere wendet er sich gegen die Tendenz zur Priorisierung des Englischen und mahnt die in einem früheren Schreiben geforderte gleichwertige Verwendung aller Arbeitssprachen im UN-Sekretariat und seinen regionalen Büros an. Der damalige Generalsekretär kritisiert hier also die Diskrepanz zwischen Programmatik und Praxis der Mehrsprachigkeitspolitik im UN-Sekretariat. Vergleichbar im mahnenden und emphatischen Duktus formulieren spätere Dokumente bis in die Gegenwart eine ähnliche Analyse und ähnliche Konsequenzen (vgl. United Nations Secretary-General 2021). Als besonders aussagekräftig dürfen die Berichte zum Status der Implementierung von Mehrsprachigkeit in der UNO gelten, die im Auftrag der Joint Inspection Unit der Organisation erstellt wurden. Hier werden durchaus Fortschritte verzeichnet, etwa die Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen zur Realisierung von Mehrsprachigkeit. Kritisch wird jedoch hervorgehoben, dass „der Trend zum ‚Monolingualismus‘“ und zu einem „,hegemonialen‘ Gebrauch [...] des Englischen“ aus pragmatischen Gründen anhalte (Fall/Zhang 2011, iii, 45; Übersetzung T. W.; vgl. auch Kudryavtsev/Ouedraogo 2003, v, 9 f.). In seinem vorerst letzten Bericht zur Mehrsprachigkeit legt der UN-Generalsekretär ausführlich dar, welche strukturellen Veränderungen in jüngerer Zeit vorgenommen wurden, um Mehrsprachigkeit auf allen Ebenen des Sekretariats zu implementieren. Fortschritte werden hier vor allem mit Bezug auf die Internet-Präsenz der Organisation festgehalten (United Nations Secretary-General 2021, 6–9) sowie in anderen Bereichen (teilweise) schriftbasierter Kommunikation. Im Hinblick auf mündliche Beratungen unter Mitarbeitern des Sekretariats hält der Report fest, dass die meisten Abteilungen die Verwendung von Englisch als einzige Verkehrssprache angeben (ebd., 13). Letzteres steht im Einklang mit den oben referierten älteren Analysen. Insgesamt entwirft der Bericht des Generalsekretärs das Bild einer Organisation, die ein ambitioniertes Mehrsprachenprogramm ,von oben nach unten‘ durch vielfältige strukturelle Vorkehrungen zu realisieren sucht. Während dies in dem gut zu kontrollierenden Bereich der schriftlichen Kommunikation offenbar recht gut gelingt, scheint in Gesprä-
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chen bei formellen und informellen Treffen englische Einsprachigkeit vorzuherrschen.
4 Die Europäische Union Wie die Vereinten Nationen ist die Europäische Union (EU) eine internationale Organisation, deren Strukturen, Aktivitäten und Geltungsansprüche sich nicht auf spezifische Anliegen beschränken, sondern sämtliche politischen Bereiche umfassen. Mehr noch als für die Weltorganisation gilt für die EU, dass eine Mitgliedschaft die Souveränität der Staaten in vielen politischen Bereichen einschränkt. Entscheidungen und Regelungen, die durch die EU-Institutionen und das Europäische Parlament getroffen werden, müssen durch die nationalen und gegenüber der EU unabhängigen Parlamente zwar erst ratifiziert werden, sind dann aber für sie ebenso wie für nationale Regierungen und Rechtsinstitute (EU-Recht hat Priorität gegenüber nationalem Recht) in der Regel rechtlich und praktisch bindend. Gleichzeitig sind die Folgen der EU-Mitgliedschaft eines Landes für dessen Bürgerinnen und Bürger auf vielen Ebenen unmittelbar erlebbar. Bei den Wahlen zum europäischen Parlament nehmen sie direkt und indirekt Einfluss auf politische Entscheidungen auf EU-Ebene. Europaweite Regulierungen, etwa in Bezug auf Reise- und Niederlassungsfreiheit, im Bereich des Lebensmittelrechts, bezüglich Umweltstandards etc., vor allem aber auch im Hinblick auf Bildung und damit auf Sprachen, sind hier zu nennen. Als politische Organisation unterscheidet sich die Europäische Union in einer weiteren Hinsicht gravierend von den Vereinten Nationen: Anders als diese ist die EU Teil, nicht Rahmen, eines internationalen Systems, in dem sie in Beziehung und Konkurrenz zu anderen Staatenbünden und auch Staaten steht, wie beispielsweise den USA, China, Russland oder der Association of Southeast Asian Nations (ASEAN). Mehrsprachigkeit kommt hier in mehrfacher Hinsicht in Betracht: Zunächst ist eine Union von 27 Ländern per se eine mehrsprachige Gemeinschaft, die – wie die UNO – ihre internen kommunikativen Strukturen und Prozesse so gestalten muss, dass sie einerseits möglichst effizient sind, andererseits aber für alle Mitglieder sowie für deren Vertreter und Vertreterinnen sowie Bürger und Bürgerinnen gleiche Mitwirkungsmöglichkeiten gewährleisten. Ähnlich wie in der UNO gilt für die EU: Sprachenrechte sind Menschenrechte, und Mehrsprachigkeit und Sprachenvielfalt sind wichtige Faktoren, die für deren Wahrung entscheidende Rollen spielen. Wie oben im Zusammenhang mit den Vereinten Nationen wird hier zunächst die Programmatik dargestellt, die der europäischen Sprachenpolitik zugrunde liegt. Anschließend wird das EU-Sprachregime, werden also die Organisationsstrukturen und Aktivitäten dargelegt, die der Umsetzung dieses Programms dienen. Schließlich ist zu fragen, wie sich diese Bemühungen um Mehrsprachigkeit und Sprachenvielfalt innerhalb der Organisation in der Praxis auswirken.
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4.1 Sprachenprogrammatik Die Bedeutung und die Funktionen, die Sprachen und insbesondere Mehrsprachigkeit und Sprachenvielfalt im Rahmen der EU zugewiesen werden, sind bereits in den Gründungsdokumenten der Union festgelegt, die entsprechende Dokumente der Vorläuferorganisationen (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft seit 1957, Europäische Gemeinschaft seit 1993) fortschreiben. Hierzu gehören der Vertrag über die Europäische Union (Europäische Union 2016a) zusammen mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Europäische Union 2012) sowie der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (2016b). Im Hinblick auf die Sprachenpolitik ist darüber hinaus die Europäische Charta für Regional- oder Minderheitensprachen (Europarat 1992) des Europarats hervorzuheben, dem neben 20 anderen europäischen Staaten auch alle Mitglieder der EU angehören, der jedoch vom Europäischen Rat (Gremium der EUStaats- und Regierungschefs und -chefinnen) und dem Rat der Europäischen Union (EU-Ministerrat) zu unterscheiden ist. Die Ziele, die in diesen Vereinbarungen im Hinblick auf Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit in der EU und darüber hinaus formuliert werden, entsprechen wesentlichen Aspekten der oben (3.1) referierten Festlegungen der Vereinten Nationen, indem sie in einen engen Zusammenhang mit den allgemeinen Menschenrechten, dem kulturellen Erbe sowie dem Recht auf individuelle Entwicklung und Bildung jedes Einzelnen gestellt werden (vgl. Europäische Union 2016a, Art. 3 [3]; vgl. auch Europäische Union 2012, Art. 22). Konkreter und über die entsprechenden Bestimmungen der UNO teilweise hinausgehend werden auf drei Ebenen Ziele der EU-Sprachenpolitik formuliert: – – –
Kommunikation mit Bürgerinnen und Bürgern in ihrer eigenen Sprache Erhalt der reichen Sprachenvielfalt Europas Förderung des Sprachenlernens in Europa. (Europäische Union o. J.)
Vor allem die große Bedeutung des Sprachenlernens wird dabei immer wieder hervorgehoben. Dies tut auch der Europäische Rat, der dies in seinen Schlussfolgerungen zur Mehrsprachigkeit und zur Entwicklung von Sprachkompetenz detailliert ausführt und begründet und damit die Grundlagen der EU-Sprachenpolitik noch einmal explizit zusammenfasst: 1.
3.
4.
Sprachenvielfalt ist ein grundlegender Bestandteil der europäischen Kultur und des interkulturellen Dialogs, und die Fähigkeit, in einer anderen Sprache als seiner Muttersprache zu kommunizieren, wird als eine der Schlüsselkompetenzen anerkannt, deren Erwerb die Bürger anstreben sollten [...]. Sprachenkompetenz trägt im Einklang mit den Zielen der Strategie für Beschäftigung und Wachstum „Europa 2020“ zur Mobilität, Beschäftigungsfähigkeit und persönlichen Entwicklung der europäischen Bürger und insbesondere von jungen Leuten bei. Das Niveau der Sprachkenntnisse vieler junger Menschen in Europa könnte verbessert werden, und trotz einiger Fortschritte in den letzten Jahrzehnten gibt es immer noch beträcht-
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liche Unterschiede zwischen den Ländern beim Zugang zum Sprachenlernen [...]. (Rat der Europäischen Union 2014, C 183/26)
Die hier zusammengefasste Sprachenprogrammatik betont Werte wie den kulturellen Reichtum Europas, die prinzipielle Gleichwertigkeit aller Sprachen und den Geist des EU-Mottos, dessen deutschsprachige Fassung „In Vielfalt geeint“ lautet. Das ihr zugrunde liegende Prinzip lässt sich mit Odenthal und Scheffler (2011) als das der integralen Mehrsprachigkeit charakterisieren. Krzyżanowski und Wodak (2011) stellen demgegenüber fest, dass sich der Fokus der Union nach der Jahrtausendwende verschiebt. Mehrsprachigkeit werde nun vor allem auch als ein Faktor unter vielen zur Entwicklung einer wissensbasierten Ökonomie gesehen. Punkt 3. der oben zitierten Schlussfolgerungen zur Mehrsprachigkeit steht in Einklang mit dieser Sichtweise; Krzyżanowski und Wodak (ebd., 129) belegen ihre Einschätzung durch Verweise auf weitere Dokumente der Europäischen Kommission zur Sprachenpolitik.
4.2 Das Sprachregime der EU Wie die UNO unternimmt die Europäische Union große Anstrengungen und Investitionen, um durch Strukturen und Programme die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die programmatische Bedeutung, die sie Mehrsprachigkeit immer wieder zuschreibt, und damit das Prinzip der integralen Mehrsprachigkeit (Odendahl/Scheffler 2011, 64) in die Praxis umgesetzt werden kann. Auch hier ist zwischen Sprachinnenpolitik und Sprachaußenpolitik zu unterscheiden. Erstere bezieht sich auf das Sprachregime der EU-Organisation, ihre Organe und Gremien, letztere (s. u. 4.3) auf die Förderung von Mehrsprachigkeit und Sprachenvielfalt in den Ländern der EU in allen gesellschaftlichen Bereichen. Ein Beispiel für den organisatorischen Aufwand, der mit dem Bemühen darum einhergeht, Mehrsprachigkeit in einer großen internationalen Organisation zu realisieren, zeigt sich bei der Generaldirektion Übersetzung des Europäischen Parlaments. Hier sind im Jahr 2022 mehr als 600 Übersetzerinnen und Übersetzer tätig. Gleichzeitig arbeiten ca. 270 angestellte und im Bedarfsfall bis zu 1 500 externe Dolmetscher und Dolmetscherinnen für das Parlament (https://www.europarl.europa.eu/about-parlia ment/de/organisation-and-rules/multilingualism). In einer komplexen internationalen Organisation, wie die Europäische Union eine ist, sind nicht nur im Parlament, sondern auch für die Organisation als Ganzes und alle ihre Organe explizite Übereinkommen zu treffen, die z. B. Rechte zum Gebrauch einzelner Sprachen in und für die Interaktion mit Gremien und Institutionen festlegen. Ein solches Sprachregime ist zum einen nötig, weil – wie bereits für die UNO dargelegt – auch innerhalb der EU eine Balance zwischen dem Recht aller Mitglieder auf gleichwertige Beteiligung einerseits und dem praktischen Streben nach effizienten kommunikativen Prozessen andererseits gefunden werden muss. Zum anderen be
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schließen die Organe der Europäische Union Verträge und Übereinkünfte, die die Mitgliedsstaaten, in vielen Fällen nach Ratifizierung durch die nationalen Regierungen oder Parlamente, sowie deren Bürgerinnen und Bürger rechtlich binden; welche Sprachenfassung(en) eines Dokuments Rechtsverbindlichkeit zukommt, kann also unter Umständen folgenreich sein. Auf höchster Ebene wurde die Sprachenfrage bereits kurz nach der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Jahr 1957 durch die Verordnung Nr. 1 (Europäische Union 2013) beantwortet. Sie legt zunächst Französisch, Italienisch, Niederländisch und Deutsch als EU-Amts- und Arbeitssprachen fest, „[...] in der Erwägung, dass jede der vier Sprachen, in denen der Vertrag [zur Gründung der EWG] abgefasst ist, in einem oder in mehreren Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft Amtssprache ist“ (ebd.). Mit den folgenden Schritten zur Reform und Erweiterung der Gemeinschaft und einer vorläufig letzten Anpassung im Jahr 2005 werden nach Maßgabe des 1958 festgelegten Kriteriums insgesamt 24 Amtssprachen benannt, die in der revidierten Fassung der Verordnung auch als „Arbeitssprachen der Organe der [Europäischen] Union“ bezeichnet werden. Darüber hinaus wird im Grundsatz bestimmt, in welchen Fällen eine der Amtssprachen zu verwenden ist bzw. sämtliche verwendet werden müssen und in welchen Bereichen, Gremien und Publikationen der Union dies der Fall ist. Genannt werden hier schriftliche Kommunikationsformen, u. a. Verordnungen und „andere Schriftstücke von allgemeiner Geltung“ (Art. 4) sowie das Amtsblatt der EU (Art. 5). Die Charta der Grundrechte legt darüber hinaus Folgendes fest:
4)
Jede Person kann sich in einer der Sprachen der Verträge an die Organe der Union wenden und muss eine Antwort in derselben Sprache erhalten. (Europäische Union 2012, Art. 41 [4])
Was die interne Kommunikation betrifft, geht die Europäische Union also qualitativ und quantitativ weiter als die UNO, indem sie (mindestens) eine Amtssprache jedes Mitgliedslandes zu einer ihrer Amtssprachen bestimmt. Im Hinblick auf die europäische Mehrsprachigkeit in einem umfassenden Sinne bedeutet jedoch auch dies eine Einschränkung. Denn nicht jede Sprache, die in einer der EU-Staaten Amtssprache ist, wird damit in den Kreis der EU-Sprachen aufgenommen; so fehlen etwa Luxemburgisch (Luxemburg) und Türkisch (Zypern). Vor allem aber finden die mehr als 120 Regional- und Minderheitensprachen innerhalb der Grenzen der EU, etwa Katalanisch oder Sorbisch, keine Berücksichtigung. Ähnlich wie die Vereinten Nationen überlässt es die EU mit ihrer Verordnung Nr. 1 ihren Organen, „wie diese Regelung der Sprachenfrage im Einzelnen anzuwenden ist“ (Europäische Union 2013, Art. 6). Entsprechend unterschiedlich gehen diese und untergeordnete Gremien vor. Während im Europäischen Parlament alle 24 Amts- auch als Arbeitssprachen fungieren, beschränken die Geschäftsordnungen anderer EU-Institutionen, wie z. B. der Europäischen Kommission, des Rats und des Europäischen Rats (Ministerrats), die Arbeitssprachen für mündliche Beratungen auf Englisch, Fran
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zösisch und Deutsch. Die Dokumente jedoch, die der Vorbereitung dieser Treffen dienen, sollen allen Beteiligten in ihrer jeweiligen Landessprache zugänglich gemacht werden, sofern diese zu den Amtssprachen gehört. Im Europäischen Parlament können Reden und Diskussionsbeiträge hingegen in allen Amtssprachen vorgetragen werden. Um den Aufwand zu reduzieren, der durch die große Anzahl möglicher Sprachenkombinationen selbst die großen Sprachmittlerressourcen dieser Institution überfordern würden, fungieren Französisch, Deutsch und Englisch als so genannte Relaissprachen, in die zunächst übersetzt bzw. gedolmetscht wird. Durch dieses Vorgehen soll das realisiert werden, was in einem Beschluss des Parlamentspräsidiums die „ressourceneffizente umfassende Mehrsprachigkeit“ (Europäisches Parlament 2019, Art. 1, Abs. 1.) genannt wird. Diese Formulierung legt eine pragmatische Umgangsweise mit Mehrsprachigkeit nahe, die eher mit Krzyżanowskis und Wodaks (2011) kritischer Einschätzung als mit dem Prinzip der integralen Mehrsprachigkeit in Einklang zu stehen scheint, das für Odendahl und Scheffer (2011, 64) das Sprachregime der EU prägt.
4.3 Sprachaußenpolitik der EU Betrachtet man die Politik der Europäischen Union, sofern sie nicht die organisationsinternen Kommunikationsstrukturen und -prozesse betrifft, sondern in die Öffentlichkeiten der Gemeinschaft und ihrer Gesellschaften hineinwirken möchte, sind die drei oben (s. 4.1) bereits erwähnten Anliegen zu unterscheiden: (a) die Kommunikation mit Bürgerinnen und Bürgern in ihrer eigenen Sprache; (b) der Erhalt der Sprachenvielfalt Europas; (c) die Förderung des Sprachenlernens. Zu Punkt (a) sind, neben dem bereits erwähnten und in Verordnung Nr. 1 festgeschriebenen Recht aller Bürger und Bürgerinnen, sich in ihrer je eigenen Sprache mit Anliegen an Organe und Vertreter der EU zu wenden und entsprechende Rückmeldungen als Antwort zu erhalten, die vielfältigen Medienangebote zu nennen, mittels derer EU-Organe sich in allen 24 Amtssprachen an die Öffentlichkeit wenden. Eine entscheidende Rolle kommt hier Online-Aktivitäten zu. So sind die wichtigsten EUWebsites in allen Sprachversionen zugänglich. Ein maschineller Übersetzungsdienst (eTranslation;https://ec.europa.eu/cefdigital/wiki/display/CEFDIGITAL/eTranslation) steht seit 2017 kostenlos zur Verfügung, um Rohübersetzungen von Dokumenten und Web-Inhalten aller Art aus allen und in alle EU-Amtssprachen zu leisten. Über Portale wie EUR-Lex sind EU-Dokumente zu Rechtsakten und Zusammenfassungen ebenfalls in allen Amtssprachen zugänglich. Im Jahr 2018 veranlasste die vom EU-Parlament gewählte Europäische Bürgerbeauftragte „eine öffentliche Konsultation zur Regelung der Sprachenfrage in den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU“ mit dem Ziel, durch Rückmeldungen von Bürgerinnen und Bürgern eine EU-interne Diskussion anzuregen (Europäische Bürgerbeauftragte 2019, 2).
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Je nach Zählweise ist in Europa von 150 bis 250 verschiedenen Sprachen auszugehen, zu denen neben den Amts- zahlreiche Regional- oder Minderheitensprachen sowie eine zunehmende Anzahl von Migrantensprachen gehören. Zum Erhalt dieser Sprachenvielfalt (s. o. Punkt b) initiiert und unterstützt die EU in Übereinstimmung mit der Charta für Regional- oder Minderheitensprachen des Europarats (Europarat 1992) die Umsetzung ihres Mehrsprachigkeitsprogramms in Institutionen mit Programmen und Aktivitäten. Dazu gehören neben einer entsprechenden Öffentlichkeitsarbeit, etwa im Rahmen des Europäischen Tags der Sprachen am 26. September jeden Jahres, auch die Erforschung von Mehrsprachigkeit in Europa z. B. in Zusammenarbeit mit dem Mercator Research Center for Multlingualism and Language Learning in Leeuwarden (Niederlande). Unter den einschlägigen Initiativen der EU seien noch die Euroregionen genannt, in denen besonders Programme zum Erwerb der jeweiligen Nachbarsprachen unterstützt werden (z. B. Böhm 2022). Die Förderung des Sprachenlernens in Europa (s. o. Punkt c) steht zum einen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Ziel der Errichtung eines europäischen Bildungsraums (Rat der Europäischen Union 2018) und zum anderen mit dem von EU-Stellen seit dem Jahr 2000 immer wieder betonten Bestreben, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der EU zu gewährleisten (Rat der Europäischen Union 2014, 1; vgl. Krzyżanowski/Wodak 2011). Konkret äußert sich dies in der Vorgabe, dass alle Bürgerinnen und Bürger der EU mindestens zwei Fremdsprachen erlernen und damit bereits in ihrer frühen Kindheit beginnen sollen (Rat der Europäischen Union 2014, 1). Die entscheidenden Partner bei der Umsetzung dieses Plans sind die EU-Mitgliedsstaaten und deren föderale Gliederungen, die z. B. entsprechende Rahmenlehrpläne für unterschiedliche Schulformen entwickeln und implementieren sowie die Bildungsinfrastruktur zur Verfügung stellen. Innovative Formen des Sprachenlehrens und -lernens werden in Kooperation mit dem European Center for Modern Languages des Europarats entwickelt. Eine wichtige Grundlage für die Entwicklung von gleichwertigen Fremdsprachenprogrammen in der EU ist der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen (GER; Council of Europe 2001), der unter Federführung des Europarats entwickelt wurde und (mindestens) europaweit einen allgemeinen und damit Vergleiche erlaubenden Maßstab für die Messung und den Erwerb von Sprachkenntnissen bilden soll. Ein europäischer Bildungsraum setzt die Mobilität seiner Akteure und Akteurinnen voraus. Dies impliziert u. a. die Kompatibilität der zu verknüpfenden nationalen Bildungssysteme, was im Zuge der auch als Bologna-Prozess bezeichneten und seit 1999 vorangetriebenen Hochschulreformen erreicht werden soll. Das EU-Programm Erasmus+ (https://www.erasmusplus.de/) zielt darauf ab, die finanziellen und organisatorischen Voraussetzungen zu schaffen und die Bereitschaft von Lehrenden, Forschenden und Studierenden dafür zu erhöhen, für Ausbildung und berufliche Tätigkeit das Heimatland zu verlassen.
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4.4 Die Implementierung von Mehrsprachigkeit in der EUOrganisation Auch für die Europäische Union gilt, was oben für die UNO festgestellt wurde: Wie sich die Sprachenaußenpolitik der Organisation auf die Mehrsprachigkeit in der EU als Ganzes bzw. den Mitgliedsstaaten auswirkt, ist bei der gegenwärtigen Datenlage nicht zu bestimmen. In zu hohem Maße sind Entwicklungen etwa im Bereich des Fremdsprachenlernens oder bezüglich des Gebrauchs von Regional- oder Minderheitensprachen abhängig von Sprachenpolitiken, die maßgeblich von den nationalen Regierungen und Institutionen bestimmt werden. Aus diesem Grunde wird auch hier der Blick ins Innere der EU-Organisation gerichtet und gefragt, wie sich Mehrsprachenprogrammatik und Sprachregime in der internen kommunikativen Realität widerspiegeln. Regelmäßige Berichte zum Stand der Implementierung von Mehrsprachigkeit in der EU-Organisation gibt es – anders als in der UNO (s. o. 3.4) – nicht. Dies dürfte eine der Ursachen dafür sein, dass EU-Bürgerinnen und -Bürger bei einer öffentlichen Konsultation der Europäischen Bürgerbeauftragten (2019, 3 und 5) eine größere Transparenz bezüglich eben dieser Frage anmahnten. Eine Einschätzung in dieser Hinsicht kann sich auf externe Untersuchungen (Haselhuber 2013; Krzyżanowski/Wodak 2011; Ammon 2005) stützen. Auf dieser Basis ist zusammenfassend festzustellen, dass sich die Implementierung von Mehrsprachigkeit in EU-Organen und -Einrichtungen im Wesentlichen auf die Amts- und Arbeitssprachen erstreckt. Minderheiten- und Regionalsprachen kommt keine systematische Funktion in den Arbeitsprozessen der EU zu. In der Praxis der organisationsinternen Kommunikation korreliert die Realisierung umfassender Mehrsprachigkeit mit einer Reihe anderer Faktoren: Sie ist dort zu beobachten, wo sich die Organisationen, über Print- oder Online-Medien, schriftlich an Adressaten aus allen Mitgliedsstaaten oder doch an sprachlich heterogene Empfängergruppen wenden. Dies können Abgeordnete im Europäischen Parlament, Teilnehmer und Teilnehmerinnen in Ausschüssen und Arbeitsgruppen oder – in der externen Kommunikation – Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedsländer sein. Es handelt sich hier überwiegend um eine asymmetrische Mehrsprachlichkeit, insofern die EU-Institutionen ihre Texte in allen oder zumindest in vielen Amtssprachen formulieren, während die Rückmeldungen der Adressaten in deren jeweiligen Landessprachen erfolgt. Diese Asymmetrie ist nur da aufgehoben, wo mit großem Einsatz personeller und letztlich finanzieller Ressourcen von allen und in alle vorgesehenen Arbeitssprachen gedolmetscht bzw. übersetzt wird. Dem Ideal einer umfassenden symmetrischen Mehrsprachigkeit kommt das Europäische Parlament noch am nächsten, wo in den Generaldirektionen für Übersetzen und für Logistik und Verdolmetschung Hunderte Dolmetscher und Dolmetscherinnen sowie Übersetzer und Übersetzerinnen aus allen und in alle Amtssprachen Sprachmittlerdienste leisten. Überall dort, wo unter Bedingungen von Zeitdruck und Ressourcenknappheit kommuniziert wird, ist eine Tendenz zur Einsprachigkeit erkennbar. Schon der Kreis der in den meisten EU-Organen und -Einrichtungen festgelegten Arbeitssprachen ist
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auf Englisch, Französisch und Deutsch, in wenigen Fällen noch Spanisch und Italienisch begrenzt. Vor allem in mündlichen Beratungen, in formellen und informellen Gesprächen scheint sich Englisch weitgehend als Verkehrssprache gegenüber dem Französischen durchgesetzt zu haben (mit Ausnahme des Europäischen Gerichtshofs, an dem vorwiegend Französisch gesprochen wird). Deutsch spielt hier offenbar nur eine marginale Rolle, wie selbst die Bundesregierung in ihrer Auskunft zur Sprachregelung in EU-Organen (2013) feststellt.
5 Programmatik, Sprachregime und die Realität von Mehrsprachigkeit und Sprachenvielfalt innerhalb von UNO und EU Betrachtet man Mehrsprachigkeit auf den drei oben unterschiedenen Ebenen von Programmatik, Sprachregime und Mehrsprachigkeitspraxis aus der internen Perspektive der internationalen politischen Organisationen UNO und EU, dann ergibt sich das folgende Bild: In programmatischer Hinsicht wird in beiden Fällen die unverzichtbare Rolle von integraler Mehrsprachigkeit als einem notwendigen Faktor für die Realisierung von Sprachenrechten, menschlicher Entwicklung und umfassender Bildung betont. Daran hat sich von den Gründungsdokumenten bis in die jüngste Zeit nichts geändert; jede Sprache zählt dabei gleich. Für die EU tritt neben diese Sichtweise seit der Jahrtausendwende eine Einstellung zur Mehrsprachigkeit als einem Faktor, der vor allem die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit Europas gegenüber globalen Konkurrenten stärkt. Die Sprachregime, die als „bewusst gestaltete Sprachpraktiken“ (Meyer 2018, 229) der organisationsinternen Realisierung dieser Auffassung in der Form von festgelegten Strukturen und Verfahren dienen, reduzieren die große Sprachenvielfalt, die die Mitglieder in die Organisationen einbringen, z. B. durch ihre Geschäftsordnungen, auf eine begrenzte Anzahl von Amtssprachen und einen meist noch engeren Kreis von Arbeitssprachen. In der Praxis der organisationsinternen Kommunikation wird eine umfassende, zumindest die jeweiligen Amtssprachen einschließende Mehrsprachigkeit annähernd nur im Europäischen Parlament bzw. in der UN-Vollversammlung sowie im Rahmen schriftlicher Kommunikationsformen erreicht. Bezüglich der mündlichen Kommunikation innerhalb der EU und außerhalb des Parlamentsforums ist ein ähnlicher „Trend zum ‚Monolingualismus‘“ zugunsten der englischen Sprache zu konstatieren, wie ihn Fall und Zhang (2011, iii) für die UNO konstatieren. Zuspitzend lassen sich die dargelegten Verhältnisse bei der UNO als scharfer Gegensatz zwischen Mehrsprachigkeitsprogrammatik und Mehrsprachigkeitspraxis charakterisieren. Für die EU ergibt sich ein etwas anderes Bild. Folgten die Union und ihre
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Vorläuferorganisationen in den ersten Jahrzehnten dem Leitbild einer integralen und damit umfassenden Mehrsprachigkeit, so wird die Sprachenfrage in jüngeren Dokumenten, z. B. in den konsolidierten Fassungen der Europäischen Verträge (Europäische Union 2016a, 17; 2016b, 57; s. a. Europäisches Parlament 2019, 2), vor allem im Zusammenhang mit ökonomischen Aspekten thematisiert, wie der Entwicklung des Binnenmarkts, der Wettbewerbsfähigkeit der EU und den für die Sprachdienste anfallenden hohen Kosten (s. a. Krzyżanowski/Wodak 2011). Trotz dieses Perspektivwechsels aufseiten der EU, der allerdings keine explizite Abwendung von der ursprünglichen Sprachenpolitik bedeutet, stellt eine auf integrale Mehrsprachigkeit abzielende Programmatik eine juristisch im Rahmen des Völkerrechts gut begründete Position dar. Die sprachwissenschaftlichen Studien, die eine solche Haltung stützen, sind zu zahlreich und methodisch zu vielfältig, um sie hier auch nur ansatzweise zusammenfassen zu können. Dies wirft die Frage nach den Ursachen für die oben skizzierten Tendenzen auf, die umso folgenreicher sind, als man erwarten würde, dass die großen internationalen Organisationen als welt- bzw. europaweite Advokatinnen von Mehrsprachigkeit und Sprachenvielfalt die von ihnen nach außen vertretene Sprachpolitik in ihrem Inneren auch selbst umsetzen (vgl. Weber/Böhm 2022 12 f.). Ein erster Ansatz zur Erklärung dieser Situation verweist darauf, dass – zumal mit wachsender sprachlicher Vielfalt – das Mehrsprachigkeitsprinzip den Einsatz großer und nicht vorhandener Ressourcen erfordert. Pointiert lässt sich formulieren: Integrale Mehrsprachigkeit ist teuer. Im Verhaltenskodex Mehrsprachigkeit des Europäischen Parlaments (2019, Art. 1, Abs. 1.) findet diese Auffassung ihren Niederschlag in den „Grundsätze[n] der ‚ressourceneffizenten umfassenden Mehrsprachigkeit‘“. Dabei ist es gerade das Parlament, das hinsichtlich integraler Mehrsprachigkeit viel leistet (s. o.). Die dort möglichen Bemühungen lassen sich kaum in allen Organen und Einrichtungen von UNO und EU realisieren, selbst wenn dort die Anzahl der vertretenen Sprachen und damit der Sprachenpaare oft kleiner ist. Kosten sind ein Faktor, dem auch im öffentlichen politischen Diskurs große Relevanz zugeschrieben wird. So zeigt der Bericht des Europäischen Bürgerbeauftragen zur Mehrsprachigkeit (2019, 7), dass die an einer diesbezüglichen Konsultation beteiligten Bürgerinnen und Bürger die „Vermeidung unverhältnismäßiger Kosten“ für Sprachdienste in der EU für wünschenswert halten. Dies lässt sich als Auftrag an die politischen Entscheidungsträger und -trägerinnen in den EU-Institutionen verstehen. Haselhuber (2013) zieht aus seiner Analyse der EU-Sprachenpolitik eine ähnliche Schlussfolgerung. Verwandt mit dem Hinweis auf die Kosten ist das pragmatische Argument. Fall und Zhang (2011) beziehen sich darauf in ihrem Statusbericht zur Implementierung von Mehrsprachigkeit in der UNO. Sie fragen kritisch und nicht ohne Pathos und machen damit gleichzeitig deutlich, welche von den Vereinten Nationen stets vertretenen Werte aus ihrer Sicht auf dem Spiel stehen:
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Should the United Nations abdicate their commitment to cultural diversity within one world and succumb, for the sake of pragmatism, to the trend towards de facto monolingualism and its inherent single-thought culture, or do they truly want to stand up coherently for their valued principles in further preserving the right and duty of using a diversity of languages to serve „the Peoples of the United Nations“? (Fall/Zhang 2011, 45; ganz ähnlich Kudryavtsev/Ouedraogo 2003, 9 f.)
Die Frage, die Fall und Zhang in Bezug auf die UNO nur stellen, hat die EU für Krzyżanowski und Wodak (2011) eindeutig bejaht. In ihrer Untersuchung kommen sie zu dem Schluss, dass die jüngere Sprachenpolitik der Union durch eine Sprachideologie – „i. e. beliefs, visions and conceptions of the role of certain language(s) held by different (most commonly institutional) social actors“ (ebd., 118) – geprägt ist, die Sprache(n) primär als Ressourcen zur Optimierung der Wettbewerbsfähigkeit in einer wissensbasierten Ökonomie ansehen. Demgegenüber sei die ursprüngliche Betonung des Zusammenhangs zwischen Sprache, Kultur und gleichwertigem Zugang zu hochwertiger Bildung für alle in den Hintergrund getreten. Dies entspräche einem Wechsel der Sprachenpolitik von einem Ansatz, der integrale Mehrsprachigkeit als Ziel anstrebt, zu einer Wissensökonomie, in deren Rahmen Sprachen als Mittel zum Zweck wirtschaftlicher Leistungsoptimierung dienten. Eine solche Sichtweise wäre kompatibel mit einer hierarchisierenden Mehrsprachigkeitspolitik, die „leistungsfähige“ Sprachen gegenüber weniger „wettbewerbsfähigen“ privilegiert (ebd). Während Krzyżanowski und Wodak die Sprachenstrategie der Europäischen Union als politischer Organisation erörtern, lässt sich die damit verbundene Frage auch aus der Perspektive der Akteure und Akteurinnen stellen, die Mitglieder dieser Organisation sind bzw. diese vertreten. Damit sind die Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedsstaaten gemeint und mehr noch ihre Repräsentantinnen und Repräsentanten, die in Organen und Gremien politischer Organisationen auch über deren Sprachpolitiken und -regime entscheiden. Vor diesem Hintergrund ist mit Blick auf UNO und EU zu fragen, welches Interesse diese Akteure und Akteurinnen an welcher Art von Sprachenpolitik haben. Eine Antwort kann hier mit Verweis auf den vielfach hervorgehobenen Zusammenhang zwischen Sprache und Macht (Ng/Deng 2017; Phillipson 2000; Wright 2001) und Pierre Bourdieus (1983; 2017) Konzepte des sprachlichen Markts und des kulturellen Kapitals nur angedeutet werden. So arbeiten die Mitglieder von Großorganisationen wie EU und UNO oft nicht kooperativ an der Verwirklichung gemeinsamer Ziele, sondern sind Konkurrenten, die gegensätzliche Interessen verfolgen und gegenüber anderen durchzusetzen suchen. Welche Akteure und Akteurinnen hätten in einem solchen Kontext ein Interesse an integraler Mehrsprachigkeit im Sinne der Gleichwertigkeit aller Sprachen? Für die Vertreterinnen und Vertreter englischsprachiger Länder gilt dies sicher nicht und – was für die EU nach dem Austritt Großbritanniens aus der Union noch entscheidender ist – auch nicht für die Länder mit relativ geringer Bevölkerungszahl und vergleichsweise geringem internationalen Einfluss. Während Länder wie Frankreich und, mit Einschränkungen, Deutschland auf die Verwendung ihrer Landessprachen als Arbeitssprachen innerhalb der EU und ihrer Organe drängen, ist das bei vielen anderen Mitgliedsstaaten nicht der Fall. Weil etwa
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Tschechien, Ungarn oder auch Portugal keine Aussicht haben, ihren Sprachen im Alltag der EU größere Geltung zu verschaffen, kann ihnen Englisch als ,neutrale‘ Sprache gelten, die keinem der Partner auf dem sprachlichen Markt Vorteile gegenüber den anderen verschafft und damit Vorteile bei der Durchsetzung eigener Interessen. Dies gilt umso mehr, als etwa in Ost- und Nordeuropa Deutsch und Französisch als Fremdsprachen seit Jahren an Boden verlieren, während Englisch in allen EU-Ländern die bei Weitem meistgelernte und am weitestgehenden beherrschte Fremdsprache ist (vgl. eurostat 2019; 2021).
6 Schlussbemerkung Sprachenrechte als Menschenrechte, Toleranz, kulturelle Vielfalt (United Nations Special Rapporteur 2017, 5; de Varennes 2001) auf der einen, ressourceneffiziente umfassende Mehrsprachigkeit (Europäisches Parlament 2019, Art. 1, Abs. 1.) auf der anderen Seite – diese Begriffe und Werte markieren die Pole, zwischen denen sich das Spannungsfeld der Sprachenpolitiken von Europäischer Union und Vereinten Nationen erstreckt. In diesem Beitrag wurde dargelegt, dass diese Spannung auf den drei Ebenen von Mehrsprachigkeitsprogrammatik, Sprachregime und kommunikativer Praxis innerhalb großer internationaler politischer Organisationen dann in einer Tendenz zum Verlust von Mehrsprachigkeit zu münden scheint, wenn Ressourcen wie Zeit, finanzielle Mittel und Personal knapp sind. Wenn sie jedoch die Rede von Sprachenrechten als Menschenrechte ernst nehmen, können EU und UNO ihre Sprachinnenpolitiken und damit den Umgang mit Mehrsprachigkeit und Sprachenvielfalt innerhalb ihrer eigenen Organisation nicht allein nach dem Maßstab ökonomischer Effizienz und Praktikabilität ausrichten. Wer Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit in den Regionen, Staaten und Gesellschaften der Welt und Europas schützen und fördern möchte, sollte zeigen, dass er selbst in der Lage ist, diese Ziele in der eigenen Organisation zu erreichen.
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Tilo Weber
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Gabriele Kniffka
22. Mehrsprachigkeit im Berufs- und Erwerbsleben Abstract: Sprache und Sprachhandeln in der Arbeitswelt sind seit Jahren Gegenstand zahlreicher Studien. Verschiedene Fächer erforschen, z. T. interdisziplinär, ein breites Spektrum von Fragestellungen. Was die Linguistik angeht, finden sich z. B. in den Bereichen Soziolinguistik und Soziologie der Sprache sowie unter der Interaktions- und Konversationsanalyse diverse Arbeiten – ferner solche mit einem interkulturellen Fokus. Sprachenpolitische Studien mit Bezug auf die Wirtschaft behandeln Problemstellungen wie Sprache als Managementinstrument. Die Wirtschaftslinguistik bzw. Business-Communication-Forschung beschäftigt sich mit berufsfeld-orientierten Fragen, etwa welche Prozesse an der Kundeninteraktion beteiligt sind, wie die Effizienz von Teambesprechungen erhöht werden kann. Ältere Studien sind dabei vorwiegend monolingual orientiert. Seit den neunziger Jahren spielt Mehrsprachigkeit zunehmend eine wichtige Rolle. Der vorliegende Beitrag hat zum Ziel, einige Eckpunkte des aktuellen Diskurses zusammenzufassen und in Bezug auf das Deutsche bzw. den deutschsprachigen Raum exemplarisch zu thematisieren.
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Einleitung Unternehmerische Sprachenpolitik als Managementaufgabe Englisch in der internationalen Wirtschaftskommunikation: Business English as a Lingua Franca (BELF) Mehrsprachigkeit und Regulation des Arbeitsmarkts Literatur
1 Einleitung Globalisierung, technische Innovationen und die fortschreitende Digitalisierung haben zu tiefgreifenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen geführt. Die internationale Arbeitsteilung, die zunehmende Mobilität von Arbeitskräften, aber auch Fluchtmigration haben zur Folge, dass die heutige Berufs- und Arbeitswelt durch eine hohe Diversität gekennzeichnet ist. Der Wandel in der Arbeitswelt ist zudem geprägt durch (1) den sektoralen Strukturwandel hin zur Tertiärisierung und (2) kontinuierliche Ausdifferenzierung und Spezialisierung von Berufsprofilen. Damit einhergehend haben sich die sprachlichen Anforderungen in der Arbeitswelt geändert: Sprache und sprachlichem Handeln im beruflichen Kontext wird infolge der Tertiärisierung eine andere Bedeutung zugemessen als in der Vergangenheit. Zum einen erfordern viele Berufe im Dienstleistungsbereich heute einen differenzierten Umgang mit Sprache und bei nicht wenigen Berufsprofilen bildet die professionelle Kommunikation den Hauptbestandteil des beruflichen Handelns (vgl. Coray/Duchêne https://doi.org/10.1515/9783110623444-022
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Gabriele Kniffka
2017b, 10). Zu diesen sprachintensiven Berufen gehören beispielsweise die Pflegeberufe. Wurde der Kommunikation hier traditionell bereits eine wichtige Rolle zugeschrieben, so bildet die professionelle Kommunikationskompetenz heute einen wesentlichen Teil der Pflegekompetenz und ist als Ausbildungsziel in den neuen Rahmenplänen für die generalistische Pflegeausbildung fest verankert: Kommunikative Kompetenzen wie „[…] wenden Grundsätze der verständigungs- und beteiligungsorientierten Gesprächsführung an“ (Ammende u. a. 2020, 49) sind für alle Phasen der Ausbildung systematisch und umfassend in die Curricula integriert (vgl. Amorocho/ Dengler/Kniffka 2022). Daran lässt sich die gestiegene Bedeutung der sprachlichen Handlungsfähigkeit ablesen. Professionelle Kommunikationskompetenz ist aber nicht allein im Tertiärbereich gefordert. Auch in Berufsprofilen des primären und sekundären Sektors nimmt die professionelle Kommunikationskompetenz heute einen breiteren Raum ein; auch hier sind gestiegene sprachliche Anforderungen zu verzeichnen (vgl. Roelcke 2020, 23). Kurz gefasst: Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in allen Berufsfeldern und auf allen Hierarchiestufen sehen sich in der Gegenwart der Ausweitung ihrer sprachlich-kommunikativen Aufgaben gegenüber. Dabei wird Kompetenz in verschiedenen funktionalen Varietäten vorausgesetzt; allgemeinsprachliche, berufs- und fachsprachliche Elemente gehören ebenso dazu wie die Beherrschung bestimmter Register (vgl. etwa das seelsorgerische Gespräch in den Pflegeberufen). Weiterhin sind multimodale literacies im Umgang mit digitalen Medien gefordert (vgl. exemplarisch: Ammende u. a. 2020, 43). An vielen Arbeitsplätzen sind darüber hinaus fremdsprachliche Kenntnisse erforderlich, und nicht selten sind Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen mit der Einführung einer common corporate language konfrontiert, d. h. mit der Einführung einer Fremdsprache als gemeinsamer Unternehmenssprache, die von den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen mit Hinblick auf die Unternehmensziele entweder neu gelernt oder in bestimmten Kompetenzbereichen weiter ausgebaut werden muss. In multilingualen Gesellschaften wie in Indien oder in zahlreichen afrikanischen Ländern, in denen im Alltag eine Vielzahl an Sprachen und Dialekten nebeneinander existieren, verfügen die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen häufig über ausgeprägte Mehrsprachigkeitskompetenzen, Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit am Arbeitsplatz sind traditionellerweise gang und gäbe (vgl. Hewitt 2012, 269). Mit der zunehmenden wirtschaftlichen Entwicklung verändern sich auch hier die sprachlichen Anforderungen und entsprechen insgesamt den oben beschriebenen (vgl. Gunnarson 2013b). Zudem ist beobachtbar, dass sich das etablierte Sprachenspektrum in diesen Kontexten um (europäische) Sprachen erweitert (Hewitt 2012) und sich das Verhältnis der am Arbeitsplatz tradierten Sprachen untereinander verschiebt. Mohanty verweist in diesem Zusammenhang auf die Herausbildung einer hierarchischen Struktur innerhalb des Sprachengefüges in Indien, welche dazu führt, dass Minoritätensprachen – trotz der starken Spracherhaltsbestrebungen – zunehmend marginalisiert und in ihren Gebrauchsdomänen eingeschränkt werden (2006, 263; vgl. auch Lüdi u. a. 2011 zur Minorisierung von Sprachen in Schweizer Unternehmenskommunikation).
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Sprachliche Handlungsfähigkeit, so lässt sich resümieren, spielt im heutigen Berufs- und Erwerbsleben eine zentrale Rolle. Moderne Berufe erfordern ein breites Spektrum an professionellen Kommunikationskompetenzen, die sowohl funktionale Varietäten in der/den Erstsprache/n (innere Mehrsprachigkeit) wie auch Kenntnisse und Fähigkeiten in Fremd-/Zweitsprachen (äußere Mehrsprachigkeit) einschließen (vgl. Wandruszka 1981; vgl. auch Roelcke, Beitrag 1 in diesem Band). In den nachfolgenden Kapiteln werden diese Anforderungen genauer beleuchtet, zunächst unter dem Blickwinkel unternehmerischer Sprachenpolitik, dann mit Hinblick auf Englisch als business lingua franca. Schließlich wird Sprache/Mehrsprachigkeit mit Bezug zum Arbeitsmarktzugang beschrieben.
2 Unternehmerische Sprachenpolitik als Managementaufgabe Im Zuge der Globalisierung haben immer mehr Unternehmen, nicht allein große Konzerne, sondern auch Mittelständler, ihr Geschäft über den deutschsprachigen Markt hinaus kontinuierlich ausgeweitet und agieren international: Den traditionellen Warenaustausch überschreitend werden seit geraumer Zeit Produktionsstätten ins Ausland verlagert, Produktionsketten zunehmend global angelegt, Dienstleistungen grenzüberschreitend angeboten. Unternehmen fusionieren über Grenzen hinweg oder kooperieren in internationalen joint ventures. Daraus resultiert zwangsläufig, dass multinationale Unternehmen zugleich auch multilinguale Unternehmen sind, die sich vor die Aufgabe gestellt sehen, angesichts einer sprachlich und kulturell heterogenen Belegschaft erfolgreich zusammenzuarbeiten und effizient miteinander zu kommunizieren. Dazu bedarf es des professionellen Umgangs mit Sprache: Unternehmen müssen Language-management-Strategien entwickeln, um dieser Herausforderung zu begegnen. Language management wird dabei aufgefasst als geschäftsstrategisches Instrument, „an instrumental process where language is seen as a variable in business and corporate management“ (Sanden 2016, 533). Der Hauptzweck unternehmerischer Sprachenpolitik ist, Sprache und kommunikative Praktiken der Belegschaft zu vereinheitlichen, um so die Produktivität und die Leistung des Unternehmens insgesamt zu steigern (vgl. Sanden 2020, 23). In einigen Studien wird language management kritisch beleuchtet und als ein von der Leitungsebene gesteuerter Eingriff in die Sprachenwahl bzw. in das sprachliche Verhalten der Belegschaft aufgefasst – was nicht ohne Probleme vonstattengeht (Sanden 2020, 24), vgl. dazu auch Kankaanranta/Karhunen/Louhiala-Salminen (2018, 332): […] language thus becomes a management tool in MNCs [multinational companies, GK]: corporate language policies are drafted at the top executive level and are then implemented throughout the organization.
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Beim unternehmerischen language management werden zwei übergeordnete Kategorien unterschieden, (1) unternehmensinterne und (2) unternehmensexterne Kommunikation. Während (2) die Kommunikation zwischen Unternehmen und Kunden, Partnern, Zulieferern etc. bezeichnet und auf den Bereich des Marketings bezogen werden kann, meint (1) die Kommunikation zwischen verschiedenen Standorten, Abteilungen, Niederlassungen etc. innerhalb desselben Unternehmens. International operierende bzw. multinationale Unternehmen haben im Umgang mit sprachlicher (und kultureller) Diversität unterschiedliche Modelle unternehmerischer Sprachenpolitik entwickelt: Auf der einen Seite des Spektrums finden sich Unternehmen, die auf eine einzige gemeinsame Sprache setzen, eine common corporate language (CCL); auf der anderen Seite Unternehmen mit einer differenzierteren Sprachenpolitik, in deren Rahmen verschiedene im Unternehmen relevante Sprachen ihren Platz haben, d. h. die Sprache am Stammsitz des Unternehmens, die parent company language, sowie die Sprachen, die an den weiteren Standorten oder an wichtigen Absatzmärkten gesprochen werden (vgl. Coray/Duchêne 2017b, 15; Lüdi/Höchle Meier/Yanasprasart 2010). Im Folgenden wird das Modell der common corporate language näher beschrieben.
2.1 Das Modell der einheitlichen Unternehmenssprache Das CCL-Modell ist am weitesten verbreitet. Die einheitliche Unternehmenssprache – vielfach handelt es sich um die englische Sprache – dient als Lingua franca für Sprecher und Sprecherinnen unterschiedlicher Erstsprachen. Die Implementierung einer konzernweit einheitlichen Sprache wird häufig als schnelle und unkomplizierte Lösung zur Überwindung von Sprachbarrieren innerhalb eines multilingualen Unternehmens angesehen (vgl. Sanden 2020, 22). Die Unternehmensleitungen versprechen sich davon eine Vereinfachung und eine effizientere Gestaltung der Kommunikation innerhalb des Unternehmens sowie mit Kunden und Partnern über Landes- und Sprachgrenzen hinweg. In der Umsetzung bedeutet dies, dass die unternehmensinterne Kommunikation, sei sie schriftlich oder mündlich, in der einheitlichen Unternehmenssprache abläuft. Im schriftsprachlichen Bereich wird also die Korrespondenz (Briefe, Emails etc.) ausschließlich oder überwiegend in der CCL geführt, werden Geschäftsberichte, Dokumentationen etc. fast ausschließlich in der CCL veröffentlicht. Für die mündliche Kommunikation gilt, dass beispielsweise Meetings in gemeinsamer Unternehmenssprache abgehalten werden, insbesondere wenn die Teilnehmer und Teilnehmerinnen unterschiedliche Erstsprachen sprechen. Unternehmen versprechen sich dadurch positive Effekte, wie im Folgenden am Fall eines deutschen Chemieunternehmens deutlich wird, das Ende der 90er-Jahre Englisch als einheitliche Unternehmenssprache einführte. Der Fall kann als exemplarisch für viele Unternehmen gelten.
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Durch die Einführung dieser Company Language erhofft sich die Konzernleitung positive Effekte sowohl in der internen als auch in der externen Kommunikation. Der Vorstand erwartet, dass diese Vereinheitlichung der Unternehmenssprache den Spracherwerb der Mitarbeiter fördert, die beschriebenen Probleme reduziert, das Entstehen weiterer Schwierigkeiten verhindert und insgesamt Ineffizienz und Unklarheit in der internen Kommunikation so weit wie möglich ausschließt. Durch die einheitliche Sprache soll das Zusammengehörigkeitsgefühl der Mitarbeiter gestärkt und eine konzerneinheitliche Unternehmenskultur weltweit entwickelt werden. Weiterhin wird langfristig mit einer Minderung der Kosten für Dolmetscher- und Übersetzungsleistungen gerechnet. Die Einführung von Englisch als interner Unternehmenssprache fördert schließlich die externe Verwendung: Vor allem wird der Kundenservice konkret gestärkt. Langfristig soll die Sprachenwahl dazu beitragen, das Unternehmen als weltoffen und innovativ darzustellen und ein besseres Image zu vermitteln. (Hauschildt/Vollstedt 2001, 3)
Bemerkenswert in dieser Darstellung ist ferner die Wahl des Englischen als Konzernsprache: Mit dieser Sprachenwahl soll eine Veränderung der Imagedimensionen bzw. eine Imagesteigerung erreicht werden. Dieses Argument gilt auch noch zwei Jahrzehnte später, mehr noch: Unternehmen scheinen durch die Implementierung des Englischen als CCL für ausländische Fach- und Führungskräfte attraktiver zu sein (vgl. Schmidt-Carré 2019). Das ist ein gewichtiges Argument, denn so kann die allgemein angestrebte Internationalisierung des Managements vorangetrieben werden. Die Rekrutierung ausländischer Top-Manager wird als Erfolgsfaktor für deutsche Großunternehmen angesehen, wie auch die zunehmende Diversität allgemein als wichtiger Beitrag zur Qualitätsentwicklung des Managements gewertet wird (Ziesemer 2019). Bei den Vorständen der DAX-30-Konzerne lag der Anteil ausländischer Top-Manager im Jahr 2019 bei über 35,4 Prozent (Placke/Konegin-Grenier 2020, 29).
2.2 Sprachliche Anforderungen an Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und ihre Folgen Die Implementierung einer einheitlichen Konzernsprache bleibt nicht ohne Folgen für die Belegschaft. Waren in der Vergangenheit von der Einführung einer CCL eher die Führungsebenen eines Unternehmens betroffen, so sind dies heute alle Hierarchieebenen. Die technische Entwicklung und die zunehmende Digitalisierung eröffnen neue Kommunikationswege, zu denen sehr viel mehr Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen Zugang haben. Infolgedessen können Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auf allen Ebenen, intern wie extern, prinzipiell leichter direkt miteinander kommunizieren (vgl. Mulken/ Hendricks 2014). Mit der Nutzung neuer Medien ist aber vielfach die Notwendigkeit des Erwerbs von ‚erweiterten‘ digital literacies erforderlich, die über die bloße Programmanwendung hinausgehen, wie beispielsweise die kollaborative Arbeit an Dokumenten mithilfe digitaler Tools in einem multilingualen Setting. Die Sprachkenntnisse in der CCL können dabei, je nach Arbeitsplatzprofil, variieren. Von Führungskräften wird häufig erwartet, dass sie die common corporate language, überwiegend das Englische, wenn nicht auf muttersprachlichem, so doch auf verhandlungssicherem Niveau be-
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herrschen (vgl. Ehrenreich 2010, 418). Dies entspricht der Kompetenzstufe B2/C1 des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen. Das GER-Niveau C1, competent user, wird in der Wirtschaft als „komplexe Informationen steuern/moderieren“ interpretiert (vgl. DIHK 2018) und nach den Fertigkeiten Hören, Lesen, Sprechen und Schreiben mit Bezug auf Wirtschaftsdeutsch differenziert. Exemplarisch sind nachstehend die Deskriptoren für die Fertigkeit Sprechen aufgeführt: Kann in Besprechungen den eigenen Standpunkt präzise und klar formulieren, überzeugend argumentieren und auf komplexe Argumentationen anderer reagieren. Kann aus dem eigenen Fachgebiet klar gegliederte, adressatenbezogene Präsentationen unter Einbeziehung grafischen Materials geben, dabei spontan auf Fragen von Zuhörern reagieren. Kann komplexe Sachverhalte klar und detailliert darstellen und eventuell problembehaftete Aspekte zur Lösung führen. (DIHK 2018, 11)
Die berufliche Kommunikation in einer Fremdsprache kann für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit diversen Hürden verbunden sein. Neben den zu bewältigenden sprachlichen Aufgaben können unterschiedliche Kompetenzniveaus der interagierenden Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der common corporate language (CCL) oder auch die Beschränkung der sprachlichen Handlungsfähigkeit auf bestimmte Fertigkeitsbereiche/Handlungsfelder zu Problemen in der Unternehmenskommunikation und letztlich zu Konflikten führen. Beispiele hierfür sind der mögliche Ausschluss weniger sprachkompetenter Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus unternehmensinternen und -externen Diskursen, was u. a. zu Informations-Asymmetrien und damit einhergehenden Verschiebungen von Machtverhältnissen führen kann oder zu Frustrationserlebnissen bei Meetings und Konferenzen, vgl. das nachstehende Datenbeispiel aus Lüdi u. a. (2011, 26):
Ich rede in meiner Sprache anders, freier, offener, selbstbewusster, sicherer. […] Da gehen also wirklich viele Ideen eigentlich verloren, wenn man sich einfach für das Englische entscheidet in einer solchen Situation, weil dann nicht alle gleich, sich gleich wohl fühlen.
Eine weitere kommunikative Hürde im multilingualen Arbeitsplatz-Setting stellen informelle Interaktionen dar. Tange und Lauring beobachten in ihrer 2009 erschienenen Studie, dass sich Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus informellen Gesprächen und small talk zurückziehen, wenn diese in einer nicht-nativen gemeinsamen Unternehmenssprache geführt werden, da sie sich diesen Gesprächssituationen nicht gewachsen fühlen. Der Grund dafür liegt darin, dass das sprachliche Repertoire der betreffenden Sprecher und Sprecherinnen auf fachliche Register oder Varietäten beschränkt ist. Sie fürchten, dass die mangelnde sprachliche Kompetenz im informellen Kontext ihr professionelles Ansehen beschädigen könnte. Tange und Lauring bezeichnen dieses Phänomen als thin communication (vgl. 2009, 220). Das Phänomen der Vermeidung von small talk ist auch in anderen Studien belegt. Piekkari/Welch/Welch (2014, 235) sprechen vom „silencing effect“, der sich durch alle Hierarchie-Ebenen eines Unternehmens ziehen kann (vgl. Sanden 2020, 26). Mit negativen Folgen für den Informationsfluss: „As
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a consequence, multilingual organisations see a reduced degree of socialising, small talk and gossiping which has implications for information transfers“ (Tange/Lauring 2009, 220). Diese Befunde werden in der Literatur als Ausdruck einer zumindest teilweise unzureichenden unternehmerischen Sprachenpolitik angesehen, die den sozialen Wert von Sprache(n) in der Unternehmenskommunikation zu gering einschätzt. Es wird vorgeschlagen, eine rigid monolingual ausgerichtete Sprachenpolitik durch ein durchdachtes Mehrsprachigkeitskonzept zu ersetzen und die Potenziale, die Mehrsprachigkeit in sich birgt, besser auszuschöpfen (zu letzterem Aspekt vgl. Aichhorn/Puck 2017, 399; Berthoud/Grin/Lüdi 2015).
2.3 Mehrsprachige Praktiken im CCL-Setting Die top-down-Prozesse bei der Implementierung einer einheitlichen Unternehmenssprache gehen häufig mit Bottom-up-Prozessen einher, d. h., dass die von oben verordnete Sprache nicht durchgängig benutzt wird und sich auf den Arbeitsebenen verschiedene mehrsprachige Praktiken etablieren (vgl. z. B. Angouri 2013). Neben der ‚offiziellen‘ einheitlichen Unternehmenssprache werden lokale Sprachen in der Unternehmenskommunikation eingesetzt. Angouri zufolge orientieren sich Beschäftigte bei der Wahl ihrer Sprache und Sprachpraktiken nicht bzw. nicht durchgängig an den von oben verordneten Sprachregelungen, sondern an den Bedarfen der Inter-/Intra-Teamkommunikation am Arbeitsplatz (2013, 577). Auch Kingsley (2013) weist in ihrer Studie zum Sprachgebrauch in Luxemburger Banken mit Englisch als Unternehmenssprache den Einsatz multilingualer Praktiken in den einzelnen Instituten nach. Leitend für die Sprachenwahl in Interaktionen waren dabei (1) die Zugehörigkeit der Angestellten zu einer Sprachgemeinschaft (z. B. Deutsch, Schwedisch oder Französisch), was im Unternehmen teilweise zu einem language clustering führte, und (2) das jeweilig verfügbare sprachliche Repertoire bzw. die Sprachkompetenz der Interaktionspartner und -partnerinnen (Kingsley 2013, 545). Lüdi u. a. (2011, 22) kommen zu ähnlichen Ergebnissen:
Die Arbeitswelt bietet zahlreiche Kommunikationsräume an, in welchen die Teilnehmer einen grossen Spielraum haben, um gewohnheitsmässig und/oder lokal ausgehandelt mehr oder weniger mehrsprachige Partizipationsmodi zu wählen. Diese variieren von einem Kommunikationsereignis zum anderen (Arbeitstreffen in einem Labor vs. einer Redaktionskommission), aber auch aufgrund unterschiedlich ausgestalteter Partizipationsräume innerhalb einer Sitzung aufgrund von Rollenwechseln der Teilnehmer (Wer leitet die Sitzung? Wer trägt vor?). Von einer homogenen integrierten internen Kommunikation kann keine Rede sein.
Bei den hier beschriebenen Routinen der Sprachenwahl (als Alternative zur CCL) handelt es sich um Akkommodationsstrategien. Diese dienen den Sprachbenutzern und -benutzerinnen allgemein zur effizienteren Kommunikation und zur Sicherung des kommunikativen Erfolgs. Neben dem Sprachenwechsel kann sich die Akkommodati-
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on auch über die Wahl eines vereinfachten Registers vollziehen, indem grammatische Strukturen, Lexik oder auch das Sprechtempo dem Kompetenzniveau des/der Interaktionspartner/in in der CCL angepasst werden (vgl. auch u. Kap. 3). Ein weiteres in diesem Zusammenhang zu beobachtendes Bottom-up-Phänomen ist die Herausbildung von unternehmensspezifischen Jargons innerhalb der CCL. Aichhorn/Puck (2017) bezeichnen diese auch in anderen Studien beobachtete CCL-Varietät als company-speak. Sie ist gekennzeichnet durch (1) Vereinfachung, (2) sehr spezialisierte, unternehmensbezogene Fachsprachlichkeit und (3) kulturelle Hybridität (ebd., 397). In ihren Daten finden sich dazu folgende Aussagen von Managern: When you work together for some time, you calibrate your language or languages … The expressions, the acronyms, the metaphors, and the way you communicate with each other. (ChemCo 1) (a. a. O.) Whatever language we speak, most of the time we use very specific words ... words that are specific to our company and the TelCo industry. In our community, we understand each other well when we are talking about business matters. The terminology that we use is the same all over the company. That makes communication a lot easier. (TelCo 2) (a. a. O.)
Company-speak entwickelt sich demnach aus dem (internen) Gebrauch der einheitlichen Konzern-/Unternehmenssprache durch die Sprachbenutzer und -benutzerinnen und ist den speziellen Gegebenheiten und Bedürfnissen des Umfeldes angepasst. Die Aussagen der Manager verdeutlichen, welch wichtige Funktion diese spezielle Varietät erfüllt: Durch die Etablierung und den Gebrauch eines company-speak wird die unternehmensinterne Kommunikation offenbar erleichtert; der Austausch fach-, ablaufund berufsbezogener Informationen innerhalb eines sprachlich heterogenen Teams erfolgt in effizienter Weise. Zudem, so Beobachtungen, wird damit der soziale Zusammenhalt zwischen den Betriebsangehörigen gestärkt, indem über die Teilhabe an innerbetrieblichen Sprachpraktiken und den Zugang zu dem sehr speziellen Code eine Identifikation mit dem Arbeitsplatz bzw. dem Unternehmen etabliert werden kann (vgl. Aichhorn/Puck 2017).
2.4 Zusammenfassung Multilingualität in Unternehmen wird zwar, so die Ergebnisse zahlreicher Studien, einerseits als Herausforderung angesehen, die mit geeigneten Maßnahmen bewältigt werden muss. Andererseits werden der sprachlichen und kulturellen Diversität positive Effekte für das Unternehmen zugesprochen. Aichhorn/Puck (2017) verweisen auf Aussagen in ihrem Datenkorpus, in denen die befragten Manager ihre Wertschätzung für die unterschiedlichen Perspektiven, Standpunkte und Einsichten zum Ausdruck bringen, die über Sprecher und Sprecherinnen unterschiedlicher Sprachen in multilingualen Settings eingebracht werden. So werden die Interaktionspartner und -part-
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nerinnen immer wieder dazu veranlasst, Bedeutungen neu auszuhandeln, ihre Position zu überdenken und eingefahrene Pfade zu verlassen. Dies führt langfristig zu besseren Entscheidungsfindungen und Problemlöse-Strategien als in sprachhomogenen monolingualen Settings. Die mit der Multilingualität verbundenen Herausforderungen werden dieser Studie zufolge nicht als nachteilig für die Unternehmenspolitik empfunden, sondern als normale Begleiterscheinung mehrsprachiger Interaktion (vgl. Aichhorn/Puck 2017, 392).
3 Englisch in der internationalen Wirtschaftskommunikation: Business English as a Lingua Franca (BELF) Der Status des Englischen als Lingua franca in der internationalen Geschäftskommunikation steht heutzutage außer Frage, was sich bereits in der vorherrschenden Wahl des Englischen als common corporate language niederschlägt. Unabhängig von der Sprachenwahl in Unternehmen spielt Englisch eine bedeutsame Rolle in diversen multilingualen Settings und gehört als Kommunikationsmittel zum alltäglichen Sprachhandeln von Geschäftsleuten und sonstigen international agierenden Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen (vgl. z. B. Nickerson 2005). In allen Sektoren stellen Informationsaustausch und Wissenstransfer Schlüsselaktivitäten bei der Entwicklung neuer sozialer und Geschäftspraktiken dar (Sing 2016, 322). Dies belegen zahlreiche Studien. Ein Teil dieser Studien behandelt, wie in Kap. 2 dargelegt, Fragestellungen zur Kommunikation in multinationalen Unternehmen. Andere Forschungsprojekte lenken den Blick stärker auf das Englische als Lingua franca im Wirtschaftsleben (Business English as a Lingua Franca/English as a Business Lingua Franca, BELF); diese beiden Bereiche sind nicht immer klar voneinander abgrenzbar (für einen Überblick vgl. Nickerson 2005; Kankaanranta/Louhiala-Salminen 2013; Coray/Duchêne 2017b).
3.1 Business English as a Lingua Franca Englisch als Lingua franca (ELF) wird heute gemeinhin definiert als Sprache, die zur Verständigung zwischen Sprechern und Sprecherinnen verschiedener Erstsprachen dient und auch von muttersprachlichen Sprechern und Sprecherinnen des Englischen verwendet wird. ELF impliziert also stets ein multilinguales Setting. Business English as a Lingua Franca (BELF) dient zur Bewältigung geschäftsbezogener sprachlicher Aufgaben.
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Business is the purpose and domain of the use of BELF; it is a neutral resource that is shared with the members of the international business community in order to conduct business and work in multinational companies. (Kankaanranta/Lu 2013, 292)
BELF wird als ,globale‘ Sprache aufgefasst, d. h. nicht als Nationalsprache wie etwa das Englische in Großbritannien oder den USA. BELF-Sprecher und -Sprecherinnen sind „eigenständige Sprechende und nicht als non-Native Speakers (NNS) oder Lernende konzipiert“ (Coray/Duchêne 2017b, 21). Sie müssen, so Kankaanranta/Louhiala-Salminen (2013), in starkem Maße über Kompetenzen wie u. a. Akkommodationsfähigkeiten, Hörverstehensfertigkeiten und eine hohe Toleranz gegenüber unterschiedlichen Varianten und Varietäten des Englischen verfügen. Darin unterscheidet sich BELF von ELF. Kankaanranta/Louhiala-Salminen fassen die Unterschiede dieser linguae francae wie folgt zusammen:
Tab. 1: Vergleich Ansätze ELF und BELF (nach Kankaanranta/Louhiala-Salminen 2013, 29) Kriterium
ELF
BELF
Erfolgreiche Interaktion verlangt
muttersprachliche Sprachfertigkeiten
wirtschaftssprachliche und strategische Fertigkeiten
Sprecher und Sprecherinnen und Schreiber und Schreiberinnen zielen darauf ab,
muttersprachliche Diskurse nachzubilden
eine (geschäftliche) Aufgabe zu erledigen und eine gute Beziehung aufzubauen
Nicht-Muttersprachler und -sprachlerinnen werden gesehen als
Lernende, Quelle für Kommunikationsprobleme
eigenständige Sprecher und Sprecherinnen/Mitteilende
Hauptquelle von Problemen
unzureichende Sprachkompetenz allgemein
unzureichende Kompetenz in der Geschäftskommunikation
„Kultur“
Nationalkulturen der Muttersprachler und Muttersprachlerinnen
die jeweiligen Geschäftskulturen & individuelle kulturelle Hintergründe
Die englische Sprache „gehört“
ihren muttersprachlichen Sprechern und Sprecherinnen
niemandem und jedem
In der globalen Geschäftswelt existieren unzählige Gebrauchsformen von BELF. Trotz dieser Diversifizierung herrscht in den Studien Einigkeit darüber, welche Merkmale einen erfolgreichen BELF-Diskurs auszeichnen: (1) Klarheit und Eindeutigkeit des Inhalts vorrangig gegenüber grammatischer Korrektheit, (2) die Verwendung eines wirtschaftsspezifischen Wortschatzes und Genres (= Meetings, Präsentationen etc.) vorrangig gegenüber Allgemeinsprache und (3) Äußerungen und Ausdrucksweisen, die auf Beziehungsaufbau und Kooperation ausgerichtet sind, statt den sachbezogenen Inhalt einer Äußerung zu fokussieren (Kankaanranta/Lu 2013, 292). BELF-Sprecher und -Sprecherinnen müssen darüber hinaus eine gewisse Flexibilität in ihrem sprach-
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lichen Verhalten mitbringen: Sie sind gefordert, eine Gesprächssituation, einschließlich des anstehenden zu verhandelnden Gegenstandes, einzuschätzen und sich entsprechend zu verhalten. Sometimes, it may be essential to be direct, whereas other times indirectness may be more impactful in view of the task at hand. Typically, this type of BELF competence calls for more focus on the strategic use of language: being able to accommodate one’s communication to the partner’s knowledge level, to connect on the relational level, to clarify information, to paraphrase, to make questions, and to ask for clarification. (Kankaanranta/Louhiala-Salminen 2013, 31)
Der ,Vorrang‘ von inhaltlicher Klarheit gegenüber sprachlicher Korrektheit darf allerdings nicht absolut gesetzt werden: Studien wie Ehrenreich (2010) oder Nielsen (2019) zufolge wird sprachliche Korrektheit assoziiert mit Professionalität. Grammatische Abweichungen werden dabei in der externen bzw. in der schriftlichen Unternehmenskommunikation tendenziell weniger toleriert als in der mündlichen Kommunikation. By presenting to the world English texts that conform to Standard English, the company demonstrates its professionalism and its global leadership. […] Und wir sind ja hier kein Kreisligaverein, da muss man ja nicht der ganzen Welt dokumentieren, dass dieses Unternehmen, ich sage mal, amateurhaft versucht, sich auszudrücken. (Ehrenreich 2010, 418)
Diese Daten liefern weitere Belege dafür, dass eine hohe Sprachkompetenz (im Englischen) als Ausdruck von Professionalität gilt, sprachliche Defizite hingegen dem Image schaden (vgl. o. Kap. 2.3).
3.2 BELF im Verhältnis zu weiteren Sprachen Obwohl sich BELF als unverzichtbares Werkzeug in der internationalen Geschäftskommunikation etabliert hat, wird in vielen Studien die Relevanz weiterer Sprachen hervorgehoben. Ähnlich wie bei der Implementierung einer common corporate language ist insgesamt eine Diskrepanz zwischen der generellen Akzeptanz des Englischen als Verhandlungssprache (BELF) und dem tatsächlich zu beobachtenden Verhalten der Sprachbenutzer und -benutzerinnen zu konstatieren (vgl. Lüdi u. a. 2016). Unabhängig von der Sprachenregelung in einem Unternehmen wird die Sprachenwahl von den Interaktanten u. a. bei informell(er)en Meetings oder in der Alltagskommunikation am Arbeitsplatz immer wieder neu verhandelt. Kingsley (2013) zeigt in ihrer Untersuchung zur Sprachenwahl in multilingualen Arbeitsplatz-Settings (Bankenwesen), dass Englisch (BELF) in seiner Eigenschaft als am meisten gesprochene Sprache auch die Rolle der „default lingua franca“ einnimmt. Weitere Sprachen werden nach Bedarf flexibel eingesetzt, u. a. in Meetings und bei informellen Gesprächen, in Präsentationen und im E-Mail-Verkehr. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang der Wechsel vom Eng
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lischen/BELF in eine andere Sprache zum Beziehungsaufbau und zur Beziehungspflege, unternehmensintern zwischen den mehrsprachigen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen und auch gegenüber Kunden: „[…] once the nationality of the person was known, relational functions of language resulted at times in a complete switch to another language“ (Kingsley 2013, 543) oder, wie eine bzw. einer der interviewten Mitarbeiter bzw. Mitarbeiterinnen es ausdrückt, „[…] it [=Sprachenwahl] sets the tone of how the personal relationship affects the professional relationship“ (a. a. O). Auch Angouris Studie von 2013 bestätigt diesen Befund: „Language practices are related to managing not only work talk but also ,rapport‘ between the different teams“ (Angouris 2013, 578). Nicht nur auf Unternehmensebene, auch auf der Ebene der Wirtschaftspolitik wird der Wert von mehrsprachlicher Kompetenz bzw. Mehrsprachigkeit deutlich gesehen und es werden entsprechende sprachenpolitische Ziele formuliert. Als Beispiel lässt sich hier Norwegen anführen, wo Regierung und einflussreiche Wirtschaftsverbände sich für die Stärkung von weiteren Fremdsprachen neben Englisch einsetzen (vor allem Deutsch, Französisch und Spanisch). Dem wachsenden Bedarf an Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen mit Fremdsprachenkenntnissen, die über das Englische hinausgehen, steht in Norwegen allerdings ein kontinuierlicher Rückgang von Lernenden anderer Fremdsprachen gegenüber. Im Deutschland-Strategie-Papier der norwegischen Regierung von 2019 werden an verschiedenen Stellen daher explizit Ziele mit Hinblick auf die deutsche Sprache formuliert und es wird die Relevanz von Deutschkenntnissen für die norwegische Wirtschaft betont: In der neuen Strategie spiegelt sich die Tatsache wider, dass wir Deutschland als einen bedeutsamen Partner in Bezug auf die Europäische Union, den Europäischen Wirtschaftsraum und die Schengen-Zusammenarbeit betrachten. Als weitere Bereiche der Kooperation werden Energie, Klima und Umwelt sowie die Nordgebiete hervorgehoben. Schließlich wird betont, dass Kenntnisse der deutschen Sprache und von Deutschland allgemein als bedeutender Faktor für die norwegische Wirtschaft anzusehen sind. (Utenriksdepartementet 2014, 10) Als Grundlage eines fundierten Deutschlandbildes der Bevölkerung sollen die Wahrnehmung der Bedeutung Deutschlands als dem wichtigsten Partner Norwegens in Europa und die Wichtigkeit deutscher Sprachkenntnisse stärker ins Blickfeld gerückt werden. (Norwegisches Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten 2019, 16)
Darüber hinaus hat die Næringslivets Hovedorganisasjon, NHO (Hauptverband der norwegischen Wirtschaft und Industrie), gemeinsam mit der deutsch-norwegischen Handelskammer und der Universität Oslo eine Interessensgruppe TYSK (Deutsch) ins Leben gerufen, deren Ziele es sind, (1) eine Stärkung des Deutschen als Fremdsprache in norwegischen Schulen zu bewirken und mehr Schüler und Schülerinnen dazu zu motivieren, neben Englisch (obligatorische Fremdsprache) Deutsch zu lernen, und (2) „Kenntnisse der deutschen Sprache und Kultur in Betrieben und Unternehmen“ auszubauen (a. a. O.).
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3.3 Mit BELF verbundene Herausforderungen Im Zusammenhang mit BELF-Interaktionen kommt es immer wieder zu kommunikativen Hindernissen. Neben den bereits in 2.3 erwähnten Kommunikationsdefiziten im Bereich des small talk und ähnlicher informeller Gespräche werden in einigen Studien Interaktionen mit muttersprachlichen Sprechern und Sprecherinnen des Englischen als kommunikative Barriere und potenzielles Konfliktfeld beschrieben. Franklin (2007, 273) führt dies auf mangelnde Lingua-franca-Kompetenzen („lack of lingua franca skills“) aufseiten der muttersprachlichen Interaktanten und Interaktantinnen zurück. In seiner Fallstudie zu einem deutsch-britischen Unternehmenszusammenschluss kritisierten die deutschen Manager und Managerinnen die mangelnde Akkommodationsfähigkeit ihrer britischen Kollegen und Kolleginnen. Diese sprechen in zu hohem Sprechtempo und verhalten sich sprachlich so, als wenn sie mit Muttersprachlern und Muttersprachlerinnen interagierten. Dies bestätigt die Befunde früherer Untersuchungen, in denen von vergleichbaren Erfahrungen berichtet wird. Ein solches Verhalten kann in bestimmten komplexen Verhandlungssituationen als Nachteil für die sprachlich weniger kompetenten (nicht-muttersprachlichen) Geschäftspartner und -partnerinnen aufgefasst werden: This observation is also frequently made by managers of other nationalities who are not native speakers of English about their interaction with British and American colleagues in international management. Indeed, in complex conflict situations such as takeovers, assessment interviews or difficult client-supplier negotiations this lack of understanding may be seen as a deliberate attempt to put the non-native party to the communication at a disadvantage […]. (Franklin 2007, 273)
Der Einsatz von BELF für die Kommunikation in multilingualen Arbeitsplatz-Settings führt zuweilen zu einer als negativ einzuschätzenden Form von language clustering bei informellen Gesprächen, welches als exkludierend beschrieben wird und worin sich u. a. auch Hierarchie- und Machtverhältnisse manifestieren (vgl. Tange/Lauring 2009). Im Datenkorpus von Tange und Lauring findet sich die nachstehende Äußerung eines polnischen Mitarbeiters einer dänischen Firma:
The small talk is always in Danish. And sometimes, the small talk gives a lot of information. It gives you an idea of what is really happening. It is something I really miss, to be able to really feel part of the conversation. I don’t think my knowledge is used properly because I don’t know the small talk. Before I was fighting it, but now I just do my work. (ebd., 225)
Das heißt, der kollegiale Austausch zwischen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen unterschiedlicher Herkunftssprachen wird in diesem Kontext auf die zielorientierte (BELF-)Kommunikation beschränkt, wie in 2.3 unter thin communication beschrieben (vgl. u. a. Tange/Lauring 2009; Coray/Duchêne 2017).
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3.4 Zusammenfassung Englisch spielt als Lingua franca im Wirtschaftsleben eine bedeutende Rolle. Ohne sie wären Internationalisierungs- und Globalisierungsprozesse heute kaum vorstellbar. Der Einsatz des expandierenden Business English as a Lingua Franca hat dabei eine „zunehmende Homogenisierung der Kommunikationsstile“ (Coray/Duchêne 2017, 26) zur Folge. Diese Aussage gilt in erster Linie für die Geschäftskommunikation. Aus den Studien zum Einsatz von common corporate language und Business English as a Lingua Franca wird aber auch deutlich, dass die mit einer CCL oder BELF verbundenen Kompetenzen häufig nicht den notwendigen Bedarfsumfang an sprachlicher Handlungskompetenz abdecken, eben weil sie geschäftsbezogene Kommunikation (core business talk, Holmes 2000) fokussieren, während informelle Gesprächssituationen wie small talk eine Kommunikationshürde darstellen. Dies kann – im negativen Falle – zu silencing und zur Reduktion informeller Gespräche überhaupt führen. Im positiven Falle führt dieser Umstand zum Einsatz weiterer Sprachen aus dem multilingualen Umfeld und zur Etablierung mehrsprachiger Praktiken in diesem Handlungsfeld. Abschließend muss explizit auf die Funktion von small talk, im geschäftlichen Kontext zuweilen als irrelevant und ablenkend angesehen, hingewiesen werden. Informelle Gespräche tragen u. a. dazu bei, eine gelockerte Atmosphäre zu schaffen, Spannungen ab- und Bindungen aufzubauen. Sie leisten Wesentliches zur Beziehungspflege und bilden letztlich ein wichtiges Element zur Erreichung von Verhandlungszielen (Vine 2020, 95). Die dabei eingesetzten (weiteren) Sprachen nehmen in diesem komplexen Gefüge also eine sehr wichtige Rolle ein; dies sollte bei der Konzeption sprachenpolitischer Maßnahmen in Unternehmen, u. a. im Rahmen der Personalentwicklung, berücksichtigt werden.
4 Mehrsprachigkeit und Regulation des Arbeitsmarkts Der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist in Deutschland in den letzten Jahrzehnten auf rund 25 % Prozent angewachsen (vgl. Statistisches Bundesamt 2021). Von diesen ist mehr als die Hälfte nicht in Deutschland geboren, sondern zugewandert. Als Hauptmotive für die Zuwanderung werden familiäre Gründe (Familiengründung und -zusammenführung), Arbeit/Beschäftigung sowie Flucht und Asyl angegeben. Ein Großteil der Einwanderer und Einwanderinnen sucht Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt und muss in diesen bzw. konkret in Unternehmen integriert werden. Nach einer aktuellen Studie des Kompetenzzentrums Fachkräftesicherung (KOFA) beschäftigt oder beschäftigte in der Vergangenheit mehr als die Hälfte aller deutschen Unternehmen Menschen mit Migrationshintergrund, exportierende Unternehmen tendenziell mehr als nicht-exportierende Unternehmen (vgl. KOFA 2020).
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Das heißt, im Zuge dieser Integrationsprozesse sind viele Arbeitsplatz-Settings heute durch sprachliche und kulturelle Diversität geprägt, die Bauwirtschaft ebenso wie Logistikunternehmen, das Hotel- und Gaststättengewerbe ebenso wie das Gesundheitswesen. Ein wichtiger Gesichtspunkt kommt hinzu: Aufgrund des demografischen Wandels leidet Deutschland unter einem – in bestimmten Bereichen gravierenden – Fachkräftemangel, sodass verstärkt Arbeitskräfte aus dem Ausland angeworben werden. Unübersehbar ist der Fachkräftemangel beispielsweise im Gesundheitswesen und der Bedarf an ausländischen Pflegekräften hoch. Hier stieg die Anzahl der ausländischen sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zwischen 2014 und 2019 um ein Drittel. So lag der Anteil ausländischer Arbeitskräfte in der Altenpflege im Jahr 2019 bei 13,6 % (Informationsdienst der deutschen Wirtschaft, 14.04.2020). Aber auch MINT-Fachkräfte sind nachgefragt: Laut einer Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft besteht im Juni 2021 ein Bedarf von 190 000 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Angesichts dieser Bedarfe ist die Notwendigkeit einer gelingenden Integration von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen mit Migrationshintergrund in den Arbeitsmarkt stärker ins Bewusstsein von Unternehmensleitungen geraten, vgl. dazu:
Durch den demografischen Wandel und den sich hierdurch abzeichnenden Fachkräftemangel wird es allerdings wichtiger denn je, dass Menschen mit Migrationshintergrund als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gut in die Unternehmen in Deutschland integriert sind. Damit das gelingen kann, braucht es einen bewussten Umgang mit den kulturell unterschiedlich geprägten Erfahrungen und Vorstellungen. (KOFA 2020, 25)
Die Forderung nach Diversity-Maßnahmen muss auch den Umgang mit Sprache und Mehrsprachigkeit berücksichtigen. Dazu gehören u. a. Fragen zum Nachweis von Sprachkenntnissen vor der Einreise bzw. Einstellung, betriebliches Sprachcoaching oder betriebliches Sprachmentoring für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und Anleitende, die aktiv in die unternehmensinterne Integration von zugewanderten Arbeitskräften involviert sind.
4.1 Sprachkompetenz im Kontext Arbeitsmigration und Integration von Geflüchteten Wer in Deutschland dauerhaft eine qualifizierte berufliche Tätigkeit anstrebt, muss, neben dem obligatorischen Nachweis der eigenständigen Lebensunterhaltssicherung, in der Regel Sprachkenntnisse nachweisen. Welche Sprachkompetenzen erwartet werden, hängt u. a. vom jeweiligen Berufsfeld ab. Das am 1. März 2020 in Kraft getretene Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das die qualifizierte Zuwanderung zur Eindämmung des Fachkräftemangels reguliert, legt als Voraussetzung für die Einreise zur Arbeitsplatzsuche fest, dass Fachkräfte mit einer qualifizierten Berufsausbildung den Nachweis von Deutschkenntnissen auf dem Niveau B1 des Gemeinsamen europäi
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schen Referenzrahmens (GER) erbringen müssen. Junge Menschen unter 25 Jahren aus Drittstaaten, die sich in Deutschland um einen Ausbildungsplatz bemühen wollen, müssen, neben weiteren Voraussetzungen, Deutschkenntnisse auf dem Niveau B2 des GER vorweisen. Sprache hat beim Zugang zum Arbeits- bzw. Ausbildungsmarkt somit die Funktion eines Selektionsinstrumentes. Für die Ausübung eines Gesundheitsberufes sind beispielsweise Sprachkenntnisse auf dem Niveau B2 des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens oder darüber nachzuweisen (vgl. Gesundheitsministerkonferenz 2019, 3). Dafür werden eigens konzipierte fachsprachliche Prüfungen angeboten. Dies erscheint gerechtfertigt vor dem Hintergrund, dass die Pflegeberufe, wie eingangs erwähnt, zu den sprachintensiven Berufen zählen, bei denen die Sprachkompetenz einen Teil der Professionskompetenz ausmacht. Eingeschränkte Deutschkenntnisse würden einer De-Professionalisierung Vorschub leisten und nicht zuletzt ein Sicherheitsrisiko darstellen. Die Vorgabe der Gesundheitsministerkonferenz hat die Nachfrage nach entsprechenden fach- und berufssprachlichen Kursangeboten im Ausland erhöht (vgl. etwa Auswärtiges Amt 2020, 35 und 43). Erwerben ausländische Pflegekräfte schon vor der Einwanderung nach Deutschland die nachzuweisenden sprachlichen Qualifikationen, gelingt der Berufseinstieg leichter. Nicht für alle Berufsfelder sind die sprachlichen Anforderungen so differenziert ausgewiesen wie im Gesundheitswesen. Oft genug ist in Unternehmen/Betrieben bei Einstellungsprozessen offenbar nicht klar, welche Sprachkompetenzen etwa auf dem (allgemeinsprachlichen) Niveau B1 erwartbar sind und wie sich diese in der Performanz eines Bewerbers oder einer Bewerberin niederschlagen. So verwundert es nicht, wenn im Zusammenhang mit der Anwerbung von Fachkräften Sprachbarrieren als Einstellungshindernis beklagt werden, wie aus Umfragen des Instituts der deutschen Wirtschaft hervorgeht, vgl. beispielsweise: Sprachliche Defizite von Bewerbern sind gerade für die von Fachkräfteengpässen betroffenen kleinen und mittleren Unternehmen im Verarbeitenden Gewerbe besonders hinderlich. Aber auch für die Zuwanderer selbst sind mangelnde Sprachkenntnisse die größte Hürde bei der Arbeitsplatzsuche. In der Europäischen Union lernen daher viele Auswanderungswillige bereits in ihrem Heimatland eine neue Sprache. (Informationsdienst der deutschen Wirtschaft, 13.03.2014)
Ein ähnlicher Befund ist für die Einstellungsprozesse von Geflüchteten, die sich u. U. bereits über einen längeren Zeitraum in Deutschland aufhalten, zu konstatieren. Einer Umfrage des Kompetenzzentrums Fachkräftesicherung (KOFA) aus dem Jahr 2017 zufolge beschäftigte knapp ein Viertel der Unternehmen in Deutschland Geflüchtete oder tat dies in den Jahren zuvor. Dabei bezeichneten rund 86 Prozent der vom KOFA befragten Unternehmen die mangelnde Kompetenz in der deutschen Sprache als größtes Hindernis bei der Einstellung von Geflüchteten (Informationsdienst der deutschen Wirtschaft, 20.03.2017). Der Nachweis bestimmter (allgemeinsprachlicher) Sprachkompetenzen als Voraussetzung zum Arbeitsmarktzugang hat in den letzten Jahrzehnten immer wieder für
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Kritik gesorgt, insbesondere bei den Vertretern und Vertreterinnen des Critical Language Testing (z. B. Shohamy 2009; McNamara 2010; Kunnan 2012). Sie hinterfragen die Konstruktvalidität der für die Regulierung der Zuwanderung eingesetzten Testinstrumente und weisen darauf hin, dass die Tests dazu beitragen, bestimmte Personengruppen auszugrenzen (Gatekeeping-Funktion). In Deutschland gibt es Entwicklungen, beim Zugang zum Arbeitsmarkt auf allgemeinsprachliche Prüfungen zu verzichten und stattdessen fachsprachliche Prüfungen anzubieten, wie zuletzt von der Gesundheitsministerkonferenz für den medizinischen Bereich vorgeschrieben. Auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sieht im Rahmen der Verordnung über die berufsbezogene Deutschsprachförderung (DeuFöV) berufsbezogene Deutschkurse und zu deren Abschluss entsprechende Sprachprüfungen vor. Diese Maßnahmen haben das Ziel, den Spracherwerb gezielt auszubauen und so „die Chancen auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt zu verbessern“ (DeuFöV, 1). Aus den skizzierten Vorgaben zur Regulierung des Arbeitsmarktzugangs wird einerseits der Stellenwert, der der Sprache eingeräumt wird, deutlich, andererseits zeigt sich hier auch die monolinguale Ausrichtung der aufnehmenden Gesellschaft, nach deren Auffassung die „Beherrschung der legitimen institutionellen Sprache“ (Coray/ Duchêne 2017, 27), in diesem Falle Deutsch, hohe Priorität genießt, während das mit Mehrsprachigkeit verbundene Potenzial nicht in den Blick genommen wird.
4.2 Umgang mit Mehrsprachigkeit im beruflichen Alltag von deutschen Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen Eine Reihe von Studien bzw. Umfragen zur Beschäftigung von Migranten und Migrantinnen in deutschen Unternehmen haben gezeigt, dass eine aktive Förderung der kulturellen Vielfalt nach Ansicht vieler Unternehmen die Fachkräftesicherung unterstützt und die betriebliche Innovationskraft fördert. Neben fachlichen Qualifikationen bilden Sprachkompetenzen ein wichtiges Einstellungskriterium. Dabei werden von knapp 46 % der Unternehmen spezifische Fremdsprachenkenntnisse, d. h. die Mehrsprachigkeit der künftigen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, besonders wertgeschätzt. Andererseits drücken 90 % auch ihre Besorgnis hinsichtlich mangelnder Deutschkenntnisse aus. Um letzterem Umstand entgegenzutreten, werden in einigen Unternehmen im Rahmen des Diversity-Managements beispielsweise betriebsinterne Sprachfördermaßnahmen angeboten und Anleitende in Betrieben im Umgang mit sprachlich weniger kompetenten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen über ein betriebliches Sprachmentoring geschult (vgl. Köhler/Leinecke 2018). Weitere mögliche Maßnahmen, die unter dem Stichwort „Rücksichtnahme in der Organisation“ subsumiert werden, umfassen die Wahl des Englischen oder die multilinguale Ausrichtung der innerbetrieblichen Kommunikation (vgl. Hammermann/Schmidt/Stettes 2014, 20).
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Interkulturelle und multilinguale Kompetenzen von Migranten und Migrantinnen werden von Unternehmen, die diese gern im Vertrieb und in der Administration einsetzen, als Wettbewerbsvorteil am heimischen Standort angesehen. Nicht nur lässt sich so eventuell erfolgreicher auf ausländischen Märkten agieren, auch im Inland sind Kunden und Kundinnen und Zielgruppen heterogener geworden und bedürfen einer adressatengerechten Ansprache (vgl. Hammermann/Niendorf/Schmidt 2016). Sprachliche und kulturelle Diversität spielt auch in anderen Wirtschaftseinheiten, in staatlichen und kommunalen Institutionen etc. eine zunehmend wichtige Rolle, beispielsweise bei der Polizei. Migranten und Migrantinnen sollen hier vor allem eine Mittlerrolle einnehmen, was z. T. auch kritisch diskutiert wird. Vgl. dazu: Die Polizeiführung will Migranten als Vermittler zwischen den Kulturen, und sie sucht deshalb Personen mit Migrationshintergrund, die beide Kulturen kennen und die Sprachen beherrschen. Sie sollen selbstverständlich deutsch, aber nach Möglichkeit auch ausländisch sprechen können und dies auch im Publikumskontakt nutzen. Für sie ist die Kommunikation mit dem Publikum in dessen Sprache wichtig oder mindestens wünschenswert. Anders für die Polizisten im Einsatz: Dort ist Sprache vor allem ein praktisches Einsatz- und Kontrollmedium, manchmal auch Herrschaftsdemonstration, und deshalb ist es für sie wichtig, dass sich die Kollegen im Einsatz in allen Situationen verstehen. (Behr 2016, 562)
In vielen (inländischen) mehrsprachigen Arbeitsplatz-Settings sind die in Kap. 2 und 3 beschriebenen multilingualen Praktiken beobachtbar. Darüber hinaus haben sich in verschiedenen Bereichen Praktiken der Sprachmittlung etabliert (vgl. o. Behr 2016), häufig finden sich Formen des Dolmetschens, d. h. die mündliche Übertragung gesprochener Äußerungen von einer Sprache in eine andere. Gemeint ist hier nicht der Rückgriff auf professionelle Dolmetscher und Dolmetscherinnen, sondern der Einsatz gerade verfügbarer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die über Kompetenzen in der erwünschten Sprache verfügen (vgl. Domes 2020, 487). Solche Sprachmittlungssituationen finden sich immer wieder beispielsweise in Behörden, bei der Polizei oder auch im Krankenhaus. Oft genug ist der kurzfristige Einsatz und die damit verbundene Sprachmittlung erfolgreich. Es gibt aber auch Situationen, in denen der Einsatz dieser so genannten Ad-hoc- oder Laiendolmetscher und -dolmetscherinnen äußerst kritisch gesehen wird, vgl. dazu:
Im klinischen Alltag am häufigsten eingesetzt werden sogenannte ad-hoc- oder Laiendolmetscher/-innen […]. Dabei handelt es sich zumeist um Angehörige oder Bekannte der Patient/-innen, oder z. B. auch bilinguales Sicherheits- oder Reinigungspersonal des Krankenhauses, welches bei Bedarf zur Sprachmittlung hinzugezogen wird […]. Die Qualität dieser durch Laien durchgeführten Sprachmittlung wurde vielfach kritisiert […]: So zeigt sich in Studien, dass Laien in der Übersetzung in bis zu 50 % der Gespräche klinisch relevante Übersetzungsfehler machen – im Vergleich zu 2 % bei professionellen Dolmetscher/-innen […] – und eigenständig Gesprächsinhalte abändern, zensieren oder beschönigen […]. Dadurch führt der Einsatz von Laien dazu, dass Patient/-innen mit geringen Deutschkenntnissen im Vergleich zu Patient/-innen mit muttersprachlichem Sprachniveau und Patient/-innen, denen professionelle Dolmetscher/-innen zur Verfügung stehen, benachteiligt werden […]. (Führer/Brzoska 2020)
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Wie oben erwähnt, wird in Studien und Umfragen zur Integration von Migranten und Migrantinnen in den Arbeitsmarkt oder im Zusammenhang mehrsprachiger Interaktionssituationen häufig der Begriff der Sprachbarriere thematisiert. Diese Sichtweise ist nach Matic (2015) allerdings kritisch zu beurteilen, da „dieses Wort den limitierenden Faktor mehrsprachiger Situationen ins Zentrum stellt“ (ebd., 205). Tatsächlich ist zu beobachten, dass Interaktanten und Interaktantinnen verschiedene Strategien und Praktiken anwenden, um Verstehen zu etablieren. In seiner gesprächsanalytischen Studie zur mehrsprachigen Pflegeinteraktion in der häuslichen Pflege weist Matic nach, dass ein sprachlich diverses Team entscheidend dazu beiträgt, die Kommunikation mit und die Pflege von nicht-deutschsprachigen Klienten und Klientinnen sicherzustellen – selbst bei geringen Kenntnissen der jeweils anderen Sprache. Klient bzw. Klientin und Pflegekraft kooperieren sprachlich miteinander unter Rückgriff auf ihre jeweiligen (multilingualen) Ressourcen, d. h., beide Parteien sind aktiv am Gelingen der Kommunikation beteiligt (ebd., 206).
4.3 Zusammenfassung Sprachlich und kulturell heterogene Arbeitsplatz-Settings sind, insbesondere im urbanen Umfeld, Alltag in allen Wirtschaftsbereichen in Deutschland. Migranten und Migrantinnen werden in hohem Maße als Ressource für die Fachkräftesicherung anerkannt, doch sieht man sie hinsichtlich der Sprachkompetenz aktuell noch vornehmlich in der Bringschuld: Deutschkenntnisse schaffen Zugang zum Arbeitsmarkt und bilden – auch in weniger sprachintensiven Berufen – eine wichtige Einstellungsvoraussetzung. Dabei ist tendenziell eine monolinguale statt einer multilingualen Ausrichtung vorherrschend. Neuere gesprächsanalytische Studien machen jedoch deutlich, dass mehrsprachige Praktiken, aktiv von allen beteiligten Interaktanten und Interaktantinnen angewendet, u. U. monolingualem Sprachhandeln überlegen sind, Verstehen sichern und dazu beitragen, dass sprachliche Handlungsziele erreicht werden. Hier gibt es Potenzial, das in Zukunft weiter ausgeschöpft werden sollte.
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23. Mehrsprachigkeit in der Wissenschaft und in der akademischen Bildung Abstract: Wissenschaft, als kollektive, von bekanntem zu neuem Wissen hinführende Unternehmung, entsteht im vorderorientalisch-europäischen Raum (Ehlich 2011) und partizipiert wesentlich an den dort vorgehaltenen hochflektierenden Sprachen Griechisch, Latein und Arabisch. Von Beginn an ist ihre sprachliche Seite durch Sprachausbau charakterisiert, der auf wissenschaftliche Zwecke wie etwa demjenigen der Benennung des wissenschaftlichen Erkenntnisgegenstandes oder der sprachlichen Fassung neuen wissenschaftlichen Wissens hin erfolgt. Die empirischen Fragestellungen der frühen Neuzeit führen zu einer Aufgabe der scholastischen Latinität, da das Erfordernis der Herstellung von Intersubjektivität einen neuen Typ wissenschaftlicher Eristik verlangt, dem nur mit gesamtgesellschaftlich vorgehaltenen Sprachen entsprochen werden kann, was im Ausbau – vormaliger – europäischer Vernakularsprachen zu Wissenschaftssprachen resultiert. Wissenschaftliche Mehrsprachigkeit wird so zum Motor europäischer Wissenschaftsentwicklung, bis sprachpolitische Steuerung nach den Verwerfungen des Ersten Weltkrieges schließlich in vielen Zusammenhängen eine sehr weitgehende Anglophonie etabliert, was sich aufgrund der sprachtypologisch bedingten Limitationen des Englischen für das Gesamtunternehmen Wissenschaft in Forschung wie Lehre nachteilig auswirkt und letztlich neokoloniale Zustände zur Folge hat. Vor diesem Hintergrund ist der Erhalt in wissenschaftlicher Hinsicht notwendiger Mehrsprachigkeit in Europa nur durch eine gesamteuropäisch getragene wissenschaftliche Sprachpolitik möglich. 1 2 3 4 5 6 7 8 9
Vorbemerkungen – Struktur des Beitrags Wissenschaftssprache versus Fachsprache Wissenschaftlicher Sprachausbau im Rahmen des jeweils maßgeblichen Wissenschaftsverständnisses Sprachpolitische Steuerung wissenschaftlicher Sprachlichkeit (nach Reinbothe 2007) Typologische Voraussetzungen des Englischen für das wissenschaftliche Benennen Dimensionen von Wissens- und Wissenschaftstransfer unter den Bedingungen der Anglophonie Perspektiven für wissenschaftliche Mehrsprachigkeit in Europa Fazit Literatur
1 Vorbemerkungen – Struktur des Beitrags Wissenschaftssprache und Fachsprache sind nicht dasselbe – fachliche Varietäten entstehen durch gruppenspezifische Benennungsbedarfe im Rahmen arbeitsteiliger Praxis; wissenschaftliche Varietäten durch Sprachausbau auf genuin wissenschaftlihttps://doi.org/10.1515/9783110623444-023
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che Zwecke hin (Abschnitt 2). Dieser wissenschaftliche Sprachausbau erfolgt, historisch betrachtet, anhand der Möglichkeiten, die spezifische Einzelsprachen vorhalten, und er erfolgt stets im Rahmen des jeweils maßgeblichen Wissenschaftsverständnisses; die sprachliche Seite von Wissenschaft als einer „an den vorderorientalisch-europäischen Raum (VER) gebundene[n] Veranstaltung“ (Ehlich 2011, 16 ff.) ist bis zum Mittelalter geprägt durch mehrere sprachliche Transfers, ab Beginn der Neuzeit durch den Aufbruch in mehrere europäische Einzelsprachen und mithin durch Mehrsprachigkeit (Abschnitt 3). Diese Mehrsprachigkeit unterliegt, spätestens ab dem Ende des 19. Jahrhunderts, zunehmend auch sprachpolitischer Steuerung (Abschnitt 4). Die zunehmende Anglisierung der europäischen Wissenschaft ist, wenn man die Zwecke und Transferrichtungen des Unternehmens Wissenschaft berücksichtigt, ein Schritt noch hinter die Scholastik zurück, indem eine Sprachlichkeit, die in typologischer Hinsicht andere Voraussetzungen mitbringt als die übrigen (Abschnitt 5) und zudem von der führenden Wirtschaftsnation unterhalten wird, die in anderen Wissenschaftssprachen angelegten wissenschaftlichen Erkenntnis- und Denkmöglichkeiten zu marginalisieren droht. Dieser Prozess hat massive Auswirkungen darauf, wie wissenschaftliche Erkenntnisse in die wissenschaftliche Fachöffentlichkeit kommuniziert werden, er bestimmt zunehmend die Bedingungen mit, unter denen sich wissenschaftliche Lehre ereignet, und er hat großen Einfluss auf den Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die arbeitsteilige gesellschaftliche Praxis (Abschnitt 6). Diese Entwicklungen können nicht im europäischen Interesse liegen, da sie insgesamt zu einer Marginalisierung der europäischen Wissenschaft führen werden; es ist mithin an der Zeit, die institutionellen Rahmenbedingungen zu schaffen, die es gestatten, den Wettbewerbsvorteil, der in der Vorhaltung mehrerer ausgebauter Wissenschaftssprachen sowie differenten Wissenschaftskulturen, wie sie sich auch in der wissenschaftlichen Lehre zeigen, besteht, zu entdecken, zu sichern und auszubauen (Abschnitt 7).
2 Wissenschaftssprache versus Fachsprache Geht man davon aus, dass es eine gesellschaftliche Elementarpraxis gibt, an der tendenziell alle Mitglieder einer Gesellschaft Anteil haben (hierzu gehört es zum Beispiel, bei Rot stehenzubleiben), so entsteht Fachlichkeit immer dort, wo von kleineren Gruppen unterhaltene gesellschaftliche Teilpraxen etabliert sind, die zwar an der Elementarpraxis partizipieren (Kaffeetasse im Chemielabor), aber zugleich über sie hinausgehen (Synthese einer Chemikalie im Chemielabor) (vgl. Thielmann 2011; 2012). Den Benennungsbedarfen dieser Teilpraxen wird durch Ausdrücke, Termini, entsprochen, die wiederum nur von den jeweiligen spezifischen Gruppen verstanden werden. Diese Termini machen wesentlich das aus, was man unter fachlichen Varietäten versteht. Die fachspezifischen sprachlichen Ausbauprozesse wie auch deren Resultate sind reich dokumentiert (exempl. Fluck 1984; Pörksen 1983; 1986; Hoffmann 1988; Ickler 1997; Krüger 1992; Thielmann 1999a; 2016; Krefeld 1999; Roelcke 2020). Fachliche Va-
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rietäten partizipieren am gemeinsprachlichen Strukturinventar und treffen diesbezüglich mitunter spezifische Wahlen, bilden aber keine eigenen Strukturen aus, wie bereits Seibicke am Beispiel der Syntax ausführt: „Überhaupt besitzt die Fachsprache keine eigenen syntaktischen Mittel“ (1959, 75). Wissenschaftliche Varietäten sind natürlich immer auch fachlich; das Wissenschaftliche an ihnen besteht jedoch darin, dass sie sprachliche Mittel vorhalten, mit denen typisch wissenschaftliche Zwecke bearbeitet werden. Mit zwei zentralen Aufsätzen (1993; 1995) hat Konrad Ehlich auf zwei ebenso unscheinbare wie wichtige Mittelbereiche der Varietät Wissenschaftssprache aufmerksam gemacht, mit denen zwei Zwecke bearbeitet werden, ohne die Wissenschaft als Wissenschaft nicht möglich ist: der Zweck der Verhandlung des wissenschaftlichen Geschäfts selbst (alltägliche Wissenschaftssprache) und der Zweck der intersubjektiven Bearbeitung der Strittigkeit und Vorläufigkeit wissenschaftlichen Wissens (eristische Strukturen), der zu der illokutiven Komplexität wissenschaftssprachlichen Handelns führt (Thielmann 2015). Als weitere Zweckbereiche ließen sich anführen die Benennung des wissenschaftlichen Erkenntnisgegenstandes und die sprachliche Fassung des diesem Gegenstand zugesprochenen neuen Wissens. Die Geschichte der Wissenschaftssprachen des VER ist rekonstruierbar als die Geschichte kontinuierlichen Sprachausbaus auf diese genuin wissenschaftlichen Zwecke hin, der im Rahmen des jeweils maßgeblichen Wissenschaftsverständnisses geschieht.
3 Wissenschaftlicher Sprachausbau im Rahmen des jeweils maßgeblichen Wissenschaftsverständnisses Wissenschaftlicher Sprachausbau bedeutet, dass die Möglichkeiten einer spezifischen Einzelsprache in einer Weise bereichert werden, die es gestattet, wissenschaftliche Zwecke zu realisieren. Im Folgenden soll der Ausbau der Wissenschaftssprachen des VER exemplarisch anhand wissenschaftlicher Zweckbereiche knapp nachvollzogen werden.
3.1 Benennung des wissenschaftlichen Erkenntnisgegenstands In der Physik des Aristoteles – physica bedeutet so viel wie ‚Natur‘ – fragt sich Aristoteles, was die wesentliche Bestimmung von Natur ist. Er kommt zu dem Schluss, dass die wesentliche Bestimmung von Natur die Veränderung, das Werden (griech: gignotei) ist. Mit Werden benennt Aristoteles dasjenige, worüber er etwas herausfinden will,
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seinen wissenschaftlichen Erkenntnisgegenstand. Eine ganz zentrale Aufgabe, die wissenschaftssprachlich zu bearbeiten ist, ist die Benennung des wissenschaftlichen Erkenntnisgegenstands.
3.2 Sprachliche Fassung des dem Erkenntnisgegenstand zugesprochenen neuen Wissens Aristoteles kommt – anhand einer Sprachbetrachtung – zu dem Schluss, dass es immer etwas gibt, was sich im Werden durchhält: In dem Satz Ein ungebildeter Mensch wird ein gebildeter Mensch ist ausgedrückt, dass sich der Mensch im Werden durchhält, während die Bestimmtheiten – also ungebildet und gebildet – an ihm wechseln. Der Mensch ist vor und nach dem Werden Mensch, aber eben nicht mehr ungebildet, sondern gebildet. Aristoteles formuliert: (1)
Nachdem diese Dinge unterschieden worden sind, ist von allen Dingen, die werden, folgendes anzunehmen, wenn jemand so vorgeht wie wir: daß nämlich etwas zugrundeliegen (hypókeimei) muß, was wird […]. (Aristoteles latinus, liber I.7., 190a 14 ff., Übers. W.T.)
In dieser Beobachtung ist bereits eine Erkenntnis ausgesprochen, die aber noch nicht bündig sprachlich gefasst ist. Dies geschieht in einem weiteren Schritt: (2)
Ich sage daher, daß ,nicht gebildet‘ das Gegenteilige, ,Mensch‘ aber das Zugrundeliegende (hypokeimenon) ist […]. (Aristoteles latinus, liber I.7., 190a 31 ff., Übers. W.T.)
An dieser Stelle ist nun aus dem alltagssprachlichen Verb hypokeimei eine Wortbildung, eine deverbale Ableitung geworden, mit der ein Erkenntnisresultat terminologisch fixiert wird. Diese Stelle ist die Geburtsstunde eines der wichtigsten Begriffe der abendländischen Wissenschaft. Denn die lateinische Übersetzung von hypokeimenon, das Zugrundeliegende, ist subiectum. Aristoteles nutzt für einen Denkschritt einen alltagssprachlichen Ausdruck: das Verb hypokeimei. Das heißt: dieser Denkschritt ist durch die Möglichkeiten, die die griechische Gemeinsprache bereitstellt, angeleitet. Hier kommt also bereits die gnoseologische, die erkenntnisstiftende und -anleitende Funktion von Sprache (Ehlich 1998) zum Tragen, nämlich das Potential der Gemeinsprache, für etwas Neues, nämlich eine spezifische Weise des sich Durchhaltens, ein Konzept zur Verfügung zu halten, das durch ein Nennwort benannt werden kann. Bei der begrifflichen Benennung des Denkresultats kommen nun die Wortbildungsmöglichkeiten des Griechischen zum Einsatz: Das Erkenntnisresultat wird durch die deverbale Ableitung hypokeimenon fixiert. Hypokeimenon, subiectum, ist nun kein normaler alltagssprachlicher Ausdruck mehr. Er ist zu einem Terminus geworden. Die Nutzung gemeinsprachlicher Ressourcen für die Benennung, die Fixierung von etwas Neuem, einem Denkresultat, ist ein Beispiel für Sprachausbau.
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3.3 Sprachliche Fassung des Wissenschaft-Treibens selbst – alltägliche Wissenschaftssprache Dass wir überhaupt von der Aristotelischen Physik, einem der wichtigsten Bücher der Menschheitsgeschichte, Kenntnis haben, verdanken wir der wissenschaftlichen Hochblüte des arabischen Raums (Al-Khalili 2010), über den – vermittelt über die maurische Besetzung Spaniens – das nicht innerhalb Europas tradierte Werk hierhin gelangte. Wir haben es hier mit einer wissenschaftlichen Transferleistung zu tun, die zugleich auch eine wissenschaftliche Übersetzungsleistung, ein sprachlicher Transfer, ist, nämlich vom Altgriechischen ins Arabische und in das Lateinische der Scholastik, der westeuropäischen mittelalterlichen Wissenschaftsepoche. Die Scholastik zeichnete sich dadurch aus, dass sie nicht – wie Aristoteles das tat – wissenschaftliche Fragen an die Wirklichkeit richtete, sondern ihre Fragen an kanonische Texte stellte. Sie befragte, überspitzt gesagt, nicht die Wirklichkeit, sondern Aristoteles. Der sagt z. B. in seiner Physik folgendes über den Ort:
(3)
Quare continentis terminus inmobilis primum, hoc est locus. (Aristoteles latinus, liber IV.4., 212a 15 ff.) (Deshalb ist der Ort dies: die Grenze des ersten unbeweglichen Enthaltenden.) (Übers. W.T.)
Genau an diese Textstelle richtet nun der scholastische Naturphilosoph Johannes Buridanus eine Frage: (4) Queritur tertio utrum locus sit immobilis arguitur quod non quia omne corpus est mobile et locus est corpus ut ante dictum est [...] Iterum locus augmentatur si locatum augmentatur aliter non maneret equalis sed augmentari est moueri quia augmentatio est motus [...] Item in istis inferioribus nichil apparet incorruptibile nisi materia et locus non est materia ergo est corruptibilis et corruptio non est sine motu vel precedente vel concomitante [...] (Buridanus um 1328 [ED 1509]; fol. 69 l.) (Zum dritten wird gefragt, ob der Ort unbeweglich ist. Dies wird bestritten, weil jedes Ding beweglich ist und der Ort das Ding ist, wie schon oben gesagt wurde [...] Zum anderen vergrößert sich der Ort, wenn sich das Verortete vergrößert; andernfalls würde er nicht dem Ding entsprechen. Aber Sich-Vergrößern ist Sich-Bewegen, weil Vergrößerung Bewegung ist [...]. Ebenso ist bei den irdischen Dingen offensichtlich nichts unzerstörbar außer der Materie, und der Ort ist nicht Materie, also ist er zerstörbar. Und die Zerstörung des Ortes ist nicht ohne voraufgehende oder begleitende Bewegung.) (Übers. W.T.)
Man sieht an diesem Ausschnitt aus Buridans Kommentar zur aristotelischen Physik sehr gut, was scholastische Wissenschaft ist: Maßgeblich ist der kanonische Text, auch wenn von ihm kaum noch etwas übrig bleibt – ein ähnliches Schicksal erleiden heutzutage noch Gesetze in juristischen Kommentaren. Aber auch für die gilt: Ohne das Gesetz ist der Kommentar hinfällig. Die Kritik, die Buridan an der Textstelle übt, erfolgt durch argumentationslogische Verfahren. Argumentationslogik wird an der scholastischen Universität im Rahmen der Dialektik vermittelt, die, neben Grammatik und Rhetorik, Bestandteil des Triviums ist, das man sich als eine Einführung in die la-
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teinische Wissenschaftssprache vorstellen darf, die damals für alle gleichermaßen eine Fremdsprache gewesen ist. Wenn der Ort das Ding ist, schreibt Buridan, muss er sich mit dem Ding vergrößern; Vergrößerung ist wiederum Bewegung, die den (alten) nicht-materiellen Ort zerstört und ihn in einen neuen überführt. Alle diese Überlegungen sind rein logischer Natur; sie erfolgen ohne einen einzigen Blick in die Wirklichkeit. Wir beobachten auch spezifische Wendungen, in denen die Argumentationsstruktur gleichsam abgebunden ist: (5)
queritur tertium – zum dritten wird gefragt; arguitur quod non – es wird argumentiert, dass nicht; iterum … aliter … sed … quia – zum anderen … andernfalls … aber … weil; item … nichil … nisi … ergo – ebenso … nichts … außer … also.
Wir haben in diesen sprachlichen Mitteln, die der argumentationslogischen Befragung von Texten dienen, die sprachlichen Ressourcen vor uns, mit denen die Scholastik ganz wesentlich ihr wissenschaftliches Geschäft betreibt. Man findet diese Ressourcen so nicht im klassischen Latein. Sie sind in dieser Form Resultat von Sprachausbau auf den Zweck der argumentationslogischen Befragung von Texten hin. Dies sind Elemente der, wie sie Konrad Ehlich (1995) genannt hat, alltäglichen Wissenschaftssprache, also Elemente, die ganz wesentlich das wissenschaftliche Tagesgeschäft ermöglichen. Man sieht an diesem Text deutlich, dass der Sprachausbau, dem sich wissenschaftliche Varietäten verdanken, ganz wesentlich auch im Rahmen desjenigen Wissenschaftsverständnisses erfolgt, das die wissenschaftlichen Fragestellungen ausbildet. Die Mittel der alltäglichen Wissenschaftssprache in der lateinischen Varietät der Scholastik sind unmittelbar im Zusammenhang des scholastischen Wissenschaftsverständnisses zu sehen.
3.4 Eristik – sprachliche Bearbeitung der Vorläufigkeit und Strittigkeit wissenschaftlichen Wissens Die scholastische Varietät des Lateinischen ist eine sehr exakte und geschmeidige Sprache, die für den Zweck des argumentationslogischen Ausschreitens der Implikationen kanonischer Texte hervorragend ausgebaut ist. Und genau dies war der Grund dafür, dass diese ,universale‘ Wissenschaftssprache von den neuzeitlichen Naturwissenschaftlern aufgegeben wurde. Während nämlich für den scholastischen Naturphilosophen sein Gegenstand der kanonische Text ist, ist es für den Naturwissenschaftler der frühen Neuzeit die Wirklichkeit. Die empirische Naturwissenschaft sieht in die Wirklichkeit hinein, und wenn zwei da hineinsehen, sehen sie nicht dasselbe. Der eine sieht die Jupitermonde durchs Teleskop, der andere nicht. Während ein scholastischer Naturphilosoph durch ein logisches Argument zu überzeugen ist, ist der neuzeitliche Naturwissenschaftler nur intersubjektiv zu überzeugen, denn das Gesehene bedarf der Interpretation. Die folgende Textstelle aus Newtons Opticks illustriert sehr deutlich, worauf es bei diesem Wissenschaftstyp, der auch der unsere ist, ankommt.
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Der Ausschnitt ist aus einer Definition, die die Brechbarkeit des Lichtes zum Gegenstand hat. Zu dem Zeitpunkt, zu dem Newton schrieb, gab es zwei konkurrierende Auffassungen hinsichtlich der Natur des Lichtes: Die einen waren der Auffassung, dass Licht sich instantan ausbreite, also zu seiner Ausbreitung keine Zeit benötige; die anderen waren der Auffassung, dass astronomische Evidenz gezeigt habe, dass das Licht von der Sonne bis zur Erde etwa sieben Minuten benötige. Newton schreibt also zu einem Zeitpunkt, zu dem sich die Erkenntnis, dass Licht zu seiner Ausbreitung Zeit braucht, noch nicht allgemein durchgesetzt hat: (6) Mathematicians usually consider the Rays of Light to be Lines reaching from the luminous Body to the body illuminated, and the refraction of those Rays to be the bending or breaking of those Lines in their passing out of one Medium into another. (Newton 1704, 2)
Interessant ist hier die Formulierung mathematicians usually consider. Newton geht es offenkundig darum, dass es unter ,den Mathematikern‘ einen Konsens gibt, wonach Lichtstrahlen, da sie sich instantan ausbreiten, als geometrische Linien aufzufassen sind. Und wer auf einen solchen Konsens abhebt, wird, und dies ist ebenfalls klar, auch von ihm abweichen. Wir haben es bei dieser Formulierung mit einem typisch wissenschaftssprachlichen Mittel zu tun, mit dem die Strittigkeit von Wissen selbst bearbeitet wird. In der Terminologie von Konrad Ehlich handelt es sich dabei um eine eristische Struktur (Ehlich 1993) – von altgriech. Eris, der Göttin des Streites. Zwei Jahre später ließ Newton die Opticks, um einen größeren Leserkreis zu erreichen, noch ins Lateinische übertragen. In der Übersetzung sieht diese kleine Textstelle folgendermaßen aus: (7)
Mathematici plerunq; secum ita fingunt; radios Luminis esse lineas a corpore Lucido ad corpus illuminatum pertingentes; horumq; radiorum Refractionem, esse Linearum istarum Flexionem aut Fractionem in transeundo ex uno Medio in aliud. (Newton 1706, 2)
Man sieht: Die von Newton im Englischen genutzte Terminologie ist mit der lateinischen weitgehend identisch: refraction – refractio, medium. Aber aus der eleganten alltagssprachlichen Formulierung mathematicians usually consider ist ein die sprachliche Handlungsqualität, die Illokution massiv veränderndes mathematici plerunque secum ita fingunt, also ein Mathematiker stellen sich das häufig so vor geworden – was bei Newton die Charakterisierung des gerechtfertigten Konsenses einer community ist, wird hier geradezu schon zu einem Vorwurf. Für die sprachliche Bearbeitung eines wissenschaftlichen Konsenses stellte das Lateinische der Scholastik offensichtlich keine Ressourcen zur Verfügung. Das Lateinische der Scholastik kann hier sozusagen nicht mehr mit. Hierin ist einer der Hauptgründe dafür zu sehen, dass das Lateinische als wissenschaftliche Universalsprache aufgegeben wurde: Seine scholastische Varietät war für die sprachlichen Erfordernisse einer hochdifferenzierten Eristik unzureichend ausgebaut, deren Zwecke, wie auch in diesem Fall, vorwiegend mit gemeinsprachlichen Mitteln bedient werden, die sich in der benötigten Fülle nur in Sprachen finden, die nicht von kleinen Eliten, sondern gesamtgesellschaftlich vorgehalten werden.
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Wissenschaft, wie sie auf uns gekommen ist, hat immer die Grenzen einer spezifischen Einzelsprachlichkeit transzendiert: beim Transfer antiker griechischer Wissenschaft ins Lateinische und später ins Arabische; beim Re-Import antiker griechischer Wissenschaft vermittelt über den arabischen Raum in die europäische Latinität der Scholastik; beim Aufbruch der neuzeitlichen Wissenschaftler in die europäischen Einzelsprachen. Der wissenschaftliche Sprachausbau, der hierbei jeweils stattfand, setzte stets an den konkreten strukturellen Möglichkeiten an, die die jeweilige Einzelsprache vorhielt, und er erfolgte stets im Rahmen des jeweils aktuellen Wissenschaftsverständnisses. Neuzeitliche Wissenschaft ist eine Unternehmung, die an die Pluralität der Wissenschaftssprachen und an die Mehrsprachigkeit der Wissenschaftler gebunden ist. Im 19. und 20. Jahrhundert wird die Diversität wissenschaftlicher Sprachlichkeit zunehmend zum Objekt sprachpolitischer Steuerung.
4 Sprachpolitische Steuerung wissenschaftlicher Sprachlichkeit (nach Reinbothe 2007) Wie Reinbothe in ihrer bahnbrechenden Untersuchung (2007) gezeigt hat, ist die institutionelle Geltung und Reichweite von Wissenschaftssprachen stets auch das Resultat handfesten politischen Agierens. Während des 19. Jahrhunderts hatte sich in Europa im Wesentlichen eine wissenschaftliche Dreisprachigkeit (Englisch-Französisch-Deutsch) etabliert, wobei auf internationalen Kongressen häufig auch andere Sprachen, vor allem Spanisch und Italienisch, zugelassen waren. Internationale wissenschaftliche Vereinigungen, Gesellschaften und Bibliographien wurden zu dieser Zeit nicht nur als wissenschaftliche, sondern auch als nationale Machtinstrumente genutzt. So wurde die Dominanz des Englischen in dem von der Royal Society herausgegebenen International Catalogue of Scientific Literature von deutscher Seite dadurch unterlaufen, dass das von der Reichsregierung finanzierte Deutsche Büro mehr als die Hälfte der Eintragungen bestritt, was auch dadurch möglich war, dass viele nichtdeutsche Wissenschaftler damals auf Deutsch in deutschen Zeitschriften veröffentlichten (ebd., 30 ff.). Auch in Bereichen wie der Astronomie, der Erdmessung, der Seismologie und der Tuberkuloseforschung gelang es deutschen Wissenschaftlern – im Wettstreit mit ihren britischen, amerikanischen und französischen Kollegen und unterstützt von staatlichen Institutionen –, durch organisatorische Initiativen und Kontrolle maßgeblicher Publikationen den internationalen Rang der deutschen Wissenschaftssprache zu erhöhen, wobei sie nicht immer sehr diplomatisch vorgingen. Diese Erfolge wurden durch den Ersten Weltkrieg schlagartig zunichte gemacht: Im Oktober 1914 ließen sich 93 wohlbekannte deutsche Wissenschaftler zu einem Aufruf „An die Kulturwelt“ instrumentalisieren, in dem sie
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die vom deutschen Militär in Belgien begangenen Kriegsverbrechen leugneten, was im Ausland heftige Gegenreaktionen hervorrief. So entwickelte sich die Kontroverse mit den deutschen Wissenschaftlern über den Krieg zum Kräftemessen der wissenschaftlichen Kapazitäten und darüber hinaus zur grundsätzlichen wenn auch abstrakten Auseinandersetzung um die Rolle der Wissenschaft im Kampf um die ‚richtige‘ Zivilisation. (Reinbothe 2007, 104)
Der Zusammenbruch internationaler wissenschaftlicher Beziehungen, die kriegsbedingte Zensur wissenschaftlicher Veröffentlichungen sowie Ausfuhrverbote trugen zur weiteren wissenschaftlichen Isolierung Deutschlands bei. Bereits während des Krieges wurden die Weichen dafür gestellt, deutsche Wissenschaftler aus internationalen Organisationen auszuschließen. Die Politik war nicht erst mit dem Krieg in die internationale Gemeinschaft der Wissenschaftler eingebrochen, der Krieg hatte allerdings die Rivalitäten verschärft und angesichts der engen Verflechtung von Wissenschaft, Wirtschaft, Staat und Militär im Krieg zwangsläufig zum Bruch geführt. (ebd., 131 f.)
Noch vor der Unterzeichnung des Versailler Vertrages wurde auf einer Konferenz der alliierten Akademien in Paris das Exekutivkomitee des Conseil international de recherches ernannt, unter dessen Führung es dann zu Neugründungen internationaler Fachunionen im Bereich der Astronomie, Geophysik und Chemie kam – Gebiete, auf denen vorher deutsche Fachunionen dominiert hatten. Deutsche Wissenschaftler waren von den neuen Unionen ausgeschlossen, womit die vormalige Dreisprachigkeit rapide durch eine Zweisprachigkeit Französisch-Englisch ersetzt werden konnte, wie dies vor allem amerikanischen und französischen Interessen entsprach. Auch wurden deutsche Bibliographien, Referatenorgane, Jahrbücher und Zeitschriften sukzessive durch englisch- und französischsprachige abgelöst, wobei man sich für deren Gestaltung nicht selten die deutschen Publikationen zum Vorbild nahm. Trotz zahlreicher Proteste von Wissenschaftlern aus neutralen Ländern (ebd., 245 ff.) waren deutsche Wissenschaftler bis weit in die zwanziger Jahre hinein von der Mehrzahl internationaler Kongresse ausgeschlossen. Die Zusammenarbeit mit den Gegnern des Boykotts führte bald zur Abhaltung von Gegenveranstaltungen und zur Gründung von Gegenorganisationen, vor allem auf den Gebieten der Meteorologie, der Chemie, der Astronomie und der Geodäsie. Zudem gelang es der Preußischen Akademie der Wissenschaften und der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, die deutschen Referatenorgane durch Versorgung mit in- und ausländischer Literatur am Leben zu erhalten. Als der Boykott dann 1926 aufgehoben wurde, kam es jedoch nicht mehr zu einem Eintritt deutscher Akademien in den Conseil international, da die Akademien auf Dreisprachigkeit insistierten. Auch zähe Verhandlungen mit anderen ausländischen Fachunionen führten nicht zu einer Re-Etablierung der Dreisprachigkeit (ebd., 364 f.). Im Ergebnis hält Reinbothe fest:
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Die Rivalitäten um die Stellung der drei führenden Wissenschaftssprachen Französisch, Englisch und Deutsch führten dazu, dass die Mehrsprachigkeit, wie sie [vor dem ersten Weltkrieg, W.T.] in der Internationalen Assoziation der Akademien und anderen Wissenschaftsorganisationen eingeführt worden war, nicht aufrechterhalten werden konnte. Es war absehbar, dass die weitgehende Reduktion auf die Zweisprachigkeit von Französisch und Englisch, welche man auf Kosten des Deutschen erreichte, nur eine Übergangsphase bildete, die schließlich in die Vorherrschaft der englischen Sprache in den Wissenschaften mündete. Damals wurde die Chance vertan, die Mehrsprachigkeit im internationalen Wissenschaftsbetrieb langfristig zu verankern. (2007, 447)
Die Vertreibung der Mehrsprachigkeit aus dem Wissenschaftsbetrieb ist mithin Resultat sprachpolitischen Agierens, das zur Etablierung derjenigen Sprache als weitgehend alleiniger Wissenschaftssprache geführt hat, die zugleich von der führenden Wirtschaftsnation unterhalten wird. Im Folgenden sind die Konsequenzen der zunehmenden Einsprachigkeit in den Wissenschaften sowie der Nutzung des Englischen für diese Einsprachigkeit in den Blick zu nehmen.
5 Typologische Voraussetzungen des Englischen für das wissenschaftliche Benennen Die Benennung des wissenschaftlichen Erkenntnisgegenstandes sowie die sprachliche Fassung des diesem Gegenstand jeweils neu zugesprochenen Wissens sind, wie gezeigt, zwei zentrale Zweckbereiche wissenschaftlichen Sprachausbaus. Aufgrund seiner sprachgeschichtlichen Entwicklung kommen im Englischen hierfür recht spezifische Ressourcen zum Einsatz. Im ursprünglich flektierenden Angelsächsischen resultierte der bereits um 1200 weitgehend abgeschlossene Kategorienverfall (s. die Einzeluntersuchungen in Blake 1992, 1066–1476) in einer „drift towards the invariable word“ (Sapir 1921, 168). Die Prozesse waren im Einzelnen recht diffizil: Die große Entlehnungswelle aus dem Französischen im 14. Jahrhundert (s. Lutz 2002; Vennemann 2002; 2004) ereignete sich zu einem Zeitpunkt, zu dem das Angelsächsische nicht nur in sprachstruktureller, sondern auch wortstruktureller Hinsicht gravierende Veränderungen erfahren hatte (exempl. Lutz 1997). Bestimmte, für das alte System charakteristische Funktionen (z. B. Determination) blieben allerdings erhalten. Die Neutralisation der Kategorie Genus führte zu einer weitgehenden Aufhebung des Referenzsystems (s. Lenker 2007), der Verfall der Kasusmorphologie zur Funktionalisierung der Konstituentenabfolge für den sprachlichen Zweck der Differenzierung zwischen den syntaktischen Kategorien Subjekt, Prädikat und Objekt (Hawkins 1986, 37 ff.). Für das wissenschaftliche Geschäft besonders bedeutsam sind die Konsequenzen, die sich aus der Nutzung von invariable words zur Benennung wissenschaftlicher Begriffe ergeben. Diese zeigen sich bereits recht früh, wie an dem bereits oben diskutierten Beleg aus Newtons Opticks illustriert sei:
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(6) Mathematicians usually consider the Rays of Light to be Lines reaching from the luminous Body to the body illuminated, and the refraction of those Rays to be the bending or breaking of those Lines in their passing out of one Medium into another. (Newton 1704, 2)
Ray geht auf lat. radius zurück, line auf lat. linea und luminous auf lat. luminosus und medium auf lat. medium. Ein nicht unerheblicher Teil der Terminologie ist also mehr oder weniger direkt aus dem Lateinischen entlehnt, wie dies bei einer Sprache wie dem Englischen – und auch dem Italienischen und Französischen – auch naheliegt. Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang die Ausdrücke illuminated (in-luminare) und refraction (= refractio, deverbale Ableitung von refrangere). Hierbei handelt es sich nämlich um lateinische Wortbildungen. Für die Benennung wissenschaftlicher Begriffe im Englischen hat dies folgende Konsequenz: Solange der Autor – und Newton konnte hervorragend Latein – über Wortbildungskenntnisse im Lateinischen verfügt und mit Lesern rechnen kann, die dies auch tun, so lange sind diese Wortbildungen analytisch rekonstruierbar, so dass z. B. der Ausdruck refraction als deverbale Ableitung im Sinne von refrangere, ‚zurückbrechen‘, aufgefasst werden kann, also als ein Ausdruck, der eine Handlung oder einen Prozess unter Beibehaltung der zeitlichen Entwicklung und ihrer aspektuellen Perspektivierung begrifflich sistiert. In dem Moment aber, in dem weder Autoren noch Leser über Lateinkenntnisse verfügen, wird ein Ausdruck wie refraction nicht mehr als Resultat von Wortbildung, sondern als ein unanalysiertes Wort wahrgenommen. Dass solche lateinischen Derivate im Gegenwartsenglischen als Stämme aufgefasst werden können, zeigen Formulierungen wie urgent requests will be actioned immediatly. Dies bedeutet nichts anderes, als dass sozusagen der Mehrwert an Bedeutung, der in einer deverbalen Ableitung steckt, nämlich die begriffliche Sistierung von Handlungen oder Prozessen unter Beibehaltung ihrer aspektuellen Perspektivierung, nicht mehr vorhanden ist. Man hat es hier, salopp gesprochen, mit dem Verpacken von Bedeutung in nicht mehr weiter analysierbare Ausdrücke zu tun, wie dies für isolierende Sprachen charakteristisch ist. Es ist mithin festzustellen, dass das Englische als weitgehend isolierende Sprache genau diejenigen Möglichkeiten begrifflicher Sistierung und aspektueller Perspektivierung nicht vorhält, die für die Sprachen, von denen die Wissenschaft ihren Ausgang nahm (Altgriechisch, Latein, Arabisch) beziehungsweise die heute im wissenschaftlichen Gebrauch sind (exempl. Französisch, Italienisch, Deutsch, Russisch), charakteristisch sind. Dies spricht keineswegs gegen die Nutzung des Englischen als Wissenschaftssprache im Konzert mit anderen Wissenschaftssprachen, aber es spricht gegen die Nutzung des Englischen als einziger Wissenschaftssprache. Eine naturwüchsige Vorstellung des Transfers wissenschaftlicher Erkenntnisse aus einer anderen Sprache ins Englische, die ihren Ausdruck in Sentenzen wie the language of good science is bad English findet, ist die, dass bei gutem Willen des Hörers/Lesers propositional verfasstes wissenschaftliches Wissen auch rudimentärsprachlich kommunikabel sei. Eine solche Vorstellung verkennt die wissenschaftssprachlich zu realisierenden Zwecke solchen Transfers: Bekanntes und Neues sind, wie auch das wissen
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schaftliche Vorgehen und seine Erkenntnisformen, sprachlich zu fixieren und gegen bestehendes Wissen durchzusetzen. Im Folgenden seien daher exemplarisch sprachliche Dimensionen des Transfers wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Fachöffentlichkeit sowie im Rahmen akademischer Lehre unter den Bedingungen der Anglophonie aufgezeigt.
6 Dimensionen von Wissens- und Wissenschaftstransfer unter den Bedingungen der Anglophonie 6.1 Beobachtungen an einem auf Englisch als fremder Wissenschaftssprache abgefassten Abstract Das folgende Textbeispiel ist der Beginn eines Abstracts, das von einem deutschen Muttersprachler auf Englisch verfasst wurde. Es entstammt nicht edierten Kongressbeiträgen, gesammelt in den Proceedings of the 28th Conference of the International Group for the Psychology of Mathematics Education. (8) This report focuses on teachers’ individual curricula. An individual curriculum includes contents and reasoning and can be structured in a quasi-logical system of goals and methods, which is the result of the teachers’ planning of mathematics instruction. (Hervorhebungen W.T.)
Um das Verständnis dieses Textes zu erleichtern, sei eine Textstelle aus einer deutschen Publikation dieses Autors angeführt: Der im Allgemeinen nicht fest definierte Begriff Curriculum bezieht sich nach einem Vorschlag von Vollstädt et al. (1999) auf den Stoffinhalt des Unterrichts und dessen Begründung. Der Begriff individuelles Curriculum umfasst die (längerfristige) Planung des Stochastikunterrichts.
Es soll also in dem Beitrag, der kein report ist, sondern allenfalls ein paper (Fehlbenennung im Bereich wissenschaftlicher Gattungen), um die lehrerseitige Umsetzung eines Lehrplans gehen, also den individuellen Lehrplan, den ein Lehrer ausbildet und der aus Stoffinhalten und Begründungen im Zusammenhang von Zielen und Methoden besteht, beziehungsweise so zu analysieren ist. Um den Erkenntnisgegenstand, also individuelles Curriculum, auf Englisch zu benennen, hat der Autor die Phrase teachers’ individual curricula gebildet. Individual curricula ist nun auf Englisch durchaus gebräuchlich, meint aber gerade auf die Bedürfnisse von Einzelpersonen abgestellte Curricula, während es sich bei demjenigen, um das es dem Autor hier geht, eher um teacher beliefs handeln dürfte. Nachdem in dem Beitrag der – empirische – Nachweis geführt werden soll, dass diese individuellen Lehrpläne die beschriebene Struktur haben, ist die Formulierung can be structured in extrem missverständlich, es müsste eher can be reconstructed as heißen. Lehrpläne bestehen sicher aus Inhalten und Begrün-
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dungen, aber das ist nicht contents [sic!] and reasoning – eine Wendung, die etwa so viel bedeutet wie Inhalt und Beweisführung und vorwiegend im Bereich der Bewertung und Einschätzung schriftlicher Schul- oder Hausarbeiten verwendet wird. Korrekt wäre der Singular content und für Begründung rationale. Wir haben es mithin hier mit einem Text in Lingua-franca-Englisch zu tun, wie man auch an dem sinnentstellenden nicht-restriktiven Relativum which sieht, dem zu allem Überfluss auch noch ein Komma vorhergeht. So etwas ist nur für einen einschlägig vorgebildeten deutschen Leser überhaupt rekonstruierbar, wie es erwartbar von einer angelsächsischen Leserschaft ignoriert werden wird. Dies liegt daran, dass die sprachlichen Mittel aus dem Bereich der alltäglichen Wissenschaftssprache (report statt paper; can be structured in statt can be reconstructed as) falsch eingesetzt sind, und daran, dass, gravierenderweise, sowohl die Benennung des neuen Erkenntnisgegenstands (individual curricula) als auch die Benennung eines zentralen Elements bekannten Wissens (contents and reasoning) falsch bzw. irreführend sind. Zugleich fällt auf, dass der Autor sein Novum, also individuelle Curricula als neuen Erkenntnisgegenstand, keineswegs als solches lanciert; er hätte sonst etwa sagen müssen: The aim of this paper is to suggest a certain epistemic structure underlying the teaching of mathematics that can be empirically reconstructed as something very similar to the structure of official school curricula, albeit with characteristics normally associated with teacher beliefs. Man konstatiert also auch massive Defizite im Bereich der eristischen Strukturen. Es ist leicht, an dem Beispiel Kritik zu üben. Aber das, was der Autor sagen möchte, ist keineswegs leicht ins Englische zu bringen. – Der Autor möchte einen neuen Erkenntnisgegenstand, nämlich lehrerseitige individuelle Curricula, in die anglophone Fachwelt einführen. Die hat aber schon Benennungen für Verwandtes, aber nicht für dasselbe. Demzufolge könnte es sein, dass auch eine bessere Benennung als individual curricula von der anglophonen Fachwelt, also zunächst einmal den gatekeepers, nicht akzeptiert wird. – Bei der Benennung bekannten Wissens (Stoffinhalte und Begründung) besteht das Problem, dass es sich bei Begründung um eine deverbale Ableitung handelt. Deverbale Ableitungen sind ein für die deutsche Wissenschaftssprache zentrales Wortbildungsmittel (Thielmann 2009), das so im Englischen nicht existiert (s. Abschnitt 5). Deutsche deverbale Ableitungen sind aus diesen Gründen praktisch nicht ins Englische zu bringen. Rationale, was hier zu sagen wäre, ist so wenig Begründung, wie knowledge Erkenntnis ist. Wie wir gesehen haben, handelt es sich bei content and reasoning sowie bei content and rationale um feststehende Wendungen, wie sie für isolierende Sprachen typisch sind. Solche Wendungen sind dann aber auch wirklich fest, d. h. selbst für Anglophone nicht mehr anderweitig produktiv zu machen. Es zeigt sich hier eine eigenartige Asymmetrie, die geeignet ist, Wissenschaft als eine bezüglich neuer Erkenntnisse prinzipiell der Bestenauslese verpflichtete kollektive Unternehmung in Frage zu stellen:
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Das Abstract des deutschen Wissenschaftlers ist in einer Situation entstanden, in der Internationalität mit Anglophonie gleichgesetzt wird. Die muttersprachlichanglophone Wissenschaft, die weitgehend von Monolingualen betrieben wird, hat aber bereits ihre Theorien, Terminologien und Schulen. Was nicht daran andockt, hat schwerlich eine Chance auf ‚internationale‘ Akzeptanz; wer ‚international‘ mitspielen will, ist mithin zur Imitation verurteilt. Erkenntnisgewinne, die aus der Fruchtbarmachung der strukturellen Möglichkeiten spezifischer Einzelsprachen (z. B. deverbaler Ableitungen) für das wissenschaftliche Geschäft resultieren, sind in einer solchen Situation per se regionalisiert und damit marginalisiert.
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Solche asymmetrischen Kommunikationsstrukturen entstehen systematisch in zwei Zusammenhängen: Zum einen durch Migration, indem selbst Migranten, die sich die Sprache der Mehrheitsgesellschaft auf gutem bis sehr gutem Niveau angeeignet haben, den Muttersprachlern sprachlich unterlegen sind und ihr in der Herkunftssprache verfasstes differentes und u. U. auch überlegenes Eigenes in der aufnehmenden Gesellschaft nur bedingt fruchtbar machen können. Zum anderen durch Kolonisation, indem eine kleine überlegene anderssprachige herrschende Klasse, die ihre Ausgangsgesellschaft an einem anderen Ort hat, die Eliten des durch sie beherrschten Raums zur Imitation verpflichtet, während sie das Autochthone des von ihr beherrschten Raumes durch die Oktroyierung ihrer eigenen Sprache und ihrer Strukturen marginalisiert und dieses dadurch nicht zu eigener Entwicklung kommen lässt. Für die Teilnahme an der Wissenschaft, die vordem ein mehrsprachiger, der prinzipiellen Gleichheit der Wissenschaftler und der Bestenauslese wissenschaftlicher Erkenntnisse verpflichteter Zusammenhang gewesen ist, stehen nicht-anglophonen Einzelpersonen mithin nun folgende typisch neokolonialen Wege offen: Migration in ein anglophones Land und Imitation der dortigen Wissenschaft; Imitation anglophoner Wissenschaft im eigenen, nicht-anglophonen Raum oder regionalisiertes und damit marginalisiertes Insistieren auf die eigensprachlich verfassten Wissenschafts-, Wissens- und Denktraditionen. Solche Asymmetrien wie die hier beobachteten bestimmen auch englischsprachige Lehre, wie sie an deutschen Universitäten vielfach im Rahmen sogenannter internationaler Studiengänge stattfindet.
6.3 Beobachtungen an einem Ausschnitt akademischer Lehre auf Lingua-franca-Englisch An etlichen deutschen Universitäten werden mittlerweile ‚internationale‘, d. h. englischsprachige Studiengänge angeboten. Mit den sprachlichen Voraussetzungen der i. d. R. nicht englisch-muttersprachlichen internationalen Studierenden steht es häufig nicht zum Besten (Fandrych/Sedlaczek 2012). Im Folgenden sei nun der Wissens- und Wissenschaftstransfer unter solchen Bedingungen betrachtet. Das Beispiel ist Knapp
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(2014, 8 f.) entnommen, es geht um eine besondere Art von chemischen Verbindungen, die sogenannten Chelatringe (engl. chelate ring). Der Terminus leitet sich von altgriech. chele = ‚Krebsschere‘ her. (9) L:
Does anybody know chelate cycle? (- -) Chelate cycle, who knows what that is? (- -) L: Doesn’t anybody speak Greek or Latin? Ss: (laughter) No, no. L: Still nobody. Ss: (trying to repeat the word) Kilots? Kilos? L: (to the only student with English as L1) What is Krebs? S1 (US): Crabs. L: Crabs? S1 (US): Crab or a lobster. L: You know this animal with eight legs. Which animal has also eight legs? Ss: Spider. S2 (Macedonia): Aaah, Chelots! L: Yes, which language is this? S2: This language is Macedonian. We are on a border with Greece. L: I use the English pronunciation of chelates (/’ki:leɪts/). (Writes word on the board) S3 (China): Tschelos? Ss and L: (laughter) L: We don’t care about pronunciation. […]
Man sieht, dass es praktisch im gesamten Diskursabschnitt, der durch das für Linguafranca-Diskurse typische Verlegenheitsgelächter geprägt ist (Meierkord 2000), um die Absicherung desjenigen Terminus geht, mit dem der wissenschaftliche Erkenntnisgegenstand benannt wird, wobei dieser Terminus auch noch inkorrekt ist – im Englischen spricht man, wie im Deutschen, von chelate ring und nicht von chelate cycle. Es scheint hier eine Verwechslung von cycle (‚Zyklus‘) und circle (‚Kreis‘) vorzuliegen, da es ja gerade um eine Molekülstruktur, und nicht etwa um Reaktionszyklen etc. geht. Zudem ist die – unrichtige – Benennung chelate cycle hier nicht einmal in begrifflich nennender Weise realisiert – hierzu hätte chelate cycle bei den gegenstandseinführenden Fragen erkennbar mit den Mitteln des Englischen als syntaktisches Nomen realisiert werden müssen (z. B. Does anyone know what a chelate cycle is? oder Have you ever heard of chelate cycles?). Nach den beiden gegenstandseinführenden Fragen fährt der Dozent mit Does anybody speak Greek or Latin? fort. Diese Frage zielt natürlich auf die Motivierung des aus dem Griechischen entlehnten Ausdrucks chelate ab, ist aber den Studierenden in ihrer metasprachlichen Dimension nicht verständlich. Da der Dozent nicht über ausreichend gemeinsprachliche Ressourcen verfügt, die Motivierung des Terminus chelate auf Englisch zu vollziehen, befragt er mit What is Krebs? einen US-amerikanischen Studenten, der die englische Übersetzung liefert. Der Status der dozentischen Äußerungen You know this animal with eight legs. Which animal has also eight legs? ist
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nicht ganz klar: Entweder hat der Dozent die Antwort des US-amerikanischen Studenten crab or a lobster nicht verstanden, oder er versucht, diese Antwort für alle verständlich zu machen. Daraufhin kann der mazedonische Student den Ausdruck für sich motivieren, worauf sich ein kurzer Exkurs über das Mazedonische anschließt. Ein chinesischer Student arbeitet sich daraufhin immer noch an der für ihn unverständlichen Lautform ab. Das Gelächter innerhalb dieses Diskursabschnittes hat nichts damit zu tun, dass hier Zwecke wissenschaftlicher Lehre auf humorige Weise bearbeitet würden; es ist, wie bereits oben angedeutet, typisch für Lingua-franca-Diskurse. Wir halten fest, dass der Dozent in dem bisher diskutierten Abschnitt die folgenden Zwecke sprachlich nicht realisieren kann: – korrekte fachliche Benennung des wissenschaftlichen Erkenntnisgegenstands (chelate ring statt chelate cycle); – sprachliche Herstellung begrifflicher Nennqualität der fachlichen Benennung mit den Mitteln des Englischen (z. B. Have you ever heard of chelate rings?); – Absicherung des Ausdrucks chelate über eine metasprachliche Bezugnahme auf den Terminus, die korrekte Benennung der Herkunftssprache (Ancient Greek) sowie eine korrekte gemeinsprachliche Übersetzung (z. B. The term ‚chelate‘ derives from Ancient Greek and means ‚pincers of a crab or a lobster‘); – Anbindung des fachlich benannten Gegenstandes chelate ring an bereits vorhandenes Wissen – z. B. durch Benennung mit dem Hyperonym molecule.
Der Diskursabschnitt macht deutlich, weswegen die europäische Wissenschaft dereinst die lateinische Varietät der Scholastik aufgab und die europäischen Volkssprachen zu Wissenschaftssprachen ausbaute: Wissenschaft, und damit auch die wissenschaftliche Lehre, sind auf gemeinsprachliche Ressourcen besonders angewiesen (Thielmann 2014a; 2014b). Der Dozent scheitert hier nicht nur an der Fachlichkeit (‚chelate cycle‘), er kann auch einen aus dem Altgriechischen abgeleiteten Terminus nicht gemeinsprachlich motivieren. Obendrein ist davon auszugehen, dass die internationalen Studierenden eine englisch-gemeinsprachliche Formulierung wie the term ‚chelate‘ derives from Ancient Greek and means ‚pincers of a crab or a lobster‘ nicht verstanden hätten. Abgesehen davon, dass wissenschaftliche Lehre auf Lingua-franca-Englisch genauso wenig möglich ist wie die Kommunikation neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, macht dieses Beispiel den doppelten Marginalisierungsdruck deutlich, unter dem die europäische Wissenschaft steht: Der neokoloniale Weg der Imitation anglophoner Wissenschaft im eigenen, nicht-anglophonen Raum – denn nichts anderes sind ‚internationale Studiengänge‘ – führt nicht nur zur Marginalisierung der eigenen Denktraditionen und der in den jeweils eigenen Wissenschaftssprachen angelegten Denk- und Perspektivierungsmöglichkeiten; selbst wenn die Imitation besser gelingt als in diesem Beispiel, bleibt sie Imitation und damit hinter der muttersprachlich-anglophonen Wissenschaft und Lehre, deren Dominanz sie qua Imitation sichert, qualitativ zurück. – Das ist wie beim Schach: Schwarz verliert, wenn es nur die Züge von Weiß kopiert.
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Der Endpunkt einer solchen Entwicklung ist dann erreicht, wenn qua wissenschaftssprachlicher Dominanz der Transfer muttersprachlich englisch verfasster Erkenntnisse auch dann verbindlich in nicht-anglophone Gesellschaften erfolgt, wenn hierdurch anderssprachig verfasste weitgehendere Erkenntnisse marginalisiert werden. Dies sei am Beispiel des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens illustriert.
6.4 Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die gesellschaftliche Praxis – der Gemeinsame europäische Referenzrahmen als Produkt rezenter britischer Kolonialgeschichte Das Ziel des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens war die Herstellung der Voraussetzung für die einzelsprachenübergreifende Einschätzung sprachlichen Vermögens. Das Ausgangsdokument (CEFR; Council of Europe 2001) ist in derjenigen Sprache verfasst, die sich in Europa zunehmend als einzige Arbeitssprache etabliert und die zugleich die Muttersprache des britischen Hauptautors John Trim ist: Englisch. Man würde dennoch annehmen wollen, dass in die Erstellung eines solchen der europäischen Mehrsprachigkeit verpflichteten Dokuments der gesamteuropäische – und daher auch in verschiedenen Sprachen verfasste – sprachwissenschaftliche Kenntnisstand eingegangen sei. Im Interesse einzelsprachenübergreifender Kompetenzbeschreibungen ist der sprachtheoretische Ansatz des CEFR ein handlungstheoretischer: The approach adopted here, generally speaking, is an action-oriented one in so far as it views users and leaners of a language primarily as „social agents“, i. e. members of a society who have tasks (not exclusively language-related) to accomplish in a given set of circumstances, in a specific environment and within a particular field of action. (Council of Europe 2001, 9)
Wie man sieht, ist für diesen Ansatz das Task-Konzept einschlägig, das auch vielfach in die Deskriptoren eingegangen ist: A task is defined as any purposeful action considered by an individual as necessary in order to achieve a given result in the context of a problem to be solved, an obligation to fulfil or an objective to be achieved. This definition would cover a wide range of actions such as moving a wardrobe, writing a book, obtaining certain conditions in the negotiation of a contract, playing a game of cards, ordering a meal in a restaurant, translating a foreign language text or preparing a class newspaper through group work. (Council of Europe 2001, 10)
An dieser gerade nicht handlungstheoretischen Bestimmung von task im Rahmen eines action-oriented approach, die zwischen einer sprachlichen oder aktionalen Einzelhandlung (Mahlzeit bestellen, Schrank umstellen) und einem komplexen Muster, das durch die Realisation einer Fülle sprachlicher Einzelhandlungen abgearbeitet wird
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(Bedingungen aushandeln) (exempl. Rehbein 1977; Ehlich 1986), nicht differenziert, sowie auch an der Nichtunterscheidung von individuellem Handlungsziel und gesellschaftlichem Zweck wird deutlich, dass für den Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen nicht etwa gemeinsame kontinentaleuropäische empiriebasierte Theoriebildung leitend geworden ist, sondern, wie auch die Bibliographien zeigen, die common-sense-nahe Ableitung von Schlüsselkonzepten angloamerikanischer Provenienz. Dass ausgerechnet ein europäischer Mehrsprachigkeit verpflichtetes Dokument fast vollständig ohne kontinentaleuropäische Sprachtheorie auskommt – und dies um den Preis, dass ein sehr viel weiterer Kenntnisstand nicht berücksichtigt wurde –, ist ein Akt des wissenschaftlichen Provinzialismus (s. a. Altmayer 2004, 3 f.), der die Idee einer europäischen Union gerade dort konterkariert, wo er sich als ihr am stärksten verpflichtet erklärt. Unter dem Transfergesichtspunkt ist zu sagen, dass Anglophonie es in diesem Fall nicht nur verhindert hat, dass kontinentaleuropäische Erkenntnisse in ein zentrales Dokument zur Entwicklung und Sicherung europäischer Mehrsprachigkeit eingegangen sind, sondern auch dazu führte, dass die – unterlegenen – Kenntnisse und Ansätze anglophoner Wissenschaft in diesem Bereich institutionell verbindlich gemacht wurden. Dies sind koloniale Strukturen. Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen ist ein Produkt britischer Kolonialgeschichte. Vor diesem Hintergrund sind abschließend Perspektiven für wissenschaftliche Mehrsprachigkeit in Europa zu erörtern.
7 Perspektiven für wissenschaftliche Mehrsprachigkeit in Europa Wie gezeigt wurde, ist Wissenschaft als eine bezüglich neuer Erkenntnisse prinzipiell der Bestenauslese verpflichtete kollektive Unternehmung nur mehrsprachig denkbar. Wissenschaftliche Mehrsprachigkeit verhindert die wissenschaftliche Dominanz eines spezifischen wissenschaftlichen Sprachraums, sie sichert die in verschiedenen Sprachen angelegten Perspektivierungs- und Denkmöglichkeiten für das wissenschaftliche Geschäft, sie ist Bedingung für die Gleichberechtigung der Wissenschaftler. Darüber hinaus ist Mehrsprachigkeit die conditio sine qua non für das Weiterbestehen verschiedener Wissenschaftskulturen.
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7.1 Verschiedene Wissenschaftskulturen in Forschung und Lehre Das komparative euroWiss-Projekt hat für die wissenschaftliche Lehre in Deutschland und Italien Befunde bestätigt, wie sie zuvor in Thielmann (2009) mit Bezug auf deutsche und englische wissenschaftliche Texte vorgetragen wurden. – In diesem von der VolkswagenStiftung geförderten Projekt wurde unter der Schirmherrschaft von Angelika Redder mit den Partnern Winfried Thielmann (Chemnitz), Dorothee Heller (Bergamo) und Antonie Hornung (Modena) von 2011 bis 2014 Hochschullehre in Deutschland und Italien untersucht mit dem Ziel, zu Erkenntnissen zu gelangen, wie die Diversität europäischer Wissens- und Wissenschaftskulturen mit ihren einzelsprachlich ausgebauten wissenschaftlichen Varietäten für die Zwecke einer genuin europäischen Wissenschaftsbildung fruchtbar gemacht werden könnte. Die Ergebnisse des Projekts sind in vielen Einzelaufsätzen, vor allem aber in den zentralen Publikationen Hornung/Carobbio/Sorrentino (2014), Redder/Heller/Thielmann (2014), Heller/Hornung/Redder/Thielmann (2015) sowie Thielmann/Redder/Heller (2015) nachzulesen. Die Frage, was eine wissenschaftliche Erkenntnis ist und mit welchen sprachlichen Verfahren ihre Akzeptanz befördert wird, ist wissenschaftskulturabhängig. Beim Vergleich deutscher und englischer wissenschaftlicher Texte zeigt sich dies bereits bei der Sub-Textart Einleitung (Thielmann 1999b; 1999c; 2009, 47 f.). Die deutsche Wissenschaftstradition, wie sie sich sprachlich manifestiert, ist stark auf das Verstehen, die englische hingegen auf das Überzeugen ausgerichtet. Für deutsche wissenschaftliche Einleitungen ist demzufolge ein sprachliches Handlungsmuster textartkonstitutiv geworden: das Begründen. In einer Folge von Begründungsschritten, die als solche textuell nicht ausgewiesen sind, stellen die Autoren Verstehen hinsichtlich der Notwendigkeit des neuen Wissens her. Englische Einleitungen sind demgegenüber wesentlich stärker vertextet; ihr Hauptzweck besteht in der Orientierung einer einschlägig vorinformierten Leserschaft auf das Neue hin. Der verstehensorientierte, hermeneutische deutsche Einleitungstyp ist daher, wenn er einfach im Englischen reproduziert wird, dysfunktional. Da der englische Leser nicht über das einschlägige Musterwissen verfügt, erscheinen ihm die deutschen Begründungsschritte als erratische Textblöcke. Das im deutschen wissenschaftlichen Zusammenhang so zentrale Begründen ist ein eigentlich diskursives Verfahren (Ehlich/Rehbein 1986) zur Herstellung von Verstehen, das in Texten in den Monolog überführt wird (Redder 1990). Diesem Verfahren korrespondiert, wie das euroWiss-Projekt ergab, in der wissenschaftlichen Lehre – fächer- und fakultätenübergreifend – eine diskursive Wissensvermittlung. Studentische Partizipation ist nicht nur in Veranstaltungen wie Seminaren und Übungen ausdrücklich erforderlich; auch Vorlesungen sind auf hörerseitigen aktiven Nachvollzug und studentische Beteiligung hin angelegt. Studierende werden so in das explorative wissenschaftliche Argumentieren, das weiterführende Fragen oder das Kritisieren hineinsozialisiert. Im – tendenziell persuasiv ausgerichteten – italienischen Zusammenhang dominieren hingegen monologische Veranstaltungsformate wie die lezione frontale,
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studentische Partizipation ist eher gering. Argumentativität und Diskursivität sind in dieser eher textuell ausgerichteten Weise wissenschaftlicher Wissensvermittlung in den – ausgeprägten – rhetorischen Verfahren sozusagen aufgehoben, die einen sehr wachen und aktiven studentischen Mit- und Nachvollzug verlangen. In beiden Wissenschaftskulturen, der deutschen und der italienischen, herrscht dieselbe – europäische – Konzeption wissenschaftlichen Wissens als eines je vorläufigen, strittigen Wissens vor, um das kollektiv gerungen wird (s. auch Memorandum 2014), aber die Weisen, auf die dieses Ringen erfolgt, differieren erheblich. Die in verschiedenen Wissenschaftssprachen angelegten Perspektivierungs- und Denkmöglichkeiten gehen so mit verschiedenen Verfahren der Akzeptanzherstellung und -sicherung neuen wissenschaftlichen Wissens einher, wie sie in den diese Sprachen unterhaltenden Wissenschaftskulturen angelegt sind. Eine solche Wissenschaftslandschaft sichert zugleich Multiperspektivität auf die Gegenstände und die maximale Exponiertheit neuen wissenschaftlichen Wissens gegenüber verschiedenen Verfahren der Akzeptanzherstellung. ‚Internationalität in der Wissenschaft‘ kann vor diesem Hintergrund nur Folgendes bedeuten: Es müssen Mittel und Wege gefunden werden, den plurikulturellen europäischen Wissenschaftsraum, wie er einst bestanden hat, wiederzugewinnen, anstatt seine Wissenschaftssprachen und -kulturen durch die ‚internationale Dachsprache‘ Lingua-franca-Englisch zu marginalisieren. ‚International‘ ist eine topologische Bestimmung, die ihr Gewicht durch präzise Lokalisierung des ‚Zwischen‘ erhält. Der deutsche Verzicht auf die Hypostasierung des Nationalen ist historische Notwendigkeit. Damit ist aber keineswegs die Nationalstaatlichkeit als Ordnungszusammenhang mittlerer Größenordnung, wie sie in Europa auch Bedingung für die wissenschaftskulturelle Vielfalt ist, als aufgegeben anzusehen. Internationalität ist gerade nicht durch eine lingua franca zu erreichen, deren wissenschaftliche Dysfunktionalität gerade aus ihrer geographischen wie historischen Ortlosigkeit sich herleitet. Die Nutzung des Englischen als lingua franca in der wissenschaftlichen Lehre in ‚internationalen Studiengängen‘ führt nicht nur zur Marginalisierung der europäischen Wissenschaftskulturen, sondern darüber hinaus auch zu einer doppelten Krypto-Herrschaftsstruktur: Eine solche Lehre ist bestenfalls Imitat des dominanten anglophonen Raums. Zugleich werden hierbei diejenigen Wissenschaftssprachen, in denen die Dozenten ihre eigene wissenschaftliche Sozialisation erfahren haben, zu Krypto-Herrschaftssprachen, die man einer multinationalen, nicht selten auch aus Entwicklungs- und Schwellenländern stammenden Klientel – in gutem Glauben an wahrhafte Internationalität – vorenthält und ihr damit die Partizipation an Wissen wie Wissenschaft versagt. Wiedergewinnung des plurikulturellen europäischen Wissenschaftsraumes kann nur heißen, mit einer europäischen Wissenschaftsbildung Ernst zu machen, die diese Vielfalt, auch ihrer sprachlichen Seite nach, anerkennt.
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7.2 Grundzüge einer europäischen Wissenschaftsbildung Die Bologna-Reform, die – nach falsch verstandenem angelsächsischem Vorbild – Studieninhalte in kleinteiligster Form regeln und administrierbar machen möchte, ist Traditionen wissenschaftlicher Bildung, wie sie in den europäischen Wissenschaftskulturen angelegt sind, diametral entgegengesetzt (vgl. Thielmann/Redder/Heller 2015 sowie Memorandum 2014). Denn sie sieht – in einer Art Wiederkehr vorneuzeitlicher Konzeptionen von Universität – die Aufgabe von Universitäten nicht in der wissenschaftlichen Bildung, sondern in der reinen Weitergabe von Wissen. Hierzu passt es, dass das ERASMUS-Programm keinerlei sprachliche Begleitung oder Unterstützung von Studierenden vorsieht. Es scheint für ein Europa konzipiert zu sein, in dem alle wissenschaftssprachlichen und -kulturellen Differenzen – wohl bereits antizipierend zugunsten eines lingua-franca-anglophonen Wissenschaftssprachraums – in einer Weise nivelliert sind, dass sich Studierende in der Sicherheit, aufgrund obligater universitärer Curricula nichts zu verpassen, durch die europäische Hochschullandschaft bewegen können wie Elektronengas in einem Leiter. Mit einer europäischen Wissenschaftsbildung, die die bestehenden Differenzen im Interesse der Wissenschaft fruchtbar macht, hat dies nichts zu tun. Denn wo Universität zur Schule wird, ist die Wissenschaft schon entflohen. Eine genuin europäische Wissenschaftsbildung würde biographisch darin bestehen, sich während des Studiums der wissenschaftssprachlichen wie -kulturellen Differenz auszusetzen und diese Erfahrung später in der Wissenschaft oder in der beruflichen Praxis auszumünzen. Im Einzelnen wären hierzu folgende Maßnahmen vorstellbar: 1) Institutionelle Anerkennung der Pluralität europäischer Wissenschaftssprachen und Wissenschaftskulturen wie z. B. in Italien, wo das oberste Verwaltungsgericht in einem richtungsweisenden Urteil vom 29. Januar 2018 (Giustizia Amministrativa 2018) ausschließlich in englischer Sprache angebotene Studiengänge für rechtswidrig erklärt und damit den Status des Italienischen als Sprache wissenschaftlicher Lehre gesichert hat. 2) Schaffung von Lehrstühlen an europäischen Universitäten, die mit der Komparatistik europäischer Wissenschaftssprachen und Wissenschaftskulturen befasst sind, und Berücksichtigung von deren Erkenntnissen in der europäischen wissenschaftlichen Lehre. 3) Schaffung einer europäischen wissenschaftlichen Bildungs-Mehrsprachigkeit durch flankierende Ausstattung des ERASMUS-Programms mit integralen, komparativ informierten, linguistisch beratenden Sprachangeboten in den europäischen Wissenschaftssprachen.
Eine wissenschaftliche Bildungsbiographie könnte dann so aussehen, dass während des Studiums in einer europäischen Wissenschaftssprache eine weitere Wissenschaftssprache so weit erworben wird, dass während eines Auslandssemesters die wissenschaftskulturelle Differenz auch tatsächlich erfahrbar wird. Darüber hinaus
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sollten rezeptive Kenntnisse in zumindest einer weiteren Wissenschaftssprache angeeignet werden.
7.3 Schaffung eines genuin europäischen Wissenschaftsraums Wie gezeigt wurde, resultiert die Anglophonisierung des Unternehmens Wissenschaft in der wissenschaftlichen Dominanz angelsächsischer Theorie- und Terminologiebildung und somit in der neokolonialen Marginalisierung der erkenntnisleitenden und -sichernden Ressourcen und Verfahren, wie sie in anderen Wissenschaftssprachen und -kulturen angelegt sind. Dies ist eine reale Bedrohung für den europäischen Wissenschaftsraum, der so bestenfalls zur Imitation verdammt ist. Unter dem Ideologem der ‚Internationalisierung‘ begünstigen die europäischen Wissenschaftsadministrationen die Festschreibung der Dominanz des Englischen sowie von ‚high impact factor international refereed journals‘ und Zitationsindizes, die fest in angelsächsischer Hand sind. Ein Antragswesen, das zunehmend nur noch das Englische als Antragssprache zulässt, tut ein Übriges. Damit ist Wissenschaft insgesamt, damit ist die europäische Wissenschaft als eine bezüglich neuer Erkenntnisse prinzipiell der Bestenauslese verpflichtete kollektive Unternehmung grundsätzlich in Frage gestellt. Die Wiedergewinnung eines plurikulturell verfassten europäischen Wissenschaftsraumes hätte folgende Maßnahmen zur Voraussetzung, die Anreize dafür schaffen, die ausgebauten europäischen Wissenschaftssprachen auch in der Forschung wieder zu nutzen und die wissenschaftskulturelle Differenz für die europäische Wissenschaft wieder fruchtbar zu machen: 1) Anerkennung und Förderung der Gleichberechtigung der europäischen Wissenschaftssprachen flankiert von einer Förderung wissenschaftssprachkomparativer Forschung; 2) Begründung qualitativ hochwertiger europäischer wissenschaftlicher Zeitschriften, die der wissenschaftlichen Mehrsprachigkeit verpflichtet sind; 3) Verpflichtung der Wissenschaftsförderorganisationen auf wissenschaftliche Mehrsprachigkeit und Begründung eines der Mehrsprachigkeit verpflichteten Antragswesens; 4) Einrichtung europäischer Zitationsdatenbanken und Evaluationsinstrumente, die der Mehrsprachigkeit verpflichtet sind; 5) Förderung wissenschaftlicher Übersetzungen.
8 Fazit Die neuzeitliche Wissenschaft, in deren Tradition wir immer noch stehen, ist eine genuin europäische Angelegenheit, die historisch durch die Aufgabe des Lateinischen als
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für alle verbindlicher westeuropäischer Wissenschaftssprache und den Aufbruch der Wissenschaftler in die vormaligen Vernakularsprachen und deren Ausbau zu Wissenschaftssprachen geprägt ist. Damit ist neuzeitliche Wissenschaft eine Unternehmung, die in einer Weise an die Pluralität der Wissenschaftssprachen und an die Mehrsprachigkeit der Wissenschaftler gebunden ist, die die in den verschiedenen Wissenschaftssprachen angelegten gnoseologischen Möglichkeiten und die wissenschaftskulturellen Differenzen bezüglich der Akzeptanzherstellung und -sicherung wissenschaftlichen Wissens zum bestmöglichen Austrag bringt. Seit dem Ersten Weltkrieg unterliegt diese Situation zunehmend einer sprachpolitischen Steuerung, deren Resultat die Anglophonisierung der europäischen Wissenschaft ist. Damit wird ausgerechnet eine Wissenschaftssprache zur weitgehend alleinigen erhoben, die genau diejenigen Möglichkeiten begrifflicher Sistierung und aspektueller Perspektivierung nicht vorhält, die für die Sprachen, von denen die Wissenschaft ihren Ausgang nahm (Altgriechisch, Latein, Arabisch) beziehungsweise die heute im wissenschaftlichen Gebrauch sind (exempl. Französisch, Italienisch, Deutsch, Russisch), charakteristisch sind – typologisch bedingte Eigenschaften, die das Englische für die Nutzung als alleinige Wissenschaftssprache disqualifizieren. Die Nutzung einer Sprache für das wissenschaftliche Geschäft, die zudem von der führenden Wirtschaftsnation unterhalten wird, resultiert in der Marginalisierung und Diskreditierung anderer Wissenschaftssprachen und ‑kulturen und bedroht damit die europäische Wissenschaft als Ganzes, da angelsächsische Theorie- und Terminologiebildung insgesamt die Vorherrschaft erlangt und die Nicht-Anglophonen zur Imitation verdammt. Durch diese nur als neokolonial zu bezeichnende Situation ist nicht einmal mehr sichergestellt, dass dasjenige Wissen, das in die europäische arbeitsteilige Praxis eingeht, noch einen genuinen wissenschaftlichen Ratifikationsprozess durchlaufen hat. Der Wettbewerbsvorteil, den das von seinem Innovationspotential lebende Europa von seiner wissenschaftlichen Pluralität hat, ist so verspielt. Es ist höchste Zeit, den wissenschaftlich mehrsprachigen plurikulturellen europäischen Wissenschaftsraum wiederzugewinnen. Dies kann nur durch eine Reihe institutioneller Maßnahmen geschehen, die eine genuin europäische Wissenschaftsbildung und eine die wissenschaftskulturelle Differenz fruchtbar machende Forschung zum Ziel haben.
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Sachregister Adäquatheit 249, 431–432, 438–439 Afrikaans 269, 283–284 Amtssprache 58, 62, 66, 108–109, 137, 159–161, 164–165, 224, 226–228, 230, 269–270, 275, 282–283, 366, 472–477, 484–488; vgl. auch Arbeitssprache Anglisierung 518 Anglophonie 528–530, 532–534, 536–539 Äquivalent 96, 147, 255, 322, 402–403, 413– 414 Äquivalenz 410, 431–432, 445–446, 452 Arabisch 133, 136–138, 140, 147, 293, 298– 299, 301, 307, 367, 475, 521, 524, 527, 539 Arbeitsmarkt 19, 70, 371, 508–513 Arbeitssprache 19, 124, 157, 164–166, 472– 477, 479–480, 484, 487–488, 490, 533; vgl. auch Amtssprache Arbeitswelt 5, 495, 501 Argumentationslogik 521–522 aspektuelle Perspektivierung 527, 539 Aufklärung 118, 142–143, 206 Ausgangssprache 204, 429–439 Ausgangstext 429–433, 438–439 autochthone Sprache 219, 228, 271, 284–285, 308, 530; vgl. auch Minderheitensprache, autochthone Banat 274 Barossa-Deutsch 286 Batschka 273–274 Befragung 43–44 begriffliche Sistierung 527, 539 Begründen 535–536 wissenschaftliche Benennung 519–520, 526–527, 529, 531–532 Benennungsbedarf 517–518 Beobachtung 42–43 Bildung 66, 68, 70, 108–109, 118, 125, 145, 197, 202, 212, 271, 283, 318, 362, 364, 477–479, 481–482, 488, 490, 517–542; vgl. auch Bildungspolitik, sprachliche Bildung Bildungschance 360–362, 369, 373 Bildungspolitik 12, 35, 40, 349, 356, 362, 369, 373, 394; vgl. auch Bildung, Sprach(en)politik https://doi.org/10.1515/9783110623444-024
Bildungssprache 11, 39, 142, 145, 147, 153, 158–160, 181–183, 369, 456–459; vgl. auch Varietät bilinguale Dopplung 277–278 bilingualer (Erst-)Spracherwerb 35, 37–38, 40, 317–338; vgl. auch doppelter Erstspracherwerb (DES), Erstspracherwerb, Spracherwerb bilingualism; sh. Bilingualität Bilingualismus; sh. Bilingualität Bilingualität 12, 30–31, 77, 109, 136–137, 139, 149, 159, 242–258, 260–262, 271, 276–278, 297–298, 300–301, 307–309, 317–338, 340, 346–347, 399–427; vgl. auch Diglossie, Zweisprachigkeit Bologna-Reform 486, 537 borrowing 255, 406, 413–414; vgl. auch Entlehnung Business English as a Lingua Franca (BELF) 497–508; vgl. auch English as a Lingua franca (ELF), Lingua franca, Lingua-francaEnglisch Chile 270, 279–282, 286 China 134, 212, 474, 481 Chinesisch 12, 134–135, 475 code-mixing 297, 399–427, 453; vgl. auch Sprachmischung code-switching 38, 44, 111, 113, 116, 233, 297–298, 399–427, 434–435, 453; vgl. auch Kode-Umschaltung, Kodewechsel, Sprachmischung, Sprachwechsel common corporate language (CCL) 496, 498– 503, 508 company-speak 502 cultural turn 83, 85 DACHL 5, 219–239 Dänemark 143, 242–243, 268–269 Dänisch 7, 63, 119–120, 124, 143, 241–258 Deutsch – als Erstsprache 219, 227, 230–231, 234, 253, 262, 293, 301–302, 353, 359; vgl. auch Erstsprache – als Fremdsprache (DaF ) 5, 17–19, 32, 159, 161, 165–166, 171–192, 223, 229, 231, 280, 286, 353–379; vgl. auch Fremdsprache
544
Sachregister
– als Lingua franca 153–169; vgl. auch Lingua franca – als Minderheitensprache 267–290; vgl. auch Minderheitensprache, Minderheitssprache, Sprachminderheit – als Wissenschaftssprache 118–121, 162–164, 175, 524–529, 535, 539; vgl. auch Wissenschaftssprache – als Zweitsprache (DaZ) 18–19, 41, 178, 181– 183, 219, 230–234, 280, 291–313, 353–379; vgl. auch Zweitsprache deutscher Sprachraum 5, 10, 18, 31, 107–130, 164, 171–192, 219–239, 241–266, 353–379; vgl. auch Deutschland, Sprachraum Deutschland 5, 10, 17, 63, 107–125, 163, 171– 192, 219–239, 252, 291–299, 320–321, 353– 379, 393–395, 506, 508–511, 513, 535; vgl. auch deutscher Sprachraum deverbale Ableitung 520, 527, 529–530 Dialekt 4–5, 10, 12, 59, 66, 77, 110–112, 121–122, 133–136, 140, 221, 224–226, 230, 252–253, 259, 263, 268, 270–273, 275–278, 280, 283, 293, 308, 430–431, 435, 445–446, 458–459, 462; vgl. auch Varietät Diglossie 109, 117, 120, 133, 230, 263, 276; vgl. auch Bilingualität, Zweisprachigkeit Diversität 71, 76, 84, 97, 393, 490, 495, 498– 499, 502, 509, 511–512, 535; vgl. auch Hyperdiversität, Superdiversität Dolmetschen 17, 44, 70, 173, 429–442, 475– 477, 483, 485, 487, 499, 512; vgl. auch Sprachmittlung, Translation, Übersetzung doppelter Erstspracherwerb (DES) 319–334, 423; vgl. auch bilingualer (Erst-)Spracherwerb, Erstspracherwerb, Spracherwerb durchgängige Sprachbildung 39, 181–183, 369– 372; vgl. auch sprachliche Bildung Einsprachigkeit 84, 113, 117–118, 122, 125, 135, 139, 143, 224, 341–342, 444, 448, 455–458, 460, 462, 472, 487–488; vgl. auch Monolingualismus Einzelsprache 6, 8–13, 20–21, 94, 96, 107, 109, 143, 443–444, 446–449, 518, 524, 530, 535 Elsass 4, 274 England 143, 145 Englisch 3–8, 12, 119, 124–125, 134–139, 145– 146, 155, 161–167, 196–197, 200, 210–212,
251, 282–285, 341, 366, 399–427, 459, 463, 475–476, 480–481, 484–485, 488, 490– 491, 498–508, 511, 517–542 English as a Lingua franca (ELF) 7–8, 124, 155, 161, 211, 498, 503–504; vgl. auch Business English as a Lingua franca (BELF), Lingua franca, Lingua-franca-Englisch Entlehnung 136, 246–248, 251–253, 255, 259, 261, 268, 272, 403, 406–407, 413–416; vgl. auch borrowing, Lehnübersetzung, Lehnwort Eristik 519, 522–524, 529 Erkenntnisgegenstand 519–520 Erstsprache 9, 15–20, 24–25, 31–32, 37–38, 45, 69, 207, 219, 227, 243–244, 262, 278, 286, 292, 294–297, 300–304, 306, 308, 340–342, 355, 357, 363, 365–367, 478, 497–498, 503; vgl. auch Deutsch als Erstsprache, heritage language, Herkunftssprache, Muttersprache Erstspracherwerb 31, 35, 37–38, 40, 339–340; vgl. auch bilingualer (Erst-)Spracherwerb, doppelter Erstspracherwerb, Spracherwerb Ethnolekt 125, 292, 301, 308–309; vgl. auch Varietät Ethnomethodologie 95–98, 100 Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen 65–67, 124, 482, 486 Europäische Union (EU) 7, 12–13, 30, 62, 124, 157, 164–166, 180, 340, 471–474, 481– 491 europäische Wissenschaft 532–539 europäischer Sprachraum 139–148, 153–169, 193–215 Fachkraft 367, 393, 477, 508–513 Fachkräfteeinwanderungsgesetz 509 Fachkräftemangel 509 Fachsprache 3, 5, 10–16, 21–24, 121, 181–183, 344, 370, 431, 435, 502, 510–511, 517–519; vgl. auch Varietät Familiensprache 31–32, 120, 244, 253, 259–260, 318; vgl. auch Varietät Figurenrede 113, 437, 445, 454, 459, 461–462 fiktionale Sprache 435 formelle Interaktion 221, 283, 480–481, 488 Frankreich 4, 62, 74, 117, 140–143, 145, 174, 197, 210, 490
Sachregister
Französisch 4, 6–7, 12, 63, 65–66, 72, 74–75, 77, 109, 112, 116–119, 137–138, 140–143, 145–147, 162–166, 174–175, 196–197, 199, 208, 227, 299, 330, 365–368, 434, 436, 459–460, 463, 475–476, 484–485, 488, 491, 506, 524–527 Fremdsprache 9, 12–19, 22–24, 30–32, 118– 119, 339–340, 347, 366–368, 496, 500, 506; vgl. auch Deutsch als Fremdsprache (DaF ) Fremdsprachendidaktik 92, 94, 171, 178–183, 206–210, 339–352; vgl. auch Mehrsprachigkeitsdidaktik Fremdsprach(en)erwerb 18–22, 30–32, 37, 40, 116, 171–174, 193, 196, 204, 206, 339–340; vgl. auch Sprachaneignung, Sprach(en)lernen, Spracherwerb Fremdsprachenkenntnisse 75, 109, 112, 114, 116, 119, 123–125, 140, 166, 178, 180, 183, 197, 202–203, 340, 436, 439, 482, 496–499, 506, 511 Fremdsprachenunterricht 67, 70, 94, 171, 174– 182, 193–215, 339–352, 353–379; vgl. auch Sprachunterricht Friesisch 119, 124, 252–260; vgl. auch Nordfriesisch, Saterfriesisch früher Zweitspracherwerb (FZSE) 31, 40, 317– 338, 361; vgl. auch Spracherwerb, Zweitspracherwerb (ZSE)
Gastarbeiter/Gastarbeiterin 123, 394 Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen (GER) 19, 368, 486, 533– 534 Gesamtsprachencurriculum 181–184 Gesinnungsminderheit 242 Gesprächsbuch 173, 199–201 gestaltete Sprache 430–431 Glossodiversität 449, 455–458 Grammatik 14–17, 138, 144, 172–179, 201–202, 206–209, 295, 307–308, 403, 407–410, 423 Grammatik-Übersetzungs-Methode 208 Griechisch 7, 12, 59, 109, 114–119, 132–133, 137, 140–142, 146–147, 196, 201–202, 208–209, 430, 445, 456, 458–462, 520–521, 524, 527, 539 Grundschule 34, 196, 254, 260, 317, 322–325, 341, 368
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Hebräisch 12, 109, 114–115, 117, 120, 137, 141, 146–147, 201–202, 222, 460 heritage language 63, 286, 296, 402, 414; vgl. auch Erstsprache, Herkunftssprache, Muttersprache Herkunftssprache 63, 292, 296–309, 342–343, 396, 400, 507; vgl. auch Erstsprache, heritage language, Muttersprache Herkunftssprachenunterricht 367–368, 372– 373 Hochschule 8, 18, 121, 175, 369–372, 414, 486, 535, 537; vgl. auch Universität Humanismus 114–118 Hybridität 276–277, 281, 285–286, 393, 502 Hyperdiversität 122, 138–139, 346–349; vgl. auch Diversität, Superdiversität Identität 19, 31, 34–38, 60, 68–71, 95–97, 116, 118, 122, 136, 143, 184, 203, 232, 273, 275, 278, 285–286, 301, 383–398, 401, 413 informelle Interaktion 161, 221, 243, 249–250, 263, 283, 300–301, 309, 480–481, 488, 500–501, 505, 507–508 Insertion 246, 249–251, 255, 263; vgl. auch Kodewechsel Interkulturalität 87, 90–97, 157, 178–181, 391– 392, 444–445 interkulturelle – Fremdsprachenpädagogik 178–181 – Kommunikation 83, 86, 90–93, 180–181, 482 – Kompetenz 20, 512 interlinguale Kommunikation 154–156, 167 interlingualer Transfer 276, 342, 345 internationale Kommunikation 114, 124, 132, 155–157, 162–166, 211, 471–494, 498–508, 524 Italien 4, 58, 62–64, 115, 140–142, 174, 227, 236, 270–273, 535–537 Italienisch 6–7, 58, 63, 69, 111, 115–116, 119– 120, 142–143, 145, 164, 175, 199, 227, 270– 273, 299, 365–366, 450, 459, 484, 488, 524, 537 Jiddisch 62, 66, 110, 114, 117, 120–121, 123, 146 Kanada 74–76; vgl. auch Nordamerika Kanaksprak 291–292 Kiezdeutsch 22, 125, 291–313 Kindergarten 30, 196, 260, 323–328, 360, 364
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Sachregister
Koaktivierung 417–418 Kode-Umschaltung 277–278, 281; vgl. auch code-switching Kodewechsel 247–250, 255, 263; vgl. auch code-switching, Insertion, Sprachwechsel Kolonialismus 9, 58, 110, 134, 136–138, 143, 145, 198, 203, 268, 279, 282–284, 534; vgl. auch Neokolonialismus, Postkolonialismus Kontaktdeutsch 276, 292; vgl. auch Kontaktsprache, Kontaktvarietät Kontaktsprache 172, 270, 272, 276, 279, 453; vgl. auch Kontaktdeutsch, Kontaktvarietät, Sprachkontakt Kontaktvarietät 244–247, 260, 263, 268, 284; vgl. auch Kontaktdeutsch, Kontaktsprache, Sprachkontakt, Varietät Kontext 85–90, 95–96, 99 Konvergenz 246–249, 253 Kreol 8–9, 25, 452–453, 463 Kroatisch 7, 59, 63–64, 67, 120, 393–395 Kultur 65, 83–100, 118–119, 121–122, 155–156, 210, 231, 243–244, 262–263, 271, 275, 383, 387–396, 431–432, 438–439, 504, 512 Kulturgrammatik 90–91 Ladino 63, 69, 146–147, 270–272 Latein 6, 12, 109–121, 132–133, 137, 139–147, 162, 172–174, 196–197, 199, 201–203, 208– 209, 430, 452, 456, 458–462, 520–524, 527, 538–539 language shift 280 language management 497–498 languaging 225, 235 Lehnübersetzung 246, 248, 251–255, 403; vgl. auch Entlehnung Lehnwort 133, 136, 147, 251–255, 261; vgl. auch Entlehnung Lehrbuch 111, 142, 175–176, 198–199, 205–209; vgl. auch Lehrwerk Lehrkraft 342, 345–349, 368 Lehrkräftebildung 354, 356, 369–373 Lehrwerk 19, 174–179, 206–208, 349; vgl. auch Lehrbuch Lenkung 432 Lernersprachenanalyse 40–43 Liechtenstein 5, 226–227, 477 Lingua franca 7–9, 109, 119, 124, 135, 138, 142, 153–169, 283–284, 498, 503–508; vgl. auch
Business English as a Lingua franca (BELF), Deutsch als Lingua franca, English as a Lingua franca (ELF), Lingua-franca-Englisch Lingua-franca-Englisch 529–532, 536–537; vgl. auch Business English as a Lingua franca (BELF), English as a Lingua franca (ELF), Lingua franca linguistic anthropology 60, 72, 86, 95 linguistic landscape 71, 75, 125, 136, 272, 282, 300, 309 Linguizismus 233–235 Litauisch 7, 141–142, 144 Luxemburg 5, 63, 166, 226–227, 463, 484 Marginalisierung 277, 518, 530, 532–533, 536, 538–539 marketplace tradition 198–199, 201, 207 Matrixsprache 156, 246–251, 281, 404, 410– 411 Mehrheitssprache 57, 70, 73, 234, 269, 286, 294, 309, 473 Mehrsprachigkeit; vgl. auch Multilingualität, Vielsprachigkeit – äußere 4–6, 12–14, 16, 22, 119, 224–225, 497 – Entwicklung in der Kindheit 317–334 – Geschichte 107–130, 131–151 – gesellschaftliche 29, 47, 219–220, 225, 235, 271, 275, 283, 365, 472 – horizontale 7, 109, 112, 114, 117, 122, 145 – im Berufsleben 495–516; vgl. auch multilinguales Arbeitsplatz-Setting – im deutschsprachigen Raum 107–130, 171– 192, 219–239, 241–266, 291–313, 353–379 – im Fremdsprachenunterricht 171–192, 193– 215, 339–352, 353–379 – in Ballungsräumen 291–313 – in der internationalen Politik 471–494 – in der Literatur 433–439, 443–467 – in der Wissenschaft 6, 8–10, 118–121, 517– 542 – in Europa 6–7, 12–14, 22–24, 30, 65–67, 107, 124–125, 132–133, 139–148, 219–239, 270– 278, 317, 340, 471–474, 481–491, 524, 533– 539 – individuelle 8–25, 31, 33, 37, 47, 113, 146, 225, 283, 354, 367 – innere 4–6, 10, 12–14, 16, 20–25, 32, 113–115, 117, 121, 184, 402, 497 – integrale 483–485, 488–491
Sachregister
– Messung 29–55 – verdeckte 256–258 – vertikale 7, 109–112, 114–117, 121 – von Jugendlichen 17–18, 30–31, 34, 46–47, 183, 247, 253, 263, 283, 291–313, 353–368, 372; vgl. auch Sprechstil von mehrsprachigen Jugendlichen – von Kindern 17–18, 30–31, 34, 37–39, 44, 46– 47, 65, 71, 183, 196, 243–245, 253–254, 259–260, 262, 268, 275, 291–313, 317–338, 339–352, 353–368, 372 Mehrsprachigkeitsdidaktik 29, 38–39, 233, 339–352; vgl. auch Fremdsprachendidaktik Mehrsprachigkeitsforschung 15, 29–55, 107– 110, 121, 149, 184, 249, 367–368, 405–406, 464 Mehrsprachigkeitspolitik 480, 490; vgl. auch Sprach(en)politik membership categorization analysis (MCA) 95–98 Migrantensprache 29, 235, 271, 367, 486 Migration 30, 122–125, 137–138, 146–149, 179, 222–224, 279, 291–296, 354–355, 367– 368, 371, 373, 393–395, 445, 508–513, 530 Migrationsgesellschaft 222–224, 233–235, 293, 296, 391 Migrationshintergrund 18, 33, 70, 182–184, 223, 292, 298–300, 340, 357–361, 508–513 Minderheit – allochthone 241–242; vgl. auch Minderheitensprache, allochthone – autochthone 117, 124–125, 227, 241–266, 269; vgl. auch Minderheitensprache, autochthone – nationale 63–67, 242–251, 264 – Typologie 268–269 Minderheitenrecht 64–72 Minderheitensprache 37, 57–81, 119–125, 134– 135, 138–139, 147, 234, 241–266, 267–290, 473; vgl. auch Deutsch als Minderheitensprache, Minderheitssprache, Sprachminderheit – allochthone 62, 66, 72, 241–242; vgl. auch Minderheit, allochthone – autochthone 62, 66, 72, 135, 227, 241–266, 269; vgl. auch autochthone Sprache, Minderheit, autochthone – Begriff 57–63
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– Forschung 62, 71–78 – Recht 64–71, 475, 482, 484, 486–487 Minderheitssprache 227–228, 244, 264; vgl. auch Deutsch als Minderheitensprache, Minderheitensprache, Sprachminderheit Minorisierung 61–64, 73–78 Mitteleuropa 64, 173, 268–269 monastery tradition 198, 201–202, 207 Monitoring 417–418, 420, 422 Monolingualisierung 143, 148–149, 164 Monolingualismus 165, 183, 224, 233–234, 244, 260, 293, 297, 448, 457, 480, 488, 490, 501, 511, 513, 530; vgl. auch Einsprachigkeit multilinguales Arbeitsplatz-Setting 497–509, 511–513; vgl. auch Mehrsprachigkeit im Berufsleben multilingualism; sh. Mehrsprachigkeit, Multilingualität, Vielsprachigkeit Multilingualismus; sh. Mehrsprachigkeit, Multilingualität, Vielsprachigkeit Multilingualität 6, 31, 37, 46, 71–72, 76, 108, 111, 113, 121, 134–135, 137, 139, 144, 146– 149, 181, 251–252, 258, 280, 282, 285–286, 309, 341, 390, 497–513; vgl. auch Mehrsprachigkeit, Vielsprachigkeit Multikulturalität 181, 210, 292, 301, 391–393 Muttersprache 17, 20, 30, 109, 111, 117, 140, 156–159, 161, 165–167, 197, 201, 206–208, 280–281, 302, 455–457, 478, 503–504, 507; vgl. auch Erstsprache, heritage language, Herkunftssprache muttersprachliches Niveau 286, 302, 341, 348, 499, 512 Nähesprache 275, 286 Namdeutsch 283, 285–286 Namibia 137, 227, 268–270, 282–286 Namslang 283–285 Nationalsozialismus 64, 123 Nationalsprache 6, 70, 121–122, 139–145, 226– 227, 270, 273, 282, 445–449, 456 Neokolonialismus 530, 532, 538–539; vgl. auch Kolonialismus, Postkolonialismus Nichtschulsprache 320, 323, 327, 331–332 Niederlande 252, 269 Niederländisch 3–4, 7, 110, 112, 116, 138, 145, 164, 484 Nordamerika 64, 138, 200, 252; vgl. auch Kanada, USA
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Sachregister
Nordfriesisch 252–256, 264; vgl. auch Friesisch Nordschleswig 243–250 Nutzen von Sprachkenntnissen 197, 202, 212, 231, 235 Österreich 5, 17, 59, 63, 166, 219–239, 353– 379 Österreich-Ungarn 64, 160, 163, 275 Ost(mittel)europa 120, 141–143, 157–163, 180, 268–269 othering 63, 74, 222–223, 235, 348 Persisch 133, 136–137 Philologie 447–451, 458, 464 physiologische Messung 45 Pidgin 9, 25, 268 Plansprache 211, 435, 452–453 pluriareale Sprache 228–229 Plurikulturalität 383–398 plurikultureller Wissenschaftsraum 536, 538–539 Plurizentrik 2, 228–229, 234, 272 Polen 124, 141, 144, 146, 160 Polnisch 7, 67, 123–124, 144, 146, 160, 298– 299 Positionierung 73, 75 Postkolonialismus 64, 72, 92–93, 136–137, 139, 142, 463; vgl. auch Kolonialismus, Neokolonialismus Pragmatik 85–91, 95, 99, 177, 226, 417–418, 432 pragmatische Wende 177 Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten 65, 67–68, 71 Raum 220–224, 232–233; vgl. auch Sprachraum Rätoromanisch 63, 227, 365–366 Register 10, 61, 181–182, 221, 285, 295, 301–302, 359, 369, 402, 445–446, 496, 500–502 Repertoire 60, 71, 73–74, 77, 146, 184, 235, 249, 300, 307–308, 341, 385, 412, 500–501 Romani 62–63, 66–67, 77, 123–124, 146–148 romanische Sprache 3, 9, 59, 110–111, 154, 460 Romantik 121, 143–144, 430 Russisch 6, 12, 58, 124, 135–136, 138, 144, 146, 158–162, 166, 198, 293, 297–299, 367, 436, 475, 527, 539 Russland 135–136, 158–162, 268; vgl. auch Sowjetunion
Saterfriesisch 259–260, 264; vgl. auch Friesisch scaffolding 183, 346 Schibboleth 222, 230 Scholastik 518, 521–524, 532 Schriftsprache 112, 114–115, 120–121, 133–134, 141–144, 147, 242, 244, 250, 252, 263, 498; vgl. Varietät Schule 17–19, 29–31, 33–35, 38–41, 67–72, 77, 97, 119, 121, 125, 140, 175, 178, 181–184, 196–198, 201–202, 204–207, 209–212, 227, 230–233, 243–244, 247–249, 254, 260, 262, 264, 271, 273, 275, 280–281, 283, 291, 293–294, 317–328, 330–334, 340–342, 347, 349, 353–379, 385, 486, 506 Schulsprache 144, 147, 153, 219, 227, 230–233, 243–244, 253, 318–320, 322–323, 330, 332, 334; vgl. Varietät Schweiz 5, 10, 17, 22, 31, 63, 219–239, 353–379 Semiodiversität 448–450, 455–459 semispeaker 276 Serbisch 59, 120, 145 Slowakisch 7, 63, 67, 120, 144 Slowenisch 7, 59, 63–64, 69, 72, 228 Sorbisch 4, 63, 117, 123–124, 261–264, 269, 484 Sowjetunion 58, 135, 160–161, 274, 436; vgl. auch Russland Soziolekt 12, 32, 109, 121, 183, 292, 390, 430– 431, 435, 445–446, 449; vgl. auch Varietät Spanien 140, 143, 147 Spanisch 7, 12, 116, 138, 145, 166, 199, 279– 282, 299, 402, 408, 475–476, 488, 506, 524 Sprachaneignung 15–16, 18, 25, 31–32, 35–37, 40, 46–47, 355–356, 360, 367; vgl. auch Fremdsprach(en)erwerb, Sprach(en)lernen, Spracherwerb Spracheinstellung 34–35, 37, 46, 61, 108, 123, 273, 278, 282, 285, 293, 298, 318, 331–332, 473, 488 Sprach(en)lernen 15–16, 18–19, 25, 32, 37, 39, 184, 193–215, 339–352, 482–483, 485– 487; vgl. auch Fremdsprach(en)erwerb, Sprachaneignung, Spracherwerb Sprachenmischung 9–10, 25, 97; vgl. auch Sprachmischung
Sachregister
Sprach(en)politik 7–8, 30, 33–34, 57–81, 117, 120–121, 123–124, 135, 139, 143, 154, 164– 166, 181, 198, 232, 244, 261, 340, 444, 457, 471–494, 497–503, 506, 524–526, 539; vgl. auch Bildungspolitik, Mehrsprachigkeitspolitik Sprachenprogrammatik 473–478, 480–483, 487–491 Sprachenrecht 7, 57, 60–72, 76, 135, 271, 364, 472– 475, 478, 481–485, 488–489, 491 Sprachentwicklung 121–122, 141, 158, 317–338, 359–361, 430, 435, 447–448, 457 Sprach(en)vielfalt 3–6, 8, 24–25, 140–141, 183, 271, 273, 471–494, 496; vgl. auch sprachliche Vielfalt, Sprachvielfalt in literarischen Texten Sprach(en)wahl 33, 156, 166–167, 249, 324– 325, 327, 332, 344, 347, 472, 497, 499, 501, 503, 505–506 Spracherhalt 37–38, 65, 72–73, 136, 138, 254, 260–264, 285, 296–297, 299 Spracherleben 74–75 Spracherwerb 15–20, 25, 30–31, 34–38, 47, 73, 184, 207, 511; vgl. auch bilingualer (Erst-) Spracherwerb, doppelter Erstspracherwerb (DES), Erstspracherwerb, Fremdsprach(en)erwerb, früher Zweitspracherwerb (FZSE), Sprachaneignung, Sprach(en)lernen, Zweitspracherwerb (ZSE) Spracherwerbstyp 354, 359 Sprachförderung 181–182, 231, 254, 260, 262, 264, 355, 362–369, 511 Sprachgebrauch 6–7, 37–38, 40, 45–46, 60–61, 89, 95, 221, 243, 245, 247–251, 254–256, 263–264, 281, 283–285, 292–297, 300, 302–303, 305, 307–309, 327, 356–358, 389, 394 Sprachideologie 34, 57–63, 66, 69, 75–78, 84, 109, 490 Sprachinsel 62, 72, 268, 274, 421–422 Sprachkontakt 9, 25, 110–112, 115, 120, 122–125, 132–135, 137–148, 153, 172–174, 180, 195, 242–248, 252–253, 258–263, 272, 276– 286, 291–293, 296, 341, 365, 394, 403– 412, 415, 420, 422–423; vgl. auch Kontaktsprache, Kontaktvarietät sprachliche – Bildung 15, 119, 181–184, 373, 478; vgl. auch Bildung, durchgängige Sprachbildung
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– Ressource 33, 39–40, 184, 296–297, 300– 301, 307–308, 342, 344, 349, 367–368, 401, 423, 448, 458, 490, 513, 520, 522–523, 526, 531–532 – Vielfalt 8, 183–184, 291–293, 298–300, 309, 472, 475, 478, 489; vgl. auch Sprach(en)vielfalt, Sprachvielfalt in literarischen Texten sprachliches Repertoire; sh. Repertoire Sprachloyalität 73, 251, 273, 282, 298 Sprachmeister 196–197, 201, 207 Sprachminderheit 4, 57, 59–61, 63–65, 72, 77, 123, 241–266; vgl. auch Deutsch als Minderheitensprache, Minderheitensprache, Minderheitssprache Sprachmischung 116–117, 121, 285, 297, 324, 330, 394, 396, 399–427, 451–453, 459; vgl. auch code-mixing, code-switching, Sprachenmischung Sprachmittlung 70, 429–442, 512; vgl. auch Dolmetschen, Übersetzung, Translation Sprachpluralismus 20–25 Sprachraum 110, 116, 220–226, 232–235; vgl. auch deutscher Sprachraum, Raum Sprachregime 75–76, 473, 475–477, 479–481, 483–485, 487–491 Sprachrepertoire; sh. Repertoire Sprachstandard 445–449, 458 Sprachunterricht 39, 67, 173, 184, 254, 262, 273; vgl. auch Fremdsprachenunterricht Sprachverständnis 204, 322–323 Sprachvielfalt in literarischen Texten 443–467; vgl. auch Sprach(en)vielfalt, sprachliche Vielfalt Sprachvitalität 72, 269–270 Sprachwechsel 15, 32, 38, 44, 113–116, 233, 242, 252–253, 256, 261, 264, 325, 330, 396, 400–413, 416, 434, 445, 451, 453, 460, 501, 503, 505–506; vgl. auch code-switching, Kodewechsel Sprechstil von mehrsprachigen Jugendlichen 300–303, 306, 308; vgl. auch Mehrsprachigkeit von Jugendlichen Standarddänisch 243–252, 256–258; vgl. auch Standardsprache Standarddeutsch 3, 5, 10, 19, 117, 121–122, 175, 224–226, 228–231, 234, 242–260, 263, 268, 271–272, 277–278, 283, 292–294, 301,
550
Sachregister
306, 430; vgl. auch Standardsprache, Standardvarietät, Varietät Standardisierung (von Sprache) 76–77, 108–109, 114, 143, 226, 431, 447, 456, 461 Standardsprache 5, 16, 59, 76, 109, 122, 143, 271–273, 276, 306, 308, 389–390, 445– 451; vgl. auch Standarddänisch, Standarddeutsch, Standardvarietät, Varietät Standardvarietät 76, 109, 122, 143, 224, 226, 228–229, 272, 276, 294; vgl. auch Standarddeutsch, Standardsprache, Varietät Südamerika 9, 17, 138–139, 270 Südtirol 4, 58, 69, 227, 269–273, 285–286 Südwesterdeutsch 283 Superdiversität 75, 97, 124–125, 148, 393, 449; vgl. auch Diversität, Hyperdiversität Text 12, 183, 197–198, 201–203, 205–210, 221, 229, 344, 429–432, 521–522, 535–536 – literarischer 74, 433–439, 443–467 – mehrsprachiger 110–111, 113, 115, 117, 120, 122, 132, 142, 429–442, 443–467, 487 Tok Pisin 268–269 Transfer 8–9, 39, 108, 139, 255, 272, 276–277, 281, 284–285, 294, 301, 303, 342, 345, 503, 518, 521, 524, 527–532 Transkulturalität 275–276, 392 translanguaging 15, 42, 94, 96–97, 124, 225, 233 Translation 429–442; vgl. auch Dolmetschen, Sprachmittlung, Übersetzung Translingualität 276, 454–455, 457, 460 Triglossie 271 Tschechisch 7, 63, 111, 120, 141, 144, 146, 261, 472 Türkei 123, 147, 393 Türkisch 124, 147, 233, 291–313, 318, 325–329, 332, 367, 395, 484 Übersetzung 110–111, 115, 121, 142, 162, 174, 201, 203, 205, 207–209, 429–442, 449– 454, 457–459, 461, 475–477, 483–485, 487, 512, 521, 538; vgl. auch Dolmetschen, Sprachmittlung, Translation Ukrainisch 120, 141, 144, 146 Umgangssprache 10, 16, 109, 242–244, 246, 250, 256, 261, 263, 271–272, 280, 283, 294, 302; vgl. auch Varietät UNESCO 65, 477–479
Ungarisch 7, 63, 120, 141, 144, 147, 228, 273– 278 Ungarn 141, 144, 159, 161, 269–270, 273–278, 285–286, 491 Universität 111, 116, 121, 140, 164, 174–176, 178, 180, 196, 198, 202, 254, 260, 262, 355–356, 370–371, 385, 506, 521, 530, 537; vgl. auch Hochschule UNO; sh. Vereinte Nationen (UNO) Unserdeutsch 268–269 Unternehmenssprache; sh. common corporate language (CCL) USA 164, 211, 268, 296, 399–427, 525; vgl. auch Nordamerika Varietät 3–6, 9–16, 20–21, 32, 38, 59, 72, 76– 77, 107, 109–110, 112–115, 117, 120–122, 125, 133, 136, 140–141, 143–144, 148, 154–155, 184, 199, 220, 224–226, 228–235, 242, 244–247, 249–255, 257, 260–261, 263, 268–269, 271–273, 276–278, 280, 283–286, 292–296, 308, 385–386, 390, 402, 430–431, 496–497, 500, 502, 504, 517–519, 522–523, 532, 535; vgl. auch Bildungssprache, Dialekt, Ethnolekt, Fachsprache, Familiensprache, Kontaktvarietät, Schriftsprache, Schulsprache, Soziolekt, Standarddeutsch, Standardsprache, Standardvarietät, Umgangssprache, Verkehrssprache, Wissenschaftssprache Varietätenarchitektur; sh. Varietätengefüge Varietätengefüge 285, 292, 308, 402 Varietätenspektrum; sh. Varietätengefüge Vereinte Nationen (UNO) 64–65, 318, 473–481, 488–491 Verkehrssprache 70, 139, 153, 155, 157–161, 164, 166, 252, 259, 342, 479–480, 488; vgl. auch Varietät Vernakularsprache 110, 115–117, 132, 139, 256, 259, 264, 456, 539; vgl. auch Volkssprache Vielsprachigkeit 6–25, 184, 475 Volkssprache 110–117, 132, 139–143, 173–174, 243, 256, 259, 452, 456–457, 459–460, 462, 532, 539 Vorschule 320, 324, 328, 331–332, 355 Wettbewerbsfähigkeit 30, 486, 488–490 wissenschaftliche Benennung 519–520, 526– 527, 529, 531–532
Sachregister
wissenschaftlicher – Sprachausbau 517–524, 526–528 – Sprachraum 534, 537 Wissenschaftskultur 518, 534–539 Wissenschaftssprache 8, 118, 121, 162–164, 175, 517–542; vgl. auch Deutsch als Wissenschaftssprache, Varietät Wissensvermittlung 198, 359, 369–370, 535– 536 Writing Culture 83, 92–94, 97 Zielsprache 19, 94, 199, 208, 235, 341–342, 429–431, 437–439 Zuschreibung 60, 69, 96–97, 231, 293, 385– 386
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Zweisprachigkeit 12, 32, 72, 76, 110–111, 114– 115, 117, 119, 125, 134, 138–139, 141–142, 172, 199, 208, 252, 254, 264, 271–272, 275, 279, 295–296, 298, 301, 307, 462, 525–526; vgl. auch Bilingualität, Diglossie zweite – Ausgangssprache 429–439 – Zielsprache 438–439 Zweitsprache 9, 15–18, 25, 31–32, 46, 243–244, 252, 262, 271, 339–340, 342–343, 347, 497; vgl. auch Deutsch als Zweitsprache (DaZ) Zweitspracherwerb (ZSE) 22, 24, 31, 34–37, 40, 45, 317–338, 339–340, 347, 353–379; vgl. auch früher Zweitspracherwerb (FZSE), Spracherwerb