Handbuch Gesundheitssoziologie [1. Aufl.] 9783658063917, 9783658063924

Das Handbuch leistet einen Überblick zu zentralen Themen der Gesundheitssoziologie. Die Abschnitte berücksichtigen dabei

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German Pages XIV, 816 [803] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIV
Front Matter ....Pages 1-1
Ein soziologisches Konzept von Gesundheit (Peter Kriwy, Monika Jungbauer-Gans)....Pages 3-12
Gesundheit und Lebensqualität (Thomas Schübel)....Pages 13-30
Methoden in der Gesundheitssoziologie (Christiane Gross, Patrick Brzoska)....Pages 31-49
Die Messung von Gesundheit (Johann Carstensen)....Pages 51-70
Was ist Gesundheit? (Jonas Rees, Martin Diewald)....Pages 71-86
Front Matter ....Pages 87-87
Beiträge der Salutogenese zu Forschung, Theorie und Professionsentwicklung im Gesundheitswesen (Theodor Dierk Petzold, Ottomar Bahrs)....Pages 89-115
Theoretische Perspektiven in der Gesundheitssoziologie (Thomas Gerlinger)....Pages 117-136
Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention - soziologisch beobachtet (Karl Krajic, Christina Dietscher, Jürgen Pelikan)....Pages 137-167
Soziale Ungleichverteilungen von Gesundheit und Krankheit und ihre Erklärungen (Siegfried Geyer)....Pages 169-191
Lebensstil und Gesundheit (Ingmar Rapp, Thomas Klein)....Pages 193-211
Front Matter ....Pages 213-213
Gender und Gesundheit (Birgit Babitsch, Nina-Alexandra Götz, Julia Zeitler)....Pages 215-233
Arbeit und Beschäftigung als Determinanten ungleicher Gesundheit (Johannes Siegrist, Nico Dragano)....Pages 235-251
Gesundheitliche Ungleichheiten und soziale Beziehungen (Nico Vonneilich, Olaf von dem Knesebeck)....Pages 253-273
Health Literacy (Norbert Lenartz, Renate Soellner, Georg Rudinger)....Pages 275-292
Familie und Gesundheit (Oliver Arránz Becker, Katharina Loter, Sten Becker)....Pages 293-318
Die Gesundheit von Menschen mit Migrationshintergrund aus sozialepidemiologischer Sicht (Patrick Brzoska, Oliver Razum)....Pages 319-335
Mensch, Medizin, Technik – Systeme einer vernetzten Gesundheit (Christoph Dockweiler, Claudia Hornberg)....Pages 337-356
Front Matter ....Pages 357-357
Gesundheitliche Ungleichheit im Lebenslauf (Henriette Engelhardt-Woelfler, Liliya Leopold)....Pages 359-372
Kindheit und Gesundheit (Thomas Schübel, Katharina Seebass)....Pages 373-396
Lebensverlaufsperspektive und soziale Ungleichheit (Andreas Klocke, Sven Stadtmüller, Andrea Giersiefen)....Pages 397-418
Gesundheit im Alter (Martina Brandt, Judith Kaschowitz, Patrick Lazarevic)....Pages 419-436
Kausale Beziehungen zwischen sozialem Status und Gesundheit aus einer Lebensverlaufsperspektive (Rasmus Hoffmann, Hannes Kröger, Eduwin Pakpahan)....Pages 437-460
Front Matter ....Pages 461-461
Kooperative Versorgungsmodelle (Doris Schaeffer, Kerstin Hämel)....Pages 463-480
Palliative Care und Hospiz (Werner Schneider, Stephanie Stadelbacher)....Pages 481-509
Datengrundlagen für gesundheitssoziologische und sozialepidemiologische Analysen (Stephan Müters, Thomas Lampert)....Pages 511-533
Gesundheit in und von Organisationen (Svenja Kockert, Thomas Schott)....Pages 535-558
Führung und Gesundheit der Beschäftigten (Sabine Gregersen, Sylvie Vincent-Höper, Heike Schambortski, Albert Nienhaus)....Pages 559-579
Front Matter ....Pages 581-581
Regionale gesundheitliche Ungleichheiten (Peter Kriwy, Stefan Neumeier, Andreas Klärner)....Pages 583-601
Zur Bedeutung von Umweltqualitäten und sozialen Verhältnissen als Gesundheitsfaktoren (Michaela Liebig-Gonglach, Andrea Pauli, Claudia Hornberg)....Pages 603-623
Gesundheitssystemtypologien (Nadine Reibling, Claus Wendt)....Pages 625-643
Gesundheitliche Ungleichheit im internationalen Vergleich (Johanna Muckenhuber, Hannah Volk-Jesussek)....Pages 645-671
Front Matter ....Pages 673-673
Gesundheitspolitik (Thomas Gerlinger, Rolf Rosenbrock)....Pages 675-700
Krankenversicherungen als Agenten und Akteure in einem Gesundheitssystem der Zukunft (Jürgen Zerth)....Pages 701-722
Leistungserbringer im deutschen Gesundheitswesen (Florian Meier, Kristina Kast, Oliver Schöffski)....Pages 723-748
Front Matter ....Pages 749-749
Umgang mit Mittelbegrenzung im Gesundheitswesen (Sabine Bossert, Daniel Strech)....Pages 751-770
Kinderwunschbehandlung als entgrenzte Medizin? (Charlotte Ullrich)....Pages 771-789
Empirische Messung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit (Martin Siegel)....Pages 791-816
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Handbuch Gesundheitssoziologie [1. Aufl.]
 9783658063917, 9783658063924

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Peter Kriwy Monika Jungbauer-Gans  Hrsg.

Handbuch Gesundheitssoziologie

Handbuch Gesundheitssoziologie

Peter Kriwy • Monika Jungbauer-Gans Hrsg.

Handbuch Gesundheitssoziologie mit 61 Abbildungen und 27 Tabellen

Hrsg. Peter Kriwy TU Chemnitz Chemnitz, Deutschland

Monika Jungbauer-Gans DZHW Hannover, Deutschland

ISBN 978-3-658-06391-7 ISBN 978-3-658-06392-4 (eBook) ISBN 978-3-658-06421-1 (print and electronic bundle) https://doi.org/10.1007/978-3-658-06392-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Lektorat: Katrin Emmerich Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Jedes Kapitel dieses Handbuchs ist das Ergebnis langjähriger Forschungserfahrung der beitragenden Autorinnen und Autoren. Ihnen möchten wir für die Erstellung ihrer Beiträge sehr herzlich danken. Die Idee, ein Handbuch Gesundheitssoziologie herauszugeben, entstand bei der Vorbereitung von einführenden Lehrveranstaltungen im Bereich der Gesundheitssoziologie, die den Bedarf für grundlegende Texte, die über die Untersuchung sozialer Ungleichheit der Gesundheit hinausgehen, offensichtlich machte. Das vorliegende Handbuch umfasst verschiedene theoretische Perspektiven und Zugänge zur Gesundheitssoziologie, sodass die einzelnen Beiträge breit rezipiert werden können. Zur Entstehung des umfangreichen Bandes haben viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beigetragen – die Autorinnen und Autoren haben ihre Beiträge nach Rückmeldungen von Gutachterinnen und Gutachtern teilweise mehrfach überarbeitet. Fast alle haben auch Beiträge anderer begutachtet und damit zur Qualitätssicherung beigetragen. Natalie Rödel und Michele Haink haben die Fertigstellung der Druckausgabe als studentische Hilfskraft tatkräftig unterstützt. Darüber hinaus hat Daniel Hawig vom Springer Verlag die Entstehung des Handbuchs mit großer Geduld und hoher Professionalität begleitet. Den zahlreichen Beteiligten wird für ihr Engagement und ihre Unterstützung herzlich gedankt! Chemnitz Hannover Oktober 2020

Peter Kriwy Monika Jungbauer-Gans

V

Inhaltsverzeichnis

Teil I Was ist Gesundheit?

.................................

1

Ein soziologisches Konzept von Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Kriwy und Monika Jungbauer-Gans

3

Gesundheit und Lebensqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Schübel

13

Methoden in der Gesundheitssoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christiane Gross und Patrick Brzoska

31

Die Messung von Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johann Carstensen

51

Was ist Gesundheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jonas Rees und Martin Diewald

71

Teil II

..............................

87

Beiträge der Salutogenese zu Forschung, Theorie und Professionsentwicklung im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theodor Dierk Petzold und Ottomar Bahrs

89

Gesundheitssoziologie

Theoretische Perspektiven in der Gesundheitssoziologie . . . . . . . . . . . . Thomas Gerlinger

117

Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention - soziologisch beobachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Krajic, Christina Dietscher und Jürgen Pelikan

137

Soziale Ungleichverteilungen von Gesundheit und Krankheit und ihre Erklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siegfried Geyer

169

Lebensstil und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingmar Rapp und Thomas Klein

193

VII

VIII

Teil III

Inhaltsverzeichnis

Ungleichheit und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gender und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Birgit Babitsch, Nina-Alexandra Götz und Julia Zeitler Arbeit und Beschäftigung als Determinanten ungleicher Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Siegrist und Nico Dragano

213 215

235

Gesundheitliche Ungleichheiten und soziale Beziehungen . . . . . . . . . . . Nico Vonneilich und Olaf von dem Knesebeck

253

Health Literacy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Lenartz, Renate Soellner und Georg Rudinger

275

Familie und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oliver Arránz Becker, Katharina Loter und Sten Becker

293

Die Gesundheit von Menschen mit Migrationshintergrund aus sozialepidemiologischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Brzoska und Oliver Razum

319

Mensch, Medizin, Technik – Systeme einer vernetzten Gesundheit . . . . Christoph Dockweiler und Claudia Hornberg

337

Teil IV

Lebensverlaufsperspektive und Ungleichheit . . . . . . . . . .

357

Gesundheitliche Ungleichheit im Lebenslauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Henriette Engelhardt-Woelfler und Liliya Leopold

359

Kindheit und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Schübel und Katharina Seebass

373

Lebensverlaufsperspektive und soziale Ungleichheit . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Klocke, Sven Stadtmüller und Andrea Giersiefen

397

Gesundheit im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martina Brandt, Judith Kaschowitz und Patrick Lazarevic

419

Kausale Beziehungen zwischen sozialem Status und Gesundheit aus einer Lebensverlaufsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rasmus Hoffmann, Hannes Kröger und Eduwin Pakpahan

437

Teil V

461

Gesundheitsorganisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kooperative Versorgungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Doris Schaeffer und Kerstin Hämel

463

Palliative Care und Hospiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werner Schneider und Stephanie Stadelbacher

481

Inhaltsverzeichnis

IX

Datengrundlagen für gesundheitssoziologische und sozialepidemiologische Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Müters und Thomas Lampert

511

Gesundheit in und von Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Svenja Kockert und Thomas Schott

535

Führung und Gesundheit der Beschäftigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Gregersen, Sylvie Vincent-Höper, Heike Schambortski und Albert Nienhaus

559

Teil VI

Regionale Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

581

Regionale gesundheitliche Ungleichheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Kriwy, Stefan Neumeier und Andreas Klärner

583

Zur Bedeutung von Umweltqualitäten und sozialen Verhältnissen als Gesundheitsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michaela Liebig-Gonglach, Andrea Pauli und Claudia Hornberg

603

Gesundheitssystemtypologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nadine Reibling und Claus Wendt

625

Gesundheitliche Ungleichheit im internationalen Vergleich . . . . . . . . . . Johanna Muckenhuber und Hannah Volk-Jesussek

645

Teil VII

673

Gesundheitssystem

...............................

Gesundheitspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Gerlinger und Rolf Rosenbrock Krankenversicherungen als Agenten und Akteure in einem Gesundheitssystem der Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Zerth

675

701

Leistungserbringer im deutschen Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . Florian Meier, Kristina Kast und Oliver Schöffski

723

Teil VIII

749

Gerechtigkeit und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Umgang mit Mittelbegrenzung im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . Sabine Bossert und Daniel Strech

751

Kinderwunschbehandlung als entgrenzte Medizin? . . . . . . . . . . . . . . . . Charlotte Ullrich

771

Empirische Messung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit . . . . . . . . . Martin Siegel

791

Autorenverzeichnis

Oliver Arránz Becker Institut für Soziologie, Martin-Luther-Universität HalleWittenberg, Halle (Saale), Deutschland Birgit Babitsch FB 8 - Humanwissenschaften, Institut für Gesundheitsforschung und Bildung, Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland Ottomar Bahrs Institut für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Universität Göttingen, Göttingen, Deutschland Sten Becker Institut für Soziologie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Deutschland Sabine Bossert Stabsstelle ZukunftsCampus (ZC), Forschungszentrum Jülich GmbH, Jülich, Deutschland Martina Brandt Technische Universität Dortmund, Dortmund, Deutschland Patrick Brzoska Fakultät für Gesundheit, Universität Witten/Herdecke, Witten, Deutschland Johann Carstensen Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung GmbH (DZHW), Hannover, Deutschland Christina Dietscher Fonds Gesundes Österreich, Wien, Österreich Martin Diewald Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland Christoph Dockweiler Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland Nico Dragano Institut für Medizinische Soziologie, Medizinische Fakultät, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland Henriette Engelhardt-Woelfler Department of Sociology, Unversität Bamberg, Bamberg, Deutschland Thomas Gerlinger Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland XI

XII

Autorenverzeichnis

Siegfried Geyer Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland Andrea Giersiefen FZDW Forschungszentrum Demografischer Wandel, Frankfurt University of Applied Sciences, Frankfurt a. M., Deutschland Nina-Alexandra Götz FB 8 - Humanwissenschaften, Institut für Gesundheitsforschung und Bildung, Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland Sabine Gregersen Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), Hamburg, Deutschland Christiane Gross Institut für Politikwissenschaft und Soziologie, Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Würzburg, Deutschland Kerstin Hämel Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland Rasmus Hoffmann Institut für Soziologie und Demographie, Universität Rostock, Rostock, Deutschland Claudia Hornberg Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland Monika Jungbauer-Gans Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) und Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland Judith Kaschowitz Technische Universität Dortmund, Dortmund, Deutschland Kristina Kast Lehrstuhl für Gesundheitsmanagement, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Nürnberg, Deutschland Andreas Klärner Institut für Ländliche Räume, Johann Heinrich von ThünenInstitut, Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei, Braunschweig, Deutschland Thomas Klein Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland Andreas Klocke FZDW Forschungszentrum Demografischer Wandel, Frankfurt University of Applied Sciences, Frankfurt a. M., Deutschland Svenja Kockert Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland Karl Krajic FORBA Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt, Wien, Österreich Peter Kriwy Technische Universität Chemnitz, Chemnitz, Deutschland Hannes Kröger Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Berlin, Deutschland Thomas Lampert Robert Koch-Institut, Berlin, Deutschland Patrick Lazarevic Institut für Demographie, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien, Österreich Norbert Lenartz working well: gute Arbeit, Konstanz, Deutschland

Autorenverzeichnis

XIII

Liliya Leopold Department of Sociology, University of Amsterdam, Amsterdam, The Netherlands Michaela Liebig-Gonglach Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland Katharina Loter Institut für Soziologie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Deutschland Florian Meier Department für Ökonomie und Management, Wilhelm Löhe Hochschule Fürth, Fürth, Deutschland Johanna Muckenhuber FH Joanneum, Soziale Arbeit, Graz, Österreich Stephan Müters Robert Koch-Institut, Berlin, Deutschland Stefan Neumeier Institut für Ländliche Räume, Johann Heinrich von ThünenInstitut, Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei, Braunschweig, Deutschland Albert Nienhaus Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland Eduwin Pakpahan Department of Political and Social Sciences, European University Institute, San Domenico di Fiesole, Italien Andrea Pauli Fakultät Gesundheitswissenschaften, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland Jürgen Pelikan Gesundheit Österreich GmbH, Wien, Österreich Theodor Dierk Petzold Institut für Allgemeinmedizin Universität: Medizinische Hochschule Hannover, Zentrum für Salutogenese, Bad Gandersheim, Deutschland Ingmar Rapp Max-Weber-Institut für Soziologie, Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland Oliver Razum Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Abt. Epidemiologie & International Public Health, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland Jonas Rees Zentrum für interdisziplinäre Forschung, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland Nadine Reibling Universität Siegen, Siegen, Deutschland Rolf Rosenbrock Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Gesamtverband e.V., Berlin, Deutschland Georg Rudinger Universität Bonn, Bonn, Deutschland Doris Schaeffer Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland Heike Schambortski Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), Hamburg, Deutschland Werner Schneider Universität Augsburg, Augsburg, Deutschland

XIV

Autorenverzeichnis

Oliver Schöffski Lehrstuhl für Gesundheitsmanagement, Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg, Nürnberg, Deutschland Thomas Schott Institut für pädagogik, Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg, Erlangen, Deutschland Thomas Schübel IUBH München, München, Deutschland Katharina Seebass Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg, Nürnberg, Deutschland Martin Siegel Fachgebiet Empirische Gesundheitsökonomie, Technische Universität Berlin, Berlin, Deutschland Johannes Siegrist Institut für Medizinische Soziologie, Life-Science-Center, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland Renate Soellner Universität Hildesheim, Hildesheim, Deutschland Stephanie Stadelbacher Universität Augsburg, Augsburg, Deutschland Sven Stadtmüller FZDW Forschungszentrum Demografischer Wandel, Frankfurt University of Applied Sciences, Frankfurt a. M., Deutschland Daniel Strech Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland Charlotte Ullrich Medizinische Fakultät, Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland Sylvie Vincent-Höper Institut für Psychologie, Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland Hannah Volk-Jesussek Institut für Soziologie, Universität Graz, Graz, Österreich Olaf von dem Knesebeck Institut für Medizinische Soziologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland Nico Vonneilich Institut für Medizinische Soziologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland Claus Wendt Universität Siegen, Siegen, Deutschland Julia Zeitler FB 8 - Humanwissenschaften, Institut für Gesundheitsforschung und Bildung, Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland Jürgen Zerth Wilhelm Löhe Hochschule Fürth, Fürth, Deutschland

Teil I Was ist Gesundheit?

Ein soziologisches Konzept von Gesundheit Eine Einführung Peter Kriwy und Monika Jungbauer-Gans

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 2 Aufbau des Handbuchs Gesundheitssoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Zusammenfassung

Die Frage, wie eine sozialwissenschaftliche Perspektive zu Gesundheit und Gesundheitsförderung beitragen kann, ist nicht einfach zu beantworten. Dass Gesundheit ein zentrales Feld der Daseinsvorsorge und deren wissenschaftlicher Analyse ist, ist unbestritten. Welche Rolle eine sozialwissenschaftliche Befassung mit Gesundheit bzw. Krankheit spielt, werden die Beiträge in diesem Handbuch Gesundheitssoziologie zeigen. Dies beginnt damit, den Gegenstand der Analyse zu definieren: Soll man sich mit Gesundheit oder Krankheit oder einem Kontinuum zwischen beidem beschäftigen? Wie kann eine valide Messung aussehen, die Grundlage für eine sozialwissenschaftliche Analyse ist? Wie lassen sich Ursachen und Determinanten von Gesundheit theoretisch fassen? Mit jeder theoretischen Zugangsweise werden bestimmte Themen in den Vordergrund gestellt. Damit ist eine Fokussierung auf bestimmte Mechanismen verbunden, die bewusst alternative Ansätze ausklammert. Die Frage nach dem einzigen richtigen Ansatz ist hierbei nicht ausschlaggebend, sondern wie lassen sich die daraus abgeleiteten Fragestellungen empirisch prüfen und wie können empirisch bewährte Ansätze zu einem umfassenderen Erklärungsmodell miteinander verbunden werden. SoP. Kriwy (*) Technische Universität Chemnitz, Chemnitz, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Jungbauer-Gans Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) und Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Kriwy, M. Jungbauer-Gans (Hrsg.), Handbuch Gesundheitssoziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06392-4_1

3

4

P. Kriwy und M. Jungbauer-Gans

zialwissenschaftliche Ansätze stehen hierbei komplementär zu medizinischen und psychologischen Herangehensweisen. Sie sind eine notwendige Ergänzung, denn soziale Zusammenhänge interagieren vielfach mit biomedizinischen Prozessen bei der Entstehung von Krankheit, bei der Entwicklung von Resilienz gegen Krankheit und der Genesung. Dabei ist zudem zu berücksichtigen, dass mit Gesundheit bzw. Krankheit eine normative Komponente verbunden ist, die vorzugeben scheint, was gesellschaftlich wie individuell wünschenswert ist. Darüber hinaus stehen bei der Auseinandersetzung mit gesundheitsfördernden Faktoren und insbesondere auch bei der Versorgung aufgrund der gegebenen Beschränkung von Ressourcen Gerechtigkeitsaspekte im Vordergrund. Zentrales Ziel einer sozialwissenschaftlichen Befassung mit Gesundheit ist neben der Aufdeckung sozialer Wirkmechanismen die Frage, die selbstverständlich auch im Bereich Public Health forschungsleitend ist: Wie können die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zum Schutz von Gesundheit besser gestaltet werden? Schlüsselwörter

Gegenstand von Gesundheitssoziologie · Sozialwissenschaftlicher Zugang · Interdisziplinäre Forschung · Gesellschaftliche Rahmenbedingungen · Praktische Implikationen

1

Einleitung

Die Sicherung gesunden Lebens und die Förderung des Wohlbefindens von Menschen jeden Lebensalters wird als drittes der 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen genannt, was den hohen Stellenwert dieses Feldes für eine nachhaltige Entwicklung zeigt (https://www.un.org/sustainabledevelopment/health/). Gesundheit ist dabei ein Wert an sich, trägt aber auch zu wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Prosperität bei. Die Vereinten Nationen formulieren konkrete, weltweite Ziele für die Verbesserung der Gesundheit in bestimmten Zeiträumen, wie beispielsweise die Reduzierung von Kinder- und Müttersterblichkeit, die Beendigung von Epidemien übertragbarer Krankheiten und die Halbierung der Todesrate durch Verkehrsunfälle. Die Prävention von verhaltensbedingten Erkrankungen soll verstärkt und der Zugang zur Gesundheitsversorgung, verbunden mit einer entsprechenden finanziellen Absicherung der Versorgung, soll gewährleistet werden. Diese globale Perspektive erweckt den Eindruck, dass diese Ziele durch eine effiziente Gestaltung und Finanzierung des Gesundheitssystems, eine verbesserte Hygiene, den Zugang aller zur gesundheitlichen Versorgung und die Verringerung von Umweltverschmutzung oder weiterer verhältnispräventiver Maßnahmen, wie die Erhöhung der Verkehrssicherheit, erreicht werden können. Entsprechend müsste durch gesundheitspolitische Anstrengungen in allen Ländern das Gesundheitssystem und die Gesundheitsversorgung ausgebaut und der Umweltschutz etc. verbessert werden. Diese Maßnahmen in ihrer ganzen praktischen Bandbreite sind sicherlich hilfreich, um Gesundheit und Wohlbefinden weltweit zu verbessern. Dass die Gesundheits-

Ein soziologisches Konzept von Gesundheit

5

politik differenzierter agieren muss, um die ehrgeizigen Nachhaltigkeits-Ziele zu erreichen, wird im Anschluss an die verschiedenen Beiträge zu diesem Handbuch zur Gesundheitssoziologie deutlich. Eine soziologische Perspektive auf Gesundheit zeigt, dass vielfältige soziale und gesellschaftliche Mechanismen wirksam sind, die zu sozial ungleichen Gesundheitschancen führen (Bauer et al. 2008; Lampert et al. 2016; Richter und Hurrelmann 2009). Erst wenn diese Mechanismen in den gesundheitspolitischen Programmen und in der Struktur der Versorgung berücksichtigt werden, können gesundheitliche Ungleichheit reduziert und dadurch weitreichende Nachhaltigkeitsziele besser erreicht werden. Sozialwissenschaftlicher Zugang und interdisziplinäre Forschung Ein sozialwissenschaftlicher Zugang zum Thema Gesundheit konzentriert sich auf theoretische Erklärungen, die soziale Phänomene in ihrer Wechselwirkung mit Gesundheit untersuchen. Der Black Report (Townsend und Davidson 1982) prägte bereits die Unterscheidung von strukturellen bzw. materiellen Faktoren, die die Lebensbedingungen in den verschiedenen Domänen beschreiben, und individuellen Faktoren, d. h. insbesondere das Gesundheitsverhalten (Giesecke und Müters 2009). Bei der Analyse der Bedeutung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen spielt nicht nur das Wohlstandsniveau, die wirtschaftliche Prosperität und technologische Entwicklung (insbesondere im medizinischen Bereich) einer Gesellschaft eine Rolle, sondern zudem die Verteilung des Einkommens und der Lebenschancen, die als Ungleichheitsstruktur bezeichnet werden. Wilkinson und Pickett (2008) zeigen, dass relative Deprivation, d. h. die Ungleichheit der Einkommensverteilung in einer Gesellschaft, mit vielen Problemlagen wie frühe Elternschaft, schlechtes Gesundheitsniveau, Gewalt, geringer Schulerfolg, hohe Kriminalität, Drogenmissbrauch, Übergewicht etc. korrelieren. Darüber hinaus diskutieren die AutorInnen auch die kausale Beziehung von Einkommensungleichheiten und Gesundheit (Pickett und Wilkinson 2015). Gesundheitsverhalten per se ist also nicht losgelöst von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu verstehen, weil die Lebensbedingungen, also die familiäre Situation, Isolation und soziale Unterstützung, Interaktionen mit Freunden und Verwandten (Jungbauer-Gans 2002; Siegrist et al. 2009), die Arbeitssituation und Arbeitsbelastungen oder auch die Abwesenheit von Erwerbschancen bzw. Arbeitslosigkeit, die kulturellen Rahmenbedingungen, Werte, Normen, kulturelle Orientierungen, räumliche Mobilität und vieles mehr das Verhalten von Individuen prägen. Verschiedene soziologische und psychologische Modelle (z. B. Health Belief Model, transtheoretisches Modell, Sozial Kognitive Theorie, Diffusion von Innovation, vgl. Glanz et al. 2015) werden herangezogen, um Gesundheitsverhalten zu erklären. Dabei spielen auch Gesundheitswissen und -kompetenzen (Health Literacy, Abel und Sommerhalder 2015) eine Rolle, die Individuen helfen, eine Orientierung über ein gesundheitsförderliches Verhalten zu vermitteln. Spannend wird es für eine sozialwissenschaftliche Analyse, wenn festgestellt wird, dass Präventionsansätze nicht in ausreichendem Maße dazu führen, dass objektiv schädliche Verhaltensweisen eingestellt werden. Die Vielfalt der mit Gesundheit in Zusammenhang stehenden Lebensbereiche macht zudem deutlich, dass weitere Bindestrich-Soziologien und ihre spezifischen Theorieansätze (z. B. die Arbeits-

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P. Kriwy und M. Jungbauer-Gans

marktsoziologie, die Sozialpolitik, die Kinder- und Jugendsoziologie, die Alterssoziologie) von Bedeutung sind. Für die Analyse von Gesundheit lassen sich zuweilen keine einfachen Kausalhypothesen formulieren, weil es oft plausible Argumente für verschiedene, manchmal gleichzeitig wirkende Mechanismen gibt. Ein Beispiel hierfür ist die Wechselwirkung von Arbeitslosigkeit und Gesundheit (z. B. Dragano et al. 2008; Elkeles 2008). Der Verlust der Beschäftigung kann zu psycho-sozialen Belastungen führen, da Arbeit identitätsstiftend ist, die materielle Grundlage für eine angemessene Lebensführung darstellt und dazu beiträgt, den Tagesablauf zu strukturieren. Umgekehrt kann es sein, dass ein schlechter Gesundheitszustand, z. B. eine chronische Erkrankung, zum Verlust der Beschäftigung führt. Gleichzeitig sind die betrieblichen Rahmenbedingungen, Arbeitsbelastungen und Gratifikationskrisen (Siegrist 2008) von Bedeutung für Gesundheit. Ähnliche Argumentationen und komplexe Wechselwirkungen lassen sich finden für die Bedeutung sozialer Netzwerke, sozialer Einbindung, des familiären Kontexts und sozialer Isolation für die Gesundheit (Jungbauer-Gans 2002). In empirischen Analysen muss diese Struktur durch entsprechende Datengrundlagen und die Anwendung von Methoden der Kausalanalyse berücksichtigt werden. Die Analyse von Gesundheit erfordert interdisziplinäre Kooperation. Dies ist nicht nur bei der Frage relevant, wie soziologische und psychologische Mechanismen auf der einen Seite und medizinische und physiologische Mechanismen auf der anderen Seite zusammenwirken. Auch Makrofragestellungen, die die Gestaltung der Institutionen der Gesundheitsversorgung unter verschiedenen sozialpolitischen Regimes untersuchen oder Analysen der Wechselwirkungen von Kontexteinflüssen und individuellem Verhalten können beispielsweise von gesundheitsökonomischer Expertise und der Anwendung von Simulationsmethoden profitieren. Praktische Implikationen Die Analyse der Mechanismen zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit ist wichtig, um evidenzbasiert Implikationen für Präventionskonzepte und Gesundheitspolitik zu entwickeln. Vielfach werden diese Implikationen nicht nur das medizinische Versorgungssystem und den Zugang zu den entsprechenden Leistungen betreffen, sondern weitere Bereiche wie die Arbeitsmarktpolitik, die Umweltund Verkehrspolitik, die Bildungspolitik, Wissenschaft und Forschung. Zudem werden Wirtschaft, Freizügigkeit und Mobilität sowie gesellschaftliche Diskurse und Wertorientierungen, wie Freiheit und Selbstbestimmung adressiert.

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Aufbau des Handbuchs Gesundheitssoziologie

Das vorliegende Handbuch Gesundheitssoziologie spannt einen weiten Bogen beginnend mit der Frage, wie definiert und operationalisiert die Gesundheitssoziologie ihren wesentlichen Gegenstand, die Gesundheit. Zentral für eine soziologische Befassung mit dem Thema Gesundheit ist auch die theoretische Fundierung, die Erklärungen für empirische Phänomene und die Fundierung von Fragestellungen

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liefert (Jungbauer-Gans und Gross 2009). In den Beiträgen dieses Bandes werden der aktuelle Forschungsstand in den verschiedenen Feldern zusammengefasst und verschiedene methodische Fragen adressiert. Ein wichtiger Analysegegenstand der Gesundheitssoziologie ist die soziale Ungleichheit von Erkrankungen und der Lebenserwartung. Der Beschreibung dieses Phänomens entlang vielseitiger Schwerpunktsetzungen wird ein zentrales Kapitel dieses Handbuchs gewidmet. Inhaltlich setzt sich diese Diskussion auch in dem Kapitel zu Gesundheit im Lebensverlauf fort. Nach dieser mikrosoziologischen Analyse von Gesundheit und ihren Determinanten werden auch die organisationale Mesoebene zentraler Organisationen im Gesundheitswesen, die Bedeutung des regionalen Kontextes und die Gestaltung des Gesundheitssystems in den folgenden Kapiteln in den Blick genommen. Der Bogen von der mikro- zur makrosoziologischen Perspektive mündet in einen philosophisch-ethischen Diskurs zu verschiedenen Gerechtigkeitsfragen, die sich im Anschluss an die Diagnose einer gesundheitlichen Ungleichheit, aber auch in Bezug auf die Frage stellen, ob immer alle verfügbaren medizinischen Möglichkeiten aus gesellschaftlich-ethischen Gründen genutzt werden sollten. Das Handbuch Gesundheitssoziologie ist in acht Kapitel untergliedert. Diese Kapitel und die ihnen zugeordneten 37 Abschnitte werden im Folgenden skizziert. Kapitel 1 wirft die basale Frage auf, was Gesundheit ist und welche Facetten der wissenschaftlichen Beschäftigung im Zusammenhang mit dem Thema berücksichtigt werden können. Der Beitrag „Gesundheit und Lebensqualität“ von Thomas Schübel thematisiert die gesundheitsbezogene Lebensqualitätsforschung und hebt deren Relevanz für die Gesundheitssoziologie hervor. Lebensqualität wird hierbei im Licht subjektiver Zufriedenheit, der Bewertung von Krankheitsauswirkungen und der Einschätzung von körperlicher und psychischer „Funktionstüchtigkeit“ gesehen. Der Abschnitt „Methoden in der Gesundheitssoziologie“ von Christiane Gross und Patrick Brzoska bietet einen kurzen Überblick über qualitative Zugänge und eine ausführliche Darstellung der Herausforderungen quantitativen Arbeitens in der sozialwissenschaftlichen Gesundheitsforschung. Besonderes Augenmerk liegt auf der Operationalisierung von Gesundheits-Outcomes, der Datenerhebung sowie den Konzepten Selektivität und Endogenität. Der Bereich der Operationalisierung von Gesundheitsindikatoren wird von Johann Carstensen vertieft im Beitrag zur „Messung von Gesundheit“ thematisiert. Hier werden die Vor- und Nachteile der Messung selbsteingeschätzter Gesundheit (self-rated health, kurz SRH) vorgestellt. Im letzten Beitrag dieses Kapitels von Jonas Rees und Martin Diewald wird zur Frage „Was ist Gesundheit?“ das Wirken von Genen und Umwelt und deren Assoziation mit Gesundheit thematisiert. Um Erblichkeitsschätzungen vorzunehmen, werden überwiegend Zwillings- und Adoptionsstudien herangezogen. Im zweiten Kapitel wird der Schwerpunkt auf die theoretische Fundierung und den epistemischen Zugang der Gesundheitssoziologie gelegt. Während die Medizin überwiegend das Augenmerk auf den Bereich der Pathogenese legt, sich also eher auf die Entstehung und den Fortgang von Krankheiten spezialisiert, sehen SozialwissenschaftlerInnen ihre Aufgabe eher im Bereich der Salutogenese verortet. Hier geht es darum, Konzepte zu entwickeln und Mechanismen zu identifizieren, die dabei behilflich sind, dass Erkrankungen idealerweise gar nicht erst auftreten oder

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zumindest möglichst spät im Lebensverlauf einsetzen. Den Einstieg in dieses Kapitel bestreiten deshalb Theodor Dierk Petzold und Ottomar Bahrs mit ihrem „Beitrag der Salutogenese zu Forschung, Theorie und Professionsentwicklung im Gesundheitswesen“. Im Mittelpunkt steht hierbei Kohärenz bzw. Stimmigkeit und deren Regulation. Diese werden in ein dynamisches Modell integriert. Anschließend skizziert Thomas Gerlinger in „Theoretische Perspektiven in der Gesundheitssoziologie“ zunächst die Entwicklung der Gesundheitssoziologie mit einem Fokus auf die Formation der Bindestrichsoziologie in Deutschland. Anschließend werden verschiedene Ansätze vorgestellt (z. B. Humankapitaltheorie, Theorie des überlegten Handelns, Feministische Theorie) und Impulse in Richtung gesellschaftstheoretisch geprägter Theoriebildung gegeben. Im Beitrag von Karl Krajic, Christina Dietscher und Jürgen Pelikan zu „Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention“ werden die staatliche Verantwortung für Gesundheitsförderung, organisationale Settings sowie die individuelle Verantwortung zum Erhalt von Gesundheit diskutiert. Anschließend adressiert Siegfried Geyer die „Soziale Ungleichverteilungen von Gesundheit und Krankheit und ihre Erklärungen“. Ungleichheiten werden entlang spezifischer Erkrankungen aufgezeigt (z. B. Zahngesundheit, Diabetes, Herz- Kreislauferkrankungen) und die soziale Differenzierung entlang der Dimensionen Schulbildung, Beruf und Einkommen erörtert. Aufwärtsmobilität geht mit einer Verringerung von gesundheitlichen Ungleichheiten einher und wirkt sich gesundheitsförderlich aus. Der letzte Beitrag des Kapitels stammt von Ingmar Rapp und Thomas Klein zum Thema „Lebensstil und Gesundheit“. Hier wird das Gesundheitsverhalten nach den Bereichen Ernährung, Sport, Körpergewicht, Rauchen und Alkoholkonsum differenziert betrachtet. Das dritte Kapitel „Ungleichheit und Gesundheit“ ist mit insgesamt sieben Beiträgen das umfangreichste Kapitel des Handbuches. Birgit Babitsch, NinaAlexandra Götz und Julia Zeitler stellen in ihrem Beitrag zu „Gender und Gesundheit“ den Ansatz des Gender Mainstreamings vor und beleuchten die höhere Krankheitsanfälligkeit und geringere Sterblichkeit von Frauen gegenüber Männern, was als gesundheitsbezogenes Geschlechterparadox bezeichnet wird. Ungleiche Verhältnisse und ungleiche Gesundheit werden im Licht von Schließungsprozessen, Sozialkapital und Embodiment betrachtet. Johannes Siegrist und Nico Dragano thematisieren in ihrer Abhandlung den Bereich „Arbeit und Beschäftigung als Determinanten ungleicher Gesundheit“. Schwerpunkte liegen dabei auf dem Wandel der Erwerbsarbeit bezüglich physikalischer und psychosozialer Ressourcen sowie Beschäftigungsmerkmalen. Sie thematisieren, welche Bedeutung Kontrolle in der Beschäftigungssituation und Gratifikationskrisen für die Entstehung ungleicher Gesundheit haben. Nico Vonneilich und Olaf von dem Knesebeck stellen in „Gesundheitliche Ungleichheiten und soziale Beziehungen“ zunächst die Grundlagen der Netzwerkeinbindung vor, um in einem Modell direkte und Puffereffekte sozialer Ressourcen zu operationalisieren und schließlich empirische Belege für die Bedeutung der Netzwerkeinbindung für gesundheitliche Ungleichheit zu präsentieren. Norbert Lenartz, Renate Soellner und Georg Rudinger greifen mit ihrem Beitrag zu „Health Literacy“ Gesundheitskompetenzen auf. Zur Messung werden objektive und subjektive Verfahren unterschieden sowie empirische Belege zu Interventionen, Prävention und Verringe-

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rung gesundheitlicher Ungleichheit aufgezeigt. Oliver Arránz Becker, Katharina Loter und Sten Becker geben in ihrem Beitrag zu „Familie und Gesundheit“ einen Überblick über familiäre Beziehungen im Erwachsenenalter und bewerten vorliegende Befunde vor dem Hintergrund einer zur Feststellung von Kausalität angemessenen Analysemethodik. Höhere Wahrscheinlichkeiten von gesunden Personen, in Paarbeziehungen zu gelangen (Selektionseffekte) werden ebenso thematisiert wie mögliche gesundheitliche Vorteile aufgrund von partnerschaftlichen Bindungen (Kausationseffekt). Der Abschnitt zur „Gesundheit von Menschen mit Migrationshintergrund aus sozialepidemiologischer Sicht“ von Patrick Brzoska und Oliver Razum skizziert zunächst die gesundheitliche Lage von Menschen mit Migrationshintergrund, um anschließend Barrieren in der Versorgung sowie Chancen einer diversitätssensiblen Gesundheitsversorgung aufzuzeigen. Im letzten Beitrag des Kapitels adressieren Christoph Dockweiler und Claudia Hornberg in „Mensch, Medizin, Technik – Systeme einer vernetzten Gesundheit“ die Grundlagen technologiegestützter Kommunikation im Gesundheitswesen und die Möglichkeiten, Voraussetzungen und Probleme von E-Health. Das nächste Kapitel beschäftigt sich mit Gesundheit im Lebensverlauf. Der Einstieg ins Thema stammt von Henriette Engelhardt-Woelfler und Liliya Leopold. Ihr Beitrag „Gesundheitliche Ungleichheit im Lebenslauf“ legt Ungleichheiten im Laufe des Lebens und über Kohorten hinweg dar. Die folgenden drei Abschnitte fokussieren dann im Schwerpunkt Kindheit, Jugend und das höhere Alter. Der Beitrag „Kindheit und Gesundheit“ von Thomas Schübel und Katharina Seebass beginnt dabei mit den Besonderheiten physischer und psychischer Gesundheit bei Kindern und diskutiert Erfolgsfaktoren und Komplexität der Kindergesundheit. Andreas Klocke, Sven Stadtmüller und Andrea Giersiefen übernehmen anschließend die Fortführung der Lebensverlaufsperspektive in den Bereich der „Jugendgesundheit“. Zentral ist hierbei die Präsentation der „Equalisation These“. Empirische Analysen mit Daten der HBSC Studie und des SOEP runden das Bild ab. Martina Brandt, Judith Kaschowitz und Patrick Lazarevic gehen zu „Gesundheit im Alter“ über. Sie diskutieren Methodenprobleme epidemiologischer Alter(n)sforschung und widmen sich dem Bereich der Pflege. Der abschließende Beitrag dieses Kapitels „Kausale Beziehungen zwischen sozialem Status und Gesundheit aus einer Lebensverlaufsperspektive“ stammt von Rasmus Hoffmann, Hannes Kröger und Eduwin Pakpahan. Nach einem Überblick über den Stand der Forschung wird das Problem der Kausalität vertieft. Zudem werden eigene Analysen auf Basis von SHARE Daten vorgenommen. Kapitel fünf widmet sich dem Bereich der Gesundheitsorganisationen. Doris Schaeffer und Kerstin Hämel thematisieren „Kooperative Versorgungsmodelle“ und zeigen in diesem Zusammenhang epidemiologische Herausforderungen auf. Im Schwerpunkt widmen sie sich dem Beispiel der integrierten Gesundheitszentren, deren Bedeutung u. a. von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hervorgehoben wird. Der Beitrag „Palliative Care und Hospiz: Versorgung und Begleitung am Lebensende“ von Werner Schneider und Stephanie Stadelbacher behandelt Sterben und Tod aus soziologischer Perspektive, diskutiert Organisationsformen des Sterbeprozesses und präsentiert ausgewählte empirische Befunde zu Palliative Care. Stephan Müters und Thomas Lampert stellen in „Datengrundlagen für gesundheits-

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soziologische und sozialepidemiologische Analysen“ u. a. das Gesundheitsmonitoring des Robert Koch-Instituts, die groß angelegte Nako Gesundheitsstudie (ehemals Nationale Kohorte) und die von der WHO geförderte international vergleichende Gesundheitsbefragung an Schulen vor (Health Behaviour in School-aged Children, HBSC). Im Beitrag „Gesundheit in und von Organisationen“ von Svenja Kockert und Thomas Schott werden Gesundheitseinrichtungen einer organisationsoziologischen Betrachtung unterzogen und ein empirisches Beispiel der Organisationsforschung in Reha-Einrichtungen präsentiert. Im letzten Beitrag des Kapitels „Führung und Gesundheit der Beschäftigten“ geben Sabine Gregersen, Sylvie Vincent-Höper, Heike Schambortski und Albert Nienhaus einen Überblick über den Stand der Forschung zu Führung und Gesundheit von Beschäftigten und diskutieren Führungskonzepte sowie Gesundheit als Führungsaufgabe unter Berücksichtigung der Gestaltung von Arbeitsbedingungen zur Erlangung einer Präventions- oder Gesundheitskultur in Organisationen. Im nächsten Kapitel wird der regionale Gesundheitsbezug aufgegriffen, der sowohl für kleinräumige, nachbarschaftliche Perspektiven als auch für größere Gebietseinheiten (Bundesländer, Nationalstaaten) relevant ist. In welcher Granularität und mit welchen Kontextmerkmalen Regionen von Bedeutung sind, diskutieren Peter Kriwy, Stefan Neumeier und Andreas Klärner in ihrem Abschnitt zu „Regionale gesundheitliche Ungleichheiten“. Sie zeigen theoretische Überlegungen zur interaktiven Dimension regionaler Ungleichheit und relativer Deprivation auf. Zudem behandeln sie empirische Implikationen der Regionaleinheiten und die praktische Umsetzung geeigneter Berechnungen mit Mehrebenenanalysen. Der folgende Beitrag „Zur Bedeutung von Umweltqualitäten und sozialen Verhältnissen als Gesundheitsfaktoren“ von Michaela Liebig-Gonglach, Andrea Pauli und Claudia Hornberg stellt gesundheitsrelevante Belastungsfaktoren der sozialen und räumlichen Ungleichverteilung von Umweltqualitäten in den Vordergrund. In diesem Zusammenhang werden auch die Problemlagen möglicher Interventionen für Siedlungsräume aufgezeigt. Im Beitrag zu „Gesundheitssystemtypologien“ greifen Nadine Reibling und Claus Wendt Perspektiven des Gesundheitssystemvergleichs auf, die sich nach Institutionen und Charakteristika von institutionellen Ausgestaltungen differenzieren lassen. Überdies werden Gesundheitssystemtypologien anhand von Beispielländern verglichen. Das Kapitel wird abgerundet durch den Beitrag von Johanna Muckenhuber und Hannah Volk-Jesussek die im Abschnitt „Gesundheitliche Ungleichheit im internationalen Vergleich“ auf geeignete Erklärungsmodelle eingehen und die Determinanten der international variierenden Gesundheitschancen herausarbeiten. Das vorletzte Kapitel widmet sich den Makrofragestellungen der Gestaltung des Gesundheitssystems und der Gesundheitspolitik. Den Anfang macht hier der Beitrag von Thomas Gerlinger und Rolf Rosenbrock zur „Gesundheitspolitik“. Die Autoren gehen einleitend auf Handlungsfelder und Ziele der Gesundheitspolitik ein, um anschließend Handlungsebenen und Akteure zu untersuchen. Präventionspolitik wird dabei auch im Licht des Präventionsgesetztes betrachtet. Ferner wird auch das Thema Krankenversicherung skizziert. Dieser Bereich wird von Jürgen Zerth im Beitrag zu „Krankenversicherungen als Agenten und Akteure in einem Gesund-

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heitssystem der Zukunft“ vertieft. Der Wettbewerb unter den Versicherungen und die Risikogestaltung werden dabei ebenso zur Sprache gebracht wie die Spannung zwischen Kollektiv- und Individualversicherung. Im letzten Abschnitt des Kapitels „Leistungserbringer im deutschen Gesundheitswesen“ gehen Florian Meier, Kristina Kast und Oliver Schöffski auf Berufsgruppen und Leistungserbringer im Gesundheitswesen ein und betrachten dies differenziert nach ambulantem und stationärem Sektor. Das letzte Kapitel des Handbuchs widmet sich Fragen und Problemlagen im Bereich von Gerechtigkeit und Gesundheit. Der Einstieg ins Themengebiet wird dabei von Sabine Bossert und Daniel Strech vorgenommen. In ihrem Beitrag zu „Umgang mit Mittelbegrenzung im Gesundheitswesen“ werden zunächst die Kostenexplosion und die Finanzierung des Gesundheitswesens thematisiert. Anschließend sind Informationsasymmetrien und Vorschläge zur Vermeidung von Fehlversorgung im Fokus. Der zweite Beitrag des Kapitels von Charlotte Ullrich stellt die Frage nach „Kinderwunschbehandlung als entgrenzte Medizin?“. Hierbei wird zunächst diskutiert, inwiefern eine behandlungswürdige Krankheit vorliegt, wenn einem unerfüllten Kinderwunsch durch einen medizinischen Eingriff nachgeholfen werden soll. Gesetzliche und medizinische Regulierungen sowie moralische Pluralität und ökonomische Ungleichheit werden anschließend thematisiert. Zudem wird die ungleiche Integration von Frauen und Männern in diesem Prozess diskutiert. Der letzte Beitrag des Kapitels von Martin Siegel thematisiert die „Empirische Messung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit“. Zunächst wird die Messung thematisiert und der resultierende Informationsgewinn aufgezeigt. Zudem erfolgen eine Unterscheidung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit und die horizontale und vertikale Betrachtung von Gerechtigkeit. Der Beitrag wird darüber hinaus angereichert durch eine Übersicht zu empirischen Beispielen.

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Gesundheit und Lebensqualität Thomas Schübel

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Konzepte gesundheitsbezogener Lebensqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Messinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Empirische Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Kritik an der Lebensqualitätsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der Beitrag befasst sich mit gesundheitsbezogener Lebensqualitätsforschung und fragt nach deren Relevanz für die Gesundheitssoziologie. Dazu werden verschiedene theoretische Konzepte und einige wichtige Messinstrumente diskutiert und kritisiert. Es werden Vorschläge unterbreitet, wie im Rahmen gesundheitssoziologischer Analysen mit medizinischen Lebensqualitätsdaten umgegangen werden kann. „durch“ Es wird dafür plädiert, im Rahmen gesundheitssoziologischer Analysen mit medizinischen Lebensqualitätsdaten kritisch umzugehen. Schlüsselwörter

Gesundheit · Gesundheitsbezogene Lebensqualität · Gesundheitliche Ungleichheit · Wohlbefinden

T. Schübel (*) IUBH München, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Kriwy, M. Jungbauer-Gans (Hrsg.), Handbuch Gesundheitssoziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06392-4_2

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Einleitung

Lebensqualitätskriterien spielen seit 30 Jahren eine zentrale Rolle in der Medizin. Im Rückgriff auf medizinische Daten werden sie auch im Rahmen gesundheitssoziologischer Fragestellungen herangezogen, um Aussagen über sozial ungleich verteilte Gesundheitschancen zu treffen (z. B. Babitsch et al. 2009; Mielck 2012; Hoebel et al. 2013). So selbstverständlich wie stets behauptet ist die Bedeutung von Lebensqualitätsindikatoren allerdings keineswegs zumindest aus soziologischer Perspektive (Schübel 2016). „Lebensqualität“ dient in der Medizin als „Gesundheitsmaß.“ Meistens wird „Lebensqualität“ als multidimensionales Konstrukt verstanden, unter das mit unterschiedlicher Gewichtung körperliche, emotionale und soziale „Funktionsbereiche“ subsummiert werden (Fayers und Machin 2007, S. 5). Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert „Quality of Life as individuals’ perception of their position in life in the context of the culture and value systems in which they live and in relation to their goals, expectations, standards and concerns“ (WHOQOL Group 1997). Es geht also um die subjektive Wahrnehmung der eigenen Lebenssituation, für die hier Werte, Ziele, Erwartungen, Maßstäbe und Interessen als maßgeblich bestimmt werden. Indikatoren der Lebensqualität werden sowohl als Maß für den Gesundheitsstatus der Allgemeinbevölkerung herangezogen, als auch im Sinne von „Health Outcomes“ im Rahmen klinischer Studien (Bowling 1997, S. 1). Dort fungieren sie als Kriterien für Behandlungserfolge nach Maßgabe der subjektiven Beurteilungen („subjective measures“) durch Patienten und Patientinnen. Gesundheitsbezogene Lebensqualität im Kontext von Medizin, Epidemiologie und Public Health kann sonach als ein Kriterium verstanden werden, das Verwendung findet, um das emotionale und körperliche Wohlbefinden sowie die körperliche und psychosoziale Funktionsfähigkeit eines Menschen zu erfassen in Form einer subjektiven Einschätzung der betroffenen Person anlässlich des Vorliegens einer Krankheit, wobei letzteres nicht zwangsläufig der Fall sein muss. Soziologinnen und Soziologen haben von Beginn an mit dazu beigetragen, eine gesundheitsbezogene Lebensqualitätsforschung im medizinischen Kontext zu etablieren (z. B. Levine und Croog 1984; Siegrist 1990; Bowling 1997). Auf der anderen Seite wurde der Lebensqualitätsbegriff von soziologischer Seite eingehend kritisiert (Bury 1994; Michalos 2004; Armstrong 2009). Der vorliegende Beitrag versucht beiden Seiten gerecht zu werden und berichtet sowohl die einschlägigen Konzepte, Messinstrumente und empirischen Befunde als auch die Kritik an diesem Forschungsfeld. Der Beitrag gliedert sich im Folgenden in fünf Abschnitte. Zunächst werden verschiedene Konzepte gesundheitsbezogener Lebensqualität vorgestellt. Im zweiten Abschnitt werden exemplarisch drei Messinstrumente vorgestellt, die in der medizinischen Lebensqualitätsforschung eine wichtige Rolle spielen. Anschließend werden zentrale empirische Ergebnisse der Lebensqualitätsforschung referiert. Auf Grundlage einer eigenen Typisierung werden Studien, die den moderierenden Einfluss sozialer Faktoren auf den empirischen Zusammenhang zwischen Gesundheitsstatus und Lebensqualität fokussieren, als gesundheitssoziologisch besonders relevant hervorgehoben. Im vierten Abschnitt wird die medizinische Thematisierung

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von Lebensqualität medizinkritisch diskutiert. Ein Fazit mit möglichen Schlussfolgerungen für die gesundheitssoziologische Forschung rundet den Beitrag ab.

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Konzepte gesundheitsbezogener Lebensqualität

Die Berücksichtigung von Lebensqualitätsqualitätskriterien gilt in der Medizin als einschneidende Veränderung des Faches, weil nun erstmals systematisch die subjektive Sichtweise der Behandelten in den Fokus der Aufmerksamkeit gerät, „und zwar nicht als Indikator für die Wirksamkeit von Therapien, sondern als Indikator der vom Patienten beurteilten Befindlichkeit im Zusammenhang mit Krankheit und Therapie (Bullinger 1996, S. 18).“ Kriterien der Lebensqualität werden sonach nicht zwingend im Zusammenhang mit der Frage nach klinisch nachweisbaren Therapiewirkungen erhoben. Mit Aspekten der Lebensqualität werden medizinische Kriterien angesprochen, die über den engeren therapeutischen Rahmen hinausgehen, insofern sie den Lebensalltag von Patienten und Patientinnen betreffen (Siegrist 1990; Bowling 1997). Das starke Interesse der medizinischen Forschung an Lebensqualitätskriterien wird damit begründet, dass diese eine vielschichtigere und differenziertere Erfassung von Behandlungsergebnissen erlauben. Innerhalb der medizinischen Forschung wird „Lebensqualität“ als interdisziplinärer Terminus, konkret als politischer, ökonomischer und explizit auch als soziologischer Begriff ausgewiesen (z. B. WoodDauphinee 1999; Bullinger et al. 2000, S. 11; Kawecka-Jaszcz et al. 2013, S. 1). Von Beginn an (vgl. etwa Najman und Levine 1981, S. 107; Bigelow et al. 1982, S. 349) wurde das Lebensqualitätskonzept auch darüber legitimiert, dass es in den Sozialwissenschaften und in der politischen Planung bereits etabliert sei. Die Pioniere der gesundheitsbezogenen Lebensqualitätsforschung Najman und Levine (1981, S. 107) referieren in ihrem vielfach zitierten Artikel explizit auf frühe Hauptwerke der Sozialindikatorenforschung, und zwar unter anderen auf Bauer (1966) sowie Campbell und Converse (1972); Campbell et al. 1976). Campbell und Converse (1972) interessierten sich für die Bedeutung gesellschaftlichen Wandels für die Menschen („Human meaning of social change“). Unter dem Schlagwort „Quality of life“ war ab den 1950er-Jahren eine breite gesellschaftliche Debatte entbrannt, beginnend in den USA, in der es im Kern um das Vorhaben ging, angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung Fortschrittskriterien an die Hand zu bekommen, die eine Beurteilung der Güte gesellschaftlicher Veränderungsprozesse erlauben (vgl. zusammenfassend Knecht 2010). Analog entwirft ab den 1980erJahren der medizinische Lebensqualitätsdiskurs „Lebensqualität“ als Lösung für eine Fortschrittskrise der Medizin, die darin besteht, dass gerade aufgrund einer Vielfalt neuer Behandlungsmöglichkeiten Erfolgsnachweise und Behandlungsentscheidungen schwierig geworden sind. Eine einheitliche Konzeptspezifikation von „Lebensqualität“ gibt es nicht, im medizinischen Kontext (z. B. Spilker 1996, S. 6; Fayers und Machin 2007, S. 4; Kirch 2008, S. 1224) ebenso wenig wie im politisch-gesellschaftsbezogenen (z. B. Zapf 1972). Es wird jedoch immer wieder darauf verwiesen, der Ausdruck „Lebensqualität“

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sei intuitiv verständlich und bedeute je nach Studie etwas anderes (z. B. Fayers und Machin 2007, S. 4). Definitionen (bzw. Explikationen) gesundheitsbezogener Lebensqualität hingegen gibt es viele, und zwar in Form von Zusammenstellungen jeweils als relevant erachteter Indikatoren-Sets. Bei aller Unterschiedlichkeit stimmen sie darin überein, dass sie allesamt nach Zufriedenheiten und teilweise auch nach Symptomen fragen (etwa Beweglichkeit eines Gelenks). In einer Überblickstabelle bei Barofsky (2012, S. 30) finden sich vierzehn verschiedene Definitionsvarianten. Die Liste repräsentiert dabei lediglich eine nicht näher vom Autor begründete Auswahl. Die Definitionen (im Folgenden eine Auswahl daraus) lassen sich drei verschiedenen konzeptuellen Varianten zuordnen: 1) „Lebensqualität“ als Zufriedenheitsmaß bzw. als Wohlbefinden angesichts eines Vergleichs zwischen Wunsch und Wirklichkeit: „difference between perceived goals and actual goals (Calman 1987),“ „well-being that stems from satisfaction or dissatisfaction with the areas of life that are important to him/her“ (Ferrans 1990), „individual’s perception of their position in life in the context of the culture and value systems in which they live and in relation to their goals, expectations, standards, and concerns“ (WHO 1995). 2) „Lebensqualität“ als Bewertung von Krankheitsauswirkungen: „the value assigned to duration of life as modified by the impairments, functional states, perceptions, and social opportunities that are influenced by disease, injury, treatment, or policy“ (Patrick und Erickson 1993), „functional effect of an illness and its consequent therapy upon a patient, as perceived by the patient“ (Schipper et a1. 1996), „subjective assessment of the impact of disease and its treatment across the physical, psychological, social, and somatic domains of functioning and well-being“ (Revicki et a1. 2000). 3) „Lebensqualität“ als physische und psychische Funktionabilität, auch – aber nicht nur – angesichts von Krankheit: „well-being which is a composite of two components: 1) the ability to perform everyday activities (. . .) and 2) patient satisfaction with levels of functioning and the control of disease and/or treatmentrelated symptoms“ (Gotay et a1. 1992), „positive and negative aspects of dimensions, such as physical, emotional, social and cognitive functions, as well as the negative aspects of somatic discomfort and other symptoms produced by a disease and its treatment“ (Osoba 1994). Angesichts der Vielfalt möglicher Lebensqualitätskriterien gibt es zahlreiche Vorschläge zur Systematisierung der entwickelten Konzepte. Lindström (1992) hat vorgeschlagen, die Bedeutung von Lebensqualität danach zu differenzieren, zu welchem Zwecke der Ausdruck Verwendung findet. Im medizinischen Kontext gehe es dabei um Kriterien der Normalität, auf deren Basis Entscheidungen für medizinische Interventionen getroffen werden. Lindström (1992, S. 303) hat ein Konzept vorgelegt, in dem er mit Blick auf Public Health den Bogen spannt von inneren bis hin zu äußeren, gesellschaftlichen Ressourcen. Eine häufig zitierte Typisierung stammt von dem Soziologen Veenhoven (2000). Er differenziert Lebensqualität danach, ob sich der Qualitätsbegriff auf eine innere oder eine äußere Beschaffenheit beziehen soll und ob mit ihm grundsätzliche Chancen oder konkrete Folgen ange-

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sprochen werden. Hinsichtlich der inhaltlichen Bedeutung weist Veenhoven darauf hin, dass „there is a myriad of sub-meanings, most of which are known under different names“ (Veenhoven 2000, S. 11). Musschenga (1997, S. 14) unterscheidet zwischen „Lebensqualität“ als „normal functioning“, „satisfaction with life“ und „human development“, wobei er den ersten beiden größere Bedeutung einräumt. Weitere Systematisierungsvorschläge liegen zahlreich vor (vgl. exemplarisch Guyatt et al. 1989; Schalock 2004). Sie zeigen, dass es viele unterschiedliche Lebensqualitätskonzepte gibt. Allerdings werden nicht alle diese Konzepte gleichermaßen rezipiert. Die Messinstrumente beziehen sich realiter ohnehin weniger auf theoretisch abzuwägende Konzepte als auf bestimmte Sets von Dimensionen und Indikatoren.

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Messinstrumente

Spilker präsentierte bereits 1996 auf über 1000 Seiten Ansätze zur Erhebung von „Lebensqualität“ aus nahezu allen medizinischen Fachbereichen (Spilker 1996). Einen immer noch aktuellen Überblick über Lebensqualitätsskalen in der Medizin liefern Preedy und Watson (2010) in ihrem „Handbook of Disease Burdens and Quality of Life Measures.“ Vor allem ist zwischen krankheitsspezifischen und generischen (i.e. unabhängig vom Vorliegen bestimmter Krankheiten einsetzbaren) Instrumenten zu unterscheiden. Drei aktuelle Erhebungsinstrumente – ausgewählt aufgrund hoher Verbreitung – sollen näher erläutert werden: (a) In der Onkologie gelten die von der „European Organisation for Research and Treatment of Cancer (EORTC)“ (Aaronson et al. 1993) bereit gestellten Fragenmodule als Standard. (b) Am häufigsten findet in epidemiologischen Studien wohl der generische „MOS 36-Item Short-Form Health Survey (SF-36)“ (Ware und Sherbourne 1992) Anwendung. (c) Das „Manchester Short Assessment of Quality of Life“ (Priebe et al. 1999) und andere ähnliche Fragebögen spielen im psychiatrischen Bereich eine wichtige Rolle. Die Erhebung von „Lebensqualität“ mittels EORTC-Modulen erfolgt in einer Kombination aus einer allgemeinen Batterie von Fragen („QLQ-30“) und einem auf die spezielle Krankheit abzielenden Fragenkatalog. Im allgemeinen Teil werden 30 verschiedene Items aufgeführt, die von körperlichen Anstrengungen („eine schwere Einkaufstasche oder einen Koffer zu tragen“) über „Schlafstörungen“ und „Durchfall“ bis hin zu Fragen danach reichen, ob jemand „reizbar“ oder „niedergeschlagen“ sei. Der Fragebogen zielt also ab auf allgemeine Funktionen und Befindlichkeiten. Neben diesen Fragen, die allen Patienten und Patientinnen gestellt werden, gibt es krankheitsspezifische Module, zum Beispiel ein „Breast Module.“ Hier werden 23 Fragen gestellt, die von verändertem Geschmacksempfinden über Kopfschmerzen bis hin zu Fragen reichen, ob sich eine Patientin „weniger weiblich“, „mit Ihrem Körper unzufrieden“ fühle. Außerdem wird nach sexueller Aktivität und speziellen Veränderungen an der Brust gefragt. Die Lebensqualitätsaspekte reichen also von physiologischen Indikatoren und Funktionsstörungen bis hin zu subjektiven Befindlichkeiten. In einem anderen Modul, dem „Head and Neck Module“, gibt es 35 Fragen nach verschiedenen Schmerzsymptomen, Funktionsstörungen (z. B. Schluckbeschwerden) und nach sozialen Auswirkungen der Erkrankung

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(z. B.: „Hatten Sie Schwierigkeiten, unter die Leute zu gehen?“). Neben weiteren Einzelmodulen gibt es zusätzlich krankheitsübergreifend eine Skala mit Fragen zur Qualität der Aufklärung über die Krankheit und der medizinischen Behandlung. Zur Erfassung von gesundheitsbezogener „Lebensqualität“ ist der „MOS 36-Item Short-Form Health Survey (SF-36)“ (Ware und Sherbourne 1992; Ware 2003; vgl. für die deutsche Version: Bullinger 2000b) als generisches Instrument weit verbreitet (Bullinger und Morfeld 2007, S. 388). Als Dimensionen des SF-36 wurden festgelegt: (1) „Physical functioning“, (2) „Role limitations due to physical problems“, (3) „Bodily pain“, (4) „General health perceptions“, (5) „Vitality“, (6) „Social functioning“, (7) „Role limitations due to emotional problems“ und (8) „General mental health.“ „General mental health“ ist die zusammenfassende Bezeichnung der von Veit und Ware (1983) ursprünglich entwickelten Skalen zu „psychological distress and well-being.“ Die acht Kriterien des SF-36 sollen je zur Hälfte physische und psychische Gesundheit abbilden. Dazu werden 11 Fragen mit insgesamt 36 Items gestellt. Diese reichen vom allgemeinen Gesundheitszustand („In general, would you say your health is . . .“) über alltagsnahe Einschränkungen (z. B. Einkaufen, Arbeiten) bis hin zu Schmerzsymptomen, Befindlichkeitsstörungen („nervous“) und eingeschränkten Sozialkontakten. Eine Kurzversion des Fragebogens („SF-8“) kommt ebenfalls zum Einsatz. Als drittes Instrument soll noch das „Manchester Short Assessment of Quality of Life“ erwähnt werden. Priebe et al. (1999) haben damit eines der ersten psychiatrischen Instrumente, das „Quality of Life Interview“ (Lehman 1988; vgl. Katschnig 2006), weiterentwickelt. Die abgefragten Dimensionen sind im Vergleich zu Lehman (1988) gleich geblieben. Die 16 Fragen zielen allesamt auf Lebenszufriedenheit ab. Sie reichen von allgemeiner Lebenszufriedenheit („How satisfied are you with your life as a whole today?“) über die subjektive Zufriedenheit mit der finanziellen und der Wohnungssituation bis hin zum persönlichen Umfeld, dem Sexualleben und der Zufriedenheit mit Gesundheit und psychischer Gesundheit. Bei Katschnig et al. (2006) findet sich ein umfangreicher Überblick über weitere gängige Instrumente für den psychiatrischen Bereich. Ravens-Sieberer (2000) fasst die speziell für Kinder und Jugendliche entwickelten Messinstrumente zusammen (vgl. auch Eiser und Morse 2001 sowie Rajmil et al. 2004; zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität von Kindern siehe auch den Beitrag von Schübel und Seebaß in diesem Band). Im Vergleich der verschiedenen Ansätze zur Erhebung von „Lebensqualität“ zeigt sich die ganze Breite der mit „Lebensqualität“ angesprochenen Indikatoren, die von äußeren Lebensbedingungen über körperliche Merkmale bis hin zur eigenen Befindlichkeit und Lebenszufriedenheit reichen. Hunderte von Messkonzepte, die diese Indikatoren in unterschiedlicher Weise auswählen, wurden entwickelt (Überblick bei Preedy und Watson 2010; Garratt et al. 2002). Aus gesundheitsökonomischer Perspektive unterscheidet Schöffski (2012, S. 334) die vorliegenden Messinstrumente zum ersten nach der Aggregationsebene der Daten, also ob die Lebensqualitätsdaten als mehrdimensionales Profil oder daraus errechneter Indexwert vorliegen. Zum zweiten differenziert er zwischen krankheitsspezifischen und generischen sowie zum dritten zwischen ordinal und kardinal skalierten Messinstrumenten. Das Forschungs-

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feld erweist sich als entsprechend vielgestaltig. Die im nächsten Abschnitt referierten empirischen Befunde basieren auf äußerst unterschiedlichen Forschungsinteressen und Herangehensweisen. Ein bedeutender Unterschied besteht darin, ob als gesund oder als krank definierte Bevölkerungsgruppen untersucht werden.

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Empirische Befunde

Die im Folgenden referierten empirischen Studien beanspruchen keine vollständige Abbildung des Forschungsfeldes zu gesundheitsbezogener Lebensqualität zu liefern. Es soll aber zumindest das unübersichtliche Forschungsfeld derart systematisiert werden, dass deutlich werden kann, welche Perspektive für die Gesundheitssoziologie von besonderem Interesse sind. Da ein wesentlicher Aspekt gesundheitsbezogener Lebensqualitätskonzepte darin besteht, dass es per definitionem nicht (nur) um Indikatoren für die Wirksamkeit von Therapien geht (Bullinger 1996, S. 18), sind verschiedene theoretische Modelle denkbar, nach denen das trilaterale Verhältnis von Gesundheit/Krankheit, sozialen Faktoren und gesundheitsbezogener Lebensqualität bestimmt sein kann. Das Forschungsfeld kann in vier Subfelder unterteilt werden (siehe Tab. 1). Vier Typen von Lebensqualitätsstudien lassen sich unterscheiden: 1. Studien, die Messinstrumente gesundheitsbezogener Lebensqualität in einer explizit als gesund ausgewiesenen Population einsetzen. Differenzierte sozialwissenschaftliche Faktoren werden nicht berücksichtigt (mit Ausnahme weniger soziodemographischer Merkmale wie z. B. Wohnort, Alter, Geschlecht etc.) 2. Studien, die Messinstrumente gesundheitsbezogener Lebensqualität in einer explizit als gesund ausgewiesenen Population einsetzen. Differenzierte sozialwissenschaftliche Faktoren wie zum Beispiel Einkommen oder Erwerbsstatus werden berücksichtigt. 3. Studien, die gesundheitsbezogene Lebensqualität in einer explizit als krank ausgewiesenen Population untersuchen – weitestgehend ohne Berücksichtigung sozialwissenschaftlicher Faktoren. 4. Faktoren Studien, die gesundheitsbezogene Lebensqualität in einer explizit als krank ausgewiesenen Population untersuchen – unter Berücksichtigung sozialwissenschaftlicher Faktoren. Tab. 1 fasst die vier Studienkonzepte noch einmal zusammen. Tab. 1 Typen von Lebensqualitätsstudien

Untersuchungspopulation ist definiert als Quelle: Eigene Darstellung

gesund krank

Soziale Faktoren werden . . . nicht berücksichtigt berücksichtigt 1 2 3 4

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Die vier Subtypen werden im Folgenden erläutert und mit empirischen Befunden überblicksartig und ohne Anspruch auf Vollständigkeit veranschaulicht. 1. Der erste Typ findet sich unter anderen in bevölkerungsbezogenen Studien zum „well-being“ oder „Glück“ in einer Population. Selbst wenn solche Studien soziale Faktoren berücksichtigen (meist vergleichen sie lediglich Regionen), so werden sie hier nicht weiter berücksichtigt, weil sie einem Feld zuzuordnen sind, das gemeinhin nicht als Teil der Gesundheitssoziologie verstanden wird (vgl. etwa den „Deutsche Post Glücksatlas“: Raffelhüschen und Schöppner 2014). 2. Der zweite Typ umschreibt Studien, die Messinstrumente gesundheitsbezogener Lebensqualität in einer explizit als gesund ausgewiesenen Population einsetzen und dabei sozialwissenschaftliche Faktoren (mehr oder weniger) differenziert berücksichtigen. Soziale Faktoren beeinflussen in dieser Perspektive die gesundheitsbezogene Lebensqualität unabhängig von einem festgestellten (diagnostizierten) Gesundheits-/Krankheitsstatus. Ein solches Modell liegt Studien zugrunde, die generische Instrumente wie den SF-36 (und ähnliche wie etwa den EQ-5D, vgl. Euroqol Group 1990) einsetzen, ohne damit klinischen oder epidemiologischen Fragen im engeren Sinne nachzugehen. Als einflussreiche Faktoren auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität gelten Familienverhältnisse (Jiménez-Iglesias et al. 2015 für Heranwachsende) und berufliche Belastungen (Lerner et al. 1994). Der (familiäre) sozioökonomische Status von Kindern und Jugendlichen beeinflusst deren gesundheitsbezogene Lebensqualität (von Rueden 2006). WiegandGrefe et al. (2012) untersuchten die gesundheitsbezogene Lebensqualität von Kindern psychisch kranker Eltern und berichten, dass diese durch ein spezielles Interventionsprogramm verbessert werden konnte. Von Rueden et al. (2006) berichten einen positiven Einfluss der ökonomischen Situation in einer Familie auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität der Kinder. Ravens-Sieberer et al. (2013) berichten den Einfluss des Wohlstandsniveaus eines Staates auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität von Kindern. Drukker und Os (2003) berichten Einflüsse regionaler Deprivation auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität von Erwachsenen, positiv moderiert durch ein positives Gesundheits- und Konsumverhalten („healthy lifestyle“) und die positive Einschätzung der eigenen Nachbarschaft („social cohesion“). Kawachi und Berkman (2014) berichten einen positiven Einfluss von sozialer Kohäsion und Sozialkapital in einer Region auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität. Huguet et al. (2008) finden einen negativen Zusammenhang zwischen Haushaltseinkommen und gesundheitsbezogener Lebensqualität in den USA, aber nicht in Kanada. Als erklärende Variable vermuten sie Unterschiede im jeweiligen Gesundheitssystem. Robert et al. (2009) berichten auf Grundlage der US-amerikanischen „National Health Measurement Study“ Einflüsse von Einkommen und Bildung in allen Altersgruppen. Sie finden ein stärkeres Absinken der subjektiven Lebensqualität (Altersgruppe 35 bis 44 im Vergleich zu über 65) im Falle eines niedrigeren sozioökonomischen Status. Im Rahmen der „Whitehall II“-Studie berichten Hemingway et al. (1997), dass der soziale Gradient hinsichtlich gesundheitsbezogener

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Lebensqualität (je niedriger der soziale Status, umso niedriger die Lebensqualität) nicht auf das Vorliegen von Krankheiten zurückgeführt werden kann. 3. Der dritte Typus stellt eine weit verbreitete Variante klinischer Forschung dar. In solchen Studien fehlen in den allermeisten Fällen sozialwissenschaftlich relevante Angaben, die über Alter und Geschlecht hinausgehen. Die meisten klinischen Studien beziehen sich auf Untersuchungspopulationen mit bestimmten medizinischen Diagnosen ohne weitere Berücksichtigung sozialer Einflussfaktoren: beispielweise onkologische Diagnosen (Cramarossa et al. 2014), Rheuma (Meyer und Raspe 2010), orthopädische (Roposch 2005) oder psychiatrische Diagnosen (Connell et al. 2012). 4. Die in obiger Tabelle als vierter Subtyp ausgewiesene Studienvariante dürfte gesundheitssoziologisch das größte Potenzial in sich tragen. Hier geht es um Studien, die gesundheitsbezogene Lebensqualität in einer explizit als krank ausgewiesenen Population erheben, und zwar unter Berücksichtigung von Faktoren aus der Forschung zur sozialen Ungleichheit. Gefragt wird hier jeweils, ob angesichts einer vorhandenen Diagnose (bzw. anlässlich einer darauf bezogenen ärztlichen Intervention) die gesundheitsbezogene Lebensqualität von Individuen variiert in Abhängigkeit von sozialen Faktoren wie Arbeitslosigkeit, Einkommen, Bildung oder sozialer Unterstützung. Soziale Faktoren moderieren in dieser Perspektive den Zusammenhang zwischen Gesundheits-/ Krankheitsstatus (Diagnose) und Lebensqualität. Den Einfluss von Wohnverhältnissen und Wohnungslosigkeit auf die Lebensqualität bei diagnostizierter psychischer Krankheit (vgl. den Review von Kyle und Dunn 2008) berichten beispielsweise Weiner et al. (2010) und Salize (2006). Wallace et al. (2006) finden eindeutige StadtLand-Unterschiede in der gesundheitsbezogenen Lebensqualität bei psychisch kranken Kriegsveteranen. Bernklev et al. (2006) berichten einen mäßigen Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit bzw. Arbeitsunfähigkeit und Lebensqualität bei chronischer Darmentzündung, den stärksten Zusammenhang finden sie bei Vorliegen einer Erwerbsunfähigkeitsrente. Heider et al. (2007) fanden einen Einfluss des finanziellen Status auf die Lebensqualität im Falle einer diagnostizierten Schizophrenie. Kempen et al. (1999) berichten auf Grundlage eines niederländischen Gesundheitssurveys („Groningen Longitudinal Aging Study“) einen schwachen Einfluss des Bildungsgrades auf gesundheitsbezogene Lebensqualität bei Vorliegen einer chronischen Krankheit. Paterson et al. (2013) berichten auf Grundlage eines Reviews einen stabilen Zusammenhang zwischen sozialer Unterstützung und gesundheitsbezogener Lebensqualität im Falle von Prostatakrebs (ähnlich für Lungenkrebs Luszczynska et al. 2013). Kruithof et al. (2013) finden in einem Review stabile Einflüsse sozialer Unterstützung auf die Lebensqualität nach einem Herzinfarkt. Gallicchio et al. (2007) berichten, dass Männer im Vergleich zu Frauen ihre Lebensqualität und das Ausmaß der erhaltenen sozialen Unterstützung höher einschätzen, dass aber zwischen beiden Merkmalen kein Zusammenhang besteht. Bisegger et al. (2005) berichten auf Grundlage von KIDSCREEN-Daten ein Absinken der Lebensqualität bei Erwachsenen im Vergleich zu deren Angaben als Kinder bzw. Jugendliche. Zwischen den Messzeitpunkten lagen 12 Jahre. Bei Mädchen bzw. Frauen war

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der Abwärtstrend stärker. Kinge und Morris (2010) berichten auf Grundlage des „Health Survey for England“, dass Übergewicht und Adipositas im Falle eines geringeren sozioökonomischen Status einen stärkeren negativen Effekt haben auf die Lebensqualität. In den genannten Studien kommen sowohl krankheitsspezifische als auch generische Instrumente zum Einsatz. Die Typisierung der Lebensqualitätsforschung zeigt ein Untersuchungsfeld mit vielen und teils widersprüchlichen Facetten. Im nächsten Abschnitt wird auf kritische Positionen eingegangen, die von methodischen Diskussionen bis hin zu grundsätzlicher Ablehnung des Lebensqualitätsthemas reichen.

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Kritik an der Lebensqualitätsforschung

Seit langem werden in der empirischen Lebensqualitätsforschung methodische Probleme kritisch diskutiert. Zufriedenheitsangaben werden von den Antwortenden beständig an den eigenen Erwartungen angepasst, was zu einer Vielzahl (scheinbarer) Paradoxien zwischen äußeren Gegebenheiten und subjektiven Beurteilungen führt (vgl. für einen Überblick über entsprechende kognitive Prozesse Staudinger 2000; für eine sozialwissenschaftliche Grundsatzkritik an Zufriedenheitsmessungen vgl. Brand 2008). Unter dem Stichwort „Response Shift“ wird problematisiert, dass Angaben zur Lebensqualität über die Zeit variieren, dass dieses Problem jedoch prinzipiell methodisch handhabbar sei (Sprangers und Schwartz 1999). Deutlich wird, dass subjektive Aussagen über Lebensqualität stets Ergebnis von Abwägungsund Vergleichsprozessen sind. Immer wieder wurde die Meinung vertreten, dass „Lebensqualität“ gar nicht definierbar sei (z. B. Barofsky 2012). Oft wurde argumentiert, das Konzept „Lebensqualität“ sei mit seiner Operationalisierung hinreichend spezifiziert (zur Problematik operationaler Definitionen in den Sozialwissenschaften vgl. allerdings Rößler 1998). Es herrscht ein „Chaos der Definitionen von Variablen subjektiven Wohlbefindens“ (Mayring 1994, S. 51). Bullinger (2000a, S. 16) unterscheidet „Lebenszufriedenheit“ von „Lebensqualität“, gleichzeitig wird aber „Wohlbefinden“ in vielen Lebensqualitätsmessungen über Zufriedenheitsurteile erhoben. Damit wäre „Lebenszufriedenheit“ ein elementarer Bestandteil von „Lebensqualität.“ Bullinger spricht dagegen von einem nicht näher spezifizierten „konzeptuellem Bezug“ der beiden Phänomene. Weil unklar sei, was der Begriff bedeute und wie er mit anderen Begriffen im Verhältnis stehe, plädiert der Politikwissenschaftler Alex C. Michalos (2004) dafür, den Terminus „gesundheitsbezogene Lebensqualität“ ganz zu streichen. In einem systematischen Review zur Lebensqualitätsforschung in der Medizin ziehen Bakas et al. (2012) eine kritische Bilanz: „Thus, there were wide variations in terminology for analogous HRQOL concepts, making cross-study comparisons virtually impossible“ (Bakas et al. 2012, S. 10). Einen kritischen Ansatz verfolgt der Psychologe Rapley (2003), der in „Lebensqualität“ eher ein „sensitizing concept“ (a.a.O., S. 212) denn ein anwendbares Forschungskriterium sieht. Für den Mediziner Radoschewski (2000) ist die allgemeine Anwendung des Ausdrucks

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„Lebensqualität“ vor allem politischen Interessen geschuldet. Das sei der Grund, warum der Terminus nicht auf „definitiv kranke Personengruppen“ beschränkt bleibe. „Lebensqualität“ sei „vor allem ein auf die Argumentations- und Durchsetzungsfähigkeit im wissenschafts- und gesundheitspolitischen Umfeld ausgerichtetes, zweckorientiertes Agreement (Radoschewski 2000, S. 167). Bury (1994, S. 128) zieht die Rationalität, welche im Messen von „Lebensqualität“ anklingt, in Zweifel. Sie sei nur eine relative, denn „the language of ‚rationality‘ itself may serve to disguise its own contradictions, masking that today’s ‚rational‘ measure (or measurement) is tomorrow’s forgotten fashion“ (ebd.). Lebensqualitätsmaße seien keine „certain foundation for decisionmaking“ (ebd.). Der Mediziner und Soziologe Armstrong (Armstrong und Caldwell 2004, S. 368) sieht in der medizinischen Thematisierung von „Lebensqualität“ in erster Linie eine rhetorische Antwort auf ein politisches Problem. Normalerweise erfahre ein theoretisches Konzept inhaltliche Stabilität, je mehr es zu Messzwecken herangezogen werde. Im Falle von „Lebensqualität“ sieht er den umgekehrten Fall gegeben. Daran werde in der Medizin festgehalten, obwohl unklar sei, was es eigentlich zu messen gelte. Für Armstrong ist die Etablierung des Lebensqualitätsthemas nicht im eigentlichen Sinne medizinisch begründet, sondern in erster Linie politisch (ebd.). (1) Als ersten politisch motivierten Grund für die Etablierung des Lebensqualitätsthemas sieht er die politische Debatte in den 1960er- und 1970er-Jahren, in der gewichtige gesellschaftspolitische Fragen drängend geworden seien. (2) Zweitens habe die Hinwendung zu „Lebensqualität“ zu einer innermedizinischen Befriedung geführt. „Lebensqualität“ versprach ein ethisch rechtfertigbares Kriterium zu sein, das nur noch zu operationalisieren sei. (3) Drittens sei es mittels „Lebensqualität“ möglich geworden, medizinische Ziele auch jenseits der Heilung zu formulieren. Auf diese Weise sei „Lebensqualität“ zum „key index of success“ (a.a.O., S. 366) geworden angesichts des medizinischen Fortschritts, welcher der Medizin das Problem beschert, neue Erfolgs- und Entscheidungskriterien angeben zu müssen. Im Lichte der Analysen von Armstrong fungiert „Lebensqualität“ als Stabilisator (Armstrong 2009, S. 114) einer politisch in die Krise geratenen Medizin. Die hundertfach veröffentlichten „Instrumente“ mit dem Anspruch der Messung von „Lebensqualität“ sieht er vor allem als Ausdruck einer solchen unter politischem Druck zustande gekommenen Stabilisierung. Schübel (2016) sieht das medizinische Interesse am Lebensqualitätsthema darin begründet, direkt am Patienten bzw. an der Patientin legitimationsfähige Merkmale zu bestimmen, um ärztliches Handeln, Medikamentenzulassungen und Therapiestandards in Zeiten einer um Rationalität ringenden „modernen“ Apparate- und Pharmakomedizin überhaupt noch als rational („wissenschaftlich“) darstellen zu können. In Anrufung eines allgemeinen gesellschaftlichen Wertekonsenses (Lebensqualität als selbstverständliches Thema) knüpft der medizinische Lebensqualitätsdiskurs rein sprachlich an (alltägliche) Bedeutungsfelder an, von denen nicht gesagt werden kann, worin ihre wissenschaftliche Rationalität eigentlich genau besteht. „Lebensqualität“ dient als programmatisches „Fahnenwort.“ „Fahnenwörter“ sind „voluntaristisch getönte Signalausdrücke“ (Panagl 1998, S. 21). Bei aller Unbestimmtheit eint alle Bedeutungsvarianten deren Werteaufgeladenheit. Die Konnotationen des Ausdrucks „Lebensqualität“ reichen von den materialen Umständen

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bis hin zur Frage des Lebenssinns (Bülow 1984, S. 142). So ist es gerade die Polysemie des Ausdrucks Lebensqualität, die dessen Begriffskarriere befördert hat. Im Sinne einer philosophy of medicine wäre die Lebensqualitätsforschung möglicherweise dahingehend zu kritisieren, dass sie ihr Kernkonzept „Lebensqualität“ nicht hinreichend spezifiziert habe. Was aber kann von soziologischer Seite kritisch über Konzepte, Definitionen und Messverfahren in der Medizin gesagt werden, wenn in den medizinischen Debatten selbst eine „einheitliche Definition“ von „Lebensqualität“ nicht für nötig befunden wird (z. B. Bullinger 1996, S. 15 f.), zwischen theoretischem Konzept und begrifflicher Definition nicht unterschieden wird (vgl. Schübel 2016, S. 151 ff.) und operationale Definitionen als ausreichend angesehen werden, um in pragmatischer Absicht ein Phänomen zu bezeichnen (wie etwa bei Bullinger 2002, S. 311)? Eine Kritik vor dem Hintergrund einer sozialwissenschaftlichen Methodologie – etwa als Frage nach der Vergleichbarkeit von Instrumenten oder Stichproben – muss ins Leere laufen, denn unterschiedliche Operationalisierungen von „Lebensqualität“ werden in der Medizin – als einer praktischen Disziplin – praktisch begründet: Eine operationale Definition wird als ausreichend für medizinische Belange hingestellt. In der Folge verzichtet die klinische Forschung auf eine Problematisierung der Vergleichbarkeit von Messkonzepten. Etwas anders sieht es mit Blick auf bevölkerungsbezogene Aussagen im Rahmen epidemiologischer Studien aus. Hier wird das Problem der Vergleichbarkeit durch Normierung umgangen, indem hauptsächlich auf den SF-36 zurückgegriffen wird. Sehr viele der oben referierten Studien (zumindest der epidemiologischen) greifen auf den SF-36 zurück. Dieser besteht aus zwei Teilen, physische Gesundheit bzw. Funktionsfähigkeit einerseits und psychische Gesundheit andererseits. Das hat zur Folge, dass auch gesagt werden könnte, dass hier eher subjektive Gesundheit als eine davon konzeptionell unterscheidbare Lebensqualität erhoben wird. In der Medizin werden Lebensqualitätsindikatoren als nicht trennscharf gegenüber Konzepten subjektiver Gesundheit bzw. subjektiven Wohlbefindens kritisiert (Schumacher et al. 2003). Auch deshalb ist mit Blick auf soziologische Studien stets kritisch nach der soziologisch-inhaltlichen Bedeutung von „Lebensqualität“ zu fragen.

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Fazit

In doppelter Weise ist das Lebensqualitätsthema für die Gesundheitssoziologie relevant. (1) Das Thema spielt in der Medizin und darüber hinaus längst in anderen, so genannten medizinnahen Fächern eine zentrale Rolle. Außerdem wurde und wird das Lebensqualitätskonzept in der Medizin stets auch legitimiert mit Verweis auf dessen sozialwissenschaftlichen Bedeutungsgehalt. Insofern scheint es unumgänglich, sich von soziologischer Seite kritisch-konstruktiv mit der medizinischen Thematisierung von Lebensqualität auseinanderzusetzen. (2) Vor allem finden Lebensqualitätsindikatoren sowohl in klinischen als auch in epidemiologischen Studien standardmäßig Verwendung, so dass sich die Frage stellt, wie im Rahmen soziologischer (Sekundär-)Analysen von lebensqualitätsbezogenen Gesundheitsdaten mit

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solchen Indikatoren umgegangen werden kann. Dazu sollen zum Schluss des Beitrags einige Überlegungen erfolgen. In medizinischen Daten fehlen oftmals sozialwissenschaftlich differenzierte Indikatoren, auf deren Grundlage soziologisch begründete theoretische Zusammenhänge modelliert werden könnten. Soziale Faktoren werden im medizinischen Kontext letztlich wie alle Vorhersagevariablen als Marker gedeutet, deren Vorhersagewert sehr viel wichtiger ist als ihre Stellung im Rahmen eines (oftmals gar nicht vorhandenen) theoretischen Modells. Medizin ist eben nicht in erster Linie eine erkenntnisbezogene, sondern eine Handlungswissenschaft (Wieland 1975; Lanzerath 2000). Die empirische Gesundheitssoziologie könnte mit Blick auf klinische und epidemiologische Studien einen wichtigen Beitrag leisten, Zusammenhänge zwischen medizinisch definierten Outcomes und sozialen Faktoren zu erklären und zu verstehen. Dazu gehört im Rahmen einer quantitativen Forschung eine stärkere theoretische Modellierung der Zusammenhänge und eine systematische, theoretisch modellierte Einbeziehung von Drittvariablen (und nicht nur deren Kontrolle). Ein systematischer Review der medizinischen Forschungsliteratur unter gesundheitssoziologischer Perspektive steht dringend aus. Der mögliche theoretische Gehalt einer soziologischen Thematisierung von Lebensqualität liegt insbesondere in der Untersuchung von trilateralen Zusammenhängen zwischen (1) Faktoren sozialer Ungleichheit, (2) Gesundheitsmerkmalen bzw. Krankheitssymptomen und (3) subjektiven Befindlichkeiten bzw. Zufriedenheitsäußerungen. Diesen Komplex zu beleuchten ist jedoch nur möglich, wenn die zugrunde liegenden Konzepte „in sociological terms“ deutlich werden. Wenn die Belegung von positiv bewerteten Phänomenen des Alltag(er)lebens mit dem Label „Lebensqualität“ irgendeinen theoretischen und anwendungsorientierten Sinn haben soll, dann nur, wenn auf diese Weise komplexe Wechselwirkungsprozesse greifbar werden, die nicht bereits anders bezeichnet sind. Studien zum Wohlbefinden, zur Zufriedenheit oder zur alltäglichen Lebensführung von Menschen sollten – zumindest in der Soziologie – auch so heißen (und nicht Lebensqualitätsstudien). Einzelne Indikatoren in Gesundheitsdaten, etwa Zufriedenheitsitems, können – auch jenseits ihrer medizinischen Verwendung als Indikatoren für Lebensqualität – unter Rückgriff auf soziologische Theoriezusammenhänge rekonzeptualisiert und damit als Indikatoren für zu spezifizierende soziologische Konzepte aufgefasst werden (vgl. zum Ansatz der Rekonzeptualisierung von Sekundärdaten Kiecolt und Nathan 1985). „Lebensqualität“ ist im medizinischen Kontext ein programmatischer Begriff und Indikatoren für „Lebensqualität“ sind Ergebnisse medizinischer Standardisierungsprozesse. Medizinische Konzepte und Kriterien sind stets normativ und darauf ausgerichtet, dass sie Unterscheidungen produzieren zwischen Behandlungsoptionen. Im Rahmen soziologischer Gesundheitsforschung sprechen die Indikatoren keine selbstverständliche Sprache. Entsprechende: medizinkritische Erkenntnisse einer sociology of medicine sollte auch die sociology in medicine stärker berücksichtigen (vgl. zu dieser Unterscheidung Straus 1957). Vermutlich könnte auch die medizinische Forschung sehr von einer sozialwissenschaftlichen Forschung profitieren, die sich grundsätzlich an ihren eigenen Konzepten orientiert und medizinische Indikatoren stets kritisch hinterfragt.

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Methoden in der Gesundheitssoziologie Christiane Gross und Patrick Brzoska

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Qualitative Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Quantitative Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Forschungsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit und aktuelle Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der Beitrag liefert eine Einführung in qualitative und quantitative Methoden der Gesundheitssoziologie. Die Ausführungen zur qualitativen Forschung beziehen sich insbesondere auf die Fallauswahl sowie unterschiedliche Strategien der Datenerhebung und -analyse. Im Rahmen der quantitativen Methoden werden zunächst Gütekriterien der Messung sowie Operationalisierungen von Gesundheits-Outcomes vorgestellt. Im Anschluss werden die einzelnen Schritte des Datenerhebungsprozesses präsentiert, wobei auf spezielle Designs der Gesundheitssoziologie und Epidemiologie eingegangen wird. Es folgen Überlegungen zu Forschungsethik sowie Mixed-Methods-Designs.

C. Gross (*) Institut für Politikwissenschaft und Soziologie, Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Würzburg, Deutschland E-Mail: [email protected] P. Brzoska Fakultät für Gesundheit, Universität Witten/Herdecke, Witten, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Kriwy, M. Jungbauer-Gans (Hrsg.), Handbuch Gesundheitssoziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06392-4_3

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C. Gross und P. Brzoska

Schlüsselwörter

Qualitative Methoden · Quantitative Methoden · Mixed-Methods-Ansatz · Forschungsethik · Gesundheitssoziologie

1

Einleitung

Empirische Forschung stellt die Grundlage der Entwicklung und Überprüfung wissenschaftlicher Theorien dar. Abgeleitet vom griechischen Wort empeiria (‚Erfahrung‘) hat die empirische Forschung das Ziel, Erkenntnisse durch die Auswertung von (Alltags-)Erfahrungen zu gewinnen. In der Gesundheitssoziologie bezieht sich das Erkenntnisinteresse dabei im weitesten Sinne auf den Zusammenhang von Gesundheit und Gesellschaft. Um diese Erfahrungen auszuwerten, bedient sich die empirische Sozialforschung zweier sich gegenseitig ergänzender Forschungsparadigmen: der qualitativen und der quantitativen Forschung. Beide Forschungsstrategien folgen dabei einer unterschiedlichen Forschungslogik und werden bei der Bearbeitung (gesundheits-)soziologischer Fragestellungen entweder einzeln oder aber – und dies ist zunehmend der Fall – in Kombination eingesetzt, um Synergieeffekte zu nutzen (Flick 2011). Für letzteren Fall wird auch „der Begriff Mixed-Methods-Ansatz“ verwendet. Die Grenzen zwischen qualitativer und quantitativer Forschung sind teilweise fließend. Die Entscheidung darüber, welche Methoden zum Einsatz kommen und wie sie umgesetzt werden, hängt dabei stets von der konkreten Forschungsfrage und dem zu untersuchenden Gegenstandsbereich ab. Während quantitativen Forschungsansätzen in der Regel eine bestimmte Theorie zur Grunde liegt und das Vorgehen auf die Testung daraus abgeleiteter Hypothesen ausgerichtet ist (Bryman 2015), kann qualitative Forschung von theoretischen Vorannahmen ausgehen oder frei von Vorannahmen die Theorieentwicklung zum Ziel haben (Yin 2014; Glaser und Strauss 2012). In beiden Forschungsparadigmen können sowohl Primär- als auch Sekundärdaten zum Einsatz kommen (Goodwin 2012; Medjedovic 2014). Bei Primärdaten handelt es sich um Forschungsdaten, die eigens für eine wissenschaftliche Fragestellung erhoben und ausgewertet werden. Sekundärdaten sind hingegen Daten, die ursprünglich zu einem anderen Zweck erhoben und dann zur weiteren Verwendung für die eigene wissenschaftliche Fragestellung zweitverwertet werden. Im Rahmen dieses Beitrages geben wir einen Überblick über den qualitativen und quantitativen Forschungsprozess. Wir beschreiben hierzu zunächst die grundlegenden Besonderheiten qualitativer Ansätze und widmen uns dann schwerpunktmäßig den quantitativen Methoden der Gesundheitssoziologie. Hierbei beschreiben wir neben den Herausforderungen der Operationalisierung gesundheitsbezogener Informationen auch unterschiedliche Forschungsdesigns, die für die Untersuchungen gesundheitsbezogener Fragestellungen herangezogen werden können. Abschließend widmen wir uns grundlegenden Aspekten des Datenschutzes und der Forschungsethik.

Methoden in der Gesundheitssoziologie

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Qualitative Forschung

Die qualitative Forschung folgt dem interpretativen Forschungsparadigma. Ihr Ziel ist es, ein vertieftes und umfassendes Verständnis von Phänomenen zu ermöglichen und Hypothesen über Wirkungszusammenhänge abzuleiten. Qualitative Forschungsmethoden können zum Beispiel in Forschungssituationen verwendet werden, in denen wenig über den Untersuchungsgegenstand bekannt ist. In diesem Fall dienen sie der Generierung von Hypothesen, die darauffolgend mittels quantitativen Forschungsansätzen getestet werden können. Aber auch der umgekehrte Weg kommt zur Anwendung, bei dem qualitative Verfahren dazu eingesetzt werden, Erklärungen für Wirkungszusammenhänge aufzudecken, die in quantitativen Studien ermittelt wurden (siehe hierfür als Beispiel das Kapitel von Brzoska/Razum in diesem Buch, die illustrieren, wie qualitative Befragungen einen Beitrag dazu leisten können, Versorgungsunterschiede zwischen Bevölkerungsgruppen zu erklären). Auch im Bereich der Instrumentenvalidierung und -entwicklung sind qualitative Verfahren unabdingbar (Brzoska 2014; Willis 2015). Die Fallauswahl erfolgt in der qualitativen Forschung in der Regel bewusst und gezielt nach bestimmten Kriterien, die vorher festgelegt wurden oder sich aus der Datenerhebung selbst ergeben. Dies geschieht beispielsweise in der Form, dass Fälle rekrutiert werden, die für die Fragestellung besonders informationsreich sind und damit maximal-kontrastierende Vergleiche ermöglichen. Ziel ist dabei anders als in quantitativen Studien nicht die statistische Repräsentativität, sondern eine analytische Generalisierbarkeit. Die Stichprobengröße ist im Vergleich zur quantitativen Forschung vergleichsweise klein und darüber hinaus nicht von vornherein mittels einer statistischen Fallzahlplanung festgesetzt. Stattdessen handelt es sich bei der zu Forschungsbeginn festgelegte Zahl von zu erhebenden Fällen lediglich um Schätzwerte, die je nach dem Grad der erreichten Informationssättigung im Forschungsprozess angepasst werden (Auerbach und Silverstein 2003). Die Fallzahl variiert außerdem je nach gewähltem Auswertungsansatz. Während Verfahren wie die qualitative Inhaltsanalyse vergleichsweise viele Fälle auswerten, beschränken sich andere wie die Hermeneutik oder die Einzelfallanalyse teilweise auf sehr wenige oder auch nur einen einzelnen Fall (Baur und Blasius 2014). Der qualitativen Forschung im Allgemeinen steht ein breites Spektrum unterschiedlicher Datenerhebungsstrategien zur Verfügung. Dies umfasst u. a. verschiedene Interviewarten, Beobachtungen, Fokusgruppendiskussionen und Dokumentenanalysen. In der qualitativen Gesundheitsforschung werden als Erhebungsmethoden insbesondere Interviews und Fokusgruppendiskussionen häufig eingesetzt. In beiden Fällen wird die Datenerhebung dabei oft durch einen Leitfaden unterstützt, der dem/der Forschenden zur inhaltlichen Orientierung dient, so dass im Interview-/ Diskussionsverlauf alle notwendigen Themengebiete zur Sprache kommen. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einer halb- oder teilstandardisierten Befragung (im Gegensatz zur häufig in der quantitativen Forschung eingesetzten standardisierten Befragung, bei der die Fragefolge und der Wortlaut exakt vorgegeben sind). Fokusgruppendiskussionen zielen darauf ab, in einer Gruppe von Personen angeleitet durch eine/n Moderator/in einen Diskussionsprozess zu einem Thema

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C. Gross und P. Brzoska

zu initiieren und die Gruppenmeinung bzw. auch unterschiedliche Positionen zu diesem Thema zu erheben. Gegenüber Einzelinterviews liegt der Vorteil darin, dass Einstellungen und unterschiedliche Ansichten zu einem Thema oft detaillierter und schneller erfasst werden können (Loos und Schäffer 2001). Zu den leitfadengestützten Verfahren gehören auch Experteninterviews, bei denen Personen befragt werden, die möglichst objektiv und neutral Auskunft über einen bestimmten Untersuchungsgegenstand geben können (Meuser und Nagel 2009). Die gewonnen Befragungsdaten werden zur Erfassung meist auf Tonband oder digital aufgezeichnet und anschließend transkribiert. Hierfür stehen unterschiedliche Transkriptionsverfahren zur Verfügung (Kuckartz und Rädiker 2014). Zur Auswertung kann ein breites und heterogenes Spektrum unterschiedlicher Methoden eingesetzt werden, die sich in ihrer jeweiligen Herangehensweise teilweise stark voneinander unterscheiden. Während Verfahren wie die qualitative Inhaltsanalyse (Mayring 2010) eher sequenziell an das gesammelte Datenmaterial herangehen und es auf Basis zuvor oder im Auswertungsprozess gebildeter Kategorien auswerten, gehen Verfahren wie die Grounded Theory zirkulär vor. Dies bedeutet, dass die einzelnen Schritte der Fragestellungsformulierung, der Fallauswahl, der Datensammlung, der Datenauswertung und der Generalisierung/Theoriebildung bei Bedarf mehrmals wiederholt werden (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014). Alle Verfahren umfassen in der Regel die Schritte der Datenreduktion, der Veranschaulichung des Datenmaterials und des Ziehens von Schlussfolgerungen (Marvasti 2003). Die Auswertung qualitativer Daten erfolgt bei allen Verfahren heute meistens computergestützt, wofür unterschiedliche Softwarelösungen wie MAXQDA oder Atlas.ti zur Verfügung stehen (Kuckartz und Rädiker 2014), die neben textbezogenen Daten auch zur Verwaltung und Auswertung anderen Datenmaterials wie Videos und Bildern geeignet sind.

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Quantitative Methoden

Im Gegensatz zum qualitativen Forschungsparadigma folgt das quantitative Forschungsparadigma einer deduktiven Logik, d. h. aus der Theorie bzw. den Theorien werden Hypothesen abgeleitet, welche anschließend mittels quantitativer Daten getestet werden. Als Hypothesen gelten Aussagen, die üblicherweise in Form von „Je/desto“ bzw. „Wenn/dann“ Aussagen vorliegen oder Sätze, die gerichtete Effekte darstellen, z. B. „X wirkt sich positiv/negativ auf Y aus“. Je mehr Zustände eine Hypothese ausschließt bzw. je leichter sie zu falsifizieren ist, desto höher ist ihr Informationsgehalt (Diekmann 2017). Nach den Vorstellungen des radikalen bzw. naiven Positivismus wie ihn Karl Popper (1994 [1934]) propagierte, müssen widerlegte Hypothesen verworfen werden (Falsifikationsprinzip). Von dem naiven Falsifikationsprinzip ist man jedoch abgekommen, da u. a. Hypothesen mit einer gewissen statistischen Wahrscheinlichkeit auch zu Unrecht verworfen werden können (statistischer Fehler zweiter Art) und die Falsifikation von Hypothesen auch durch theorieunabhängige Faktoren bedingt sein kann, wie etwa eine fehlerhafte Operationalisierung der theoretischen Konstrukte. Zudem wird als Hauptkritikpunkt am

Methoden in der Gesundheitssoziologie

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Falsifikationsprinzip angeführt, dass in den Sozialwissenschaften (anders als etwa in den Naturwissenschaften) keine deterministischen Zusammenhänge vorliegen, sondern vielmehr probabilistische (Diekmann 2017). Eng mit dem Falsifikationsprinzip verbunden ist die Idee, dass sich auch soziale Gegebenheiten und Merkmale messen lassen, sprich in Zahlen ausgedrückt werden können.

3.1

Gütekriterien der Messung

Als klassische Gütekriterien einer Messung im Rahmen quantitativer Forschung gelten Objektivität, Reliabilität und Validität. Objektivität liegt dann vor, wenn die Anwendung eines Messinstruments durch unterschiedliche Personen zu den gleichen Messergebnissen führt. Als Maß für Objektivität lässt sich etwa der Korrelationskoeffizient zwischen den Messungen von Person A und B heranziehen (Diekmann 2017). Differenzierter betrachtet kann zwischen Durchführungsobjektivität und Auswertungsobjektivität unterschieden werden (Lienert 1969). Reliabilität beschreibt die Anforderung der Reproduzierbarkeit von Messergebnissen. Reliabilität kann dabei unterschiedlich bestimmt werden. Die Test-RetestReliabiltät (u. a. auch diachronic reliability) wird durch wiederholte Messung eines Gegenstandes bestimmt. Zu beachten ist hierbei, dass eine gewisse Konstanz des gemessenen Zustandes unterstellt werden muss. Ein Fieberthermometer, das zu 100 Prozent reliabel (und valide, siehe unten) ist, kann dennoch unterschiedliche Werte messen, wenn sich im Zeitverlauf die Körpertemperatur ändert. Bei der Paralleltest-Methode wird mit zwei unterschiedlichen Instrumenten bzw. durch zwei unterschiedliche Personen (interrater reliability) derselbe Untersuchungsgegenstand gemessen und so die Paralleltest-Reliabilität bestimmt. Die so genannte Testhalbierungs-Reliabilität (split-half reliability) wird dadurch bestimmt, dass das Messinstrument (wenn möglich) in zwei Hälften geteilt wird – z. B. je fünf Items einer Skala mit insgesamt zehn Items – und die Korrelationen zwischen den beiden Untersuchungsreihen berechnet werden (Diekmann 2017). Validität verweist auf die Anforderung, dass das gemessen wird, was auch gemessen werden soll. So kann die Gewichtsmessung eines Gegenstands mit einer Waage zwar hoch reliabel und objektiv sein, indem bei wiederholten Messungen durch unterschiedliche Personen immer der gleiche Wert auf der Waage erscheint. Ist die Waage jedoch falsch geeicht und gibt das Gewicht stets 1kg zu niedrig an, ist die Messung nicht valide. Bei dem Konzept Validität unterscheidet man zwischen Konstruktvalidität, Inhaltsvalidität und Kriteriumsvalidität. Konstruktvalidität (construct validity) verweist auf die Brauchbarkeit eines Messinstrumentes, z. B. einer Skala zur Messung der Lebensqualität, d. h. das gemessene Konstrukt sollte „mit möglichst vielen anderen Variablen in theoretisch begründbaren Zusammenhängen“ (Diekmann 2017, S. 258) stehen. Inhaltsvalidität (content validity) liegt vor, wenn möglichst repräsentative Items (gemessen an einem hypothetischen Universum aller möglichen Items) ein Konstrukt darstellen und das Konstrukt durch diese Items adäquat abgebildet wird. Inhaltsvalidität wird oft auch als Teil der Konstruktvalidität

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definiert. Kriteriumsvalidität (criterion-related validity) gibt die Übereinstimmung der gemessenen Werte mit einem Außenkriterium an (Diekmann 2017), z. B. die Übereinstimmung der Selbstangabe zu Diabetes mit den Ergebnissen einer Blutuntersuchung. Externe Validität (external validity) wird teils als viertes Gütekriterium, teils als Subkategorie der Validität aufgefasst. Sie verweist auf die Generalisierbarkeit der Befunde. Sie ist bei Studien, die unter Laborbedingungen durchgeführt wurden (etwa im Rahmen einer klinischen Studie), in der Regel geringer als bei Studien unter Alltagsbedingungen (beispielsweise in der klinischen Regelversorgung). Bei der konsequenten Anwendung der genannten Gütekriterien in der soziologischen Gesundheitsforschung werden u. a. folgende Herausforderungen sichtbar. Wie lassen sich vermeintlich harte Kriterien wie etwa Mortalität messen, wenn selbst die Definition, wann ein Mensch als tot gilt, als Ergebnis eines (Fach- oder auch Laien-) Diskurses gelten muss – folglich sozial konstruiert ist und die Definition von Raum und Zeit abhängig ist? Wie lässt sich das Konzept Krankheit definieren, wenn die Definition einzelner Diagnosen sich im Zeitverlauf verändert? Beispielsweise wurde Homosexualität bis 1990 in der International Classification of Diseases (ICD) als Krankheit gelistet und ADHS 1978 neu aufgenommen (siehe auch Gross et al. 2015).

3.2

Operationalisierung von Gesundheits-Outcomes

Eine Systematisierung von Gesundheits-Items nach dem zu messenden Konstrukt wird von Hofmann und Mühlenweg (2017)1 angeboten (siehe Tab. 1). Die Operationalisierung von Gesundheits-Items lässt sich durch die Art der Datenerhebung sowie das zu messende Konstrukt klassifizieren. Gross et al. (2015) stellen ein Klassifikationsschema bereit, das Gesundheitsdaten nach Art der Datenerhebung systematisiert (siehe Tab. 2). Details dazu, welche Daten von welchen Fehlerquellen bzw. Arten der Verzerrung betroffen sind, lässt sich ebenfalls bei Gross et al. (2015) nachlesen.

3.3

Durchführung von Primärerhebungen

Bevor eine Primärerhebungen durchgeführt wird, muss zunächst geprüft werden, ob zu der interessierenden Fragestellung nicht bereits die geeigneten Daten vorliegen

1

Hofmann und Mühlenweg (2017) orientieren sich wiederum an der Einteilung von Feinstein et al. (2006) und berichten alle Gesundheitsitems aus den Übnerblicksartikeln von Feinstein et al. (2006), Eide und Showalter (2011) und Grossman (2005). Die Auflistung der Einzelstudien wurde in Tab. 2 ausgelassen und kann Hofmann und Mühlenweg (2017) entnommen werden.

Methoden in der Gesundheitssoziologie

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Tab. 1 Klassifikation von Gesundheits-Outcomes nach Art der Datenquelle Datentyp Register-/Routinedaten und amtliche Statistiken Survey-Daten (Bevölkerung- und Gesundheitssurveys)

Subkategorie Krankenhausdaten Versicherungsdaten Sterberegister Interviews ohne (medizinisches) Fachpersonal

Selbsteingeschätzte Gesundheit oder Wohlbefinden Durch Probanden selbstberichtete Krankheiten Durch Probanden berichtete ärztliche Diagnosen (z. B. „Wurde bei Ihnen jemals durch einen Arzt/eine Ärztin Krankheit XY festgestellt?“) Interviews und/oder Untersuchungen durch (medizinisches) Fachpersonal (z. B. Bluttests) Mortalitätsdaten

Quelle: In Anlehnung an Gross et al. (2015, S. 554) Tab. 2 Überblick zu verwendeten Gesundheits-Items in Studien Gesundheitsergebnisse z. B. allgemeine Gesundheit („self-rated health“), Körperliche Beeinträchtigungen (Eigenangabe), Spezifische Erkrankungen (körperlich), Spezifische Erkrankungen (psychisch), Biomarker, Arbeitsunfähigkeit, Mortalität Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen z. B. Primärversorgung, fachärztliche Versorgung, Hospitalisierungen, Notdienstversorgung, Pflege, Prävention, Management von Erkrankungen/Compliance Gesundheitsverhalten und Gesundheitswissen z. B. Tabakkonsum, Alkoholkonsum, Konsum illegaler Drogen, Übergewicht/Adipositas, Gesunde Ernährung, Physische Betätigung, Gesundheitswissen Quelle: In Anlehnung an Hoffmann und Mühlenweg (2017, S. 55 f.)

und im Rahmen einer Sekundärdatenanalyse verwendet werden können (für Routinedaten siehe Swart et al. 2014). Nationale Befragungsdaten können über die Homepage der gesis – Leibniz Institut für Sozialwissenschaften – gesucht werden, währenddessen internationale Datensätze beispielsweise über die Homepage des Inter-University Consortium for Political and Social Research (ICPSR) recherchiert werden können. Auch die Recherche in klassischen Literaturdatenbanken der Gesundheitsforschung (z. B. Pubmed) kann dabei helfen, auf verfügbare Sekundärdatensätze zu stoßen. Auch wenn die Durchführung einer empirischen Untersuchung bereits bei der genauen Formulierung einer Forschungsfrage beginnt und erst bei der genauen Dokumentation der Ergebnisse endet, werden im Folgenden lediglich die zentralen Punkte des quantitativen Forschungsprozesses fokussiert. Dazu gehört eine adäquate Wahl von Untersuchungsform und -ebenen, die zu der Fragestellung passen (Abschn. 3.3.1), die Wahl der Stichprobenziehung und größe (Abschn. 3.3.2) sowie die Methoden der Datenerhebung (Abschn. 3.3.3) und -auswertung (Abschn. 3.3.4).

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3.3.1 Fragestellung, Untersuchungsform und -ebenen Generell unterscheidet man zwischen Querschnittsfragestellungen (Varianz zwischen Personen bzw. Untersuchungseinheiten, interindividuelle Unterschiede) und Längsschnittfragestellungen (Varianz innerhalb von Personen bzw. Untersuchungseinheiten, intraindividuelle Unterschiede). Dabei können ähnlich lautende Fragestellungen als Quer- oder Längsschnittfragestellung formuliert werden. Die Frage, ob Personen mit Kindern zufriedener sind als Personen ohne Kinder beschreibt eine Querschnittsfragestellung, währenddessen die Frage, ob die Geburt eines Kindes zu einem Anstieg der Zufriedenheit führt, eine Längsschnittfragestellung beschreibt (Giesselmann und Windzio 2012). Zudem können auch gesellschaftliche Veränderungen über die Zeit mittels Trenddesigns untersucht werden. Zentral ist, dass das gewählte Design (bzw. der Datensatz bei Sekundäranalysen) zur Fragestellung passt. Je nach Fragestellung können unterschiedliche Untersuchungsebenen einbezogen werden. Eine Untersuchungseinheit kann eine Person sein (Individualebene), ein Land, eine Firma o. ä. (Kollektiv-/Aggregatebene) oder aus mehreren Ebenen bestehen, wie etwa Schülerinnen und Schüler auf Ebene 1, Schulen auf Ebene 2 und Länder auf Ebene 3. Letzteres beschreibt ein Mehrebenendesign. In der Epidemiologie werden Untersuchungen, die nicht auf Individual- sondern Aggregatebene durchgeführt werden, als ökologische Studien bezeichnet. Ein Beispiel hierfür ist die Untersuchung des Zusammenhangs der Schadstoffbelastung in den Kreisen und kreisfreien Städte in Deutschland und der Mortalität in diesen Gebieten (Trojan und Legewie 1999; Razum et al. 2017). Zudem unterscheidet man Forschungsdesigns nach experimentellen, quasiexperimentellen und nichtexperimentellen (beobachtenden) Verfahren, die unterschiedliche Möglichkeiten in der Varianzkontrolle bzw. der Kontrolle von Störgrößen bieten. Bei Experimenten werden die Störgrößen durch die Randomisierung, d. h. die zufällige Aufteilung der Zielpersonen auf eine oder mehrere Versuchs- und Kontrollgruppen, kontrolliert. Personen der Versuchsgruppe wird dabei der inhaltlich interessierende Stimulus verabreicht; Personen der Kontrollgruppe erhalten je nach Fragestellung einen neutralen oder keinen Stimulus. Durch die Randomisierung können mögliche Unterschiede im Outcome kausal auf die Variation des Stimulus zurückgeführt werden, da die Störgrößen zufällig verteilt sind und dadurch kontrolliert werden. So kann beispielsweise die Wirkung eines Medikaments (Versuchsgruppe) gegenüber einem Placebo (Kontrollgruppe) experimentell im Rahmen einer randomisierten kontrollierten Studie getestet und der Effekt tatsächlich dem Stimulus zugeschrieben werden. Experimentellen Studien wird nach systematischen Reviews und Meta-Studien die nächsthöhere Erklärungskraft zugesprochen. Analog zu Experimenten spricht man in der klinischen Forschung von randomized controlled trials (RCT) (Aveyard und Sharp 2013). Personen werden dabei zufällig auf unterschiedliche Gruppen verteilt, die entweder eine neue Behandlungsmethode (man spricht hier oft von Intervention oder Treatment) oder die bislang angewandte Behandlungsmethode oder auch ein Placebo (Kontrolle) erhalten. Die Wirkung des Treatments kann bei gelungener Durchführung kausal interpretiert werden. Systematische Messfehler beim Outcome können durch „Verblindung“ (Forschende

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haben keine Kenntnis darüber, in welcher Gruppe sich die Probanden befinden, deren Outcome sie messen; ebenso wissen Patient/inn/en zur Vermeidung des Placebo-Effekts nicht, ob sie Teil der Interventions- oder Kontrollgruppe sind) zusätzlich vermieden werden (Peat 2002). Erfolgt die Zuordnung von Personen zu Gruppen nicht zufällig, sondern etwa auf Basis pragmatischer Gründe oder Patientenentscheidungen spricht man von non-randomized controlled trials (ebd.), die sich der Gruppe der quasi-experimentellen Studien zuordnen lassen. Bei Quasi-Experimenten sind einzelne Kriterien des Experiments – meist die Randomisierung – nicht erfüllt (Diekmann 2017). So können beispielsweise Schulen mit und ohne Gesundheitsförderungsprogramme hinsichtlich der Gesundheit ihrer Schülerinnen und Schüler im Rahmen von Evaluationsstudien untersucht werden. Ob die Gesundheit der Schülerinnen und Schüler jedoch wegen der Gesundheitsförderungsprogramme besser (oder schlechter) ist, kann kausal nicht zweifelsfrei identifiziert werden, weil sich die Schulen evtl. auch bzgl. anderer (teilweise unbekannter) Merkmale systematisch unterscheiden (unbeobachtete Heterogenität) oder bestimmte Eltern ihre Kinder gezielt auf diese Schulen schicken (Selektionseffekt). Im Rahmen von nicht-experimentellen Designs und auch bei quasi-experimentellen Designs sollen diese zusätzlichen Unterschiede in Form von Variablen in den Analysemodellen kontrolliert werden. Hierbei ist jedoch unklar, ob alle relevanten Variablen beobachtet und integriert werden und damit alle Störgrößen kontrolliert werden. Nicht-experimentelle Studien sind in der epidemiologischen Forschung vor allem Fall-Kontroll-Studien (case-control studies) sowie Kohortenstudien (cohort studies). Bei Fall-Kontroll-Studien werden erkrankte (Fälle) und nicht erkrankte Personen (Kontrollen) in Bezug auf eine oder mehrere unabhängige Variablen (Exposition; z. B. Schadstoffbelastung vor der Erkrankung) miteinander verglichen. Dabei wird ermittelt, welche Gruppe vor der Erkrankung häufiger exponiert war. Rückschlüsse auf eine kausale Beziehung zwischen Exposition und Outcome sind streng genommen nicht zulässig (siehe etwa Trojan und Legewie 1999), bzw. nur dann, wenn Selektions- und Informationsfehler vermieden werden können und jede relevante Drittvariable kontrolliert wurde (Razum et al. 2017). Von Kohortenstudien, einer Form der prospektiven Längsschnittstudie, wird in der Epidemiologie gesprochen, wenn eine Gruppe von exponierten und nicht-exponierten gesunden Personen (z. B. Raucher/innen und Nicht-Raucher/innen) über die Zeit beobachtet und dabei in beiden Gruppen der Anteil der Personen ermittelt wird, die das Outcome (z. B. eine Krebserkrankung) entwickeln. Aus dem Verhältnis der beiden Anteile lässt sich die Stärke des Zusammenhangs zwischen Exposition und Outcome bestimmen (Razum et al. 2017). Um Patient/inn/en die bestmögliche Versorgung bieten zu können, ist die Einschätzung der Qualität der Studien von besonderer Relevanz. In diesem Zusammenhang wird häufig die Qualität von Forschungsdesigns in Hinblick auf die Fähigkeit, (kausale) Zusammenhänge zwischen Einflussfaktor (Exposition) und GesundheitsOutcome zu identifizieren, bewertet. Warum die Wahl der Forschungsdesigns nicht immer auf das Experiment fällt, hat praktische und ethische Gründe: Zum einen können nicht alle unabhängigen Variablen experimentell manipuliert werden. Nicht manipulierbare Risikofaktoren, wie genetische Vorgeschichte, Geschlecht oder die

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Exposition gegenüber Umweltbedingungen wie Luftverschmutzung oder Lärmbelastung können nicht experimentell untersucht werden (Peat 2002). Zum anderen sind der randomisierten Aufteilung von Personen auf Versuchsbedingungen ethische Grenzen gesetzt. So ist es etwa nicht denkbar, eineiige Zwillinge randomisiert auf Familien mit hoher und niedriger Schicht zu verteilen, um den Einfluss der Herkunftsschicht auf die Gesundheit zu messen. Bei der Einschätzung der Erklärungskraft von Studien wird den systematischen Reviews und Meta-Studien dabei oft die höchste Aussagekraft zugeschrieben (Peat 2002; Aveyard und Sharp 2013). Systematische Reviews gehen nach einem strikten Protokoll vor und unterscheiden sich von einem konventionellen Literaturüberblick zu einem Thema durch eine klare Fragestellung sowie eine methodisch gut begründete und gut dokumentierte Suchstrategie inkl. klaren Ein- und Ausschlusskriterien. Zur Vermeidung von Verzerrungen durch publication bias (siehe Abschn. 3.4) werden nach Möglichkeit auch unpublizierte Studien berücksichtigt. Von MetaStudien (auch als Meta-Analysen bezeichnet) wird dann gesprochen, wenn die Ergebnisse des systematischen Reviews mittels statistischer Kennzahlen ausgewertet und dargestellt werden (Aveyard 2014). Empfehlungen für eine adäquate Vorgehensweise bei der Durchführung von systematischen Reviews und Meta-Studien in der Gesundheitsforschung liefern die Cochrane Collaboration (www.cochrane.org) sowie für die Pflegeforschung die Campbell Collaboration (www.campbellcollabo ration.org).

3.3.2 Stichprobenziehung und Stichprobengröße Im Zusammenhang mit der Wahl der Fragestellung und eines adäquaten Studiendesigns muss auch eine Grundgesamtheit definiert werden, für die Aussagen getroffen werden sollen. Gemeint ist damit die Menge aller Personen (oder anderer Beobachtungseinheiten), für die die Untersuchung Anspruch auf Repräsentativität erhebt. Im Anschluss wird die Entscheidung zwischen Vollerhebung und Teilerhebung, d. h. der Ziehung einer Stichprobe (sample), getroffen, wobei Vollerhebungen in der Surveyforschung sehr selten sind und hauptsächlich bei einer sehr kleinen Grundgesamtheit in Frage kommen. Bei bevölkerungsrepräsentativen Befragungen wird üblicherweise die erwachsene Wohnbevölkerung als Grundgesamtheit (target population) definiert bzw. Personen, die in Privathaushalten leben. Dies ist aus gesundheitssoziologischer Perspektive insofern relevant, als die so genannten „Anstaltsbevölkerung“ ausgeschlossen wird, d. h. Personen, die u. a. in Justizvollzugsanstalten oder Altenheimen untergebracht sind (Schnell et al. 1999). Zufallsstichproben (random samples) kennzeichnen sich dadurch, dass die Wahrscheinlichkeit jeder Untersuchungseinheit in die Stichprobe zu gelangen vor Durchführung der Stichprobenziehung berechenbar, größer Null und für einfache Zufallsstichproben gleich groß ist. In dem Fall ist dann auch der Fehler bzw. die Irrtumswahrscheinlichkeit, mit der von einer Stichprobe auf die entsprechende Grundgesamtheit geschlossen wird, ebenfalls berechenbar. Für willkürliche und bewusste Auswahlen (auch als Gelegenheitsauswahl oder convenience sample bezeichnet) ist dies nicht der Fall (Schnell et al. 1999).

Methoden in der Gesundheitssoziologie

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Generell unterscheidet man verschiedene Arten der Zufallsstichprobe: Einfache Zufallsstichproben (simple random samples) können gezogen werden, wenn eine Liste aller Elemente der Grundgesamtheit vorhanden ist (das sog sampling frame). Die Auswahl erfolgt in einem einstufigen Verfahren und die Auswahlwahrscheinlichkeit ist für alle Elemente gleich groß und größer Null. Von einer mehrstufigen Zufallsauswahl (multistage samples) spricht man, wenn mehrere Ebenen einbezogen werden, z. B. werden auf der ersten Ebene Gemeinden ausgewählt, auf der zweiten Ebene Haushalte und auf dritten Ebene die Zielperson(en). Klumpenstichproben (cluster samples) werden in der Regel im Rahmen mehrstufiger Verfahren gezogen. Beispielsweise werden erst Schulen und dann Klassen zufällig gezogen und im Anschluss alle Schülerinnen und Schüler einer Klasse befragt. Geschichtete Stichproben (stratified samples) setzen das Wissen über die Schichtzugehörigkeiten2 aller Elemente voraus. Die Ziehung kann innerhalb geschichteter Zufallsstichproben proportional und disproportional erfolgen. Insbesondere disproportionale geschichtete Zufallsstichproben können bei seltenen „Schichten“ bzw. Populationen (z. B. Menschen mit Migrationshintergrund) zu einer genaueren Schätzung führen (Diekmann 2017). In diesem Zusammenhang spricht man auch vom oversampling einzelner Bevölkerungsgruppen. Problematisch bei angestrebten Zufallsstichproben ist der Umstand, wenn Untersuchungselemente in einer Auswahlliste nicht erscheinen und daher auch nicht ausgewählt werden können (undercoverage) oder fälschlicherweise in der Auswahlliste aufgeführt sind (overcoverage), obwohl sie nicht zur Grundgesamtheit gehören. Overcoverage kann auch durch Mehrfachlistungen (etwa durch doppelte Haushaltsführung) entstehen und die dadurch entstandene höhere Auswahlwahrscheinlichkeit kann zu Fehlern bei der Stichprobenziehung führen (Schnell et al. 1999). Die Größe der Stichprobe beeinflusst sowohl die Irrtumswahrscheinlichkeit (statistischer Fehler erster Art, α-Fehler), mit der von der Stichprobe auf die Grundgesamtheit geschlossen wird, als auch die Teststärke bzw. Analysepower (1 β-Fehler), d. h. die Wahrscheinlichkeit, einen signifikanten Zusammenhang zu identifizieren, sofern dieser in der Grundgesamtheit vorliegt. Je größer die Stichprobe, desto genauer die Schätzung. Zur Wahl einer adäquaten Stichprobengröße muss eine Power-Analyse durchgeführt werden, die eine geeignete Stichprobengröße berechnet in Abhängigkeit von der gewünschten Analysepower, der Effektstärke sowie den Eigenschaften des Tests (Anzahl Kovariaten, Kategorien, etc., siehe auch Gross und Kriwy 2009). Ein frei verfügbares Programm zur Durchführung einer Power-Analyse ist G*Power (online verfügbar unter http://www.gpower.hhu.de/).

3.3.3 Methoden der Datenerhebung Generell unterscheidet man zwischen Befragungen, Beobachtungen, Inhaltsanalysen sowie nicht-reaktiven Methoden (ausführlicher in der Methoden-Einführungsliteratur, u. a. Diekmann 2017; Schnell et al. 1999). Im Folgenden wird lediglich auf 2

Unter Schichten versteht man im Rahmen der Stichprobenziehung generelle Gruppenzugehörigkeit, z. B. zu einem Geschlecht oder einer Einkommensgruppe.

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die Befragung als häufigste Methode der Datenerhebung im Bereich gesundheitssoziologischer Forschung eingegangen. Befragungen können mündlich (persönlich vs. telefonisch, mit und ohne Computerunterstützung) oder schriftlich (paper-andpencil oder online) erfolgen (ebd.). Der Informationsgehalt von Befragungen im Gesundheitsbereich kann durch die zusätzliche Durchführung von (medizinischen) Untersuchungen steigen. Dennoch sollte auch die (sozialwissenschaftliche) Erfassung von Einstellungen, Meinungen, Werten und anderen Konstrukten der Zielpersonen dabei nicht aus dem Blick geraten, da sie wesentliche gesundheitsrelevante Einblicke gewähren kann, die weit über medizinische Parameter hinausgehen (Macur 2013).

3.3.4 Datenauswertung Bei der Auswahl eines adäquaten Analyseverfahrens orientiert man sich zunächst an (a) der Struktur der Daten (einfache Querschnittsdaten, Mehrebenenstruktur, Ereignisdaten, Paneldaten, etc.), (b) dem Skalenniveau der abhängigen Variablen (metrisch, ordinal, nominal) sowie der Anzahl der Kategorien (dichotom ja/nein) und der Beschaffenheit bzw. Verteilung der abhängigen Variablen (z. B. Zähldaten, zensierte Daten) und (c) dem genauen Erkenntnisinteresse (z. B. ob man sich im Rahmen einer Paneldatenanalyse für unmittelbare zeitliche Effekte interessiert oder langfristige). Zur Datenauswertung gibt es sowohl Statistikprogramme, die ein breites Spektrum an Datenanalyseverfahren abdecken wie etwa SPSS (Field 2009; Cramer et al. 2014), Stata (Kohler und Kreuter 2016), R (Fox und Weisberg 2011; Field et al. 2012; Luhmann 2013) oder SAS (Littell et al. 2002), als auch Programme, die speziell für eine bestimmte Datenstruktur und die damit verbundenen Verfahren entwickelt wurden und darin ihre Stärken besitzen, z. B. HLM (Raudenbush und Bryk 2002) für Mehrebenenanalysen.

3.4

Herausforderungen bei der Analyse von Gesundheitsdaten

Die methodischen Herausforderungen bei der Analyse von Gesundheitsdaten werden im Folgenden anhand der Konzepte der Kausalität, Selektivität und Endogenität erläutert. Das Konzept der Kausalität beschreibt den Umstand, dass sich eine exogene Variable X kausal auf eine abhängige Variable Y auswirkt. Als notwendige Bedingung gilt dabei, dass X Y zeitlich vorausgeht, wobei auch Ereignisse in der Zukunft antizipiert werden. Als exogene Variable gelten Faktoren, die nicht durch die abhängige Variable beeinflusst werden. Typische exogene Variablen sind etwa Geschlecht sowie soziale und ethnische Herkunft. Für einen signifikanten Zusammenhang zwischen zwei Faktoren kann jedoch auch eine Drittvariable ursächlich verantwortlich sein. Bei Experimenten werden diese potenziellen Drittvariablen oder auch Störgrößen durch die randomisierte Aufteilung der Probanden in Versuchs- und Kontrollgruppe kontrolliert. In nicht-experimentellen Studien (insbesondere bei Querschnittsdaten) müssen alle relevanten Störgrößen durch die Aufnahme der entsprechenden Variablen in die Analysemodelle kontrolliert werden. Wenn rele-

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vante Störgrößen nicht kontrolliert werden, spricht man von unbeobachteter Heterogenität. Mit Paneldaten (bei denen Probanden wiederholt befragt werden) lässt sich Kausalität annäherungsweise durch die Freilegung des Längsschnitteffektes bestimmen (siehe Giesselmann und Windzio 2014). Kontrolliert werden dabei alle zeitkonstanten personenspezifischen Merkmale. Lediglich Faktoren, die zeitveränderlich und unbeobachtet sind, kommen als Drittvariablen in Frage. Von Endogenität wird ausgegangen, wenn keine eindeutige exogene unabhängige Variable vorliegt, sondern sich vielmehr X und Y wechselseitig bedingen (können), wie etwa Bildung und Gesundheit. Bildung kann sich über zahlreiche soziale Mechanismen auf den Gesundheitszustand auswirken (z. B. über Gesundheitswissen, bildungsbedingte Investitionen in Gesundheitskapital, etc.), jedoch kann sich ebenfalls Gesundheit auf den Erwerb von Bildung auswirken, etwa über krankheitsbedingte Fehltage in der Schule. Im Rahmen von Paneldatenanalysen oder Strukturgleichungsmodellen mit Längsschnittdaten lassen sich über die zeitliche Abfolge Rückschlüsse auf die Richtung der Kausalität ableiten. Selektivität verweist auf das Verhalten von Personen, dass zur fälschlichen Annahme von Zusammenhängen führen kann. Unter „healthy migrant effect“ versteht man beispielsweise die Tatsache, dass insbesondere gesunde Personen migrieren. Untersucht man nun den Zusammenhang zwischen regionaler Herkunft und Gesundheit in Deutschland, kommt man (fälschlicherweise) zu dem Ergebnis, dass nichtdeutsche Personen gesünder sind als deutsche. Selektivität spielt zudem bei der Teilnahme an Studien eine Rolle. Trotz Ziehung einer Zufallsstichprobe kann durch selektive Teilnahme die Repräsentativität von Surveydaten beeinflusst werden, was bei einem Rückschluss von der Stichprobe auf die Grundgesamtheit zu verzerrten Annahmen führen kann (z. B. wenn überwiegend gesunde Personen an einer Gesundheitsbefragung teilnehmen). Selektivität kann zu einer Über- oder Unterschätzung von Häufigkeiten und Zusammenhängen führen. Die inferenzstatistische Annahme von Zusammenhängen wird lediglich dann beeinflusst, wenn das Selektionskriterium mit dem beschriebenen Zusammenhang konfundiert ist (z. B. wenn der Zusammenhang zwischen Bildung und Fettleibigkeit untersucht wird und hochgebildete und zugleich fettleibige Personen die Befragungsteilnahme verweigern). Selektive Teilnahme (bzw. eine fehlende Zufallsauswahl) kann auch bei Experimenten zu verzerrten Ergebnissen führen, wenn der untersuchte Zusammenhang mit dem Selektionsmerkmale interagiert. Gerade in der psychologischen Forschung werden oft Studierende als Probanden herangezogen. Wenn jedoch der Zusammenhang für Personen mit geringerem Bildungsniveau nicht zutrifft, wird dies problematisch. Eine besondere Form der Selektivität ist der Publikationsbias (publication bias). Er ist der Tatsache geschuldet, dass es oftmals einfacher ist, signifikante Ergebnisse zu publizieren als nicht signifikante. Zusammenhänge können dadurch überschätzt werden (detaillierter bei Peat 2002). Neben der Selektivität sind auch unterschiedliche Arten von Informationsfehlern zu berücksichtigen. Diese entstehen zum Beispiel durch Messfehler, die insbesondere dann problematisch sind, wenn sie systematisch auftreten. Das ist beispielsweise der Fall, wenn Frauen ihr Körpergewicht eher unter- oder Männer ihre Körpergröße systematisch überschätzen. Ein häufiger Informationsfehler in epide-

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C. Gross und P. Brzoska

miologischen Fall-Kontroll-Studien liegt vor, wenn sich Fälle besser (oder schlechter) an zurückliegende Expositionen erinnern können als Kontrollen (man spricht hier von einem Recall-Bias) (detaillierter bei Peat 2002).

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Forschungsethik

Forschung muss sich an ethischen Standards orientieren, wofür der/die jeweilige Forscher/in die Verantwortung trägt. Je nach Forschungsbereich stehen dabei unterschiedliche Empfehlungen und Richtlinien auf nationaler und internationaler Ebene zur Verfügung. Für die Gesundheitsforschung relevant sind zum Beispiel die Leitlinien Guter Epidemiologischer Praxis (GEP) (Deutsche Gesellschaft für Epidemiologie 2008), Guter Praxis Sekundärdatenanalyse (GPS) (Arbeitsgruppen ‚Erhebung und Nutzung von Sekundärdaten‘ und ‚Epidemiologische Methoden‘ der DGSMP/ DGEpi/GMDS 2008) und die Deklaration von Helsinki (World Medical Association 2013). Zu den Forschungsstandards zählt, dass Teilnehmer/innen einer Studie vor der Studienteilnahme transparent und zielgruppengerecht über die Ziele und die Relevanz eines Vorhabens, die Studienleitung, Ansprechpartner/innen, die Datenerhebung, die Datenverarbeitung und das Datenmanagement informiert werden und schriftlich ihrer Teilnahme an der Studie zustimmen. Insbesondere müssen sie hierbei über die Freiwilligkeit der Teilnahme sowie darüber informiert werden, dass ihnen bei Nichtteilnahme oder dem Widerrufen der Einwilligung im Verlauf der Studie keine Nachteile entstehen. Bei minderjährigen Personen muss die Einwilligung der jeweiligen Erziehungsberechtigten vorliegen. Die Beachtung forschungsethischer Standards umfasst auch die Einhaltung datenschutzrechtlicher Grundsätze, die vor Beginn der Forschung in Form eines Datenschutzkonzeptes festgehalten werden sollten (Exner et al. 2014; Pigeot und Buchner 2014). Hierfür müssen sich Forscher/innen auch detailliert mit den gesetzlichen Datenschutzvorgaben auseinandersetzen, die sich je nach Forschungsfeld, den zu beforschenden Probanden/innen sowie den Datenquellen, die für die Forschung herangezogen werden sollen, unterscheiden. Das Datenschutzkonzept sollte ferner Informationen zum Studienzweck, den Datenerhebungsmethoden sowie dem Vorgehen bei der Datenverarbeitung und dem Datenmanagement enthalten. Bei der Erstellung des Datenschutzkonzeptes empfiehlt es sich, in Zweifelsfällen Unterstützung bei der/dem zuständigen Datenschutzbeauftragten zu suchen. Dies kann insbesondere bei komplexen Vorhaben nötig sein, in denen keine Anonymisierung möglich ist (siehe unten). In medizinischen Vorhaben, die unter bestimmte gesetzliche Regelungen wie das Arzneimittelgesetz fallen, ist es zudem notwendig, das Votum der zuständigen Ethikkommission einzuholen (Taupitz 2013). Dies gilt grundsätzlich auch, wenn Ärzte/innen als Forscher/innen tätig sind. Auch wenn in allen anderen Fällen, so etwa bei sozialwissenschaftlichen Fragestellungen, keine gesetzliche Pflicht zum Einholen eines Ethikvotums besteht, ist es dennoch empfehlenswert, Rücksprache mit der zuständigen Ethikkommission zu halten. Das liegt daran, dass viele Fachzeitschriften, insbesondere in der Gesundheitsforschung, die

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Vorlage eines positiven Votums für die Veröffentlichung eines Manuskriptes voraussetzen, und auch sozialwissenschaftliche Studien mit Belastungen für Probanden/ innen einhergehen können, die vor Studiendurchführung von einer Ethikkommission begutachtet werden sollten. Sofern es der Forschungszweck zulässt, sollten Daten anonymisiert erhoben oder direkt nach der Datenerhebung anonymisiert werden. Das bedeutet, dass die Verknüpfung zwischen einer Person und den von ihr zur Verfügung gestellten Daten aufgelöst wird, so dass ab diesem Zeitpunkt eine Zuordnung der Daten zu einer konkreten Person nicht (absolute Anonymisierung) oder nur mit einem unverhältnismäßig hohen Ressourcenaufwand (faktische Anonymisierung) möglich ist. Aus Forschungsperspektive ist eine Anonymisierung der Daten unmittelbar nach der Datenerhebung nicht immer möglich oder sinnvoll. Soll beispielsweise eine Längsschnitterhebung durchgeführt werden, müssen die Informationen, die Probanden/ innen zu zwei oder mehr Zeitpunkten zur Verfügung stellen, miteinander verknüpfbar sein. Ähnliches gilt, wenn Daten aus mehreren Quellen verknüpft werden sollen. Um diese Verknüpfung jeweils zu ermöglichen, wird eine Pseudonymisierung eingesetzt. Das bedeutet, dass Identifikationsmerkmale der Person wie der Name verschlüsselt und nur über eine separate Zuordnungsliste wieder entschlüsselt werden können. Die Zuordnungsliste ist dabei getrennt von den eigentlichen Forschungsdaten unter Verschluss zu halten und kann beispielsweise einem Datentreuhänder zur Verwahrung übergeben werden. Auch pseudonymisierte Daten sollten anonymisiert werden, sobald der Forschungszweck dies zulässt, was in der Regel nach der Verknüpfung der Fall ist. In jedem Fall sollte die Datenauswertung und -präsentation anonymisiert erfolgen (Schaar 2014; Exner et al. 2014). Im Hinblick auf die Datenarchivierung empfiehlt die Deutsche Forschungsgemeinschaft, erhobene Forschungsdaten 10 Jahre lang aufzubewahren, um bei Bedarf eine Rekonstruktion des Forschungsprozesses zu ermöglichen (Deutsche Forschungsgemeinschaft 2013).

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Fazit und aktuelle Entwicklungen

Die unterschiedlichen Zielsetzungen und Herangehensweisen qualitativer und quantitativer Verfahren haben zur Ausbildung nahezu eigenständiger Forschungstraditionen geführt, die teils auch durch separate Fachgesellschaften repräsentiert werden. Demgegenüber steht die Tatsache, dass viele empirische Forschungsvorhaben aufgrund ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit methodisch oft eine mehrdimensionale und multiperspektivische Ausrichtung erfordern. Rein quantitative oder rein qualitative Zugänge stoßen dabei schnell an ihre Grenzen.3 Mixed-Methods-Ansätze überwinden diese engen Grenzen, indem sie Methoden beider Paradigmen miteinander kombinieren, und so die jeweiligen Limitationen Kritisch zu teils sehr dogmatisch geführten Diskussionen und „Grabenkämpfen“, siehe Baum (1995).

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eines Zugangs durch die jeweiligen Stärken des anderen Zugangs ausgleichen. Dies kann einerseits dem Zweck dienen, die Tiefe und Breite der gewonnen Forschungsergebnisse zu erhöhen. Sie können andererseits aber auch das Ziel verfolgen, eingesetzte Methoden oder gewonnene Ergebnisse zu validieren (Kelle 2014; Flick 2011). Methoden können dabei in allen Phasen des Forschungsprozesses miteinander verknüpft werden, sowohl innerhalb einzelner Phasen – beispielsweise in Form der Erhebung qualitativer und quantitativer Daten zu einer Fragestellung – oder über Phasen hinweg. Letzteres geschieht etwa bei der quantitativen Auswertung qualitativ erhobener Daten. Auch die in Abschn. 2 geschilderte sequenzielle Verzahnung beider Paradigmen, bei der eine hypothesengenerierende qualitative Studie die Grundlage für eine hypothesengeleitete quantitative Untersuchung bildet, stellt einen Mixed-Methods-Zugang dar. Gleiches gilt für die Erklärung quantitativer Ergebnisse mittels einer nachgeschalteten qualitativen Studie (siehe den Beitrag von Brzoska/Razum in diesem Band) oder die Kombination qualitativer und quantitativer Verfahren zum Zwecke der Instrumentenentwicklung und -validierung (Brzoska 2014; Willis 2015). Mixed-Methods-Ansätze sind dabei weniger als ein drittes Forschungsparadigma denn als pragmatische Lösungsstrategie zur Bewältigung von Herausforderungen einer immer komplexer werdenden Forschungsrealität anzusehen. Die Planung, Durchführung und Auswertung von Mixed-Methods-Studien ist anspruchsvoll, da sie sowohl Expertise im qualitativen als auch im quantitativen Forschungsparadigma voraussetzt. Mit welchen Limitationen Mixed-MethodsAnsätze selbst verbunden und was Qualitätskriterien von Mixed-Methods-Studien sind, ist Gegenstand aktueller Methodenforschung und -diskussion (Creswell 2014). Menschen, die im Rahmen sozial- und gesundheitswissenschaftlicher Forschung befragt werden, können nicht nur Gegenstand der Forschung sein, sondern den Forschungsprozess selbst aktiv mitgestalten, um einen Beitrag zur Verbesserung ihrer sozialen oder gesundheitlichen Situation zu leisten. Forscher/innen und Beforschte werden damit gewissermaßen zu Partnern in der Erforschung und Veränderung sozialer Wirklichkeit. Dieser als partizipative Forschung bezeichnete Ansatz spielt insbesondere in der Gesundheits- und Public-Health-Forschung eine Rolle, deren maßgeblicher Fokus die Beeinflussung des Gesundheitsverhaltens und von Gesundheitsverhältnissen mit dem Ziel ist, die Gesundheit der Bevölkerungen zu erhalten und zu verbessern. Partizipative Forschung wird oft den qualitativen Forschungsmethoden zugezählt, ist jedoch auch in quantitativen oder MixedMethods-Ansätzen umsetzbar (Minkler und Wallerstein 2003). Wie und wie stark untersuchte Personen (z. B. Patienten/innen) oder Institutionen (z. B. Versorgungseinrichtungen) an der Forschung beteiligt werden, ist von den jeweiligen Forschungsfragen abhängig. Desiderata im Zusammenhang mit der partizipativen Forschung, die Gegenstand des aktuellen methodischen Diskurses sind, betreffen u. a. Fragen der Theoriebildung sowie der Qualitätsstandards und Gütekriterien (von Unger 2014; von Unger et al. 2007).

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Die Messung von Gesundheit Johann Carstensen

Inhalt 1 Was ist Self-Rated Health? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Welche Eigenschaften hat SRH? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Was misst SRH? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ausblick und Implikationen für die Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit einem weit verbreiteten Maß zur Erfassung des subjektiven Gesundheitszustandes. Er erläutert dessen prognostische Validität für unterschiedliche Outcomes wie Mortalität und diskutiert, unter welchen Bedingungen diese gegeben ist. Er geht der Frage nach, welche Informationen Befragte in die Antwort einfließen lassen und welchen Effekt individuelle Eigenschaften darauf haben. Zuletzt steht der Versuch, das gewonnene Wissen in einem allgemeinen Modell des kognitiven Antwortprozesses zusammenzufassen. Schlüsselwörter

Subjektive Gesundheit · Self-rated Health · Mortalität · Health Bias · Validität

J. Carstensen (*) Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung GmbH (DZHW), Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Kriwy, M. Jungbauer-Gans (Hrsg.), Handbuch Gesundheitssoziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06392-4_4

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Was ist Self-Rated Health?

Vermutlich kein anderes Maß findet in der surveygestützten Gesundheitsforschung so viel Verwendung wie die Frage nach dem selbsteingeschätzten Gesundheitszustand (self-rated health, im Folgenden kurz SRH). Dies liegt zum einen an seiner Knappheit und Einfachheit, zum anderen an seinen hervorragenden prognostischen Eigenschaften. Mittlerweile findet es sogar im klinischen Bereich verbreitete Anwendung als zusätzliche Informationsquelle zur Einschätzung der Schwere einer Erkrankung. Doch warum funktioniert dieses Item so gut? Welche kognitiven Prozesse finden Anwendung bei der Beantwortung? Auf was für einem Verständnis von Krankheit und Gesundheit basiert es und welche Informationen werden dazu herangezogen? Wo sind die Grenzen der Einsetzbarkeit von SRH und in welchen Situationen und Gruppen ist der Nutzen eingeschränkt? Der folgende Beitrag erläutert Eigenschaften, prognostische Qualitäten und Grenzen dieser Form der Erhebung von Gesundheit. Dabei wird auch ein theoretisches Modell zur Erklärung des Antwortprozesses diskutiert. Die subjektive Gesundheitseinschätzung wird in unterschiedlichen Varianten erhoben. Sie unterscheiden sich sowohl in der Formulierung der Frage als auch in der Antwortskala. Letztere ist in den meisten Fällen vier- oder fünfstufig und komplett gelabelt, in anderen Fällen finden aber auch lediglich endpunktgelabelte Antwortskalen Verwendung. Eine gebräuchliche Formulierung lautet: „Wie würden Sie Ihren Gesundheitszustand im Allgemeinen beschreiben?“ (z. B. GESIS 2015). Im Sozioökonomischen Panel wird dagegen nicht nach dem allgemeinen, sondern nach dem gegenwärtigen Gesundheitszustand gefragt („Wie würden Sie Ihren gegenwärtigen Gesundheitszustand beschreiben?“). Auch unter den gebräuchlichen fünfstufigen Antwortskalen gibt es Variationen. Die von der WHO empfohlene Variante (de Bruin et al. 1996) gibt ein symmetrisches Antwortformat vor („sehr gut“ bis „sehr schlecht“), während die sogenannte amerikanische Variante auf ein asymmetrisches Format setzt (in der Regel „exzellent“ bis „schlecht“), um die Schiefe der Verteilung auszugleichen, die bei diesem Item – nach Altersgruppe in unterschiedlichem Ausmaß – unvermeidbar auftritt. Ein Vergleich der beiden Varianten zeigt, dass Befragte sich wesentlich stärker am Wording (also an gleichen semantischen Antwortkategorien) als an der relativen Position der Antworten auf der Skala orientieren (Jürges et al. 2008). Die WHO-Skala produziert dabei schiefere Verteilungen und diskriminiert besser am unteren Ende der Skala, während die US-Version besser am oberen Ende diskriminiert (Jürges et al. 2008). Ein wesentlich größerer Unterschied besteht zwischen Varianten mit unterschiedlichen Referenzpunkten. Während SRH im engeren Sinne meist das globale Maß meint, das nur nach der Bewertung des allgemeinen Gesundheitszustands ohne weitere Konkretisierung fragt, existieren auch Varianten, die eine konkrete Referenz zum Vergleich vorgeben. Hier lässt sich zwischen alters- und selbstvergleichendem SRH unterscheiden. Ersteres fragt nach dem selbsteingeschätzten Gesundheitszustand im Vergleich zu anderen Personen derselben Altersgruppe, während das selbstvergleichende Maß Veränderungen der Gesundheit, z. B. innerhalb des letzten Jahres, erfragt. In seltenen Fällen werden Befragte auch dazu aufgefordert, den

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jetzigen Gesundheitszustand mit den Erwartungen für die Zukunft zu vergleichen. Das üblichste Zeitintervall für beide Richtungen beträgt dabei ein Jahr.

2

Welche Eigenschaften hat SRH?

Die bemerkenswerte Eigenschaft von SRH – trotz seiner Knappheit – ist seine prognostische Validität. So ist die Vorhersagekraft für Mortalität schon früh (Kaplan und Camacho 1983; Singer et al. 1976) und seitdem immer wieder auch mit größerem methodischen Aufwand belegt worden (Benjamins et al. 2004; Dowd und Zajacova 2007; Huisman 2010; Singh-Manoux et al. 2007). Dieser Zusammenhang zeigt sich nicht nur in industrialisierten Ländern wie beispielsweise Deutschland (Schwarze et al. 2002), den USA (Kaplan und Camacho 1983) oder dem Vereinigten Königreich (Ganna und Ingelsson 2015), sondern auch in weniger industrialisierten Ländern wie Indonesien (Frankenberg und Jones 2004). Er zeigt sich sowohl in Stichproben mit großem Altersspektrum (Mackenbach et al. 2002) als auch in älteren Populationen (Idler und Kasl 1995). Die Stärke des Zusammenhangs variiert allerdings nach der Art und der Anzahl der Todesursachen (Benjamins et al. 2004). Stenholm et al. (2015) zeigen in einer Längsschnittuntersuchung mit gematchten Gruppen von Überlebenden und Verstorbenen, dass sich die Chance einer schlechten subjektiven Gesundheitseinschätzung im Falle von kardiovaskulären Todesursachen schon bis zu 15 Jahre im Voraus zwischen den Gruppen um das 1,5-Fache unterscheidet, und zwar schon vor der Diagnose der letztendlich tödlichen Erkrankung. Ähnliche Zusammenhänge zeigten sich für bestimmte Arten von Krebserkrankungen und Tod durch äußere Ursachen sowie Suizid. DeSalvo et al. (2005) verglichen die Vorhersagekraft von SRH mit derjenigen des physischen und mentalen Summenscores des SF-36 und dem Seattle Index of Comorbidity und konnten dabei zeigen, dass SRH diesbezüglich genauso gut abschneidet wie längere Maße. Die prognostische Validität von SRH beschränkt sich jedoch nicht auf den Zusammenhang mit Mortalität. Neben diesem Outcome können Miilunpalo et al. (1997) dem Maß auch für physische Fitness und Arztbesuche eine gute Vorhersagekraft bescheinigen, während selbstberichtete chronische Erkrankungen diese schlecht voraussagen. Weiterhin ist eine gute prognostische Fähigkeit für tödliche und nicht tödliche kardiovaskuläre Geschehen (van der Linde et al. 2013), Schlaganfall (Emmelin et al. 2003), erhöhten Blutzucker und Bluthochdruck (Kaplan 1987), die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen (Pot et al. 2009; Segovia et al. 1989), funktionale Gesundheit im Alter (Idler und Kasl 1995) sowie die Hospitalisierung und stationäre Pflege bei Älteren (Weinberger et al. 1986) belegt. In einer aktuellen Studie, basierend auf Daten der UK Biobank, stellte sich SRH sogar unter Kontrolle von Soziodemografie, diversen selbstberichteten Diagnosen und Gesundheitsverhalten für Männer als stärkster Einzelprädiktor für Mortalität heraus (Ganna und Ingelsson 2015). Nur sehr wenige Studien beschäftigen sich mit der Reliabilität von SRH. Diese ist grundsätzlich mindestens genauso gut wie die von „objektiven“ Indikatoren wie funktionaler Gesundheit und spezifischen Diagnosen (Lundberg und Manderbacka 1996), allerdings kann es zu Verzerrungen durch Halo- oder Reihenfolgeeffekten im

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Fragebogen kommen. Crossley und Kennedy (2002) erhoben mit dem SF-36 ein ausführliches Maß zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität (HRQL) und fragten davor und danach nach dem selbsteingeschätzten Gesundheitszustand. Es zeigte sich, dass 28 % der Befragten ihre Einschätzung nach dem SF-36 änderten, 3 % sogar um mehr als eine Kategorie. Ob eine Änderung stattfand, unterlag dabei auch soziodemografischen Einflüssen. Ältere Befragte änderten ihre Einschätzung eher, genauso wie Menschen mit niedrigerem beruflichen Status („blue collar“- im Gegensatz zu „white collar“-Professionen) und Personen mit niedrigem Einkommen.1 Martikainen et al. (1999) beobachteten in einem Zeitraum von einer bis sechs Wochen eine etwas geringere test-retest Reliabilität als Lundberg und Manderbacka (1996), die im mittleren bis guten Bereich liegt. Allerdings sind Veränderungen der wahren Gesundheit in diesem Zeitraum nicht unwahrscheinlich. Zudem sind hier möglicherweise auch Effekte des Befragungsmodus ausschlaggebend, der zwischen den beiden Zeitpunkten variierte. Im Vergleich des allgemeinen SRH mit einem selbstvergleichenden Maß, das auf Veränderung in der Gesundheit abzielt, können Gunasekara et al. (2012) zeigen, dass solche Veränderungen von allgemeinem SRH nicht immer adäquat abgebildet werden, wodurch die längsschnittliche Validität fraglich sei. Verantwortlich dafür seien durch die schiefe Verteilung bedingte Deckeneffekte, also die Tatsache, dass Befragte, die zuvor bereits die beste SRH-Kategorie angegeben haben, in der Folge keine Verbesserung mehr angeben können. In ihren Auswertungen ergab sich für selbsteingeschätzte Veränderungen der Gesundheit im zeitlichen Vergleich eine bessere Prädiktivität von Hospitalisierungen als für allgemeinen SRH. Uneindeutig ist die Empirie hinsichtlich der Vorhersagekraft der unterschiedlichen Varianten des Maßes für Mortalität. In einer Stichprobe mit einem sehr hohen Durchschnittsalter (77+) beobachteten Manderbacka et al. (2003) eine bessere Vorhersagekraft des altersvergleichenden Maßes bei Männern. Bei Vuorisalmi et al. (2005) zeigte sich bivariat nur der globale SRH als Prädiktor für Mortalität; nach Kontrolle von Alter, Geschlecht, beruflichem Status, funktionalen Einschränkungen, sozialer Partizipation und chronischen Erkrankungen waren sowohl das globale als auch das altersvergleichende Maß noch mit Mortalität zum Zeitpunkt 20 Jahre später verknüpft. Trotz der mehrdeutigen Empirie verweist dies auf die Notwendigkeit, heterogene Altersstrukturen in Analysen mit SRH konzeptionell zu berücksichtigen.

1

Von welchen Kategorien ausgehend die Veränderungen am größten waren, lässt sich aufgrund der Regression zur Mitte schwer sagen. Ebenso lässt sich aus einer stärkeren Abweichung zwischen den Messzeitpunkten in bestimmten Gruppen nicht zwangsweise eine geringere Genauigkeit der Messung folgern, wenn die Verteilung des wahren Wertes sich zwischen den Gruppen unterscheidet. Es sprechen jedoch noch weitere Beobachtungen dafür, dass die Genauigkeit bei älteren Personen geringer ist.

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3

Was misst SRH?

3.1

Warum sagt es Mortalität voraus?

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Dass die subjektive Gesundheitseinschätzung ein guter Prädiktor für Mortalität ist, ist hinreichend belegt. Die Antwort auf die Frage, weshalb das so ist, ist jedoch viel weniger klar. Versuche, sich dieser Antwort auf theoretisch-konzeptionellem Wege zu nähern, sind weit weniger zahlreich als empirische Untersuchungen zu den Determinanten von SRH. Die denkbar einfache Antwort auf die Frage, warum das Item in seiner Knappheit trotzdem brauchbare Ergebnisse produziert, liegt laut Knäuper und Turner (2003) in der einfachen Formel, dass relevante Fragen relevante Antworten ergeben. Im vorliegenden Fall bedeutet dies, dass Menschen ihre eigene Gesundheit permanent einer internen Evaluation unterziehen, da es sich dabei um eine existenzielle Komponente ihres Lebens handelt. Die Besonderheiten, die SRH seine besonderen prognostischen Eigenschaften verleihen, hängen nach Ansicht der meisten AutorInnen mit seiner Inklusivität sowohl objektiver als auch subjektiver Faktoren, seiner dynamischen Perspektive und seiner Verknüpfung mit Eigenschaften wie Gesundheitsverhalten und dem Besitz gesundheitsrelevanter Ressourcen zusammen (z. B. Benyamini 2011). Viele AutorInnen beschreiben SRH als aus zwei Teilen bestehend, wobei ein Teil die gültige, mortalitätsrelevante Gesundheit abbildet, der andere Teil eine ungültige Komponente, die verfälschend auf die Selbsteinschätzung wirkt (Benyamini et al. 1999; Layes et al. 2012; Ongaro und Salvini 1995). Letztere gilt dann als Quelle eines „Health Bias“ (Whitehead und Bergeman 2013) und beinhaltet die Einflüsse von nicht mortalitätsrelevanten soziodemographischen oder psychosozialen Eigenschaften auf das Antwortverhalten. Dabei wäre es aber unzutreffend, diese Teile mit einer objektiven und einer subjektiven Einschätzung gleichzusetzen. Vielmehr könnte der subjektive Anteil an der Selbsteinschätzung einen großen Teil der mortalitätsrelevanten Informationen beinhalten, die SRH zu einem besseren Prädiktor machen als rein objektive Maße. Während unter objektiven Faktoren solche verstanden werden können, die direkt von außen sichtbar sind und sich in manifesten Diagnosen, Medikation und Inanspruchnahmeverhalten äußern, können subjektive Faktoren zusätzliche Informationen bereitstellen. Zunächst kann eine subjektive Filterung objektiver Informationen Aufschluss über den Schweregrad einer Erkrankung geben, der anders nicht zu bewerten ist (Jylhä 2009; Leinonen et al. 2005). Weiterhin können Befragte auf Informationen über körperliche Empfindungen wie Schmerz, Müdigkeit etc. zurückgreifen, die ebenfalls mortalitätsrelevant sein können (Jylhä 2009). Außerdem bezieht die subjektive Perspektive individuelle interne und externe Ressourcen mit ein, die zur Bewältigung einer Erkrankung bzw. eines kritischen Lebensereignisses von Bedeutung sein können (Benyamini 2011). Zuletzt sind Befragte in der Lage, Veränderungen ihrer Gesundheit im zeitlichen Verlauf wahrzunehmen (Knäuper und Turner 2003). Die stärksten Effekte auf SRH haben wenig überraschend physische Faktoren. Bei Verropoulou (2009) stellten sich Gesundheitsindikatoren (chronische Krankheiten, Mobilitätsprobleme, somatische und depressive Symptome), Bildung und phy-

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sische Aktivität in dieser Reihenfolge als wichtigste Determinanten für SRH heraus. Auch bei Cott et al. (1999) stehen die krankheitsbezogenen Faktoren vorn, gefolgt von Soziodemografie und Lebensstil (siehe auch Singh-Manoux et al. 2006). Psychosoziale Faktoren hingegen erklären guten SRH bei Personen mit chronischen Krankheiten oder Behinderungen (Cott et al. 1999). SRH weist dabei insgesamt stärkere Korrelationen mit physischen Symptomen und funktionaler Gesundheit auf als mit manifesten (diagnostizierten) Erkrankungen (Eriksson et al. 2001; Fylkesnes und Forde 1991; Leinonen et al. 2001). Offensichtlich scheint die Wahrnehmung der eigenen physischen Leistungsfähigkeit besonders relevant für die Selbsteinschätzung zu sein. Dazu passt auch das Ergebnis einer Studie von Liang et al. (2007). Früh einsetzende funktionale Verschlechterung ist ihnen zufolge mit beschleunigt abnehmendem SRH assoziiert. Im Gegensatz dazu erfreuen sich Personen mit später einsetzendem funktionalem Verfall im späteren Leben noch eines besseren SRH. Subjektive funktionale Erfahrungen machen auch laut Benyamini et al. (1999) den Kern von SRH aus, der für den Zusammenhang mit Mortalität verantwortlich ist. Benyamini et al. (2011) gingen der Frage nach, welche Eigenschaften Personen aufweisen, die trotz schlechtem SRH eine geringe Sterblichkeit aufweisen. Sie fanden heraus, dass im Falle einer schlechten Selbsteinschätzung ein aktiverer Lebensstil, eine bessere „objektive“ Gesundheit und funktionale Gesundheit das Überleben förderten. Bei Menschen mit geringeren depressiven Symptomen zum ersten Beobachtungszeitpunkt lag die Chance einer Verbesserung der gesundheitlichen Selbsteinschätzung trotz unveränderter „objektiver“ physischer oder psychischer Gesundheit im Zeitverlauf höher. Die Autoren interpretieren ihre Ergebnisse derart, dass eine optimistische Haltung und die Fähigkeit, trotz schlechter Gesundheit ein aktives Leben zu führen, die weitere Verschlechterung der Gesundheit verzögere. Außerdem wirke sich ein aktiverer Lebensstil positiv auf soziale Netzwerke, das Selbstkonzept und Kontrollüberzeugungen aus. Mehrere AutorInnen betonen die Bedeutung interner oder externer Ressourcen für die Bewältigung von krankheitsbedingten Stressoren. Aus einer salutogenetischen Perspektive (Antonovsky 1987) spielen solche Ressourcen eine wesentliche Rolle für das Kohärenzgefühl und damit dafür, ob und wie Personen mit den an sie gerichteten gesundheitlichen Herausforderungen umgehen können. Hier sind insbesondere psychische Ressourcen wie Kontrollüberzeugungen (Bisconti und Bergeman 1999; Cott et al. 1999; Perrig-Chiello et al. 1999), Depression (Mulsant et al. 1997; Weinberger et al. 1986), aber auch soziale Ressourcen relevant. Für eine solche salutogenetische Deutung von SRH sprechen Ergebnisse, die den Zusammenhang zwischen SRH bzw. die Interaktion zwischen SRH und psychologischen Faktoren in ihrer Wirkung auf Mortalität untersuchen. So hat zum Beispiel ein interner Locus of Control eine Wirkung auf den SRH älterer Männer (aber nicht Frauen) (Pilisuk et al. 1993). Ein Aspekt der Inklusivität von SRH betrifft die Relevanz von körperlichen Empfindungen, auf die Befragte ihre Einschätzung aufbauen (Benyamini 2011; Jylhä 2009). Hoffnungsvolle Beiträge zur Erforschung dieses Zusammenhangs bieten eine Reihe von Studien zum Zusammenhang von SRH mit diversen Biomarkern. Im Vordergrund stehen dabei solche Biomarker, die mit entzündlichen Prozessen im

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Körper zusammenhängen. So können Leshem-Rubinow et al. (2015) zeigen, dass selbst unter Kontrolle von soziodemografischen Variablen, kardiovaskulären Risikofaktoren, Gesundheitsverhalten, Depression und weiteren Faktoren das hochempfindliche c-reaktive Protein (hs-CRP) einen Effekt auf SRH aufweist. Die Fibrinogenkonzentration, ebenfalls ein Entzündungsmarker, hat auch einen Effekt, der allerdings kleiner ist und nur bei Männern auftritt. Unterstützung für dieses Ergebnis kommt von Christian et al. (2011), die ebenfalls einen Zusammenhang zwischen Entzündungsmarkern und SRH finden, der durch medizinische Diagnosen, Gesundheitsverhalten oder Medikation nicht erklärt werden kann. Auch nach der Kontrolle auf die subjektiv wahrgenommene Verschlechterung der Gesundheit bleibt ein eigenständiger Effekt bestehen. Dies deutet darauf hin, dass die Befragten körperliche Wahrnehmungen haben, die ihnen nicht unbedingt bewusst sein müssen. Auch Jylhä et al. (2006) untersuchen den Einfluss einer Reihe von Biomarkern auf SRH, die für sich genommen jeweils einen eigenständigen Effekt auf Mortalität aufweisen. Alle untersuchten Biomarker haben einen Effekt auf SRH, darunter auch solche, die auf infektiöse oder entzündliche Erkrankungen hinweisen. SRH hatte jedoch auch nach der Kontrolle auf Biomarker und andere Gesundheitsindikatoren noch einen eigenständigen Effekt auf Mortalität. Jarczok et al. (2015) kommen in ihrer Analyse zu dem Ergebnis, dass die Herzfrequenzvariabilität, die Aufschluss über die Funktion des autonomen Nervensystems gibt und eine Rolle in der Informationsvermittlung zwischen Gehirn und Organismus spielt, einen verhältnismäßig starken Effekt hat. Entzündungsmarker haben nach der Kontrolle auf die Herzfrequenzvariabilität jedoch keinen Einfluss mehr. Befragte berücksichtigen auch Verhaltensdimensionen in ihrer Selbsteinschätzung, allerdings findet dies eher bei gutem SRH statt (Benyamini et al. 2003). Gerade jüngere Personen beziehen Gesundheitsverhalten nicht nur als Risiko für den Gesundheitszustand, sondern als eigene Dimension des Gesundheitszustands mit in ihre Bewertung ein (Chen et al. 2007). Auch Fylkesnes und Forde (1992) finden einen positiven Effekt des Gesundheitsverhaltens auf SRH. Allerdings geht ein hoher sozioökonomischer Status eher mit einer pessimistischen Gesundheitseinschätzung einher, was wiederum mit positivem Gesundheitsverhalten verknüpft ist (Layes et al. 2012). Widersprüchlich dazu hat das Gesundheitsverhalten laut Manderbacka et al. (2003) keinen eigenständigen, sondern nur einen über den Gesundheitszustand mediierten Effekt auf SRH. Die Fähigkeit, mortalitätsrelevante Informationen zu berücksichtigen und für Mortalität irrelevante Informationen zu ignorieren, mag einen großen Anteil an der Erklärung der Vorhersagekraft von SRH haben (Knäuper und Turner 2003). Unstrittig ist dabei, dass Befragte ein latentes Konstrukt von Gesundheit im Kopf haben müssen, um ihren Gesundheitszustand zu beurteilen. Dieses beinhaltet Faktoren wie die Definitionen der Begriffe von Krankheit und Gesundheit, die zur Abgrenzung der beiden Phänomene notwendig sind und die gleichzeitig ausschlaggebend dafür sind, welche Informationen zur Beurteilung des eigenen Gesundheitszustandes herangezogen werden. Dabei können diese Konstrukte allerdings individuell variieren, was wiederum einen Einfluss auf SRH hat. So denken manche Befragte an spezifische Gesundheitsprobleme, andere an funktionale Gesundheit oder Gesundheitsverhalten

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(Krause und Jay 1994). Die Inklusion der subjektiven Perspektive des Befragten auf Krankheit und Gesundheit stellt zwar einen der Vorteile von SRH dar, ist aber andererseits auch problematisch. Sen (2002) merkt an, dass die subjektive Beurteilung des eigenen Gesundheitszustands wesentlich durch den sozialen Erfahrungsschatz des Befragten beeinflusst wird (siehe auch Simon et al. 2005). So sei die Einschätzung, welcher Zustand als normal zu gelten habe und welcher klinisch vermeidbar sei, von den Gegebenheiten und medizinischen Möglichkeiten innerhalb der Region abhängig, in der man lebe. Hierdurch kann sich eine Diskrepanz zwischen berichteter Morbidität und Mortalität ergeben. Auch schwingt hier die Frage mit, welchen Referenzpunkt Befragte zur Beantwortung der Frage wählen, erweitert um die Tatsache, dass nicht allen Befragten dieselben Referenzpunkte überhaupt zur Verfügung stehen. Vorsicht ist demnach nicht nur beim Vergleich der selbsteingeschätzten Gesundheit von Personen aus unterschiedlichen Regionen und Kulturkreisen geboten, sondern auch bei unterschiedlichen sozialräumlichen Gruppen. Neben dem sozialen spielt auch der individuelle Erfahrungsschatz eine Rolle. So hat auch der Gesundheitszustand selbst einen Einfluss auf das Verständnis von Krankheit und Gesundheit (Kaplan und Baron-Epel 2003). Eher ungesunde Individuen haben ein engeres, stärker auf physische Gesundheit beschränktes Konzept hinter SRH (Adams et al. 1997). Genauso können vergangene Erfahrungen mit Krankheiten eine unterschiedliche Konzeption von Gesundheit erzeugen (Jylhä 2009; Sen 2002; Simon et al. 2005). Die dynamische Perspektive auf Gesundheit als ein möglicher Vorteil von SRH gegenüber objektiven, statischen Maßen wurde oben bereits erwähnt. Dem zugrunde liegt die Frage, ob SRH ein dauerhaftes Selbstkonzept oder eine spontane Beurteilung ist. Um das herauszufinden, analysierten Bailis et al. (2003) die zeitlichen Veränderungen im selbsteingeschätzten Gesundheitszustand in Abhängigkeit von physischen und psychischen Symptomen, sozialer Unterstützung und Gesundheitsverhalten anhand von Daten des National Population Health Survey in Canada. SRH war dabei empfänglich für Veränderungen dieser Faktoren, allerdings wurde ein großer Teil der Varianz durch die Selbsteinschätzung zum ersten Beobachtungszeitpunkt erklärt. Darüber hinaus variierten die Effekte sogar je nachdem, ob die Befragten die Intention hatten, bestimmte Formen des Gesundheitsverhaltens in Zukunft zu ändern. Die Autoren schlussfolgern daraus, dass es sich bei SRH um ein stabiles Konstrukt handelt, das mehr als ein Selbstkonzept denn als spontane Beurteilung zu sehen ist.

3.2

Welche Eigenschaften determinieren SRH zusätzlich?

Wenn eine Änderung in SRH auftritt, lassen sich dafür verschiedene Gründe ins Feld führen: eine absolute Veränderung, die auf derselben Skala ausgedrückt wird (alpha change), eine Rekalibrierung der Skala, auf der die Bewertung vorgenommen wird (beta change), oder eine Veränderung des zugrunde liegenden Konzepts von Gesundheit (gamma change) (Norman und Parker 1996). Es ist somit gleichermaßen möglich, dass der selbsteingeschätzte Gesundheitszustand sich verändert, obwohl

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sich objektiv keine gesundheitliche Veränderung ergeben hat, als auch, dass tatsächliche Veränderungen in der Gesundheit von Personen sich nicht in ihrer Antwort widerspiegeln, da die Bewertung sich an die Umstände anpasst. Am stärksten schlägt sich ein solcher Response Shift wohl im Alter nieder. Demzufolge verändert sich mit zunehmendem Alter die Grundlage der gesundheitlichen Selbsteinschätzung. Im Falle vom globalen SRH liegt es nahe zu vermuten, dass Befragte ihren Gesundheitszustand zumindest teilweise im Vergleich zu anderen Personen ihres Alters beurteilen. Mit zunehmendem Alter wird also die Gesundheit der Vergleichsgruppe ebenfalls schlechter, wodurch die Selbsteinschätzung trotz sich verschlechternder Gesundheit stabil bleibt. In diversen Studien wurde gezeigt, dass SRH mit dem Alter eine solche Stabilität aufweist (Leinonen et al. 2002), auch wenn sich objektivere Gesundheitsindikatoren verschlechtern (Layes et al. 2012; Leinonen et al. 2001). Somit erklärt sich auch, dass die prognostische Validität von SRH für Mortalität mit dem Alter abnimmt (van Doorslaer und Gerdtham 2003; Zajacova und Woo 2015). In einer Metaanalyse zum Response Shift, die 19 Studien beinhaltet, kommen Schwartz et al. (2006) zu dem Ergebnis, dass sich ein solcher Effekt insbesondere bei globalen Quality-of-Life-Maßen findet, er aber alles in allem eher klein sei. Die offensichtlich in SRH inhärente Alterskorrektur machen Kivinen et al. (1998) auch für die Diskrepanz zwischen dem subjektiven und dem von Ärzten eingeschätzten Gesundheitszustand verantwortlich. In ihrer Studie unter finnischen Männern im Alter zwischen 70 und 89 Jahren konnten sie zeigen, dass die beiden Maße nur schwach korrelierten und von unterschiedlichen Determinanten beeinflusst wurden. Insbesondere ergab sich bei der ärztlichen Einschätzung ein Alterseffekt, der beim subjektiven Maß weder bi- noch multivariat zu verzeichnen war. Die Alterseffekte auf SRH lassen berechtigten Zweifel zu, ob das Maß in allen Altersgruppen gleichermaßen verwendbar ist. Darum untersuchten Galenkamp et al. (2013) anhand einer Stichprobe von über 90-Jährigen, ob SRH in dieser Altersgruppe noch empfindlich für Veränderungen der Gesundheit ist. SRH war dabei mit der Zunahme von chronischen Erkrankungen und verstärkten funktionalen Einschränkungen verknüpft, allerdings deutlicher über längere Zeiträume als kurzfristig. Segerstrom (2014) untersuchte, inwiefern die Abhängigkeit von SRH vom Alter über die Anpassung der Referenzgruppe hinaus mit Persönlichkeitseigenschaften zusammenhängt. Sie gelangt zu der Schlussfolgerung, dass der Einfluss von akuten Stressoren und Lebensereignissen mit dem Alter zugunsten von Persönlichkeitseigenschaften und emotionalen Zuständen abnimmt. Ein Einfluss der Bildung auf SRH ist mittlerweile gut nachgewiesen. Dieser Effekt findet sich für diverse Länder (Subramanian et al. 2010) und er ist im internationalen Vergleich relativ homogen (Verropoulou 2009). Als Erklärung dafür kann das sogenannte Reserve-Capacity-Modell dienen, das besagt, dass höher Gebildete mit mehr psychosozialen Ressourcen ausgestattet sind, welche die negativen Effekte von schlechter Gesundheit abfedern können (Spuling et al. 2015). Bei diesen Ergebnissen ist jedoch schwer zu trennen, ob es sich dabei um Effekte auf die „wahre“ Gesundheit handelt, die sich in SRH niederschlagen, oder ob die Bildung den Antwortprozess beeinflusst. Es ergeben sich aber auch Unterschiede im Effekt von SRH auf Mortalität nach der Bildung. Die meisten Studien finden eine bessere

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Prädiktivität in höher gebildeten Gruppen (Dowd und Zajacova 2007; Emmelin et al. 2003). Huisman (2010) finden ebenfalls einen solchen Effekt, warnen aber davor, diesen überzubewerten, da er bei ihnen nur zwischen den äußersten Bildungskategorien auftritt. Andere AutorInnen finden keine (Burström und Fredlund 2001; van Doorslaer und Gerdtham 2003) oder sogar konträre Ergebnisse (Singh-Manoux et al. 2007). Internationale Differenzen scheiden als Ursache für diese divergierenden Ergebnisse aus, da innereuropäische Vergleiche ähnliche soziale Ungleichheiten in europäischen Ländern finden (z. B. Huisman et al. 2003). Es ist aber möglich, dass sich diese Effekte nach der untersuchten Altersgruppe unterscheiden (SinghManoux et al. 2007). Ein möglicher Mechanismus, der eine bessere prognostische Validität nach der Bildung erklären könnte, liegt in unterschiedlicher Health Literacy (s. Lenartz in diesem Band), also dem gesundheitsrelevanten Wissen und der Fähigkeit, sich solches Wissen anzueignen, es zu verstehen und für sich selbst anzuwenden. Stärker ausgeprägte Health Literacy kann dazu führen, dass Befragte eher tatsächlich mortalitätsrelevante Informationen in die Selbsteinschätzung ihrer Gesundheit einbeziehen. Empirische Arbeiten liefern bisher jedoch lediglich Indizien in diese Richtung. Trotz zunehmender Medikalisierung, durch die auch verstärkt Syndrome in die Überlegungen mit einbezogen werden dürften, die keinen Zusammenhang mit Mortalität aufweisen, finden Schnittker und Bacak (2014) über die Zeit eine Verbesserung der prognostischen Validität von SRH.2 Dies erklären sie mit zunehmendem Bildungsgrad und Wissen über medizinische Zusammenhänge. Auch die stärkere Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen führt zu einer Verbesserung der Vorhersagekraft der gesundheitlichen Selbsteinschätzung hinsichtlich der Mortalität (Idler et al. 2004). Dies könnte ebenfalls an einer Zunahme objektiver Informationen liegen, die für die Selbsteinschätzung herangezogen werden. Der Forschungsstand hinsichtlich des Einflusses des Geschlechts ist nicht ganz eindeutig. Offensichtlich sind die Selbsteinschätzungen von Frauen tendenziell schlechter als die von Männern (Eriksson et al. 2001). Ob sich dies jedoch auf die Messqualität des Items beziehen lässt, ist nicht ganz klar. Der größte Teil der Literatur spricht dafür, dass die prädiktive Validität von SRH für Männer besser ist als für Frauen (Deeg und Kriegsman 2003; Dowd und Zajacova 2007; Huisman et al. 2007; für ein gegenteiliges Ergebnis, siehe Kaplan und Camacho 1983). Offensichtlich basiert SRH also für Männer und Frauen auf unterschiedlichen Informationen bzw. auf unterschiedlichen latenten Konstrukten. Emmelin et al. (2003) vermuten, dass die Einschätzungen von Frauen auf einer breiteren Menge an gesundheitsbezogenen und nicht gesundheitsbezogenen Faktoren beruhen. Eventuell sind auch unterschiedliche emotionale Reaktionen verantwortlich für den Effekt. Passend dazu fanden Perrig-Chiello et al. (1999) einen schwächeren internen Kontrollfokus für Frauen als für Männer. Weiterhin beziehen Männer im Gegensatz zu Frauen aktuelle

2

Hiermit eng verbunden stellen Salomon et al. (2009) fest, dass die Eignung von SRH als Gesundheitsmaß auf Bevölkerungsebene eher gering ist, da es sich über die Zeit nicht verändert bzw. schlechter geworden ist, obwohl Mortalitäten langfristig gesunken sind.

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Veränderungen der eigenen Gesundheit in ihre Einschätzungen mit ein (Manderbacka und Lundberg 1996). Die Geschlechterdifferenzen variieren allerdings sehr stark zwischen Populationen (Torsheim et al. 2006; Verropoulou 2009) und werden mit dem Alter stärker (Torsheim et al. 2006). Komplizierter ist die Einordnung gemäß den Zusammenhängen mit psychischen bzw. psychosozialen Maßen. Bereits früh gab es die Vermutung, dass SRH stabile Persönlichkeitseigenschaften wie Optimismus und Pessimismus widerspiegele. Im vorherigen Abschnitt wurde bereits erwähnt, dass solche Faktoren als Ressourcen interpretiert werden können, die einen Einfluss auf die Bewältigung von gesundheitlichen Herausforderungen haben können. Aber auch temporäre Zustände können beeinflussen, welche Informationen berücksichtigt werden und wie diese Informationen bewertet werden (Huisman 2010). Insofern lassen sich psychische Faktoren sowohl als mortalitätsrelevante Bestandteile von SRH als auch als verzerrende Faktoren interpretieren. Die Begriffe positiver und negativer Affekt beschreiben die emotionale Angespanntheit einer Person. Viele Studien weisen einen Effekt negativer Affekte auf die gesundheitliche Selbsteinschätzung und die Wahrscheinlichkeit nach, Krankheitssymptome zu berichten (Benyamini et al. 1999; Mora et al. 2007; Whitehead und Bergeman 2013), und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei um einen temporären Zustand (state) oder eine stabile Persönlichkeitseigenschaft (trait) handelt. Positiver Affekt hat ebenfalls einen Einfluss, wenn auch einen geringeren (Benyamini et al. 2000; Whitehead und Bergeman 2013). Laut Benyamini et al. (1999) führt negativer Affekt als Persönlichkeitseigenschaft (trait) zwar zu einer schlechteren Selbsteinschätzung, reduziert aber nicht den Zusammenhang zwischen dieser und „objektiven“ medizinischen Indikatoren. Ebenso verschwindet in ihren Untersuchungen der unabhängige Effekt des Affekts auf SRH nach der Kontrolle auf funktionale Einschränkungen, die die AutorInnen darum als besonders bedeutungsvoll für den Zusammenhang hervorheben. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Mora et al. (2008), bei denen sich der Einfluss von überdauerndem (trait) Affekt nur im Querschnitt, nicht jedoch im Längsschnitt zeigt. Barsky et al. (1992) untersuchten die Bedeutung von physischer und psychiatrischer Morbidität, funktionalen Einschränkungen, Hypochondrie und Somatisierungstendenzen auf den SRH einer Population von ambulanten Patienten. Dabei stellten sich Hypochondrie, Somatisierung und Behinderungen als stärkste Prädiktoren heraus. Löckenhoff et al. (2012) finden außerdem Korrelationen zwischen SRH und einigen Dimensionen der Persönlichkeitsmaße der Big Five. Aber auch psychosoziale Faktoren sind nicht in der Lage, den eigenständigen Teil der selbsteingeschätzten Gesundheit zur Vorhersage von Mortalität (Idler und Kasl 1991) oder Hospitalisierung (Weinberger et al. 1986) vollständig zu erklären. Durch seine einfache Erhebung und weite Verbreitung findet SRH häufig Verwendung in internationalen Vergleichsstudien. Die Glaubwürdigkeit interkultureller Vergleiche hängt allerdings stark davon ab, ob es in allen vertretenen Ländern und Kulturen tatsächlich dasselbe Konstrukt misst. Dies scheint jedoch nicht der Fall zu sein. Die Verteilung von SRH differiert zwischen Ländern, selbst wenn man auf relevante Kovariaten (Soziodemografie, medizinische Faktoren) kontrolliert (Bardage et al. 2005; Zimmer et al. 2000). Gründe für internationale bzw. interkulturelle Unterschiede lassen

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sich mehrere anführen (Jylhä 2009): Zunächst mag der durchschnittliche Grad der Morbidität innerhalb einer Gesellschaft dazu führen, dass durch ihn ein Normalzustand definiert wird, an dem sich Befragte bei ihrer Selbsteinschätzung orientieren und der dementsprechend interkulturell variiert (Kaplan und Baron-Epel 2003; Sen 2002). Weiterhin gibt es kulturelle Unterschiede im Antwortverhalten, z. B. hinsichtlich sozialer Erwünschtheit, der Vermeidung von extremen Antwortkategorien und der Neigung, negative Antworten zu vermeiden (Bzostek et al. 2007), was jedoch die Länderunterschiede nicht hinreichend zu erklären scheint (Jürges 2007). Zuletzt muss die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass linguistische Faktoren für Unterschiede in der Beantwortung von SRH verantwortlich sind (Bzostek et al. 2007). Gleichzeitig sind allerdings die Determinanten von SRH in den Ländern relativ ähnlich (Zimmer et al. 2000). Differenzierter ausgedrückt unterscheiden sich Alters- und Geschlechtereffekte zwar nach Ländern, Effekte objektiver Gesundheitsindikatoren und des Gesundheitsverhaltens (mit Ausnahme des Rauchstatus) sind dagegen homogen (Verropoulou 2009). Auch hinsichtlich der Vergleichbarkeit der unterschiedlichen Varianten (global, alters- und selbstvergleichend) von SRH in Bezug auf den Einfluss von medizinischen, soziodemografischen, psychischen, sozialen Faktoren und Gesundheitsverhalten gibt es Unterschiede. So wird laut Löckenhoff et al. (2012) der allgemeine SRH stärker als alters- und selbstvergleichender SRH vom Alter beeinflusst. Laut Sargent-Cox et al. (2008) fokussiert der Altersvergleich auf eine Abgrenzung nach unten, während der Selbstvergleich stark auf Verlust und Veränderung reagiert. Globaler SRH beinhaltet dagegen sowohl den sozialen als auch den temporalen Vergleich, allerdings scheint der soziale bei Älteren zu überwiegen (Sargent-Cox et al. 2008). Eriksson et al. kamen außerdem zu dem Ergebnis, dass auch die nicht altersspezifischen Maße eine implizite Alterskorrektur zu beinhalten scheinen. Dafür überkorrigiert das altersvergleichende Maß, da hier die Gesundheitseinschätzung mit dem Alter sogar besser wird (Eriksson et al. 2001).

3.3

Modell des kognitiven Antwortprozesses

Bisher bestehen wenige Anstrengungen, das Wissen über den kognitiven Antwortprozess bei SRH in ein Gesamtmodell zu integrieren. Ein Vorschlag wurde von Knäuper und Turner (2003) vorgelegt. Darin werden für den Fall, dass gesundheitsrelevante Probleme vorliegen, verschiedene Formen von Informationen (semantisches Wissen, episodisches Wissen und Wissen über Veränderungen) abgerufen und vor dem Hintergrund eines sozial erzeugten Standards bewertet. In diesem sozialen Vergleichsprozess haben soziodemografische Elemente genauso einen Einfluss wie Persönlichkeitsmerkmale. Dieser Vergleichsprozess mündet schließlich in der Repräsentation des Ergebnisses auf der vorgegebenen Antwortskala. Gleichzeitig betonen die Autorinnen die Bedeutung von surveymethodologischen Einflüssen der Befragung auf das Ergebnis. Jylhä (2009) greift das Modell von Knäuper und Turner auf und erweitert es, insbesondere um die Frage des individuellen Konzepts von

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Gesundheit, vor dessen Hintergrund die Frage beantwortet wird. Die Fragen, welche Faktoren überhaupt relevant für das Gesamtkonstrukt „Gesundheit“ sind und welche Informationen dementsprechend für die Evaluation derselben herangezogen werden müssen, stehen hier ganz zu Beginn des Prozesses. Im nächsten Schritt werden diese Informationen abgerufen. Es folgt die kritische Frage nach dem Referenzrahmen, den die Befragten anwenden. Hier muss entschieden werden, mit wem man sich vergleicht und wie die abgerufenen Informationen dementsprechend verarbeitet und bewertet werden. Zuletzt gilt es zu entscheiden, in welche Antwortmöglichkeit das Ergebnis überführt werden soll. Dafür ist zunächst jedoch die Abwägung notwendig, welche von den angebotenen Optionen die Norm darstellt und welche Abweichungen davon welche Bedeutung haben. Auch Jylhä betont die Kontextbasiertheit des Evaluierungsprozesses, jedoch legt sie dabei im Gegensatz zu Knäuper und Turner weniger Wert auf Eigenschaften der Befragung oder den individuellen mentalen Zustand, sondern berücksichtigt Kontexteigenschaften bei jedem Schritt des kognitiven Prozesses: kulturelle und historische Bedeutungen von Gesundheit im ersten Schritt, individuelle Faktoren wie die Wahl einer bestimmten Referenzgruppe sowie persönliche Erfahrungen mit Gesundheit und auch psychische Eigenschaften im zweiten Schritt und zuletzt kulturelle Unterschiede in der Kommunikation von positiven und negativen Meinungen sowie dem Umgang mit der Skala. Abb. 1 zeigt ein Modell in Anlehnung an Knäuper und Turner (2003) und Jylhä (2009), das außerdem die in den vorherigen Abschnitten reflektierten Erkenntnisse über die Determinanten von SRH berücksichtigt. Auch hier steht zu Beginn der Selbsteinstufung das individuelle Gesundheitskonzept, das stark von der kulturellen Einbettung, jedoch auch von soziodemografischen Eigenschaften wie Bildung und individuellen Gesundheitserfahrungen abhängig ist. Auf der Basis dieses Konzeptes entscheidet sich zunächst, welche objektiven Faktoren in die Selbsteinstufung mit einbezogen werden, und gleichzeitig, wie diese mit den subjektiven Faktoren interagieren und von ihnen gewichtet werden. Beispielsweise kann die Priorisierung von Körperempfindungen gegenüber einer ärztlich gestellten Diagnose von der grundsätzlichen Einstellung gegenüber Schulmedizin geprägt sein. Die subjektiven Faktoren ergänzen die objektiven, stellen aber auch gleichzeitig einen Filter für sie dar, der sie in ihrer Wichtigkeit und Bewertung beeinflusst. Der Prozess auf dieser Ebene wird dabei einerseits von psychosozialen Faktoren wie positivem oder negativem Affekt, andererseits auch von Wissen und Kompetenzen im Umgang mit medizinischen Zusammenhängen als Kontextfaktoren beeinflusst. Die Integration der so gewonnenen Informationen erfolgt, wie oben ausführlich beschrieben, vor dem Hintergrund eines sozialen und individuellen Vergleichs. Die Empirie zeigt, dass der gewählte Referenzpunkt dabei ebenfalls von individuellen Eigenschaften determiniert wird, insbesondere vom Alter. Zuletzt muss ein Abgleich der gewonnenen Bewertung mit der vorgegebenen Skala vorgenommen werden. Dies passiert in Abhängigkeit von der konkreten Befragungssituation (Modus, soziale Erwünschtheit) und den Eigenschaften des Erhebungsinstruments (Effekte durch die Frageformulierung und die Antwortskala, Reihenfolgeeffekte).

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Abb. 1 eigene Darstellung basierend auf Knäuper und Turner (2003) und Jylhä (2009)

4

Ausblick und Implikationen für die Forschung

Die Frage nach dem subjektiven Gesundheitszustand hat sich innerhalb der letzten Jahrzehnte als unverzichtbarer Bestandteil des Werkzeugkastens allgemeiner Befragungen und spezieller Gesundheitssurveys erwiesen. Insbesondere das Kosten-Nutzen-Verhältnis von extrem geringem Aufwand bei gleichzeitig guter prognostischer Validität für relevante Gesundheitsdimensionen macht das Item so beliebt. Es ist deutlich geworden, dass das Maß eine Fülle an Eigenschaften hat, die den Forschenden entgegenkommen. So sagt es nicht nur Morbidität und andere wichtige gesundheitsrelevante Ereignisse gut voraus, sondern tut dies auch noch in einem Ausmaß, in dem andere weit komplexere Maße dies nicht oder nur schlecht können, da es eine subjektive Komponente enthält, die seine Validität noch erhöht. Die Einschränkungen, die bezüglich der Zuverlässigkeit des Items gemacht wurden, zeigen aber auch, dass es sich dabei um ein Konstrukt handelt, mit dem nicht völlig sorglos umgegangen werden sollte. Insbesondere beim Vergleich über unterschiedliche Gruppen können bei unbedachter Anwendung schnell Verzerrungen entstehen. Es häufen sich die Hinweise darauf, dass SRH mit der Bildung variiert und im

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interkulturellen Vergleich problematisch ist. Insbesondere aber gibt es starke Hinweise darauf, dass das den Befragten zugrunde liegende Konstrukt von Gesundheit nicht über den gesamten Altersverlauf stabil ist. Aus diesem Grund ist gerade bei Forschungsvorhaben, die den Fokus auf einen Vergleich unterschiedlicher Altersgruppen legen, sowie bei Längsschnittuntersuchungen konzeptionelle Vorsicht geboten. Sofern aber diese kritischen Punkte bei der Planung eines Forschungsvorhabens mit SRH berücksichtigt werden, zeigt die Empirie, dass es sich dabei um ein sehr nützliches Maß handelt, dessen Einsatzmöglichkeiten vielfältig sind. Die Forschung zeigt aber auch, dass das Wissen über SRH noch beschränkt ist. Besonders die Empfehlung des Einsatzes von SRH auch im klinischen Bereich zur Risikobewertung und Anregung eines Reflexionsprozesses des Patienten (Waller et al. 2015) zeugt von der Notwendigkeit, das Verständnis der hinter SRH liegenden Mechanismen und seiner Determinanten zu verbessern. Zukünftige Forschungsvorhaben, die sich mit den messtheoretischen Eigenschaften von SRH beschäftigen, haben einige Fragen zu klären, um insbesondere dessen eigenständigen Erklärungsanteil besser zu verstehen. Weitgehend ungeklärt sind beispielsweise der Mechanismus hinter dem Zusammenspiel von Bildung, Gesundheit und SRH und die Rolle des Gesundheitsverhaltens. Erfolgversprechend ist auch ein genauerer Blick auf den Einfluss von Biomarkern und wie diese über körperliche Empfindungen mit SRH verbunden sind. Auf welchem Wege genau einzelne Faktoren Gesundheit und den subjektiven Gesundheitszustand beeinflussen (bzw. das Verhältnis der zwei letzteren zueinander), berührt selbstverständlich auch die Frage nach der grundsätzlichen Natur des Konstrukts „Gesundheit“ und die Frage, ob es so etwas wie eine latente „wahre“ Gesundheit überhaupt gibt. Letztendlich kann die Forschung zum Verständnis von SRH so vielleicht auch Diskurse zu größeren, übergeordneten Fragen anregen. Gleichzeitig liegt gerade eine der interessanten Facetten des Maßes in der Tatsache, dass es für jegliches Gesundheitsverständnis einen Anknüpfungspunkt bietet. In der Zwischenzeit erhöht jeder Schritt in der Erforschung von SRH weiter den Nutzen des ohnehin bereits wertvollen Konstrukts.

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Was ist Gesundheit? Gen-Umwelt Interaktionen und ihre Einflüsse auf Gesundheit Jonas Rees und Martin Diewald

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Studiendesigns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Erblichkeitsschätzungen körperlicher und psychischer Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Vermittelnde Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Aktuelle Entwicklungen zu Gen-Umwelt-Interaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Um das Zusammenwirken von Genen und Umwelt und deren Zusammenhänge mit Gesundheit zu systematisieren, führen wir kurz in die Logik einschlägiger Studiendesigns ein, geben einen Überblick über Erblichkeitsschätzungen von Krankheiten und zwischen Genen und Gesundheit vermittelnde Mechanismen. Der Hauptteil des Kapitels widmet sich verschiedenen Varianten, in denen Anlage- und Umwelt-Einflüsse interagieren können. Wir schließen mit einigen aktuellen Entwicklungen, Sorgen und Potenzialen, die mit den interaktiven Einflüssen von Genen und Umwelt auf unsere Gesundheit verbunden sind. Schlüsselwörter

Anlage · Gen-Umwelt Interaktion · Gesundheit · Krankheit · Umwelt

J. Rees (*) Zentrum für interdisziplinäre Forschung, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Diewald (*) Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Kriwy, M. Jungbauer-Gans (Hrsg.), Handbuch Gesundheitssoziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06392-4_6

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J. Rees und M. Diewald

Einleitung

Mit den Fortschritten bei der Entschlüsselung des menschlichen Genoms in den 1990er-Jahren verband sich insbesondere die Hoffnung, die Entstehung nicht nur sogenannter Erbkrankheiten, sondern auch von Krankheit und Gesundheit insgesamt besser verstehen und in der Folge zum Positiven beeinflussen zu können. Mittlerweile liegen zahlreiche Studien vor, die die Erblichkeit von körperlichen Krankheiten wie Arthrose oder Bluthochdruck und psychischen Krankheiten wie Autismus, Schizophrenie oder Depression schätzen oder bestimmte Allele identifizieren, die an der Entstehung von Krankheiten beteiligt zu sein scheinen (für Überblicksarbeiten s. McGuffin und Martin 1999; Rutter 2002). Schnell zeichnete sich allerdings ab, dass einfache Antworten wie „Gen X ist für Krankheit Y verantwortlich“ den oft komplexen Zusammenhängen nicht gerecht werden. Inzwischen gelten nur vereinzelte Krankheiten wie Chorea Huntington und Sichelzellenanämie als im engeren Sinne genetisch bedingt (Chakravarti und Little 2003) während andere wie Diabetes und Asthma eher genetisch mitbedingt zu sein scheinen (MacGregor et al. 2000). Ein ursprünglich oft fälschlicherweise angenommener genetischer Determinismus im Sinne eines kompetitiven „Anlage versus Umwelt“-Verständnisses oder eines simplen additiven „Anlage und Umwelt“-Erklärungsmodells wird den Entstehungsbedingungen von Krankheit und Gesundheit nicht gerecht. Vielmehr dürfte ein komplexes Zusammenwirken beider Faktorenbündel für viele Aspekte unserer Gesundheit maßgeblich prägend sein. Diesen verschiedenen Möglichkeiten der Kovariation oder Interaktion von Genen und Umwelt wollen wir uns in unserem Beitrag widmen, allerdings einschränkend gleich zu Beginn einräumen, dass im Unterschied zu Erblichkeitsschätzungen, die auf einem einfachen additiven Verständnis von Anlage und Umwelt beruhen, die Untersuchung von Gen-Umwelt-Interaktionen bisher noch die Ausnahme darstellen. Deshalb führen wir zum besseren Verständnis zunächst kurz in die Logik gängiger Studiendesigns ein, auf denen ein Großteil der Forschung in diesem Bereich basiert. Anschließend geben wir einen Überblick über aktuelle Erblichkeitsschätzungen körperlicher und psychischer Krankheiten und einige prominente zwischen Genen und Gesundheit vermittelnde Mechanismen, nämlich Persönlichkeitseigenschaften, Intelligenz und Sozialkapital. Wir konzentrieren uns dabei auf die verschiedenen Pfade, über die soziale Umweltbedingungen die Wirkung genetischer Veranlagungen beeinflussen. Einen konzeptuellen Hauptteil des Kapitels bilden die verschiedenen Varianten, in denen Anlage- und Umwelt-Einflüsse interagieren können. Solche Anlage-Umwelt-Interaktionen können so definiert werden, dass „die Wirkung des Genoms auf individuelle Entwicklung und individuelles Verhalten durch soziale Umstände abgewandelt“ wird (Diewald 2010, S. 6). Genetische Einflüsse unterscheiden sich demnach zwischen Situationen, sozialen Gruppen und Gesellschaften. Von der genetischen Seite ausgehend ist es also entscheidend, wie eine genetische Veranlagung zu Gesundheit oder Krankheit durch soziale Prozesse modifiziert wird, z. B. durch soziale Unterstützung und Kontrolle, Ressourcenreichtum und -armut. Eine genetische Disposition zu bestimmten Krankheiten kommt oft nur unter bestimmten situativen Bedingungen zum Ausbruch, unter anderen dagegen nicht oder nur viel schwächer: ein und dieselbe genetische Ausstattung kann sich bei Armen

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anders auswirken als bei Reichen, in Familien anders als in Einpersonenhaushalten, in den USA anders als in Deutschland, und im Deutschland des 19. Jahrhunderts anders als im Deutschland des 21. Jahrhunderts. Umgekehrt fragen wir von der soziologischen Seite ausgehend, wie soziale Einflüsse auf Gesundheit und Krankheit durch genetisch geprägte Reaktionseigenschaften moderiert werden, etwa wenn ein Überschuss an Nahrung je nach Kontroll-Kompetenz zu Fettleibigkeit oder ausgewogener Ernährung führen kann. Genom-UmweltInteraktionen sind dabei zu trennen von Genom-Umwelt-Kovarianzen, also Fällen, in denen soziale Umwelten selbst durch genetische Faktoren mitbestimmt sind, folglich ein Zusammenhang zwischen sozialer Umwelt und (Gesundheits-)Verhalten nicht so ausschließlich sozial determiniert ist wie es zunächst den Anschein hat. Wir werden sehen, dass die Forschung in diesem Bereich sich noch in den Anfängen befindet und daher ein großer Teil dieses Abschnitts theoretisch bleiben muss. Abschließend stellen wir noch einige aktuelle Entwicklungen dar, wie etwa die Ergänzung des klassischen Diathese-Stress-Modells zugunsten einer „differenziellen Empfänglichkeit“ (Belsky und Pluess 2009) oder die zunehmende Berücksichtigung epigenetischer Phänomene, und diskutieren kurz, welche Sorgen und Potenziale mit den interaktiven Einflüssen von Genen und Umwelt auf unsere Gesundheit verbunden sind.1

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Studiendesigns

Häufig ähneln Menschen ihren Eltern, Geschwistern und anderen engen Verwandten nicht nur in ihrem äußeren Erscheinungsbild, sondern auch in ihrem Verhalten – oder in ihrer Krankheitsgeschichte. Es mag naheliegen, von familiärer Häufung auf die genetische Transmission, etwa einer Krankheit, zu schließen. Immerhin scheinen Kinder die Krankheit von ihren Eltern „geerbt“ zu haben. Dies wäre jedoch ein Trugschluss, weil die Einflüsse der sogenannten geteilten Umwelt dabei außer Acht gelassen würden. Statt einer genetischen Ursache könnte die Krankheit etwa darauf zurückzuführen sein, dass die Familienmitglieder miteinander systematisch ähnlichere Umwelten teilen als mit Nicht-Familienmitgliedern: den gleichen Haushalt, die gleiche Wohnumwelt, den gleichen sozialen Status und vieles mehr. Bei der Entstehung komplexer Persönlichkeitseigenschaften oder Krankheiten geht man daher heute davon aus, dass der Phänotyp das Ergebnis einer Kombination von Genen und Umwelt ist. Zwei „natürliche Experimente“ ermöglichen uns die Schätzung von Gen- und Umwelt-Einflüssen auf Krankheiten in Zwillings- und Adoptionsstudien (s. McGuffin und Martin 1999). Zwillingsstudien vergleichen monozygotische mit dizygotischen Zwillingen. Während die Geschwister im ersten Fall ihren kompletten Gensatz teilen, teilen 1

Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass der Bereich molekulargenetischer Forschung zum Thema Gesundheit aus der Betrachtung in diesem Kapitel ausgenommen bleibt, weil er soziologisch nur schwer abzubilden ist. Interessierten Leserinnen und Lesern empfehlen wir entsprechende Fachbücher, die einen kompetenteren Überblick bieten als wir dies zu leisten im Stande wären (z. B. Strachan und Read 2010).

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J. Rees und M. Diewald

Abb. 1 Als Korrelationskoeffizienten indizierte Ähnlichkeit von eineiigen und zweieiigen Zwillingen (nach McGuffin und Martin 1999)

Geschwister im zweiten Fall nur durchschnittlich 50 % der genetischen Ausstattung, wie bei sonstigen leiblichen Geschwistern auch. Nehmen wir weiterhin an, dass die geteilte Umwelt für eineiige und zweieiige Zwillinge dieselbe ist (sog. „equal environments assumption“, s. Plomin et al. 1997), dann können wir von einer größeren phänotypischen Ähnlichkeit unter eineiigen Zwillingen (im Vergleich zu zweieiigen Zwillingen) auf eine genetische Ursache der entsprechenden Krankheit oder des entsprechenden Persönlichkeitsmerkmals schließen. Genauer gesagt sollten die jeweiligen Ausprägungen eines vollständig genetisch veranlagten Phänotyps bei eineiigen Zwillingen eine perfekte Korrelation (r = 1,00) aufweisen. Da ein solcher Fall nur theoretisch auftritt, werden aus dem Vergleich der Korrelationen über monound dizygotische Zwillingspaare hinweg Rückschlüsse auf die Erblichkeit des Merkmals gezogen. Wenn sich nämlich monozygotische Zwillinge genauso ähnlich oder unähnlich sind wie dizygotische, dann ist das Merkmal offenbar nur durch Umweltfaktoren bedingt (s. Abb. 1). Adoptionsstudien folgen einer ähnlichen Logik und untersuchen etwa die Auftretenswahrscheinlichkeit bestimmter Krankheiten bei Kindern, die nach der Geburt von ihren erkrankten Eltern getrennt wurden (z. B. Heston 1966). Liegt diese auch bei Kindern, die nicht bei ihren erkrankten Eltern aufgewachsen sind, höher als in der Allgemeinbevölkerung, so können wir auch in diesem Fall auf eine genetische Ursache schließen, denn Einflüsse der geteilten Umwelt können durch die Trennung nach der Geburt ausgeschlossen werden (McGuffin und Martin 1999). Umgekehrt lässt sich außerdem von der Ähnlichkeit unter Kindern, die zwar nicht miteinander verwandt, aber in derselben Familie aufgewachsen sind, auf einen Einfluss der geteilten Umwelt schließen.

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Neben diesen klassischen Studiendesigns sind inzwischen auch direkte Untersuchungen des Genoms möglich, die spezifischere Rückschlüsse auf die jeweils beteiligten Gene zulassen. Hier sind insbesondere die sogenannten genomweiten Assoziationsstudien (genome-wide association studies, kurz GWAS) zu nennen. Darin werden Einzelnukleotid-Polymorphismen (single-nucleotide polymorphisms, kurz SNPs), also Varianten der Basenpaare der DNA, in Hunderte oder Tausende Probanden umfassenden Stichproben untersucht, die sich hinsichtlich eines bestimmten phänotypischen Merkmals, etwa dem Auftreten einer Krankheit, unterscheiden (Hirschorn und Daly 2005; Manolio 2010). Solche Studien haben den Vorteil, dass sie quasi alle Gene einbeziehen. Anders als sogenannte KandidatenGen-Studien, die auf einzelne Genvarianten fokussieren, die mit einer Krankheit in Verbindung stehen könnten, werden so auch die zahlreichen, möglicherweise kleinen, Effekte aller möglichen Gene berücksichtigt. Es ist allerdings wichtig zu bedenken, dass sich aus GWAS lediglich eine Korrelation von Krankheit und (möglicherweise sehr vielen) SNPs herstellen lässt. Eine ursächliche Verbindung nach der Logik „Gen X ist für Krankheit Y verantwortlich“ lässt sich daraus mitnichten ableiten. GWAS können allerdings die Grundlage für weitere Forschung sein, die die Verbindung von Genom und Krankheit genauer beleuchtet (Manolio 2010; eine Übersicht publizierter GWAS findet sich unter www.genome.gov/gwastudies).

3

Erblichkeitsschätzungen körperlicher und psychischer Krankheiten

Um die sogenannte Erblichkeit (Heritabilität) einer Krankheit zu quantifizieren, gelten Zwillingsstudien weiterhin als sinnvolles Design. Mit Erblichkeit ist dabei das Ausmaß phänotypischer Varianz in der Gesamtpopulation gemeint, das durch genetische Variation erklärt werden kann (MacGregor et al. 2000). In Tab. 1 findet sich eine Übersicht über die auf dieser Grundlage geschätzte Erblichkeit verschiedener körperlicher Krankheiten. In einer Studie, die kurz beispielhaft angerissen werden soll, wurde die Auftretenswahrscheinlichkeit von Asthma bei über 3800 australischen Zwillingspaaren untersucht (Duffy et al. 1990). Bei zugrunde liegender Prävalenz von 13,2 % in der untersuchten Stichprobe fand sich eine signifikante Korrelation hinsichtlich des Auftretens der Erkrankung bei Zwillingen. Diese war wiederum höher bei monozygotischen Zwillingen (r = ,59-,76) als bei dizygotischen Zwillingen (r = ,19-,26), woraus die Forscher eine Erblichkeit zwischen 60 und 70 % schätzten. Es sollte bei der Beurteilung solcher Schätzungen berücksichtigt werden, dass Zwillingsstudien durchaus Kritik erfahren haben. So ist etwa die equal environments assumption im strengen Sinn nicht haltbar, doch scheint dies keine substanziellen Verzerrungen von Erblichkeitsschätzungen nach sich zu ziehen (Plomin et al. 1997). Es scheint außerdem erwähnenswert, dass die Vorstellung von Erblichkeit seit jeher ein gewisses Unbehagen auslöst und Widerspruch provoziert. So wies in seiner klassischen Kritik schon Lewontin (1974) darauf hin, dass Erblichkeitsschätzungen fälschlicherweise den Schluss auf die Erblichkeit im Einzelfall nahelegen würden.

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Tab. 1 Erblichkeitsschätzungen von Krankheiten (nach MacGregor et al., 2000) Adipositas Arthrose (Hand, Knie) Asthma Bluthochdruck Colitis ulcerosa

Erblichkeit in % 50–90 50–70 60 40–70 50

Erblichkeitsschätzungen können aber immer nur im Hinblick auf jeweilige Untersuchungspopulationen interpretiert werden. Dass eine Krankheit in einer Untersuchung in den USA im Jahr X zu einem bestimmten Prozentsatz erblich ist, heißt also nicht, dass sie in Deutschland im Jahr Y ebenfalls zu diesem Prozentsatz erblich ist, und schon gar nicht bedeutet es, dass sie im Einzelfall tatsächlich auftritt, sondern lediglich, dass sie in der Gesamtpopulation in familiären Zusammenhängen wahrscheinlicher auftritt als es die zugrunde liegende Prävalenz erwarten ließe. Wir kommen auf den Umgang mit Wahrscheinlichkeitsaussagen in unseren abschließenden Betrachtungen zurück. Schließlich wies interessanterweise auch schon Lewontin darauf hin, dass die zu der Zeit gängige Annahme, das Auftreten einer Krankheit lasse sich im Wesentlichen durch die Gleichung „Anlage + Umwelt“ vorhersagen, die Realität unzulässig vereinfache. Das Zusammenspiel beider Faktoren, so argumentierte er, sei in keinem Fall zu vernachlässigen und könnte in Kombination sogar wichtiger sein als beide Faktoren für sich betrachtet. Bevor wir uns diesen Gen-Umwelt Interaktionen zuwenden, betrachten wir jedoch zunächst einige zwischen Veranlagung und Krankheit vermittelnde Faktoren, wo genetische und soziale Einflüsse inhärent wirksam werden, obwohl sie gemeinhin als rein soziale Einflüsse thematisiert werden (Genom-Umwelt-Kovarianz).

4

Vermittelnde Prozesse

Als „Umwelt“ wird in der Verhaltensgenetik die Gesamtmenge aller nichtgenetischen Einflüsse verstanden, denen wir nach unserer Geburt ausgesetzt sind. Der Umwelt-Begriff wird in der Verhaltensgenetik demnach wesentlich weiter gefasst als es in der soziologischen Literatur üblich ist. Nach dieser Definition kann die Umwelt also beispielweise auch Unterschiede aufgrund von Geschlecht, physischen, psychologischen oder kulturellen Faktoren beinhalten (Wright et al. 2002). Während zahlreiche dieser Variablen nur schwierig oder gar nicht messbar sind, wird dennoch angenommen, dass die Änderungen in der Auftretenshäufigkeit bestimmter Krankheiten wie Asthma, koronarer Herzkrankheit oder Typ 2 Diabetes mellitus ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hauptsächlich auf Veränderungen in unserer Umwelt zurückzuführen sind, wie etwa eine veränderte Lebensweise und die gestiegene Verfügbarkeit von Informationen zu Vorsorge und verbesserte Behandlungsmöglichkeiten (z. B. Charlton und Murphy 1997). Demnach würde es sich in diesen Fällen hauptsächlich, wenn auch wahrscheinlich nicht ausschließlich, um

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Umwelteffekte handeln. Es ist allerdings durchaus plausibel anzunehmen, dass Menschen je nach Veranlagung unterschiedlich auf sich verändernde Umwelteinflüsse reagieren. Es scheint daher notwendig, zunächst einige in dem durch Gesundheit, Gene und Umwelt aufgespannten Feld und damit zwischen Veranlagung und Gesundheit vermittelnde Faktoren in den Blick zu nehmen. Persönlichkeitseigenschaften, Intelligenz und Sozialkapital haben sich als häufig wichtige und vergleichsweise starke Prädiktoren von gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen und Outcomes erwiesen, die gleichzeitig substanziell genetisch mitbedingt sind. Sie sollen deshalb stellvertretend für weitere solcher Merkmale im Folgenden etwas ausführlicher dargestellt werden. Es gilt inzwischen als belegt, dass bestimmte Persönlichkeitseigenschaften mit Gesundheit assoziiert sind. So zeigten beispielsweise Weiss und Costa (2005), dass Gewissenhaftigkeit in einer Stichprobe 65- bis 100-jähriger Probanden selbst bei Kontrolle soziodemografischer und anderer gesundheitsrelevanter Maße vorhersagte, ob die Probanden zwei Jahre später noch am Leben waren. Die Rolle von Gewissenhaftigkeit als „Schutzfaktor“ lässt sich über eine Vielzahl inzwischen vorliegender Studien auch meta-analytisch zeigen und leuchtet insofern ein als dass gewissenhafte Menschen zu weniger Alkoholkonsum, Rauchen und anderen gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen neigen (Bogg und Roberts 2004). In einem kürzlich entwickelten Modell werden die verschiedenen Wirkwege zusammengefasst, auf denen Gewissenhaftigkeit sich auf Gesundheit auswirken kann (Shanahan et al. 2014). Diese beinhalten neben der Förderung gesundheitsdienlicher und der Vermeidung gesundheitsschädlicher Verhaltensweisen auch die Vermeidung und Neutralisation von Stressoren und eine höhere Wahrscheinlichkeit von sozioökonomischem Erfolg. Das Modell nimmt außerdem an, dass sich die Mechanismen, durch die Gewissenhaftigkeit sich auf Gesundheit auswirkt, einerseits über die Lebensspanne verändern und andererseits über verschiedene soziale Kontexte hinweg variieren. Neben Gewissenhaftigkeit als Schutzfaktor wird andererseits Neurotizismus als Risikofaktor häufig mit der Entwicklung körperlicher und psychischer Krankheiten in Verbindung gebracht (Lahey 2009; Wilson et al. 2005, aber s. a. Weiss und Costa 2005). In der Literatur finden sich unterschiedliche Modelle dazu, wie Persönlichkeit und Gesundheit zusammenhängen könnten (Matthews et al. 2003). So wäre etwa unter bestimmten Voraussetzungen eine umgekehrte Kausalreihenfolge denkbar, nach der die Diagnose einer Krankheit zur Entwicklung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale führt. Plausibler scheint jedoch ein Modell, in dem Persönlichkeit zwischen genetischer Veranlagung und Gesundheit vermittelt bzw. die Auswirkungen genetischer Veranlagung auf Gesundheit zumindest teilweise erklärt oder modifiziert (Hagger-Johnson und Pollard Whiteman 2008). Ähnlich wie manche Persönlichkeitseigenschaften ist auch Intelligenz als ein verlässlicher Prädiktor von Gesundheit und Langlebigkeit belegt (Gottfredson und Deary 2004). In einem prominenten Beispiel untersuchten Whalley und Deary (2001) die Daten von fast 3000 schottischen Probanden. Diese hatten an einer bis heute einzigartigen IQ-Massentestung, dem Scottish Mental Survey von 1932, teilgenommen, wodurch IQ-Werte für quasi die komplette Geburtskohorte vorlagen. Es fand sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem im Alter von 11 Jahren

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gemessenen IQ mit der Sterblichkeit 65 Jahre später: Für Individuen mit einer Standardabweichung (15 IQ-Punkte) unter Durchschnitt lag die Wahrscheinlichkeit, das 76. Lebensjahr zu erreichen, bei nur 79 % im Vergleich zur restlichen Stichprobe. Inzwischen liegen weitere Analysen vor, die den grundlegenden Zusammenhang von Intelligenz und Langlebigkeit ausdifferenzieren und spezifischere Mechanismen nahelegen, durch die sich Intelligenz auf Gesundheit auswirken mag. So fanden sich negative Zusammenhänge von Intelligenz mit dem Risiko von HerzKreislauf-Erkrankungen, koronarer Herzkrankheit und Krebserkrankungen (Hart et al. 2003), insbesondere Lungenkrebs (Deary et al. 2003), sowie Unfalltod bei männlichen Probanden (O’Toole 1990). Tatsächlich ist die Liste gesundheitsrelevanter Korrelate inzwischen so lang, dass argumentiert wurde, Intelligenz sei wahrscheinlich einer der zugrunde liegenden Mechanismen für die oft beschriebenen Gesundheitsunterschiede zwischen sozialen Schichten (Gottfredson 2004; s. a. Kap. Soziale Ungleichverteilungen von Gesundheit und Krankheit und ihre Erklärungen). Ein weiterer Faktor, der mit Gesundheit in Verbindung gebracht wurde, ist schließlich individuelles Sozialkapital, also eine Ressource, von der sehr viel weniger als von Persönlichkeit oder Intelligenz bekannt ist, dass sie genetisch mitbedingt ist (vgl. etwa Fowler et al. 2011). Klassische Studien im Bereich sozialer Netzwerke fanden schon früh einen Zusammenhang zwischen der sozialen Einbettung und Langlebigkeit von Individuen. Berkman und Syme (1979) etwa untersuchten fast 7000 zufällig ausgewählte Probanden, die 1965 unter anderem zu ihren sozialen Kontakten befragt worden waren und fanden, dass deren Sterblichkeit neun Jahre später signifikant mit der Anzahl der zum Befragungszeitpunkt angegebenen sozialen Kontakte zusammenhing. Dieser Zusammenhang war unabhängig von einer ganzen Reihe gesundheitsrelevanter Maße wie selbstberichtetem Gesundheitszustand bei der Befragung, Todeszeitpunkt, sozioökonomischem Status, Raucherstatus und anderen Indizes von Gesundheitsverhalten (Berkman und Syme 1979). Während das Konstrukt Sozialkapital unter anderem aufgrund seiner unklaren Operationalisierung nicht unumstritten ist, finden sich dennoch eine Reihe robuster Zusammenhänge zwischen Indikatoren von Sozialkapital und Gesundheit auf gesellschaftlicher und individueller Ebene (s. a. Kap. ▶ „Gesundheitliche Ungleichheiten und soziale Beziehungen“). Einerseits mögen einzelne dieser Indikatoren genetisch veranlagt sein (z. B. die Neigung, anderen Menschen zu vertrauen), womit Sozialkapital ein zwischen Genen und Gesundheit vermittelnder Mechanismus wäre. Andererseits mögen Umwelten, die reich an bestimmten Indikatoren von Sozialkapital sind, die Expression genetischer Veranlagung beeinflussen (z. B. gesellschaftliche Normen als soziale Kontrolle; das Vorhandensein von Vereinen als Verstärker genetischer Veranlagungen) und damit Teil einer Gen-Umwelt Interaktion sein. Wir widmen uns im folgenden Abschnitt des Kapitels nun verschiedenen Varianten des Zusammenspiels von Genen und Umwelt.

4.1

Gen-Umwelt Kovarianzen

Wie anhand einiger ausgewählter Prozesse verdeutlicht, können Gene und Umwelt auf spezifische Weise zusammenwirken, nämlich wenn bestimmte individuelle

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Umwelten in ihrer Wirkung von Genen mit beeinflusst sind (Kovarianz) oder wenn Gene in Abhängigkeit von bestimmten Umwelten ihre Wirkung entfalten bzw. Umwelten in Abhängigkeit von der genetischen Ausstattung unterschiedlich wirken (Interaktion; Diewald et al. 2015; Jaffee und Price 2007). Bei Gen-Umwelt Kovarianzen kann vor allem zwischen einer passiven und einer aktiven Variante unterschieden werden (ob zusätzlich getrennt von der aktiven eine evokative Variante existiert, ist umstritten). Eine passive Gen-Umwelt Kovarianz liegt vor, wenn soziale Umwelten ohne das eigene Zutun von Individuen passend zu ihrer genetischen Veranlagung einwirken, aber gleichwohl durch genetische Überlappung mitbedingt sind. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Eltern, die zu besonders gesunder Ernährung neigen, ihren Kindern eine entsprechende Umwelt anbieten. Die Neigung zu gesunder Ernährung, die wiederum selbst genetisch mitveranlagt ist, wird dann durch die soziale Umwelt gefördert: Die Kinder erhalten ohne eigenes Zutun (also passiv) eine soziale Umwelt, die zu ihrer genetischen Veranlagung passt. Eine reaktive Gen-Umwelt Kovarianz liegt vor, wenn genetisch veranlagte Prädispositionen bestimmte dazu passende Reaktionen der Umwelt hervorrufen. So erregen sportlich begabte Kinder womöglich die Aufmerksamkeit ihrer Sportlehrer und erfahren deshalb besondere Förderung. Eine aktive Gen-Umwelt Kovarianz liegt schließlich vor, wenn Individuen selbst aufgrund ihrer genetisch veranlagten Begabungen und Interessen Kontexte aufsuchen oder schaffen, die ihnen förderlich sind. So mag das sportlich begabte Kind beispielsweise einem Sportverein beitreten oder eine veranlagte Neigung zu gesunder Ernährung führt dazu, dass jemand einen Kochkurs besucht. Die positive Wirkung dieser Umwelten auf die Gesundheit sind dann keine reinen Umwelteinwirkungen, sondern sie sind in ihrer Genese durch die eigene genetische Veranlagung mitbedingt.

4.2

Gen-Umwelt Interaktionen

Es sollte inzwischen klar geworden sein, dass die simple Rechnung „Anlage + Umwelt = Gesundheit“ nicht aufgeht, bzw. dass die Betrachtung von separaten Anlageund Umwelt-Einflüssen den komplexen Entstehungsbedingungen von Krankheit und Gesundheit nicht gerecht wird. Vielmehr gilt es, das Zusammenspiel von Genen und Umwelt zu verstehen, insbesondere, um eine stärker individuenbezogene Behandlung und Prävention von Krankheit zu ermöglichen. Während im Falle von Gen-Umwelt Kovarianzen bestimmte Gene mit bestimmten Umwelten systematisch zusammenhängen, sind inzwischen auch Umstände dokumentiert, in denen bestimmte genetisch veranlagte Dispositionen nur unter bestimmten Umweltbedingungen auftreten. Wir wenden uns daher nun noch genauer den möglichen Interaktionen beider Faktoren zu. Einige Gen-Umwelt Interaktionen mögen unmittelbar und ohne komplexe Analysen des Genoms ersichtlich sein, etwa der stärkere Einfluss von Sonnenlicht auf Menschen mit heller Haut im Vergleich zu Menschen mit dunkler Haut (Green und Trichopoulos 2002). Andere Gen-Umwelt Interaktionen können als verlässlich

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reproduzierbar auftretende Reaktionen bestimmter Umwelteinflüsse auf ein entsprechend genetisch veranlagtes Individuum beobachtet werden, etwa im Falle von Alkohol- oder Nahrungsmittelunverträglichkeiten (s. Takeshita et al. 1996). Insgesamt steht die Erforschung von Gen-Umwelt Interaktionen, die sich auf Gesundheit auswirken, allerdings noch am Anfang. Die nachfolgende Darstellung der vier Idealtypen von Gen-Umwelt Interaktion bleibt daher notwendigerweise zu einem Teil theoretisch (für Übersichten, s. Diewald et al. 2015; Shanahan und Hofer 2005). Eine erste Variante von Gen-Umwelt Interaktion liegt vor, wenn eine genetische Anfälligkeit nur durch bestimmte Umweltbedingungen ausgelöst wird, es wird daher in diesem Fall von Triggering gesprochen. So kommen Krankheiten wie Depression etwa mit größerer Wahrscheinlichkeit zum Ausbruch, wenn belastende Ereignisse wie der Tod eines nahen Verwandten, partnerschaftliche Probleme oder Trennung die entsprechende Veranlagung „triggern“ (Kendler et al. 1995) oder in frühen Lebensphasen das Risiko einer späteren Erkrankung erhöhen (Silberg et al. 2001). Kompensation stellt die umgekehrte Variante von Gen-Umwelt Interaktion dar, wenn eine hilfreiche soziale Umgebung den Ausbruch oder die negativen Auswirkungen einer veranlagten Erkrankung verhindert. Ähnlich wie in klassischen Ansätzen zur Resilienz (Haan 1977) gelten beispielsweise intakte Familien als entscheidender Schutzfaktor gegen die Expression von genetisch veranlagten negativen Verhaltensweisen wie aggressivem Verhalten (Caspi et al. 2002). Ähnlich wie in klassischen Diathese-Stress Modellen (s. Abschn. 5) können Triggering und Kompensation unter gewissen Umständen Enden eines Kontinuums sein: Beim Verhindern von Stressoren bzw. der Verhinderung negativer Auswirkungen (Kompensation) kommt die Veranlagung auch nicht zum Ausbruch, bei bedeutsamem Stress in der Situation selbst oder in entscheidenden Lebensphasen (Triggering) allerdings schon oder zumindest mit erhöhter Wahrscheinlichkeit (Caspi et al. 2002; Kendler et al. 1995). Kompensation im eigentlichen Sinne bezieht sich allerdings explizit auf das Vorliegen hilfreicher (und nicht das bloße Ausbleiben negativer) Umweltfaktoren (Shanahan und Hofer 2005). Ein dritter Fall von Gen-Umwelt Interaktion liegt vor, wenn die soziale Umgebung als soziale Kontrolle fungiert. Mag diese Variante auf den ersten Blick ähnlich zur zweiten erscheinen, so unterscheiden sich beide doch maßgeblich hinsichtlich ihrer zugrunde liegenden Wirkmechanismen: „Soziale Kontrolle bezieht sich auf die sozialen Normen und strukturellen Beschränkungen, denen Individuen ausgesetzt sind und die ihre Verhaltensweisen und ihre Auswahlmöglichkeiten einschränken“ (Shanahan und Hofer 2005, S. 68, Übersetzung der Autoren), der Wirkmechanismus liegt also letztlich im Individuum selbst. Kompensation andererseits wirkt durch die Bereitstellung stressfreier oder förderlicher Umweltbedingungen, der Wirkmechanismus liegt also außerhalb des Individuums. Konkret bedeutet diese Variante der Gen-Umwelt Interaktion, dass bei gleicher zugrunde liegender genotypischer Varianz die phänotypische Varianz in Abhängigkeit der sozialen Kontrolle über Populationen oder Kohorten hinweg unterschiedlich sein kann. In einer Studie, die Alkoholismus in aufeinander folgenden Kohorten japanischer Probanden untersuchte, zeigte sich beispielsweise ein entsprechender Effekt (Higuchi et al. 1994): Die Autoren konnten zeigen, dass protektive genetische Einflüsse über Kohorten hinweg

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schwächer wurden, was die Vermutung nahelegt, dass die soziale Kontrolle im Bezug auf Alkoholkonsum in Japan in dieser Zeit abgenommen haben könnte. Ähnliche moderierende Einflüsse eines hoch kontrollierenden bzw. reglementierten sozialen Umfelds auf die Expression bestimmter genetischer Anlagen finden sich in Studien zu Alkoholkonsum über verschiedene kulturelle (z. B. Hasin et al. 2002) oder städtische versus ländliche Kontexte hinweg (z. B. Dick et al. 2001; Rose et al. 2001). Die vierte Variante von Gen-Umwelt Interaktion ist die Verstärkung (Enhancement) genetischer Veranlagung durch bestimmte, insbesondere soziale, Umwelten hin zu sozial erwünschten Verhaltensweisen oder Charakteristika (Diewald et al. 2015). In dieser Variante wird also in Abgrenzung zur ersten Variante eine positive Entwicklung „getriggert“, etwa durch besonders anregende oder gut organisierte Umwelten. So untersuchten Heath und Kollegen (1985) beispielsweise den Bildungserfolg norwegischer Probanden, der für Kohorten, die zwischen 1915 und 1938 geboren wurden, noch vorwiegend durch ihre Umwelt geprägt war (der genetische Einfluss belief sich auf 41 %). Nach einer Reform des Bildungssystems, die einem größeren Teil der Bevölkerung den Zugang zu Bildung ermöglichen sollte, stieg der genetische Einfluss für Kohorten, die zwischen 1950 und 1960 geboren wurden deutlich an (er belief sich auf 67 %). Der Befund lässt sich so interpretieren, dass die Reform zu einer Verstärkung der Veranlagung zu Bildungserfolg durch ein offeneres Bildungssystem führte (Heath et al. 1985).

5

Aktuelle Entwicklungen zu Gen-Umwelt-Interaktionen

Klassische Diathese-Stress Modelle nehmen an, dass Individuen mit bestimmten, beispielsweise genetischen, Veranlagungen (Diathese) auf bestimmte Umwelten, beispielsweise belastende Lebensereignisse wie Trennung oder Tod eines nahen Verwandten (Stress) mit der Entwicklung einer Krankheit, beispielsweise Depression, reagieren (Beck 1987; Robins und Block 1988, 1989). Tatsächlich findet die Suche nach Krankheitsursachen traditionellerweise in den Sphären Umwelt (z. B. Hinkle 1974; Rees 1976) und Veranlagung (z. B. Dohrenwend und Dohrenwend 1979; Grinker und Spiegel 1963) statt. Aufbauend auf die Forschung zum Zusammenspiel von Genen und Umwelt, insbesondere Gen-Umwelt Interaktionen, schlagen neuere Ansätze nun vor, sich von dieser klassischen Sicht – die in der eingeführten Systematik ja eine triggernde Gen-Umwelt Interaktion implizieren würde – zu lösen und systematisch auch die Möglichkeit kompensatorischer oder anderer Gen-Umwelt Interaktionen in den Blick zu nehmen. Der Differential Susceptibility-Ansatz (Belsky und Pluess 2009; Boyce und Ellis 2005) nimmt daher an, dass Individuen nicht einfach nur stärker auf negative, auslösende Umwelten reagieren (Triggering) sondern auch auf positive, schützende (Kompensation) und zwar, weil Individuen generell unterschiedlich empfänglich für Umwelteinflüsse sind – in beide Richtungen. Ein weiterer aktueller Forschungszweig, der hier nur angerissen werden kann, entwickelt sich um das Phänomen der Epigenetik, also Umwelteinflüsse, die sich auf

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die Struktur des Genoms und die Funktion einzelner Gene auswirken. Durch Veränderung von DNA-Methylierung oder Histonen können so bereits im Mutterleib, aber auch über die komplette Lebensspanne eines Menschen, epigenetische Regulationen stattfinden. Obwohl es sich hierbei um einen noch jungen Forschungszweig handelt, gibt es bereits Studien, die epigenetische Prozesse, etwa durch Nährstoffe vermittelt, bei der Entstehung von Typ 2 Diabetes mellitus, Adipositas und neurodegenerativen Krankheiten nachweisen (Choi und Friso 2010; Stilling und Fisher 2011). Insgesamt scheint es verschiedene Transmissionsmechanismen zu geben, über die soziale Bedingungen – wie insbesondere sozioökonomischer Status und soziale Beziehungen bzw. soziale Isolation – Krankheit und Gesundheit beeinflussen. Vor allem scheint ein über längere Zeit und in sensiblen Lebensphasen auftretendes hohes Stressniveau Entzündungsreaktionen zu begünstigen, die zu einer ganzen Reihe von teils gravierenden Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs substanziell beitragen (Shanahan und Bauldry 2011; Shanahan und Hofer 2011). Hierbei hinterlassen traumatische Stresserfahrungen auch Veränderungen in den Chromosomen, die die Aktivität eines Gens regulieren.

5.1

Ausblick: ethische Fragen der Erforschung genetischer Ursachen von Krankheit

Ein bisher einzigartiges Projekt der Gensequenzierung erregte zuletzt große mediale Aufmerksamkeit: Ein Forschungsunternehmen hatte die vollständige DNS von etwa einem Drittel aller Isländerinnen und Isländer ausgewertet. Da die meisten der etwa 320.000 Einwohner Islands eng miteinander verwandt sind, lassen sich auf Grundlage der Daten nun Vorhersagen darüber treffen, wie hoch Krankheitswahrscheinlichkeiten auch für diejenigen Isländer liegen, die gar nicht an der Studie teilgenommen hatten. Hieraus ergeben sich massive ethische Probleme: Sollte das Forscherteam die Menschen, für die sich ein erhöhtes genetisches Risiko ableiten lässt, warnen? Würden Krankenversicherungen, sollten sie über solche Daten verfügen, Menschen mit einem bestimmten Risiko zu anderen Konditionen versichern? Und würden die Betroffenen überhaupt wissen wollen, dass sie ein erhöhtes Risiko für eine bestimmte Krankheit tragen? Es ist bei diesen Überlegungen wichtig zu bedenken, dass die Relation zwischen einzelnen Genvarianten einerseits und komplexen Persönlichkeitseigenschaften oder Krankheiten andererseits bis auf wenige Ausnahmen eine bloße Wahrscheinlichkeitsbeziehung darstellt. In aller Regel lassen sich also keine Aussagen wie „Gen X verursacht Krankheit Y“ treffen, sondern vielmehr „Gen X erhöht die Wahrscheinlichkeit, Krankheit Y zu entwickeln, im Vergleich zur Grundwahrscheinlichkeit“ – manchmal ist selbst diese Aussage noch weiter einzuschränken (z. B. „. . . unter den Bedingungen, A, B oder C“ im Sinne möglicher Gen-Umwelt Interaktionen). Bei Menschen, die das ε4 Allel des Apoliproteins E tragen, ist beispielsweise das Risiko, eine Alzheimerdemenz zu entwickeln, im Vergleich zu denen, die das häufigere ε3 Allel tragen, erhöht (der ε4-Polymorphismus tritt bei 13,7 % aller Menschen auf, während der ε3-Polymorphismus bei 77,9 % aller Menschen auftritt; Farrer et al. 1997). Das ε2 Allel wiederum, das 8,4 % aller Menschen tragen, verringert

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das Risiko einer Erkrankung und mag als eine Art Schutzfaktor fungieren (Liu et al. 2013). Gleichzeitig variiert allerdings der Zusammenhang zwischen Polymorphismus und Alzheimer-Risiko nach Geschlecht und Ethnizität der Probanden und schließlich steigt auch die Grundwahrscheinlichkeit einer Alzheimer-Erkrankung im Alter, sodass der genetische Einfluss ab einem Alter von ca. 70 Jahren abnimmt (Farrer et al. 1997). Neben der Frage danach, wie Patienten und Ärzte mit solchen wahrscheinlichkeitsbehafteten Aussagen umgehen, stellen sich auch dringende ethische Fragen, etwa, ob wir ein „Recht auf Unwissenheit“ um unsere genetischen Anlagen haben. Wie werden Krankenkassen mit dem Wissen um genetische Risikofaktoren umgehen? Wie mag es unsere eigene Lebensführung beeinflussen, zu wissen, dass wir die Veranlagung zu einer bestimmten Krankheit in uns tragen? Bei allen Bedenken bietet das Wissen um die Einflüsse von Genen und Umwelt auf unsere Gesundheit vorher nicht dagewesene Möglichkeiten der Therapie und Vorsorge. Nachdem GWAS Studien beispielsweise das oben beschriebene ε4 Allel als stärksten genetischen Risikofaktor bestätigt hatten (Harold et al. 2009; Lambert et al. 2009), können nun spezifischere Therapien entwickelt werden (Liu et al. 2013). In prospektiven Studien, die das Wissen um den Risikofaktor ε4 nutzen, ließen sich außerdem Schutzfaktoren – genauer: kompensatorische oder triggernde GenUmwelt Interaktionen – identifizieren, die den Ausbruch von Alzheimerdemenz trotz vorhandenen Risikos verzögern oder vermeiden helfen. So scheint die Krankheit trotz ε4 Polymorphismus mindestens ein Jahr später auszubrechen, wenn Patienten mental und körperlich aktiv waren und bleiben (Ferrari et al. 2013). Bewegungsarmer Lebenswandel und mangelnde Aktivität im Alter scheinen umgekehrt das Alzheimer-Risiko bei vorhandenem ε4 Polymorphismus zu erhöhen (Head et al. 2012). Insgesamt sollte deutlich geworden sein, dass sich die Forschung im Bereich Gene, Umwelt und Gesundheit inzwischen lange von simplen „Anlage versus Umwelt“- oder „Anlage und Umwelt“-Erklärungsmodellen verabschiedet hat. Auch überkomplexe Erklärungsmodelle, die annehmen, Gene und Umwelt seien untrennbar miteinander verknüpft, sind nicht hilfreich. Vielmehr gilt es, das komplexe Zusammenwirken beider Faktorenbündel bei der Entstehung von Krankheit und Gesundheit besser zu verstehen und dafür etwa anhand einer Typologie von GenUmwelt Korrelationen und Interaktionen zu systematisieren. Während sich uns dadurch dringende Fragen stellen, etwa, wie wir mit dem Wissen um genetisch veranlagtes Risiko umgehen und welche ethischen und moralischen Implikationen solches Wissen mit sich bringt (für uns als Individuen, aber auch für uns als Gesellschaft), bieten sich dadurch auch vorher nicht dagewesene Möglichkeiten der Prävention und Therapie.

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Teil II Gesundheitssoziologie

Beiträge der Salutogenese zu Forschung, Theorie und Professionsentwicklung im Gesundheitswesen Theodor Dierk Petzold und Ottomar Bahrs

Inhalt 1 Salutogenese – Fragestellung und Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 2 Fragestellung und Theoriebildung: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3 Aktuelle Strömungen und Anwendungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

Zusammenfassung

Mit dem Neologismus ‚Salutogenese‘ hat Aaron Antonovsky der Frage nach der dynamischen Entwicklung von Gesundsein einen Platz in den Gesundheitswissenschaften geschaffen. Im Zentrum seiner Antwort auf diese Frage steht das Kohärenzgefühl. Ausgehend von einer tatsächlichen Kohärenz des menschlichen Lebens sowohl als individuelle Ganzheit als auch in sozialen und kulturellen Systemen werden Dynamiken gesunder Selbstregulation entwickelt, Forschungsansätze zur Verlaufsgestaltung aufgezeigt sowie über die wichtigsten Entwicklungen salutogenetischer Orientierung in Deutschland berichtet. Schlüsselwörter

Salutogenese · Selbstregulation · Kommunikation · Mehrdimensionalität · Qualitätsentwicklung

T. D. Petzold (*) Institut für Allgemeinmedizin Universität: Medizinische Hochschule Hannover, Zentrum für Salutogenese, Bad Gandersheim, Deutschland E-Mail: [email protected] O. Bahrs Institut für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Universität Göttingen, Göttingen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Kriwy, M. Jungbauer-Gans (Hrsg.), Handbuch Gesundheitssoziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06392-4_5

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90

T. D. Petzold und O. Bahrs

1

Salutogenese – Fragestellung und Forschung

1.1

Einleitung

„Antonovsky kam zu der Frage „Was macht Menschen gesund?“ und zu der Notwendigkeit den Begriff ‚Salutogenese‘ zu prägen, um die Art des Denkens zu vermitteln, die diese Frage impliziert.“ (Mittelmark et al. 2017, S. 7)

Der amerikanisch-israelische Medizinsoziologe und Stressforscher Aaron Antonovsky kam nach über zehnjähriger pathogenetisch orientierter Stressforschung während eines Sabbaticals in Berkeley 1977/78 zu der Frage „What makes people healthy?“ (Mittelmark et al. 2017). Mit der Kreation des Wortes ‚Salutogenese‘ schuf Antonovsky dieser Frage einen Platz in den sich entwickelnden Gesundheitswissenschaften, als deren integrale Theorie sein Konzept derzeit gilt (Blättner und Waller 2011). Der Blick richtet sich damit nicht mehr nur auf Krankheiten, sondern auf die betroffenen Menschen insgesamt in ihrem Gesundsein und Kranksein umfassenden Lebensprozess und bezieht Ressourcen ebenso ein wie Risiken. Die mit der Salutogenese verbundene neue Perspektive wird auch als Paradigmenwechsel bezeichnet (Zeyer 1997) und korrespondiert zu einer ganzheitlichen und medizinkritischen Bewegung, die u. a. in der Deklaration der Ottawa-Charta der WHO (1986) ihren Ausdruck gefunden hat. Dabei kam auch die Frage auf, ob nicht eine in der Kultur überwiegende pathogenetische Orientierung auch pathogen, also Krankheit bildend auf die Menschen wirkt. Andersherum salutogenetisch gefragt: Kann eine salutogenetische Orientierung einer Gesundheitskultur und des Denkens das Gesundsein der Menschen fördern? Mit dem Neologismus ‚Salutogenese‘ fasste Antonovsky die Fragestellung zusammen, die in der damaligen Bewegung für ganzheitliche Gesundheit in unterschiedlichsten Variationen zu finden war. Es ist womöglich kein Zufall, dass dieser Neologismus von einem Medizinsoziologen gebildet wurde, denn das gegenwärtige Gesundheitsproblem, das die Gesundheitswissenschaften zu lösen haben, sind die chronischen nicht ansteckenden Krankheiten (NCD), die auch als Zivilisationskrankheiten bezeichnet werden, also einen anerkannten soziokulturellen Zusammenhang aufweisen (Uexküll und Wesiack 1991; Petzold 2000a). Auf die komplexe Fragestellung der Salutogenese hat Antonovsky seine Antwort gegeben: Das „sense of coherence1 SOC“/Kohärenzgefühl sei letztlich für die gesunde Entwicklung2 eines Menschen ausschlaggebend (1997).

‚Coherence‘ im Englischen wird mit ‚Kohärenz‘, ‚Zusammenhalt‘ und ‚Stimmigkeit‘ im Deutschen übersetzt. Wörtlich übersetzt bedeutet ein „sense of coherence“ dann ein ‚Sinn für Zusammenhalt/Stimmigkeit‘ oder ‚Gefühl von Zusammenhalt/Stimmigkeit‘. In ähnlichem Sinne finden wir Kohärenz in verschiedenen anderen Wissenschaften wieder, wie z. B. in der Hirnforschung (Schiepek 2004; Hansch und Haken 2016), als „Konsistenz“ in der Psychotherapieforschung und Neuropsychotherapie von Grawe (2004). 2 Mit „gesunder Entwicklung“ wollen wir nicht ein neues normatives Maß setzen, sondern die Prozesshaftigkeit von Gesundsein bewusst machen, von dem individuellen Streben in Richtung stimmigem Wohlergehen in jeweils gegebenen und veränderlichen Weltbeziehungen. 1

Beiträge der Salutogenese zu Forschung, Theorie und . . .

91

Mit ‚Salutogenese‘ wollte er eine neue ‚Art zu denken‘ in den Gesundheitswissenschaften anregen. Um diese Anregung und Herausforderung zu einer neuen Art zu denken und dessen Implikationen sowie Konsequenzen geht es in unserem Beitrag. Das heißt auch, der Frage nach der Genese von Gesundheit die Priorität vor der Frage nach der Pathogenese einzuräumen (vgl. Schüffel 2012, S. 15).

1.2

Was ist Gesundheit?

„Um nicht missverstanden zu werden, müssen wir betonen, dass Begriffe wie . . . Gesundheit Idealbegriffe sind, die den Weg zu einem Ziel weisen. Das Ziel selbst kann nie vollständig erreicht werden.“ (Uexküll und Wesiack 1991, S. 611)

Mit der Frage nach der Genese von Gesundheit verweist Antonovsky auf einen Bildungsprozess, der sich auf die Person und ihr Leben insgesamt bezieht, Gesundheit und Krankheit integriert und auf ein in der Zukunft liegendes (latentes und attraktives) Ziel verweist. Antonovsky nimmt damit die pointierte Formulierung Ulrich Oevermanns (2003, S. 58) vorweg: „Krankheit ist jeweils das Maß an Gesundheit, das ein konkretes Leben im Zusammenhang seiner konkreten Individuierungsgeschichte – und das ist immer auch: Traumatisierungsgeschichte – maximal erreichen konnte, und der Arzt muss deshalb diese Krankheit aus ihrer lebensgeschichtlichen Motiviertheit heraus fallspezifisch verstehen.“ Aus Sicht eines Individuums, der individuellen Gesundheitsregulation, wird Krankheit im Allgemeinen primär als Bedrohung erlebt, als Vermeidungs-/ Abwendungsziel – ähnlich wie verletzende soziale und kulturelle Erfahrungen (Traumata), die vermieden oder abgewendet sein wollen. Die Gegenwart von Gefahren aktiviert das neuro-motivationale Abwendungs-/Vermeidungssystem und erzeugt damit Stress (s. u.). Menschen brauchen für ihr Gesundsein das Abwendungssystem, die Fähigkeit zum Vermeiden und Abwenden von Gefahren. Dies ist Bestandteil auch ihres Individuierungsprozesses. In derartigen Auseinandersetzungen kann ein Mensch lernen und reifen – womöglich auch, seine Sensibilität für Stimmigkeit (Sinn für Kohärenz) zu bewahren und auszudifferenzieren. Wenn er allerdings von seiner Umgebung ständig überfordert wird, kann es zu einer sog. Anpassungsstörung und anderen Stresserkrankungen kommen. Hier wäre ein ätiopathogener Zusammenhang zwischen Angst machender Krankheits-Kultur und NCD möglich, den wir heute aufgrund der neuro-endokrino-immunonologischen Stressforschungen schon recht differenziert beschreiben können (Schubert 2016; Elliot 2008; Grawe 2004). Durch das Abwendungssystem soll das Leben geschützt werden. Grundlegend für alle Abwehr und Krankheit ist das Leben, das sicher und gut leben will. Zum guten Leben haben wir ein positiv motivierendes neuro-motivationales Annäherungssystem, das mit Lust und Sinn verbunden ist. Bei aller positiven Sicht auf Gesundheit dürfen wir diese nicht mit einem allgemeingültigen Objektivitätsanspruch konkret definieren, da sie sonst als Norm genommen und nicht nur gegen Krankheiten sondern auch gegen Kranke verwendet werden kann (z. B. im Sinne von Euthanasie und Stigmatisierung). Auf diese Gefahr hat auch Antonovsky schon hingewiesen.

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T. D. Petzold und O. Bahrs

Wenn wir ‚Gesundheit‘ als Annäherungsziel, als attraktiven Idealbegriff verstehen, den wir in der Realität nicht erreichen, dem wir uns wohl aber annähern können, dann können wir diese Annäherung als ‚Gesundung‘ oder als ‚Gesundsein‘ verstehen. Sie kann von jedem aktuellen Zustand aus geschehen. So können auch Menschen mit Behinderung gesund sein. Ein solches Verständnis von Gesundheit ist sowohl mit der Definition der WHO von 1949 als „Zustand vollkommenen Wohlbefindens“ kompatibel als auch mit dem Bild eines „ease/dis-ease-continuums“ (Gesundheit-Krankheits-Kontinuums) von Antonovsky (1997). In diesem Bild steht der Mensch dynamisch immer zwischen Gesundheit und Krankheit und ist aktiv strebend bemüht, sich in Richtung Gesundheit zu entwickeln. Jeder Herzschlag und jeder Atemzug sind wie jede soziale Interaktion Aktivitäten in Richtung des Pols ‚Gesundheit‘ und damit gesund – selbst dann, wenn das Verhalten von außen betrachtet zerstörerisch erscheint, können wir versuchen, die implizit wirksamen Muster der Selbstregulation und Integration/Adaption zu verstehen. Dann gibt es so viele Zustände von Gesundsein, wie es Menschen gibt. Gesundsein verstehen wir in erster Linie als ein subjektives Empfinden/Wahrnehmen von Wohlergehen und Stimmigkeit und in zweiter Linie als eine ergänzende Wahrnehmung von Beobachtern. Die Salutogenese hat dazu den Diskurs angeregt, den Ziel-Begriff ‚Gesundheit‘ durch ‚Kohärenz/Stimmigkeit/stimmige Verbundenheit‘ zu erweitern bzw. zu ersetzen (Petzold 2014a; Roediger 2016). Wenn wir ‚stimmig‘ leben, haben wir eine höhere Chance, uns gesund zu entwickeln. Mit ‚stimmig‘ gehen wir von unserer Subjektivität aus, fragen nach inneren und äußeren Bezogenheiten und erschweren eine diskreditierende Normierung. Dadurch wird es in der Praxis leichter, Menschen in ihrem Kranksein anzunehmen und mit ihnen stimmige Wege der Begleitung zu finden, deren Ziele sie selbst bestimmen – ggf. auch, sie im Sterbeprozess begleiten zu können hin zu einem friedlichen und würdevollen Abschied.

1.3

Gedanken zu Forschungsansätzen

Zunächst ist schon die Herangehensweise von Antonovsky bemerkenswert. Aus seiner sozialepidemiologischen Studie (in den 70er-Jahren) zum Gesundheitszustand von Frauen im Klimakterium ging unter anderem hervor, dass von denjenigen Frauen, die etwa 30 Jahre zuvor den Holocaust erlebt hatten, noch 29 % bei guter körperlicher und seelischer Gesundheit waren (Antonovsky 1997). Obwohl dies nun die deutliche Minderheit war und sich Antonovsky damit hätte begnügen können festzustellen, dass die projektleitende These bestätigt werden konnte, betrachtete er die Daten näher. Er hatte die Idee, dass man gerade von diesen Frauen lernen könnte, wie Menschen sich trotz einer derart großen Belastung gesund entwickeln können. Dies ist die Idee des positiv abweichenden Falles („positive deviancy“ s. Mittelmark und Bauer 2017), von dem die ‚normal Kranken‘ etwas über gesunde Entwicklung lernen und ggf. sich von „Gesundheit anstecken lassen“ können. Für Antonovsky als Stressforscher war der gute Gesundheitszustand dieser Frauen ein „Wunder“, das er klären wollte. Die nähere Analyse der Daten verwies

Beiträge der Salutogenese zu Forschung, Theorie und . . .

93

auf eine Variable, die er „sense of coherence“ nannte (Antonovsky 1979, S. 8). In einem Folgeprojekt ließen sich, gestützt auf Tiefeninterviews, drei Dimensionen des Kohärenzgefühls unterscheiden: „meaningfulness, manageability and comprehensibility“ (Gefühl von Bedeutsamkeit/Sinnhaftigkeit, Handhabbarkeit und Verstehbarkeit). Im Hinblick auf die weitere Hypothesenprüfung wurde der Fragebogen zur Lebensorientierung (QLQ/SOC-scale) entwickelt, der in seiner ursprünglichen Fassung aus 29 Items besteht. Der Fragebogen ist in unterschiedlichen Varianten in mindestens 48 Ländern verwandt worden (Eriksson und Mittelmark 2017). Die vielfältigen Ergebnisse können hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Verwiesen sei auf signifikante Zusammenhänge zwischen dem Konstrukt des Kohärenzgefühls und psychischer/ psychosomatischer Gesundheit sowie dem Coping von Stress (Bengel et al. 2001; Eriksson und Mittelmark 2017). Die Zusammenhänge mit physischer Gesundheit waren dagegen nicht sicher signifikant (Bengel et al. 2001). Insgesamt greifen die meisten Studien auf Fragebögen zurück, obgleich Antonovsky selbst auch andere Formen zur Untersuchung des Kohärenzgefühls für möglich gehalten hat (Antonovsky 1997, S. 89). Eriksson und Mittelmark warnen angesichts dieser Situation vor einem zu kurz gefassten Ansatz: „Salutogenesis is more than the measurement of the sense of coherence.“ (Eriksson und Mittelmark 2017). Bei einem (lebens-)dynamischen Verstehen von Gesundsein erscheint es folgerichtig, mehr nach Möglichkeiten immer neu zu generierender aufbauender Wechselbeziehungen zu suchen als nach einem quantitativen Maß („Stärke des SOC“) und kausalen Faktoren für dieses bzw. Gesundheit („salutary factors“). Für die Untersuchung von Bildungsprozessen bieten sich insbesondere Verlaufsanalysen an. So wurden in der Studie „Gesundheitsfördernde Praxen – Die Chancen einer salutogenetischen Orientierung in der hausärztlichen Praxis“ Interaktionen zwischen Patienten und Hausärzten wiederholt per Video dokumentiert, um herauszuarbeiten, wie in der Interaktion liegende Gestaltungschancen genutzt werden (können) (Bahrs und Matthiessen 2007). Über biografische Interviews mit Patienten und Ärzten wurde ein erweitertes Verständnis für die lebensgeschichtlich erworbenen handlungsleitenden Einstellungen sowie für Kompetenzen (oder deren Fehlen) gewonnen. In den begleitend mit den Versorgern durchgeführten Qualitätszirkeln wurden im Berufsalltag liegende Anforderungs- und Gestaltungspotenziale sowie Veränderungsprozesse herausgearbeitet. Eng an den Deutungskonzepten und Handlungsmöglichkeiten der Beteiligten orientiert wurde mit dem Bilanzierungsdialog ein salutogen orientiertes Gesprächsformat für die hausärztliche Versorgung von Patienten mit chronischen Krankheiten erarbeitet. Erfahrungen in der Umsetzung zeigen, dass damit ein an Lebens- und Gesundheitszielen orientiertes abgestimmtes Handeln initiiert, die Wahrnehmung von Ressourcen erleichtert, ein Beitrag zur Förderung der Arzt-Patienten-Beziehung geleistet, ein gesamthaftes Verständnis der Situation der Patienten unterstützt und Veränderungsprozesse bei stagnierenden Verläufen initiiert werden können (Bahrs et al. 2015, 2016, 2017). Zur Frage der Gesundung braucht es u. E. in diese Richtung weitergehende Forschungen und Methoden, die

94

T. D. Petzold und O. Bahrs

a) vom Subjekt/Individuum in seinen Weltbeziehungen ausgehen und b) die Veränderungsprozesse (gesunde Entwicklungen, Übergänge von Unwohlsein/Kranksein zu Wohlbefinden/Gesundsein . . .) untersuchen. Ad a): Jedes Menschenleben ist auch ein Forschungsunternehmen, ein Lernprozess – ob bewusst oder unbewusst. Ein solches Verständnis vorausgesetzt geht es bei der Gesundheitsforschung darum, auch die impliziten Erfahrungen/Lernprozesse explizit und dadurch intersubjektiv verfügbar zu machen (s. a. ‚positive Devianz‘ PD Mittelmark und Bauer 2017, S. 52) – Gesundsein ansteckender zu machen. Ad b): Unter der Fragestellung der Salutogenese richtet sich die Aufmerksamkeit auf die mehrdimensionalen Entwicklungsprozesse, Wachstum und Heilung, auf die Übergänge vom Leiden zum Wohlergehen, von Unstimmigkeit zum Kohärenzerleben, von starren Lebensformen zu komplexeren Weltbeziehungen. So möchten wir die salutogenetische Fragestellung dynamisch präzisieren: Welche Dynamiken/Lebensvorgänge erzeugen immer wieder Gesundsein?

2

Fragestellung und Theoriebildung:

In seiner Weitsicht hat Antonovsky formuliert: „Ich werde die salutogenetische Frage zunächst in den Kontext des Problems stellen, das sich meinem Gefühl nach als zentral für die gesamte Wissenschaft abzeichnet: das Geheimnis der Transformation von Chaos in Ordnung.“ (Antonovsky 1997, S. 149). Im Weiteren hat Antonovsky den Zusammenhang des Kohärenzbegriffes mit der Systemtheorie aufgezeigt: Hätte er (Bailey) sich ernsthaft mit dem Problem (der Ordnung in Systemen, Anm. d. Autoren) auseinandergesetzt, wäre er vielleicht an das Konzept der Kohärenz herangekommen und hätte begonnen, die vielen Implikationen zu realisieren, die sich ergeben, wenn man nicht nur fragt: „Wie entsteht das Chaos?“ sondern auch: „Wie entsteht Ordnung?“ (Antonovsky 1997, S. 152). Die Chaosforschung, die um die Jahrtausendwende eine große mediale Aufmerksamkeit hatte und jetzt weitgehend in die Komplexitätsforschung übergegangen ist (Sturmberg und Martin 2013), spricht in diesem Zusammenhang von „Attraktoren“3 („Ordner“ bei Hansch und Haken 2016), die chaotische Prozesse zu sichtbaren Ordnungen informieren/strukturieren. Auf unseren menschlichen Alltag übertragen, können wir Annäherungsziele, sinnvolle Anliegen Visionen, Soll-Zustände u. Ä. als Erscheinungsarten von Resonanz auf metaphysische Attraktoren sehen. Diese leiten sowohl unsere Wahrnehmung als auch die Motivation zum Handeln. Für derartige heilsame Informationen sollten Menschen offen und resonanzfähig sein, um sie ins Leben zu bringen (Petzold 2017). Bezogen auf unsere Suche nach Lösungen unserer aktuellen Gesundheitsprobleme könnte das bedeuten, dass wir mehr sinnstiftende Ziele kultivieren sollten als Der Begriff ‚Attraktor‘ beschreibt, wie imaginäre/komplexe Informationen die Dynamik von Systemen nichtlinear steuern.

3

Beiträge der Salutogenese zu Forschung, Theorie und . . .

95

angstmachende Risikofaktoren und mehr Hoffnung stiftende Visionen entwickeln als fatalistische Projektionen der Vergangenheit in die Zukunft. Angesichts einer möglichen Wirkung von Theorie auf unsere gesunde Entwicklung sowie auf die Kreativität unserer Denkprozesse stellt sich bei der Theoriebildung nicht nur die Frage nach der Richtigkeit und Beweisbarkeit einer Theorie, sondern auch nach ihrer möglichst positiven Wirkung auf gesunde Entwicklung, wie z. B. auch nach ihrem emanzipatorischen/utopischen Gehalt. Je nach verfolgtem Paradigma kann das ggf. weit auseinandergehen.

2.1

Theoriebildung

Wir gehen von den beiden Grundannahmen aus, dass die Salutogenese 1. ein zielgerichteter lebenslanger komplexer Vorgang der Selbstregulation ist und 2. in mehrdimensionalen Weltbeziehungen stattfindet. Anknüpfend an Antonovskys Forschungen (und vielen anderen) hat Petzold folgende Hypothesen dazu, die im Weiteren ausgeführt werden: Ad 1.: Die übergeordnete Steuergröße, der Attraktor für die gesunde Selbstregulation ist Kohärenz/Stimmigkeit. Bei der Salutogenese handelt es sich also um Kohärenz-/Stimmigkeitsregulation (s. u.). Ad 2.: Ein Individuum lebt und reguliert sich in Kommunikation/Interaktion in mehrdimensionalen Beziehungen zu anderen Systemen, sowohl kleineren ‚Untersystemen‘, Partnersystemen und größeren ‚Übersystemen‘, die jeweils eine (dimensional) andere Komplexität aufweisen und die ihrerseits sich selbst regulieren.

2.1.1

Möglichkeiten der Zukunft einbeziehen – von der Zukunft her gestalten

Der Zug der Zukunft erscheint stärker als der Schub der Vergangenheit. (frei nach Leonhard Euler 1707–1783)

Die Tätigkeit in den meisten Gesundheitsberufen ist durch den Umgang mit komplexen Aufgaben, mit lebenden Menschen und einem Bemühen geprägt, das Wohlergehen der Menschen in der Zukunft zu verbessern. Diese Zukunftsorientierung der Gesundheitsberufe sollte deshalb ein fester Bestandteil der Gesundheitstheorie sein. Nicht nur die Praxis von Gesundheitsberufen ist ziel- und zukunftsgerichtet, sondern auch das menschliche Gehirn funktioniert zielgerichtet (Schiepek 2004). Auch Kooperation ist zweck- und damit zukunftsorientiert. Zukunftsorientierung ist unsere alltägliche Lebenspraxis: Wir haben ein attraktives Ziel, wie z. B. Sättigung, Partnerschaft, Traumberuf, Gerechtigkeit usw. und planen unsere Zeit entsprechend, um uns diesen Zielen anzunähern. Unser Leben wird demnach von Attraktoren geleitet (vgl. a. Petzold 2000a, b, 2014a; Sturmberg und Martin 2013; Hansch und Haken 2016).

96

T. D. Petzold und O. Bahrs

Der moderne Begriff Attraktor entspricht in eta den „causae finalis et formalis“ von Aristoteles, während die vorhandenen, gewordenen Bedingungen den „causae materialis et efficiens“ entsprechen (s. a. Petzold 2000b, 2017).

2.1.2

Kohärenz im Fokus von Theorie

„Konsistenzregulation4 findet ganz überwiegend unbewusst statt und durchzieht so sehr das ganze psychische Geschehen, dass es angemessen erscheint, von einem obersten oder pervasiven Regulationsprinzip im psychischen Geschehen zu sprechen.“ (Grawe 2004, S. 190–191).

Das Kohärenzgefühl/SOC ist als durch drei Komponenten zusammengesetztes Konstrukt gedacht. Antonovsky definiert es (Antonovsky 1997, S. 36): „Das SOC (Kohärenzgefühl) ist eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass 1. die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind; 2. einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen; 3. diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengungen und Engagement lohnen.“ In unserem Verständnis von Kohärenz nehmen wir die Ebene hinter dem SOC Kohärenzgefühl in Betracht. Dabei geht es nicht mehr nur um ein quantifizierbares Maß von einem ‚Gefühl von Kohärenz‘, sondern um Kohärenz im Rahmen eines kybernetischen Modells autonomer Selbstregulation als komplexe Steuergröße, die selbst imaginäre und variable Anteile hat (Petzold 2011a, 2017). Kohärenz – als aufeinander abgestimmtes Zusammenwirken (Kooperation/ Beziehung) von Teilen eines Systems, als stimmige dynamische Verbundenheit – sehen wir als Attraktor und als einen inneren allgemeinen Maßstab für Gesundsein, für gesunde Entwicklung.

2.1.3 Kohärenz und ein ganzheitliches Verständnis von Psyche Der Begründer des „biopsychosozialen Krankheitsmodells“, G. Engel (1976), definiert Psyche als einen „psychischen Apparat“ mit dem Hauptorgan „Zentralnervensystem“ als ein Organ, das für die unterschiedlichsten Umwelt-/Objektbeziehungen sowie deren innerer Verarbeitung zuständig ist und darin gebildet wird. Die Psyche wäre demnach das übergeordnete zentrale Kommunikationsorgan des Menschen. Anknüpfend an diese Funktionsbeschreibung der Psyche möchten wir weitergehend seiner Intention einer ganzheitlichen Sicht folgen, die nicht zwischen Psyche und Soma trennt. Deshalb wollen wir gerade keinen gesonderten „psychischen Apparat“ Diese wird hier wie auch bei der ‚Schematherapie‘ (Roediger 2016) als „Stimmigkeitsregulation“ übersetzt.

4

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konzipieren mit Sitz im Gehirn, sondern antike Definitionen von der Psyche aufgreifen, die darunter die Ganzheit des Menschen verstehen (Aristoteles 4. Jhdt. v. Chr./ 1969). Diese Ganzheit des Menschen ist mehr als die bloße Summe der Einzelteile, deshalb ist auch eine eigene Bezeichnung, nämlich ‚Psyche/Seele‘ angebracht. Die Psyche ist dann also die Information der Ganzheit von Körper, Fühlen, Denken und Glauben. Beim Sterben verschwindet eben diese lebendige Ganzheit. Messbar übrig bleibt der leblose Körper, der jetzt nicht mehr Bestandteil einer Seele ist. Alle Erfahrungen eines Menschen mit seiner Umwelt werden letztlich von der Ganzheit, also der Psyche gemacht (nicht von einem besonderen „Apparat“). Dabei hat der Mensch unterschiedliche Kommunikationskanäle, Empfangs- und Sendeorgane, wie seinen Körper/Leib/Soma mit seinen Sinnesorganen, seine Emotionen, Gedanken und seine Intuition und Inspiration sowie Glauben. Viele Informationen seiner mehrdimensionalen Kommunikation werden über sein Zentralnervensystem zentral verarbeitet. Die Psyche können wir als die Instanz verstehen, die zwischen Genen und Umwelt interagiert (vgl. Rees und Diewald 2016 in diesem Buch). Die Psyche als das ‚Mehr als die Summe der Teile‘ ist somit auch die komplexe Information des Zusammenhalts des Systems Mensch, also seine Kohärenz.

2.2

Ein dynamisches Modell zur Salutogenese

Um die oben beschriebenen Grundlagen für gesunde Entwicklung – Zukunftsorientierung, systemische Kohärenz, Komplexität und Mehrdimensionalität – in einer salutogenetischen Sicht zusammenzubringen, hat Petzold das Modell kommunikativer Selbst-/Kohärenzregulation entwickelt. Im Grunde ist es eine stark vereinfachte und theoretisch reflektierte (s. a. Vohs und Baumeister 2011) Zusammenfassung von jahrzehntelanger Beobachtung und Erfahrung von (auch erstarrten und behinderten) Heilungsvorgängen und anderen kreativen Entwicklungen. Das Modell hat sich in den letzten 15 Jahren als Orientierung gebende Grundlage rekursiv anregend auf Selbstregulationsprozesse ausgewirkt. In der therapeutischen Praxis und Lehre konnte es immer differenzierter formuliert werden. Das Modell der Kohärenzregulation ist sowohl für Individuen als auch für soziale und kulturelle Systeme anwendbar. Mit diesem einfachen Modell der sehr komplexen mehrdimensionalen Selbstregulation wird der Prozess veranschaulicht, der im Hintergrund abläuft (Petzold 2011a, b, 2012, 2014a). Die Themen und Begriffe, die jeder Mensch hat, können sehr unterschiedlich sein. Sie führen jeweils zu den individuellen Erscheinungen. Mit diesem einfachen Modell können deshalb in Variationen ganz unterschiedliche Vorgänge im Menschen dynamisch verstanden und veranschaulicht werden, wie z. B. die Stressregulation (s. u.). Aufgrund der Forschungen von Antonovsky (1997), Grawe (2004), Hansch und Haken (2016) scheint es berechtigt zu sagen: Das Leben eines Lebewesens dreht sich um (seine) Kohärenz als zentralen Attraktor. Deshalb steht ‚Kohärenz‘ als übergeordnete attraktive Steuergröße in der Mitte des Modells kommunikativer Selbstregulation. Es geht im Kern um Kohärenzregulation. Die von Antonovsky genannten

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drei Komponenten des SOC „Meaningfullness, managebility, comprehensibility“ sind in diesem Modell dynamisch miteinander verknüpft. Durch diesen Perspektivwechsel werden ihre Bedeutungen etwas verändert, behalten aber die wesentlichen von Antonovsky genannten Eigenschaften: 1. Die motivationale Komponente der Bedeutsamkeit/Sinnhaftigkeit folgt aus der Wahrnehmung der eigenen Attraktoren (Soll-Zustände) und der Abweichung der realen Ist-Zustände. Diese beziehen sich sowohl auf körperliche Funktionen als auch auf mitmenschliche, kulturelle und noch größere Systeme. Wenn der Unterschied zwischen Soll und Ist bedeutsam ist, ist der Mensch motiviert zum Handeln (z. B. wenn der Blutzucker unter 80 mg% fällt bekommt man Hunger. Wenn die Güterverteilung ungerecht ist, engagiert man sich für mehr Gerechtigkeit . . .). 2. Darauf folgt das Handeln. Die Handlungsfähigkeit hängt von verschiedenen eigenen Fähigkeiten und äußeren Ressourcen ab (z. B. Nahrungsbeschaffung und Essen und Verdauen . . .). 3. Nach jeder Handlung erfolgt eine Bilanzierung, entweder unbewusst oder bewusst (im Beispiel: Bin ich satt, gestärkt, müde oder ist mir übel?). Daraus kann der Mensch lernen. Eine bewusste Bilanzierung/Reflexion kann ein Verstehen von Zusammenhängen und daraus Lernen zur Folge haben. Ein solches auch kognitives Verstehen fördert wiederum die Kohärenz des Systems (Abb. 1).

2.2.1 Die Phasen der Selbstregulation in der Beziehung zur Zeit Die Phase des Wahrnehmens, die wir als erste beschrieben haben, geht aus von der vom Attraktor intendierten Wahrnehmung; sie beginnt beim informierenden Attraktor (Soll-Zustand) (Petzold 2017), der die konkrete Wahrnehmung ausrichtet. Damit geht diese von der Gegenwärtigkeit von Möglichkeiten der Zukunft aus (des Potenzials der Zukunft als komplexe Information vor der Realisierung) (vgl. Scharmer und Käufer 2008). Aus dieser motivierenden Orientierung heraus suchen wir mit Hilfe unserer Sinnesorgane nach Möglichkeiten, uns unserem Attraktor in der jeweils aktuellen Realität anzunähern. Wir suchen nach aufbauender Kommunikation und Resonanz (Rosa 2016), nach stimmiger Verbundenheit. Unsere (auch unbewusste, implizite) Wahrnehmung in der Gegenwart erfolgt im Hinblick auf eine gewünschte/mögliche/ und ggf. auch befürchtete Zukunft. Diese Phase des Wahrnehmens fehlt in den gängigen Regelkreisen. Dabei halten wir es für außerordentlich wichtig, nach jeder Bilanzierung/Reflexion wieder wahrzunehmen, was aktuell die Bedürfnisse, Anliegen (Soll-Zustände) und Ist-Zustände sind, bevor wir zukünftige Schritte planen. Ansonsten kommt es sehr leicht dazu, dass wir Einstellungen aus der Vergangenheit mit in die Planung nehmen, die nichts mehr mit der gegenwärtigen Situation zu tun haben, z. B. Ängste, Ziele und ggf. Lösungen von gestern, die heute das Problem machen . . . Um das Wahrnehmen zu schulen, sind heute Achtsamkeitstrainings zu Recht in Mode gekommen.

Beiträge der Salutogenese zu Forschung, Theorie und . . .

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Selbst-/Kohärenzregulation Was brauchen wir, um uns gesund zu entwickeln?

Verhalten

Bilanzieren Reflektieren

Handeln

Attraktoren Kohärenz Lernen

Motivation

Wahrnehmen was bedeutsam ist: Ist ╪ Soll

„Letztlich zielt das unermüdliche Streben der Menschen darauf ab, glücklich zu sein.“ David Hume – 18. Jh.

Abb. 1 Systemische Selbst-/Kohärenzregulation. (Quelle: Eigene Darstellung)

Während des Handelns, in der 2. Phase der Selbstregulation, sind wir auf die Zukunft ausgerichtet: Wir wollen uns unserem Ziel annähern. Unser Tun ist immer ziel- und damit zukunftsgerichtet – selbst dann wenn Absichtslosigkeit das Ziel ist. Da in den Gesundheitswissenschaften und ihren Anwendungen die Förderung von Handlungsfähigkeit und Gesundheitsverhalten (vgl. u. a. Empowerment) viel Beachtung erfahren, verzichten wir hier auf eine eingehendere Schilderung. Wenn wir beginnen zu bilanzieren und zu reflektieren, ist unser Denken rückwärtsgerichtet, mit der Vergangenheit beschäftigt: Es vergleicht das Ergebnis der Aktivität/Kommunikation (und womöglich deren Verlauf) mit dem Ziel, das zum Handeln motiviert hatte und beginnt ggf. zu analysieren. Wenn die Aktion erfolgreich war, kann man sie in einer ähnlichen Situation wieder ähnlich versuchen. Wenn sie nicht erfolgreich war, muss man ein neues Verhalten ausprobieren, um sich seinem Soll-Zustand anzunähern. Als Folge der Reflexion kann Lernen stattfinden und damit die Integration der Erfahrung in die Ganzheit des Menschen, in die Kohärenz des Gesamtsystems. Wenn uns nach einem Essen übel wird, können wir daraus lernen, beim nächsten Hunger etwas anderes zu essen. Das bedeutet auch, dass Erfahrungen in die folgenden Bewertungen einfließen wie bei der sog. Wahrnehmungskette. Wenn wir mit unserem Verhalten unser Ziel erreicht haben, stärkt das unser Selbstvertrauen und unser Kohärenzgefühl für folgende Aktivitäten (vgl. Antonovsky 1997, S. 200 f.). So ist die Kohärenzregulation rekursiv integrierend. Wenn wir gescheitert waren, können wir Unterschiedliches aus dem Vorgang lernen. Der eine wird in Zukunft derartige Situationen vermeiden (besonders, wenn er öfter

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T. D. Petzold und O. Bahrs

gescheitert ist), ein anderer wird sich noch mehr anstrengen und womöglich neue Wege versuchen, um sein Ziel zu erreichen. Wieder andere werden ihr Ziel überprüfen und ggf. ändern, z. B. bei einem Berufsziel oder einer Partnerin . . . Das kann auch verbunden sein mit einer neuen Bewertung von Situationen. Wenn z. B. ein Lehrer die Erfahrung gemacht hat, nach zehn Jahren Tätigkeit in ein Burnout zu kommen, kann es dazu führen, dass er sein ganzes Bewertungssystem einer Leistungsmaximierung und eines Perfektionismus umkrempelt und Gelassenheit und persönliche Beziehungen viel höher bewertet. Für die Verarbeitung der Erfahrungen sind wiederum soziale und kulturelle Beziehungen wichtig (z. B. auch therapeutische).

2.2.2 Stressregulation Anhaltendes Stresserleben gilt heute als wichtiger Faktor für die Entstehung und Chronifizierung von NCD (Schubert 2016). Stress ist eine Beziehungsqualität zwischen Gestresstem und Stressor. Stress kommt durch Bewertung zustande: wenn man etwas oder jemanden für bedrohlich hält und dies nicht wirklich abwenden kann, weil es mächtiger erscheint. Der Stressor und mit ihm das Stress-Beziehungsmuster kann auch internalisiert worden sein (z. B. bei Abhängigkeit vom Stressor) und innerlich eine anhaltende Wirkung entfalten (wie z. B. bei einer posttraumatischen Belastungsstörung). Der Stress wandelt sich, wenn man die Beziehung verändert, wenn man das Bedrohliche abwendet oder sich vom Bedrohlichen abwendet oder die Bedrohung umbewertet – wenn man sich hinwendet zu attraktiven Zielen. Stress beginnt für den Menschen mit der Wahrnehmung einer Bedrohung (Herausforderung). Wenn die darauffolgende Aktivität zum Abwenden der Gefahr erfolgreich ist, entsteht Selbstvertrauen. Das neuropsycho-motivationale Abwendungs-(Vermeidungs-)System (verknüpft mit dem Sympathikus) kann wieder in Stand-by geschaltet werden und der Betroffene kann sich entspannen und wieder angenehmen und kreativen Dingen zuwenden (neuropsychischer Annäherungsmodus) (Grawe 2004; Petzold 2014a, 2015). Wenn es nicht gelingt, die Gefahr oder sich von dieser abzuwenden, wird diese noch intensiver und genauer wahrgenommen, der Abwendungsmodus und der damit verknüpfte Sympathikotonus werden erhöht und die entsprechenden Aktivitäten verstärkt. Wenn auch weitere Bemühungen zur Abwendung der Bedrohung scheitern, erweist sich die Situation als Überforderung und damit der Stress als Disstress. Bei anhaltender Disstresslage kann es dann zu den bekannten Stresssymptomen und -erkrankungen kommen. Möglichst vor Erkrankung gilt es innezuhalten, sich auf ein Gefühl von (Ur-)Vertrauen (Kohärenzgefühl) zu besinnen, zu entspannen und wieder möglichst autonom eine neue Entscheidung zu treffen. Bei vielen Patienten mit NCD (wie z. B. Bluthochdruck, Adipositas, Arthrose, Gastritis, psychischen Erkrankungen u. a. m.) ist es auch zur Therapie hilfreich, Annäherungsziele zu stärken wie auch das Vertrauen, sich diesen annähern zu können (Abb. 2).

Beiträge der Salutogenese zu Forschung, Theorie und . . .

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Dynamische Stressregulation und die Kunst des ‚Stehaufmännchens‘ Anpassungsverhalten bricht zusammen Chronischer Stress Verhalten

Abwenden der Not / Gefahr

Handeln Ressourcen

Attraktoren Stimmigkeit Bedürfnisse

Motivation: Annäherungsziele

Wahrnehmen was bedeutsam ist: Ist ╪ Soll Innehalten Gefahr!: Abwendungsmodus

Depression, Stressu.a. Erkrankungen Reflektieren Bilanzieren: Erfolgreich? Gescheitert?

Lernen

Ja: Selbstvertrauen

Anhaltende Gefahr

Bei anhaltender Not im System kann Burnout vermieden werden durch Besinnung auf eigene Stimmigkeit.

© Th. D. Petzold Abb. 2 Stressregulation. (Quelle: Eigene Darstellung)

2.3

Systemische Sichtweise: Die Kohärenzregulation findet in mehrdimensionalen Bezugssystemen statt

„Was aber, wenn die Art der Erfahrungen, die für das SOC relevant sind, . . . in verschiedenen Bereichen des Lebens ständig verschieden ist? Könnte man nicht dazu kommen, die Stimuli, die aus dem Inneren kommen, als in hohem Maße verstehbar, handhabbar und bedeutsam anzusehen, diejenigen aber, die im Kontext interpersoneller Beziehungen entstehen, diesbezüglich lediglich als mittelmäßig – und diejenigen, die man in seiner Arbeit erlebt, als chaotisch, nicht zu handhaben und bar jeder Bedeutung?“ (Antonovsky 1997, S. 165).

Da ein Mensch ein halb offenes System ist und nie isoliert leben kann, schließt Gesundsein immer auch äußere Kohärenz mit ein. Wenn also das Streben des Menschen nach Kohärenz eine „globale Orientierung“ hat (Antonovsky 1997), geht der Attraktor über die ausschließliche Innenorientierung hinaus – Gesundsein bedeutet auch stimmige Weltbeziehungen zu haben (vgl. auch Carstensen in diesem Buch; s. a. Rosa 2016).

2.3.1 Kohärenz, Systeme und Kommunikation Mit ‚Kohärenz‘ hat Antonovsky einen Begriff ins Zentrum seiner Gesundheitstheorie gestellt, der auch den Weg in eine systemische Sichtweise weist (s. Zitat oben a.).

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Kohärenz (im Sinne von Zusammenhalt) ist die erforderliche Bedingung für jedes System. Wenn es keinen Zusammenhalt hätte, wäre es kein System. Die Art/Information seiner Kohärenz macht seine spezifische Qualität aus. Mit Kohärenz wird zum großen Teil auch das gemeint, was Luhmann (1987) mit der „Kommunikation eines Systems“ meint. Wir sehen allerdings Kommunikation (als Austausch von Information) (anders als Luhmann) stärker als autonome Aktivität der Untersysteme. Diese kommunizieren in der Kohärenz des betrachteten Systems sowie auch mit diesem Übersystem und ggf. auch (mehr oder weniger direkt) in Resonanz mit weiteren (Über-)Systemen.

2.3.2 Eine Ordnung der Lebensbereiche in Kohärenz-Dimensionen Die Kohärenz eines Übersystems ist in der Regel attraktiv für die Dynamik und Kommunikation seiner Untersysteme. Subjektiv suchen Systeme stimmige Zugehörigkeit zu ihren Übersystemen. Dies wird meist als ‚Anpassung/Adaption‘ bezeichnet; bei genauerem Hinsehen ist es mehr ein Vorgang der Integration: Jedes neue Mitglied (Untersystem) einer Familie oder Organisation (eines Systems) verändert dieses System, erfordert eine Anpassung auch des Systems an sein neues Mitglied/ Untersystem, und sei es fast unmerklich. So erscheint als ein salutogenes und gleichzeitig entwicklungsorientiertes Ziel die Integration/Inklusion aller Untersysteme in das jeweilige Übersystem. Diese systemische Sichtweise impliziert, dass es eine Ordnung von Ganzheiten gibt (Bertalanffy et al. 1972), die sehr treffend „Holarchie“ genannt werden. Das bedeutet, dass ein kleines System, eine kleine Ganzheit, ein Teilsystem einer größeren Ganzheit ist, wie z. B. ein Individuum ein Teil einer Familie, die Familie ein Teil einer Gesellschaft/Nation/Kultur, eine Kultur ein Teilsystem der Menschheit und der Biosphäre ist. Nach innen geschaut sind die Organsysteme, die Organe und Zellen Unter-/Teilsysteme eines Individuums (Abb. 3 und 4). Die Kohärenz der Lebewesen wurde im Laufe der Evolution dimensional komplexer. Jede dieser Dimensionen fordert mit ihrer Kohärenz und Kommunikation im Leben Beachtung. Gerade das Zusammenspiel der einzelnen Dimensionen in ihrer vertikalen Ordnung will beachtet werden, wenn es um gesunde Entwicklung, um Salutogenese und um Kreativität geht. Wenn die Dynamik einer Zelle, wie beim Wachstum vieler Tumoren, sich aus der Kohärenz des Gesamtorganismus löst und primär nur das eigene Wachstum verfolgt, entsteht Chaos im System und der Mensch stirbt und mit ihm der Tumor. Wenn ein Präsident in erster Linie seine eigenen Interessen verfolgt (oder die seiner Partei oder Familie), entsteht Chaos im Staat. Wenn eine Nation ihre Interessen über die der Menschheit stellt, gibt es leicht Krieg. Jedes System hat seine Aufgabe innerhalb seines Übersystems, hat seinen Dienst für Übersysteme zu leisten. Und andersherum ist es Aufgabe der Übersysteme, für möglichst gute Bedingungen für eine gesunde Entwicklung ihrer Untersysteme zu sorgen. 2.3.3 Salutogene Wechselbeziehungen in Lebensdimensionen Die Kommunikation der Teilsysteme hat zwei Aspekte: Sie ist in Resonanz zur Kohärenz des Übersystems und drückt diese Kohärenz aus und gleichzeitig stellt sie

Beiträge der Salutogenese zu Forschung, Theorie und . . .

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Kommunikative Selbstregulation

Verhalten

Handeln

Reflektieren Individuum Attraktoren Stimmigkeit Annäherungsziele Lernen

Motivation

Wunschlösung

Wahrnehmen Kommunikative Stimmigkeitsregulation zur Annäherung an attraktive Ziele Abb. 3 Kohärenzregulation in Übersystemen. (Quelle: Eigene Darstellung)

diese her und verändert diese, weil jedes System seine eigene Resonanzfähigkeit hat. Ein zweijähriger Junge lernt die Sprache, Werte und Regeln seiner Bezugspersonen/ Familie und drückt im Gebrauch der Sprache die Kohärenz auf seine Art aus. Dadurch wird auch die Kohärenz der Familie modifiziert. So hat jedes System einen gewissen Grad von Autonomie, der als Freiheit, Wahlund Entscheidungs- sowie (Mit-)Gestaltungsmöglichkeit zum Ausdruck kommt. In dieser systemischen Sicht werden die Beziehungen der Atome und Moleküle in der Kohärenz einer Zelle durch die Gesamtfunktion (Kohärenz) der Zelle maßgeblich bestimmt. Die Organe eines Menschen kommunizieren über Botenstoffe, Nerven und womöglich in direkter Resonanz mit der Kohärenz des Gesamtorganismus. Familienmitglieder kommunizieren in ihrer Kohärenz anders miteinander als die Organe im Menschen und anders als Kollegen in einer Firma. Kinder nehmen Eltern und Lehrer als Vorbilder. Familien orientieren sich an vermittelten Erziehungsmethoden, ökonomischen und medizinischen/hygienischen Vorgaben der Kultur. Regierungen orientieren sich (leider meist zu wenig) an Gesetzen und ggf. an moralischen Grundsätzen von Religionen bzw. ethischen Prinzipien der Menschheit. Wenn wir hier von „Orientierung“ an der Kohärenz von Übersystemen sprechen, soll das nicht heißen, dass alle Untersysteme sich dem Übersystem direkt anpassen. Es soll aber heißen, dass sie in ihrem Leben nicht umhinkommen, sich mit den Regeln, Werten, Normen – der Kohärenz – des Übersystems auseinanderzusetzen. In

Erkrankung

2. Organismus – Autonome Selbstregulation Kooperation zur komplexen Selbstorganisation / Leben: genetisch gesteuert, zwischen Zellen

3. Soziale Gemeinschaft – Zugehörigkeitsgefühl Kooperation zur Weitergabe und Entwicklung des Lebens: instinktiv, spontan, bedürfnisorientiert

4. Kultur – Lernen, Kreativität, Anerkennung Kooperation zur Weitergabe von Wissen / Annäherung an Weisheit: um Drittes, organisiert, vermittelt

5. Globale Einheit – Ethik Kooperation zum guten Leben aller Menschen: transkulturell, intuitiv-reflektiert verantwortungsbewusst

1. Materielle Wechselwirkungen in dynamischer Kohärenz ‚Kooperation‘: Wechselwirkungen, Anziehungskräfte

Gesundung

(Attraktor)

Stimmigkeit Kohärenz

Lebensdimension

Kohärenz und Kooperation in Lebensdimensionen

Abb. 4 Kohärenz in Lebensdimensionen. (Quelle: Eigene Darstellung)

Entwicklung

Systemisches Evolutionsmodell

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Beiträge der Salutogenese zu Forschung, Theorie und . . .

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aller Regel übernehmen sie ein beträchtliches Teil von dieser Kohärenz – selbst wenn sie sich subjektiv explizit gegen herrschende Normen stellen. So entstehen viele Paradoxitäten.

2.3.4 Veränderungen von Systemen Durch ein Eintreten für die eigenen Bedürfnisse und Anliegen können die Individuen oder Interessengruppen die Kohärenz des Übersystems sowohl stärken (weil es letztlich von gesunden, kreativen Teilsystemen profitiert) als auch verändern oder sogar gefährden, wenn das Übersystem an entwicklungshemmenden/dysfunktionalen Kohärenzmustern festhalten will oder die Kohärenz des Übersystems sich in ausschließendem Widerspruch zu den Bedürfnissen steht, bzw. sich den individuellen Interessen gänzlich unterordnen soll. Letztlich ist die nachhaltige Entwicklung eines Systems abhängig vom Wohlergehen seiner Teilsysteme und ihrer guten Kommunikation und Kooperation. So gibt es in jedem lebenden System eine top-down und bottom-up Abhängigkeit, wobei die Stärke sehr wechseln kann (vgl. Petzold 2017; Petzold und Bastian 2018). Konstruktive Veränderungsprozesse von Übersystemen scheinen besonders dann erfolgreich zu verlaufen, wenn sie sich an der Kohärenz eines Über-Übersystems orientieren, wie heute z. B. die Umgestaltung von Kulturen/Nationen durch eine Orientierung an der Menschheit und der Biosphäre konstruktiv geschehen kann. Dieser Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauernde Vorgang wird aktuell in der Weltpolitik besonders deutlich wie auch seine Auswirkungen auf die Gesundheit vieler Erdenbürger. Dabei sehen wir auch, dass in dieser großen komplexen Dimension Übergänge viel länger dauern als im Individuum oder in einer Zelle. Jede Lebensdimension hat ihre eigenen Zeitverläufe (Petzold 2000b). Antonovsky hatte mit seinem Verständnis vom SOC das Dilemma, dass ein KZ-Wärter wohl einen guten SOC haben konnte, aber keineswegs kohärent mit den Mitmenschen im KZ verbunden war. Daraus schloss er, dass das Kohärenzgefühl und damit auch Gesundheit unabhängig von Ethik und Moral sei. Dazu schlagen wir aus unserer systemischen Sicht eine andere Betrachtung vor. Wir sehen Ethik als Aspekt der Kohärenz der Menschheit. Wenn eine Nation dagegen verstößt, kann ein Bürger dieser Nation eine Zeit lang sein Kohärenzgefühl nur auf seine nächsten Systeme beziehen, aber längerfristig wird er oder seine Nachkommen auch unter Inkohärenz der Nation leiden. So mussten die Deutschen viele Tote und Verletzte erleiden wie auch die Nachkriegsgeneration psychisch die Schuldfrage aufarbeiten. Aus dieser Betrachtungsweise gibt es eine Wechselwirkung/Resonanz zwischen der Kohärenz des Übersystems und seiner Untersysteme aber keine direkte lineare Beziehung zwischen Ethik/Moral eines Menschen und seiner Gesundheit. 2.3.5 Salutogenese und Evolution Die hier dargelegte systemische Sichtweise (Systemtheorie) ermöglicht und impliziert ein neues Verständnis gesunder Entwicklung in kultureller Evolution. Wenn wir Evolution als den Vorgang verstehen, in dem sich immer komplexere Lebewesen und Netzwerke von Lebewesen bilden, bedeutet Evolution für uns Individuen, dass wir immer komplexere Beziehungen entfalten und leben. Das heißt, dass die Kohä-

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T. D. Petzold und O. Bahrs

renz und Kooperation/Kommunikation von Individuen und Gesellschaften/Netzwerken immer komplexer wird und entsprechend auch unser Bewusstsein die Komplexität wiederspiegelt und andersherum komplexes, vernetztes Bewusstsein die Entwicklung der Kooperationen fördert (Petzold und Bastian 2018). Das bedeutet auch, dass wir uns entwickeln und kreativ werden, indem wir neue Kommunikations- und Kooperationsmöglichkeiten finden und praktizieren. Wenn wir uns heute in einem Übergang der Evolution befinden („Große Transformation“ WBGU 2011), in einer Erweiterung menschlicher Beziehungen von kultureller Kohärenz zu globaler, transkultureller Kommunikation, vom Objektfixierten Bewusstsein (soweit es westliche Zivilisationen betrifft) hin zum reflexiven Verantwortungsbewusstsein, so ist es hilfreich, alle bisherigen Kohärenzen und Kommunikationsweisen zu integrieren (vgl. a. ‚Integrales Bewusstsein/integrale Theorie‘ Gebser 1986). Womöglich ist es förderlich eine entwicklungsorientierte Vision von Kohärenz zu haben, die förderlich ist für eine Entwicklung von einer fatalistischen Vorhersagbarkeit der Zukunft zu ihrer Mitgestaltung, von Kontrollbedürfnis zu vertrauensvoller Kooperation u. a. m.

3

Aktuelle Strömungen und Anwendungsbereiche

Die salutogenetische Fragestellung hat eine breite positive Resonanz in vielen Gesundheitsberufen, bei Pädagogen und in Sozialberufen gefunden (Petzold 2014b) und Neugier geweckt. Eine Orientierung auf positive Gesundheitsziele findet Sympathien. So hat sich die AOK als „Gesundheits-Kasse“ bezeichnet, die Bundesregierung hat eine Kampagne zu ‚Gesundheitszielen‘ gestartet u. a. m. Möglicherweise regen derartige Wortspielereien das Denken in Richtung Gesundung an – aber die Tiefe des erforderlichen Umdenkens und eine entsprechende Praxis sind damit noch nicht automatisch gegeben. Es erscheint uns sinnvoll, die Anwendungsbereiche der Salutogenese grob zu unterteilen in diejenigen, die die Ergebnisse von Antonovskys Forschung versuchen praktisch umzusetzen, also das Kohärenzgefühl hinsichtlich der Dimensionen von ‚Bedeutsamkeit, Handhabbarkeit und Verstehbarkeit‘ in Beratung und Setting zu fördern und dies in Bezug auf den SOC zu evaluieren, und in diejenigen, die sich in ihrem Denken und Handeln von der salutogenetischen Fragestellung und womöglich seiner Idee von Kohärenz inspirieren und leiten lassen: Wie wird im Leben immer wieder Wohlergehen und Kohärenz hergestellt? Dabei nehmen sie diese Frage sowohl praktisch als auch theoretisch auf.

3.1

Umsetzung des SOC-Konstrukts

Besonders erwähnenswert erscheinen in Deutschland die ‚Wartburggespräche‘, die Wolfram Schüffel 1992 initiiert hat und über 25 Jahre jährlich durchführte. Aus ihnen ging das erste Handbuch Salutogenese 1998 hervor (Schüffel et al. 1998; Schüffel 2012). Schüffel war leitender Arzt der Psychosomatischen Klinik der

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Philipps-Universität Marburg, und folglich drehten sich die Wartburggespräche primär um Psychotherapie, und in diesem Rahmen um die Bedeutung des SOC und seine drei Komponenten. Eine noch größere Resonanz fand Antonovskys Ansatz in vielen Bereichen der Gesundheitsförderung. Er half dabei, das Fördern von Gesundheit von der Vermeidung von Krankheit (Prävention) zu unterscheiden (Geene et al. 2013). Die salutogenetische Frage entspricht der Fragestellung der Gesundheitsförderung. So finden wir in diesem weiten Feld sowohl anwendungsbezogene Aktivitäten, wie im Betrieblichen Gesundheitsmanagement als auch konzeptuelle Überlegungen, die der Fragestellung gefolgt sind (Krause und Mayer 2012; u. v. a.). Alexa Franke, die auch das Buch von Antonovsky übersetzt hat, hat das HEDE(Health-ease/dis-ease)-Training zur Gesundheitsförderung entwickelt, das sich stark an dem SOC-Konstrukt orientiert (Franke und Witte 2009).

3.2

Entwicklung von salutogenetischer Orientierung

Auf der anderen Seite gibt es immer mehr Autoren im Gesundheitsbereich, die mit Salutogenese nicht eine bestimmte Gesundheitstrainings-Methode oder Heilslehre verbinden, sondern eine salutogenetische Orientierung verfolgen und Beiträge aus ihrer Sicht zu dieser Fragestellung bringen. Die Liste dieser Menschen wäre sehr lang. Eriksson und Mittelmark (2017, S. 103, Abb. 12.4) haben unter einem Schirm von Salutogenese viele Beiträge in dieser Richtung unabhängig vom Salutogenesekonzepts Antonovskys aufgeführt. Nicht dabei sind die Folgenden, die mehr vom therapeutischen Ansatz her kommen und in diesem Feld ihren Wirkkreis haben. So hat der amerikanische Psychoonkologe Lawrence LeShan in den 1960erJahren ganz explizit in der Therapie schwer krebskranker Patienten seinen Fokus um 180 gewendet. Er verfolgte nicht mehr die drei Fragen, die normalerweise Ärzte und Therapeuten im Hinterkopf haben, wenn sie einem Patienten begegnen: „1. Was ist die Krankheit/Diagnose? 2. Was ist ihre Ursache? Und 3. Was können wir gegen sie machen?“ sondern nur noch zwei Fragen: „1. Was ist gesund an dir? (‚What is right with you?‘) und 2. Was kannst du (und was können wir) tun, damit es dir besser geht?“ Mit diesem Schwenk der Orientierung erlebte er etwa 50 % Remissionen, z. T. Langzeitremissionen (LeShan 1989; LeShan und Büntig 2010). In den 1970er-Jahren entwickelt der Heidelberger Forscher Grossarth-Maticek das Autonomietraining und führte sehr umfangreiche und über lange Zeiträume währende epidemiologische Forschungen zur Synergie von Faktoren für ein langes gesundes Leben sowie prospektive Interventionsstudien durch (Grossarth-Maticek 1999, 2000, 2003). Dabei hatte er schon eine Vorstellung von gesunder autonomer Selbstregulation (Petzold 2007). Nach Grossarth-Maticek strebt eine gesunde Selbstregulation danach, „durch Eigenaktivität Wohlbefinden, Sicherheit, Lust, Sinnerfüllung und persönliche Entwicklung herzustellen“ (Grossarth-Maticek 2000). Zunächst parallel seit den 1980er-Jahren und dann aufbauend auf GrossarthMaticeks Autonomietraining hat der auch psychotherapeutisch tätige Allgemeinarzt TD Petzold später auch die Arbeiten von Antonovsky zum oben dargestellten

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Modell kommunikativer Kohärenzregulation integriert und eine salutogene Kommunikation als Methode SalKom ® entwickelt (Petzold und Lehmann 2009; Petzold 2013a, c, 2015). Er sieht in der menschlichen Kommunikation und Kooperation die größte noch weitgehend schlafende Ressource für gesunde Entwicklung. In der salutogenen Kommunikation wird besonders durch geeignete Fragen und Zuhören ein stimmig aufbauendes Zusammenspiel von Annähern (Annäherungssystem) und Abwenden (Abwendungs-/Vermeidungssystem) auf dem Hintergrund der kommunikativen Kohärenzregulation angeregt. Durch Vertiefung der Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse, Anliegen sowie Stimmigkeit/Unstimmigkeit wird u. a. auch das motivierende Gefühl von Bedeutsamkeit erhöht. Durch gemeinsame Überlegungen zu den nächsten Schritten in Richtung Wunschlösung und durch Erschließen hilfreicher Ressourcen wird die Handlungsfähigkeit (auch Selbstwirksamkeit) gestärkt. Durch vertiefende Fragen nach Resonanzen und Wechselwirkungen in Beziehungen wird bilanziert und reflektiert. Aus dieser Reflexion entsteht Verstehen und Lernen. Die Lernergebnisse fließen dann rekursiv in die weitere Lebensgestaltung und Kohärenzregulation ein. Durch Integration und Kooperation aller Ich-Zustände/Beziehungen werden die Komplexität der Kommunikationsmöglichkeiten und die Fähigkeit, immer wieder Stimmigkeit im Leben herzustellen, erhöht. Aus der Salutogenen Kommunikation wurde das multimodale ‚Training der Stressregulation‘ entwickelt, das als erstes die Kommunikation im Zentrum der Übungen hat und von den Krankenkassen als Präventionsmaßnahme zertifiziert ist.

3.3

Salutogenese und Professionsentwicklung

In der Trauma- und Suchttherapie ist eine salutogenetische Orientierung inzwischen grundlegend entweder implizit oder explizit verankert. Die Ausbildung und Supervision von Professionellen aus unterschiedlichen Gesundheitsberufen in salutogener Kommunikation wird jetzt seit 10 Jahren erfolgreich durchgeführt. In 2018 sollen über 100 Mitarbeiter einer Betreuungsgesellschaft für psychisch Behinderte in Salutogener Kommunikation weitergebildet werden. Das Zentrum für Salutogenese in Bad Gandersheim sowie auch der ‚Dachverband Salutogenese DachS e.V.‘ haben sich unter anderem den interdisziplinären Austausch und die theoretische und praktische Weiterentwicklung der salutogenetischen Orientierung zur Aufgabe gemacht (s. a. Petzold 2013b). Dazu führen sie seit 2005 regelmäßig Symposien durch, geben die erste Zeitschrift für Salutogenese ‚Der Mensch‘ heraus und initiieren bzw. beteiligen sich an Forschungen und Weiterbildungen. Im Zukunftspapier der DEGAM, der wissenschaftlichen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin, wird eine salutogenetische Orientierung der Allgemeinärzte explizit erwähnt. Der Medizinsoziologe Ottomar Bahrs hat im hausärztlichen Bereich früh Forschungen zur salutogenetischen Orientierung durchgeführt (s. o. und Bahrs und Matthiessen 2007) und die salutogenetisch orientierte Intervention des ‚Bilanzierungsdialogs‘ entwickelt und evaluiert (Bahrs et al. 2015, 2016, 2017). In der wissenschaftlichen Zeitschrift für Allgemeinmedizin ZFA erschien u. a. auch ein

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Beitrag von Petzold zum Thema „Systemische und dynamische Aspekte von Ganzheit in einer Theorie der Allgemeinmedizin“ (Petzold 2011b). Im Bereich der Schulgesundheit besteht reges Interesse an Salutogenese, was sich in Vorträgen und Seminaren zeigt. In der Literatur wird das Konzept der Salutogenese in den unterschiedlichsten Disziplinen des Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesens zwar zunehmend aufgegriffen – im 13. Kinder und Jugendbericht gar ein „salutogenetischer Blick“ als Fachstandard gefordert (BMBF 2009) –, doch in der jeweiligen Berufspraxis ist eine salutogenetische Orientierung nach wie vor noch zu wenig präsent. Krajic et al. (2017) machen darauf aufmerksam, dass die Umsetzung von Projekten in salutogenetischer Orientierung in verschiedenen Settings umso eher gelingt, je ,mehr als „cobenefit“ die Chancen verbessert werden, die primären Aufgaben der jeweiligen Institutionen zu erreichen, die Arbeits- und Berufszufriedenheit zu erhöhen und zu einer Stärkung des Kohärenzgefühls bei den Professionellen selbst beizutragen. Dies ist umso notwendiger, als Professionelle in besonderer Weise als authentische Personen gefordert sind (Dick 2016). Entscheidend scheint zu sein, dass es gelingt, Lernprozesse für die Professionellen so zu gestalten, dass diese für sie selbst gesundheitsförderlich wirken. Dazu müssen – ganz entsprechend den Postulaten Antonovskys – die Anforderungen ausgewogen und handhabbar sein, die Inhalte konsistent und verstehbar sein und die Interaktionen der Unterschiedlichkeit der Beteiligten Rechnung tragen und Teilhabe ermöglichen. Selbsterfahrene Partizipation erleichtert es den Professionellen zu versuchen, ihrerseits Patienten/Klienten/Mitarbeitern die Erfahrung von Teilhabe in ihrer gemeinsamen Interaktion zu ermöglichen und damit einen Transfer auch in andere Lebenssituationen zu erleichtern (Bahrs 2011b; Vinje et al. 2017). Wir meinen daher, dass die Förderung einer salutogenetischen Orientierung besonders gut im Rahmen von Professionsentwicklung möglich ist und möchten dies am Beispiel von Qualitätszirkeln erläutern.

3.4

Qualitätszirkel – Qualitätsentwicklung in salutogenetischer Perspektive

Folgt man Ulrich Oevermann (1996, 2003), so besteht die zentrale Aufgabe von Professionellen in der Unterstützung bei der Krisenbewältigung. Ihr Rat wird gesucht, wenn ein jeweiliges soziales System seine Lebenspraxis nicht mehr autonom bewältigen kann und in eine Krise gerät. Aufgabe des Professionellen ist es dann, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten, d. h. seine Expertise so zur Verfügung zu stellen, dass keine Abhängigkeit entsteht. Anders gesagt: professionelles Handeln ist seinem Wesen nach salutogenetisch orientiert. Dabei muss der Professionelle – gemeinsam mit dem jeweils Hilfesuchenden – die fallspezifische Lösung in der Situation selbst erfinden (Ortmann 1999). Zum einen sollen einzelfallspezifische Lösungen kreiert, zum anderen die Entscheidungen begründet werden können; d. h. das professionelle Handeln ist grundsätzlich legitimationsbedürftig, was in der Etablierung von Verfahren zur Qualitäts-

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sicherung seinen Niederschlag gefunden hat. Eines dieser Verfahren ist der Qualitätszirkel, mittlerweile fest verankert in der kontinuierlichen Qualitätsentwicklung bei niedergelassenen Ärzten. Qualitätszirkel sind moderierte Kleingruppen (8–15 Teilnehmer), die über einen längeren Zeitraum selbstgewählte Themen der Versorgungspraxis auf Grundlage eigener Versorgungsdaten erfahrungsbezogen und mit dem Ziel der Optimierung ihrer Tätigkeit systematisch diskutieren. Entscheidungssituationen können dabei rekonstruiert, unterschiedliche Optionen gedankenexperimentell durchgespielt und Angemessenheitskriterien gemeinsam entwickelt werden. Dabei wird das jeweilige konkrete Handeln bis zum Beweis des Gegenteils als angemessen unterstellt, so dass der jeweilige Fallvorstellende sich in seiner Expertenschaft ernst genommen und unterstützt fühlen kann. Zumeist erweist sich die getroffene Entscheidung als nachvollziehbar, eine fallspezifische Abweichung von Leitlinien und Standards als angemessen, so dass dieses Handeln als Modell auch für andere gelten kann: das Praxiswissen kann damit zur Geltung kommen. Umgekehrt können blinde Flecken deutlich werden, was Anlass zur Verhaltensänderung gibt, und es können auch grundsätzliche Probleme deutlich werden, die nur durch strukturelle Änderungen – etwa die systematische Einschaltung anderer Versorger, Veränderungen des Vergütungssystems u. ä. – umsetzbar sind. Je nach Ressourcen und Bedarfen gestalten sich die Lernprozesse unterschiedlich, neben dem individuellen Lernen aber erfolgt durchgängig ein Gruppenlernprozess, der zur Stärkung eines gemeinsamen Selbstverständnisses und gleichzeitig zur Anerkennung individueller Handlungsstile und zur Ausformung eines gemeinsamen Profils und damit insgesamt zu einer Homogenisierung des Handelns führt. Ähnlich dem professionellen Handeln selbst folgt die Arbeit im Qualitätszirkel der stellvertretenden Krisenbewältigung. Ausgangspunkt können von den Teilnehmenden selbst empfundene schwierige Situationen sein – insofern bestehen Ähnlichkeiten zur Supervision. Ausgangspunkt aber kann auch das gerade nicht als problematisch empfundene Routinehandeln sein. Die Problematisierung erfolgt hier erst in der Diskussion selbst durch Überlegungen zur Möglichkeit alternativer Entwicklungsverläufe, die im Alltag gar nicht erst thematisiert werden. Dies ist insbesondere bei der Versorgung von Patienten mit chronischen Krankheiten der Fall, und die Falldiskussionen im Qualitätszirkel werfen dann gedanklich die Möglichkeit der Destabilisierung von Stagnation auf. Wird dies in die Behandlungswirklichkeit übertragen, so sind Entwicklungsprozesse auch bei stagnierenden Verläufen möglich – eine salutogene Erfahrung für Patienten und Behandler gleichermaßen. Qualitätszirkel sollen es den Professionellen erleichtern, eine qualitativ hochwertige Versorgung zu erbringen – unter salutogenetischem Gesichtspunkt betrachtet heißt dies: in letzter Instanz soll die Fähigkeit zur Selbsthilfe – die AutoSalutogenese – gefördert werden. Qualitätszirkel aber haben darüber hinaus salutogenetische Potenziale auch mit Bezug auf die teilnehmenden Professionellen, deren Institutionen sowie für Berufsverbände und Kostenträger, gegenüber denen die Professionellen rechenschaftspflichtig sind (siehe Tab. 1). Evaluationsergebnisse belegen, dass die Teilnehmenden mit der Teilnahme am Qualitätszirkel gefühlte

Beiträge der Salutogenese zu Forschung, Theorie und . . .

111

Tab. 1 Salutogene Potenziale von Qualitätszirkeln Dimension nach Antonovsky Verstehbarkeit Handhabbarkeit

Bedeutsamkeit/ Sinnhaftigkeit

Teilnehmende

Institutionen

Berufsverbände und Kostenträger

(Selbst-)Reflexion Wissenszuwachs Flexibilität und Handlungssicherheit

Transparenz

Professionalisierung

Effektivität (z. B. durch bessere Kooperation und Abstimmung) Corporate Identity Betriebsklima Wettbewerbsvorteil

Förderung einer Kultur der Qualitätsentwicklung Imagegewinn Gestaltungschancen

Erfahrene Wertschätzung im Qualitätszirkel Selbstvertrauen Identifikation mit der Tätigkeit Berufszufriedenheit

Veränderungen verbinden, die den Dimensionen von Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit zugerechnet werden können (Bengel et al. 2001; Bahrs und Matthiessen 2007). Wir haben – Einzelaussagen extrapolierend – in der Tabelle parallel dazu positive Wirkungen für Institutionen und Berufsverbände resp. Kostenträger angegeben, die als Argumentationsfolie gegenüber Entscheidungsträgern dienen können. Empirische Befunde liegen hierfür bislang freilich noch nicht vor.

3.5

Zusammenfassung

Gesundheit wird als Idealbegriff, als attraktives Annäherungsziel verstanden, das unsere positive Annäherungsmotivation triggern kann. Im Salutogenese-Konzept erweitern wir den Ziel-Begriff ‚Gesundheit‘ durch ‚Kohärenz/Stimmigkeit‘. Die salutogenetische Fragestellung dynamisch präzisiert lautet: Welche Dynamiken/Lebensvorgänge erzeugen immer wieder Gesundsein? Zur Beforschung von Gesundsein als Annäherung an das Ideal von vollkommener Kohärenz bieten sich insbesondere Verlaufsanalysen an, die vom Subjekt in seinen Weltbeziehungen ausgehen und Veränderungsprozesse/Übergänge von Kranksein zu Wohlbefinden u. Ä. untersuchen. Dabei kann die Explizierung erlebter positiver Einzelfälle („positive Devianz“) womöglich zu einem Lernen von diesen und damit zu einer ‚Ansteckung mit Gesundheit‘ führen. Bei der Theoriebildung im Gesundheitsbereich ist neben der Frage nach der empirischen Richtigkeit und Beweisbarkeit einer Theorie auch die Frage nach ihrer möglichst positiven Wirkung auf die gesunde Entwicklung zu beantworten – einer Wirkung, die jede Theorie in einer rekursiven sozio-kulturellen Selbstregulation entfaltet (z. B. motivierend). Grundannahmen für Salutogenese sind, dass sie eine lebenslange komplexe Selbstregulation ist und in kommunikativen mehrdimensionalen Weltbeziehungen stattfindet. Die menschliche systemische Selbstregulation ist eine Kohärenzregula-

112

T. D. Petzold und O. Bahrs

tion – ihr übergeordneter Attraktor ist Kohärenz als komplexe Steuergröße. Das Leben eines Lebewesens dreht sich um (seine) Kohärenz als zentralen Attraktor. Die Kohärenzregulation besteht aus den drei Phasen: Wahrnehmen, Handeln und Reflektieren. Sie integriert rekursiv die Ergebnisse des Reflektierens als Lernen. Die integrierte und kohärente Ganzheit des Menschen hat Petzold als Psyche definiert. Die Stressregulation betrifft die Beziehung zwischen Gestresstem und Stressor. Sie beginnt mit der Bewertung einer Situation als bedrohlich, wodurch das neuromotivationale Abwendungs-/Vermeidungssystem getriggert wird. Diese Beziehung kann in einer gelungenen Stressregulation verändert werden, was zu einer Hinwendung zu Annäherungszielen führt. In einer systemischen Sichtweise erscheint die Kohärenz eines Übersystems attraktiv für die Dynamiken und Kommunikation seiner Teilsysteme und führt diese zur Adaption. Die Kommunikation von Teilsystemen findet in Resonanz zur Kohärenz des Übersystems statt und gestaltet diese gleichzeitig. Die Kohärenz der Menschheit kommt im Menschen u. a. als Ethik zum Ausdruck. In einem evolutionär systemischen Verständnis führt dieser Attraktor zu einem reflexiven Verantwortungsbewusstsein, vom Wunsch nach Vorhersagbarkeit der Zukunft zu ihrer Mitgestaltung. Salutogenese findet Beachtung und Umsetzung einmal als Antwort Antonovskys auf die salutogenetische Frage, nämlich dem SOC-Konstrukt, und zum anderen als seine wegweisende Fragestellung, die zur Grundlage allen therapeutischen und gesundheitsfördernden Handelns zurückführt. Zu beiden Bereichen werden zahlreiche Beispiele genannt. Die Kommunikation und Kooperation werden als besondere Ressource für gesunde Entwicklung gesehen. Für die Professionalisierung in Gesundheitsberufen werden außer der salutogenen Kommunikation noch ganz besonders die Qualitätszirkelarbeit ausgeführt. In Falldiskussionen z. B. zur Versorgung von und zum Umgang mit chronisch Erkrankten können Möglichkeiten der Destabilisierung von Stagnation der gesunden Selbstregulation gedanklich gefunden werden, die dann von den Teilnehmern in die Behandlungswirklichkeit übertragen werden können. Dies schafft salutogene Erfahrungen für Patienten und Behandler. In letzter Instanz soll die Fähigkeit zur Selbsthilfe – die ‚Auto-Salutogenese‘ – gefördert werden. Dies betrifft auch die Potenziale der Professionellen und ihre Institutionen.

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Theoretische Perspektiven in der Gesundheitssoziologie Thomas Gerlinger

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Herausbildung und Ausdifferenzierung der Gesundheitssoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Gesundheitssoziologie in der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Theoretische Perspektiven in der Gesundheitssoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Impulse für die Theoriebildung in der Gesundheitssoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Gesundheitssoziologie ist traditionell stark empirisch ausgerichtet. Theorie wird im Allgemeinen sehr pragmatisch verwendet, nämlich zur Entwicklung eines analytischen Rahmens, der die empirische Forschung anleiten und strukturieren soll. Dementsprechend dominieren in der Gesundheitssoziologie auch bereichsspezifische Theorien und das Theorieangebot ist je nach Untersuchungsgegenstand stark fragmentiert. Übersichtsartig werden u. a. systemtheoretische, konstruktivistische, kognitive und feministische Ansätze sowie Ansätze der Humankapitaltheorie vorgestellt. Gesundheitssoziologie leidet an einem Mangel an Theorien, die einen integrierierenden Blick auf den zeitgenössischen Umgang mit Gesundheit werfen und dessen dynamischen Wandel angemessen interpretieren. Dieser Beitrag stellt im Besonderen Ansätze vor, die dazu beitragen könnten, diesen Wandel zu überwinden und das Potenzial zur Generierung einer solchen integrierenden Perspektive mitbringen.

T. Gerlinger (*) Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Kriwy, M. Jungbauer-Gans (Hrsg.), Handbuch Gesundheitssoziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06392-4_44

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T. Gerlinger

Schlüsselwörter

Theorie · Gesundheitssoziologie · Landnahme · Aktivierung · Gesellschaftstheorie

1

Einleitung

Die Gesundheitssoziologie ist eine stark empirisch ausgerichtete Teildisziplin der Soziologie. Sie war in den vergangenen Jahrzehnten – wie die Soziologie insgesamt – durch eine starke Ausdifferenzierung der Forschung gekennzeichnet, die eine Ausdifferenzierung der Themen und Methoden, aber auch der theoretischen Bezüge beinhaltet. Gesundheitssoziologie ist durch einen ausgeprägten Theorienpluralismus gekennzeichnet. Dies hat nicht nur damit zu tun, dass in der Soziologie generell bekanntlich kein einheitliches Theorieverständnis existiert, sondern ist auch darauf zurückzuführen, dass die sozialen Bezüge des Gegenstandsbereichs „Gesundheit“ außerordentlich vielfältig sind und die Theoriebildung in der Gesundheitssoziologie im Allgemeinen sehr empirienah ist. Auch aus diesem Grund hält die Gesundheitssoziologie eine große Vielfalt an Theorieangeboten bereit. Sie können sich auf das Verhalten von Individuen oder Gruppen, auf die Analyse von Beziehungsgeflechten oder auch auf die Entstehung und Wirkung gesundheitsrelevanter Strukturen beziehen. Es dominiert eine pragmatische Nutzung von Theorien, ganz im Sinne von Elinor Ostrom, die im Hinblick auf ihren Ansatz, den „institutional analysis and development framework“, den Nutzen von sozialwissenschaftlicher Theorie folgendermaßen charakterisiert hat: „The development and use of theories enable the analyst to specify which elements of the framework are particularly relevant to certain kinds of questions and to make general working assumptions about these elements. Thus, theories focus on a framework and make specific assumptions that are necessary for an analyst to diagnose a phenomenon, explain its processes, and predict outcomes“ (Ostrom o. J., S. 5). Empirienahe Theoriebildung und -anwendung findet sich häufig z. B. in Untersuchungen zum Gesundheitsverhalten oder in der sozialepidemiologischen Forschung. In Abhängigkeit vom jeweiligen Analysegegenstand ergeben sich damit Bezüge zu höchst unterschiedlichen Nachbardisziplinen – in der Soziologie des Gesundheitsverhaltens z. B. zur Psychologie oder in der Sozialepidemiologie z. B. zur Sozialstrukturanalyse. Theorien können aber auch auf solchen Feldern und im Hinblick auf solche Fragestellungen hilfreich sein, die dem empirischen Zugriff nicht leicht zugänglich sind. Dies gilt etwa für die Frage nach der gesellschaftspolitischen Rolle und Indienstnahme von Gesundheit. Gerade auf diesen Feldern stellen sich besondere Herausforderungen für Theoriebildung in den Gesundheitswissenschaften. Dieser Beitrag zeichnet zunächst in groben Zügen die Herausbildung und Entwicklung der Gesundheitssoziologie seit dem 19. Jahrhundert nach. Anschließend skizziert er Grundzüge und wichtige Wegmarken der Entwicklung der Gesundheitssoziologie in der Bundesrepublik Deutschland. Der folgende Abschnitt befasst sich mit ausgewählten theoretischen Zugängen in der Gesundheitssoziologie. Hier wird eine fortgeschrittene, durch die Ausdifferenzierung der Forschung erzeugte

Theoretische Perspektiven in der Gesundheitssoziologie

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Fragmentierung der theoretischer Perspektiven konstatiert, die den Blick auf den dynamischen und fundamentalen Wandel im individuellen, gesellschaftlichen und politischen Umgang mit „Gesundheit“, den wir seit geraumer Zeit erfahren, zu verstellen droht. Diesen Wandel zu verstehen, so der Befund, erfordert von der Gesundheitssoziologie auf dem Gebiet der Theoriebildung eine stärkere Anknüpfung an Analysen des zeitgenössischen Wandels von Gesellschaft und Politik sowie ihrer gesundheitsrelevanten Implikationen. Vor diesem Hintergrund formuliert der abschließende Abschnitt Vorschläge, welche zeitgenössischen Gesellschaftsdiagnosen für eine integrierende Theoriebildung in der Gesundheitssoziologie fruchtbar gemacht werden können.

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Herausbildung und Ausdifferenzierung der Gesundheitssoziologie

Gesundheitssoziologie soll im Folgenden verstanden werden als Beschreibung, Analyse und Erklärung jener sozialen Phänomene, die auf den Umgang mit Gesundheit Einfluss nehmen, also auf deren Erhalt, Gefährdung und Wiederherstellung sowie auf die Bewältigung gesundheitlicher Beeinträchtigungen von Individuen und Populationen. Sie umfasst sowohl die Wahrnehmungen und das Handeln individueller Akteure (Mikroebene) als auch die von diesen geschaffenen Institutionen und gesellschaftlichen Strukturen, durch welche die Gesundheit von Individuen und Populationen beeinflusst wird (Meso- und Makroebene). Gesundheitssoziologie erstreckt sich somit auf ein sehr breites Spektrum von Gegenstandsbereichen und weist – je nach Themenschwerpunkt – eine Vielzahl von Überschneidungsflächen mit anderen mit Gesundheit (und Krankheit) befassten Subdisziplinen auf, vor allem der Medizin, Psychologie, Pädagogik, Politikwissenschaft und Ökonomie. Theorie soll im Folgenden verstanden werden als Aussagen über Zusammenhänge von Gesellschaft, Individuum und Gesundheit, die eine über den Einzelfall hinausreichende Geltung beanspruchen. Gesundheitssoziologie zählt – wenn auch nicht unter diesem Begriff – zu den ältesten Teildisziplinen der Soziologie. Bereits von den Denkern der griechischen und römischen Antike und des Mittelalters sind Beobachtungen über den Zusammenhang von Individuum, Gesellschaft und Gesundheit bzw. Krankheit und daran anknüpfende, die Alltagsbeobachtungen verallgemeinernde Reflektionen über das gesunde Leben überliefert (Wöhrle 1990; Schmitt 2013). In der frühen Neuzeit und während der Industrialisierung finden derartige Beobachtungen nicht nur Verbreitung, sondern werden auch systematisiert. Zudem sind sie nun Anlass und Ausgangspunkt für organisierte Anstrengungen zur Identifikation und Beseitigung von Krankheitsquellen und damit zur Verbesserung der öffentlichen Gesundheit. Auf diese Weise wurden durch systematische Beobachtungen gewonnene Erkenntnisse über Krankheitsentstehung in den Dienst der seit dem 17. Jahrhundert entstehenden National- und Territorialstaaten gestellt (Labisch 1992). Im 19. Jahrhundert rückten die sozialen Ursachen der Krankheitsentstehung und deren Vermeidung ins Zentrum gesundheitsbezogener Gesellschaftsanalyse. Dafür

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T. Gerlinger

stehen die Untersuchungen so unterschiedlicher Denker wie Friedrich Engels über die „Lage der arbeitenden Klasse in England“, Lorenz vom Stein über die Verwaltung und das öffentliche Gesundheitswesen, Rudolf Virchow über die Lebensbedingungen in Oberschlesien, Max von Pettenkofer mit seiner Miasmentheorie über die Ursachen von Infektionskrankheiten oder – zu Beginn des 20. Jahrhunderts – Alfed Grotjahn mit seiner Verknüpfung von Sozialhygiene und Eugenik (Deppe und Regus 1975; Labisch 1992; Flügel 2012). Die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts herausbildende Sozialmedizin war der wichtigste akademische Träger dieser Problemperspektive. Die Soziologie, die sich als eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu etablieren begann, widmete dem Thema Gesundheit zunächst nur wenig Interesse. Über mehrere Jahrzehnte blieb Emil Durkheims klassische Untersuchung über den Selbstmord (Durkheim 1897 [1983]) die wirkungsmächtigste soziologische Untersuchung über den Zusammenhang von Gesellschaft und Gesundheit.

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Gesundheitssoziologie in der Bundesrepublik Deutschland

Die Gesundheitssoziologie begann sich in der Bundesrepublik Deutschland erst in den 1950er-Jahren als eigenständige Subdisziplin zu etablieren. Gesundheitssoziologie war seither zumindest bis weit in die 1970er-Jahre hinein vor allem Medizinsoziologie und fokussierte auf die an der organisierten professionellen Krankenversorgung beteiligten Institutionen und Akteure und deren Interaktionen (König und Tönnesmann 1958). Von überragender Bedeutung waren in diesen Jahren die einschlägigen Arbeiten Talcott Parsons’ (Parsons 1958), auf die sich u. a. die frühe Arbeit von Rohde über die Soziologie des Krankenhauses bezog (Rohde 1962). Allerdings blieb die Anzahl der Untersuchungen gering. Zwar fanden neben den gesellschaftlichen Aspekten der Krankenversorgung auch Ursachen der Krankheitsentstehung Beachtung (König und Tönnesmann 1958; Pflanz 1962), allerdings ohne sich zu einem relevanten Forschungszweig zu entwickeln. Analysen zur gesundheitlichen Ungleichheit schienen in Zeiten der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Schelsky) und einer allgemeinen Wohlstandsmehrung verzichtbar, zumindest standen sie nicht im Vordergrund. Soziale und psychische Aspekte der Krankheitsentstehung und Krankheitsbewältigung wurden vereinzelt auch von Seiten der Medizin thematisiert, so etwa von Alexander Mitscherlich (1966) oder Thure von Üexkull (1963), aber insgesamt fanden diese Impulse in der gesundheitssoziologischen Forschung kaum Resonanz. Die 1970er-Jahre sahen eine Ausdifferenzierung gesundheitssoziologischer Forschung. Sie bestand zunächst vor allem in einem Ausbau der Medizinsoziologie, der Folge einer Reform der Medizinerausbildung war. Ein Schwerpunkt blieb die Soziologie des Krankenhauses und des Arzt-Patient-Verhältnisses. Insbesondere die Kommunikation zwischen Arzt und Patient, häufig mit Blick auf die Arbeitsund Versorgungssituation im Krankenhaus, aber auch die Wahrnehmung medizinischer Einrichtungen durch die Patienten wurden nun zum Untersuchungsgegenstand (z. B. Siegrist 1978; Raspe 1983), ebenso wie die Soziologie der ärztlichen Profession. Wichtige Themen waren die Stellung des niedergelassenen Arztes als

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Unternehmer sowie die Grundlagen und Auswirkungen der institutionalisierten Machtstellung der Ärzteschaft. Daneben gewann das Feld der Gesundheitssystemund Gesundheitspolitikforschung an Bedeutung, deren Interesse sich auf die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen der Krankenversorgung sowie auf die Institutionenstruktur und die Akteurskonstellationen des Gesundheitssystems richtete. Inhaltlich stellte für die Entwicklung der Gesundheitssoziologie der von der Studentenbewegung ausgehende Kulturwandel in Universität und Wissenschaft eine bedeutende Weichenstellung dar. Eines der wichtigsten Motive der seinerzeit sehr selbstbewusst und massiv vorgetragenen Kritik bestand darin, dass, wie es im Editorial des Argument-Sonderbandes „Kritik der bürgerlichen Medizin“ hieß, durch die Einbeziehung von Wissenschaftsdisziplinen wie der Soziologie „die Medizin auf eine Weise zum Untersuchungsgegenstand zu machen, der sie . . . ihrem Selbstverständnis . . ., nämlich Naturwissenschaft zu sein, entzieht“ (Kritik der bürgerlichen Medizin 1970, S. 1). Diese Kritik, durchaus unterschiedlicher wissenschaftlicher Provenienz, richtete sich vor allem auf die Mängel im System der Krankenversorgung (Deppe et al. 1973; Deppe 1987; sie z. B. auch von Ferber 1971). Manches von dieser Kritik an Medizin, Gesundheitsdiensten und Gesundheitspolitik nahm Ivan Illich auf und reformulierte es wenige Jahre später – allerdings versehen mit einer deutlich zivilisationskritischen Wendung – mit großer internationaler Resonanz (Illich 1977). In den frühen 1970er-Jahren fanden in der Forschung über Institutionen und Akteure in der Medizin auch kritische Ansätze aus der US-amerikanischen Forschung (z. B. Freidson 1970) stärkeren Widerhall und lieferten wichtige Impulse für die Forschung (z. B. Rohde 1973). Normatives Leitbild vieler dieser Untersuchungen war die humane Krankenbehandlung in bürokratischen Organisationen. In der Gesundheitssystemforschung richtete sich das Interesse nun auf den beschleunigten Wandel von Gesundheitssystemen und Gesundheitspolitik (z. B. Böckmann 2011; Rosenbrock und Gerlinger 2014). Auch angesichts der Reformen in anderen Ländern erfuhr die international vergleichende Gesundheitssystemforschung einen bedeutenden Aufschwung (z. B. Wendt 2013; Dingeldey und Rothgang 2009; Verspohl 2012; Götze 2016), wobei die Frage nach der Entwicklungsrichtung und den Motiven des Wandels sowie nach dem Verhältnis von Heterogenität, Konvergenz und Divergenz von Gesundheitssystemen im Vordergrund standen. Auch wenn die Forschungsfragen weiterhin an der zentralen Bedeutung der professionellen Krankenbehandlung festhielten, gewannen jenseits dieses Problemkreises angesiedelte Themen an Bedeutung. Zum einen richtete sich das Interesse soziologischer Forschung verstärkt auf die Problemwahrnehmung, Handlungspotenziale und Handlungsstrategien von Patienten – und zwar nicht in ihrer Rolle als Objekte in den Institutionen der Krankenversorgung, sondern auf ihre Rolle bei der sozialen Bewältigung von – zumeist chronischen – Erkrankungen (z. B. Badura und von Ferber 1981; Trojan 1986; Gerhardt 1986). Auch der Zusammenhang zwischen Krankheitsbewältigung und sozialer Unterstützung wurde in diesem Zusammenhang thematisiert (z. B. Badura 1981). Im Hinblick auf das Gesundheits- und Krankheitsverhalten rückten die subjektiven Gesundheits- und Krankheitstheorien in den Mittelpunkt, also die Symptomto-

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leranz und die Symptomdeutung sowie die Einschätzung von Krankheitsursachen und die Bewertung der eigenen Handlungsmöglichkeiten im Hinblick auf den Erhalt der Gesundheit und die Bewältigung von Krankheit. Die betreffende Forschung hat herausgearbeitet, dass die gesundheits- und krankheitsbezogenen Deutungen eng mit der individuellen Sozialisationserfahrung und Lebensgeschichte verknüpft sind. Vor diesem Hintergrund lassen sich auch typische Unterschiede z. B. in Abhängigkeit von Geschlecht, von Schichtzugehörigkeit oder kulturellem Hintergrund feststellen (z. B. Gawatz und Novak 1993). Zum anderen wandte sich gesundheitssoziologische Forschung stärker den gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen von Krankheit zu. Hier gewann, auch unter dem Einfluss des Programms „Humanisierung der Arbeit“, vor allem die Rolle der Arbeitsbedingungen bei der Krankheitsentstehung an Bedeutung. Die einschlägige soziologische Forschung interessierte sich – unter dem Einfluss der Stressforschung und vor dem Hintergrund von Veränderungen in der Arbeitswelt – nun auch stärker für die unspezifisch wirkenden Gesundheitsrisiken, darunter die psychosozialen Gesundheitsbelastungen der Arbeit. In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre hielten mit dem Bedeutungszuwachs von Public Health und Salutogenese neue Perspektiven Einzug in die Gesundheitssoziologie, mit denen auch ein Wandel des wissenschaftlichen Gesundheits- und Krankheitsverständnisses einherging. Unter Bezugnahme auf sozialpsychologische Forschungen in den USA (z. B. Bandura 1977; Antonovsky 1987; Syme 1992) gewann ein Verständnis von Gesundheit als gelungener Balance zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und Belastungen einerseits und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten andererseits an Boden. Aus dieser Perspektive ist die alleinige Stärkung gesundheitsrelevanter Kompetenzen unzureichend, sondern wird es zu einer zentralen Aufgabe , die Schaffung gesundheitsgerechter Kontextbedingungen in der sozialen Lebenswelt der Individuen mit der Stärkung individueller Ressourcen (enabling, empowerment) zu verknüpfen (z. B. Berkman und Leonard Syme 1979). Mit dem Aufstieg von Public Health geht ein grundlegender Perspektivenwechsel auf Gesundheit und Krankheit einher: Nicht mehr die individualmedizinische Krankenbehandlung, sondern der Erhalt und die Förderung der Bevölkerungsgesundheit stehen nun im Zentrum (z. B. Rosenbrock et al. 1994). Die in diesem Zusammenhang entwickelten Konzepte einer „New Public Health“ schließen einen Wandel der wissenschaftlichen Perspektiven ein: In den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses rückt damit die Frage nach den Zielen, Methoden und Instrumenten von vorwiegend nichtmedizinischen Strategien der Gesundheitsförderung, die die Besonderheiten der Lebensbedingungen und der Lebensweise der Betroffenen respektieren und unter ihrer Beteiligung entwickelt werden (z. B. Rosenbrock und Hartung 2012). Die Gesundheitssoziologie hat auch in den zurückliegenden Jahren erhebliche Veränderungen durchlaufen, die den Verwendungszweck, die institutionelle Struktur und die thematischen Schwerpunkte der Forschung betreffen. Damit hat sich auch das von der Gesundheitssoziologie bearbeitete Themenspektrum gewandelt bzw. erweitert. Neue Forschungsfelder sind hinzugekommen oder haben ein stärkeres Gewicht erlangt, andere werden vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und gesundheitspolitischer Veränderungen unter veränderten Fragestellungen bearbeitet.

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Ein wichtiger Aspekt der Analyse ist angesichts des Wandels der Regulierung im Gesundheitssystem die Frage, ob und in welcher Weise monetäre Anreize die Handlungsorientierungen einzelner Akteure verändern und wie sie multiple, häufig divergierende Handlungsanforderungen vor allem im Spannungsfeld von Kostendämpfung und medizinischer Versorgung handhaben. Die Aufmerksamkeit richtete sich hier insbesondere auf die Krankenkassen (z. B. Bode 2003) und die Krankenhäuser bzw. Krankenhausärzte (z. B. Kühn 2005; Vogd 2011; Bode 2010). Diese Forschungsrichtung knüpft stark an organisationssoziologische Diskussionsstränge an, z. T. auch unter Rückgriff auf systemtheoretische Interpretationen (Bode und Vogd 2016). Zu den Feldern der Gesundheitssoziologie, die etwa seit Mitte der 1990er-Jahre einen rasanten Aufstieg erlebt haben, zählt die stark anwendungsorientierte Versorgungsforschung. Ihr Aufschwung steht in engem Zusammenhang mit dem gewachsenen Interesse der Akteure, valide Informationen über Kosten und Nutzen von Leistungen und Versorgungseinrichtungen zu erhalten (z. B. Badura et al. 2001). Gesundheitssoziologische Fragestellungen spielen vor allem bei der Evaluation neuer Versorgungsformen eine Rolle. Mit der stärkeren Besinnung auf den Stellenwert der Krankheitsvermeidung und dem Bedeutungszuwachs von Gesundheitsförderung erfuhr die soziologisch inspirierte Präventions- und Gesundheitsförderungsforschung eine deutliche Aufwertung. Hier ist insbesondere die Evaluation gesundheitsbezogener Interventionen in den unterschiedlichen Settings zu einem wichtigen Forschungsfeld geworden (z. B. Bär 2015). Im Zuge des Aufstiegs von Public Health erlebte auch die lange Zeit vernachlässigte Sozialepidemiologie in Deutschland eine Renaissance. Der Ausbau sozialepidemiologischer Forschung an den Hochschulen schuf Kapazitäten zur Rezeption der internationalen Forschungsentwicklung. Die international vergleichende Sozialepidemiologie leistet bereits seit geraumer Zeit wichtige Beiträge zum Verständnis gesundheitlicher Ungleichheiten und ihrer gesellschaftlichen Determinanten. Gleichzeitig nahmen der Bund, die Länder und zahlreiche Kommunen den Aufbau einer Gesundheitsberichterstattung in Angriff. Das zunehmende Interesse an epidemiologischen Fragen und der Bedeutungszuwachs einer feministisch inspirierten Soziologie mündeten bereits in den 1980erJahren in die Etablierung einer Frauengesundheitsforschung. Im Mittelpunkt standen zunächst die Spezifika des Morbiditätsspektrums sowie des Gesundheits- und Krankheitsverhaltens von Frauen (z. B. Maschewsky-Schneider 1997; Gawatz und Novak 1993). Später gewannen unter dem Begriff „Gender Health“ geschlechtsspezifische Präventionsansätze und Versorgungsansätze als Folge sozial bedingter Unterschiede in den Belastungen und Ressourcen zwischen den Geschlechtern an Bedeutung, und zwar sowohl für Frauen als auch für Männer (Kolip und Altgeld 2005). Ferner zogen auch die Belastungen vulnerabler Gruppen insgesamt eine wachsende Aufmerksamkeit auf sich, z. B. von Migranten (Razum et al. 2016) oder Alten (Kümpers und Alisch 2018). Gesellschaftliche und gesundheitspolitische Veränderungen haben auch ein neues Interesse am Patienten entstehen lassen. Es richtet sich auf die Ermittlung und Berücksichtigung der zahlreichen und nicht immer miteinander kompatiblen Erwar-

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tungen und Bedürfnisse der Patienten sowie die Stärkung ihrer Handlungsressourcen und Partizipationschancen (Ewert 2013; Rosenbrock und Hartung 2012; Schaeffer et al. 2016).

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Der sozialepidemiologischen Forschung im 19. Jahrhundert ging es um Theoriegenerierung durch empirische Forschung. Im Mittelpunkt stand die Erklärung des Zusammenhangs von Krankheitsentstehung und Lebensverhältnissen. Zweck der Forschung war die unmittelbare Anwendung der Ergebnisse mit der Perspektive einer Verbesserung der Lebensbedingungen. In der frühen medizinsoziologischen Forschung seit Ende der 1950er-Jahre stand vor allem die Anwendung soziologischer Theorie auf die organisierte Krankenbehandlung im Mittelpunkt. In diesen Jahren konnte Parsons’ Strukturfunktionalismus eine große Wirkung entfalten, fügte er doch seine Theorie der Arzt- und der Patientenrolle in einen gesellschaftstheoretischen Rahmen ein und machte so die Medizinsoziologie für die soziologische Theoriebildung anschlussfähig. Insofern er das als ausdifferenziertes Teilsystem gedachte Krankenversorgungssystem und die dortigen Interaktionen in den Mittelpunkt seiner Analysen rückte, fügten sich die theoretischen Grundannahmen seiner Medizinsoziologie in die gesellschaftliche Wahrnehmung des Gesundheitssystems seiner Zeit gut ein. In dieser Hinsicht widerspiegelt sie auch den seit den 1950erJahren in den westlichen Gesellschaften forcierten Aufstieg der individual-kurativen Medizin, der von der Entwicklung neuer technischer Diagnose- und Therapieverfahren und vom Fortschrittsoptimismus des Zeitgeistes getragen wurde. Diese Entwicklung lenkte das Interesse auf die Analyse des ausdifferenzierten Teilsystems der Krankenbehandlung und nicht etwa auf die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen für die Erhaltung von Gesundheit. Dies gilt nicht zuletzt auch für Deutschland. Die jüngere Gesundheitssoziologie bezieht sich nur selten (z. B. Vogd 2011) auf Gesellschaftstheorie. Gesundheitssoziologie ist eine stark empirisch ausgerichtete Subdisziplin, die sich in den vergangenen Jahrzehnten erheblich ausdifferenziert hat. Sofern soziologische Theorie herangezogen wird, geschieht dies fast ausschließlich im Hinblick auf unmittelbar gegenstandsbezogene Theorien oder – wenn man so will – Theorien mittlerer Reichweite. In den Gesundheitswissenschaften, sofern sie als Teil der Gesundheitssoziologie angesehen werden können, ist ein atheoretischer Empirismus weit verbreitet. Sofern auf (soziologische) Theorie Bezug genommen wird, geschieht dies meistens in einer pragmatischen Perspektive, nämlich zu dem Zweck, einen analytischen Rahmen für die Forschung zu definieren. Darüber hinaus gehende Bemühungen zu einer integrierenden Theoriebildung zum Thema Gesundheit finden sich kaum (siehe als Ausnahme: Bittlingmayer und Ziegler 2012; Schnabel 2015). Sofern Gesellschaftstheorie in der gesundheitssoziologischen Forschung rezipiert wird, handelt es sich – man möchte sagen: eigentümlicherweise – vor allem um systemtheoretische Ansätze. War dies bis in die 1970er/1980er-Jahre hinein vor

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allem der Parsonssche Strukturfunktionalismus, so hat seitdem die autopoietische Systemtheorie nach Niklas Luhmann (s. dazu z. B. Bauch 2000; Vogd 2011) Bedeutung gewonnen, allerdings überwiegend beschränkt auf die Krankenbehandlung (Luhmann 1990), nicht auf die Krankheitsprävention, wenngleich Luhmann mit seinen Arbeiten zu Risikosoziologie (Luhmann 1991, 1997) auch hierzu Anlass gegeben hätte. Luhmann hat sicherlich den seit Parsons ambitioniertesten Versuch einer gesellschaftstheoretischen Interpretation von Medizin und Krankenversorgung vorgelegt (1990). Vielleicht ist seine Vorstellung autopoietischer, sich an einer binären Codierung orientierender und entlang dieser Codierung ausdifferenzierender, zugleich umweltoffener, miteinander strukturell gekoppelter und dabei einer externen Steuerung unzugänglicher Systeme für die Analyse von Medizin und Krankenversorgung auch deshalb so attraktiv, weil sie einen spezifischen Blick für die auf die Medizin einwirkenden ökonomischen, rechtlichen und ethischen Einflussfaktoren erlaubt. Vogd, der sich selbst auch auf systemtheoretische Ansätze bezieht, konstatiert ein Theoriedefizit in der Analyse des Medizinsystems, dass es verhindere angemessen mit polyzentrischen und polykontexturalen Verhältnissen umzugehen (Vogd 2011). Jedenfalls sind gesellschaftstheoretische Bezüge in der Gesundheitssoziologie schwach geblieben. Zu Beginn der 1970er-Jahre schlug sich die Renaissance marxistischer Theoriebildung auch in der Gesundheits- und Medizinsoziologie nieder (Behrens 2003), indem die Kategorien der Marxschen politischen Ökonomie auf das Gesundheitswesen angewendet wurden, um die Interessen von Staat, Kapital, Ärzten, Pflegekräften und Patienten und die daraus erwachsenden Widersprüche im Gesundheitssystem zu analysieren (z. B. Ripke 1970). Allerdings wurden diese Ansätze seither nicht systematisch weiterentwickelt. Das Konzept der Salutogenese (Antonovsky 1987) und der Capabilities-Approach (Nussbaum 1999; Sen 2002) sind zwar in den Gesundheitswissenschaften weit verbreitet, dienen hier aber eher als Orientierungsrahmen für praktische Interventionen denn als theoretische Grundlage für die einschlägige Forschung. Ansonsten ist Gesundheitssoziologie in theoretischer Hinsicht ein bunter Flickenteppich. Theoretische Zugänge unterscheiden sich je nach Analysegegenstand und Fragestellung. Die Gesundheitssystem- und Gesundheitspolitikforschung bedient sich häufig theoretischer Ansätze der Politikfeldanalyse, insbesondere von Theorien des politischen Prozesses (Sabatier 1993), die das Zustandekommen oder Scheitern von Gesundheitsreformen analysieren, wie z. B. das Veto-Spieler Konzept (Tsebelis 1995, 2002), der Multiple-Streams-Ansatz (Kingdon 2003), das Konzept der Pfadabhängigkeit (z. B. Pierson 2004) oder das Konzept des Punctuated equilibrium (Baumgartner et al. 2009). Im Hinblick auf die gesundheitlichen Belastungen in der Arbeitswelt sind das Anforderungs-Kontroll-Modell (Karasek und Theorell 1990) und das im Modell der beruflichen Gratifikationskrisen (Siegrist 1996) zu wichtigen theoretischen Bezugspunkten der Forschung geworden. In den letzten Jahren sind Auswirkungen arbeitsbedingter Belastungen auch unter Heranziehung der Theorie und Typologie des Wohlfahrtsstaats (Esping-Andersen 1990) international vergleichend analysiert worden (Bambra et al. 2014). In der international vergleichenden Sozialepidemiologie wird die Theorie Richard Wilkinsons über die gesundheitliche

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Ungleichheit in reichen Gesellschaften (Pickett und Wilkinson 2010) breit rezipiert. Insgesamt sind die Überschneidungsflächen mit anderen Disziplinen zahlreicher und größer geworden, entsprechend vielfältig ist die Provenienz einschlägiger Theorien. Im Hinblick auf die Gesundheitssystemgestaltung haben in der jüngeren Vergangenheit jene Ansätze stark an Bedeutung gewonnen, die Gesundheit – neben Bildung, Wissen und darüber vermittelten Kompetenzen – als wichtigen Bestandteil des Humankapitals betrachten (hierzu grundsätzlich: Becker 1964/1993). Aus der Perspektive der Humankapitaltheorie ist Gesundheit – über die für das Individuum unmittelbare relevanten Aspekte der Lebensqualität und der Lebensdauer hinaus – als Voraussetzung für den individuellen und gesellschaftlichen Wohlstand sowie für das volkswirtschaftliche Wachstum von großer Bedeutung (Breyer et al. 2013, S. 93 ff.). Die Eigenschaft von Gesundheit als Teil des „Humankapitals“ und seine Funktion für das ökonomische Wachstum umfassen unterschiedliche Aspekte: gesunde Menschen verursachen keine Krankenbehandlungskosten und tragen dazu bei, die Steuer- oder Beitragslast für Versicherte und Unternehmen zu verringern; eine gesunde Arbeitnehmerschaft verursacht weniger krankheitsbedingte Fehltage, was angesichts alternder Belegschaften und eines sich verstärkenden Fachkräftemangels sowohl für einzelne Unternehmen als auch für die Volkswirtschaft insgesamt zunehmend bedeutsam wird; ein effektives Krankenversorgungssystem trägt dazu bei, einmal erkrankte Individuen wieder rasch in den Arbeitsprozess zu integrieren – ebenfalls gerade angesichts alternder Belegschaften ein bedeutsamer Gesichtspunkt; gleichzeitig ist das Gesundheitswesen selbst ein bedeutender Wirtschafts- und Beschäftigungszweig. Im Lichte der Humankapitaltheorie erscheint Gesundheit – wie es Marstedt und Mergner in Kritik an diesem Konzept formulieren – primär als „produktives Potenzial“ (Marstedt und Mergner 1995). Investitionen in die Gesundheit erzeugen aus dieser Perspektive eine win-win-Situation, weil sie sowohl die individuelle Lebensqualität als auch das volkswirtschaftliche Wachstum und die Wettbewerbsfähigkeit befördern. Insofern werden sie zum Bestandteil einer Sozialinvestitionsstrategie, die nicht mehr primär an einer Kompensation sozialer Nachteile interessiert ist. Insbesondere vor dem Hintergrund des demografischen Wandels hat dieses Konzept an Bedeutung gewonnen. Ein traditionell bedeutsamer Analysegegenstand der Gesundheitssoziologie ist die Soziologie des Gesundheits- und Krankheitsverhaltens. Als Grundlagentheorien sind hier – im Anschluss an Berger und Luckmann – vor allem konstruktivistische Ansätze (z. B. Gawatz und Novak 1993) sowie – im Hinblick auf gesundheitsbezogene Handlungsressourcen – die Sozialkapitaltheorie im Anschluss an Putnam (1993) bedeutsam. In Bezug auf das Gesundheits- und Krankheitsverhalten selbst ist insbesondere das, in Anknüpfung an Hans Selye entwickelte, transaktionale Stressmodell von Richard Lazarus (Lazarus 1966; Lazarus und Folkman 1984) breit rezipiert worden. Hier sind zum einen unterschiedliche kognitive Theorien für die empirische Forschung bedeutsam. Kognitive Modelle des Gesundheitsverhaltens gehen davon aus, dass individuelle Einstellungen und Überzeugungen sowie Erwartungen an die Ergebnisse des eigenen Handelns wichtige Determinanten für das Gesundheitsverhalten und dessen Änderung sind. Besonders prominente Ansätze sind das Modell der Gesundheitsüberzeugungen („Health Belief-Modell“), die

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Theorie des geplanten Verhaltens und die sozialkognitive Theorie. Sie dienen als Rahmung für vielfältige empirische Untersuchungen über die Voraussetzungen von Verhaltensänderungen. Der Theorie-Praxis-Bezug ist hier besonders eng. Das Health-Belief-Modell (Rosenstock 1966; Rosenstock et al. 1988), ursprünglich entwickelt zur Erklärung der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen, geht davon aus, dass das Gesundheitsverhalten einerseits von der wahrgenommenen Bedrohung durch eine Erkrankung und durch den erwarteten Nutzen eines bestimmten Gesundheitsverhaltens bestimmt wird. Die wahrgenommene Bedrohung ihrerseits setzt sich zusammen aus der wahrgenommenen Gefährlichkeit einer Erkrankung und der wahrgenommenen eigenen Gefährdung durch diese Erkrankung. Der erwartete Nutzen ergibt sich zum einen aus dem Nutzen des in Rede stehenden Verhaltens selbst, zum anderen aus den erwarteten Barrieren einer Verhaltensänderung, die wiederum unterschiedlicher Natur sein können. Darunter können zahlreiche andere Faktoren fallen, z. B. die Bewertung der eigenen Handlungsressourcen oder institutionelle Hindernisse bei der Inanspruchnahme von Leistungen. Die Theorie des überlegten Handelns (theory of reasoned action) geht davon aus, dass Einstellungen und subjektive Normen einen starken Einfluss auf die Verhaltensabsicht ausüben, die ihrerseits für das Verhalten und damit auch für Verhaltensänderungen entscheidend sind (Fishbein und Ajzen 1975). In seiner Theorie des geplanten Verhaltens (theory of planned behaviour) erweitert Ajzen diesen Ansatz um die individuelle Kompetenzerwartung („wahrgenommene Verhaltenskontrolle“) als Bestimmungsfaktor für die Herausbildung von Verhaltensänderungen. Demzufolge setzt die Verhaltensänderung wesentlich voraus, dass die betreffenden Individuen auch davon ausgehen, über die zur Verhaltensänderung notwendigen Fähigkeiten zu verfügen. Kognitive Theorien sind vielfach kritisiert worden. So ist z. B. darauf hingewiesen worden, dass es nur einen schwachen Zusammenhang zwischen der wahrgenommenen Schwere einer Erkrankung und dem eigenen Gesundheitsverhalten gebe und dass Handlungszwänge, denen die Individuen ausgesetzt sind, nicht berücksichtigt werden. In Abgrenzung zu – und Kritik an – kognitiven Theorien beanspruchen sozialkognitive Theorien, soziale Determinanten systematisch in die Erklärung des Gesundheitsverhaltens einzubeziehen. Großer Verbreitung erfreut sich die sozialkognitive Theorie nach Bandura (2004). Auch Bandura geht davon aus, dass das Wissen über Gesundheitsrisiken wichtige Voraussetzungen für eine Änderung gesundheitsrelevanten Verhaltens ist. Die Selbstwirksamkeitserwartung wird demzufolge u. a. beeinflusst durch eigene Erfolgserfahrungen und die verbale Verstärkung Dritter. Nur dann werden die Individuen sich Ziele für ihr Gesundheitsverhalten stellen können. Für die Änderung des Gesundheitsverhaltens kann das soziale Umfeld der Individuen sowohl Unterstützung bereitstellen als auch Hindernisse errichten. So sind etwa die Eigenschaften des Gesundheitssystems für den Zugang zu Gesundheitsleistungen bedeutsam. Kognitive und sozialkognitive Theorien konzipieren Verhaltensänderung zumeist als einen linearen, von bestimmten Einflussfaktoren abhängigen Prozess. Verhaltensänderung erscheint hier als primär abhängig von der wahrgenommenen Bedrohung durch bestimmte Krankheiten, von Selbstwirksamkeitserwartungen und individuel-

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len Kompetenzen, die die Änderungsabsichten und schließlich das Verhalten von Individuen beeinflussen. Im Unterschied zu den erwähnten kognitiven Theorien nehmen Stadienmodelle den Prozesscharakter von Verhaltensänderungen in den Blick. Sie postulieren die Existenz einer Reihe von Stadien, die im Zuge einer Verhaltensänderung durchlaufen werden (müssen). Demzufolge vollziehen sich Verhaltensänderungen in unterschiedlichen Stadien oder Stufen, auf denen jeweils eigene, für den Übergang zu folgenden Stufe bedeutsame Einflussfaktoren wirksam sind. Unter den Phasenmodellen ist das transtheoretische Modell der Verhaltensänderung (z. B. Prochaska 1994; Prochaska und Velicer 1997) besonders weit verbreitet. Es geht davon aus, dass Verhaltensveränderungen mehrere Stufen von der Absichtslosigkeit bis hin zur Aufrechterhaltung einer Verhaltensänderung durchlaufen. Allerdings ist das transtheoretische Modell auch Gegenstand vielfältiger Kritik. So ist z. B. dagegen eingewandt worden, dass die behaupteten Stadien und die Handlungssequenzen sich keineswegs in die zugrunde gelegten Stadien unterteilen lassen. Ein Ansatz, der systematisch den sozialen Kontext von Individuen bei der Erklärung für das Gesundheitsverhalten berücksichtigt und dabei über die bloße Analyse des Einflusses der klassischen Determinanten des sozialökonomischen Status deutlich hinausgeht, ist das Konzept der gesundheitsrelevanten Lebensstile (Abel 2018). Es beansprucht, den Zusammenhang von strukturellen Kontextbedingungen und gesundheitsrelevantem Verhalten von Individuen zu erklären. Dabei werden neben der sozialen Lage auch die Werte und Normen der Bezugsgruppen und die Ressourcen der Individuen berücksichtigt. Abel definiert gesundheitsrelevante Lebensstile als „zeitlich relativ stabile typische Muster von gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen, intrapersonellen und sozialen Ressourcen, welche von Individuen und Gruppen in Auseinandersetzung mit ihren sozialen, kulturellen und materiellen Lebensbedingungen entwickelt werden“ (Abel 2018, S. 150). Ein Zweig der jüngeren Forschung legt unter dem Leitbegriff „Health Literacy“ wieder ein Schwergewicht auf die gesundheitsrelevanten Kompetenzen von Individuen und Bevölkerungsgruppen (Schaeffer et al. 2016), nicht selten allerdings unter Vernachlässigung eben jener Faktoren, die im Konzept der gesundheitsrelevanten Lebensstile von zentraler Bedeutung sind. Feministische Theorie ist spätestens seit den 1980er-Jahre in der Gesundheitssoziologie präsent. Sie interessiert sich hier vor allem für die besonderen Gesundheitsbelastungen von Frauen und deren Ursachen sowie – als Teil der eben vor allem von Frauen geleisteten Betreuungsarbeit – für die Bedingungen der Versorgung von Kranken und Pflegebedürftigen. Nicht selten geschieht dies unter Rückgriff auf marxistische Kapitalismustheorie (z. B. Aulenbacher und Dammayr 2014; Aulenbacher et al. 2014; Winkler 2015). Die gesellschaftlichen Bedingungen der Sorgearbeit und die weitgehende Überantwortung dieser Aufgaben an die Frauen werden unter dem Gesichtspunkt männlicher Machterhaltung und der Reproduktionserfordernisse des Finanzmarktkapitalismus diskutiert (Winkler 2015; Fraser 2017a, b). In jüngerer Zeit hat sich unter dem Einfluss der internationalen Diskussion der Begriff der „Sorge“ bzw. „Sorgearbeit“ („Care“ bzw. „Care-Work“) eingebürgert.

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Gesundheitssoziologie, so lässt sich zusammenfassen, ist traditionell stark empirisch ausgerichtet. Theoretische Konzepte spielen in vielen Analysen nur eine recht geringe Rolle. Zumeist wird Theorie sehr pragmatisch verwendet, nämlich zum Zweck der Entwicklung eines analytischen Rahmens, der die empirische Forschung strukturieren soll. Dementsprechend dominieren in der Gesundheitssoziologie auch bereichsspezifische Theorien bzw. Theorien mittlerer Reichweite. Das Theorieangebot ist je nach Untersuchungsgegenstand höchst unterschiedlich und insgesamt stark fragmentiert. Insofern leidet die Gesundheitssoziologie an einem Mangel an Theorien, die in der Lage sind, eine Gesamtperspektive auf den zeitgenössischen Umgang mit Gesundheit in Prävention und Krankenversorgung sowie deren dynamischen Wandel zu entwerfen.

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Impulse für die Theoriebildung in der Gesundheitssoziologie

Die Ausdifferenzierung gesundheitssoziologischer Forschungsthemen hat zu einer Fragmentierung theoretischer Zugänge zur Gesundheitssoziologie geführt. Angesichts der Spezialisierung in der Forschung ist es zum einen nicht möglich, im Rahmen eines solchen Beitrags theoretische Perspektiven für die Vielzahl der gesundheitssoziologischen Gegenstandsbereiche darzulegen und zu diskutieren. Zum anderen scheint mir genau dies aber auch nicht vordringlich zu sein, sondern vielmehr ein Bedarf nach einem stärker integrierenden Blick auf den gesellschaftlichen und individuellen Umgang mit Gesundheit, denn – so die Ausgangsthese – die Ausdifferenzierung und Fragmentierung der Forschung droht den Gesamtblick auf die Bedingungen von Gesundheit und auf die Auswirkungen des aktuellen dynamischen Wandels in Ökonomie, Politik und Gesellschaft auf Gesundheit zu verstellen. Ich plädiere also für eine stärkere Re-Integration der Gesundheitssoziologie in die Gesellschaftsanalyse. Zu diesem Zweck erscheint es sinnvoll, zeitgenössische Gesellschaftsanalysen für die Gesundheitssoziologie fruchtbar zu machen. Daher sollen im Folgenden zwei Ansätze zur Diskussion gestellt werden, die geeignet sind, die gesellschaftliche Handhabung von Gesundheit und deren Auswirkungen in einen zeitdiagnostischen Rahmen zu stellen: das Konzept der „Landnahme“ und das Konzept der „Aktivierung“. Das Konzept der Landnahme geht davon aus, dass kapitalistische Gesellschaften zum Zweck ihrer Selbstreproduktion darauf angewiesen sind, noch nicht kapitalisierte Sphären den Regeln der Kapitalakkumulation zu unterwerfen (Dörre et al. 2009; Dörre 2012). Nach dem Erlahmen der fordistischen Wachstumsdynamik und ihrer Regulationsweise (Aglietta 2000) haben sich demzufolge seit den 1970er-Jahren Konturen einer neuen kapitalistischen Formation, des Finanzmarktkapitalismus, herausgebildet, die diesem beständigen Streben nach Landnahme eine neue Dynamik verliehen haben. Die Landnahme unterwirft markt- und wettbewerbsbegrenzende Institutionen den Regeln der Kapitalverwertung, sie dereguliert vormals dekommodifizierende Arran-

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gements und gewachsene institutionalisierte Konfliktregulierungsmechanismen. Zugleich kürzt sie Unterstützungsleistungen und unterwirft die betroffenen Individuum einem Zwangsregime aus Verhaltensauflagen. Diese Dynamiken werden auf unterschiedlichsten politischen und ökonomischen Handlungsfeldern sichtbar, und damit geraten eben auch ganz verschiedenartige Aspekte des gesellschaftlichen und individuellen Umgangs mit Gesundheit (und Krankheit) in den Blick. Dazu zählt zum einen die Landnahme im Sinne einer Erschließung von bisher weitgehend der kapitalistischen Verwertung entzogenen Bereiche gesundheitlicher Versorgung und ein entsprechender Wandel der Angebotsformen, darunter die Privatisierung im Krankenhausbereich, das über die Zulassung von medizinischen Versorgungszentren eingeleitete Vordringen privater Krankenhausketten in die ambulante Versorgung oder die Öffnung des gesamten Pflegemarktes für private Anbieter und das Vordringen der privaten Krankenversicherung. Zum anderen beinhaltet Landnahme auch eine Unterwerfung der sozialen Krankenversicherungsinstitutionen unter die Regeln ökonomischer Steuerung (Rosenbrock und Gerlinger 2014). Dies lässt sich in der wettbewerblichen Ausrichtung des Krankenkassensystems ebenso erkennen wie an der Einführung von Wettbewerbsbeziehungen zwischen Krankenversicherungen und Leistungsanbietern. Die Landnahme wird aber nicht nur sichtbar in einer Expansion kapitalistischer Verwertungsmechanismen in neue, ihnen bisher weitgehend verschlossene ökonomische Handlungsfelder, sondern auch in einem arbeitspolitischen Wandel. Dazu zählen bekannte Erscheinungsformen wie Flexibilisierung, Entgrenzung, Prekarisierung, Erhörung der Leistungsanforderungen und der Arbeitszeiten, Segmentierung von Beschäftigtengruppen. In der Folge breiten sich Stress, Burnout, die Angst vor einem Arbeitsplatzverlust, psychische und psychosomatische Erkrankungen und – teilweise im Zusammenhang damit – arbeitsbedingte Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Muskel-Skelett-Erkrankungen aus (Dörre et al. 2012; Pickshaus 2014). Die Arbeitsbedingungen in den Versorgungseinrichtungen des Gesundheitssystems, insbesondere des Krankenhauses sowie der ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen, sind selbst Ausdruck dieses Wandels, von dem insbesondere die Pflegeberufe betroffen sind. Zur Erschließung neuer Ausbeutungsverhältnisse gehören neben den skizzierten Instrumenten auch die Versuche, Löhne und Gehälter zu senken oder auf niedrigem Niveau zu halten. Auf diese Weise tritt soziale Unsicherheit auch für jene Gruppen ein, die unter dem fordistischen Regime noch gut abgesichert waren. Damit schlägt das Landnahmekonzept auch eine Brücke zur Verbreitung von Armut und sozialer Ungleichheit in der Gesellschaft einschließlich ihrer vielfältigen gesundheitlichen Auswirkungen. Parallel dazu bilden sich in vielen Unternehmen und Wirtschaftszweigen neue Steuerungsformen bei der Arbeit heraus, die nicht mehr allein oder primär auf klassische Hierarchien aufbauen, sondern auf neue Anreizsysteme setzen, die die Beschäftigten dazu zwingen, sich wie Marktindividuen zu verhalten. Dies führt bei Beschäftigten selbst zu einer „interessierten Selbstgefährdung“ mit dem Ziel, Einkommenseinbußen oder den Verlust des beruflichen Status zu vermeiden (Sauer 2013). Auch die subjektive Seite des Landnahmeprozesses mit ihren gesundheitlichen Implikationen gerät hier in den Blick. Unter diesen Gesichtspunkten kann das

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Landnahmetheorem eine wichtige Funktion als Bindeglied von aktueller Gesellschaftsdiagnose und gesundheitssoziologischer Forschung einnehmen. Das von Stephan Lessenich in die Debatte eingeführte Theorem der „Aktivierung“ fokussiert auf die subjektive Seite des Wandels kapitalistischer Gesellschaften (Lessenich 2008; Lessenich in: Dörre et al. 2009). Lessenich sieht sie auf dem Weg in die „Aktivgesellschaft“: Die Individuen werden allenthalben mit Mobilitäts- und Flexibilitätsanforderungen konfrontiert, um ökonomische Zwecksetzungen zu erfüllen. Die Aktivierung beinhaltet eine Regulierungslogik, die auf eine Internalisierung ökonomischer Produktivitätserfordernisse zielt, um auf diese Weise für die ökonomische Reproduktion passfähige Subjekte zu erzeugen. Ökonomisierung des Sozialen und Subjektivierung des Sozialen seien eng miteinander verknüpft. Im Wandel vom versorgenden zum aktivierenden Sozialstaat sieht er eine „Neuerfindung des Sozialen“ (Lessenich 2008), mit der sich zugleich das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft grundlegend verschiebt: „Die Sorge um das Soziale, seine Sicherung und Stärkung, wird in die Verantwortung der Subjekte gelegt – nicht mehr vorrangig in die ‚öffentliche Hand‘ staatlicher Instanzen [. . .]“ (Lessenich 2009, S. 166). Lessenichs Analysen zur Aktivgesellschaft enthalten vielfältige Bezüge zur Gesundheitssoziologie. Auch Gesundheit und Krankheit werden zu Handlungsfeldern der Aktivierung. So lässt sich die Aktivierungsprogrammatik unschwer auch in der Präventions- und Gesundheitsförderungspolitik und in der öffentlichen Kommunikation über Gesundheitsrisiken wiederfinden, ebenso die Internalisierung präventiver Handlungsanforderungen, wie sich z. B. in der Wellnessbewegung zeigt (s. auch van Dyk und Lessenich 2009). Dies gilt auch für die vielfältigen Partizipationsgebote im Krankheitsfall, etwa bei der Wahl des geeigneten Leistungserbringers, bei der Entscheidung über das therapeutische Vorgehen (shared decision making, informed consent) oder bei der Entscheidung über Wahltarife in der gesetzlichen Krankenversicherung. Damit verbunden ist ein grundlegender Wandel der Patientenrolle in modernen Gesellschaften (Ewert 2013). Nicht zuletzt die aufgekommene Debatte über Health Literacy (z. B. Schaeffer et al. 2016) lässt sich in die Reihe dieser Aktivierungszumutungen einordnen.

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Schluss

Gesundheitssoziologie ist stark empirisch ausgerichtet und hochgradig spezialisiert. Sie hat in den vergangenen Jahrzehnten maßgeblich zum Verständnis des sozialen Umgangs mit Gesundheit beigetragen. Ihre Forschungsergebnisse haben zur Modernisierung von Prävention und Krankenversorgung beigetragen und bisweilen sogar politische Entscheidungen beeinflusst. In theoretischer Hinsicht ist Gesundheitssoziologie stark fragmentiert. Theoretische Bezüge sind breit gefächert und unterscheiden sich je nach Forschungsgegenstand und Erkenntnisinteresse. Dabei entsteht mit Blick auf die Gesundheitssoziologie gelegentlich der Eindruck, dass hinter der Vielzahl von Einzelbefunden und gegenstandsbezogenen Theorien das Gesamtbild vom gesellschaftlichen Umgang mit Gesundheit und

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Krankheit kaum noch sichtbar wird. Genau dieser Umgang unterliegt seit geraumer Zeit ganz offenkundig einem tief greifenden Wandel. Er wird u. a. sichtbar in der Ökonomisierung der Versorgungseinrichtungen und der Akteursbeziehungen auf dem Gebiet der Krankenbehandlung und der Pflege, in der Betonung des produktiven Potenzials von Gesundheit und der damit verbundenen Aufwertung von Prävention und Gesundheitsförderung sowie in einem in weiten Teilen der Bevölkerung verändertem Gesundheitsverhalten, hinter dem man in vielen Fällen nicht einfach nur ein – positiv verstanden – gestiegenes Gesundheitsbewusstsein, sondern auch – politisch erwünscht und gefördert – die Internalisierung gesellschaftlicher Handlungszwänge und Normen sehen kann. Soll Gesundheitssoziologie einen Beitrag zum Verständnis dieses Wandels leisten und mit ihren Diagnosen Einfluss auf die Problemdeutung und das Handeln von Politik und Gesellschaft nehmen, so wird sie in ihrer theoretischen Ausrichtung auch Bezug nehmen müssen auf zeitgenössische Gesellschaftsdiagnosen. Die hier knapp umrissenen Konzepte „Landnahme“ und „Aktivierung“ können dazu einen Beitrag leisten. Sie stellen zwar weder einzeln noch in der Addition eine umfassende Charakterisierung des Umgangs mit Gesundheit im gegenwärtigen Kapitalismus dar. Allerdings fügen sie ökonomische, politische und kulturelle Perspektiven der Gesellschaftskritik zusammen, die auch für die Analyse der Gesundheit und des gesellschaftlichen Umgangs mit Gesundheit eine erhebliche analytische Kraft besitzen.

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Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention - soziologisch beobachtet Karl Krajic, Christina Dietscher und Jürgen Pelikan

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Krankheitsprävention – eine Antwort auf erwartbare Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Gesundheitsförderung als Stärkung von Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Gesundheitsförderung und Prävention – wessen Aufgabe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der Beitrag diskutiert eine breite Palette von Themen und soziologischen Perspektiven auf Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention. Ausgehend von einer Grundunterscheidung zwischen angewandten und reflexiv-kritischen Positionen werden zunächst Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung dargestellt. Aus einer soziologischen Perspektive besonders relevant sind die weitgehende Durchsetzung von Vorstellungen der Machbarkeit von Gesundheit, die Transformation von Gesundheitsgefahren in Risiken und der damit steigende Handlungsdruck auf unterschiedliche Akteure. Herausgearbeitet werden Handlungsmöglichkeiten, aber auch dabei entstehenden Paradoxien und Widersprüche auf einer Makro-, Meso- und Mikroebene – für politische Akteure, Organisationen, Netzwerke und oft überforderte Individuen. K. Krajic (*) FORBA Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] C. Dietscher Fonds Gesundes Österreich, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] J. Pelikan Gesundheit Österreich GmbH, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Kriwy, M. Jungbauer-Gans (Hrsg.), Handbuch Gesundheitssoziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06392-4_10

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K. Krajic et al.

Schlüsselwörter

Machbarkeit von Gesundheit · Paradoxie der Prävention · Organisationale Settings · Selbstdisziplinierung · Gesundheitskompetenz · Gesundheitsförderung

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Einleitung

Die Grenzen zwischen Gesundheitsförderung und (Primär-)Prävention sind weder theoretisch noch praktisch eindeutig definiert. Eine mögliche Unterscheidung vertreten z. B. Hurrelmann und Richter (2013) oder Loss et al. (2016): Sie grenzen Gesundheitsförderung als die Optimierung von Verhältnissen von Prävention als verhaltensorientiertem Konzept ab. Diese Art der Abgrenzung ist allerdings zumindest aus soziologischer Perspektive in zweifacher Hinsicht problematisch. Erstens hat auch die Prävention (bzw. die „Old Public Health“) eine lange Geschichte von situations- bzw. umweltbezogenen Interventionen, und zweitens ist – trotz der attraktiven Alliteration – die Verwendung der Differenz Verhalten vs. Verhältnisse problematisch. Insbesondere wenn man an Interventionen denkt, gilt: Verhalten als solches lässt sich zwar beobachten, aber nicht direkt beeinflussen. Es macht soziologisch etwas mehr Sinn, die alte Formel von Kurt Lewin V = f (P,U) zugrunde zu legen (Pelikan 2007a), wobei V = Verhalten, P = Person und U = Umwelt bedeutet. Daraus folgt: Will man Verhalten, Handeln oder Entscheiden beeinflussen, kann man entweder versuchen, die Person, d. h. deren persönliche Verhaltens- oder Handlungsdispositionen durch Erziehung, Training, etc. zu verändern. Oder man kann die relevante Umwelt von Personen so verändern, dass bestimmte Verhaltensweisen leichter möglich sind und/oder durch (ökonomische) Anreize bzw. soziale Regeln (Gebote,Verbote) eher gewählt werden (Pelikan 2007a). Optimal ist es aus der Perspektive dieser Unterscheidung, beide Strategien zu verbinden, was im Setting-Ansatz angestrebt wird, der in der Gesundheitsförderung entwickelt wurde. Für diesen situativen Ansatz spricht vor allem, dass er leichter eine größere Zahl von Personen und vor allem auch benachteiligte Gruppen erreichen kann. In aktuellen Übersichtsarbeiten zum Beitrag von Prävention und Gesundheitsförderung zur Reduktion von gesundheitlicher Ungleichheit werden solche Erwartungen vorgebracht (Rosenbrock und Kümpers 2009; Altgeld 2009). Beide Interventionsstrategien werden jedenfalls sowohl in der Krankheitsprävention (z. B. Rauchererziehung vs. Rauchverbote) wie in der Gesundheitsförderung (z. B. Training zum kompetenten Umgang mit berufsbezogenem Stress vs. Arbeitsplatzgestaltung) eingesetzt. Für die Abgrenzung von Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung folgen wir in unserem Beitrag einem anderen Zugang. Unserem Verständnis nach zielt Gesundheitsförderung gemäß der WHO Gesundheitsdefinition (WHO 1946/1948) und dem Konzept der Salutogenese (Antonovsky 1996; Mittelmark et al. 2017) primär auf die Stärkung persönlicher wie situativer gesundheitlicher Ressourcen und damit auf eine Stärkung von positiver Gesundheit und Wohlbefinden (Pelikan 2007b, ähnlich

Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention - soziologisch beobachtet

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auch Rosenbrock und Kümpers 2009). Positive Gesundheit, bzw. auch Wohlbefinden, setzt voraus, dass eine Person über angemessene körperliche, psychische und soziale Fähigkeiten und Ressourcen verfügt, um die Herausforderungen des Lebens zu meistern. Dieses Verständnis geht von der Annahme aus, dass diese Ressourcen nicht nur geschützt, sondern auch entwickelt und gefördert werden können. Krankheitsprävention zielt dagegen in der Regel auf die Vermeidung, Abschwächung oder Kompensation individueller wie situativer gesundheitsbezogener Risiken. Beide Zugänge – Gesundheitsförderung wie Prävention – nutzen zur Erreichung ihrer spezifischen Ziele (Ressourcen-Steigerung versus Risiko-Reduktion) sowohl die Gestaltung von Verhältnissen als auch Maßnahmen zur Beeinflussung von persönlichen Verhaltensdispositionen. Während eine analytische Unterscheidung zwischen Gesundheitsförderung und Prävention im Hinblick auf Hauptorientierung an Risiken versus Ressourcen prinzipiell möglich ist, lässt sich in der Praxis allerdings nicht immer unterscheiden, ob eine spezifische Maßnahme als präventiv, gesundheitsförderlich oder beides einzuordnen ist. Häufig scheinen solche Zuordnungen auch nach Opportunitätsüberlegungen zu erfolgen – auf welche Diskurse Bezug genommen wird und welche Konzepte dort die anschlussfähigen Terminologien sind. Als Spezifikum der Gesundheitsförderung scheint konsensfähig, dass Gesundheitsförderung davon ausgeht, dass letztlich nur die beteiligten Betroffenen selber ihre Gesundheitsressourcen verbessern können. Es ist daher bei der Umsetzung des Konzepts notwendig, die Betroffenen durch Partizipationsmöglichkeiten einzubeziehen und sie für eigene Aktivitäten hinsichtlich ihrer Gesundheit zu „enablen“ und zu „empowern“. Das heißt Gesundheitsförderung versteht sich als weniger „expertokratisch“ als die „Old Public Health“ und strebt eher Hilfe zur Selbsthilfe an. Soziologisch kann man hier bereits kommentieren, dass diese Sichtweise auch den Vorstellungen einer neo-klassischen Systemtheorie sensu Niklas Luhmann entspricht, die die Autonomie von lebenden, psychischen und sozialen Systemen betont und Möglichkeiten der direkten Beeinflussung dieser Systeme zurückhaltend einschätzt. Wie kann nun die Soziologie Gesundheitsförderung und Prävention beobachten bzw. wozu können ihre Beobachtungen bzw. Analysen beitragen? Dazu wollen wir auf eine Unterscheidung von Robert Straus (1957) zurückgreifen, die sich in der Medizinsoziologie bewährt hat. Laut Straus kann zwischen Soziologie in der bzw. der Medizin unterschieden werden, um zwischen der Haltung einer Teil- bzw. Hilfswissenschaft einerseits und einer distanzierten, beobachtenden, tendenziell kritischen Analyse der Rolle der Medizin in der Gesellschaft andererseits zu unterscheiden. In unserem Fall heißt das in Anlehnung an Straus (1957), zwischen der Haltung einer Soziologie in der bzw. der Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention zu unterscheiden. Damit können wir auch an die britische Diskussion anschließen, in der z. B. Thorogood (2002) und in jüngerer Vergangenheit auch Nettleton (2013) die Unterscheidung einer Sociology of Health Promotion vs. Sociology in Health Promotion als wichtige Orientierung für ein besseres Verständnis des Feldes argumentieren. Wir wollen das in der Folge kurz erläutern. Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung können als zentrale Bereiche des Feldes „Public Health“ verstanden werden. Deshalb macht es – wenn wir dem

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Selbstverständnis der Public Health folgen – auch Sinn, bei soziologischen Beiträgen zur Public Health zwischen unterschiedlichen Zielen der Forschung zu unterscheiden. Die Forschung kann auf Beiträge zu den wissenschaftlichen Grundlagen, zur professionellen Praxis bzw. auch zur politischen Gestaltung („policy“) abzielen. In Beiträgen zur Forschung – als zentraler Aufgabe der Soziologie – geht es dabei zunächst um Wissen über die Ätiologie von (positiver) Gesundheit und Krankheit. Ein weiterer zentraler Bereich ist die Erweiterung des Wissens über Möglichkeiten der Beeinflussung von Gesundheitsressourcen und Krankheitsrisiken bzw. Krankheiten. Einen spezifischen Beitrag kann die Soziologie vor allem zu folgenden Fragestellungen leisten: (a) Welche sozialen Faktoren tragen auf welche Art und Weise als Ursachen bei der Entstehung und Verteilung von Krankheits-Gefahren bzw. Risiken bei? Welche Rolle spielen soziale Faktoren für die Entwicklung, Verteilung und Erhaltung von Gesundheits-Ressourcen? (b) Welche Rolle spielen soziale Faktoren als Bedingungen für den Erfolg von Interventionen zur intentionalen Veränderung von relevanten Risiken und Ressourcen? Nettleton (2013, S. 232 f.) benennt das als eine „angewandte“ Perspektive für die Soziologie (Sociology applied to health promotion), der sie eine tendenziell kritische soziologische Analyse der Gesundheitsförderung als gesellschaftlichem Phänomen gegenüberstellt. Eine Soziologie der Gesundheitsförderung wird als kultur- bzw. gesellschaftskritische Unternehmung in folgende Richtung skizziert: „a critique of the health promotion project itself, its failure to reconcile the individual vs. structure debate, its ideological underpinnings, the way in which health promotion may reinforce structural divisions and forms of discrimination, the fallacy of empowerment and the articulation of new forms of social regulation.“ (Nettleton 2013, S. 232).

Im deutschsprachigen Bereich sind solche Perspektiven weniger in der Gesundheitssoziologie selbst, sondern stärker in der Kultursoziologie vertreten worden. Dabei wird einerseits an die Foucault-Tradition angeschlossen (so wie auch in der britischen Gesundheitssoziologie), andererseits gibt es interessante kombinierte Anschlüsse auch an systemtheoretische Perspektiven (Bröckling 2008; Leanza 2009, etc.). Im Abschn. 4.3 (unten), in dem die Rolle der Individuen für Prävention und Gesundheitsförderung angesprochen wird, haben wir diese Perspektiven explizit berücksichtigt. Der Schwerpunkt des vorliegenden Textes, der methodisch auf Basis eines pragmatischen bzw. „narrativen“ Reviews erstellt wurden, entspricht der Grundorientierung des Mainstreams der gesundheitssoziologischen Forschung zu Gesundheitsförderung und Prävention, und das bedeutet eine tendenziell angewandte Perspektive (Soziologie in der Gesundheitsförderung/Public Health). Im Rahmen dieser Perspektive werden soziologische Konzepte und Methoden für die Entwicklung der Public Health nutzbar gemacht. Das gilt sowohl für den Bereich Krankheitsprävention als Teil der „Old“ als auch der Gesundheitsförderung als zentralem Element der „New“ Public Health.

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Fokussiert werden in diesem Kapitel eher die grundsätzlichen konzeptuellen bzw. theoretischen Beiträge. Auf die vielfältige, diverse empirische Forschung (zur Wirksamkeit von bestimmten Interventionen, zur Evaluation von Modell- und Pilotprojekten etc.) kann in diesem Papier nicht systematisch Bezug genommen werden. Im Zentrum steht der Settings-Ansatz, wobei wir exemplarisch vor allem auf Settings der Krankenbehandlung fokussieren. Diese Auswahl folgt einerseits den Forschungsschwerpunkten der AutorInnen. Andererseits fordert die Anwendung von Gesundheitsförderung im Kontext der Krankenbehandlung auch eine stärkere Präzisierung, welche Gesundheit hier gefördert werden soll und wie sich das von Krankheitsbehandlung unterscheidet. Die zentrale Bedeutung der klinischen Medizin in diesen Settings erfordert, klarer zu bestimmen, was die Erweiterung etablierter medizinischer Perspektiven durch eine Gesundheitsförderungsperspektive bedeutet, welchen spezifischen „Zusatznutzen“ das bewirken kann. Der Beitrag gliedert sich in 3 Hauptabschnitte. Die Unterscheidung Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung wird in den ersten beiden (2 und 3) herausgearbeitet. Im Abschn. 4, in dem es um die Rolle unterschiedlicher gesellschaftlicher Ebenen geht, werden die beiden Grundstrategien gemeinsam sowie ihre Anschlüsse an drei Ebenen behandelt (ähnlich dem Zugang von Rosenbrock und Kümpers 2009): • Makro: gesamtgesellschaftlich/politisch/staatlich • Meso: konkrete Lebenswellten/Settings/Organisationen • Mikro: Rolle/Beiträge der Individuen. Die gesellschaftliche Umwelt der Settings kommt ins Blickfeld der Analyse, und zwar mit Erörterungen zur Rolle der Politik, aber auch der Beiträge der Individuen. Im Fazit, das die wichtigsten Ergebnisse zusammenfasst und eine Perspektive auf weiteren Forschungsbedarf eröffnet.

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Krankheitsprävention – eine Antwort auf erwartbare Störungen

Prävenire – wörtlich genommen das Zuvorkommen künftig erwartbarer, als problematisch definierter Ereignisse durch gegenwärtiges Handeln – ist in den Worten Bröcklings (2008) als „übergreifender Modus des Zukunftsmanagements zeitgenössischer Gesellschaften“ zu verstehen. Angewendet auf Krankheit verfolgt Prävention nach Schwartz und Walter (1998) das Hauptziel, Krankheiten weniger wahrscheinlich zu machen, zu verzögern oder ganz zu verhindern. Mit Luhmann (1990) geht es dabei darum, unspezifische Gesundheitsgefahren in handhabbare Risiken (Luhmann 1990) zu transformieren. In Bezug auf Gesundheit oder vielmehr Krankheit wird derartiges Zukunftsmanagement dort zum gesellschaftlichen Thema, wo Krankheit als Risiko für Störung(en) (künftigen) gesellschaftlichen Funktionierens wahrgenommen und bearbeitet wird. Diese Störungen können vom Nichtmehr-

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Einhalten-Können der sozialen Rollen Einzelner bis hin zur Bedrohung des Überlebens ganzer Populationen reichen. Ersteres ist etwa der Fall, wenn Menschen im Krankheitsfall ihre soziale Rolle als ArbeitnehmerIn nicht mehr einhalten können (Parsons 1951), letzteres, wenn Epidemien oder gar Pandemien ausbrechen. Die hohe soziale Relevanz von Krankheit zeigt sich nicht zuletzt darin, dass praktisch alle Kulturen bereits sehr früh – nach Franke (2012) lange vor der Entwicklung wirksamer Möglichkeiten der Krankenbehandlung – Vorstellungen über die Ursachen von Krankheit ausgebildet haben. Auf dieser Basis entstanden allmählich unterschiedlich komplexe, auf die Zukunft gerichtete präventive Ansätze. Zu den frühesten gehören vermutlich Schutzmaßnahmen gegen Kälte oder wilde Tiere, aber auch schamanistische Rituale und Tabus, wie das Verbot, bestimmte als unrein geltende Nahrungsmittel zu konsumieren. Als Beispiel zu nennen ist das muslimische Schweinefleisch-Verbot, das vor Trichinen schützt, oder die strenge Trennung der Aufgaben der rechten (guten) und der linken (unreinen) Hand, die als frühe Form des Hygienemanagements gewertet werden kann. Auch die präventiv ausgerichtete Bewertung gesund- oder krankmachender Faktoren des Wohn- oder Aufenthaltsortes (vgl. das chinesische Feng-Shui oder die westliche Geomantie) hat eine lange Tradition. Ansätze wie die Jahrtausende alte Traditionelle Chinesische Medizin oder die europäische Humoralpathologie nach Hippokrates und Galen befinden sich zwar bereits in einem Naheverhältnis zur Krankenhandlung, sind aber im Kern am Konzept der Gesunderhaltung orientiert. Die Beispiele zeigen das Jahrtausende alte Bemühen darum, Krankheit nicht mehr als schicksalhaft gegebene Gefahr hinnehmen zu müssen, sondern Wissen und Maßnahmen zu entwickeln, die es erlauben, mögliche künftige Ereignisse durch gegenwärtige Entscheidungen und aktuelles Handeln mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu modifizieren, d. h. Krankheit als „Risiko“ zu behandeln. Diese Vorstellungen über Beeinflussbarkeit von Erkrankungen haben sich in der Menschheitsgeschichte beständig weiter entwickelt: Waren es in der Frühzeit auf Beobachtung, Erfahrung und schamanistisch-religiösen Konzepten beruhende Annahmen, ist es heute zunehmend mit den Regeln der Wissenschaft entwickeltes Wissen, auf das präventive Ansätze aufbauen. In jedem Fall basiert eine präventive Haltung auf einer kontingenten Vorstellung von Zukunft: Zukunft wird als „gesellschaftlich gerahmtes Möglichkeitsfeld“ (Bröckling 2008) begriffen – was sein wird, könnte immer auch anders sein. Um angesichts dieses Bewusstseins von Kontingenz entscheidungsfähig mit Hinblick auf mögliche Zukunftsszenarien zu sein, braucht es klare Kriterien für das grundsätzlich Wünschenswerte oder zu Vermeidende. Es wird angenommen, dass Prävention ein „Versprechen von Sicherheit“ (Bröckling 2008) oder, konkreter, von längerer Lebensdauer bei höherer Lebensqualität gibt (Schwartz und Walter 1998) und damit zum Erhalt der Voraussetzungen für gesellschaftliche Teilhabe in der Zukunft beiträgt. Es braucht aber auch eine Vorstellung davon, dass diese erstrebenswerten Zustände grundsätzlich und tatsächlich erreichbar sind. Um mit Kickbusch (2006) zu sprechen, muss die Vermehrung von Gesundheit – bzw. die Vermeidung von Krankheit – machbar erscheinen. Erst diese potenzielle Machbarkeit ermöglicht eine im engeren Sinn präventive, das heißt auch proaktive statt nur reaktive Haltung gegenüber Krankheit. Daraus resultiert auch die Beschäftigung mit

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noch latenten (zusätzlich zu aktuellen, manifesten) Gesundheitsproblemen. Welche präventiven Antworten dabei als adäquat gelten, hängt ebenso von den jeweils vorherrschenden Bedrohungen wie von den je aktuellen Vorstellungen einer Gesellschaft von Gesundheit und Krankheit und auch von den vorhandenen wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten ab. In der Entwicklung von Prävention stand zunächst die Eindämmung der Infektionskrankheiten im Vordergrund. Solche Erkrankungen hatten – etwa bei Pest- oder Cholera-Epidemien – aufgrund fehlenden Wissens über Ansteckungswege und des Fehlens wirksamer Behandlungsmaßnahmen das Potenzial, ganze Landstriche zu entvölkern. In der sogenannten „Old Public Health“ ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden derartige übertragbare Krankheiten durch Maßnahmen wie den Ausbau von Kanalisationsanlagen, Hygiene-Erziehung und Impfungen zurückgedrängt, die die schon sehr lange praktizierte Isolierung (potenziell) Betroffener (Quarantäne für Reisende seit den Pest-Epidemien des 15. Jahrhunderts, LepraStationen etc.) ergänzten bzw. ablösten. Zugleich begann man, krankheits- und verletzungsfördernde Arbeitsbedingungen der industriellen Produktion zu regulieren und Versicherungssysteme für die kurative Krankenbehandlung einzurichten (Forster und Krajic 2013). Zusammen mit dem allmählich steigenden Lebensstandard in vielen Regionen der Welt, der sich etwa in verbesserten Wohnbedingungen und einer besseren Ernährungslage ausdrückte, trugen diese überwiegend nicht-kurativmedizinischen Faktoren (McKeown 1998) zu einem bis heute weitgehend anhaltenden Ansteigen der Lebenserwartung für große Teile der Weltbevölkerung bei. Die parallel dazu voranschreitende Entwicklung der modernen kurativen Medizin – gemäß Breslow (1999) und Kickbusch (2006) nach der „Old Public Health“ die zweite „Gesundheitsrevolution“ – ermöglichte einen nächsten Entwicklungsschub, der die „dritte Gesundheitsrevolution“ vorbereitete. Durch die bis Mitte des 20. Jahrhunderts erreichte Steigerung der Lebenserwartung, sowie durch die mit dem gesellschaftlichen Fortschritt einhergehenden Veränderungen von Lebensstilen wurden nicht übertragbare bzw. chronische Erkrankungen immer bedeutsamer. Auchdurch den medizinischen Fortschritt werden solche Erkrankungen immer mehr von kurzfristigen Todesursachen zu langfristigen Lebensbegleitern. Damit liegt das Hauptaugenmerk präventiver und gesundheitsförderlicher Bemühungen heute zunehmend auf dem Gesundheitsschutz, auf der möglichst frühen Identifikation feststellbarer Krankheitsrisiken, auf dem Erkennen von möglichst frühen Krankheitsphasen und auf dem Abmildern von körperlichen, psychischen und sozialen Krankheitsfolgen, insbesondere auch bei chronischen Krankheiten. Wie auch in der klinischen Medizin wird die Erhaltung von Lebensqualität zu einer zentralen Zielsetzung. Die technische Entwicklung von Messinstrumenten und neue medizinischbiologische Erkenntnisse über Zusammenhänge zwischen Einflussfaktoren und der Wahrscheinlichkeit des Eintritts nicht übertragbarer Erkrankungen ermöglichen es, für Faktoren wie Bluthochdruck, Blutfettwerte etc. sogenannte, zum Teil arbiträr erscheinende, „Normalwerte“ (Bröckling 2008) bzw. davon abweichende „Risikowerte“ zu bestimmen. Diese erlauben es, ein Individuum als gesund, krank oder krankheitsverdächtig – und damit je nach Testergebnis als Ziel primär-, sekun-

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där- oder tertiärpräventiver Strategien – einzustufen (vgl. Schwartz und Walter 1998): • Primärprävention beinhaltet alle spezifischen Aktivitäten vor Eintritt einer fassbaren biologischen Schädigung. Ziel ist die Senkung der Eintrittswahrscheinlichkeit bei Individuen bzw. die Senkung der Neuerkrankungsrate (Inzidenzrate) in Populationen. Sie umfasst alle Maßnahmen, die auf die Reduktion entsprechender Risikofaktoren abzielen. • Sekundärprävention beinhaltet Maßnahmen zur Entdeckung symptomloser Krankheitsfrühstadien mit dem Ziel der Inzidenzabsenkung manifester oder fortgeschrittener Erkrankungen. Vorsorge-Untersuchungen und Screenings gehören zu den einschlägigen Maßnahmen. • Tertiärprävention meint Interventionen zur Verhinderung bleibender Funktionseinbußen, die kurative Maßnahmen durch Rehabilitation ergänzen bzw. sich z. T. mit diesen überschneiden. Wesentlich für gelingende Tertiärpräventionen sind wirksame Maßnahmen zur Förderung des Selbstmanagements chronischer Erkrankungen. Von besonderem Interesse für die Soziologie ist die Frage, was warum als krank und damit als behandlungs- bzw. präventionsbedürftig gilt. Bei körperlichen Symptomen erscheint die Antwort auf den ersten Blick vergleichsweise einfach. Krankheit erscheint als Sammelbegriff für individuell wahrgenommene Symptome und Symptomgruppen, deren soziologische Relevanz einerseits in der damit verbundenen Einschränkung der sozialen Teilhabe von Personen (z. B. Krankenstand, Verlust des Arbeitsplatzes und damit auch des Einkommens oder auch des sozialen Status), andererseits im Interesse von Gesellschaften an der Gesundheit der Personen begründet ist. Am Beispiel Diabetes zeigt sich aber, dass die Definition von Krankheit nicht so einfach ist. ExpertInnen warnen heute – aufgrund beobachtbarer Risikofaktoren wie dem Anstieg der Zahl übergewichtiger oder adipöser Menschen und der zunehmenden Bewegungsarmut der Gesellschaft – lautstark vor einer drohenden Diabetes-Epidemie mit weitreichenden Folgen für die Gesellschaft, die dringend präventiver Bemühungen bedürfe. Epidemiologische Zahlen scheinen diese Befürchtungen auf den ersten Blick zu bestätigen. So wurde etwa im April 2016 in der Zeitschrift The Lancet eine Metastudie veröffentlicht, die die Entwicklung der weltweiten Verbreitung von Diabetes seit den 1980er-Jahren untersucht und zu folgendem Schluss kommt: „Since 1980, age-standardised diabetes prevalence in adults has increased, or at best remained unchanged, in every country. Together with population growth and ageing, this rise has led to a near quadrupling of the number of adults with diabetes worldwide (NCD Risk Factor Collaboration 2016).“ Dieser Anstieg wird aber nicht primär durch einen Anstieg des (durchschnittlichen) individuellen Diabetes-Risikos erzeugt. Die wesentlichen Faktoren für die beobachtete Zunahme von Diabetes in den letzten 35 Jahren sind nach dieser Analyse zum einen das globale Bevölkerungswachstum. Bei gleichbleibendem Anteil wird die absolute Zahl der DiabetikerInnen damit höher. Zum anderen wirkt das Altern von Bevölkerungen, da Diabetes in höherem Alter mit erhöhter Wahrscheinlichkeit auftritt. Ge-

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mäß den Analysen der AutorInnen nimmt die Prävalenz von Diabetes in Regionen der Welt, die bereits in den 1980er-Jahren eine hohe Lebenserwartung hatten und die ein geringes Bevölkerungswachstum aufweisen (wie in Nordwesteuropa), seit den 1980ern kaum mehr zu. Hinzu kommt noch der Effekt eines klassischen Mechanismus von „Medikalisierung“ (Conrad 2007). Im Zeitraum der Studie wurden die medizinischen Grenzwerte für Diabetes kontinuierlich gesenkt. So wurde 2014 in der ZEIT berichtet: „Wurde die Diagnose im Jahr 1980 noch bei einem NüchternBlutzucker von 144 Milligramm pro Deziliter Blut gestellt, senkte die Weltgesundheitsorganisation den Grenzwert fünf Jahre später auf 140 Milligramm. Heute gilt bereits ein Patient als Diabetiker, dessen Blut mehr als 126 Milligramm Zucker pro Deziliter enthält.“ (Maier 2014) Demnach dürfte ein nicht unwesentlicher Teil des globalen Anstiegs von Diabetes auch auf veränderte Grenzwerte zurückzuführen sein. Franke (2012) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass viele ExpertInnen – auch jene, die Grenzwerte festsetzen und Diagnose-Manuale mitentwickeln – ökonomische Beziehungen zur Pharma-Industrie unterhalten. Das lässt befürchten, dass die Festlegungen solcher Grenzwerte nicht nur mit Hinblick auf Volksgesundheit bzw. Wohlergehen der PatientInnen erfolgen, sondern auch ökonomische Interessen eine wichtige Rolle spielen können. Ein weiteres Beispiel für die Relevanz soziologischer Analysen ist der Bereich der psychischen Erkrankungen. Die soziologische Forschung hat hier gezeigt, dass schon in der grundsätzlichen Definition von psychischen Erkrankungen gesellschaftliche bzw. kulturelle Strukturen und Werte eine wesentliche Rolle spielen. Am Beispiel Homosexualität lässt sich das illustrieren: Homosexualität wurde 1973 aus den psychiatrischen Diagnose-Manualen in den USA gestrichen (Franke 2012). Aber obwohl sie seither offiziell nicht mehr als Krankheit gilt, publizierte ein US-amerikanischer Psychologe noch 2002 ein Buch mit dem Titel „A Parent's Guide to Preventing Homosexuality“ – ein Beispiel dafür, wie sich unterschiedliche politische Diskurse überlagern können und politisch bzw. kulturell Unerwünschtes im Rahmen eines scheinbar neutraleren Präventionsdiskurses bekämpft wird. All dies zeigt: Präventionsziele (allgemeine versus spezifische Prävention, Schutz Einzelner versus Schutz von Gruppen, Prävention übertragbarer versus nicht übertragbarer oder akuter versus chronischer Krankheiten, Prävention psychischer versus körperlicher Erkrankungen, Selbstschutz versus Fremdschutz) sind ebenso wie die Zielgruppen von Prävention (z. B. unterschiedliche Altersgruppen, Kultur- und Sprachgruppen, Männer, Frauen) Resultat permanenter sozialer Aushandlungsprozesse. Dies gilt auch für die Frage der Interventionsebene. Es muss entschieden werden, welchen – individuellen wie kollektiven – AkteurInnen welche präventiven Maßnahmen unter welchen Bedingungen zugemutet werden können und wer mit welcher Legitimation und mit welchen Mitteln welche präventiven Maßnahmen durchsetzen darf. Zu welchen – immer nur vorläufigen – Ergebnissen diese Aushandlungsprozesse jeweils kommen, wird auch zukünftig von den demografischen, epidemiologischen, ökologischen, ökonomischen, politischen, sozialen und wissenschaftlichtechnischen Entwicklungen abhängen (vgl. dazu auch ausführlicher Dietscher und Pelikan 2016b).

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Gesundheitsförderung als Stärkung von Ressourcen

In der modernen gesundheitswissenschaftlichen Diskussion wird Krankheitsprävention als – gegenüber der Gesundheitsförderung – historisch früherer Ansatz für gezielte Interventionen zum Schutz der Gesundheit von Populationen und Individuen gesehen. Wirksame Krankheitsprävention setzte ein ausreichendes Wissen über die Ätiologie von Krankheiten voraus, zunächst eher über situative Risiken von übertragbaren Erkrankungen (z. B. bei Epidemien), später auch über Verhaltensrisiken bei nicht-übertragbaren Krankheiten (Non-communicable Diseases – NCD). Die lange Debatte über die schädigenden Auswirkungen des Rauchens und dessen (Mit-)Verursachung von bestimmten Krankheiten ist dafür ein gutes Beispiel. Krankheitsprävention ist zwar an Fortschritte der medizinischen Wissenschaft (Ätiologie, Epidemiologie) gebunden, konnte aber dennoch nie – oder zumindest nicht mehr seit Mitte des 20. Jahrhunderts – mit dem gesellschaftlichen Erfolg der Krankheitsbehandlung mithalten. Bezüglich der Allokation von Ressourcen ist das Verhältnis zwischen Krankheitsbehandlung, Prävention und Gesundheitsförderung ohnehin ganz eindeutig. In Österreich zeigte eine Analyse der öffentlichen Ausgaben für Prävention und Gesundheitsförderung, dass diese im Jahr 2010 nur 3,1 % der öffentlichen Gesundheitsausgaben ausmachten. Auch unter Einschluss von tertiärer Prävention, d. h. unter Einbeziehung des an den klinisch-medizinischen Sektor angelagerten Bereichs Rehabilitation nach Krankheit oder Unfall, wurden nur 8,3 % erreicht (vgl. Gesundheit Österreich 2012, S. 29). Die WHO ist mit ihrer „Ottawa Charta“ zur Gesundheitsförderung (1986) mit dem Untertitel „Towards a new public health“ aber noch einen Schritt weitergegangen. Dabei wurde das vor allem im angelsächsischen Bereich bereits randständig bestehende Konzept der Gesundheitsförderung aufgegriffen, bzw. das engere Konzept der Gesundheitserziehung ausgeweitet. Gesundheitsförderung wurde in der Folge gezielt durch Beschlüsse, Konferenzen, Dokumente und Zeitschriften propagiert und deren Umsetzung durch Projekte bzw. Netzwerke unterstützt (vgl. z. B. Ruckstuhl 2011). Wie ist diese WHO-Politik zu erklären? Eine knappe Antwort auf diese Frage könnte sein, dass die WHO frühzeitig auf verschiedene Entwicklungen reagiert hat, die Konsequenzen für die Möglichkeiten einer nachhaltigen, individuellen und kollektiven Erhaltung umfassend verstandener Gesundheit haben. Zu nennen ist der Wandel des Krankheitsspektrums hin zu chronischen Krankheiten (die meisten davon NCDs bzw. „Zivilisationskrankheiten“), bei denen sich in der Regel nicht die Frage nach Heilung, sondern nach Management von Krankheit, aber vor allem auch nach Erhaltung von Lebensqualität stellt. Das kann nicht ausschließlich durch Risikovermeidung geschehen, sondern erfordert darüber hinaus die Entwicklung von spezifischen Ressourcen. Weitere wichtige Veränderungen waren die Demokratisierung von wichtigen gesellschaftlichen Lebensbereichen und die wachsende gesellschaftliche Bedeutung von Organisationen (Entwicklung zu einer „Gesellschaft von Organisationen“; Perrow 1991). Bereits das Gründungsdokument der WHO (WHO 1946/1948) hat die Grundlage für diese Entwicklung geschaffen, und zwar durch die umstrittene (Pelikan und Halbmayer 1999), aber letztlich wirksame Definition von Gesundheit als „Zustand

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des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“ (a.a.O., S. 1). Zusätzlich hielt die WHO-Verfassung fest: „Der Besitz des bestmöglichen Gesundheitszustandes bildet eines der Grundrechte jedes menschlichen Wesens, ohne Unterschied der Rasse, der Religion, der politischen Anschauung und der wirtschaftlichen oder sozialen Stellung.“ Damit wurde in der Moderne zunächst der Blick der Gesundheitspolitik (wieder) auf die andere Seite der Krankheit, d. h. auf positive Gesundheit bzw. Wohlbefinden gelenkt, die durch die Erfolgsgeschichte der modernen kurativen Medizin in Vergessenheit geraten war. Grundannahme dieser erneuten Erweiterung ist: Nicht nur Krankheit kann bekämpft (oder vermieden) werden, sondern auch Gesundheit kann gefördert werden, wenn auch durch andere, nicht im engeren Sinn klinisch-therapeutische Interventionen. Gleichzeitig erweiterte die Gesundheits-Definition in der WHO-Verfassung auch die Reichweite von Gesundheit: Individuen brauchen für ein langes und gutes Leben nicht nur körperliche, sondern auch mentale und soziale Gesundheit. Auch diese Dimensionen können durch Interventionen gezielt beeinflusst werden – und das ist auch notwendig, damit das deklarierte Recht auf Gesundheit Realität werden kann. Und: Bereits in der WHO-Verfassung ist angeführt, dass die Betroffenen und Beteiligten bei der Umsetzung dieses Rechts eine bedeutende Rolle innehaben – für die verstärkte Bedeutung von Partizipation wurde damit eine Grundlage geschaffen. Diese Kontinuität von Werten und Strategien lässt sich auch in der Erklärung von Alma-Ata (WHO EURO 1978) finden. Dieses Dokument lenkte zunächst das Augenmerk auf die zentrale Rolle der primären Gesundheitsversorgung. „Die primäre Gesundheitsversorgung ist der Schlüssel zur Verwirklichung dieses Ziels im Rahmen einer Entwicklung im Sinne sozialer Gerechtigkeit.“ Dabei wurde als soziales Ziel propagiert, bis zum Jahr 2000 ein bestimmtes Gesundheitsniveau zu erreichen; in diesem Zusammenhang bekräftigte die Erklärung nicht nur die breite Definition von Gesundheit und das Recht auf Gesundheit aus der WHO-Verfassung, sondern verwendete auch explizit den Terminus „Gesundheitsförderung“. Es finden sich Formulierungen wie „zum Schutz und zur Förderung (!) der Gesundheit aller Menschen auf der Welt“ und „.. stellt die erforderlichen Gesundheitsförderungs-, Präventions-, Heil- und Rehabilitationsangebote bereit;“ (WHO EURO 1978). In der Alma-Ata Deklaration wird auch betont, dass die Realisierung nicht nur von der Gesundheitspolitik, sondern auch von anderen Bereichen abhängt. Formuliert wird „. . . dass das Erreichen eines möglichst guten Gesundheitszustands ein äußerst wichtiges weltweites soziales Ziel ist, dessen Verwirklichung Anstrengungen nicht nur der Gesundheitspolitik, sondern auch vieler anderer sozialer und ökonomischer Bereiche erfordert.“ Auch wird die Bedeutung der Betroffenen und Beteiligten unterstrichen: „Die Menschen haben das Recht und die Verpflichtung, sich individuell und kollektiv an der Planung und Umsetzung ihrer Gesundheitsversorgung zu beteiligen.“ Dies „erfordert und fördert bei Individuum und Gesellschaft ein Höchstmaß an Eigenverantwortung und Beteiligung an Planung, Organisation, Betrieb und Überwachung der primären Gesundheitsversorgung.“

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Damit wurde relativ früh eine „Demokratisierung“ der „paternalistisch“ und „expertokratisch“ orientierten Medizin und der von dieser dominierten Prävention durch Beteiligung der Betroffenen zumindest gefordert. Die Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung (WHO EURO 1986) ist damit keine ganz neue und unerwartete Entwicklung, sondern bekräftigte, integrierte, entwickelte weiter und spezifizierte die angeführten Ansätze und Aspekte. Ausgangspunkt ist eine Definition von Gesundheitsförderung, die Gesundheit als umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden im Alltag definiert, das von den Menschen selbst durch höhere Selbstbestimmung über ihre Gesundheit und auch durch Veränderung ihrer Umwelt hergestellt werden muss, wozu Gesundheitsförderung sie befähigen soll. „Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können. In diesem Sinne ist die Gesundheit als ein wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens zu verstehen und nicht als vorrangiges Lebensziel“. (WHO EURO 1986)

Die Ottawa-Charta benennt für die Umsetzung dieser Vision drei Prinzipien: Interessen vertreten, befähigen und ermöglichen, vermitteln und vernetzen, sowie 5 Strategien: Eine gesundheitsfördernde Gesamtpolitik entwickeln, gesundheitsförderliche Lebenswelten entwickeln, gesundheitsbezogene Gemeinschaftsaktionen unterstützen, persönliche Kompetenzen entwickeln, und die Gesundheitsdienste neu orientieren. In den Folgekonferenzen nach Ottawa und deren Erklärungen, wie auch im „Health Promotion Glossary“ (WHO 1998), wurden diese Prinzipien und Strategien kontinuierlich weiterentwickelt, wobei insbesondere die Konzepte Empowerment (vor allem auch im Zusammenhang mit gesundheitlicher Ungleichheit und bei chronischen Krankheiten), der Setting-Ansatz, Health in all Policies und in letzter Zeit auch Health Literacy/Gesundheitskompetenz besondere Aufmerksamkeit in der gesundheitsbezogenen Politik, Praxis und Forschung erlangten. Im Bereich der Politik wurde, initiiert durch die WHO in den ihr angehörenden Nationalstaaten, Gesundheitsförderung als Strategie relativ frühzeitig aufgegriffen. Allerdings wurde diese, je nach Region und Staat, in sehr unterschiedlichem Ausmaß auch realisiert. Weniger systematisch als auf der politisch-programmatischen Ebene wurde bisher das Potenzial der Gesundheitsförderung zur Reorientierung der Gesundheitsdienste genutzt. Hier ist der kritischen Einschätzung von de Leeuw (2009) prinzipiell zuzustimmen, trotz relativer Erfolge in einzelnen Ländern im Rahmen von „Netzwerken Gesundheitsfördernder Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen“. Gesundheitsförderung gewinnt aber im Kontext von Alterung der Bevölkerung bzw. steigender Prävalenz chronischer Krankheiten zunehmende Bedeutung, nicht nur im Sinn von Primär-Prävention. Eine Re-orientierung der Krankenbehandlung und Langzeitbetreuung von chronischen Krankheiten und altersbedingten Funktionsverlusten in Richtung Erhaltung von „Restgesundheit“ (Schaeffer und Büscher 2009)

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bzw. Steigerung positiver Gesundheit (im Sinn von Funktionsfähigkeit, Wohlbefinden; vgl. u. a. das Modell bei Pelikan 2007a, 2009) erscheint zunehmend anschlussfähig auch in Einrichtungen der Krankenbehandlung. Später als von der Politik und weniger programmatisch, aber möglicherweise noch erfolgreicher, wurde Gesundheitsförderung unter dem Label „Fitness“ und „Wellness“ für Individuen auch in den Marktangeboten der Ökonomie (Pilzer 2002) und im Lebensstil vor allem der besser gestellten Individuen der Zivilgesellschaft übernommen. In mehreren Arbeiten zur „Gesundheitsgesellschaft“ hat die Politik- und Gesundheitswissenschaftlerin Ilona Kickbusch (2006, 2007; Kickbusch und Hartung 2014) die sich entwickelnde Tendenz zur Machbarkeit von Gesundheit und deren Ausbreitung in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen in der Spätmoderne dargestellt (vgl. auch die soziologische Analyse des Konzepts bei Pelikan 2009).

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Gesundheitsförderung und Prävention – wessen Aufgabe?

Die grundsätzlichen Annahmen der Gesundheitsförderung über die Interessen, Handlungsmöglichkeiten und damit auch (Teil-)Verantwortungen an der aktuellen und zukünftigen Erhaltung und Steigerung von Gesundheit durch Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung lassen sich wie folgt rekonstruieren: In der Spätmoderne besteht auf der Mikro-Ebene ein Interesse der betroffenen Individuen. Auf der Meso-Ebene gibt es Interesse und Handlungsmöglichkeiten von Organisationen, in denen Individuen Rollen innehaben. Auf der Makro-Ebene liegt Prävention und Gesundheitsförderung im Interesse der Gesellschaft. Auf dieser Ebene tritt der Staat als zentraler Akteur auf, der gesellschaftliche Gesamtinteressen repräsentiert bzw. in Sozial- bzw. Wohlfahrtstaaten auch Verantwortung für den Schutz von Gesundheit und die Bewältigung von Krankheit und deren Folgen übernommen hat. Da Gesundheit oder Krankheit in den Mikro-Situationen des Alltags reproduziert bzw. produziert werden, müssen letztlich die Individuen krankheitspräventiv und gesundheitsförderlich leben. Organisationen können ihnen das ermöglichen bzw. erleichtern und Staaten können Voraussetzungen dafür schaffen, Prävention und Gesundheitsförderung in größerem Maßstab für Organisationen und Individuen zu ermöglichen und nahe zu legen. Deshalb diskutieren wir im nächsten Teil, jeweils fokussiert auf eine der drei Ebenen, Fragen der Umsetzung von Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung gemeinsam, da sich für beide Strategien auf diesen drei Ebenen viele Probleme in vergleichbarer Weise stellen bzw. Gesundheitsförderung in sinnvoller Weise auch Krankheitsprävention einschließen sollte.

4.1

Staatliche Verantwortung für Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention?

Wie schon der aufgeklärte Absolutismus des 18. und 19. Jahrhunderts wusste, und wie z. B. auch die EU in aktuellen Programmen betont, gehört Gesundheit zu den für

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das (ökonomische und militärische) Prosperieren von Staaten notwendigen Ressourcen (vgl. Europäische Kommission 2013). Gesundheit trägt wesentlich zum Erhalt und zur Entwicklung der sozialen Funktionssysteme und deren Organisationen bei. Staaten, insbesondere moderne Sozial- oder Wohlfahrtsstaaten, die individuelle Risiken von Krankheit kollektiv absichern, haben demnach ein klares Interesse an der Inzidenzabsenkung von Krankheit, Behinderung oder vorzeitigem Tod bzw. an der Förderung von Gesundheit als Ressource. Dadurch lassen sich nicht nur unnötige Behandlungs- und Folgekosten etwa in Form von Pflegeleistungen oder Frühberentungen vermeiden, sondern auch getätigte Investitionen in die Bildung und Qualifizierung der BürgerInnen sind länger nutzbar und liefern damit aus volkswirtschaftlicher Sicht einen höheren „return on investment“. Eine der sehr plausibel argumentierten Annahmen der Gesundheitsförderung besagt, dass sich grundsätzlich alle Lebensbereiche auch auf Gesundheit auswirken (können). So haben beispielsweise sozio-ökonomische Determinanten (vgl. Wilkinson und Marmot 2003) wie der Bildungsstatus, der berufliche Status bzw. das Einkommen und die Wohnverhältnisse einen signifikanten Einfluss auf Gesundheit und produzieren gesundheitliche Ungleichheit (vgl. z. B. Richter und Hurrelmann 2009). Da viele für Gesundheit relevante Faktoren nur durch staatliche bzw. supranationale Steuerung systematisch beeinflusst werden können (z. B. die Verringerung des Armutsrisikos durch Umverteilung von Einkommen, sozialen Wohnbau etc.), hat der Staat grundsätzlich Möglichkeiten und damit auch Verantwortung, auf die Erhaltung und Verbesserung der Gesundheit seiner BürgerInnen einzuwirken. Um bei begrenzten Interventionsmöglichkeiten (z. B. durch knappe öffentlichen Mittel) begründete (politische) Entscheidungen hinsichtlich Zielsetzungen und geeigneten Interventionen für Gesundheitsförderung und Prävention treffen zu können, haben viele Staaten Institutionen im Bereich der öffentlichen Gesundheit eingerichtet. Deren Aufgabe besteht u. a. darin, Daten zur Bevölkerungsgesundheit zu sammeln und aufzubereiten und Interventionskonzepte unter Berücksichtigung von Bedarf (Verbreitung von Risikofaktoren, Erkrankungswahrscheinlichkeiten), verfügbaren Zielgruppenzugängen, möglichen Nebenwirkungen und der eingeschätzten Kosten-Nutzen-Relation (vgl. Schwartz und Walter 1998) auszuwählen, zu entwickeln und teilweise auch zu implementieren. Ein wichtiges Element im Spektrum staatlicher Interventionen ist das Festlegen von gemeinsamen Zielsetzungen für relevante AkteurInnen. Als Beispiel können die 2012 vom österreichischen Parlament beschlossenen „Rahmen-Gesundheitsziele“ genannt werden, in denen unter anderem „gesundheitliche Chancengerechtigkeit“ als ein wesentliches Ziel staatlicher Gesundheitspolitik genannt wird (Bundesministerium für Gesundheit und Frauen 2016). Ein weiteres Element ist die Bereitstellung notwendiger Ressourcen und Infrastrukturen für die Zielerreichung. Dieses umfasst z. B. Regelungen hinsichtlich der durch die Sozial- bzw. Krankenversicherung zu deckenden Leistungen für die BürgerInnen. Zentrale Elemente von Primärprävention und Gesundheitsschutz sind aber gesetzliche Regelungen in einer Vielzahl von Bereichen, z. B. Jugendschutz, Produktkennzeichnungen, Grenzwerte für potenziell schädliche Inhaltsstoffe in Lebens-

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mitteln und Abgasen, Mindestalter für Tabak- oder Alkoholkonsum, Arbeitnehmerschutz, Unterrichtsinhalte etc. Die Politik kann auch Verhaltensempfehlungen durch ExpertInnen erarbeiten lassen und dann propagieren (z. B. Impf-Empfehlungen). Auch ökonomische Incentives können z. B. durch hohe Abgaben auf Tabakwaren oder Alkohol, oder die Sanktionierung ungesunden Verhaltens durch höhere Beiträge für die Krankenversicherung etc. gesetzt werden. All diese Maßnahmen sollen einerseits ein gesünderes oder zumindest gesundheitsbewussteres Verhalten der BürgerInnen unterstützen, andererseits die situativen, materiellen und sozialen Einflussfaktoren auf Gesundheit verbessern, und zwar insbesondere auch für sozial schwächere Gruppen. Rosenbrock und Kümpers (2009) erwarten von der Politik eine Priorisierung für Kontextbeeinflussung, eine Aufwertung (krankheits-)unspezifischer Interventionen und eine Priorisierung von Partizipation als wesentlichen Beitrag zur Reduktion gesundheitlicher Ungleichheit („closing the health gap“ Marmot 2009). Konsequent wird von der Politik dann auch erwartet, spezifische Settings auszuwählen, in denen benachteiligte Zielgruppen erreichbar sind und die Entwicklung dieser Settings zu gesundheitsfördernden Lebenswelten voranzutreiben (Beispiele für in diesem Sinne besonders geeignete Settings auch bei Altgeld 2009). Weil die klassische Gesundheitspolitik im engeren Sinn seit der Mitte des letzten Jahrhunderts in den meisten Staaten primär am Aufbau und Zugänglichkeit von kurativen Versorgungssystemen, ihrer Gestaltung und Finanzierung orientiert war und damit eine Vielfalt der zu adressierenden relevanten Gesundheitsdeterminanten und Einflussfaktoren nicht bearbeiten konnte, hat die WHO die Strategie „Health in all policies“ entwickelt. Gefordert wird dabei die Zusammenarbeit unterschiedlicher Sektoren und Politikbereiche im Sinne von Gesundheitsförderung und Prävention. Eine zentrale Empfehlung ist eine systematische Gesundheitsfolgenabschätzung: Alle Politikbereiche sollen die Auswirkung ihrer Politiken auf Gesundheit beobachten und entsprechend adaptieren (vgl. World Health Organization 2013). Altgeld (2009) erwartet, dass diese Strategie einen zentralen Beitrag zur Reduktion gesundheitlicher Ungleichheit leisten kann, vor allem, wenn sie mit der Entwicklung gesundheitsförderlicher Settings verbunden wird. Mit einem umfassenden Politikansatz in Bezug auf Prävention und Gesundheitsförderung sind aber auch wesentliche Herausforderungen verbunden. Eine betrifft widersprüchliche Interessenslagen innerhalb des politischen Systems. So sind KostenträgerInnen und NutznießerInnen häufig nicht ident, und Gewinne aus gegenwärtigen Maßnahmen sind nicht sicher zu erwarten und können weit in der Zukunft liegen (Schwartz und Walter 1998). So verliert der Staat beispielsweise durch eine Reduktion des Tabak- und Alkoholkonsums unmittelbar Steuereinnahmen, während eine allfällig dadurch reduzierte Krankheitslast erst Jahre später beobachtbar ist. Der Gesamtgewinn für öffentliche Budgets, internationale Wettbewerbsfähigkeit etc. kann allerdings auch bei wirksamen Maßnahmen fraglich sein, weil bei höherer Lebenserwartung Rentenzahlungen länger anfallen. Das Verhältnis von ZahlerInnen und NutznießerInnen wird in föderalistischen Staaten, wie Deutschland oder Österreich, durch die unterschiedlichen Zuständigkeiten und Kompetenzen von Bund und

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Ländern noch zusätzlich kompliziert. Und eine ganz andere Problematik ergibt sich daraus, dass die Interessen der Allgemeinheit – das heißt, der Schutz der Gesellschaft – dem individuellen Freiheitsstreben entgegenstehen können. Bröckling (2008) beschreibt Prävention – und dies lässt sich auch auf Gesundheitsförderung erweitern – als „in einer komplexen strategischen Konstellation [operierend], in der Kräfteverhältnisse abzuschätzen, Allianzen zu schließen oder aufzukündigen, taktische Festlegungen zu treffen und bei jedem Schritt die Operationen der anderen beteiligten Akteure zu berücksichtigen sind.“ Daher wird auch immer wieder neu ausgehandelt, wie weit der Staat etwa mit Regelungen zum Schutz der BürgerInnen, die tendenziell auch mit einer Einschränkung individueller Freiheiten einhergehen können, gehen darf. Prominente Beispiele für teilweise über viele Jahre sehr kontrovers geführte Debatten sind hier die Gurten- oder Helmpflicht im Straßenverkehr oder Verbote im Zusammenhang mit Tabak, Alkohol und anderen Drogen. Auch in Bezug auf das Ziel Reduktion gesundheitlicher Ungleichheit stellen sich schwierige politische und auch praktische Fragen: Sollen wirksame und prinzipiell an Settings bzw. Individuen anschlussfähige Programme gefördert werden, auch wenn sie benachteiligte Gruppen schlechter erreichen – und damit gesundheitliche Ungleichheit tendenziell sogar verstärken könnten? Lassen sich – angesichts knapper Mittel – notwendige Priorisierungen von schwierigen Aufgaben mit geringerer Erfolgswahrscheinlichkeit (z. B. Gesundheitskompetenz von bildungsfernen, benachteiligten Gruppen steigern) gegenüber machbaren und nachgefragten Programmen durchsetzen? Eine kluge strategische Priorisierung von Settings, in denen die Wahrscheinlichkeit hoch ist, benachteiligte Gruppen zu erreichen, könnte hier hilfreich sein (z. B. öffentliche Kindergärten, Pflichtschulen, Krankenhausambulanzen, Einrichtungen der Jugendwohlfahrt, Pflegeheime, Gefängnisse, etc.).

4.2

Wie können organisationale Settings zu Gesundheitsförderung und Prävention beitragen?

Folgt man der soziologischen Systemtheorie Niklas Luhmanns, so ist die moderne Gesellschaft durch funktionale Ausdifferenzierung in eine Reihe von spezifischen Funktionssystemen mit zuordenbaren, leistungsfähigen Organisationen, bei gleichzeitiger Individualisierung, gekennzeichnet (z. B. Luhmann 1997). Das heißt um ihr Leben zu leben, übernehmen Menschen in diesen Organisationen Rollen, Leistungsoder Komplementär- bzw. Publikumsrollen, als NutzerInnen von Krankenhäusern, in denen sie geboren werden, von Kinderkrippen, Bildungseinrichtungen, als UnternehmerInnen und MitarbeiterInnen von Betrieben, als KonsumentInnen von Produkten und Dienstleistungen, bis hin zur Rolle als BewohnerInnen von Altenbetreuungs- und Pflegeeinrichtung und zur „Rolle“ als Sterbende, meist wieder in Akutkrankenhäusern. Der Soziologe Charles Perrow diagnostizierte daher, dass wir in einer „Gesellschaft von Organisationen“ (Perrow 1991) leben, in der Menschen sich praktisch ihr Leben lang in und durch Organisationen bewegen. Viele staatliche Regelungen

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werden entsprechend erst durch und in Organisationen umsetzbar, und der Lebensstil von Individuen ist weitgehend durch Rahmenbedingungen bestimmt, die Organisationen ihnen bieten. Organisationen sind soziale Systeme, die sich durch die Kommunikation von Entscheidungen reproduzieren (Luhmann 2000) und gleichzeitig „Agency“ als kollektive Akteure haben. Das heißt sie sind wie Individuen adressierbar, z. B. vom Staat, aber gleichzeitig haben sie beträchtliche Möglichkeiten, ihre Strukturen, Kulturen, Prozesse und in gewissem Ausmaß auch ihre Umwelt zu gestalten. Über die Art und Weise, wie sie funktionieren – z. B. Arbeitsklima, Arbeitsdruck, aber auch die Qualität ihrer Dienstleistungen – beeinflussen sie maßgeblich die Gesundheit der von ihnen erreichten Menschen – MitarbeiterInnen, KundInnen/KlientInnen und auch indirekt betroffene „bystander“. Umgekehrt sind Organisationen in ihrem Funktionieren auch maßgeblich auf die Gesundheit eben dieser Menschen angewiesen. Die WHO hat schon mit der Ottawa-Charta (1986) „Lebenswelten“ bzw. „Settings“ neben Staaten und Individuen als bedeutsame Interventionsebene für Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung angesprochen. Zusätzlich zu den Strategien „eine gesundheitsfördernde Gesamtpolitik entwickeln“ bzw. „persönliche Kompetenzen entwickeln“ wurde eine Strategie „gesundheitsförderliche Lebenswelten entwickeln“ formuliert. Ein Setting wird verstanden als „the place or social context in which people engage in daily activities in which environmental, organizational and personal factors interact to affect health and wellbeing.“ (WHO 1998, S. 19). Als Begründung für den Lebenswelt- oder Setting-Ansatz führt die Charta an: „Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben. Gesundheit entsteht dadurch, dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist, selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben sowie dadurch, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die all ihren Bürgern Gesundheit ermöglichen.“ (WHO EURO 1986). Für die meisten von der WHO in den Jahren nach der Ottawa Charta aufgegriffenen Settings gilt, dass diese soziologisch betrachtet Organisationen sind (wie z. B. Betriebe, Krankenhäuser oder Schulen) oder einen sozialen organisationalen Kern haben (z. B. Gebietskörperschaften wie Städte durch ihre Verwaltung) und über ihre organisationalen Entscheidungen auch nicht-soziale, materielle oder psychische Umwelten beeinflussen können. Das heißt Organisationen haben die Möglichkeit, die Verhaltensdispositionen von Personen zu beeinflussen, ebenso wie „die Verhältnisse“, welche situativ auf Verhalten einwirken (Pelikan 2007b, 2011). Organisationen sind soziale Lebenswelten, die gleichzeitig von der Politik mit Erwartungen bzw. Unterstützungen adressiert werden können und das Potenzial haben, sich selbst in Richtung von „mehr Gesundheit ermöglichen“ zu entwickeln. Aus gesundheitswissenschaftlicher Perspektive sind Organisationen daher sowohl potenzielle Nutznießer von Strategien der Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung als auch von entscheidender Bedeutung für deren Umsetzung. Der Lebenswelt- oder Setting-Ansatz („Settings for Health“) (WHO 1998; Pelikan 2011) ermöglicht, Krankheitsprävention und

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Tab. 1 Handlungsvoraussetzungen für präventives/gesundheitsförderliches Handeln (vgl. Pelikan 2007a; Dietscher und Pelikan 2016a) Handlungsvoraussetzungen Person

Möglichkeitsstruktur Können

Selektionskultur Wollen

Organisation

Möglichsein

Sollen

Interventionsmöglichkeiten

Strukturentwicklung

Kulturentwicklung

Interventions möglichkeiten PersonenEntwicklung OrganisationsEntwicklung Kombinierte Interventionen

Gesundheitsförderung in umfassender Weise, d. h. unter Abstimmung auf jene Bedingungen zu gestalten, die zusammen Verhalten und Verhaltensänderungen bestimmen. Es geht in diesen Lebenswelten um eine Kombination von persönlichem Können und Wollen mit Möglichsein und Sollen in den relevanten Organisationen (Pelikan und Halbmayer 1999; Pelikan 2007b, 2011; Dietscher und Pelikan 2016a), wie Tab. 1 schematisch darstellt. Beispielsweise kann schulische Gesundheitserziehung das Thema gesunde Ernährung behandeln, dafür Wissen und Motivation erzeugen, während gleichzeitig in der Schulkantine gesunde Ernährung kostengünstig angeboten wird. Im Idealfall geht es nicht um punktuelle Einzelmaßnahmen, sondern um eine organisationsumfassende, strategische Ausrichtung, die Krankheitsprävention bzw. Gesundheitsförderung als (in der Regel wohl sekundäre) Zielsetzung beinhaltet. Beides stellt so immer auch eine Management-Aufgabe dar (Schwartz und Walter 1998) – es gilt, Personal und Ressourcen für Prävention bzw. Gesundheitsförderung bereit zu stellen, Zielsetzungen und Umsetzungsmaßnahmen zu definieren sowie die Erreichung gesetzter Ziele zu monitieren bzw. zu evaluieren und kontinuierlich zu verbessern. Neben Schulen und Betrieben im Allgemeinen sind auch Krankenhäuser ein wichtiges Setting für Prävention und Gesundheitsförderung. So fordert etwa die aktuelle Gesundheitsstrategie der WHO Europa „Health 2020“ neuerlich eine Reorientierung der Gesundheitsdienste in Richtung Prävention und meint damit nicht nur Krankenhäuser, sondern alle Angebote der Krankenbehandlung (WHO-EURO 2013a). In Kasten 1 haben wir für die wichtigsten Gruppen von AdressatInnen im Kontext Krankenhaus einige Beispiele angeführt. Kasten 1 Prävention und Gesundheitsförderung im Krankenhaus

Klinische Settings können neben ihrer Hauptaufgabe, der Krankenbehandlung, auch wichtige Aufgaben in der Prävention und Gesundheitsförderung sowohl von MitarbeiterInnen als auch von PatientInnen und teilweise auch der regionalen Bevölkerung übernehmen. (Fortsetzung)

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• PatientInnen: Alle Strategien des klinischen Risiko- und Hygienemanagements verstehen sich auch präventiv im Sinne der Gesunderhaltung der PatientInnen. Klinische Sekundärprävention ist im Krankenhaus v. a. für Hochrisiko-Gruppen mit spezifischem individuellem Nutzen kosteneffektiv (Schwartz und Walter 1998). Aber stationäre Aufenthalte stellen auch einen „teachable moment“ (z. B. McBride et al. 2003) für die Verbesserung individueller Lebensstile und Gesundheitskompetenz dar. Dies macht sich etwa die britische Initiative „Making every contact count“ (NHS Yorkshire and The Humber) zunutze. • MitarbeiterInnen: Das Personal im Gesundheitswesen – im EU-Schnitt etwa 10 % der Beschäftigten – gehört zu den am stärksten gesundheitlich belasteten Gruppen von ArbeitnehmerInnen. Dies gilt insbesondere auch für psychische Belastungen. Um diese zu reduzieren, reicht es nicht, individuelle Kompetenzen im Stressmanagement zu stärken, sondern es müssen auch Belastungsfaktoren auf Organisationsebene erkannt und bearbeitet werden. Dazu kann die Professionalisierung von Führungskräften ebenso beitragen wie die Umverteilung von Arbeit. • Region: Aus der systematischen Auswertung von PatientInnendaten können nicht zuletzt Rückschlüsse auf regionale Gesundheitsrisiken abgeleitet werden (z. B. unfallgefährliche Kreuzungen), die dadurch für eine strukturierte Bearbeitung und Verbesserung zugänglich werden. (vgl. Pelikan et al. 2001, 2005, 2014; Dietscher et al. 2008)

Da auch die Verwaltung von Gebietskörperschaften, d. h. von Gemeinden, Städten oder Regionen, Organisationscharakter hat, fallen auch Ansätze wie „Gesunde Gemeinden“, „Gesunde Städte“ oder „Gesunde Regionen“, die von der WHO initiiert wurden, unter den organisationalen Setting-Ansatz, wenn auch mit spezifischen Besonderheiten (Pelikan 2007a). Mit Strategien auf der Ebene organisationaler Settings können somit für große Gruppen der Gesamtbevölkerung die Rahmenbedingungen für Gesundheitsförderung und Prävention in zentralen Lebensphasen systematisch bearbeitet werden. Wie schon mehrfach angesprochen, verspricht eine strategische Auswahl der gesundheitspolitisch geförderten bzw. forcierten Settings auch einen Beitrag zur Reduktion gesundheitlicher Ungleichheit und zur Erhaltung der Lebensqualität chronisch Kranker. Zumindest was das prinzipielle Erreichen von benachteiligten Zielgruppen betrifft, sind die oben im Abschnitt über die Rolle der Politik angesprochenen Settings jedenfalls vielversprechend. Wie gut das dann im Rahmen dieser Settings gelingt, sollte aber viel systematischer beforscht werden. Eine wichtige Strategie im Settings-Bereich ist die Netzwerk-Entwicklung: So gibt es auf der Meso-Ebene – im Gegensatz zu einer sehr begrenzten Anzahl von Staaten – jeweils sehr große Zahlen möglicher Ansprechpartner: für Krankheitsprävention und

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Gesundheitsförderung Viele Tausende Schulen, Krankenhäuser, Produktionsbetriebe, etc. Auch die Zahl sub-nationaler Gebietskörperschaften (Regionen, Städte, Gemeinden) ist sehr groß. Gleichzeitig kann angenommen werden, dass Organisationen gleichen Typs auch mit ähnlichen Problemlagen konfrontiert sind, die mit ähnlichen Lösungsmöglichkeiten bearbeitet werden können. Deshalb hat die WHO nicht nur spezifische Modell- bzw. Pilot-Projekte für gesunde bzw. gesundheitsfördernde Städte, Schulen, Universitäten, Betriebe, Krankenhäuser bis hin zu Gefängnissen initiiert, sondern gleichzeitig auch Settingspezifische-Netzwerke für diese Entwicklungsbemühungen angeregt und unterstützt. Diese Netzwerke, wie z. B. für Gesunde Städte, Gesunde Schulen, Gesundheitsfördernde Krankenhäuser, Gesunde Betriebe, dienen der Verbreitung und Weiterentwicklung von spezifisch zugeschnittenen Präventions- und Gesundheitsförderungskonzepten, der Selbstfestlegung und dem Erfahrungsaustausch der Mitglieder, wie der Entwicklung und Verbreitung von Interventionsstrategien und Best Practice Lösungen (Brösskamp-Stone 2004; Dietscher 2013). Die Soziologie als Wissenschaft hat für organisationsbezogene Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung, sowohl in der Form „(reflexive) Soziologie der Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung“ als auch als „(angewandte) Soziologie in der Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung“ eine vergleichsweise große Bedeutung. SoziologInnen haben vorhandene Reformbemühungen beschrieben, teilweise mitentwickelt, aber auch kritisch reflektiert: z. B. für gesundheitsfördernde Krankenhäuser (Pelikan 2007c; Pelikan et al. 2011), „Gesunde Schulen“ (Dür und Felder-Puig 2011) oder auch gesundheitsförderliche Altenbetreuung und -pflege (Schaeffer und Büscher 2009; Krajic et al. 2015) bzw. organisationale Gesundheitsförderungs-Netzwerke (Dietscher 2013) – um nur jene Bereiche aus dem engeren Erfahrungsbereich der AutorInnen herauszugreifen. Als relevant erwiesen hat sich in diesem Kontext auch Wissen aus der Organisationssoziologie, der Soziologie von Sozialinterventionen und der Soziologie von sozialen Netzwerken. In der Gesundheitsförderung werden Netzwerke zwischen Personen häufig selbst als Gesundheitsressource verstanden. Die Soziologie konnte und kann wichtige Konzepte und Instrumente für erfolgreiche Interventionen in der Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung in organisationalen Settings und deren Netzwerken anbieten (vgl. z. B. Hawe und Shiell 2000).

4.3

Und wo bleibt der/die Einzelne?

Gesundheit bzw. Krankheit sind eng mit der menschlichen Existenz verknüpft (Franke 2012) und werden daher von den meisten Menschen wichtig und ernst genommen. In unserer von Konkurrenz geprägten Leistungsgesellschaft hängen an der Gesundheit nicht nur die eigene Lebensdauer und das unmittelbare Wohlbefinden, sondern auch die individuellen sozialen Erfolgschancen und damit auch wesentliche Bedingungen für die mittel- und langfristige Lebensqualität. Aus einer soziologischen Perspektive bemerkenswert und relevant ist, dass Gesundheit und Krankheit in der Gegenwartsgesellschaft nicht mehr als Schicksal, sondern als persönlich beeinflussbare Ressourcen und Risiken angesehen werden

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und die Individuen zunehmend in die „Pflicht zur Gesundheit“ genommen werden (Franke 2012). Rund um diese Grunddiagnose sind in den letzten Jahrzehnten in der internationalen soziologischen Forschung viele in der Regel reflexive, gesellschaftsbzw. kulturkritisch orientierte Beiträge entstanden. Analysiert wird z. B., dass in einer normativen Präventionsperspektive Menschen zu Komplexen von Risikofaktoren werden (Castel 1983, zitiert nach Bröckling 2008), auf die die Betroffenen als selbstverantwortliche und kompetente AkteurInnen (Bröckling 2008) zu reagieren haben. Schmidt-Semisch und Paul (2010) konstatieren, dass diese Verpflichtung unter anderem mit der Finanzierbarkeit der kollektiv abgesicherten Krankheitsversorgung begründet wird: „Die individuelle Pflicht zur Gesundheit betrifft demnach nicht nur das Individuum selbst, sondern verweist zugleich auf die moralisch-soziale Verantwortung der Subjekte gegenüber den knappen Ressourcen der Gemeinschaft.“ Bröckling (2008) argumentiert, der Staat komme seiner Fürsorgepflicht immer mehr in einer neuen Form, als „aktivierender Staat“ nach, der seine BürgerInnen aus der „fürsorglichen Belagerung“ in die Freiheit der Selbstsorge entlässt und ihnen zumutet, ihre Lebensrisiken eigenverantwortlich zu managen; marktförmige Selbstregulation soll die optimale Allokation knapper Ressourcen gewährleisten und Risikominimierung mit Autonomiemaximierung verbinden. Und bei Bröckling findet sich auch die Annahme, dass – aufgrund der genannten hohen individuellen Bedeutung von Gesundheit – die individuelle Verantwortung dafür von vielen Menschen auch faktisch übernommen wird. Gleichzeitig finden sich in der Literatur aber auch viele Beschreibungen bzw. Thesen, dass von den Einzelnen dabei massive Herausforderungen zu bewältigen sind. In Bezug auf Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention gelte es sehr häufig, eine Vielzahl einander zum Teil hochgradig widersprechender und immer nur vorläufiger Informationen auf ihre Relevanz für die eigene Situation einzuschätzen und auf deren Grundlage laufend und letztlich immer auf Unsicherheit basierende Entscheidungen zu treffen (Schmidt-Semisch und Paul 2010). So änderten sich etwa die Ernährungs-Empfehlungen in kurzer Folge und es gäbe klare Hinweise dafür, dass einige Maßnahmen der medizinischen Sekundärprävention ihrerseits Risiken erzeugen, die jedenfalls mit dem potenziellen Nutzen abgewogen werden müssten. Als Beispiel: Die Anzahl der Todesfälle durch Nebenwirkungen der Koloskopie scheint in etwa der Anzahl an Menschen zu entsprechen, deren Leben durch die Darmkrebs-Früherkennung verlängert wird (Mühlhäuser 2007). Auch ein CochraneReview aus dem Jahr 2009 zum Brustkrebs-Screening durch Mammografie kommt zum Schluss, dass dadurch innerhalb einer Zehnjahres-Periode das Leben nur einer von 2000 Frauen in der Altersgruppe 50+ verlängert werden kann und die durchschnittliche Lebensverlängerung bei einem Tag pro Frau liegt. Demgegenüber stehen zehn Frauen, die aufgrund des Screenings falsch-positiv diagnostiziert und behandelt werden (Überdiagnose, Übertherapie), und mehr als 200 Frauen sind monatelangen schwerwiegenden psychischen Belastungen durch notwendige Befundabklärungen ausgesetzt (Gøtzsche und Nielsen 2009). Der aktuelle Präventionsdiskurs, so argumentiert z. B. Ullrich (2010), habe jedenfalls einen eindeutigen Pro-Präventions-Bias, denn trotz aller Ambiguität der Maßnahmen werde

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Prävention als Allheilmittel angepriesen, während deren Risiken kaum diskutiert würden. Hinzu kommt, dass Handlungsanweisungen von Gesundheitsförderung und Prävention – insofern sie an die individuelle Verantwortung appellieren – ein hohes Ausmaß an Selbstdisziplin erfordern. Gesundheitsförderung und Prävention wirken in aller Regel nur dann, wenn sie zur Gewohnheit, zum Lebensstil werden: Es reicht nicht, sich einmal vernünftig zu bewegen, gesund zu essen oder zur VorsorgeUntersuchung zu gehen. All dies ist kontinuierlich nötig, will man Risiken dauerhaft reduzieren und Ressourcen steigern, um das Versprechen auf eine möglichst schmerzfreie, qualitätsvolle, lange und gesunde Zukunft einzulösen. Die erforderliche kontinuierliche Selbstregulation und Selbstdisziplin bezeichnet Leanza (2009) – im Anschluss an die Foucault-Tradition – als „Techniken des Selbst“, die mit Hinblick auf Gesundheitsförderung und Primärprävention auf bestimmte Lebensstile, sekundärpräventiv z. B. auf die Nutzung von Vorsorge-Untersuchungen und tertiärpräventiv auf das Selbstmanagement bereits eingetretener Erkrankungen abzielen. Doch Nutzen und Aufwand dieser Techniken des Selbst können in der subjektiven Wahrnehmung stark auseinanderklaffen: Heute geleisteter Aufwand führt in vielen Fällen, wenn überhaupt, oft erst viele Jahre später und nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zum erhofften Nutzen (Schwartz und Walter 1998). Kein Wunder, dass v. a. Gesundheitserziehung und Prävention nach Schlüsselfaktoren der Motivierbarkeit (z. B. Kontrollüberzeugungen, self-efficacy, Anreizsysteme für erwünschtes Handeln) suchen. Vor dem Hintergrund der Ambiguität der möglichen Wirkungen und Nebenwirkungen mancher präventiver Strategien muss darüber hinaus die Forderung nach leicht zugänglichen, umfassenden, evidenzbasierten und täuschungsfreien Informationen für die BürgerInnen gestellt werden (Mühlhäuser 2007). Ein Beispiel dafür sind die Faktenboxen des Harding-Zentrums für RisikoKompetenz, die Nutzen- und Risikowahrscheinlichkeiten z. B. des BrustkrebsScreenings allgemein verständlich aufbereiten. Die PropagatorInnen der individuellen Verantwortung für Gesundheitsförderung und Prävention fordern verständlicher Weise, mit der entsprechenden Erziehung bereits in der frühen Kindheit – in Familie und Kindergarten – zu beginnen. Um Individuen kontinuierlich mit Gesundheitsbotschaften zu erreichen, werden die klassischen edukativen Strategien – Gesundheitserziehung, – beratung und -coaching durch Profis – zunehmend erweitert. Eine klassische Ergänzung sind Kampagnen, die Aufmerksamkeit für ein bestimmtes Thema erzeugen sollen. Schon etwas innovativer ist der Einsatz von Peers für edukative Zwecke; auch „aufsuchende soziale Arbeit“ wird eingesetzt, und in jüngerer Zeit, insbesondere wenn es um medizinische Prävention geht, auch „direct mailing“, Recall-Systeme und andere Maßnahmen unter Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien (Schwartz und Walter 1998). Nicht zu vernachlässigen ist auch die Rolle der (pharmazeutischen) Werbung und der neuen Medien. So wird etwa das Internet zu einer zunehmend bedeutsamen Informationsquelle und zum Diskussionsforum gerade auch in Gesundheitsfragen. Allerdings bleiben die Einzelnen allzu oft mit der Frage alleine, welchen der vielen Informationen sie eigentlich trauen können und wie sie diese auf ihre eigene Lebenssituation anwen-

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den können. Nicht verwunderlich, dass sowohl in der Gesundheitsforschung als auch in der Praxis von Gesundheitsförderung und Prävention ein neues Konzept immer öfter zu hören ist: Gesundheitskompetenz. In elaborierteren Verwendungen sind damit nicht nur das gesundheitsbezogene Wissen und die Fähigkeiten von Personen gemeint, sondern auch eine Gestaltung des (informativen und kommunikativen) gesundheitsbezogenen Angebots. Auch die Gestaltung von „Gesundheitssystemen“ insgesamt, die es den Menschen erleichtert, die für sie relevanten Informationen zu finden, zu verstehen, zu bewerten und letztlich auf ihre eigene Situation anzuwenden, wird angesprochen (vgl. Parker 2009; Sørensen et al. 2012; Kickbusch et al. 2013, 2016). Empirische Forschung zeigt, dass Gesundheitskompetenz sowohl mit sozio-ökonomischen Faktoren als Determinanten als auch mit individuellen Gesundheitschancen als Konsequenzen der Gesundheitskompetenz korreliert (HLS-EU Konsortium 2012; Schaeffer und Pelikan 2017). Dieses Konzept wird daher zunehmend als Determinante, Mediator oder Moderator von Gesundheit, insbesondere auch bei chronisch Kranken (Schaeffer 2017), diskutiert. Neben klassischen Individuen-zentrierten Ansätzen zur Förderung der persönlichen Gesundheitskompetenz (Wissen, Fähigkeiten, Präferenzen) entwickelt sich in der Literatur zunehmend auch eine Diskussion zur organisationalen Gesundheitskompetenz, um die sogenannte „gesundheitskompetente Organisation“ oder die „für Gesundheitskompetenz sensible Organisation“. In diesem Diskurs werden Forderungen nach an Gesundheitskompetenz orientierter Gestaltung von Strukturen und Prozessen aufgestellt (z. B. Sicherstellung von Gesprächsqualität in Beratungsgesprächen, verständliche Gestaltung von Informationen in Broschüren und elektronischen Medien) bzw. wird dies als Qualitätsmerkmal begriffen (Brach et al. 2012; Kickbusch et al. 2013, 2016; Dietscher und Pelikan 2016a; Pelikan und Dietscher 2015). Diese in der Prävention nach der Phase der „Old Public Health“ teils verloren gegangene, zumindest aber in den Hintergrund gerückte Systemkomponente wird in der Gesundheitsförderung spätestens seit der Publikation der Ottawa-Charta der WHO (1986) wieder verstärkt propagiert – wir haben oben schon auf das Settings – Konzept verwiesen. In Settings des Alltags werden sowohl Faktoren, die direkt auf die Gesundheit einwirken (wie die Qualität von Luft, Wasser, Lebensmitteln oder Wohnumgebungen) als auch Faktoren, die individuelles gesundheitsrelevantes Handeln unterstützen (z. B. durch gesunde Menü-Auswahl in der Betriebskantine oder durch Anreize, mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren), als Ziel von gesundheitsfördernder Gestaltung adressiert. Die WHO spricht in diesem Zusammenhang in der Ottawa Charta von „make the healthy choice the easy choice“ (WHO EURO 1986). Gerade mit Hinblick auf gesunde Lebensstile scheinen Lebenswelt- und SystemAnsätze vielversprechender zu sein als Wissensvermittlung bzw. der Appell an die individuelle Verantwortung. So lässt sich etwa Rauchen weniger über das verbesserte Wissen Einzelner reduzieren, als vielmehr über Maßnahmen wie Werbeverbote, die Anhebung von Tabakpreisen oder die Einschränkung des Zugangs zu Tabakwaren (z. B. keine Zigaretten-Automaten im öffentlichen Raum) und öffentliche Rauchverbote. Kampagnen und Informationsmaßnahmen sind ohne derartige Begleitmaßnahmen kaum wirksam (WHO-Euro 2013b).

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Aber wird der/die Einzelne durch die Forderung nach einer Priorität der Gestaltung von Verhältnissen wieder aus dem gesundheitsförderlichen bzw. präventiven Spiel genommen? Nicht unbedingt, der Gesundheitsförderungsansatz scheint eher eine Balance zu verlangen: Der „healthy choice“, die Entscheidung für die „gesunde“ Option, muss von jedem/jeder Einzelnen immer wieder gefällt und tatsächlich gelebt werden. Gleichzeitig bringt Gesundheitsförderung aber die Forderung nach einer Situations-Gestaltung ein, die einen „easy healthy choice“ auch ermöglicht. Und nach der Definition der Ottawa-Charta der WHO (1986) bedeutet Gesundheitsförderung „the process of enabling people to increase control over, and to improve, their health“. Mit anderen Worten: Auch schon bei der Gestaltung der Lebenswelten ist Mitbestimmung und Mitwirkung durch die Betroffenen gefragt. Gesundheitsförderung zielt darauf ab, ihnen – als Mittel zur Verbesserung ihrer Gesundheit – mehr Kontrolle über ihre Lebensbedingungen zu geben. Das Schlüsselwort hierfür lautet „Ermächtigung“ bzw. „Empowerment“. Umgesetzt wird dieses Empowerment vor allem im Settings-Ansatz, z. B. in Ansätzen der Gemeinde- oder Nachbarschaftsentwicklung (z. B. Neugestaltung von Stadtvierteln unter Bürgerbeteiligung mit dem Ziel, die Lebensverhältnisse zu verbessern, Ownership und Zugehörigkeit zu stärken und damit Gesundheitschancen zu steigern), aber auch in der Gestaltung organisationaler Settings im engeren Sinn. Ein aus der Qualitätsbewegung stammendes Instrument, Betroffene in die Bewertung ihrer Lebenswelt einzubeziehen und aus dieser Bewertung Veränderungsmaßnahmen abzuleiten, ist der Gesundheitszirkel als Instrument zur partizipativen Definition von gesundheitsrelevanten Problemen und Lösungen. Und auch auf politischer Ebene wird BürgerInnenbeteiligung – etwa in Beiräten oder bei der Prüfung von Gesetzvorlagen – zunehmend etabliert. Soziologische Forschung zu diesem Thema, die über die Beschreibung von Grundkonzepten (häufig in eher normativer Form) und die Beschreibung von Einzelbeispielen hinausgeht, ist rar, obwohl das Konzept als zentral (vgl. Loss et al. 2016) und der Anspruch auch als nicht einfach zu realisieren gesehen wird.

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Fazit

Die soziologische Forschung bzw. Diskussion zu Gesundheitsförderung und Prävention ist einerseits durch eine starke Anwendungsorientierung, andererseits aber auch durch immer wieder artikulierte Gesellschafts- bzw. kulturkritische Perspektiven gekennzeichnet. „Im Zeichen von Prävention geschieht Humanstes wie Inhumanstes“, stellt Bröckling (2008) fest. Präventionismus oder auch Healthismus wird letztlich zum Feind von Vergnügen und Lust, sagt Ullrich (2010). Die immer stärkere Durchdringung aller Lebensbereiche mit Prävention – längst könnte man formulieren: „prevention sells“ – sollte nach dieser Perspektive nicht unkritisch hingenommen werden. Wenn man das ernst nimmt, sind gerade auch die Gesundheitswissenschaf-

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ten – und auch die Gesundheitssoziologie – aufgerufen, vorhandene Positionen kritisch zu reflektieren. Wenn neuerdings etwa Konzerne wie SPAR eigene Gesundheits-Apps auf den Markt bringen, um KonsumentInnen damit vordergründig zu gesünderem Verhalten zu animieren, sollte zumindest das Interesse an den durch solche Apps gewinnbaren Daten mitgesehen werden, die nicht zuletzt die Entwicklung geeigneter Vermarktungsstrategien für bestimmte Produkte unterstützen sollen. Insbesondere in den Möglichkeiten der medizinischen Sekundär-Prävention zur immer früheren Erfassung immer latenterer prä-klinischer Hinweise auf mögliche künftige Erkrankungen (derzeit aktuell etwa mit Hinblick auf Prä-Diabetes) zeigt sich eine dynamisierte Medikalisierungs-Tendenz, die letztlich darauf abzielt, alle Menschen zu PatientInnen zu machen: „Wer heute noch als gesund gilt, ist nur schlecht untersucht.“ Dabei locken präventive Ansätze mit dem Versprechen, dass, wer bereit ist, heute schon PatientIn (von Früherkennungsmaßnahmen) zu sein, spätere ernsthaftere Erkrankungen vermeiden oder doch zumindest hinauszögern bzw. ihre Folgen abmildern könne. Wer sich diesem Postulat nicht unterordnet, gilt leicht als irrational. Dabei sind aber die lebensverlängernden und Lebensqualität steigernden Wirkungen gerade auch mancher sekundärpräventiver Maßnahmen durchaus umstritten (Gigerenzer 2014; Ullrich 2010). Erst in jüngster Zeit wurde in Bezug auf die evidenzbasierte Medizin wieder auf den sogenannten „publication bias“ hingewiesen: Studien, die keine Wirknachweise für untersuchte Maßnahmen erbringen, haben eine geringere Chance publiziert zu werden, sodass in der verfügbaren medizinischen Fachliteratur – welche die Grundlage für evidenzbasierte Interventions-Entscheidungen bildet – Studien mit positiven Wirknachweisen tendenziell überrepräsentiert sind. Die Weltgesundheitsorganisation fordert entsprechend, dass auch ergebnislose Studien veröffentlicht werden müssen, damit in Zukunft verbesserte Entscheidungsgrundlagen zur Verfügung stehen, da ansonsten das Risiko für mehr gesellschaftlichen Schaden als Nutzen besteht. Wie hoch darf der Preis für zukünftig erwartbare Gesundheit sein, könnte man abschließend fragen, oder auch: wie viel Zukunftsorientierung verträgt eine qualitätsvolle Gegenwart? Denn: Im besten Fall kann Prävention Aufschub gewähren, denn so oder so – „in the long run, we are all dead“ (Keynes 1923). Weiterführender Forschungsbedarf Wie wir in diesem Beitrag gezeigt haben, ist das Feld der Soziologie der Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention umfangreich und vielfältig. Weiterführenden Forschungsbedarf können wir daher nur exemplarisch aufzeigen. Wir wollen dies für einige Fragestellungen im Bereich der Setting-spezifischen Gesundheitsförderung und ausgewählt für die Settings Krankenhaus und Schule und vor allem für die „Soziologie in der Gesundheitsförderung bzw. Prävention“ tun. Für beide Settings kann gesagt werden, dass die Implementierung bislang hinter den Hoffnungen und Möglichkeiten zurückgeblieben ist. Nach einem Hype um die Setting-spezifische Gesundheitsförderung in den 1990er-Jahren scheint der Ansatz, nicht zuletzt aufgrund seiner hohen Komplexität und der damit zusammenhängenden Schwierigkeiten umfassender, konkreter Wirknachweise, seit einigen Jahren ein

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zunehmendes Schatten-Dasein zu führen. Zielgruppen- und themenspezifische Programme mit enger spezifischer Zielsetzung und damit klarer Wirkungserwartung (z. B. zur Adipositas-Prävention im Kontext der schulischen Gesundheitsförderung) scheinen hingegen eher dem Zeitgeist zu entsprechen. Entsprechend untersuchen viele Forschungsarbeiten vor allem die Gesundheitsergebnisse der Setting-bezogenen Gesundheitsförderung. So gibt etwa ein aktueller Cochrane Review zum WHO-Ansatz Gesundheitsfördernder Schulen einen Überblick darüber, was über die Wirkung der schulischen Gesundheitsförderung auf den Body Mass Index, auf Ernährungs- und Bewegungsverhalten und körperliche Fitness, auf Rauchen und Alkoholkonsum bekannt ist. Eine andere Gruppe von Studien legt den Fokus auf Organisationsentwicklung und Implementierungsfragen, wie dies bei vielen Arbeiten zu Gesundheitsfördernden Krankenhäusern der Fall ist (vgl. z. B. Dietscher et al. 2014). Insgesamt spielen komplexere Evaluationskonzepte wie jenes von Nutbeam (1998) oder das Schweizer Ergebnismodell (Spencer et al. 2008), die mit Ketten von (Zwischen-)Ergebnissen arbeiten, die über verschiedene Implementierungsstufen und die Beeinflussung von Determinanten und intermediären Ergebnissen erst am Ende der Wirkkette zu mehr Gesundheit führen, in der Setting-Forschung eine zu geringe Rolle. Dadurch geht jedoch die verfügbare Evidenz am Bedarf vorbei: Denn Studien legen nahe, dass sich die Motivation für Gesundheitsförderung insbesondere außerhalb des Gesundheitssystems und vor allem unter Bedingungen von Freiwilligkeit meist aus der Erwartung an sogenannte „co-benefits“ – sinngemäß „erwünschte Nebeneffekte“ – in Bezug auf Kernfunktionen des Settings speist. Die erzielten Gesundheitseffekte zählen dann gar nicht zu den Hauptgründen für die Implementierung von Gesundheitsförderung (Delaney et al. 2015). Zu den Co-Benefits zählen am Beispiel Schule etwa Wirkungen auf Schulentwicklung und Schulqualität, Zufriedenheit und Leistungsfähigkeit von LehrerInnen und SchülerInnen, Image und Profilbildung von Gesundheitsfördernden Schulen, Einflüsse von Gesundheitsförderung auf die Auswahl von Unterrichtsmethoden und deren Zusammenhang mit Schulerfolg oder ein Wettbewerbsvorteil bei der Akquise von SchülerInnen. Daher sollten, um Gesundheitsförderung Setting-spezifisch voranzubringen, gerade jene Bedingungen, unter denen solche Co-Benefits erzielt werden können, vermehrt in den Forschungs-Fokus genommen werden. Denn Argumente aus der Wissenschaft, wonach die durch Gesundheitsförderung erzielbare Gesundheit verschiedenen Sektoren, u. a. auch dem Bildungssektor hilft, ihre primären Ziele – im Fall der Schule gute Bildungsergebnisse – besser zu erreichen („healthy children achieve better educational outcomes“, Langford et al. 2015), scheinen für die Implementierung in der Praxis kaum ausreichend bedeutsam zu sein. Ein weiteres Problem ist, dass Forschung und Implementierung des SettingAnsatzes zumindest im deutschsprachigen Raum bislang eher die Ebene von Organisationen und weniger die Ebene von Funktionssystemen, insbesondere der Politik, umfasst haben. Nachhaltige Veränderungen in Richtung der Implementierung gesundheitsfördernder Settings scheinen jedoch vor allem dort gelungen zu sein, wo die

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Verschränkung beider Ebenen geglückt ist. So sind beispielsweise Schulen in Schottland durch öffentliche Verwaltung zur Gesundheitsförderung verpflichtet und die Umsetzung wird auch überprüft (McIsaac et al. 2016). Daher sollte sich die Forschung vermehrt mit der Frage beschäftigen, wie eine Unterstützung auf Systemebene gelingen kann und welche Rolle dabei z. B. auch Netzwerke im Setting-Ansatz der Gesundheitsförderung spielen können, die ja das Potenzial haben, in beide Richtungen – Organisationen und beteiligte Funktionssysteme – wirksam zu werden (vgl. Dietscher 2013). Damit das Forschungswissen schließlich auch in der Praxis ankommt, sollten darüber hinaus Fragen des Wissens-Transfers sowohl in Richtung der Politik, die durch legistische Bestimmungen und die Regulierung von Finanzströmen auch die Rahmenbedingungen für Gesundheitsförderung in Settings bestimmt, als auch zu den in den Settings tätigen Berufsgruppen – etwa im Wege der Ausbildung – aufgegriffen werden. Und nicht zuletzt wäre von Interesse, wie ein Wissenstransfer in Richtung breiterer Öffentlichkeit – um die Nachfrage nach Gesundheitsförderung durch die BürgerInnen zu fördern – gelingen kann. Vergleichende Forschungen im Bereich der Setting-orientierten Gesundheitsförderung stoßen insofern an Grenzen, als die Sektoren, innerhalb derer organisationale Settings operieren, von Land zu Land unterschiedlich aufgebaut sind. Entsprechend kann eine Funktionsweise oder eine Intervention, die in einem Land Erfolg hat, für die Bedingungen in einem anderen Land völlig ungeeignet sein. Daher finden sich zu Fragen der Implementierung viele Studien auf nationaler oder regionaler Ebene (z. B. Pearson et al. 2015) und weniger international vergleichende Forschung, die allgemeine Bedingungen für Gelingen identifiziert. Abschließen sei angemerkt, dass hinsichtlich einer Soziologie der Gesundheitsförderung und Prävention natürlich die Veränderung des Forschungsgegenstandes im Zuge gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen von beständiger Aktualität bleibt und entsprechend nachverfolgt und kontinuierlich begleitet werden muss – auch wenn der Igel der Reflexion das Rennen nicht gewinnen kann!

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Soziale Ungleichverteilungen von Gesundheit und Krankheit und ihre Erklärungen Schulbildung, Einkommen und Beruf Siegfried Geyer

Inhalt 1 2 3 4 5

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maße von Krankheit und gesundheitlicher Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitliche Ungleichheiten bei spezifischen Erkrankungen und Beschwerden . . . . . . Soziale Differenzierung in Studien zu gesundheitlichen Ungleichheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Situationsspezifische und dauerhafte Effekte der Sozialstruktur auf Krankheitsrisiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Soziale Mobilität und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

170 171 172 177 181 182 185 186

Zusammenfassung

Es werden gesundheitliche Ungleichheiten entlang der am häufigsten verwendeten Indikatoren Schulbildung, Beruf, Einkommen und Vermögen beschrieben. Anhand von Studienergebnissen wird gezeigt, dass gesundheitliche Ungleichheiten von wenigen Ausnahmen abgesehen bei den am häufigsten auftretenden Erkrankungen gefunden wurden, und dass sie über die gesamte Lebensspanne vorkommen. Soziale Deprivation im frühen Kindesalter kann mit bleibenden Benachteiligungen und verringerten Lebenschancen einhergehen. Insbesondere psychische Erkrankungen können zu sozialen Abstiegen führen. Intergenerationale soziale Mobilität führt zu einer Angleichung von Krankheitsrisiken an die Muster der Ankunftsgruppe. Schlüsselwörter

Schulbildung · Einkommen · Berufliche Position · Vermögen · Erkrankungen Gesundheit S. Geyer (*) Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Kriwy, M. Jungbauer-Gans (Hrsg.), Handbuch Gesundheitssoziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06392-4_12

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1

S. Geyer

Einleitung

Soziale Ungleichverteilungen von Gesundheit und Krankheit sind ungeplante Nebeneffekte der Art und Weise, wie soziales Leben, Herrschaft und Wirtschaft organisiert sind und wie Lebensweisen willentlich oder unwillentlich ausgestaltet sind. Sie manifestieren sich darin, dass Risiken für Erkrankungen oder gesundheitliche Beschwerden und die Position auf einer sozialen Skala in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis stehen. Gesundheitliche Unterschiede manifestieren sich dabei nicht zwischen der jeweils untersten Gruppe (z. B. nach Einkommen) und den verbleibenden Gruppen, stattdessen unterscheiden sie sich graduell. In der Literatur wird daher vom „sozialen Gradienten“ gesprochen. Soziale Unterschiede wurden für die am häufigsten auftretenden Erkrankungen berichtet, z. B. für Herz-Kreislaufkrankheiten, Diabetes Typ 2, Krebserkrankungen, psychische Erkrankungen wie Depression und Angsterkrankungen, aber auch für Beeinträchtigungen alltäglicher Funktionen. Es gibt kaum Ausnahmen von diesem allgemeinen Muster (Erikson und Torssander 2008). Es handelt sich dabei nicht um ein neues Thema, denn bereits im 17. Jahrhundert wurde berichtet, dass sich die Lebenserwartung von Armen und Reichen zu Gunsten der letzteren unterscheidet (Chateauneuf 1830). Im Jahr 1913 erschien ein von zwei deutschen Autoren (Mosse und Tugendreich 1913) herausgegebener Band, der das Wissen der damaligen Zeit zusammenfasste und darüber hinaus Empfehlungen zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheiten enthielt. Das Interesse an gesundheitlichen Ungleichheiten erwachte später erneut nach der Veröffentlichung des BlackReports in Großbritannien (Davey Smith et al. 1990), der eine kaum überschaubare Zahl von Forschungsarbeiten inspirierte (Mielck 2000; Braveman 2006). Die ersten Arbeiten waren deskriptiv und auf die Beschreibung gesundheitlicher Ungleichheiten von Mortalität, Erkrankungen und Beschwerden orientiert, in der Folgezeit waren Studien auch darauf ausgerichtet, Erklärungen zu finden und internationale Vergleiche durchzuführen. In den letzten Jahren haben sich die Schwerpunkte der Forschung in zwei Bereiche fortentwickelt: Durch die zunehmende Verfügbarkeit von Langzeitdaten rückten Fragestellungen zu zeitlichen Veränderungen sowie zur Variabilität und Stabilität gesundheitlicher Ungleichheiten in den Blick, und mit der Entwicklung der Lebenslaufforschung wurden Fragen nach den gesundheitlichen Auswirkungen kumulativer Benachteiligung sowie nach den frühkindlichen Ursachen gesundheitlicher Ungleichheiten gestellt. Insbesondere Forschung, die sich mit den Auswirkungen sozialer Einflüsse unmittelbar vor und nach der Geburt beschäftigt, integriert soziologische, psychologische und biologische Faktoren (Hertzman und Boyce 2010) und erfordert eine interdisziplinäre Anlage der Forschung. Wenn man versucht, die bisher vorliegenden Befunde zusammenzufassen, kann man sie in einer gewissen Vereinfachung in den folgenden sechs Aussagen formulieren: Die niedrigsten Einkommen, die niedrigsten Qualifikationsniveaus und die untersten beruflichen Positionen sind mit den höchsten Erkrankungsrisiken assoziiert. Dies gilt sowohl für Frauen als auch für Männer.

Soziale Ungleichverteilungen von Gesundheit und Krankheit und ihre. . .

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Gesundheitliche Ungleichheiten sind kein Phänomen, das zwischen den untersten Positionen und den darüber liegenden trennt, stattdessen nehmen sie graduell zu. Gesundheitliche Ungleichheiten treten über die gesamte Lebensspanne auf, also von der Geburt bis ins hohe Lebensalter. Die sozialen Gradienten werden jedoch nach dem Übergang in den Ruhestand schwächer und sind weniger konsistent. Gesundheitliche Ungleichheiten manifestieren sich an der Sterblichkeit und an fast allen Erkrankungen, körperlichen sowie psychischen und ebenso an Beschwerden wie auch an Behinderungen. Gesundheitliche Ungleichheiten verändern sich in Abhängigkeit von ökonomischen Rahmenbedingungen, beim Auftreten wirtschaftlicher und sozialer Krisen sowie in Zeiten beschleunigten sozialen Wandels. Gesundheitliche Ungleichheiten treten in allen Ländern auf, für die bisher Daten vorliegen. In diesem Kapitel werden die obigen Aussagen spezifischer gefasst. Anhand ausgewählter Literatur werden die Zusammenhänge zwischen Merkmalen sozialer Differenzierung und Gesundheit beschrieben. Die vorgenommene Literaturauswahl ist im Hinblick auf die Ergebnisse eher repräsentativ als vollständig, da die Zahl der Publikationen kaum zu überblicken ist. Zunächst werden die in Studien zu gesundheitlichen Ungleichheiten verwendeten Indikatoren für Gesundheit und Krankheit sowie die am häufigsten verwendeten Indikatoren sozialer Differenzierung betrachtet. Anhand von Befunden zu den am häufigsten auftretenden Erkrankungen werden die Ausprägungen gesundheitlicher Ungleichheit dargestellt. Dabei werden Ergebnisse zur subjektiven Gesundheit ausgeklammert, da sie in einem eigenen Kapitel behandelt werden. In zwei weiteren Abschnitten wird untersucht, unter welchen Bedingungen die Effekte sozialer Differenzierung dauerhaft sind und unter welchen Bedingungen sie situationsspezifisch bleiben. In Erweiterung dieser Thematik wird die Bedeutung sozialer Mobilität für Gesundheit und Krankheit erörtert, im Schlussabschnitt wird ein kurzer Ausblick auf die kommenden Entwicklungsrichtungen gesundheitlicher Ungleichheit gegeben.

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Maße von Krankheit und gesundheitlicher Beeinträchtigung

Die in Studien zu gesundheitlichen Ungleichheiten verwendeten Maße gesundheitliche Beeinträchtigung oder Erkrankung sind in ihrem Gehalt unterschiedlich spezifisch; es können relativ gut zu diagnostizierende Erkrankungen wie Herzinfarkt, Diabetes Typ 2 oder diverse Krebskrankheiten untersucht werden. Dies können ärztliche Diagnosen sein, die unabhängig von den betroffenen Personen erhoben werden, wie z. B. in Studien, die auf der Verwendung von Krankenversicherungsdaten basieren (Geyer 2008c). Sie haben den Vorteil, dass Interpretationsspielräume und Fehlerquoten relativ gering sind. Eine Alternative ist die Erfassung von Erkrankungen und Beschwerden über Befragungen, wie es in Surveys praktiziert wird. In Gesundheitsstudien haben Befragungsdaten den Nachteil, dass die Bereitschaft zur Teilnahme mit dem Grad der gesundheitlichen Beeinträchtigung abnimmt (Heilbrun

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S. Geyer

et al. 1991; Hoffmann et al. 2004). Im Endergebnis werden soziale Gradienten unterschätzt, und der Gesundheitszustand der Bevölkerung wird als positiver eingeschätzt als es tatsächlich der Fall ist. Auch hier treten Probleme der korrekten Datierung und des Vergessens auf, was die Präzision der Messung beeinträchtigt. Surveydaten haben jedoch auch deutliche Vorteile, denn Befragungen ermöglichen es, Krankheiten und Beschwerden zu erfassen, die nicht über eine Krankenversicherung abrechenbar sind und daher nicht erfasst werden. Sie sind jedoch für die Bewältigung des Alltags und für das Wohlbefinden von wesentlicher Bedeutung. Gängige empirische Maße sind die ADL- oder IADL-Skalen (Chan et al. 2012), die Beeinträchtigungen alltäglicher Verrichtungen, wie z. B. Einkaufen, Anziehen oder Körperpflege abbilden. Ein sehr großer Teil der Studien zu gesundheitlichen Ungleichheiten basiert auf der Messung der subjektiv eingeschätzten Gesundheit über die Verwendung einer einzigen Frage und einem fünfstufigen Antwortformat, wie es z. B. im Sozio-Ökonomischen Panel (Schupp 2005) und in den DEGS-Studien (Kurth 2009) der Fall ist. Der Vorteil dieses Indikators liegt in der leichten Messung. Üblicherweise liegen für jeden Skalenpunkt ausreichende Fallzahlen vor, was in Surveys selbst für relativ häufig auftretende Erkrankungen nicht immer der Fall ist. Subjektive Gesundheit ist jedoch nicht einfach interpretierbar, denn es handelt sich um einen unspezifischen Indikator, dessen latenter Gehalt Gegenstand wissenschaftlicher Diskussionen ist (Jylhä 2009; Kaplan und Baron-Epel 2003; Steptoe et al. 2015). So variiert die subjektive Gesundheit stark mit dem Alter, jedoch nicht in linearer Weise. Sie korreliert mit Ausnahme sehr schwerer akuter Krankheiten nur moderat mit manifesten Erkrankungen und ist stark vom Auftreten sozialer Belastungen sowie vom Erfolg der Bewältigung von Schwierigkeiten und Problemen abhängig (siehe dazu auch das Kapitel von Johann Carstensen zu „self-rated health“). Das in der Literatur oft angeführte Argument für die Verwendung subjektiver Gesundheit ist der Zusammenhang mit Mortalität. Er wurde in einer Vielzahl von Studien aus verschiedenen Kulturen berichtet und bleibt auch dann noch erhalten, wenn für manifeste Erkrankungen kontrolliert wurde. Trotz dieser gut replizierbaren Befunde sind die Zusammenhänge bislang nicht gut geklärt, und Jylhä (2009) begründet dies mit unspezifischen Wahrnehmungen körperlicher Beschwerden.

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Gesundheitliche Ungleichheiten bei spezifischen Erkrankungen und Beschwerden

Zahngesundheit wird in Studien zu gesundheitlichen Ungleichheiten eher selten behandelt, Zahnkaries als eines der zentralen Themen kann jedoch durch individuelles Verhalten und Prävention beeinflusst werden. Zudem lassen sich starke Unterschiede nach Alters- und Generationenkohorten feststellen, die sich durch das über Jahrzehnte verbesserte Gesundheitsbewusstsein, verbesserte Mundhygiene und durch die verbesserte zahnmedizinische Prophylaxe ergeben. Als Konsequenz verbesserte sich von einer Generation zur nächsten die Mundgesundheit. Da es hier um die Anwendung von präventivem Wissen geht, sollten die Effekte der Bildung im Vergleich zu Beruf

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und Einkommen stärker ausgeprägt sein, und es stellt sich die Frage, ob sich vorhandene soziale Unterschiede über die Zeit hinweg verringern. Das in der zahnmedizinischen Sozialepidemiologie am häufigsten verwendete Maß ist der DMFT-Index (Decayed, Missed and Filled Teeth), der sich aus der Addition der kariös beschädigten, fehlenden, und plombierten Zähne ergibt. Ebenfalls von epidemiologischer Bedeutung ist Parodontitis, eine bakteriell ausgelöste Entzündung des Zahnhalteapparats. In einer finnischen Studie aus dem Jahr 2000 an Männern und Frauen oberhalb des 30. Lebensjahrs wurden die erwähnten sozialen Unterschiede nach Bildung berichtet, ebenfalls fanden sich deutliche Effekte sozialer Aufwärts- und Abwärtsmobilität (Bernabé et al. 2011). In einer koreanischen Studie wurden ebenfalls soziale Unterschiede des DMFT untersucht. Die erwarteten sozialen Unterschiede wurden gefunden, jedoch gab es einen starken Kontexteffekt. Zusätzlich zu Sozialindikatoren wurde nach Regionen getrennt, in denen das Trinkwasser fluoridiert wurde und nach solchen, deren Wasser kein Fluorid enthielt. Es zeigte sich, dass die sozialen Unterschiede in den Regionen mit Fluoridierung verschwunden waren (Cho et al. 2014). Präventive Effekte der Fluoridierung auf Ungleichheiten bei der Zahngesundheit wurden ebenfalls für Großbritannien berichtet (Drugan und Downer 2011). Deutliche soziale Unterschiede sowie die Bedeutung einer zahnmedizinischen Versorgung mit niedrigen Zugangsbarrieren zeigten sich insbesondere für die USA (Edelstein 2002; Edelstein und Chinn 2011), wo sich Unterschiede insbesondere in Abhängigkeit vom Einkommen manifestierten. Für Deutschland wurden in den seit 1989 durchgeführten Deutschen Mundgesundheitsstudien konsistent soziale Gradienten berichtet (Micheelis und Bauch 1991; Micheelis und Reich 1999; Micheelis und Schiffner 2006). Für die vierte Mundgesundheitsstudie fanden sich ebenfalls deutliche Unterschiede, und in multivariaten Analysen wurden Effekte der erhobenen Indikatoren sozialer Differenzierung untersucht. Sowohl für Einkommen als auch für Bildung wurden deutliche soziale Gradienten gefunden. Das Odds Ratio für die niedrigste im Vergleich zur höchsten Bildungskategorie betrug OR ¼ 3,7. Das entsprechende Risiko für Einkommen lag bei OR ¼ 3,8 und es zeigte sich ein deutlicher Kumulationseffekt von OR ¼ 6,1 (Geyer et al. 2010). Eine mögliche Verbindung zwischen sozialer Lage und Morbidität sind Muster der Inanspruchnahme. In den deutschen Mundgesundheitsstudien der Jahre 1989, 1997 und 2005 wurden die Effekte des Einkommens über die Zeit hinweg deutlich schwächer, während die Effekte der Schulbildung stärker wurden (Geyer und Micheelis 2012). Diese Befunde können als Belege für die zunehmende Bedeutung von Kenntnissen und Fähigkeiten für die Umsetzung in aktives Handeln interpretiert werden. Diabetes Typ 2 hat ebenfalls eine starke Verhaltenskomponente, denn die Hauptrisikofaktoren für den Ausbruch sind Ernährung, davon abhängig Übergewicht und Bewegungsverhalten. Gesundheitliche Ungleichheiten sind für diese Erkrankung deshalb gut dokumentiert (Imkampe und Gulliford 2011). Eine spanische Studie zur langzeitlichen Entwicklung von Diabetes Typ 2 kam zu dem Schluss, dass sich die sozialen Ungleichheiten vor dem Hintergrund größer werdender Lebensstildifferenziale über die Zeit vergrößert haben (Espelt et al. 2012); eine kanadische Studie

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kam für die Jahre 2004 bis 2012 zu den gleichen Schlussfolgerungen (Brown et al. 2015). Die Vergrößerung sozialer Gradienten ging in erster Linie zu Lasten von Frauen. Für die USA (Lidfeldt et al. 2007) sowie für acht europäische Länder wurden in der EPIC-Studie deutliche soziale Gradienten berichtet (Sacerdote et al. 2012), die auch bei Kontrolle von Bewegung und Ernährung erhalten blieben. Auf der Grundlage von Routinedaten einer Krankenversicherung wurden die Effekte der drei Indikatoren sozialer Differenzierung in einer multivariaten Analyse geschätzt. Das Risiko eines Diabetes Typ 2 bei Individuen in der niedrigsten Bildungskategorie war im Vergleich zu Individuen in der höchsten um das 4,9-fache höher. Bei der Analyse beruflicher Position war das Risiko in der untersten Positionsgruppe um das 1,6-fache erhöht, die entsprechende Analyse für Einkommen erbrachte ein 0,3-fach erhöhtes Risiko (Geyer et al. 2006). In diese Studie wurden nur die Daten medikamentös behandelter Patientinnen und Patienten einbezogen. Bei Einschluss aller, also auch diätetisch behandelter Männer und Frauen mit Diabetes Typ 2, sollten die sozialen Gradienten unterschiedlich ausfallen. Bei Ehepaaren war das Diabetesrisiko dann erhöht, wenn der Partner oder die Partnerin bereits erkrankt war (Leong et al. 2014). Der Zusammenhang wurde über gemeinsame Lebensstile und Gewohnheiten vermittelt (Astrup 2012), die insbesondere mit Unterschieden in der Verfügung über ökonomische Ressourcen assoziiert sind. Menschen mit niedrigem Einkommen wenden aus ökonomischen Gründen weniger Geld für die Ernährung auf, und sie konsumieren häufiger energiereiche Kost. Ein hoher Bildungsstand ist dagegen mit dem Verbrauch größerer Anteile an Gemüse und Obst verbunden; dieser Konsum ist wiederum vergleichsweise teuer (Alkerwi et al. 2015). In einer eigenen Studie mit Krankenversicherungsdaten wurden die Risiken für Diabetes Typ 2 bei Beschäftigten und bei familienversicherten Partnerinnen und Partnern verglichen (Muschik et al. 2015). Als Indikator der sozialen Position wurde das Einkommen verwendet. Es zeigte sich, dass sich die sozialen Gradienten der Hauptversicherten bei den mitversicherten Partnerinnen und Partnern reproduzieren ließen, jedoch waren deren Risiken durchweg höher als bei den Hauptversicherten. Es muss offen bleiben, ob hier Selektionseffekte (gesundheitlich beeinträchtigte Partnerinnen oder Partner tendieren eher dazu, nicht berufstätig zu sein) wirksam waren, oder ob Unterschiede durch soziale Ursachen erklärt werden können. Auch für Diabetes gibt es Belege dafür, dass Zusammenhänge zwischen sozialer Lage und Diabetes über Belastungen vermittelt werden, denn die Risiken für einen Erkrankungsausbruch waren auch beim Auftreten chronischer und akuter Belastungen sowie bei Traumata und psychischen Beschwerden erhöht (Kelly und Ismail 2015). Auf Herz- Kreislaufkrankheiten entfallen in Deutschland und in vielen wohlhabenden Ländern die höchsten Morbiditäts- und Mortalitätsraten. Sie sind stark von gesundheitsbezogenen Verhaltensweisen sowie von beruflichen und sozialen Belastungen abhängig. Die Befunde zu gesundheitlichen Ungleichheiten sind auch vor dem Hintergrund einer langzeitlichen Abnahme kardiovaskulärer Erkrankungen zu interpretieren. Diese Entwicklung begann in Westeuropa früher und verlief kontinuierlicher als in Osteuropa (Helis et al. 2011), wo nach dem Zusammenbruch des Kommunismus die

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Morbiditätsraten deutlich anstiegen. Dies führte zu einer Vergrößerung der Unterschiede zwischen den westlichen und den östlichen Teilen Europas. Für Deutschland wurden gesundheitliche Ungleichheiten bei kardiovaskulären Erkrankungen erstmals im Rahmen der Herz-Kreislaufpräventionsstudie berichtet (Helmert et al. 1989). Unter Verwendung von Krankenversicherungsdaten wurden für die Jahre 1987 bis 1996 soziale Ungleichheiten bei Herzinfarkt gefunden (Geyer et al. 2006). Bei Männern und Frauen im Alter zwischen 25 und 64 Jahren gab es deutliche soziale Gradienten für berufliche Position und Schulbildung, aber eher moderate Unterschiede für Einkommen. In einer schwedischen Prospektivstudie an Frauen wurden ebenfalls deutliche Unterschiede bei kardiovaskulären Erkrankungen nach Schulbildung berichtet (Cabrera et al. 2005). Kardiovaskuläre Erkrankungen sind für die sozialepidemiologische Forschung relevant, weil ihre Genese multifaktoriell bedingt ist und weil sich die Risiken über den Lebensverlauf kumulieren. Soziale Belastungen sollten insbesondere in Gestalt chronischer Stressoren in der Arbeitswelt bestimmt werden (Dragano 2007). Die sozialen Gradienten sollten nach beruflicher Position stark ausgeprägt sein, vergleichende Analysen haben jedoch gezeigt, dass dies nicht zutrifft. In Studien hatte die berufliche Position für die Ausbildung kardiovaskulärer Risiken zwar starke Effekte, die jedoch nicht höher waren als die der Schulbildung. Das weiteres Erklärungsmuster basiert auf kumulativen Effekten, deren Beginn im Kindes- und Jugendalter zu suchen sind. Dies bedeutet, dass sich die Auswirkungen zeitgleich auftretender Faktoren und Einflüsse über den Lebensverlauf hinweg aufsummieren. Demnach bilden sich früh in der individuellen Entwicklung gesundheitsrelevante Verhaltensmuster heraus, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden. In einer australischen Studie wurde dies im Rahmen einer nationalen Studie an Jugendlichen untersucht (Lawlor et al. 2005). Es zeigte sich, dass Rauchverhalten, Bewegungsarmut, exzessiver Fernsehkonsum und Übergewicht sozialstrukturelle Häufungen aufwiesen. Dominant war die Kombination von niedrigen Einkommen und ungünstigen sozioökonomischen Rahmenbedingungen, die nur geringe Chancen für Veränderungen boten. In dieser Studie wurden kardiovaskuläre Risikofaktoren untersucht, jedoch nicht deren langzeitliche Auswirkungen auf manifeste Endpunkterkrankungen. In einer finnischen Prospektivstudie mit 477 Männern und 612 Frauen (Pulkki-Raback et al. 2015) wurde ein Beobachtungszeitraum von 27 Jahren vom Jugend- bis ins Erwachsenenalter abgedeckt. Die Respondenten waren bei Studienbeginn durchschnittlich 10 Jahre und zum Zeitpunkt der Endpunktmessung im Mittel 37 Jahre alt. Neben sozioökonomischen Faktoren (Berufsposition, Bildungsabschlüsse, Familieneinkommen und berufliche Stabilität) wurden gesundheitsrelevante Verhaltensweisen, der Eltern Lebensbedingungen, Ernährungsmuster, gesundheitliche Beeinträchtigungen, akute und chronische Belastungen sowie psychologische Maße erfasst. Die stärksten Prädiktoren für kardiovaskuläre Gesundheit waren eine gesundheitsförderliche Umgebung und das selbstregulatorische Verhalten der Studienteilnehmerinnen und Teilnehmer. Psychosoziale Faktoren hatten additive Effekte, d. h. bei der kardiovaskulären Prävention geht es nicht um die Beeinflussung eines einzelnen dominanten Einflussfaktors, sondern um eine grö-

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ßere Zahl von Veränderungen, die sich dann in entsprechender Weise in der Veränderung kardiovaskulärer Risiken niederschlagen. Für Krebserkrankungen liegen nur wenige Befunde vor. Die meisten stammen aus skandinavischen Registerstudien, die nur wenige Merkmale sozialer Differenzierung enthalten. Die Ergebnisse sind in Abhängigkeit von der betrachteten Erkrankung nicht einheitlich, denn soziale Gradienten wurden konsistent nur bei Erkrankungen gefunden, die durch Verhalten beeinflusst werden können. Dies trifft für Lungenkrebs zu, da dessen Hauptrisikofaktor das Rauchen ist. In einer dänischen Registerstudie lagen die Daten für Schulbildung und Berufsausbildung gruppiert vor. Es zeigten sich für Lungenkrebs im Vergleich zu den anderen betrachteten Krebsarten (Brustkrebs und Malignome des Verdauungstrakts) die am stärksten ausgeprägten sozialen Gradienten mit HR ¼ 0,52 für das höchste im Vergleich zum niedrigsten Bildungsniveau (Søndergaard et al. 2013). In einer kanadischen Zensusstudie an Männern und Frauen oberhalb des 25. Lebensjahrs wurden für beide Geschlechter soziale Gradienten zu Ungunsten der untersten Positionen der Verteilungen von Einkommen, Beruf und Schulbildung gefunden. Die stärksten Unterschiede zeigten sich für die berufliche Position. Die Risiken von Männern in Un- und Angelerntenpositionen waren im Vergleich zu den obersten Rängen um 450 % erhöht, bei Frauen war das relative Risiko um 180 % erhöht. Die sozialen Gradienten nahmen mit zunehmendem Alter ab, sie waren jedoch bis in die Altersgruppe oberhalb des 80. Lebensjahrs noch immer statistisch signifikant (Mitra et al. 2015). In einer amerikanischen Studie (Edwards et al. 2014) zeigten sich für Einkommen und Schulbildung ausgeprägte soziale Unterschiede. In einer deutschen Studie wurden für Einkommen und für berufliche Position ebenfalls deutliche soziale Gradienten gefunden (Geyer 2008b). Für Krebserkrankungen des Magen-Darmtrakts wurden ebenfalls soziale Gradienten nach dem bekannten Muster berichtet. In einer dänischen Registerstudie fanden sich Unterschiede, die jedoch schwach und trotz großer Fallzahlen nicht statistisch signifikant waren (Søndergaard et al. 2013). Ähnlich unklare Befunde wurden in einer weiteren dänischen Untersuchung für die Jahre 1994 bis 2003 gefunden (Baastrup et al. 2008). In einer regionalen Studie mit deutschen Krankenversicherungsdaten zeigten sich erhebliche soziale Unterschiede im Auftreten von Magenkarzinom sowohl für Einkommen als auch für berufliche Position (Geyer 2008b). Eine finnische Studie fand ebenfalls erhebliche soziale Unterschiede für Magenkrebs, die vor dem Hintergrund insgesamt sinkender Raten in der Bevölkerung zwischen 1971 und 1995 zu beurteilen sind (Weiderpass und Pukkala 2006). Brustkrebs ist eine der wenigen Ausnahmen in der Forschung zu gesundheitlichen Ungleichheiten. In der bereits erwähnten Studie mit Krankenversicherungsdaten (Geyer 2008b) fanden sich keine sozialen Gradienten, das Gleiche gilt für eine registerbasierte Studie aus Dänemark (Søndergaard et al. 2013). Die Befunde der internationalen Literatur sind uneinheitlich. Einige Studien erbrachten Evidenz dafür, dass Brustkrebs häufiger bei Frauen aus mittleren und höheren sozialen Positionen auftritt (Faggiano et al. 1997), für Frankreich wurde berichtet, das die beschriebenen sozialen Disparitäten nach Bildung zwischen 1986 bis 1996 langsam verschwanden

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(Menvielle et al. 2006). Sofern soziale Unterschiede gefunden wurden, waren sie gering, was eher für eine geringe Rolle sozialer und psychischer Faktoren spricht.

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Soziale Differenzierung in Studien zu gesundheitlichen Ungleichheiten

Soziale Differenzierungen werden über Schulbildung, berufliche Position und über die materielle Lage abgebildet, wobei letztere nicht nur über Einkommen, sondern auch über Vermögen operationalisiert wird. Bei der Betrachtung aller Indikatoren sollte deutlich werden, dass es sich dabei nicht um unterschiedliche Manifestationen der gleichen Dimension handelt (Mirowsky und Ross 2003; Braveman et al. 2005), sondern dass jeder Indikator einen eigenen latenten Gehalt aufweist, also jeweils Unterschiedliches misst. Die Indikatoren sind daher nicht gegeneinander austauschbar. Schulbildung wird von Mirowsky und Ross (Mirowsky und Ross 2003) als gelernte Wirksamkeit („learned effectiveness“, S. 26 f.) bezeichnet, also als Indikator für Ressourcen, die es ermöglichen, das eigene Leben zu bestimmen und Kontrolle darüber ausüben zu können. Dies beinhaltet die Aneignung von Wissen und Handlungsstrategien, um eigene Ziele durch planvolles Handeln zu erreichen sowie die daraus resultierende Flexibilität in der Wahl der Mittel, um auch beim Auftreten unerwarteter Hindernisse nicht aufgeben zu müssen. Das Wissen über gesundheitsbezogene Lebensweisen gehört in diesen Kontext. In empirischen Studien hat sich gezeigt, dass die wesentlichen gesundheitsbezogenen Lebensweisen ebenso wie manifeste Erkrankungen soziale Gradienten aufweisen, z. B. Nikotinkonsum (Kuntz und Lampert 2015; Pförtner et al. 2016), die Häufigkeit von Bewegung und Sport (Elgar et al. 2015) sowie soziale Ungleichheiten im Ernährungsverhalten (Fekete und Weyers 2016). In dem Ausmaß, in dem Gesunderhaltung und Prävention individuelle Verhaltensanpassungen erfordern, steigt die Bedeutung des Wissens, und Unterschiede nach Schulbildung nehmen zu. Empirisch lässt sich dies z. B. bei der zahnmedizinischen Vorsorge (Geyer und Micheelis 2012) oder bei der Früherkennung zeigen (Geyer et al. 2014a). In Studien zur Übernahme von Innovationen hat sich gezeigt, dass die Übernahme neuer Techniken oder Verhaltensweisen in den besser gebildeten Gruppen beginnt und dass diese schneller und in höherem Maß Innovationen akzeptieren. Schlechter gebildete Gruppen beginnen dagegen später und ein geringerer Teil integriert Innovationen in den Alltag (Rogers 1995). Dieses Verhaltensmuster wird unterstützt durch eine positive Leistungsmotivation, die auf das Erreichen von Zielen ausgerichtet ist, sowie durch ein hohes Zutrauen in eigene Fähigkeiten und Optimismus. Bildungseffekte sollten sich deshalb primär bei solchen Erkrankungen und Beeinträchtigungen zeigen, die mit der Anwendung von Wissen in Verbindung stehen. Empirische Studien zu dieser Thematik liegen z. B. für die Nutzung medizinischer Technologie (Glied und Lleras-Muney 2008) oder für den Gebrauch neuer Medikamente vor (Lleras-Muney und Frank 2005). Berufliche Position ist ein Indikator für gesundheitsrelevante Aspekte beruflicher Tätigkeiten. Sie kann über eine der gängigen Klassifikationen operationalisiert werden, wie z. B. der International Standard Classification of Occupations (ISCO),

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der amtlichen Klassifizierung der Berufe (KldB) oder über eine aus den Berufsgruppen abgeleitete Skala zur Abbildung beruflicher Belastungen (Kroll 2011). Lange Zeit waren Tätigkeiten, die eine geringe Qualifikation erforderten, in höherem Maß mit potenziell gesundheitsschädigenden Expositionen verbunden, z. B. Schadstoffen, Lärm oder starken Temperaturschwankungen. In den letzten Jahrzehnten sind diese Arten von Belastungen wenigstens in Europa zurückgegangen, trotzdem gibt es auch heute noch starke Zusammenhänge zwischen der beruflichen Position und Erkrankungsrisiko (Burr et al. 2013), und sie sind mit unterschiedlich hohen Risiken von Arbeitslosigkeit verbunden (Hradil 2006). Soziologisch unterscheiden sich Berufe unabhängig vom Einkommen nach dem damit verbundenen sozialen Ansehen (Ganzeboom und Treiman 2003; Blau und Duncan 1967). Sie unterscheiden sich weiter nach dem Grad der beruflichen Autonomie, also nach dem Ausmaß der mit einer Arbeit verbundenen Entscheidungsspielräume und dem Grad externer Supervision, was langfristig zu kognitiven Anpassungsprozessen führt (Kohn und Schooler 1983). Berufliche Autonomie hat wiederum einen starken Bezug zum Aspekt der Kontrolle, die weiter oben bereits bei der Darstellung der Bedeutung der Schulbildung eingeführt wurde. Auch hier gilt: je niedriger Kontrolle und Entscheidungskompetenzen bei der Tätigkeit, desto höher der Grad subjektiv wahrgenommener Belastung. Da Individuen einen großen Teil ihres Lebens am Arbeitsplatz verbringen, hat die Struktur der Tätigkeit langfristig Auswirkungen auf das Erleben und Handeln. Autonomie spielt auch in dem von Karasek und Theorell formulierten Anforderungs-KontrollModell eine Rolle (Karasek und Theorell 1990), das Modell beruflicher Gratifikationskrisen spezifiziert mit der Dysbalance von Anforderung und Belohnung eine weitere Konstellation, die je nach Ausprägung mit erhöhten psychischen und körperlichen Erkrankungsrisiken verbunden ist (Siegrist 2015). Einkommen determiniert mit den materiellen Lebensbedingungen auch Voraussetzungen zur Führung eines gesunden Lebensstils. Es eröffnet Chancen zur Nutzung materieller Ressourcen sowie zur Bewältigung belastender Situationen. Für Wilkinson ist die Verteilung des Einkommens die Kernfrage sozialer Ungleichheit (Wilkinson und Pickett 2009, 2011), denn sie führt über materielle Deprivation nicht nur zu Unterschieden in Chancen zu einer gesunden Lebensführung und ungleichen Chancen zur Teilhabe, sondern auch zu unvorteilhaften sozialen Vergleichen. Im Ergebnis tragen große Einkommensunterschiede zur Desintegration von Gesellschaften, zu Segregation und zu zunehmender Entfremdung zwischen sozialen Gruppen bei. Tatsächlich wurde in Studien gezeigt, dass Einkommensungleichheiten konsistent mit Unterschieden in der Gesundheit einhergehen. Dies bezieht sich auf die subjektiv eingeschätzte Gesundheit (Aittomaki et al. 2010; Quesnel Vallee 2007; Kaplan und Baron-Epel 2003), auf psychische Erkrankungen (Zimmerman und Bell 2006) wie auch auf körperliche Erkrankungen wie Herzinfarkt (Geyer et al. 2006) oder Krebs (Dalton et al. 2008). Für die USA werden die im Vergleich zu anderen Ländern mit hohem Einkommensniveau hohe Morbidität und die niedrigere Lebenserwartung auch mit den großen Einkommensdisparitäten und schwach ausgebildeten sozialstaatlichen Sicherungen begründet (Avendano und Kawachi 2014; Ram 2005). Zusammenhänge zwischen Einkommen und beeinträchtigter Gesundheit sind ein

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robustes Ergebnis der Sozialepidemiologie, weniger Klarheit gibt es jedoch über die Art des zu verwendenden Einkommens. Kawachi und Kennedy (Kawachi und Kennedy 1997) verglichen verschiedene Maße der Einkommensverteilung und kamen zu dem Schluss, dass die Wahl des Indikators nicht bedeutsam sei. Diese Untersuchungen basierten auf aggregierten Daten, für Studien auf Individualniveau wurden jedoch Mikrodaten verwendet. Hierzu liegen Vergleichsstudien zum Individualeinkommen und zum gewichteten Familieneinkommen für Schweden (Fritzell et al. 2005; Rahkonen et al. 2000) sowie für Finnland und Großbritannien vor. In beiden Fällen wurde empfohlen, gewichtete Haushaltseinkommen zu verwenden, wie sie von der OECD vorgeschlagen wurden (OECD 1982). Die genannten Studien verglichen nur jeweils zwei Einkommensmaße, deshalb wurden mit Daten des SOEP 2007 und subjektiver Gesundheit als Kriterium fünf Arten des Einkommens verglichen. Sie lassen sich in drei Gruppen teilen: 1) Haushaltsbasierte Maße, die die Zahl der im Haushalt lebenden Personen nicht in Rechnung stellen, 2) Haushaltseinkommen, die nach Haushaltsgröße gewichten und 3) das Nettoeinkommen der befragten Individuen. Es zeigte sich, dass die fünf Arten von Haushaltseinkommen hoch korrelierten deren Zusammenhänge mit subjektiver Gesundheit unterschieden sich numerisch kaum (Geyer 2011). Effekte des Individualeinkommens waren etwas schwächer, jedoch kann auf der Grundlage der empirischen Ergebnisse keine klare Empfehlung gegeben werden, welchem der fünf Indikatoren der Vorzug gegeben werden kann. Letztlich sollte die einer Studie zugrunde liegende Einkommenskonzeption die Grundlage für die Wahl eines Einkommensindikators sein. Die Einbeziehung von Vermögen wurde in der Forschung zu gesundheitlichen Ungleichheiten erst in den letzten Jahren diskutiert (Pollack et al. 2007), um die materielle Lage mit ihren Auswirkungen auf Gesundheit und Krankheit vollständiger zu erfassen. Es wird angenommen, dass Vermögen die Auswirkungen von verringerten Einkommen abpuffert, wie es z. B. bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit der Fall ist. Das Vermögen nimmt mit dem Alter zu, und wenn sich das Einkommen nach der Berentung verringert, kann Vermögen ausgleichend wirken. In empirischen Studien waren die Zusammenhänge zwischen Vermögen und gesundheitsbezogenen Maßen durchweg stark (Pollack et al. 2013). Auf der Basis europäischer und US-amerikanischer Surveys wurde gezeigt, dass es in den untersuchten 16 Ländern, darunter Deutschland, Zusammenhänge zwischen Gesundheit und Vermögen gibt. Es gibt kaum Übereinstimmung darüber, was unter Vermögen zu subsummieren sei. In einer Vergleichsstudie zeigte sich, dass die Zusammenhänge zwischen Gesundheitsmaßen sich in Abhängigkeit vom gewählten Indikator deutlich unterscheiden (Cubbin et al. 2011). Manche Untersuchungen verwendeten das sogenannte Nettovermögen, ein Index, der u. a. Schulden, Hauseigentum, Versicherungen, Geldvermögen und Kapitalanlagen kombiniert. In Vergleichsanalysen wurden die Indikatoren sowohl einzeln als auch als Index verwendet, und die Autorinnen kommen zu dem Schluss, dass es zielführender sei, einzelne Indikatoren zu verwenden, weil sie sich in ihren Effekten von Indexmaßen deutlich unterscheiden (Cubbin et al. 2011). In einer eigenen Studie mit Daten des SOEP wurden verschiedene Vermögensmaße für die beruflich aktive Zeit und für die Zeit nach dem Übergang in den Ruhestand verglichen.

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Entgegen den Erwartungen zeigten sich Zusammenhänge zwischen Vermögensindikatoren und der subjektiven Gesundheit am deutlichsten bei den berufstätigen Befragten. Nach der Berentung war nur Hauseigentum mit dem gewählten Gesundheitsmaß assoziiert (Geyer et al. 2014b). Die Ergebnisse internationaler Vergleiche machen es wahrscheinlich, dass die Effekte von Vermögen auf Gesundheit unter den Bedingungen unterschiedlicher Wohlfahrtssysteme verschieden stark sein sollten, es ist auch anzunehmen, dass die Bedeutung des Vermögens unter den Bedingungen zunehmender Konzentration auch in Deutschland zunehmen wird (OECD 2015). Mit den Beschreibungen der vier Indikatoren sollte deutlich gemacht werden, dass sie zwar nur unscharfe Annäherungen an die zu messenden Inhalte ermöglichen, trotzdem messen sie Unterschiedliches und dürfen daher nicht als austauschbar angesehen werden. In früheren Veröffentlichungen (Bartley 2004) (Wilkinson 1996) wurden Schulbildung, Berufsposition und Einkommen als hoch korreliert und daher als synonym betrachtet. Empirisch hat sich gezeigt, dass die Stärke der Effekte von Einkommen, Schulbildung und Beruf sich in Abhängigkeit von den untersuchten Erkrankungen unterscheiden (Geyer et al. 2006), sodass der relative Beitrag eines Indikators für jeden Fall wieder neu betrachtet werden muss (Lahelma et al. 2008). Die Interkorrelationen sind eher niedrig bis moderat. In einer Studie mit deutschen und schwedischen Daten (Geyer et al. 2006) lagen die Korrelationen zwischen den drei Indikatoren sozialer Differenzierung im deutschen Studienteil zwischen r ¼ 0,11 und r ¼ 0,58. Im schwedischen Studienteil waren die Korrelationen durchweg höher, der niedrigste Zusammenhang wurde zwischen Bildung und Einkommen (r ¼ 0,31) gefunden. Die stärkste Korrelation (r ¼ 0,55) gab es für Bildung und berufliche Position. Niedrige Zusammenhänge zwischen Bildung, Beruf und Einkommen weisen auf Statusinkonsistenz hin (Vernon und Buffler 1988). Dies kann dann der Fall sein, wenn nicht alle Männer und Frauen mit einer guten Schulbildung auch entsprechende Berufe ergreifen, oder wenn Qualifikationen durch technologischen oder sozialen Wandel entwertet werden. Die Betroffenen müssen dann Tätigkeiten unterhalb ihrer ursprünglichen Qualifikation annehmen. In der Sozialepidemiologie werden in Studien statt Einzelindikatoren auch Indexmaße verwendet, in die Indikatoren entweder gewichtet oder ungewichtet eingehen (Winkler 1998; Hollingshead und Redlich 1958). Damit wird versucht, die mit der Verwendung mehrerer Indikatoren verbundene Komplexität zu reduzieren, die Indexverwendung hat jedoch auch Nachteile. Die Ermittlung eines Summenwerts impliziert, dass die unvorteilhafte Position auf einer Dimension sozialer Differenzierung durch eine vorteilhafte Position auf einer anderen ausgeglichen werden kann. Wenn Effekte von Indexmaßen gefunden werden, kann nicht nachvollzogen werden, auf welchen der verwendeten Indikatoren sie zurückgeführt werden (Geyer 2008a). Es gibt also Gründe, auf Einzelindikatoren zurückzugreifen und diese eher zu spezifizieren als die Messung zu vergröbern. Die Verwendung von Indize wurde aus den genannten Gründen bereits in den 1950er-Jahren als problematisch gesehen (Lenski 1954), und diese Kritik wurde später wieder aufgenommen (Bourdieu 1982) und erweitert (Mirowsky und Ross 2003).

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Situationsspezifische und dauerhafte Effekte der Sozialstruktur auf Krankheitsrisiken

Die im letzten Abschnitt berichteten Ergebnisse basieren auf der Annahme, dass Merkmale der Sozialstruktur Auswirkungen auf Erkrankungsrisiken haben. Aus diesen meist querschnittlich angelegten Studien ist jedoch nicht ersichtlich, ob Merkmale der Sozialstruktur dauerhafte Effekte haben oder ob sie situativ wirken. Jenseits des Kindesalters kann davon ausgegangen werden, dass Effekte der Sozialstruktur situationsspezifisch und daher variabel sind. Dies spielt insbesondere bei der Beurteilung der Zusammenhänge zwischen sozialer Mobilität und gesundheitlichen Ungleichheiten eine Rolle, die Frage nach situationsspezifischen Effekten konnte jedoch erst durch langzeitlich angelegte Surveydaten aufgenommen werden. In einer schwedischen Studie wurde auf der Basis des Level-of-Living-Surveys der Jahre 1996 bis 2000 untersucht, ob Veränderungen des Einkommens mit Variationen der selbst eingeschätzten Gesundheit verbunden sind (Miething und Aberg Yngwe 2014). Es zeigte sich, dass die Verringerung von Einkommen auch von einer Verschlechterung der subjektiven Gesundheit begleitet war. Dabei gingen Einkommensverluste mit schnelleren und deutlicheren Veränderungen der Gesundheit einher als Einkommensschwankungen nach oben. Die Autoren der Studie nehmen an, dass diese Unterschiede sich dadurch erklären lassen, dass sinkende Einkommen von weiteren, sich daraus ergebenden unangenehmen Konsequenzen begleitet sind. Evidenz für situationsspezifische Effekte kommt auch aus Studien, die Auswirkungen wirtschaftlicher Krisen auf soziale Gradienten bei Gesundheit und Krankheit zum Gegenstand haben. So stieg die Prävalenz psychischer Beschwerden in Großbritannien zwischen 2009 und 2013 nach dem Ausbruch der Finanzkrise deutlich stärker an als in den davor liegenden Jahren 2004 bis 2008. Sie nahmen insbesondere bei gering Qualifizierten zu und führten zu einer Vergrößerung gesundheitlicher Ungleichheiten (Barr et al. 2015). Die Autoren erklären dies mit steigenden Arbeitslosigkeitsraten, mit dem Abbau von Sozialleistungen und anderen Sparmaßnahmen, die materielle Umverteilungen betreffen. Mit Daten der KIGGS-Studie wurde gezeigt, dass die Schule von Eltern vermittelte gesundheitsbezogene Verhaltensmuster modifizieren kann (Kuntz 2011), die Studie beantwortet jedoch nicht die Frage, wie stabil diese Verhaltensmuster über die Zeit sind. Bleibende Effekte wurden in Studien untersucht, die das frühe und früheste Lebensalter zum Gegenstand haben. Im Gegensatz zu den bereits referierten Studien geht es dabei nicht um variable Faktoren, sondern um Einflüsse, die während sogenannter „sensibler Phasen“ wirksam werden. Es handelt sich dabei um Zeitperioden, die für die Festlegung spezifischer Verhaltensweisen, Stoffwechselmuster oder für hormonelle Profile kritisch sind. Sie beginnen bereits pränatal, erreichen ihr Maximum in den ersten Lebensjahren und verringern sich während der Pubertät und der Adoleszenz. Einmal festgelegt, sind sie kaum veränderbar (Hertzman und Boyce 2010). In einer entwicklungspsychologischen Studie wurde die kognitive Leistungsfähigkeit von Kindern mit unterschiedlichen sozioökonomischen Hintergründen ver-

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glichen. Kinder aus benachteiligten sozialen Gruppen waren in höherem Maße ablenkbar und hatten Schwierigkeiten, sich auf Aufgaben zu konzentrieren (D’Anguilly et al. 2008). Eine frühere Studie lässt den Schluss zu, dass die sensible Phase für Konzentrationsfähigkeit jenseits des sechsten Lebensmonats zu datieren ist (Kreppner et al. 2007), eine spätere Studie stützt diese Befunde und weitet die sensible Phase auf die Zeit zwischen dem sechsten und neunten Lebensmonat aus (Tomalski et al. 2013). Untersuchungen zur sozialen Benachteiligung gaben Hinweise darauf, dass belastende Umgebungskonstellationen zu Beeinträchtigungen des Lese- und Sprachverständnisses führen können (Lloyd et al. 2010). Die Bedeutung dieser Forschung für gesundheitliche Ungleichheiten liegt darin, dass die Konsequenzen von Armut insbesondere bei der Problembewältigung und bei planerischen Aufgaben zu Leistungs- und Selbstregulationsdefiziten führen können, die schwer auszugleichen sind und bei den Betroffenen zu verminderten Lebenschancen führen (Ziol-Guest et al. 2012; Hackman et al. 2015). In einer Reihe von Studien wurde auch gefunden, dass Individuen, deren Mütter während der Schwangerschaft Armut und Notlagen ausgesetzt waren, im mittleren Lebensalter erhöhte Risiken für Diabetes und Herz-Kreislauferkrankungen haben (Hertzman und Boyce 2010). Insbesondere bei sozial nicht mobilen Individuen, die in eine sozial wenig privilegierte Gruppe hineingeboren werden, kann dies zu deutlich erhöhten Erkrankungsrisiken führen.

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Soziale Mobilität und Gesundheit

Die Mehrzahl der Studien zu gesundheitlichen Ungleichheiten sind Querschnittsuntersuchungen, und damit fehlt die Abbildung von Prozessen der Entwicklung gesundheitlicher Ungleichheit. Mehrere Autorinnen und Autoren betrachten soziale (Aufwärts-) Mobilität als eine Möglichkeit zur Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheiten (Bartley 2009; Heller et al. 2002; Boyle et al. 2009). Dabei liefern theoretische Konzepte widersprüchliche Vorhersagen zu den Auswirkungen sozialer Mobilität auf Gesundheit und Krankheit. So kann man aus den Arbeiten von Bourdieu ableiten, dass im Falle intergenerationaler Mobilität die mobilen Individuen die Erkrankungsrisiken der Herkunftsgruppe behalten. Sie übernehmen die Verhaltensmuster der Ankunftsgruppe nur unvollständig, beherrschen sie niemals ganz (Bourdieu 1982), sollten unter diesem Mangel leiden und daher höhere Erkrankungsrisiken haben als nicht mobile Individuen der Ankunftsgruppe. Konkurrierende Annahmen gehen davon aus, dass Aufwärtsmobile über gute Problembewältigungsfähigkeiten verfügen und ihr Handeln als kontrolliert und gesteuert wahrnehmen. Sie sollten daher einen besseren Gesundheitszustand haben als nicht mobile oder sozial abgestiegene Individuen. Eine dritte und ausschließlich auf das Verhalten bezogene Erklärung geht von einer Übernahme gesundheitsrelevanter Verhaltensweisen und von der flexiblen, belastungsreduzierenden Nutzung von Ressourcen der Ankunftsgruppe aus. Dies sollte dazu führen, dass die gesundheitlichen Chancen und Risiken sozial Mobiler denen der Ankunftsgruppe entsprechen sollten. Die Befunde der vorliegenden empirischen Studien sind in dieser Hinsicht recht einheitlich, denn sie berichten fast durchgängig von Auswirkungen sozialer Mobi-

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lität auf die Gesundheit. In einer schwedischen Langzeitstudie an 1953 geborenen Männern (N ¼ 6928) wurde berichtet, dass intergenerationale Abwärtsmobilität mit erhöhten Risiken für psychische Erkrankungen einher ging, umgekehrt wiesen die intergenerational aufgestiegenen Männer niedrigere Erkrankungsrisiken auf als die sozial stabilen. Die Autoren fanden, dass Chancen zur Auf- oder Abwärtsmobilität wesentlich durch Fähigkeiten zur aktiven und flexiblen Problemlösung bestimmt wurden (Timms 1996). Diese Ergebnisse wurden durch eine weitere schwedische Langzeitstudie erweitert, denn auch hier war Abwärtsmobilität mit einem im Vergleich zur Herkunftsgruppe schlechteren gesundheitlichen Allgemeinzustand sowie mit einem erhöhten Herzinfarktrisiko verbunden (Faresjö et al. 2011). Analog wurden in einer schwedischen Studie Auswirkungen intergenerationaler sozialer Abwärtsmobilität auf das Risiko psychiatrischer Erkrankungen berichtet (Tiikkaja et al. 2013). Im Rahmen der GAZEL-Studie wurden die Fragestellungen zu gesundheitlichen Auswirkungen sozialer Mobilität auf maligne Erkrankungen angewandt, wobei intragenerationale Mobilität untersucht wurde. Es wurden drei Messungen zu weit auseinander liegenden Zeitpunkten durchgeführt, und es wurden berufliche Veränderungen im Hinblick auf Tätigkeit und Position in der Hierarchie dokumentiert. In den Analysen wurden die sozial nicht mobilen Individuen mit den mobilen verglichen. Neben den erwarteten sozialen Gradienten der Erkrankungsrisiken wurden deutliche Effekte sozialer Mobilität gefunden. Die Erkrankungsrisiken der sozial mobilen Befragten glichen sich für fast alle untersuchten Krebsarten denen der Ankunftsgruppe an. Die Autoren vermuten, dass Anpassungen sich sowohl auf die Beeinflussung gesundheitsbezogener Verhaltensweisen (Ernährung, Bewegungsmuster, Alkohol- und Tabakkonsum) als auch auf veränderte Arbeitsbedingungen zurückführen lassen (Marshall et al. 1999). Eine Studie zur Mundgesundheit bestätigt diese Befunde, denn auch in einer britischen Langzeitstudie waren die zahnmedizinischen Beschwerden der intergenerational sozial mobilen Befragten denen der Ankunftsgruppe ähnlicher als der Herkunftsgruppe, was auf die Übernahme des Zahnpflegeverhaltens hinweist (Delgado-Angulo und Bernabé 2015). In einer neueren Studie wurden die Auswirkungen intergenerationaler sozialer Mobilität auf subjektive Gesundheit untersucht (Campos-Matos und Kawachi 2015). Dieser Indikator ist zwar in seinem latenten Gehalt nicht eindeutig, jedoch wurde er in der Studie für 29 Länder und für eine große Zahl von Respondenten untersucht. Insgesamt zeigte sich, dass die Wahrscheinlichkeit, eine schlechte oder sehr schlechte subjektive Gesundheit zu berichten, dann deutlich erhöht war, wenn Befragte abwärtsmobil waren, und die Gesundheitseinschätzungen waren dann deutlich besser, wenn Befragte aufwärtsmobil waren. Dieses Zusammenhangsmuster zeigte sich unabhängig davon, ob die Position der Mutter oder des Vaters zur Bestimmung der Mobilität herangezogen wurde, und dies zeigte sich für alle untersuchten Länder. Die Auswirkungen von Mobilität sind daher sehr robust, obwohl Variationen in der Ausgestaltung sozialstaatlicher Sicherungssysteme zu unterschiedlich starken Ausprägungen von Effekten sozialer Mobilität führen. Mobilitätseffekte zeigen sich nicht nur bei Erkrankungen, sondern auch beim gesundheitsbezogenen Verhalten; im Hinblick auf die oben behandelten Themen ist hier präventives Verhalten von Bedeutung. In einer belgischen Studie wurde am Fall

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des Brustkrebsscreenings untersucht, ob sich das Verhalten intergenerational Mobiler am Vorsorgeverhalten der Herkunftsgruppe oder der Ankunftsgruppe orientiert. Analog zu den Befunden zur Morbidität übernahmen die Mobilen die Verhaltensmuster der Ankunftsgruppe (Missinne et al. 2015). Insgesamt zeigen die empirischen Befunde der vorliegenden Studien, dass sowohl intra- als auch intergenerationale soziale Mobilität hinsichtlich der Erkrankungsrisiken mit einer Angleichung der sozial Mobilen an die Ankunftsgruppe einhergeht. Dies trifft insbesondere auf die Abwärtsmobilen zu, denn deren Gesundheit verschlechtert sich über das zu erwartende Maß hinaus. Dies kann über ungünstige soziale Vergleiche zwischen der sozialen Position bei Beginn und der über den Lebensverlauf erreichten Position erklärt werden. Daraus ergibt sich die Frage, ob die gesundheitsbezogenen Effekte sozialer Mobilität Auswirkungen auf soziale Gradienten der Gesundheit haben. Die vorliegenden Studien zu Morbidität und Mortalität lassen den Schluss zu, dass Aufwärtsmobilität zu einer Verschiebung der Sozialstruktur nach oben führt, was mit einer Verringerung der Sterblichkeit einher geht (Heller et al. 2002), die sozialen Gradienten insgesamt verringerten sich jedoch nicht (Boyle et al. 2009). Mit den beschriebenen Studien wurden Effekte sozialstruktureller Zugehörigkeit auf das Risiko von Erkrankungen beschrieben. In der Literatur wurden unter dem Begriff der „Drifthypothese“ auch Effekte von Erkrankungen auf soziale Mobilität und Lebenschancen betrachtet, wobei sich die Untersuchungen überwiegend auf psychische Störungen und Erkrankungen bezogen. In einer schwedischen Langzeitstudie wurde untersucht, ob Männer und Frauen mit diversen psychischen Erkrankungen (Affektive Störungen, Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Alkoholismus, Drogenabhängigkeit und Schizophrenie) im Vergleich zu nicht erkrankten Personen über den Verlauf ihrer beruflichen Karriere, also intragenerational, absteigen. Es zeigte sich, dass ein wesentlicher größerer Teil der Erkrankten keine sozialen Aufstiege durchlief oder beruflich abstieg. Parallel dazu war das Risiko, ganz aus dem Berufsleben auszuscheiden, deutlich höher als in der Kontrollgruppe von Personen ohne psychische Störungen oder Erkrankungen (Tiikkaja et al. 2015). In der Mannheimer Kohortenstudie, einer langzeitlich angelegten Gemeindestudie mit einer Beobachtungsdauer von 11 Jahren, zeigte sich ebenfalls, dass Patientinnen und Patienten mit neurotischen und Persönlichkeitserkrankungen, Stressreaktionen und somatoformen Erkrankungen deutlich höhere Risiken beruflicher Abstiege hinnehmen mussten als nicht erkrankte Individuen. Soziale Aufstiege waren dagegen in der Patientengruppe eher selten (Franz et al. 2000). In einer Studie an Erwachsenen mit angeborenen Herzfehlern wurde untersucht, ob deren Chancen zur Aufnahme einer Berufstätigkeit oder die allgemeinen Lebenschance durch den angeborenen Herzfehler beeinträchtigt waren. Es zeigte sich, dass die Herzpatienten im Vergleich zu einer gleich alten Kontrollgruppe ein wesentlich höheres Risiko hatten, frühzeitig aus dem Beruf auszusteigen, bzw. niemals eine Berufstätigkeit aufzunehmen (Geyer et al. 2009). Bemerkenswert bei dieser Studie ist, dass die Schwere des angeborenen Herzfehlers nicht notwendigerweise die Aufnahme einer Berufstätigkeit behinderte. Die Einschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit und die Haltung zum eigenen Köper

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hatten einen wesentlichen Einfluss auf die Teilnahme am Arbeitsmarkt. Einmal ins Berufsleben eingetreten, unterschied sich die soziale Mobilität der Patientinnen und Patienten nicht von der der Kontrollgruppe. Es gab jedoch Hinweise darauf, dass deren Eltern wesentlich mehr in Karrieremöglichkeiten investierten als Eltern aus der Allgemeinbevölkerung (Geyer et al. 2007), womit die schlechteren Startchancen ausgeglichen werden könnten. Zusammengefasst finden sich in Studien zur Drifthypothese Risiken für inter- und intragenerationale soziale Abwärtsmobilität in erster Linie bei psychischen Erkrankungen und Beschwerden, was teilweise auf deren frühe Manifestation im Lebensverlauf zurückgeführt werden kann. Bei körperlichen Erkrankungen wurde sozialer Drift nur unvollständig untersucht und könnte als Endpunkt mit vorzeitiger Berentung konkurrieren.

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Fazit

Dieses Kapitel behandelte soziale Ungleichverteilungen von Gesundheit und Krankheit. Es wurde gezeigt, dass gesundheitliche Ungleichheiten mit wenigen Ausnahmen bei fast allen Erkrankungen sowie bei der selbst eingeschätzten Gesundheit nach dem gleichen Muster auftreten. Die in den Studien verwendeten Maße sozialer Differenzierung unterscheiden sich in ihrem latenten Gehalt und dürfen daher nicht als synonym verwendet werden. Trotzdem haben sie einen starken Bezug zu Kontrolle als übergeordnetem Konstrukt (Folkman 1984; Bandura 1997; Marmot 2004). Kontrolle ist ein Kernkonstrukt der Stressforschung, das die Fähigkeit bezeichnet, Vorgänge zu überblicken, sie zu beeinflussen, in ihrem Ablauf vorherzusehen und darüber einen Sinn zu erkennen. Auf Maße sozialer Differenzierung angewandt bedeutet dies bei Schulbildung Kontrolle durch Wissen, durch Möglichkeiten, flexibel nach Lösungen zu suchen und Hindernisse zu überwinden. Einkommen bedeutet Kontrolle durch Ressourcen sowie durch Möglichkeiten, Problemlösungen und Hilfe zu „kaufen“ und dadurch auftretende Belastungen zu reduzieren. Berufsbezogene Indikatoren stehen für die Modifikation von Fähigkeiten, die durch Schulbildung erworben wurden sowie für Zugänge zu sozialen Netzwerken, aber auch für unterschiedliche Belastungskonstellationen, wie sie in Berufsbelastungskonzepten (Siegrist 2015; Dragano 2007; Karasek und Theorell 1990) weiter spezifiziert werden. Jenseits der Annahme, dass soziale Ungleichheiten durch Stress und Belastungen entstehen, spielen gesundheitsbezogene Lebensstile und Lebensweisen (Kuntz und Lampert 2015; Lampert et al. 2013; Elgar et al. 2015) eine Rolle. Wenn gesundheitliche Ungleichheiten reduziert werden sollen, muss diese Vielzahl von Einflussfaktoren in Rechnung gestellt werden. Bislang positiv zu bewerten ist die Verlängerung der Lebenserwartung und die Verkürzung der Zeit zwischen dem Eintritt von chronischer Krankheit und dem Versterben (Geyer 2015), es muss aber auch in Rechnung gestellt werden, dass sich die Einkommen auseinanderentwickeln (OECD 2015) und dass es bei der Umsetzung von Wissen in Verhalten einen sozialen Gradienten gibt, der zu einer Vergrößerung gesundheitlicher Ungleichheiten führen kann.

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Lebensstil und Gesundheit Trends und soziale Unterschiede des Gesundheitsverhaltens und Folgen für die Gesundheit Ingmar Rapp und Thomas Klein

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Gesundheitsrelevante Aspekte des Lebensstils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Trends und soziale Unterschiede des gesundheitsrelevanten Lebensstils . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der Beitrag gibt einen Überblick über die wichtigsten gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen. Zunächst werden die gesundheitlichen Konsequenzen der Ernährung, der körperlichen Aktivität, des Körpergewichts, des Rauchens und des Alkoholkonsums beschrieben. Anschließend werden die diesbezüglichen Trends und sozialen Unterschiede erklärt. Der Beitrag zeigt, dass gesundheitliche Aspekte des Lebensstils in einen generellen Lebensstil integriert und durch vielfältige Mechanismen mit sozialen Faktoren verknüpft sind. Schlüsselwörter

Lebensstil · Gesundheit · Gesundheitsverhalten · Soziale · Schicht · Partnerschaft

I. Rapp (*) Max-Weber-Institut für Soziologie, Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Klein Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Kriwy, M. Jungbauer-Gans (Hrsg.), Handbuch Gesundheitssoziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06392-4_16

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194

1

I. Rapp und T. Klein

Einleitung

Wohl nie zuvor haben Menschen ihre Lebensgewohnheiten, wie auch die ihrer Mitmenschen, so sehr unter dem Aspekt der Gesundheit betrachtet wie heute. Die Flut von Gesundheits- und Ernährungsratgebern ist allgegenwärtig und gesundheitliche Aspekte des Lebensstils bekommen in einer alternden Gesellschaft wachsende Bedeutung. Hintergrund dieser Entwicklung ist die zunehmende Verbreitung der Erkenntnis, dass Gesundheit nicht nur Schicksal, sondern auch individuell beeinflussbar ist, sodass heute dem Individuum eine Mitverantwortung für seine Gesundheit zugeschrieben wird. Dies hat jedoch nur begrenzt dazu geführt, dass die Menschen gesünder leben. Das Körpergewicht beispielsweise hat in den vergangenen Jahrzehnten stark zugenommen, und die Weltgesundheitsorganisation sieht in starkem Übergewicht das am schnellsten wachsende Gesundheitsproblem in den Industrienationen (World Health Organization 2000). Der Beitrag behandelt die fünf meistdiskutierten Aspekte des Gesundheitsverhaltens bzw. des gesundheitsrelevanten Verhaltens. Betrachtet werden die Ernährung, Sport und Bewegung im Alltag, das Körpergewicht, das Rauchverhalten und der Alkoholkonsum. Auch wenn die Relevanz dieser Verhaltensweisen für die Gesundheit weithin bekannt ist, erklärt sich das jeweilige Gesundheitsverhalten nicht ausschließlich mit einer mehr oder weniger ausgeprägten Motivation, gesund zu leben. So resultiert die Ernährung nicht nur aus dem Widerstreit zwischen Gesundheitsmotivation und der Lust am Essen, sondern weitere Faktoren wie Geselligkeit, Unterhaltung, die situative Verfügbarkeit von Nahrungsangeboten, eine Angleichung an den Ernährungsstil von Partner und Freunden (Klein 2011, S. 462) und vieles mehr spielen eine Rolle. Die möglicherweise geringe Handlungsrelevanz des Gesundheitsaspekts gilt erst Recht für die sportliche Aktivität: Neben dem Motiv der Verbesserung der Gesundheit und der körperlichen Leistungsfähigkeit sind auch andere Motive weit verbreitet: zum Beispiel Spaß an der Bewegung, die Verwirklichung von Schönheitsidealen und der Wunsch nach Geselligkeit (Haut und Emrich 2011). Entsprechend ist auch das Körpergewicht, obwohl für die Gesundheit von großer Bedeutung, von all den umfassenden Motiven des Essens und der Bewegung – insbesondere auch von dem Streben nach physischer Attraktivität – beeinflusst (vgl. z. B. Klein 2011). Und schließlich spielen auch beim Rauchen (insbesondere beim Raucheinstieg) und beim Alkoholkonsum Geselligkeit, Gruppenzugehörigkeit und andere Motive eine wichtige Rolle (Franzkowiak 1986). Bei den fünf hier behandelten Aspekten des Gesundheitsverhaltens steht somit nicht nur (oder unter Umständen auch gar nicht) die Ausprägung der Gesundheitsmotivation im Mittelpunkt – es handelt sich vielmehr um Aspekte des Lebensstils, deren Relevanz für die Gesundheit in zahlreichen Untersuchungen nachgewiesen ist (siehe Abschn. 2). Die Erklärung der nachfolgend dargestellten Trends und sozialen Unterschiede des gesundheitsrelevanten Verhaltens reduziert sich somit nicht auf Entwicklungen und soziale Unterschiede des Gesundheitsbewusstseins. Ist es nicht übertrieben, das Gesundheitsverhalten als Lebensstil zu bezeichnen? Zumindest drei Merkmale des hier behandelten gesundheitsrelevanten Verhaltens rechtfertigen es, von Lebensstil zu sprechen: Erstens besteht eine hohe individuelle Stabilität des jeweiligen gesundheitsrelevanten Verhaltens (selbst die Sportaktivität

Lebensstil und Gesundheit

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nimmt im Lebenslauf kaum ab, Klein und Becker 2008), wenngleich sich die Gelegenheiten und Restriktionen des Verhaltens und ggf. mit ihnen die Verhaltensweisen im Lebenslauf ändern, abhängig von den beruflichen und familiären Lebensumständen, der Wohnsituation und den alltäglichen Mobilitätsanforderungen (Klein 2009). Zweitens ist das oben genannte gesundheitsrelevante Verhalten oft in einen mehr oder weniger umfassenden Gesamtzusammenhang von Verhaltensweisen und verhaltensbedingenden Lebensumständen eingebunden. Das gemeinsame Mittagessen mit Kollegen läuft nun mal häufig auf den Besuch der Kantine hinaus. Und ein veganer Lebensstil umfasst nicht nur die Ernährung, sondern auch den Verzicht auf sonstige Tierprodukte, zum Beispiel Leder. Auch regelmäßige sportliche Aktivität wird tendenziell zum Bestandteil eines umfassenderen Lebensstils gezählt (Lüdtke 2001), nicht zuletzt auch deshalb, weil die zeitliche und körperliche Beanspruchung mit anderen Aktivitäten konkurriert. Und schon die Fortbewegung mit Rad versus Auto hat Implikationen für die Bekleidung und für vieles mehr. Drittens fällt unter die Definition von Lebensstil häufig auch, dass es einen kulturellen Überbau von Überzeugungen und Bewertungen von Verhaltensweisen gibt, der auch das gesundheitsrelevante Verhalten erfasst. Besonders deutlich wird dies am Beispiel vegetarischer und veganer Ernährung. Aber auch mediterrane Ernährung und eine Präferenz für Rotwein ist tendenziell mit dem Bemühen um eine mediterrane Wohnkultur oder mit Urlauben in mediterranen Regionen gepaart. In puncto Sport ist es nicht anders: Für die einen gilt „Sport ist Mord“ und für die anderen ist Sport „Norm und Maßstab sinnvoller Alltags- und Lebensgestaltung“ (Kaschuba 1989, S. 157, 160). Und in einen jeweiligen Gesamtzusammenhang von Verhaltensweisen und Überzeugungen passt auch oder passt nicht eine größere Körperfülle. Ähnliches gilt für Alkohol und Rauchen. Im vorliegenden Beitrag werden die verschiedenen gesundheitsrelevanten Aspekte des Lebensstils folgendermaßen dargestellt und diskutiert: Abschn. 2 gibt zunächst einen Überblick darüber, wie Ernährung, Sport und Bewegung, das Körpergewicht, das Rauchverhalten und der Alkoholkonsum die Gesundheit beeinflussen. Hierzu werden aktuelle Forschungsergebnisse zusammengefasst, die nicht immer mit dem Alltagswissen im Einklang stehen. Abschn. 3 beschreibt die Trends und die sozialen Unterschiede der genannten gesundheitsrelevanten Aspekte des Lebensstils. Im vorliegenden Beitrag werden vor allem Unterschiede des Gesundheitsverhaltens nach der partnerschaftlichen Lebensform und nach der Schichtzugehörigkeit beleuchtet. Abschn. 4 fasst die Ergebnisse zusammen und zieht Folgerungen bezüglich Maßnahmen der Gesundheitsförderung.

2

Gesundheitsrelevante Aspekte des Lebensstils

2.1

Ernährung

Die Ernährung zählt zu den wichtigsten verhaltensbedingten Einflussfaktoren der Gesundheit. Allerdings gibt es nur eine überschaubare Zahl von einzelnen Nahrungsmitteln und Nahrungsbestandteilen, deren Gesundheitseffekte gesichert nachgewie-

196

I. Rapp und T. Klein

sen sind. Während beispielsweise ungesättigte Fettsäuren und pflanzliche Produkte zu den gesundheitsförderlichen Nahrungsbestandteilen zählen, ist ein Übermaß an gesättigten Fettsäuren, Salz, Zucker oder sogenanntem rotem Fleisch der Gesundheit abträglich (Willett 1994). Auch gesüßte Getränke wie Limonade oder Cola fördern Übergewicht und damit assoziierte Krankheiten (Malik et al. 2006). Da jedoch die Ernährung immer ein mehr oder weniger großes Spektrum an Nahrungsmitteln umfasst, macht es Sinn, die Gesundheitseffekte von umfassenderen Ernährungsmustern zu betrachten (vgl. im Folgenden auch den Überblicksbeitrag von Katz und Meller 2014). Ernährungsmuster sind außerdem enger mit einem Lebensstil verbunden als der (Nicht-) Konsum einzelner Nahrungsbestandteile. Zu den gesundheitszuträglichen und/oder zumindest gesundheitsmotivierten Ernährungsmustern in westlichen Industriegesellschaften zählen insbesondere eine vegetarische Ernährung, eine vegane Ernährung (gänzlich ohne Produkte tierischen Ursprungs), eine Ernährung mit wenig Fett, eine Ernährung mit wenig Kohlenhydraten sowie die mediterrane Ernährung (Katz und Meller 2014). Es gibt viele weitere Ernährungsmuster mit eher „idiosynkratischem Fokus“, zum Beispiel glutenfreie Ernährung (Katz und Meller 2014). Ein in den USA und neuerdings auch in Deutschland wachsendes Interesse erfährt eine an der Steinzeit orientierte Ernährung, die insbesondere auf Getreide und Milchprodukte (welche aus der in der Steinzeit unbekannten Vieh- und Landwirtschaft kommen) und auf hochverarbeitete Lebensmittel verzichtet. Zugunsten einer fettarmen Ernährung spricht der Nachweis, dass eine Fettreduktion bei der Ernährung die Häufigkeit von Herzinfarkt und Schlaganfall, sowie auch die Mortalität insgesamt, reduziert. Mittels hochverarbeiteter Lebensmittel, die zwar fettreduziert sind, aber viel Stärke und viel Zucker enthalten, werden jedoch die gesundheitlichen Vorteile einer auf wenig Fett fokussierten Ernährung teilweise durch eine erhöhte Aufnahme anderweitiger Kalorien konterkariert oder gar überkompensiert (Katz und Meller 2014). Die gesundheitlichen Vorteile der mediterranen Ernährung werden seit langem diskutiert und sind auch durch Metaanalysen dokumentiert (z. B. Sofi et al. 2013). Mediterrane Ernährung geht mit einer höheren Lebenserwartung, mit einer Reduktion von kardiovaskulären Krankheiten und Krebs und mit einer besseren Erhaltung der kognitiven Fähigkeiten einher. In Bezug auf kardiovaskulare Risiken erscheint die mediterrane Ernährung sogar der fettarmen Ernährung überlegen (Calder et al. 2011; Estruch et al. 2013; Katz und Meller 2014). Die mediterrane Ernährung umfasst eine große Bandbreite von Nahrungsmitteln, bestehend vor allem aus pflanzlichen Lebensmitteln, Fisch und Olivenöl und eher begrenztem Konsum von Fleisch- und Milchprodukten. In dem Überblicksbeitrag von Katz und Meller (2014) ist es das einzige (‚gesunde‘) Ernährungsmuster, bei dem auch Geschmack und Freude am Essen Erwähnung finden. Eine Abwägung der Gesundheitsvorteile zwischen den verschiedenen gesundheitszuträglichen und/oder zumindest gesundheitsmotivierten Ernährungsmustern ist – auch wegen vieler Überschneidungen – kaum möglich. Verallgemeinernd lässt sich jedoch sagen, dass eine Förderung der Gesundheit und eine Vermeidung von Krankheiten mit einer Ernährung assoziiert ist, die aus gering verarbeiteten Lebens-

Lebensstil und Gesundheit

197

mitteln besteht („close to nature“) und pflanzlich dominiert ist (Katz und Meller 2014).

2.2

Sport und Bewegung

Die Sportaktivität und das (sonstige) körperliche Bewegungsverhalten im Alltag sind für die Gesundheit zumindest gleichermaßen bedeutsam wie die Ernährung. Dies schlägt sich auch in WHO-Empfehlungen zur physischen Aktivität nieder (World Health Organization 2010). Diese empfehlen für 18- bis 64-Jährige eine moderate physische Aktivität von mindestens 150 Minuten in der Woche oder eine intensive physische Aktivität von mindestens 75 Minuten in der Woche. Physische Inaktivität ist ein Risikofaktor für zahlreiche Erkrankungen, insbesondere kardiovaskuläre Erkrankungen, Typ-2-Diabetes, Darm- und Brustkrebs (Lee et al. 2012) und sogar Demenz (Sofi et al. 2011). In Deutschland ist physische Inaktivität – definiert als ein Aktivitätsniveau, das hinter WHO-Empfehlungen zurückbleibt – für 7,5 % der vorzeitigen Todesfälle verantwortlich (Lee et al. 2012). Die gesundheitlichen Vorteile sind vor allem mit physischer Freizeitaktivität verbunden. In Bezug auf das Risiko kardiovaskulärer Erkrankungen hat ein hohes Aktivitätsniveau den größten Protektionseffekt (Li und Siegrist 2012; Sattelmair et al. 2011). Fünf Stunden Freizeitaktivität pro Woche ist deutlich besser als 2½ Stunden (Sattelmair et al. 2011). Allerdings geht auch mit geringer physischer Freizeitaktivität (im Unterschied zu gar keiner Aktivität) ein verringertes HerzKreislauf-Risiko einher (Sattelmair et al. 2011). In Bezug auf das Demenzrisiko stellt sich der volle Gesundheitseffekt schon weitgehend bei „niedriger bis moderater“ Aktivität ein (Sofi et al. 2011). Im Unterschied zur Freizeitaktivität ist die beruflich bedingte physische Aktivität nicht (Sofi et al. 2011) oder nur auf moderatem Aktivitätsniveau (Li und Siegrist 2012) der Gesundheit zuträglich. Zwei Einschränkungen bedürfen allerdings der Erwähnung. Zum einen existiert zwischen physischer Aktivität und Gesundheit auch eine umgekehrte Kausalität: Es ist nicht nur so, dass Sport und Bewegung die Gesundheit fördern, sondern es sind auch umgekehrt die Gesunden, die eher aktiv sind (Becker 2011b). In Querschnittstudien wie auch im Alltag wird deshalb der Protektionseffekt überschätzt. Die vorgenannten Ergebnisse sind jedoch durch prospektive Längsschnittstudien abgesichert. Eine weitere Einschränkung betrifft außerdem den Umstand, dass es Menschen gibt – sog. sport non-responder –, bei denen Sport genetisch bedingt keine Gesundheitsverbesserung bewirkt und insbesondere auch nicht vor Diabetes schützt (Yates et al. 2011).

2.3

Körpergewicht

Das Körpergewicht ist neben genetischen Faktoren (Walley et al. 2009; Loos 2009) vor allem eine Funktion von Kalorienaufnahme und -verbrauch und insofern abhängig von Ernährung und Bewegung. Viele Untersuchungen thematisieren jedoch nur

198

I. Rapp und T. Klein

das Körpergewicht – interpretiert teilweise als Indikator für Ernährung und Bewegung und teilweise als eigenständige Determinante der Gesundheit. Die mit Abstand gebräuchlichste Kennzahl für die Einschätzung des Körpergewichts ist der sogenannte Body Mass Index (BMI): das Körpergewicht in Kilogramm dividiert durch die quadrierte Körpergröße in Meter. Eine Person, die einen Meter und siebzig Zentimeter misst und siebzig Kilogramm auf die Waage bringt, hat einen BMI-Wert von (70/1,72=) 24,2 und damit Normalgewicht, welches laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) bei einem BMI-Wert zwischen 18,5 und 25 liegt. Übergewicht und insbesondere starkes Übergewicht sind Risikofaktoren für zahlreiche Krankheiten (zum Überblick World Health Organization 2000). Bekannt ist besonders der Einfluss auf kardiovaskuläre Erkrankungen (z. B. Herzinfarkt, Schlaganfall, Bluthochdruck) und Stoffwechselstörungen wie Typ-2-Diabetes. Dabei ist das Diabetesrisiko vor allem mit einem großen Bauchumfang assoziiert (Vazquez et al. 2007). Darüber hinaus ist Übergewicht für viele Krebserkrankungen (vgl. zum Überblick auch Renehan et al. 2008) und für Demenz (Anstey et al. 2011) mitverantwortlich. Die Bedeutung des Körpergewichts für die Gesundheit variiert allerdings mit dem Lebensalter. Im Alter ab 65 Jahren ist die Sterblichkeit erst bei sehr starkem Übergewicht (BMI größer 33) erhöht, während umgekehrt auch zu niedriges Gewicht (BMI kleiner 23) lebensbedrohlich ist (Winter et al. 2014). Und für das Demenzrisiko im Alter ist das Körpergewicht in mittlerem Lebensalter von Bedeutung, wobei ebenfalls sowohl Über- als auch Untergewicht das Demenzrisiko erhöhen (Anstey et al. 2011). Ähnlich wie bei Sport und Bewegung ist schließlich der Zusammenhang zwischen Gewicht und Gesundheit auch von der genetischen Disposition abhängig: Es gibt nämlich einerseits auch die „gesunden Dicken“ und andererseits Schlanke mit Herz-Kreislauf-Parametern, die häufig bei Übergewichtigen vorzufinden sind.

2.4

Rauchen und Alkoholkonsum

Auch Rauchen ist mit weiteren Aspekten des Lebensstils assoziiert und lässt sich deshalb – nicht nur in der Tabakwerbung – selbst als Teil eines Lebensstils bezeichnen. Hinsichtlich der gesundheitsrelevanten Lebensstilaspekte ist die Koabhängigkeit mit dem Alkoholkonsum gut dokumentiert (Little 2000; Room 2004). Rauchen beeinträchtigt ferner die körperliche Leistungsfähigkeit und fördert auf diesem Weg einen in körperlicher Hinsicht inaktiven Lebensstil. Und es gilt auch als gesichert, dass ein Rauchausstieg im Durchschnitt mit einer Gewichtszunahme einhergeht – die Entwicklung des Gewichts nach einem Rauchstopp ist allerdings uneinheitlich, immerhin 16 % verlieren sogar an Gewicht (Aubin et al. 2012). Die gravierenden Auswirkungen des Rauchens auf die Gesundheit sind inzwischen unbestritten. Diese betreffen insbesondere Herz-Kreislauferkrankungen (vgl. z. B. Huxley und Woodward 2011) und Krebs (vgl. z. B. Gandini et al. 2008). Selbst das Risiko für Krebsarten wie Leber- und Nierenkrebs, die im Allgemeinbewusstsein weniger mit Rauchen in Verbindung gebracht werden, ist bei Rauchern im

Lebensstil und Gesundheit

199

Durchschnitt jeweils mehr als 1 ½ mal so hoch wie bei Nichtrauchern (Gandini et al. 2008). Ganz zu schweigen von dem fast 7-fachen Risiko jeweils für Rachen- und Kehlkopfkrebs und einem 9-fachen (!) Risiko für Lungenkrebs (Gandini et al. 2008). Aber auch viele weitere Krankheiten sind mit dem Rauchverhalten assoziiert. Sogar die psychische Gesundheit bessert sich nach einem Rauchausstieg, Depressionen und Angstzustände reduzieren sich, und die psychische Verfassung und die Lebensqualität verbessern sich (Taylor et al. 2014). Im Unterschied zum Rauchen hat Alkoholkonsum sowohl günstige als auch ungünstige Gesundheitseffekte. Ausschlaggebend ist hierbei die Dosierung. Zahlreiche Metaanalysen kommen zu dem Ergebnis, dass moderater Alkoholkonsum mit einer besseren Gesundheit einhergeht (im Vergleich zur Abstinenz), während zu hoher Alkoholkonsum bekanntermaßen ungesund ist. Dieser Zusammenhang gilt sowohl für das Mortalitätsrisiko bzw. die Lebenserwartung (Jayasekara et al. 2014; Roerecke und Rehm 2013) als auch für kardiovaskuläre Krankheiten (Ronksley et al. 2011; Larsson et al. 2015), für Typ-2-Diabetes und sogar für Demenz (Anstey et al. 2011). Die Abgrenzung des moderaten Alkoholkonsums variiert zwischen den Studien und ist wohl auch von dem jeweils untersuchten Gesundheitsaspekt abhängig. In Bezug auf Herzversagen ist sogar das Risiko, das mit 21 alkoholischen Getränken pro Woche einhergeht, nicht größer als das von Nichttrinkern (Larsson et al. 2015). Die Autoren dieser Studie raten dennoch von Empfehlungen zum moderaten Alkoholkonsum ab, da unklar ist, inwieweit der beobachtete U-förmige Zusammenhang Kausalität oder Selektion widerspiegelt (Larsson et al. 2015, S. 369). Für die gesundheitlichen Folgen des Alkoholkonsums ist außerdem die biografische Perspektive relevant: Ein erhöhtes Mortalitätsrisiko ist vor allem mit starkem Trinken von Jugend an verbunden (Jayasekara et al. 2014). Außerdem ist die akzeptable Menge an Alkohol pro Tag für Frauen nur halb so hoch wie die für Männer. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung „erlaubt“ 10 g reiner Alkohol pro Tag für Frauen und 20 g reiner Alkohol pro Tag für Männer, was etwa einem achtel bzw. einem viertel Liter Wein entspricht (Deutsche Gesellschaft für Ernährung et al. 2015).

3

Trends und soziale Unterschiede des gesundheitsrelevanten Lebensstils

3.1

Ernährung

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich die Rahmenbedingungen der Ernährung grundlegend verändert. Heute lebende Personen können im Vergleich zu früheren lebenden Personen auf ein viel größeres Lebensmittelangebot zurückgreifen, zum Beispiel ganzjährig auf frisches Obst und Gemüse oder auf eine schier unermessliche Auswahl an Fertiggerichten und Süßwaren. Damit sind die Möglichkeiten für eine gesunde Ernährung erweitert, aber auch das Risiko einer ungesunden Ernäh-

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rung ist gestiegen. Und auch die Familienstrukturen und die Berufstätigkeit unterliegen einem Wandel, der sich in den Essgewohnheiten der Menschen niederschlägt. Rückschlüsse auf langfristige Trends des Ernährungsverhaltens lassen sich aus der amtlichen Agrarstatistik ziehen (im Folgenden Stehle 2014). Aus dieser geht beispielsweise hervor, dass seit den 1950er-Jahren der Konsum von Kartoffeln, Butter und pflanzlichen Fetten abgenommen hat. Demgegenüber ist der Konsum von Gemüse, Geflügel, Käse und Fisch gestiegen. Bis in die 1980er-Jahre hat auch der Zuckerverbrauch zugenommen und stagniert seither auf hohem Niveau. Die Zusammensetzung der Nahrung hat sich somit verändert, allerdings nicht eindeutig zum Guten oder zum Schlechten. Weiterhin wird heutzutage – nicht zuletzt aufgrund kleinerer Haushaltsgrößen und zunehmender außerhäuslicher Erwerbstätigkeit vor allem von Frauen – seltener selbst gekocht und häufiger außer Haus gegessen (Rückert-John et al. 2011). Schichtunterschiede des Ernährungsverhaltens sind unter anderem in den Ergebnissen der Nationalen Verzehrsstudie II aus den Jahren 2005–2007 gut dokumentiert (Max Rubner-Institut 2008b, S. 58 ff.; Heuer et al. 2015). Je höher die soziale Schichtzugehörigkeit, gemessen durch Bildung, Beruf und Einkommen, umso höher ist der Konsum von Gemüse, Obst und Fisch und umso geringer der von Fleisch, Wurst und Limonade. Es zeigt sich somit ein klarer Zusammenhang zwischen der sozialen Schichtzugehörigkeit und der gesundheitlichen Qualität der Nahrung (wie sie oben in Abschn. 2.1 beschrieben ist). Der Schichtunterschied der Ernährung gilt sowohl für Männer als auch für Frauen, die sich insgesamt etwas gesünder ernähren als Männer. Auch andere Lebensstilaspekte sind mit dem Essverhalten assoziiert, so verzehren beispielsweise Nichtraucher und Personen, die Sport treiben, weniger Fleisch und mehr Obst als Raucher und sportlich Inaktive (Stehle 2014). Für die Erklärung der Schichtunterschiede der Ernährung spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Hierzu zählen die besseren finanziellen Möglichkeiten in höheren sozialen Schichten, verbunden mit höheren Preisen von nährstoffreichen und kalorienarmen Nahrungsmitteln im Vergleich zu nährstoffarmen und kalorienreichen Produkten (Darmon et al. 2003; Monsivais und Drewnowski 2007) und auch verbunden mit häufigerem Einkauf im Lebensmittelfachgeschäft, auf dem Wochenmarkt oder im Naturkostladen (Max Rubner-Institut 2008a, S. 117). Das Wissen um die Bestandteile einer gesunden Ernährung trägt vermutlich ebenfalls zu den Schichtunterschieden der Ernährung bei, jedenfalls ist das Ernährungswissen in den sozial besser gestellten Bevölkerungsgruppen größer (Parmenter et al. 2000; Max Rubner-Institut 2008a, S. 99 ff.). Und auch größere psychosoziale Belastungen im Beruf in unteren Statusgruppen, die zum Beispiel in Gratifikationskrisen bei der Arbeit begründet sind (Siegrist 2005, S. 71 f.), leisten einen Beitrag zur Erklärung von Schichtunterschieden der Ernährung, denn eine hohe Stressbelastung geht mit einer vermehrten Nahrungsaufnahme einher (Laitinen et al. 2002; Ng und Jeffery 2003). Von großer Bedeutung für die Schichtunterschiede der Ernährung sind vermutlich auch die Gelegenheiten der Ernährung. In vielen Situationen kann man sich das Essen nicht oder nur bedingt selbst aussuchen, zum Beispiel in der Kantine oder bei privaten Einladungen. Insbesondere die weit verbreitete Tendenz, unter „Seinesgleichen“ zu verkehren, führt deshalb, in Verbindung mit den beschriebenen

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Schichtunterschieden der Ernährung, dazu, dass Personen aus höheren Schichten eine gesunde Ernährung in gewisser Weise regelrecht aufgezwungen wird. Dies gilt natürlich mit umgekehrten Vorzeichen auch für Personen aus sozial schlechter gestellten Bevölkerungsgruppen. Beides trägt zu einer Verstärkung und Verfestigung von Schichtunterschieden der Ernährung bei. Unterschiede im Ernährungsverhalten zeigen sich auch zwischen Personen in einer Partnerschaft und Singles. So äußern zum Beispiel Verheiratete im Vergleich zu Ledigen eine stärkere Präferenz für regionale und unverarbeitete Nahrungsmittel und eine geringere Präferenz für Fertigprodukte (Mata et al. 2015). Diesem günstigen Partnerschaftseffekt auf die Ernährung wirkt aber unter Umständen entgegen, dass eine Partnerschaft mit häufigerer Nahrungsaufnahme einhergeht (Craig und Truswell 1988) und dass in Gemeinschaft eingenommene Mahlzeiten tendenziell reichhaltiger ausfallen (Herman et al. 2003).

3.2

Sportaktivität und Bewegungsverhalten im Alltag

Um die Trends des Bewegungsverhaltens zu beschreiben, ist es zweckmäßig, zwischen der Sportaktivität und dem (sonstigen) körperlichen Bewegungsverhalten im Alltag zu unterscheiden. Allerdings ist es mitunter schwierig oder gar unmöglich, eine eindeutige Grenze zu ziehen (vgl. Röthig und Prohl 2003). Wohl auch aus diesem Grund beruhen viele Untersuchungen zur Sportaktivität auf einer Selbstdefinition von Sport durch die Studienteilnehmer. Die Feststellung von Veränderungen der Sportaktivität steht außerdem vor dem Problem, dass sich die Kriterien für sportliche Aktivität im Zeitverlauf ändern. Sieht man von diesen Vorbehalten ab, zeigen empirische Daten seit Mitte der 80er-Jahre eine anwachsende Gruppe sportlich aktiver Personen und eine kleiner werdende Gruppe der sportlich Inaktiven (Becker 2011a; Breuer 2005). Im Jahre 1986 waren rund 25 % der erwachsenen Bevölkerung mindestens einmal pro Woche sportlich aktiv, 2005 betrug dieser Anteil rund 30 %. Im selben Zeitraum hat sich die Gruppe derer, die überhaupt keinen Sport treibt, von knapp 60 % der erwachsenen Bevölkerung auf etwas mehr als 40 % reduziert (Becker 2011a). Diese Zunahme der Sportaktivität im Zeitverlauf ist vor allem in Kohortenunterschieden der Sportaktivität begründet. Jüngere Jahrgänge haben zeitlebens mehr Sport getrieben als ältere Jahrgänge (Klein und Becker 2008). Beigetragen zu dieser Entwicklung haben vermutlich der Rückgang körperlich schwerer Arbeit, eine insgesamt gestiegene Freizeitorientierung und der verbesserte Gesundheitszustand (Klein und Becker 2008, S. 230 ff.). Demgegenüber hat die außersportliche körperliche Aktivität im langfristigen historischen Vergleich abgenommen, durch motorisierte Fortbewegung, durch eine geringere Verbreitung manueller Berufe und durch die Automatisierung in Beruf und Haushalt. Wie das Ernährungsverhalten sind auch die Sportaktivität und das Bewegungsverhalten von der Schichtzugehörigkeit abhängig. Personen mit höherem Bildungsabschluss, größerem Einkommen und höherem Berufsstatus treiben mehr Sport (Rhodes et al. 1999) und bewegen sich auch insgesamt mehr (Trost et al. 2002; Sallis und Owen 1999; Kirk und Rhodes 2011). Da die drei genannten Schichtindi-

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katoren hoch korreliert sind, stellt sich die Frage, inwieweit Bildung, Einkommen oder Beruf für die Schichtunterschiede der Sportaktivität und des Bewegungsverhaltens verantwortlich sind. Ergebnisse aus differenzierteren Analysen (Klein 2009) weisen darauf hin, dass vor allem die Bildung bzw. damit einhergehende Faktoren (wie unterschiedliche Wert- und Verhaltensorientierungen) für die Schichtunterschiede der Sportaktivität verantwortlich sind. Damit geht einher, dass sich Bildungsunterschiede der Sportaktivität auch bei vergleichsweise preisgünstigen Sportarten wie Jogging beobachten lassen (Klein 2009). Generell gilt, dass Personen mit höherer Bildung nicht häufiger mit einer Sportart beginnen, aber länger dabeibleiben als Personen mit niedrigerer Bildung (Klein 2009). Neben der Bildung haben aber auch das Einkommen und der Beruf einen eigenständigen Einfluss auf die Sportaktivität (Hoebel et al. 2016). Dabei gehen sowohl körperlich anstrengende Arbeit (Finger et al. 2012) als auch psychisch belastende Arbeitsbedingungen (Kirk und Rhodes 2011) mit wenig Bewegung in der Freizeit einher. Auch das Leben in Partnerschaft prägt die Sportaktivität und scheint mit einem weniger ausgeprägten Sport- und Bewegungsdrang einherzugehen als das SingleDasein (vgl. im Folgenden Rapp und Klein 2015). Längsschnittstudien haben beispielsweise gezeigt, dass sich Sport und Bewegung nach einer Heirat reduzieren (Bell und Lee 2005; Brown et al. 2009; Eng et al. 2005). Auch der Zusammenzug mit dem Partner verringert die Sportaktivität, jedoch nicht so stark wie eine Heirat, und am wenigsten reduziert sich die Sportaktivität bei Paaren, die nicht zusammenwohnen (Rapp und Schneider 2013). Der Rückgang der Sportaktivität in Partnerschaft fällt damit umso stärker aus, je stabiler die Beziehungsform. Die geringere Sportaktivität von Paaren und insbesondere von Ehepaaren lässt sich möglicherweise mit der Entlassung aus der Konkurrenz auf dem Partnermarkt erklären (vgl. Averett et al. 2008, S. 332): Da ein sportlicher Körper der Attraktivität zugutekommt, haben Partnerlose ein Motiv zur Sportaktivität, das Personen in stabilen Partnerschaften nicht mehr haben. Allerdings ändert sich der Zusammenhang zwischen dem Partnerschaftsstatus und der Sportaktivität mit dem Lebensalter. Eine Partnerschaft reduziert die Sportaktivität am stärksten in jungen Jahren, wohingegen Ältere und insbesondere ältere Männer sogar eher Sport treiben, wenn sie mit einem Partner oder einer Partnerin zusammenleben (Mensink et al. 1997; Rapp und Schneider 2013). Ein Grund hierfür könnte sein, dass Sport mit steigendem Alter vermehrt als Mittel zur Gesundheitsförderung betrieben wird und dass deshalb die soziale Unterstützung und Kontrolle, die die Partner einander bieten (vgl. Umberson 1992), mit steigendem Alter auch für die Sportaktivität wichtiger wird (Rapp und Schneider 2013).

3.3

Körpergewicht

Der durchschnittliche Body Mass Index (BMI) der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland ist zwischen 1978 und 2013 von 24,3 (vom Statistischen Bundesamt auf Anfrage zur Verfügung gestellt) auf 25,9 (Statistisches Bundesamt 2014) gestiegen. Dies entspricht einem Anstieg des Körpergewichts um etwa fünf Kilogramm

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bei einer durchschnittlich großen Person. Im selben Zeitraum ist der Anteil der Erwachsenen mit starkem Übergewicht (BMI gleich oder größer 30) von rund 6 % auf rund 16 % gestiegen. Die zunehmende Verbreitung von Übergewicht steht sicherlich mit den oben skizzierten Veränderungen der Ernährung und des Bewegungsverhaltens in Zusammenhang. Daneben werden zahlreiche weitere Faktoren für die zunehmende Verbreitung von Übergewicht und Adipositas verantwortlich gemacht (im Folgenden Keith et al. 2006). Hierzu zählen eine reduzierte Schlafdauer, eine Verringerung der Raucherquote, eine zunehmend ausgeglichene Raumtemperatur im Sommer und im Winter und die zunehmende Verbreitung von Medikamenten und chemischen Substanzen in der Umwelt, die Übergewicht fördern. Und auch die Alterung der Bevölkerung trägt zu einer Erhöhung der Prävalenz von Übergewicht bei, da der BMI mit steigendem Alter zunimmt. Angesichts der oben beschriebenen Schichtunterschiede des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens kann es nicht überraschen, dass auch das Körpergewicht mit der Schichtzugehörigkeit korreliert. Sowohl bei Frauen als auch bei Männern sind ein hoher Bildungsabschluss, ein hohes Einkommen und ein hoher Berufsstatus mit einem vergleichsweise niedrigen Körpergewicht assoziiert (Heineck 2006; Helmert und Strube 2004; Kuntz und Lampert 2010; Max Rubner-Institut 2008a; Mensink et al. 2005). Die auf Ernährung und Bewegung beruhenden Ursachen für die Schichtunterschiede des Körpergewichts wurden bereits in den vorstehenden Abschnitten genannt, vor allem Unterschiede der finanziellen Ressourcen, des gesundheitsrelevanten Wissens und weiterer Arbeits- und Lebensbedingungen. Darüber hinaus hat die Sozialisation Bedeutung für Ernährung, Bewegung und Körpergewicht. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass Kinder die Vorlieben und Gewohnheiten ihrer Eltern zu einem mehr oder weniger großen Teil übernehmen (Bourdieu 1983). Nicht nur der eigene Sozialstatus, sondern auch derjenige der Eltern, d. h. die soziale Herkunft, ist daher mitverantwortlich für den gesundheitsrelevanten Lebensstil. Die Schichtunterschiede des Körpergewichts beruhen folglich auch darauf, dass Personen mit niedriger Schichtzugehörigkeit oftmals auch Eltern mit niedriger Schichtzugehörigkeit haben und unter den entsprechenden Bedingungen sozialisiert wurden. Eine spannende, noch wenig untersuchte Frage ist in diesem Zusammenhang auch, wie sich soziale Auf- und Abstiege im Vergleich zu den Eltern (intergenerationale soziale Mobilität) auf Gesundheitsverhalten und Körpergewicht auswirken (Boylan et al. 2013; Heraclides und Brunner 2009; Kuntz und Lampert 2012). Im Unterschied zur Partnerlosigkeit geht das Leben in Ehe und Partnerschaft mit einer Gewichtszunahme einher (Averett et al. 2008; Sobal et al. 2003; Wilson 2012). Dennoch lässt sich nicht einheitlich nachweisen, dass Menschen mit Partner dicker sind als Singles gleichen Alters (vgl. zum Überblick Klein 2011), und manche Studien finden sogar ein geringeres Körpergewicht bei Verheirateten als bei Ledigen (z. B. Sund et al. 2010). Dieser scheinbare Widerspruch klärt sich auf angesichts der schon angesprochenen Bedeutung physischer Attraktivität bei der Partnerwahl. Schlanke, sportliche Personen sind im Durchschnitt attraktiver und finden deshalb leichter einen Partner. Beides – ein Gewichtsanstieg nach dem Beginn einer Partner-

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schaft und das geringere Gewicht derer, die bei der Partnersuche erfolgreich sind – kompensieren sich und führen in der Summe dazu, dass es im Gruppenvergleich zwischen Menschen mit und ohne Partner kaum Gewichtsunterschiede gibt (Klein 2011). Wie lässt sich die Gewichtszunahme in Partnerschaften erklären? Eine wichtige Rolle hierfür spielen die geringere Sportaktivität von Paaren (vgl. Abschn. 3.2) sowie häufigere und reichhaltigere Mahlzeiten (vgl. Abschn. 3.1). Auch in puncto Gewichtszunahme spielt die Entlassung aus der Partnermarktkonkurrenz eine wichtige Rolle (Averett et al. 2008; Klein 2011). Hierfür spricht auch der Befund, wonach Partnerlose umso schlanker bleiben, je ungünstiger die Geschlechterrelation auf dem Partnermarkt und je höher damit die Konkurrenz um einen Partner (Klein 2011) ist.

3.4

Rauchen und Alkoholkonsum

Im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts hat der Zigarettenkonsum zunächst stark zugenommen, bis in den 1970er-Jahren in Westdeutschland ein Rückgang des ProKopf Zigarettenkonsums eingesetzt hat (Schulze und Lampert 2006). Der Anteil der weiblichen Raucher ist allerdings noch bis zur Jahrtausendwende gestiegen und hat sich dadurch dem Raucheranteil der Männer angenähert (Lampert 2011). Besonders ausgeprägt ist der aktuelle Rückgang der Raucherquote bei den Jugendlichen. Im Jahr 1979 haben noch gut 30 % der 12- bis 17-Jährigen täglich oder zumindest gelegentlich geraucht. In der Folge sank der Anteil jugendlicher Raucher zunächst moderat, erhöhte sich bis zur Jahrtausendwende noch einmal auf rund 28 % und hat sich seitdem stark reduziert auf etwa 12 % im Jahr 2011 (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) 2012, S. 39 f.). Diese Entwicklung ist auch deshalb erfreulich, weil der Einstieg ins Rauchen meist in jungen Jahren oder gar nicht erfolgt (Mons 2007, S. 26). Der durchschnittliche Alkoholkonsum ist hingegen bereits seit den 1950er-Jahren rückläufig (Stehle 2014). Und auch das sogenannte „Rauschtrinken“ (mindestens 5 Gläser Alkohol hintereinander) von Jugendlichen ist in den letzten Jahren seltener geworden (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) 2012, S. 28 ff.). Beim Rauchen bestehen heutzutage größere Schichtunterschiede als bei der Ernährung, beim Bewegungsverhalten und beim Körpergewicht (zum Rauchen Lampert 2011; Schulze und Lampert 2006). Allerdings zeigen sich höhere Raucheranteile bei den sozial schlechter gestellten Bevölkerungsgruppen erst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und damit erst, seitdem die gravierenden Folgen des Rauchens für die Gesundheit zunehmend bekannt wurden (vgl. Smith 2004). Davor war der Zusammenhang zwischen Rauchen und sozialer Schichtzugehörigkeit umgekehrt (Schulze und Lampert 2006, S. 9; Lopez et al. 1994, S. 245). Dazwischen – etwa in den 1960er-Jahren – gab es nahezu keinen Schichtunterschied. Im Gegensatz zum Rauchverhalten kennt der Alkoholkonsum keine eindeutigen Schichtunterschiede, und er ist bei Frauen sogar in den oberen Schichten häufiger (Max Rubner-Institut 2008b, S. 66; Henkel et al. 2003, S. 309 f.).

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Anders als in Bezug auf die Ernährung erscheint eher unplausibel, dass Unterschiede im Wissen um die gesundheitlichen Konsequenzen eine größere Rolle für die Erklärung der Schichtunterschiede des Rauchens spielen. Denn die gesundheitsschädigende Wirkung und das Suchtpotenzial des Rauchens sind inzwischen unbestritten und allgemein bekannt, u. a. dank flächendeckender Aufklärung in Schulen. Auch die geringeren finanziellen Ressourcen bei den unteren sozialen Schichten kommen auf den ersten Blick nicht als Erklärung für die Schichtunterschiede des Rauchens infrage, denn Rauchen ist teuer, jedenfalls teurer als Nichtrauchen. Jedoch ist Rauchen im Vergleich zu vielen anderen Entspannungsstrategien (gut essen, einkaufen, reisen etc.) noch immer vergleichsweise preiswert. Und auch die entspannende und beruhigende Wirkung des Nikotins dürfte für untere soziale Schichten verlockender erscheinen, weil die psychosozialen Belastungen größer sind (vgl. Abschn. 3.1). Eine weitere Erklärung des Zusammenhangs zwischen niedrigem Sozialstatus und hoher Rauchprävalenz beruht auf geringer Zukunftsorientierung bei den sozial schlechter gestellten Bevölkerungsgruppen (Peretti-Watel et al. 2013). Geringe Zukunftsorientierung führt dazu, dass zukünftige Gesundheitskosten des Rauchens weniger stark in Handlungsentscheidungen einbezogen werden. Und schließlich spielen auch soziale Kontextfaktoren eine Rolle für die Erklärung der Schichtunterschiede des Rauchens: In sozial benachteiligten Wohngebieten sind Tabakwaren besser verfügbar (Schneider und Gruber 2013), Tabakwerbung ist weiterverbreitet (Feighery et al. 2008) und es wird im Umfeld mehr geraucht, wodurch es schwieriger wird, selbst nicht zu rauchen. Auch der Partnerschaftsstatus ist mit dem Rauch- und Trinkverhalten verknüpft. Die höchsten Raucheranteile finden sich bei geschiedenen und getrenntlebenden Personen, während Verheiratete vergleichsweise selten rauchen (Schulze und Lampert 2006, S. 24 ff.; Helmert et al. 2001). Hierfür sind verschiedene Faktoren verantwortlich. Einerseits hilft die Unterstützung eines selbst nicht rauchenden Partners dabei, mit dem Rauchen aufzuhören (Klein et al. 2013). Und andererseits sind Scheidungen und Trennungen ein häufiger Anlass, (wieder) mit dem Rauchen anzufangen (Lee et al. 2005). Bezüglich des Alkoholkonsums ist gut dokumentiert, dass der Zusammenzug mit einem Partner und noch deutlicher eine Heirat den Alkoholkonsum und das bereits erwähnte „Rauschtrinken“ reduzieren (Duncan et al. 2006; Lee et al. 2015). Diese disziplinierende Wirkung einer Heirat wird von vielen Autoren als Reaktion auf den Übergang in eine neue Rolle gedeutet: Übermäßiger Alkoholkonsum mag zum „wilderen“ Leben als Single passen, nicht jedoch zum Leben als Ehefrau bzw. Ehemann (Duncan et al. 2006; Lee et al. 2015).

4

Fazit

Gesundheit ist nicht nur Schicksal, sondern auch individuell beeinflussbar. Bereits wenige Stunden körperlicher Aktivität pro Woche, eine ausgewogene Ernährung sowie der Verzicht auf Rauchen und übermäßigen Alkoholkonsum versprechen eine spürbar bessere Gesundheit. Allerdings sind gesundheitsrelevante Verhaltensweisen eng an soziale Faktoren gebunden. Der vorliegende Forschungsüberblick zeigt

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konsistente Zusammenhänge zwischen dem gesundheitsrelevanten Verhalten und der sozialen Schichtzugehörigkeit. Personen aus sozial schlechter gestellten Bevölkerungsgruppen rauchen häufiger, treiben weniger Sport, ernähren sich ungesünder und sind häufiger übergewichtig als Personen aus besser gestellten Bevölkerungsgruppen. Einzig beim Alkoholkonsum gibt es keinen eindeutigen Zusammenhang mit der Sozialschicht. Ebenso ist der Zusammenhang zwischen Gesundheitsverhalten und Partnerschaftsstatus uneinheitlich: Einerseits reduziert das Leben mit einem Partner den Konsum von Alkohol und Zigaretten, andererseits werden ein bewegungsarmer Lebensstil und Übergewicht begünstigt. Der vorliegende Beitrag macht auch deutlich, dass gesundheitsrelevante Aspekte des Lebensstils in einen generellen Lebensstil integriert und durch vielfältige Mechanismen mit sozialen Faktoren verknüpft sind. Aus diesen Ergebnissen lassen sich Schlussfolgerungen für Public HealthInterventionen ziehen. Personen aus sozial schlechter gestellten Bevölkerungsgruppen weisen eindeutig den meisten Raum für eine Verbesserung des Gesundheitsverhaltens auf. Maßnahmen mit dem Ziel der Verbesserung des Gesundheitsverhaltens der Bevölkerung sollten folglich vordringlich auf Personen mit niedriger Bildung, niedrigem Berufsstatus und geringem Einkommen zugeschnitten werden. Der große Einfluss, den die Lebensverhältnisse auf das Gesundheitsverhalten haben, verweist zudem auf die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit zur Verhältnisprävention. Die Verbesserung belastender Arbeitsbedingungen, die Bekämpfung von Armut und die Förderung von Bildung versprechen eine Verbesserung des Gesundheitsverhaltens und der Gesundheit gerade bei den diesbezüglich am stärksten benachteiligten Bevölkerungsgruppen.

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Teil III Ungleichheit und Gesundheit

Gender und Gesundheit Birgit Babitsch, Nina-Alexandra Götz und Julia Zeitler

Inhalt 1 2 3 4

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterschiede oder Ungleichheiten: Anforderungen aus der Geschlechterperspektive . . . . Gesundheit und Krankheit aus der Geschlechterperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Realität geschlechtsspezifischer und sozialer Unterschiede: Ein Blick in die aktuellen Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ungleiche Verhältnisse, ungleiche Gesundheit: Wirkmechanismen gesundheitlicher Ungleichheit aus der Geschlechterperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Alternative Ansätze zur Beschreibung gesundheitlicher Ungleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Trotz zahlreicher gesellschaftlich-politischer Bemühungen und Maßnahmen, wie zum Beispiel die „Gender Mainstreaming-Strategie“, zur Erreichung einer Gleichstellung zwischen den Geschlechtern, bestehen nach wie vor zwischen Frauen und Männern strukturell bedingte Unterschiede in der sozialen Lebenslage und der Gesundheit. Entsprechend ist bei der Beschreibung und Analyse gesundheitlicher Chancengleichheit die Kategorie Geschlecht eine wesentliche Einflussgröße, da weder die Dimensionen sozialer Ungleichheit noch die relevanten Einflussfaktoren für die Entstehung gesundheitlicher Ungleichheit geschlechtsneutral sind. Im Gegenteil ist von einer komplexen Gemengelage dieser beiden sozialen Dimensionen auszugehen, die zu unterschiedlichen Risi-

B. Babitsch (*) · N.-A. Götz (*) · J. Zeitler (*) FB 8 - Humanwissenschaften, Institut für Gesundheitsforschung und Bildung, Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Kriwy, M. Jungbauer-Gans (Hrsg.), Handbuch Gesundheitssoziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06392-4_11

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B. Babitsch et al.

ken/Belastungen und Ressourcen führen. Für eine geschlechterangemessene Sozialepidemiologie und Versorgungsforschung besteht deshalb weiterer Forschungsbedarf in der Untersuchung von Wirkmechanismen sowie bei der Erfassung sozialer und geschlechterspezifischer (Un-)Gleichheit. Schlüsselwörter

Geschlecht · Gesundheitliche Chancengleichheit · Soziale Ungleichheit · Versorgungsforschung · Capability Approach · VerwirklichungschancenGesundheit

1

Einleitung

Um Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen den Geschlechtern erfassen, beschreiben und erklären zu können, ist weit mehr erforderlich, als die Berücksichtigung biologischer Unterschiede. Wie die Frauen- und Geschlechterforschung aufzeigen konnte, unterliegt das was als typisch „weiblich“ bzw. was als typisch „männlich“ betrachtet wird, einem historischen Wandel und ist eng an die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verknüpft. Die Biologie der Geschlechter dient(e) dabei häufig als Legitimationsrahmen, um Frauen und Männern unterschiedliche Aufgaben und Verantwortlichkeiten in der Gesellschaft zuzuschreiben. So wurde z. B. über die unterschiedliche Gehirngröße von Frauen und Männern, Frauen eine begrenzte intellektuelle Fähigkeit zugeschrieben und der Ausschluss aus den Universitäten begründet. Auch wurde die Gebärfähigkeit von Frauen mit einer sich entwickelnden Vorstellung von Mütterlichkeit verknüpft, die zu einer gesellschaftlich legitimierten Verteilung reproduktiver und produktiver Aufgaben führt(e). Die drei K’s (Kinder, Küche, Kirche) wurden somit zum Leitbild der bürgerlichen Gesellschaft und galten als der normative Rahmen für (bürgerliche) Frauen, für die eine Erwerbstätigkeit und damit verbunden auch eine finanzielle Unabhängigkeit nur im begrenzten Rahmen zur Normalbiografie gehörten. Diese Normalbiografie traf jedoch schon damals nicht für alle Frauen zu, so dass für nichtbürgerliche Frauen die eigene Erwerbstätigkeit den Lebensalltag prägte und einen wichtigen Beitrag zur Sicherung der Familie darstellte. Analytisch können diese mit dem Geschlecht verbundenen Aspekte durch die „sex“- und „gender“-Differenzierung erfasst und damit der vermeintlich biologische Kern im Sinne einer natürlichen Gegebenheit dechiffriert werden. Denn selbst wenn – und dies ist unzweifelhaft so – biologische Unterschiede zwischen Frauen und Männern bestehen, bekommen sie nur durch eine gesellschaftliche Einordnung in ein System von Besser- und Schlechterstellung bzw. von Gleichheit und Ungleichheit eine gesellschaftliche Relevanz und verwandeln sich von reinen Differenzierungs- hin zu Ungleichheitsmerkmalen. Obgleich diese binäre Betrachtung der Kategorie Geschlecht für die Analyse von Geschlechterunterschieden erkenntnisleitend war und ist, wurde diese vielfach in der Frauen- und Geschlechterforschung kritisiert, da sie zu einer statischen und nicht

Gender und Gesundheit

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prozess- und handlungsorientierten Betrachtung der Geschlechteridentitäten und -rollen beiträgt und zu einer simplifizierenden Unterscheidung von Frauen und Männern als distinkte Gruppen führt, mit der Gefahr dass die Unterschiede innerhalb der Genusgruppen bzw. die Gemeinsamkeiten zwischen den Geschlechtern nicht ausreichend berücksichtigt werden (vgl. z. B. Kuhlmann 2015). Aktuelle Ansätze in der Frauen- und Geschlechterforschung greifen diese Anforderungen in ihren Ansätzen auf und konnten belegen, wie stark die Kategorie Geschlecht bis dato individuelle und gesellschaftliche Rollenerwartungen sowie die Lebensentwürfe von Frauen und Männern, die eng an das jeweils vorherrschende Geschlechterverhältnis geknüpft sind, bestimmt. Im folgenden Beitrag wird der Blick auf die Zusammenhänge zwischen Geschlecht, sozialem Status und Gesundheit gelenkt und dabei zunächst Bezug auf die oben skizzierten Diskurse genommen. Im Anschluss daran werden Verbindungslinien und zentrale Fragestellungen aufgezeigt.

2

Unterschiede oder Ungleichheiten: Anforderungen aus der Geschlechterperspektive

Die Gleichberechtigung zwischen Männer und Frauen ist einer der Grundsätze, die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland niedergeschrieben sind (Artikel 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland). Entsprechend soll kein Mann und keine Frau, kein Junge und kein Mädchen aufgrund seines/ihres Geschlechtes benachteiligt bzw. diskriminiert werden. Die gesellschaftliche Realität hat diesen Idealzustand jedoch noch nicht erreicht, da zahlreiche Unterschiede zwischen Frauen und Männern existieren, die auf eine nach wie vor bestehende strukturelle Ungleichheit zwischen den Geschlechtern hinweisen (BMFSFJ 2015). Zu nennen sind hier exemplarisch Ungleichheiten im Erwerbsleben, die sich in einem niedrigeren Einkommen („gender pay gap“) und geringeren Aufstiegschancen von Frauen im Vergleich zu Männern trotz einer Angleichung bei den Bildungsabschlüssen ausdrücken (siehe z. B. BMFSFJ 2013a, b). Zur Analyse der Geschlechterungleichheiten stellt die im ersten Gleichstellungsbericht (BMFSFJ 2013a) eingenommene Lebenslauforientierung eine zentrale und gewinnbringende Perspektive dar, die es erlaubt in den unterschiedlichen Lebensphasen die Rollenbilder und -erwartungen sowie die strukturellen Einflüsse auf die Biografie(n) von Frauen und Männern unterschiedlicher Generationen beschreiben und analysieren zu können. Auf politischer Ebene wurde und wird mit dem Ansatz des Gender Mainstreamings versucht, bei allen politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen der Schlechterstellung einer Genusgruppe gegenüber der anderen entgegen zu wirken. Seit 2008 ist der Gender-Mainstreaming-Ansatz mit dem Vertrag von Lissabon in der Europäischen Union verbindlich festgeschrieben (BMFSFJ 2014). Die verbindliche Verankerung des Gender Mainstreamings erfolgte in Deutschland durch eine Novellierung der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO) im Jahre 2000 (BMFSFJ 2014) im § 2 GGO (Gleichstellung von Frauen und Männern). Dort wird die Gleichstellung von Frauen und Männern als durchgängiges

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B. Babitsch et al.

Leitprinzip festgeschrieben „und soll bei allen politischen, normgebenden und verwaltenden Maßnahmen der Bundesministerien in ihren Bereichen gefördert werden (Gender-Mainstreaming)“ (Die Bundesregierung 2011, S. 6). Gender Mainstreaming erfährt auch in der Gesundheitsforschung zunehmendes Interesse. In der nationalen Gesundheitspolitik und der Forschungsausrichtung wird seit über 10 Jahren die „Gender Mainstreaming Strategie“ verfolgt (Färber 2013). „Mainstreaming“ bedeutet hierbei, dass etwas bisher Nachgeordnetes nun in den „Hauptstrom“ der Aufmerksamkeit integriert wird (Altgeld und Kolip 2006). Damit impliziert wird eine Doppelstrategie, bei der zum einen die gesundheitliche Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern hergestellt und zum anderen der geschlechtsspezifische Versorgungs- und Präventionsbedarf ermittelt und in konkrete Maßnahmen überführt werden soll (Altgeld und Kolip 2006). Ein undifferenzierter Gleichheitsanspruch würde nicht unbedingt dazu führen, Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern zu verringern. Entsprechend resultiert hieraus nicht, dass Frauen und Männer in der Folge immer das „Gleiche“ bekommen müssen, sondern das „Angemessene“, d. h. den unter Umständen geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Bedarfen und Bedürfnissen entsprechende. Umfangreiche Erkenntnisse zur Geschlechterungleichheit konnte die Frauen- und Geschlechterforschung in den letzten 30 Jahren herausarbeiten. Zu deren Genese und Stabilisierung tragen die Geschlechterverhältnisse sowie deren gesellschaftliche und historische Kontextgebundenheit wesentlich bei. Sehr gut wurden dabei Schließungsprozesse beschrieben, auf Basis derer – eingewoben in die Strukturen der Gesellschaft bzw. in die Organisationen – Ungleichbehandlungen zu Lasten eines Geschlechtes resultieren. Darüber hinaus konnte sehr eindrücklich aufgezeigt werden, wie im Lebensalltag, aber auch in Organisationen durch das alltägliche Handeln Geschlechterverhältnisse reproduziert werden, in dem sie individuell eingeübt und verstetigt werden. Dieser Ansatz des „doing gender“ (West und Zimmerman 1987; West und Fenstermaker 1995) erwies sich auch in empirischen Analysen als sehr hilfreich für das Erkennen der tieferliegenden Strukturen von Geschlechterungleichheit. Unterschiede zwischen Frauen und Männern zeigen sich in vielen Lebensbereichen und insbesondere auch in den zentralen Dimensionen sozialer Ungleichheit. Bei den klassischen Indikatoren sozialer Ungleichheit, wie Bildung, Einkommen und berufliche Stellung, werden Besser- und Schlechterstellungen von Frauen und Männern ebenso wie der Einfluss gesellschaftlicher Transformationsprozesse auf diese deutlich. Während im Bereich Bildung eine deutliche Erhöhung der Bildungsabschlüsse bei den Frauen im Vergleich zu den Männern erreicht werden konnte, findet sich bei den hohen beruflichen Stellungen und den hohen Einkommen nach wie vor eine Unterrepräsentanz der Frauen (BMFSFJ 2013a, b). Letztgenanntes macht deutlich, dass eine Trennung der Mechanismen geschlechterbezogener und sozialer Ungleichheit nur begrenzt möglich ist und entsprechend beide Perspektiven bei der Analyse sozialer Ungleichheit mitzudenken sind. Hradil (1987) hat hierzu Geschlecht neben anderen Dimensionen als sogenannte horizontale Dimension eingeführt, die bei der Analyse sozialer Ungleichheit zusätzlich neben den vertikalen Dimensionen berücksichtigt werden sollten. Im Vergleich zu den hierarchisch berufsbezogenen, vertikalen Ungleichheitsmaßen zielen diese horizontalen Un-

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gleichheitsmaße auf die Erfassung weiterer Dimensionen sozialer Ungleichheit, die determinierend auf Handlungsbedingungen und Lebenschancen wirken und dabei auch Lebensbereiche wie beispielsweise Freizeitgestaltung, kulturelle Teilhabe und soziale Integration miteinbeziehen (Lampert und Kroll 2009). Insbesondere in Konzepten und Modellen wie z. B. der sozialen Lage (vgl. z. B. Voges et al. 2003) oder Lebensstilen (vgl. z. B. Hradil 1987; Lüdtke 1989) wird dies explizit berücksichtigt.

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Gesundheit und Krankheit aus der Geschlechterperspektive

Die Berücksichtigung der Geschlechterperspektive in der Gesundheitsforschung, der Medizin und der Gesundheitsversorgung beginnt sich zunehmend zu etablieren. Die Frauen- und Geschlechterforschung und die jüngst etablierte Gendermedizin haben hierzu einen wesentlichen Beitrag geleistet, indem sie wesentliche Erkenntnisse zu Geschlechterunterschieden in Morbidität und Mortalität herausgearbeitet haben. Herausgestellt wurde dabei die Begrenztheit von Studienerkenntnissen, insbesondere der medizinischen und klinischen Forschung, da diese lange Zeit maßgeblich auf männliche Bevölkerungsgruppen beschränkt waren (Mastroianni et al. 1994; Nadel 1990). Als wesentliche Argumente für diese Vorgehensweise wurden angeführt: 1) Frauen wurden aus klinischen Studien ausgeschlossen, um sie in ihrer reproduktiven Phase zu schützen. 2) Es wurde davon ausgegangen, dass Frauen und Männer gleiche Symptome zeigen und gleich auf Behandlungen reagieren. 3) Forscher/-innen strebten meist, besonders in Medikamentenstudien, homogene Studienpopulationen an und der weibliche Hormonzyklus galt als unerwünschter Störfaktor (Institute of Medicine 2001). Kritisch zu betrachten ist die Übertragbarkeit der Ergebnisse solcher Studien auf die nicht eingeschlossenen Personengruppen. Inzwischen liegen Vorgaben vor, die eine adäquate Berücksichtigung beider Geschlechter bei klinischen Studien fordern (vgl. z. B. NIH 2015). Ein Blick in die vorliegenden Forschungsergebnisse und Daten der Gesundheitsberichterstattung zeigen, wie different die Morbidität und Mortalität von Frauen und Männern ist. Einige Beispiele hierfür sind: • Die Lebenserwartung ist bei den Männern niedriger als bei den Frauen. Im Berichtszeitraum 2010/12 werden Männern im Mittel 77,2 Jahre und Frauen im Mittel 82,4 Jahre alt (Statistisches Bundesamt 2015). • Im Jahr 2013 lagen die zu erwartenden gesunden Lebensjahre in der Europäischen Union für Männer bei 61,4 Jahren bei einer mittleren Lebenserwartung

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B. Babitsch et al.

von 77,8 Jahren und für Frauen entsprechend bei 61,5 gesunden Lebensjahren bei einer mittleren Lebenserwartung von 83,3 Jahren (European Commission 2015). • In den jüngeren Lebensjahren ist die Sterblichkeit bei den Männern mehr als doppelt so hoch wie bei den Frauen; besonders groß sind die Unterschiede bei Verletzungen, Vergiftungen und Folgen äußerer Ursachen (ICD-10: S00-T98), Krankheiten des Kreislaufsystems (ICD-10: I00-I99) und Krankheiten des Verdauungssystems (ICD-10: K00-K93) (Robert Koch-Institut 2014). • Frauen sind häufiger als Männern von funktionellen Einschränkungen und chronischen Erkrankungen betroffen, auch die Einschätzung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität ist bei Frauen niedriger als bei Männern (Idler 2003). • Ein gesundheitlich riskanter Lebensstil ist bei Männern häufiger zu finden als bei Frauen. Jedoch haben sich in den letzten Jahren deutliche Annäherungen zwischen Frauen und Männern ergeben, wie sich beispielsweise sehr eindrucksvoll für das Rauchen aufzeigen lässt (Robert Koch-Institut 2014). Die höhere Morbidität und gleichzeitig die niedrigere Mortalität von Frauen im Vergleich zu Männern werden als Geschlechterparadox (Verbrugge 1990; Kolip 2003) bezeichnet. Bereits vor 30 Jahren ging Verbrugge (1985, 1990) der Frage nach, wie sich diese Geschlechterunterschiede in der Morbidität und Mortalität erklären lassen und hat dafür fünf verschiedene Einflussfaktoren benannt, die sowohl individuelle, soziale als auch strukturelle Faktoren umfassen, die bis heute nicht an Aktualität verloren haben und durch unterschiedliche Forschungsergebnisse bestätigt und weiter ausdifferenziert werden konnten. Am Beispiel der Herz-Kreislauf-Erkrankungen lassen sich diese komplexen Interaktionen von biologisch-medizinischen und psychosozialen Faktoren derzeit besonders gut darstellen. Geschlechterunterschiede spielen hier eine bedeutende Rolle bei der klinischen Manifestation und den Ergebnissen von Behandlungen. Zum Beispiel unterscheiden sich Frauen und Männer bereits bei den klassischen Risikofaktoren. So erkranken Frauen häufiger an einem Herzinfarkt auf Grund psychologischer Krankheiten, wohingegen die Auslöser bei Männern häufiger schwere körperliche Betätigungen sind (Regitz-Zagrosek 2012). Auch bei den Symptomerscheinungen und der Diagnostizierung von HerzKreislauf-Erkrankungen konnten geschlechtsspezifische Unterschiede aufgezeigt werden. Frauen entwickeln beispielsweise seltener „typische“ Symptome (z. B. Brustschmerz) und Grenzwerte für diagnostische Tests orientieren sich an männlichen Standards (Bairey Merz 2014), was zu Verspätungen bei der Einweisung ins Krankenhaus und somit zu geringeren Überlebenschancen bei Frauen führen kann (Wenger 2012).

4

Realität geschlechtsspezifischer und sozialer Unterschiede: Ein Blick in die aktuellen Daten

Der Zusammenhang zwischen sozialer Lage und Gesundheit (resp. Krankheit) wurde durch eine inzwischen fast unüberschaubare Anzahl von nationalen und internationalen Publikationen immer wieder nachgewiesen. Dabei zeigen sich diese

Gender und Gesundheit

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Unterschiede unabhängig von dem jeweils verwendeten Indikator sozialer Ungleichheit und bei einer Vielzahl von Gesundheits- und Krankheitsindikatoren, wenngleich sich bei Erstgenanntem Unterschiede in der Stärke des Zusammenhangs abbilden und bei Letztgenanntem auch Ergebnisse zu einem inversen sozialen Gradienten vorliegen. Die WHO (2004) hat diesen Zusammenhang, benannt als soziales Gefälle, als eine der zehn sozialen Determinanten der Gesundheit aufgenommen. Für Deutschland liegen neben einzelnen Studienergebnissen auch durch die Gesundheitsberichterstattung Erkenntnisse zum Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit vor. Deutlich wird, dass die sozialen Unterschiede zu einem deutlichen Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko beitragen. Wie dramatisch sich solche sozialen Unterschiede auswirken, zeigen die Ergebnisse zu den einkommensbedingten Unterschieden in der Lebenserwartung (Lampert und Kroll 2014). Im Vergleich zwischen der untersten und der obersten Einkommensgruppe liegt die Lebenserwartung der Frauen mit niedrigem Einkommen um 8,4 Jahre unter der der oberen Einkommensgruppe; bei den Männern ist dieser Unterschied mit einer Differenz der Lebenserwartung von 10,8 Jahren sogar noch stärker ausgeprägt (Lampert und Kroll 2014). Der soziale Gradient weist, wie bereits bei der Lebenserwartung dargestellt, geschlechtsspezifische Unterschiede auf. Diese zeigen sich in der Regel nicht nur bei der Existenz eines solchen Zusammenhangs sondern auch bei dessen Stärke. Soziale Unterschiede in der Gesundheit konnten aktuell im Rahmen der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1) (siehe ausführlich Kamtsiuris et al. 2013) aufgezeigt werden, die zwischen Frauen und Männern variieren. So weisen statusniedrigere Bevölkerungsgruppen demnach eine höhere Prävalenz bei koronaren Herzkrankheiten auf, wobei die sozial bedingten Unterschiede in der Gesamtbetrachtung bei Frauen stärker ausfallen als bei Männern (Gößwald et al. 2013). Dieser inverse Zusammenhang kann nur teilweise durch die höhere Prävalenz von sozialschichtspezifischen Risikofaktoren, wie Rauchen, Übergewicht und geringerer sportlicher Aktivität, in den statusniedrigeren Bevölkerungsgruppen erklärt werden (Lampert 2010; McFadden et al. 2008). Von Bedeutung sind auch psychosoziale Faktoren, z. B. Arbeits- und Lebensbedingungen, soziale Normen, Depressionen und soziale Unterstützung (Kivimaki et al. 2006; Kuper et al. 2002). Auch bei Schlaganfall, Diabetes und Arthrose besteht ein sozialer Gradient bei Frauen; bei den Männern folgen die Unterschiede jedoch keinem monoton linearen Anstieg (Busch et al. 2013; Heidemann et al. 2013). Darüber hinaus zeigt sich für die materielle Deprivation eine signifikant höhere Prävalenz von Schlafstörungen, Migräne, depressiven Erkrankungen und chronischen Rückenbeschwerden (Pförtner 2014). In der Tendenz fand sich bei Frauen ein stärkerer Zusammenhang zwischen materieller Deprivation und gesundheitlichen Beschwerden als bei Männern (Pförtner 2014). Unbestritten liegt eine sozial ungleiche Verteilung in der Gesundheit von Frauen und Männern vor, ihr Ausmaß ist jedoch, wie die exemplarisch ausgewählten Ergebnisse zeigen, unterschiedlich. Für die Gesundheit spielen somit Unterschiede sowohl zwischen den Geschlechtern als auch zwischen den unterschiedlichen sozialen Statusgruppen sowie deren Verknüpfung eine wichtige Rolle. Diese wiederum können durch weitere Faktoren beeinflusst werden, wie z. B. externe Einflüsse durch Veränderungen der wirtschaftlichen und politischen Lage, den sozialen Umständen

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B. Babitsch et al.

und Netzwerken, dem medizinischen Fortschritt sowie dem individuellen Gesundheitsverhalten und Lebensstil (Krieger 2003; Luy und Di Giulio 2006; Springer et al. 2012).

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Ungleiche Verhältnisse, ungleiche Gesundheit: Wirkmechanismen gesundheitlicher Ungleichheit aus der Geschlechterperspektive

Die Komplexität des Zusammenhangs zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit abzubilden, haben sich in den letzten Jahren verschiedene Autoren/-innen mit der Entwicklung von Erklärungsmodellen vorgenommen. Inzwischen liegen verschiedene Modelle vor, das Bekannteste unter ihnen dürfte in Deutschland der von Elkeles und Mielck (1997) erarbeitete Erklärungsansatz sein. In diesem Modell werden die Einflussfaktoren auf unterschiedlichen Ebenen und mit verschiedenen Dimensionen geordnet, die in einem Wirkungszusammenhang zueinander stehen. Eine explizite Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht erfolgte dabei nicht; diese wurden in weiteren Erklärungsmodelle jedoch systematisch integriert (Babitsch 2005; Sperlich et al. 2011). Bei diesen Modellen wird deutlich, wie umfänglich die Geschlechterperspektive bei der Analyse gesundheitlicher Ungleichheit zu berücksichtigen ist. Im Folgenden soll exemplarisch auf die Makro-, Meso- und Mikroebene eingegangen werden, um daran deutlich zu machen, wie eine Integration der Geschlechterperspektive erfolgen könnte.

5.1

Makroebene: Normen und Schließungsprozesse

Trotz Gleichheitsanspruch bestehen normative Vorstellungen zu Gleichheit und Ungleichheit zwischen den Genusgruppen und den sozialen Statusgruppen. Nach wie vor lassen sich Geschlechterstereotype finden, die nicht nur das vermeintlich geschlechtsspezifisch Besondere adressieren, sondern implizit und explizit von unterschiedlichen Befähigungen der jeweiligen Genusgruppe ausgehen. Diese wiederum haben einen engen Bezug zu den gesellschaftlichen „Leistungsprinzipien“ und „Belohnungsprinzipien“, in denen beispielsweise „Empathie“ und „Familienfürsorge“ – als eher weibliche Attribute – dem reproduktiven Bereich zugeordnet werden und damit im Sinne der relevanten Dimensionen sozialer Ungleichheit unsichtbar und folglich unberücksichtigt bleiben. Implizit wirken die in den Geschlechterstereotypen (überspitzt) festgehaltenen Eigenschaften auch neben machtbezogenen Interessen auf die Stabilisierung von „gläsernen Decken“, d. h. den etablierten Schließungsprozessen in unterschiedlichen organisationalen Bereichen. Trotz gesellschaftlich-politischer Bemühungen ist beispielsweise der Anteil der Frauen in Führungs- und Entscheidungspositionen niedrig (BMFSFJ 2015). Gleichwohl, wie Heinz Bude (2008) herausgearbeitet hat, finden sich in modernen Gesellschaften heterogene Bevölkerungsgruppen, die von Schließungsprozessen betroffen sind. Am Beispiel der dort beschriebenen Gruppe, der jungen Männer

Gender und Gesundheit

223

in Ostdeutschland, wird deutlich, dass auch aus der Geschlechterperspektive neue Vulnerabilitätslagen entstehen, die insbesondere vor dem Hintergrund der sozialen und gesellschaftlichen Chancen auf neue Problemlagen hinweisen und spezifische Herausforderungen und Risiken für die Gesundheit implizieren. Entsprechend gilt es für eine geschlechtersensible Erfassung von sozialen und gesundheitlichen Ungleichheiten neben biologischen und sozialen Faktoren, auch die gesellschaftlichen Konstruktionen von Geschlechterrollen und der Zuweisung von Attributen der Weiblichkeit (z. B. Expressivität) und der Männlichkeit (z. B. Instrumentalität) (Möller-Leimkühler 2008). Diese formen die individuell bzw. kollektiv erlebte Realität und sind je nach deren Ausrichtung und Passung mit spezifischen Brüchen, Krisen, Herausforderungen und Chancen verbunden.

5.2

Mesoebene: Soziales Kapital

Der Begriff des sozialen Kapitals wird sehr unterschiedlich verwendet. Nach Bourdieu (1982) beschreibt er die sozialen Netze einer Person und die damit verbundene Unterstützung. In seiner Argumentation geht Bourdieu (1982) sogar weiter, indem er den Einfluss der sozialen Netze auf die individuellen Aufstiegschancen darstellt, und damit die in den sozialen Netzwerken liegenden Macht- und Entscheidungspotenziale aufzeigt. In der Geschlechterforschung wurde ebenfalls sehr intensiv zum Einfluss sozialer Netzwerke gearbeitet. In diesem Zusammenhang wurden die sogenannten „Männerbünde“ beschrieben, die dazu beitragen, Männern bessere und einfachere Aufstiegsmöglichkeiten zu verschaffen (vgl. z. B. Dietzen 1993). Implizit wird hierbei von einer nicht-familiären Vater-Sohn-Struktur ausgegangen. Studien zeigen, dass Frauen und Männer nicht nur in unterschiedliche Netzwerke eingebunden sind, sondern Netzwerke auch unterschiedlich nutzen. Entsprechend sind auch die Erwartungen von Frauen und Männern an ihre sozialen Netzwerke unterschiedlich.

5.3

Mikroebene: Embodiment

Für die Einschreibung gesellschaftlicher Erfahrungen in das Selbstkonzept des Einzelnen wird in der Wissenschaft das Konzept des Embodiments verwendet. Bereits Bourdieu (1982) hat in seiner Theorie zu sozialen Klassen darauf verwiesen, dass sich die soziale Lage in den Körper einschreibt, und hierfür den Begriff des Habitus verwendet. Anzunehmen ist, dass unterschiedliche Prozesse des „Einschreibens“ sozialer Statuslagen von Frauen und Männern erfolgen, so dass sich hieraus unterschiedliche individuell-biografische sowie kollektive Muster sozialer Ungleichheitserfahrungen ergeben. Ebenso wirken hierauf die unterschiedlichen kontextuellen Rahmenbedingungen wie auch die gesellschaftlich-normativen Erwartungen (Makroebene) und das mittelbare soziale Netzwerk (Mesoebene) ein. Am Beispiel des Hauptverdieners/-in und der Erwerbslosigkeit lässt sich diese Annahme insofern verdeutlichen, als das von Männern eher erwartet wird, der Hauptverdiener

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der Familie und kontinuierlich erwerbstätig zu sein. Frauen wird eher die Rolle der Zuverdienerin zugeschrieben und auch Phasen der Nichterwerbstätigkeit sind durch die Zuordnung der reproduktiven Arbeit legitimiert. Im Gegenteil – trotz vieler Anpassungen und neuer Rollenmodelle – sehen sich Frauen, die sich ausschließlich auf ihre berufliche Karriere ausrichten, nach wie vor latenten Vorurteilen ausgesetzt.

5.4

Gemeinsame Verbindungslinien und Anknüpfungspunkte

Ungleichheiten entstehen über die in der jeweiligen Gesellschaft jeweils begehrten Güter. Als Kerndimensionen werden dabei in industrialisieren Gesellschaften, Bildung, berufliche Stellung und Einkommen benannt. Implizit wird dabei davon einer Statuskonsistenz und damit von einer kausalen Beziehung dieser drei Dimensionen ausgegangen. Allerdings wird an der Allgemeingültigkeit dieser Annahme gezweifelt, da sich nicht nur die Relationen der einzelnen Dimensionen zueinander, sondern auch ihre kausale Abfolge aufgrund der Pluralität der Erwerbsverläufe verändert hat. Die Verbindung von Geschlecht und sozialer Statuslage lässt sich nicht im Detail ursächlich aufklären, da eine Vielzahl von Einflussfaktoren auf den jeweiligen Sozialstatus einwirken. So kann der soziale Status der Familie eine wesentliche Ursache dafür sein, welche Chancen für Jungen und Mädchen sich in der Schulund Berufsausbildung eröffnen. Das Geschlechterverhältnis kann wiederum verstärkend oder abschwächend auf diese Chancen wirken, indem eine geschlechterdifferente Herangehensweise verfolgt wird, die zu Vorteilen in einer Genusgruppe gegenüber der anderen Genusgruppe beitragen. Bereits in frühen US-amerikanischen Studien wurde herausgearbeitet, dass der „economic return“ aus den Bildungsinvestitionen bei Frauen geringer als bei den Männern ausfällt, da sie seltener dem Bildungsstand entsprechende berufliche Positionen finden. Obgleich seither deutliche Veränderungen stattgefunden haben, hat die Kernaussage auch heute noch Bestand. Will man die Kategorie Geschlecht in Verbindung mit sozialer Ungleichheit und Gesundheit weiter denken, bietet es sich an, die vorliegenden Daten zum sozialen Gradienten zunächst aus der Perspektive der Ungleichheitsforschung und der Geschlechterforschung zu erklären. Auf Basis dessen können Schnittmengen und jeweils spezifische Erklärungsansätze definiert werden. Lohnend ist es, zunehmend den Fokus auf die jeweils zugrunde liegenden Schließungsprozesse zu legen. Diese eröffnen Ansatzpunkte für Handlungsansätze, die an den Ursachen sozialer und geschlechtsspezifischer Ungleichheit anknüpfen und somit grundlegend die soziale und gesundheitliche Chancengleichheit verbessern können. Hierdurch wird zudem grundlegend vermieden, soziale und gesundheitliche Ungleichheit individualistisch zu betrachten, da die kollektiven Bezüge im Vordergrund stehen. Für eine geschlechtssensible Forschung bedarf es folglich der Identifikation von geeigneten Indikatoren, die geschlechtergerecht soziale Ungleichheiten abbilden bzw. aufzudecken vermögen. In der Konsequenz wird damit nicht nur die Erfassung sozialer Ungleichheit komplexer, sondern diese bedarf ggf. neuer empirischer Ansätze. Dies schließt die systematische Prüfung vorhandener Operationalisierun-

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gen von Indikatoren auf ihre Geschlechterangemessenheit ein, wie auch die Entwicklung komplexerer Ansätze zur Differenzierung von sozialen Statusgruppen (Babitsch 2009; Sperlich et al. 2011). Dies wiederum ist eine wichtige Voraussetzung dafür, sozial bedingte, gesundheitliche Ungleichheiten angemessen erfassen zu können.

6

Alternative Ansätze zur Beschreibung gesundheitlicher Ungleichheit

Etwa seit dem Ende der 1990er wird als Ergänzung zu objektiven Statusindikatoren in gesundheitswissenschaftlichen Studien der subjektive soziale Status (SSS) erhoben. Dies impliziert die Erfassung wie Personen ihre gesellschaftliche Stellung selbst wahrnehmen (Hoebel et al. 2015; Adler et al. 2000; Baxter 1994); Hoebel et al. (2015) fanden heraus, dass sich die Chance auf eine sehr gute oder gute selbsteingeschätzte Gesundheit mit steigendem SSS erhöht, wobei dieser bei Männern eigenständige Assoziationen mit Diabetes mellitus und der selbsteingeschätzten Gesundheit hatte sowie bei Frauen mit Adipositas, der selbsteingeschätzten Gesundheit und einer depressiven Symptomatik. Singh-Manoux et al. (2005) untersuchten in ihrer Studie, ob der SSS oder objektive Statusindikatoren Gesundheit besser vorhersagen können, mit dem Ergebnis, dass beide Messkonstrukte dies vermögen und subjektive Statusindikatoren einen signifikanten Zusammenhang mit Gesundheitsoutcomes hatten, wohingegen die objektiven Statusindikatoren, besonders bei Männern im Regressionsmodell nicht mehr signifikant waren. Es lassen sich also Zusammenhänge des SSS mit Gesundheitsoutcomes erkennen, die andeuten, dass der SSS eine eigenständige Dimension vertikaler sozialer Ungleichheit abbildet, die für die Analyse von ungleichen Gesundheitschancen relevant sein könnte und unberücksichtigt bleiben würde, wenn lediglich traditionelle bzw. objektive Statusindikatoren berücksichtigt werden (Hoebel et al. 2015). Als neuerer Ansatz zur Beschreibung sozialer Ungleichheit kann auch der „Capability Approach“ von Amartya Sen, auch als „Verwirklichungschancenansatz“ bezeichnet, betrachtet werden. Nach diesem Ansatz werden positive Freiheiten im Sinne von Handlungs- und Entscheidungsfreiheiten als Maßgröße für Wohlergehen betrachtet. Sen (1998) argumentiert, um die individuelle Begünstigung resp. Benachteiligung einer Person zu beurteilen, bedürfe es mehr als die Berücksichtigung von Grundgütern und Einkommen wie es in ökonomischen Analysen häufig der Fall sei, sondern es müsse sich auf das konzentriert werden, was diese Personen intrinsisch bedingt wertschätzen. Wohingegen Güter und Einkommen immer nur ein instrumentelles Mittel zum Zweck darstellen, da hiermit sich Möglichkeiten eröffnen, diese jedoch an sich keinen „Wert“ darstellen (Sen 1998). Sen spricht sich deshalb dafür aus, die positiven Freiheiten bzw. Verwirklichungschancen, wie Befähigungen und Handlungsspielräume einer Person, zu betrachten und anhand dessen den individuellen Wohlstand zu bewerten, aber auch die Beurteilung von Gerechtigkeit vorzunehmen (Sen 1998, 1999, 2003, 2010). Nach den theoretischen Überlegungen des Capability Approach sind die individuell verfügbaren Handlungs-

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optionen und Entfaltungsmöglichkeiten an verfügbare Ressourcen und Umweltbedingungen gebunden und hängen außerdem von der Zugänglichkeit einer nicht beliebig unterschreitbaren Menge und Anordnung von Ressourcen ab (Bittlingmayer und Ziegler 2012). Der Güterbesitz sagt uns auf Grund der interpersonellen Verschiedenheit, begründet durch Faktoren wie Alter, Behinderungen und Krankheiten sowie des Geschlechts wenig darüber aus, welches Leben ein Mensch führen kann (Sen 2003). Die geschlechtertheoretische Kritik des Capability Approach bezieht sich auf die bisher einseitigen, vorwiegend ressourcenbezogenen Ungleichheitsbestimmungen. Die individuell zur Verfügung stehenden Ressourcen stellen demnach zwar ohne Zweifel eine notwendige Grundbedingung dar, sind jedoch nicht alleinig dafür entscheidend, welche Lebenschancen sich für die Individuen dann tatsächlich lebenspraktisch realisieren lassen (Bittlingmayer und Ziegler 2012). Die grundlegende Idee des Capability Approach ist es Gerechtigkeitsurteile über Bewertungen der Chancengleichheit herzustellen. Sen (2009) selbst beschreibt den Capability Approach als Ansatz für einen „Comparative Framework“, da Gerechtigkeitsurteile nur über Vergleiche herstellbar sind, gleichwohl noch nicht geklärt ist, was der perfekte Maßstab für Gerechtigkeitsurteile sein könnte. Kriterien wie Einkommen oder Nutzen als Vergleichsgröße zu verwenden, lehnt Sen (2009) ab. Exemplarisch sei deshalb folgende Überlegung von ihm an dieser Stelle angeführt: „. . . ist das Einkommen die richtige Bezugsgröße für solche Vergleiche? Wie steht es mit der elementaren Verwirklichungschance, ein reifes Lebensalter zu erreichen und nicht eines vorzeitigen Todes zu sterben? . . . [Es] häufen sich die Indizien dafür, daß (sic.) schwarze Männer gegenüber weißen Männern und schwarze Frauen gegenüber weißen Frauen eine immens höhere Sterblichkeitsrate haben. Diese Unterschiede lassen sich nicht dadurch aus der Welt schaffen, daß (sic.) die Einkommensunterschiede angepaßt (sic.) werden. Tatsächlich beweist eine sehr sorgfältige medizinische Studie über die 80er-Jahre, daß (sic.) die unterschiedlichen Sterblichkeitsraten der Schwarzen und Weißen auch nach einer Anpassung der Einkommensunterschiede für die Frauen erstaunlich hoch bleiben“ (Sen 2003, S. 121–122). Die Untersuchung der Verteilung von Verwirklichungschancen sei angemessener, um Wohlstand und Gerechtigkeit bewerten zu können. Der individualtheoretische Capability Approach sieht die bisherig verwendeten Sozialindikatoren (der vertikalen und horizontalen Dimension) als Umwandlungsfaktoren „Conversion Factors“, welche für die Umwandlung von Ressourcen zu bestimmten Verwirklichungschancen notwendig sind. Die Verwendung von Verwirklichungschancen als Gerechtigkeitsmaßstab bietet zum einen den Vorteil, dass es zu keinen Operationalisierungs- bzw. Vergleichbarkeitsschwierigkeiten kommt auf Grund von ungleichen internationalen evaluativen Maßstäben wie z. B. länderspezifische Berufsabschlüsse oder ungleiche Netto-Haushaltseinkommensniveaus. Zum anderen besitzen „objektivierte“ Verwirklichungschancen das Potenzial, Verzerrungen von adaptiven Präferenzen zu vermeiden. Dies ist ansonsten gegeben, wenn durch die Anpassung der Erwartungen an deprivierte Lebensumstände, diese von benachteiligten Menschen als zu positiv bewertet werden (Teschl und Comim 2005; Nussbaum 2000). Die Bewertung von Gerechtigkeitsurteilen anhand subjektiver Wertmaßstäbe wie Nutzen oder Zufrie-

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denheit beinhalten die Gefahr, dass hierbei Unterdrückungs- und Diskriminierungszustände verdeckt werden, durch eine Affirmation bzw. Gewöhnung an deprivierte Zustände, sodass diese missinterpretiert werden. Nussbaum, als eine weitere wichtige Vertreterin für den Capability Approach neben Sen, hat sich insbesondere mit dem Aspekt Gender und Gerechtigkeitsbewertungen befasst (vgl. z. B. Nussbaum 2000, 1999). Sie argumentiert, dass eine individuelle Betrachtung der Ressourcen und Chancen eines jeden einzelnen Menschen für eine geschlechtersensible Forschung notwendig sei. Ökonomische Ansätze wie wirtschaftliches Wachstum bzw. dementsprechende Kennzahlen in die Bewertung des Wohlstands miteinzubeziehen bedeute ansonsten, z. B. für Frauen, deren Ehemänner ihnen die Kontrolle über das Haushaltseinkommen entziehen, eine verzerrende Realitätsdarstellung (Nussbaum 2003). Gleichzeitig gilt für die vertikalen schichtungssoziologischen Ansätze, dass diese vor allem auf den männlichen Fokus ausgerichtet sind, da die Erwerbsbeteiligung von Frauen, trotz einer allmählichen Angleichung immer noch hinter der von Männern zurückliegt (vgl. z. B. Statistisches Bundesamt 2012). Frauen bzw. NichtErwerbstätige werden aus praktischen Datenerhebungs- und Auswertungsgründen oft als Mitglied einer organischen Einheit behandelt, in Form der Familie oder der Gemeinschaft (Nussbaum 2003). Robeyns (2003, S. 66) kritisiert hierzu: „Equality is ultimately measured in ‚male terms‘ with an exclusive focus on the market dimensions“. Die Frauenbewegung habe sich aber lange Zeit mit Themen beschäftigt, die sich nicht auf die ökonomische Wohlfahrt reduzieren lassen, wie es mit den vertikalen Schicht-Indikatoren jedoch versucht wird (Robeyns 2003). Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass ein haushaltsbezogener Schicht-Index zu lebensfern sei zur Darstellung von genderbedingten Diskriminierungszuständen. Häufig wird zur Ermittlung der Schicht-Zugehörigkeit eine Äquivalenzbilanzierung des Haushaltsnettoeinkommens empfohlen. Durch diese Vorgehensweise sollen Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften in einem Mehr-Personen-Haushalt sowie unterschiedliche Einkommensbedarfe der Haushaltsmitglieder berücksichtigt werden (Lampert und Kroll 2009). Diesem unterstellt sind jedoch implizite Annahmen über intra-familiäre Geschlechterbeziehungen eines Haushalts, wohingegen Ungleichheiten unberücksichtigt blieben. Das Netto-Äquivalenzeinkommen wird beispielsweise anhand eines Bedarfsgewichts je Haushaltsmitglied (abhängig vom Alter) festgemacht, der den Einkommensbedarf in Relation zum Haushaltsvorstand wiedergibt (vgl. hierzu Lampert und Kroll 2009). Unberücksichtigt bleiben hier geschlechterbezogene Diskriminierungen, sodass beispielsweise in der Realität intrafamiliäre Verteilungen des Einkommens entgegen der Annahme vollkommen anders sich gestalten. Oder auch insofern es zu der angenommenen Verteilung nach dem Einkommensbedarf der Haushaltsmitglieder kommt, kann nicht ausgeschlossen werden, dass es einen erheblichen Unterschied hinsichtlich des Wohlergehens macht, ob die Person das Geld selbst verdient oder von ihrem Partner bekommen hat (Robeyns 2003). Gleiches gilt aber auch für die Erforschung sozialer Netzwerke, die häufig familiär oder außerfamiliär über die Anzahl der sozialen Kontakte oder die Größe des sozialen Netzwerkes erhoben werden. Grundlegende Annahme ist, dass diese durch Nächstenliebe, Solidarität und Gerechtigkeit geprägt sind, in denen das Individuum sich wohlfühlt. Aus gerechtigkeitstheoretischer Perspektive argumen-

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tiert der Capability Approach aber dafür die Möglichkeiten hierfür abzufragen, ob das Individuum dann je nach eigenen Präferenzen diese Möglichkeit nutzt, bleibt diesem selbst überlassen. Diese Probleme könnten mit der Erfassung von Verwirklichungschancen bzw. Capabilities umgangen bzw. abgeschwächt werden, da diese sich darauf fokussieren was Menschen in der Lage zu „tun“ oder „sein“ sind, anstatt mit den konservativen Sozialindikatoren geschlechtsspezifische Diskriminierungsumstände zu vernachlässigen. Der Capability Approach fordert deshalb eine individualisierte Betrachtung ein, um Geschlechterunterschiede abbilden und erfassen zu können. Eine Person wird somit dann als benachteiligt eingeschätzt, wenn sie eine geringere Befähigung also weniger (Verwirklichungs-) Chancen als eine andere Person hat, die Dinge zu tun, die sie begründet hoch schätzt und ihr wichtig sind (Sen 2010). Die empirische Erfassung von positiven Freiheiten oder Handlungsspielräumen stellt die empirische Forschung bislang noch vor Herausforderungen. Vor dem Hintergrund der Idee das Zusammenwirken und die Verflechtungen verschiedener Diskriminierungsformen erfassen zu wollen (vgl. hierzu das Intersektionalitätskonzept) (vgl. hierzu z. B. Lutz et al. 2013), um eine möglichst differenzierte und realistische Diskriminierungsdarstellung zu bekommen, bietet der Capability Approach jedoch einen potenziellen Anhaltspunkt. Die Berücksichtigung mehrerer Kategorien zur Beschreibung sozialer Ungleichheiten sowie der Wechselwirkung verschiedener Ungleichheitsdimensionen scheint als „Common Sense“ bereits anerkannt, jedoch besteht noch Uneinigkeit darüber, welche Dimensionen berücksichtigt werden sollen (Degele und Winker 2007). Die Reichweite der Dimensionen und deren Wechselwirkungen (auch zwischen den Ebenen) wurden bisher kaum empirisch reflektiert und hinsichtlich ihres Bedeutungsinhalts analysiert. Normatives Ziel sowohl der gesamtpolitischen Gesetzgebung als auch der Versorgungsforschung ist es, die Individuen zu befähigen ihr Leben so gesund zu gestalten, wie sie es wünschen und zugleich selbst zu bestimmen wie relevant der Stellenwert der eigenen Gesundheit sein soll. Der Capability Approach bietet somit auch für den häufig im Kontext der interventionsbezogenen Versorgungsforschung aufkommenden Paternalismusvorwurf einen konstruktiven theoretischen Anknüpfungspunkt. Häufig wird in diesem Zusammenhang das Spannungsverhältnis zwischen Wohl und Willen aufgegriffen. Die Grundüberlegungen des Capability Approach zielen nicht auf eine gleiche Gesundheit zwischen den Geschlechtern, etc. ab, sondern auf gleiche Gesundheitschancen für alle. Das bedeutet als gesundheitsförderlicher gesamtpolitischer Auftrag „. . . to expand choices and opportunities so that each person can lead a life of respect and value. When human development and human rights advance together, they reinforce one another – expanding people’s capabilities and protecting their rights and fundamental freedoms“ (UNDP 2000, S. 2). Dies kann sich in Form von Handlungsfähigkeit zeigen, die auf Wissen und Fertigkeiten beruhen, sowie den vorhandenen Möglichkeiten, welche mit Verwirklichungschancen abgebildet werden sollen. Die daraus sich folgernde Handlungsbereitschaft ist hingegen die Folge von individuellen Motiven und dessen Bereitstellung sowohl nicht als Aufgabe des Gesundheits- als auch nicht des staatlichen bzw. politischen Systems zu verstehen.

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Fazit

Ungleichheiten spielen für die Chancen auf Gesundheit eine wesentliche Rolle. Die Ungleichheiten sind grundlegend strukturell verankert und bedingen Schließungsprozesse, die es Menschen unterschiedlich leicht oder schwer machen an den begehrten Gütern einer Gesellschaft zu partizipieren. Zugleich unterliegen Gesellschaften einem Wandel bei dem sich Veränderungen in den Erwartungen, Möglichkeiten und Grenzen ergeben, die neue Konstellationen von Ungleichheiten und Benachteiligungen schaffen (z. B. Bude 2008). Hierbei ergeben sich insbesondere im Zusammenspiel zwischen sozialer Ungleichheit und Geschlecht neue vulnerable Lebenskonstellationen, die in sozialepidemiologischen Studien bis dato noch zu wenig adressiert werden. Das Verständnis gesundheitlicher Folgen und insbesondere auch die Ermittlung von Potenzialen für die Gesundheit und das Wohlbefinden setzen eine erweiterte Analyse der sozialen Lebenslagen voraus, da hiermit ein komplexere Beschreibung der sozialen Lebensrealität ermöglicht wird. Hier kann der Ansatz des Capability Approach wertvolle Einsichten in die vorhandenen positiven Freiheiten einer Person bzw. von Personengruppen geben. Eine gendersensible gesundheitswissenschaftliche Untersuchung von sozialen Unterschieden in Verbindung mit gesundheitlichen Ungleichheiten soll zum einen zur Identifizierung von gesellschaftlich nicht legitimierten sozialen Unterschieden im Gesundheitszustand führen sowie zum anderen für die Ableitung von zielgruppengerechten Gesundheitsangeboten nützlich sein. Die Untersuchung von objektiv verfügbaren positiven Freiheiten in Form von Verwirklichungschancen beinhaltet das Potenzial Verzerrungen durch adaptive Präferenzen zu umgehen und gleichzeitig eine valide Aussage über das Wohlergehen einer Person zu erhalten. Weiterführende konzeptionelle Ansätze wie der Capability Approach könnten deshalb als normatives Rahmengerüst innerhalb der Gesundheitsförderung und Versorgungsforschung potenziell fruchtbare Anknüpfungspunkte bieten, um weitere differenzierte Kategorien und Ebenen sozialer Ungleichheit in die gesundheitliche Ungleichheitsforschung mit aufzunehmen und zugleich als theoretischer Ausgangspunkt für die gesundheitliche Ressourcenstärkung angewandt werden.

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Arbeit und Beschäftigung als Determinanten ungleicher Gesundheit Johannes Siegrist und Nico Dragano

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Klärung zentraler Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Wandel der Erwerbsarbeit und soziale Ungleichheit von Arbeit und Beschäftigung . . . . . 4 Arbeit, Beschäftigung und ungleiche Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Folgerungen für die Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Nach einer Klärung zentraler Begriffe wird gezeigt, dass sozial schlechter gestellte Beschäftigte häufiger von belastenden Arbeitsbedingungen betroffen sind. Dies gilt für physikalische und chemische Noxen wie auch für die anhand etablierter soziologischer Stressmodelle erfassten psychosozialen Belastungen. Umfangreiche Forschungsergebnisse zeigen, dass diese Belastungen zur Erklärung sozial ungleicher Krankheitslast einen signifikanten Beitrag leisten. Praktische Folgerungen aus diesen neuen Erkenntnissen betreffen eine Intensivierung von Maßnahmen betrieblicher Gesundheitsförderung und eine Stärkung nationaler Programme der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.

J. Siegrist (*) Institut für Medizinische Soziologie, Life-Science-Center, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] N. Dragano (*) Institut für Medizinische Soziologie, Medizinische Fakultät, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Kriwy, M. Jungbauer-Gans (Hrsg.), Handbuch Gesundheitssoziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06392-4_13

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Schlüsselwörter

Gesundheitliche Ungleichheit · Berufliche Belastungen · Arbeitsstressmodelle · Betriebliche Gesundheitsförderung · Sozial- und Arbeitsmarktpolitik

1

Einleitung

Erkrankungsrisiken, Lebenserwartung und Wohlbefinden hängen trotz aller Individualität der Gesundheit in starkem Maße von der Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen ab. Eines der auffälligsten und am besten belegten Beispiele hierfür ist die auch in diesem Buch vielfach thematisierte gesundheitliche Ungleichheit, mit der das systematische Zusammenfallen von sozio-ökonomischer und gesundheitlicher Benachteiligung bezeichnet wird (WHO Commission on Social Determinants of Health 2008). Die Ungleichverteilung von Gesundheitsrisiken entlang sozio-ökonomischer Merkmale verlangt nach Erklärungen und die Erwerbstätigkeit ist hierbei ein Dreh- und Angelpunkt. Zum einen ist sie ein zentrales Element der sozialen Schichtung, da insbesondere Einkommen, Bildung, gesellschaftliches Ansehen und Einbindung in soziale Netzwerke jenseits der Familie unmittelbar mit dem Beruf zusammenhängen (Hradil 2006). Über diese Wege ist die Erwerbstätigkeit eng mit den allgemeinen Lebensbedingungen verbunden, mit den entsprechenden Konsequenzen für die individuellen Gesundheitschancen. Zum anderen hat die Erwerbstätigkeit eine eigenständige Bedeutung für die Gesundheit, da die Ausübung des Berufs mit spezifischen Risiken (z. B. dem Risiko, einen Arbeitsunfall zu erleiden), aber auch mit Chancen für das physische und psychische Wohlbefinden einhergeht. Da beispielsweise in einfachen und geringer entlohnten Berufen bestimmte berufliche Gefährdungen ausgeprägter sind als in höher qualifizierten, kann die sozial ungleiche Verteilung gesundheitlich bedeutsamer Arbeitsbelastungen als Mediator die Beziehung zwischen sozialer Schichtzugehörigkeit und gesundheitlicher Ungleichheit vermitteln (Landsbergis 2010). In diesem Beitrag wird die skizzierte Rolle der Erwerbstätigkeit bei der Entstehung gesundheitlicher Ungleichheiten genauer erörtert. Dem ersten Abschnitt zur Klärung zentraler Begriffe folgt eine knappe Darstellung der sozial ungleichen Verteilung riskanter Beschäftigungslagen und Arbeitsbedingungen auf dem Hintergrund eines tief greifenden Wandels der Arbeitswelt in den vergangenen Jahrzehnten (Abschn. 2). Im zentralen Abschn. 3 fassen wir wichtige aktuelle Forschungsergebnisse zu den Beziehungen zwischen prekärer Beschäftigung, belastenden Arbeitsbedingungen und erhöhter gesundheitlicher Gefährdung zusammen, wobei der Akzent auf Befunden aus Deutschland bzw. aus europäischen Ländern liegt. Abschließend werden praktische Folgerungen aus vorliegender wissenschaftlicher Evidenz auf zwei Ebenen kurz diskutiert, erstens auf der Ebene von Maßnahmen betrieblicher Gesundheitsförderung und zweitens auf der Ebene nationaler Programme der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik (Abschn. 4).

Arbeit und Beschäftigung als Determinanten ungleicher Gesundheit

2

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Klärung zentraler Begriffe

Moderne Gesellschaften unterliegen einem vielfältigen Wandel der Pluralisierung, flexiblen Differenzierung und Individualisierung von Lebensbedingungen. Dennoch lässt sich nach wie vor eine vertikale Gliederung der Sozialstruktur in Bevölkerungsgruppen mit besseren oder schlechteren Zugangschancen zu den zentralen gesellschaftlichen Gütern feststellen. Zu ihrer empirischen Erforschung wird in der Soziologie das Konzept der sozialen Schicht verwendet. Als soziale Schicht wird eine Personengruppe bezeichnet, die sich hinsichtlich entscheidender Statusmerkmale (v. a. Bildungsniveau, berufliche Stellung, Einkommen) in einer gleichen oder vergleichbaren Lage vertikaler sozialer Differenzierung befindet. Unter den Statusmerkmalen kommt der Erwerbsarbeit eine besondere Bedeutung zu: Sie ist wesentliches Ziel gesellschaftlicher, über die Ausbildung vermittelter Sozialisationsprozesse und sie stellt für den überwiegenden Teil der erwachsenen Bevölkerung die Grundlage eines kontinuierlichen Einkommens dar (Siegrist 2015). Der Zugang zur Erwerbstätigkeit in Form bezahlter Arbeit wird über den Arbeitsmarkt vermittelt, auf dem die berufliche Qualifikation ein entscheidendes Auswahlkriterium ist. Als Beruf bezeichnet man jede auf einer durch Ausbildung erworbenen Qualifikation beruhende spezialisierte Tätigkeit, die regelmäßig ausgeübt wird. Berufe unterliegen einem gesellschaftlichen Bewertungsprozess (Prestige) und werden je nach Qualifikation bzw. Bedeutung erbrachter Leistungen einer Hierarchie beruflicher Stellungen zugeordnet. Während die berufliche Stellung in amtlichen Datensammlungen in der Regel recht undifferenziert erfasst wird (z. B. Arbeiter vs. Angestellte), werden in der soziologischen Forschung unterschiedliche Klassifizierungsmethoden verwendet. Ein erster Ansatz orientiert sich an der Ausgestaltung des Arbeitsvertrags (selbstständig vs. abhängig beschäftigt) sowie an dem Ausmaß an Abhängigkeit bzw. Autonomie bei der Ausübung der Tätigkeit. Dieser Ansatz wurde in Auseinandersetzung mit dem traditionellen Konzept sozialer Klassen entwickelt und wird aktuell vor allem anhand des sog. EGP Schemas gemessen (benannt nach Erikson, Goldthorpe, Portocarero; Erikson und Goldthorpe 1992). Im Zentrum eines zweiten Ansatzes steht die gesellschaftliche Wertschätzung von Berufen. Danach werden Beschäftigte gemäß einer international abgestimmten Prestigeskala höheren oder tieferen beruflichen Positionen zugeordnet (Standard Index of Occupational Prestige Scale (SIOPS); Ganzeboom und Treiman 1996). Ein weiterer, international häufig verwendeter Ansatz, stellt das Niveau der beruflichen Qualifizierung in den Vordergrund (International Standard Classification of Occupations (ISCO)). Die differenzierte Beschäftigung der Soziologie mit dem Beruf unterstreicht dessen zentrale Bedeutung für die Daseinssicherung, den Lebensstandard und die Lebensqualität von Menschen, für deren soziale Identität sowie für die Erfüllung zentraler psychischer Bedürfnisse (z. B. Bestätigung eigener Fähigkeiten, Erfahrung von Anerkennung). Es liegt daher nahe, dass die berufliche Tätigkeit auch auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Beschäftigten einen nachhaltigen Einfluss auszuüben vermag.

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J. Siegrist und N. Dragano

Allerdings sind berufliche Stellung und Qualität der Arbeit nicht nur in Bezug auf die soziale Schichtzugehörigkeit ungleich verteilt, sondern sie sind auch geprägt durch einen tief greifenden Wandel, der sich in den vergangenen Jahrzehnten in modernen Gesellschaften vollzogen hat. Dies soll in aller gebotenen Kürze im folgenden Abschnitt skizziert werden.

3

Wandel der Erwerbsarbeit und soziale Ungleichheit von Arbeit und Beschäftigung

Obwohl dem industriellen Sektor nach wie vor eine zentrale volkswirtschaftliche Rolle zukommt, hat sich der Anteil der im produzierenden Sektor Beschäftigten in den vergangenen fünfzig Jahren weiter verringert, und so ist heute der größte Anteil im Dienstleistungssektor beschäftigt. Entscheidend waren hierbei die fortschreitende Automatisierung und die Einführung neuer Technologien, aber auch die steigende Nachfrage nach Dienstleistungen aller Art, insbesondere hervorgerufen durch alternde Bevölkerungen (BMAS 2015). Mit der von vielen als revolutionär empfundenen Digitalisierung von Information und Kommunikation haben sich zusätzlich einschneidende Veränderungen der Arbeitsorganisation ergeben (z. B. vernetzte Produktionssysteme, erhöhte Flexibilität, geringere Standortgebundenheit der Tätigkeit, hohe Kommunikationsanforderungen) (ebd.). Im Kontext gewandelter Beschäftigungsformen hat die berufliche Mobilität, aber ebenso eine ‚Fragmentierung‘ von Erwerbskarrieren zugenommen, geprägt durch Umschulung, Berufswechsel, befristete Arbeitsverträge und Phasen der Arbeitslosigkeit. Diese Veränderungen müssen im Zusammenhang mit der sich seit den 1970erJahren rapide beschleunigenden Globalisierung der Wirtschaft gesehen werden. Mit dem Export der Marktwirtschaft und moderner Technologien in Schwellenländer wird nicht nur der Kapital- und Warenmarkt mit einer bisher unbekannten Dynamik ausgeweitet, sondern ebenso sehr der Arbeitsmarkt. In den Hochlohnländern entsteht damit ein globales Angebot von Arbeitskräften und die internationale Lohnkonkurrenz lässt den Rationalisierungsdruck bei den Unternehmen ansteigen. Diesem Druck wird häufig mit Restrukturierung durch Personalabbau und Auslagern der Produktion in Billiglohnländer begegnet. Als Folge erleben Beschäftigte vermehrt eine Intensivierung ihrer Arbeit sowie eine Zunahme der Arbeitsplatzunsicherheit bei gleichzeitiger Stagnation von Löhnen und Gehältern. Diese oft als ‚Prekarisierung‘ bezeichnete, belastende Kombination von erhöhtem Leistungsdruck und verringerter Arbeitsplatzsicherheit kennzeichnet nicht mehr allein die Situation gering qualifizierter Randbelegschaften in Betrieben und Organisationen, sondern sie trifft zunehmend auch Kernbelegschaften und höher qualifizierte Berufsgruppen (Kalleberg 2009). Der skizzierte Wandel hat weitreichende Folgen für die von der beruflichen Tätigkeit ausgehenden Auswirkungen auf die Gesundheit der Beschäftigten. Im Vordergrund steht hierbei die Verschiebung des Belastungsspektrums von der bei vorherrschender Industriearbeit gegebenen körperlichen Arbeit und der Exposition gegenüber physikalischen und chemischen Noxen hin zu psychomentalen und

Arbeit und Beschäftigung als Determinanten ungleicher Gesundheit

239

sozio-emotionalen Belastungen (s. u.). Letztere sind nicht nur für viele Dienstleistungsberufe, einschließlich die des Informations- und Kommunikationssektors, typisch, sondern sie kennzeichnen, angesichts der erwähnten Folgen der Technisierung und Rationalisierung, auch weite Teile der in den traditionellen Erwerbssektoren ausgeübten Tätigkeiten. Dabei sind einige Unterschiede zwischen Frauen und Männern zu beachten. Generell gilt, dass Männer aufgrund höherer Erwerbsquoten im produktiven Sektor häufiger körperlicher Schwerarbeit, Unfallgefahren sowie physikalischen Risiken und chemischen Gefahrstoffen ausgesetzt sind. Dementsprechend ist bei ihnen die Zahl meldepflichtiger Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten gegenüber Frauen erhöht, wobei aber auch bei Frauen körperliche Belastungen in relevantem Umfang festzustellen sind. Auf der anderen Seite arbeiten Frauen häufiger als Männer in prekären Beschäftigungsverhältnissen, sind schlechter bezahlt, besitzen geringere Aufstiegschancen und haben in vielen Berufen einen geringeren Tätigkeitsspielraum (Eurofound 2012). Zudem wirken sich kumulierte Belastungen von Erwerbsarbeit und Familienarbeit bei ihnen ungünstig auf die Gesundheit aus (Du Prel und Peter 2015; Glynn et al. 2009). Dass Frauen insgesamt stärker als Männer von psychosozialem Stress am Arbeitsplatz betroffen sind, kann man anhand der Literaturlage nicht behaupten, wohl aber, dass bestimmte, von Frauen häufiger gewählte Berufe, wie beispielsweise Pflege- oder Erziehungsberufe, besonders hohe psychosoziale Belastungswerte aufweisen (Borritz et al. 2010; Siegrist 2015). Eine weitere Frage ist, ob die Stärke des Effekts von psychosozialem Arbeitsstress auf das Erkrankungsrisiko bei Frauen und Männern unterschiedlich ausfällt. Während nur in einzelnen Studien stärkere Effekte bei Frauen beobachtet wurden (Campos-Serna et al. 2013), zeigt die Mehrheit der Untersuchungen sowohl bei somatischen Erkrankungen wie koronaren Herzkrankheiten (Steptoe und Kivimäki 2013), wie auch bei psychischen Störungen (Niedhammer et al. 2015), dass die Effektstärken zwischen den Geschlechtern vergleichbar sind. Für die zukünftige Forschung ist in diesem Zusammenhang eine Differenzierung zwischen Geschlecht und Geschlechtsrolle von hoher Bedeutung, da sich durch den Wandel der Geschlechtsrollen sowohl Expositionshäufigkeiten wie auch Bewältigungsstile angesichts von Belastungen zwischen Männern und Frauen verändern. Was ist aktuell in Deutschland bzw. in Europa über die soziale Ungleichverteilung belastender Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen bekannt? Bezüglich der Beschäftigung soll hier zunächst der Aspekt sozialer Ungleichheit in Hinblick auf physikalische und chemische sowie auf psychosoziale Stressoren dargestellt werden, bevor dann im folgenden Kapitel auf die möglichen gesundheitlichen Folgen eingegangen wird.

3.1

Physikalische und chemische Stressoren

Ergonomische Belastungen wie repetitive Bewegungen, Heben schwerer Lasten oder Verrichten von Tätigkeiten in schmerzhafter Körperhaltung kennzeichnen auch heute noch viele Arbeitsplätze. Viele der durch die arbeitsmedizinische Forschung

240

J. Siegrist und N. Dragano

identifizierten Risikofaktoren sind Gegenstand von Maßnahmen des Arbeitsschutzes geworden, wobei Noxen entweder gänzlich ausgeschaltet (z. B. durch Verbot der Anwendung bestimmter Stoffe wie Asbest in der Produktion) oder in ihrer Dosierung (durch Einführung von Grenzwerten der Exposition) begrenzt wurden. Gesetzliche Regelungen des Arbeitsschutzes und der Arbeitssicherheit, die in Deutschland im Vergleich zu manchen andern europäischen Ländern als vorbildlich gelten, haben zur Verringerung arbeitsbedingter Krankheiten und Unfällen nachhaltig beigetragen. Dennoch sind die ‚klassischen‘ physikalischen, chemischen und biologischen Stressoren insbesondere bei an- und ungelernten Arbeitern der industriellen Produktion, im Baugewerbe und im Bergbau, bei Leih- und Saisonarbeitern sowie bei weiteren Personengruppen in prekären Beschäftigungsverhältnissen, schließlich bei Beschäftigten mit statusniedrigen Dienstleistungstätigkeiten vergleichsweise häufig zu finden (Dragano et al. 2015a; Mehlum et al. 2008; Montano 2014a). Eine groß angelegte Panelstudie zu Arbeitsbedingungen in der EU hat beispielsweise gezeigt, dass noch immer etwa 15 % aller Erwerbstätigen zumindest gelegentlich Kontakt mit gefährlichen Substanzen am Arbeitsplatz haben, und dass beinahe jeder dritte Beschäftigte zumindest zeitweise starker Lärmbeschallung am Arbeitsplatz ausgesetzt ist (Eurofound 2012). Auch für Arbeitsunfälle wurde ein ausgeprägter sozialer Gradient beobachtet: je niedriger die berufliche Position, desto höher das Risiko tödlicher und nicht-tödlicher Arbeitsunfälle (D’errico et al. 2007).

3.2

Psychosoziale Stressoren

Neben den erwähnten physikalischen und chemischen Stressoren spielen zwei weitere Kategorien beruflicher Belastungen eine wichtige Rolle für die Gesundheit der Beschäftigten, wobei auch hier teilweise die soziale Ungleichheit ausgeprägt ist: Belastungen, die sich aus der zeitlichen Gestaltung der Arbeit ergeben sowie spezifische, als psychosoziale Stressoren identifizierte, mentale und emotionale Gefährdungen. Bezüglich der Arbeitszeit stellen einerseits Überstunden in Form exzessiver Mehrarbeit, andererseits langjährige Schichtarbeit gesundheitliche Risikofaktoren dar. In der erwähnten europäischen Panelstudie gaben 13 % der Befragten an, 50 und mehr Wochenstunden zu arbeiten, und der Prozentsatz der in Schichtarbeit Beschäftigten schwankte zwischen den europäischen Ländern in einem Bereich von 10 bis 25 % (Eurofound 2012). Obwohl in beiden Fällen nicht unbedingt von einem allgemeinen sozialen Gefälle der Exposition ausgegangen werden kann, da lange Arbeitszeiten auch bei Selbstständigen oder höher qualifizierten Beschäftigten häufig vorkommen, sind einzelne prekär beschäftigte Gruppen von exzessiven und unregelmäßigen Arbeitszeiten sowie von Nacht- und Wechselschicht besonders stark betroffen. Ein ausgeprägter sozialer Gradient zeigt sich hingegen im Bereich psychosozialer Belastungen moderner Erwerbsarbeit. Da diese Belastungen nicht direkt beobachtbar sind und außerdem in vielfältigen Formen an den unterschiedlichen Arbeitsplätzen auftreten, ist zu ihrer Identifizierung ein theoretisches Modell erforderlich. Mit seiner Hilfe lassen sich die für die Gesundheit relevanten Aspekte auf einer

Arbeit und Beschäftigung als Determinanten ungleicher Gesundheit

241

allgemeingültigen Ebene ermitteln. In der internationalen Arbeitsstressforschung der vergangenen zwei Jahrzehnte sind neben manchen anderen Ansätzen (als Übersicht z. B. Cartwright und Cooper 2009) zwei Arbeitsstressmodelle mit besonderer Intensität untersucht worden, das Anforderungs-Kontroll-Modell und das Modell beruflicher Gratifikationskrisen. Nach dem Anforderungs-Kontroll-Modell (Karasek und Theorell 1990) sind diejenigen Personen durch Arbeitsstress gesundheitlich besonders gefährdet, die hohen quantitativen Anforderungen ausgesetzt sind (z. B. permanenter Zeitdruck), ohne dass sie ausreichende Kontrolle und Entscheidungsmacht über die Ausführung ihrer Tätigkeit besitzen. Das Modell beruflicher Gratifikationskrisen (Siegrist 1996) befasst sich mit den vertraglichen Bedingungen der Arbeit, d. h. dem Tauschprozess zwischen Leistung und Gegenleistung. Wird der Grundsatz der Tauschgerechtigkeit bei der Arbeit in der Form verletzt, dass einer hohen Verausgabung keine angemessene Belohnung gegenübersteht, dann werden „gratifikationskritische“ Stressrektionen ausgelöst. Belohnungen umfassen nicht allein Lohn oder Gehalt, sondern ebenso Aufstiegschancen, Arbeitsplatzsicherheit sowie nicht-materielle Anerkennung und Wertschätzung. Wie Abb. 1 zeigt, wurde in einer europaweiten Befragung älterer Erwerbstätiger ein ausgeprägter sozialer Gradient festgestellt: Je niedriger der berufliche Status ist, desto häufiger werden diese beiden Formen psychosozialer Arbeitsbelastungen erfahren. Dieser Zusammenhang lässt sich für alle drei oben erwähnten Klassifizierungssysteme beruflicher Positionen nachweisen (Wahrendorf et al. 2013). Dieser Befund wird von einer Reihe internationaler Untersuchungen bestätigt, die für unterschiedliche Beschäftigtenstichproben ausgeprägte soziale Ungleichheiten beim Auftreten von psychosozialen Arbeitsbelastungen gezeigt haben (Dragano et al. 2015a; Hämmig et al. 2014; Hoven und Siegrist 2013; Niedhammer et al. 2012). Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass sich sowohl im Bereich körperlicher Schwerarbeit und Gefährdung durch physikalische und chemische Noxen als auch im Bereich psychosozialer Arbeitsbelastungen ausgeprägte soziale Ungleichheiten zu Ungunsten benachteiligter Gruppen der Erwerbsbevölkerung feststellen lassen. Der folgende Abschnitt befasst sich mit den Auswirkungen dieses Tatbestands auf die physische und psychische Gesundheit, die Frühberentung und die Sterblichkeit.

4

Arbeit, Beschäftigung und ungleiche Gesundheit

4.1

Prekäre Beschäftigung und Gesundheit

An dem einen – positiven – Ende des Spektrums von Beschäftigungsformen befindet sich die sichere, qualitativ hochwertige und gut bezahlte Arbeit, an dem anderen – negativen – Ende die Langzeitarbeitslosigkeit, von der Menschen in niedrigeren sozialen Schichten häufiger als andere betroffen sind. Das Risiko der Arbeitslosigkeit hängt in starkem Maß vom sozialen Status, insbesondere vom beruflichen Qualifizierungsgrad und der Höhe der beruflichen Stellung ab: Je höher der Status, desto geringer das Risiko der Arbeitslosigkeit. Dies ist in vielen Studien nachge-

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Abb. 1 Der soziale Gradient psychosozialer Arbeitsbelastungen (Prävalenz von Gratifikationskrisen oder geringer Kontrolle nach drei Klassifizierungskriterien des beruflichen Status; SHAREStudie; basierend auf Wahrendorf et al. 2013)

wiesen worden und trifft neben der Langzeitarbeitslosigkeit auch auf atypische Formen prekärer Beschäftigung zu (Hollederer 2013). Den gesundheitlichen Auswirkungen von Langzeitarbeitslosigkeit widmen sich seit mehreren Jahrzehnten umfangreiche Langzeitstudien, insbesondere können hier Studien aus Großbritannien, Skandinavien und den USA angeführt werden. Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass diese Form sozialer Benachteiligung mit einer um 50 bis 100 Prozent erhöhten allgemeinen Mortalität assoziiert ist und dass unter den Todesursachen Herz-Kreislauf-Krankheiten, Unfälle und Suizide hervorstechen (Dupre et al. 2012;

Arbeit und Beschäftigung als Determinanten ungleicher Gesundheit

243

Kieselbach und Mansila 2012; Milner et al. 2013). Andere Studien berichten über erhöhte psychische Störungen wie Depressionen und massive Einschränkungen des physischen und psychischen Funktionsvermögens (Herbig et al. 2013). Ähnlich starke Zusammenhänge sind im Rahmen von Untersuchungen an prekär Beschäftigten festgestellt worden. Hohe Arbeitsplatzunsicherheit stellt hierbei die im Zentrum stehende psychosoziale Belastungskomponente dar (zusammenfassend Siegrist 2015). In einer neuen Überblicksarbeit wurde belegt, dass Personen mit wahrgenommener Arbeitsplatzunsicherheit ein erhöhtes Risiko für koronare Herzerkrankungen aufweisen (Virtanen et al. 2013). Studien, welche Indikatoren wie Qualifizierungsgrad oder Einkommenshöhe benutzen, um Gruppen prekär Beschäftigter zu identifizieren, gelangen zu gleichen Ergebnissen. Dies gilt beispielsweise für eine umfangreiche US-amerikanische branchenübergreifende Untersuchung (Muntaner et al. 2004) ebenso wie für eine auf Krankenversicherungsdaten beruhende deutsche Studie, nach welcher die 10-Jahresinzidenz von Typ 2 Diabetes und akutem Herzinfarkt bei un- und angelernten Arbeitern und Angestellten etwa zwei- bis dreimal so hoch war wie bei höher Qualifizierten (Geyer et al. 2006). Es erstaunt daher nicht, dass angesichts höherer Krankheitslast bei prekär Beschäftigten auch das Risiko krankheitsbedingter Frühberentung besonders hoch ist (Dragano 2007; Ervasti et al. 2013; Haukenes et al. 2011). Trotz vorliegender wissenschaftlicher Evidenz besteht aktuell zu diesen Fragen noch weiterer Forschungsbedarf, sowohl bezüglich der den statistischen Assoziationen zugrunde liegenden psychobiologischen Prozesse als auch bezüglich der Langzeitwirkungen auf Gesundheit, Wohlbefinden und Sterblichkeit (Friedrichs und Schröder 2006).

4.2

Arbeitsplatznoxen, Arbeitszeit und Gesundheit

Den Schwerpunkt arbeitsmedizinischer Forschung des vergangenen Jahrhunderts bildeten toxikologische Untersuchungen zu physikalischen, chemischen und biologischen Stressoren und deren Auswirkungen auf die Gesundheit der Beschäftigten. Daneben fanden Untersuchungen zu arbeitsbedingten Unfällen sowie zu kritischen Aspekten von Arbeitszeiten (Schichtarbeit; exzessive Mehrarbeit) erhöhtes Interesse. Ihre umfangreichen, auch heute trotz eines verbesserten Arbeitsschutzes noch aktuellen, Ergebnisse und ihr differenzierter Beitrag zur Erklärung sozial ungleicher Morbidität und Mortalität können im Rahmen dieser kurzen Übersicht nicht angemessen dargestellt werden (als Übersicht zu Deutschland z. B. Letzel und Nowak 2015). Es soll jedoch darauf hingewiesen werden, dass arbeitsbedingte Unfälle bei einer Reihe statusniedriger Berufsgruppen besonders häufig vorkommen, so im Baugewerbe, bei Landwirten, bei Beschäftigten im Transportsektor und im Bergbau (Arndt et al. 2005). Gut dokumentiert ist auch die Häufung von Beschwerden und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems bei manuell arbeitenden Männern und Frauen. Eine neue Auswertung anhand von Daten des Europäischen Surveys zu Arbeitsbedingungen, welche den Zeitraum von 1995 bis 2010 umfasst, weist nicht

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nur nach, dass die Häufigkeit arbeitsbedingter Risikofaktoren muskulo-skelettaler Erkrankungen in diesem Zeitraum praktisch unverändert geblieben ist, sondern auch, dass vier nach der ISCO- Klassifikation definierte Berufsgruppen eine besonders hohe Prävalenz entsprechender Beschwerden aufweisen: einfache Dienstleistungsberufe, Handwerksberufe, an Anlagen und Maschinen beschäftigte Industriearbeiter sowie un- und angelernte Arbeiter (Montano 2014b). Obwohl Schichtarbeit, unregelmäßige Arbeitszeiten und umfangreiche Überstunden nicht generell in statusniedrigen Berufsgruppen häufiger als bei beruflich Bessergestellten auftreten, sind prekär Beschäftigte aufgrund ihrer geringen Chancen, ihre Arbeitsbedingungen kontrollieren zu können, diesen Risiken oft ausgesetzt. Beschäftigte mit Zeitvertrag und unsicherem Arbeitsplatz stehen vermehrt unter Druck, ungünstige und unregelmäßige Arbeitszeiten einschließlich Schichtarbeit sowie Überstunden in Kauf zu nehmen, um ihre Arbeitsstelle nicht zu verlieren. Jahrelange exzessive Mehrarbeit geht mit einem erhöhten Risiko einher, an einer stressbedingten körperlichen oder psychischen Störung zu erkranken oder zu sterben (Virtanen et al. 2012; zusammenfassend Siegrist et al. 2012).

4.3

Psychosoziale Stressoren und Gesundheit

Wie erwähnt, wird chronischer Arbeitsstress in Form der beiden erwähnten theoretischen Modelle bei Personen in niedrigeren beruflichen Stellungen häufiger erfahren (s. o. Abb. 1). Um die hiermit verbundene erhöhte Krankheitslast mittels präventiver Maßnahmen verringern zu können, sind genauere Kenntnisse über den Umfang und die spezifischen Gesundheitsrisiken erforderlich. Inzwischen liegen Ergebnisse aus vielen prospektiven Studien zur Beantwortung dieser Frage vor. Prospektive Kohorten-Studien sind besonders aussagekräftig, da sie bei Beschäftigten durchgeführt werden, die zu Beginn frei von der untersuchten Krankheit sind. Auf diese Weise kann untersucht werden, ob eine statistische Beziehung zwischen der zu Beginn ermittelten Stressbelastung und dem nachfolgend dokumentierten Neuerkrankungsrisiko besteht und wie stark sie, nach Kontrolle weiterer Einflussfaktoren, ausgeprägt ist. Zur stressbedingten Erhöhung des Risikos einer koronaren Herzkrankheit, vor allem eines nicht tödlichen oder tödlichen akuten Herzinfarkts, liegen aktuell Ergebnisse aus mehr als einem Dutzend solcher prospektiver Studien vor, wobei zum Anforderungs-Kontroll-Modell bisher mehr Untersuchungen durchgeführt wurden (Backé et al. 2012; Steptoe und Kivimäki 2013). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass für jedes der beiden Modelle eine Erhöhung des relativen Risikos in einem Bereich von 20 bis 80 Prozent im Vergleich zu beruflich nicht gestressten Beschäftigten beobachtet wurde. Liegt eine Kumulation belastender Erfahrungen nach beiden Arbeitsstressmodellen vor, dann erhöht sich das Risiko zusätzlich. Arbeitsstress trägt jedoch nicht nur zur Steigerung der Neuerkrankungsrate sowie der Wiedererkrankung nach überstandenem Erstinfarkt bei, sondern wirkt sich auch

Arbeit und Beschäftigung als Determinanten ungleicher Gesundheit

245

Abb. 2 Unterschiedliche Stärke des Effekts psychosozialer Arbeitsbelastungen (Gratifikationskrise) nach sozialer Position (Referenz: Gratifikationskrise nein/SEP hoch). Ergebnisse einer dänischen Längsschnittstudie (basierend auf Rugulies et al. 2013)

auf die Ausbildung wichtiger kardiovaskulärer Risikofaktoren (insbesondere Bluthochdruck) und auf den Verengungsprozess der Herzkranzgefäße (sogenannte Atherosklerose) negativ aus (vgl. Siegrist 2015). Vermutlich noch umfangreicher ist die wissenschaftliche Beweislage zum Einfluss psychosozialer Arbeitsbelastungen auf das Risiko der Entwicklung einer Depression. Eine Übersicht über Ergebnisse zum Anforderungs-Kontroll-Modell findet sich bei Bonde (2008). Sie zeigt in der Mehrzahl der Fälle deutlich erhöhte Erkrankungsrisiken. Zum Depressionsrisiko bei Vorliegen beruflicher Gratifikationskrisen liegen aktuell die Resultate aus zehn prospektiven Studien vor. Sie belegen zusammenfassend eine knappe Verdoppelung der Wahrscheinlichkeit, stressbedingt an einer depressiven Störung zu erkranken (Siegrist 2015). Im Zusammenhang dieses Kapitels ist die Beobachtung einiger Studien besonders bedeutsam, dass die Stärke des Effekts, der von psychosozialen Belastungen auf das Depressionsrisiko ausgeht, nach der Zugehörigkeit der Beschäftigten zur sozialen Schicht variiert. Wie am Beispiel einer dänischen Untersuchung in Abb. 2 ersichtlich, ist der Effekt bei Angehörigen einer niedrigen sozialen Schicht am stärksten (Rugulies et al. 2013). Dies bedeutet, dass soziale Schicht den Zusammenhang zwischen Arbeitsstress und Erkrankung moderiert, wobei vermutet wird, dass die Zugehörigkeit zu einer niedrigen sozialen Schicht mit einem Mangel an gesundheitsfördernden Ressourcen und Kompetenzen einhergeht und damit die Vulnerabilität angesichts von Arbeitsstress erhöht (vgl. auch Wege et al. 2008).

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Gesundheitspolitisch bedeutsam ist schließlich der Tatbestand, dass Anerkennungskrisen im Beruf nicht nur bei Neuerkrankungsraten an depressiven Störungen, sondern auch im weiteren Krankheitsverlauf eine Rolle spielen. So zeigt eine neue umfangreiche Studie aus Finnland, dass das Risiko einer depressionsbedingten Frühberentung mit dem Ausmaß der Ausprägung beruflicher Gratifikationskrisen linear ansteigt. Beschäftigte mit psychosozialen Belastungswerten im obersten Quartil wiesen im Vergleich zu Beschäftigten im untersten Quartil eine um 90 % erhöhte Wahrscheinlichkeit auf, in einem nachfolgenden Zeitraum von 9 Jahren von einer depressionsbedingten Frühberentung betroffen zu sein (Juvani et al. 2014). Abschließend soll angemerkt werden, dass die Beziehungen zwischen psychosozialer Stressbelastung, sozialer Ungleichheit und Gesundheit sehr viel reichhaltiger und vielschichtiger sind, als dies in diesem äußerst knappen Überblick skizziert werden konnte. Zum einen sind für die beiden hier im Vordergrund stehenden Arbeitsstressmodelle weitere Zusammenhänge mit anderen Krankheitsbildern, ihren Risikofaktoren und den psychobiologischen Markern nachgewiesen worden, welche den ermittelten Beziehungen zwischen Arbeitsstress und Krankheitsentwicklung zugrunde liegen können. Zum andern hat die Forschung gezeigt, dass einige ergänzende Konzepte der Identifizierung ‚toxischer‘ Aspekte von Arbeitsstress vergleichbare Ergebnisse zutage fördern. Im Hinblick auf psychische Störungen trifft dies insbesondere für das Modell der Organisationsungerechtigkeit zu (Ndjaboue et al. 2012). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass psychosoziale Arbeitsbelastungen in Form der erwähnten theoretischen Modelle als ein eigenständiger Risikofaktor stressbedingter körperlicher und seelischer Erkrankungen anzuerkennen sind. Da diese Belastungen bei Erwerbstätigen aus niedrigeren sozialen Schichten häufiger auftreten und somit zu einer sozial ungleichen arbeitsbedingten Krankheitslast beitragen, ergeben sich aus diesen neuen Erkenntnissen wichtige praktische Folgerungen für die Prävention.

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Folgerungen für die Prävention

Sicherlich besteht eine erste praktische Folgerung aus den hier dargestellten neuen gesundheits- und medizinsoziologischen Erkenntnissen zum Zusammenhang zwischen Arbeitswelt und stressbedingten Erkrankungsrisiken darin, diese Erkenntnisse Entscheidungsträgern in Wirtschaft, Politik und medizinischem Versorgungssystem sowie einer größeren interessierten Öffentlichkeit zu vermitteln. Noch immer behindern weit verbreitete Vorurteile über die Rolle von Arbeitsstress bei der Entwicklung körperlicher und psychischer Störungen, Nichtwissen und Verharmlosungsstrategien angesichts des skizzierten Problemdrucks die ernsthafte Suche nach Lösungen. Adressaten eines solchen Vermittlungsprozesses sind in erster Linie Akteure auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene sowie Fachexperten und Politiker, welche die sozial- und wirtschaftspolitischen Entwicklungen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene mitgestalten. Eine zweite praktische Folgerung betrifft den Ausbau und die Stärkung der betrieblichen Gesundheitsförderung anhand gut begründeter Programme primärer und sekundärer Prävention. In der Primärprävention kommt nach den dargestellten Erkenntnissen

Arbeit und Beschäftigung als Determinanten ungleicher Gesundheit

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den Maßnahmen einer gesundheitsfördernden Organisations- und Personalentwicklung die Priorität zu. Die Entwicklung und Umsetzung solcher Maßnahmen kann sich mit Gewinn an den erörterten Arbeitsstressmodellen orientieren. Beispielsweise lassen sich dem erwähnten Anforderungs-Kontroll-Modell gezielt Anregungen dahingehend entnehmen, den Entscheidungs- und Kontrollspielraum bei der Erledigung von Arbeitsaufgaben zu erweitern. Erweiterte Entscheidungsmöglichkeiten sind auch bezüglich der Mitgestaltung von Arbeitszeiten wünschenswert. Lernchancen bei der Ausübung täglicher Arbeit zu ermöglichen erweist sich als hilfreich bei der Förderung von Arbeitsmotivation und der Stärkung psychischer Gesundheit insbesondere bei gering qualifizierten Berufsgruppen. Strukturelle Änderungen im Rahmen betrieblicher Personalentwicklung beziehen sich nach den Ausführungen zum Modell beruflicher Gratifikationskrisen auf den Ausbau inner- und überbetrieblicher Qualifizierung, auf die Einbeziehung sogenannter Lebensarbeitszeitmodelle in die Personalplanung und auf die Etablierung einer fairen Lohnpolitik, die u. a. auch kompensierende Lohndifferenziale und von Arbeitnehmern erwerbsbiografisch erbrachte Investitionen angemessen berücksichtigt. Die zuletzt genannten Aspekte sind bei geringer qualifizierten Beschäftigten in niedrigeren beruflichen Positionen besonders bedeutsam. Daneben kommt den nicht-monetären Gratifikationen in Form von Wertschätzung geleisteter Arbeit und Anerkennung der Mitarbeiter durch ihre Vorgesetzten eine wichtige Funktion zu. Die Schulung guten Führungsverhaltens ist daher eine unverzichtbare Komponente aller Bemühungen um gesundheitsfördernde Organisations- und Personalentwicklung. Strukturell-organisatorische Entwicklungen im Bereich betrieblicher Gesundheitsförderung sind umso dringlicher, als bisher der Großteil laufender Programme auf eine Verbesserung individuellen Gesundheitsverhaltens abzielt. Zusätzlich ist gezeigt worden, dass diese Programme sozial schlechter gestellte Beschäftigte seltener erreichen, obwohl hier der Bedarf besonders groß ist (Montano et al. 2014). Schließlich ist angesichts der Tragweite und Dynamik von Arbeitsbelastungen in einer globalisierten, von neoliberalen Kräften des Marktes bestimmten Wirtschaft auf eine dritte praktische Folgerung hinzuweisen. Präventive Maßnahmen auf der Ebene einzelner Unternehmen und Organisationen oder auf der Ebene ausgewählter Branchen reichen nicht aus, um das Ausmaß arbeitsbedingter Krankheitslast auf der Ebene ganzer Populationen spürbar zu senken. Daher sind weiter reichende Bemühungen auf überbetrieblicher, staatlicher Ebene erforderlich, mit dem Ziel, insbesondere vulnerable Gruppen der Erwerbsbevölkerung vor krankmachenden Arbeitsbedingungen zu schützen und sie bei der Entwicklung gesundheitsfördernder Arbeit zu unterstützen. Bislang scheint dies aber nur sehr eingeschränkt zu gelingen. So konnte beispielsweise in einem internationalen Vergleich gezeigt werden, dass Beschäftigte mit niedriger Qualifikation und prekären Beschäftigungsverhältnissen weniger von gesetzliche Arbeitsschutzmaßnahmen profitieren, als andere Berufsgruppen (Dragano et al. 2015b). Insofern ist zu fordern, dass nationale arbeits- und sozialpolitischer Programme das Ziel verfolgen sollten, Ungleichheiten auszugleichen. Im Zentrum stehen Maßnahmen der sozialen Absicherung gegen Existenzrisiken im Fall von Arbeitslosigkeit und Erwerbsunfähigkeit, ein leistungsgerechtes Rentensystem, vor allem jedoch Programme aktiver Arbeitsmarktpolitik, welche möglichst vielen arbeitsfähigen Personen den (Wieder)eintritt ins Erwerbsleben ermöglichen, beispielsweise bei

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bestehender Behinderung, nach längerer Krankheit oder bei zu kompensierenden Leistungsdefiziten (sog. Integrationsleistungen). In einer europaweit vergleichenden Studie konnte gezeigt werden, dass ein enger statistischer Zusammenhang zwischen dem durchschnittlichen Niveau von Arbeitsstress bei den Beschäftigten eines Landes und dem Ausmaß an Investitionen besteht, welche das entsprechende Land in Programme einer integrativen Arbeitsmarktpolitik tätigt: Je höher diese Investitionen sind, desto niedriger ist die Ausprägung von Arbeitsstress (Wahrendorf und Siegrist 2014). Indirekt kann dadurch auch eine Senkung der dem Arbeitsstress zuzurechnenden Krankheitslast erzielt werden.

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Fazit

Die Ausführungen dieses Kapitels haben gezeigt, dass belastende Arbeitsbedingungen, welche die Gesundheit der Beschäftigten gefährden, auch in modernen Gesellschaften wie der Bundesrepublik Deutschland sozial ungleich verteilt sind, indem sozial schlechter gestellte Menschen häufiger von ihnen betroffen sind. Dies gilt sowohl für arbeitsmedizinisch etablierte physikalische und chemische Noxen wie auch für psychosoziale Stressoren, welchen im Zuge neuer Entwicklungen der Arbeitswelt wachsendes Gewicht zukommt. Die epidemiologische und medizinsoziologische Forschung der vergangenen zwei Jahrzehnte hat zur Schaffung einer breiten neuen Erkenntnisbasis beigetragen, wonach belastende Arbeitsbedingungen einen signifikanten Beitrag zur Erklärung sozial ungleicher Gesundheit in der Erwerbsbevölkerung leisten. Dabei kommt der Entwicklung soziologischer Modelle und ihrer Testung anhand sozialwissenschaftlicher Methoden eine erhebliche Bedeutung zu. Die vorliegende Evidenz gibt Anlass zu verstärkten Bemühungen um die Schaffung gesundheitsfördernder Arbeitsbedingungen, sowohl auf der Ebene von Unternehmen und Organisationen, als auch auf der Ebene nationaler Programme der Arbeits- und Sozialpolitik. Es bleibt zu hoffen, dass damit auch ein Beitrag zur Verringerung des sozialen Gradienten von Morbidität und Mortalität in der Bevölkerung geleistet werden kann.

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Gesundheitliche Ungleichheiten und soziale Beziehungen Nico Vonneilich und Olaf von dem Knesebeck

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Konzeptuelle Grundlagen sozialer Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Soziale Netzwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Soziale Unterstützung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Soziale Beziehungen und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Erklärungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Gesundheitliche Ungleichheit und soziale Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Im Rahmen der psychosozialen Erklärungsansätze von gesundheitlicher Ungleichheit ist die Bedeutung von verschiedenen Aspekten sozialer Beziehungen hervorgehoben und diskutiert worden. An dieser Stelle setzt der vorliegende Beitrag an. Der Begriff der sozialen Beziehungen wird dabei als eine Oberkategorie verstanden, unter der verschiedene Konzepte verhandelt werden: soziale Netzwerke, soziale Unterstützung und auch soziales Kapital. Diese entwickelten sich vor dem Hintergrund unterschiedlicher Forschungstraditionen unabhängig voneinander, zeigen heute aber inhaltliche Überschneidungen und sind in ihrer empirischen Umsetzung wenig trennscharf. Verschiedene Studien konnten Zusammenhänge zwischen sozialen Beziehungen und Gesundheit darlegen. Die Stärke der Zusammenhänge variiert jedoch, je nachdem, welche Indikatoren sowohl für soziale Beziehungen als auch für Gesundheit verwendet

N. Vonneilich (*) · O. von dem Knesebeck (*) Institut für Medizinische Soziologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Kriwy, M. Jungbauer-Gans (Hrsg.), Handbuch Gesundheitssoziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06392-4_14

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N. Vonneilich und O. von dem Knesebeck

werden. Zentrale Erklärungsansätze sind das Puffer-Modell (soziale Beziehungen puffern die gesundheitlich negativen Effekte von Stressoren) sowie das Haupteffekt-Modell (soziale Beziehungen haben generell einen positiven Effekt auf die Gesundheit). Für beide Modelle können empirische Hinweise gefunden werden. Im Pfad-Modell nach Berkman und Glass werden die Wirkmechanismen von sozialen Beziehungen auf gesundheitliche Outcomes auf einer Makro-, einer Meso- und einer Mikro-Ebene aufzeigt. Im Rahmen dieses Modells spielen auch sozioökonomische Aspekte eine Rolle, da diese sowohl Auswirkungen auf soziale Beziehungen als auch auf die Gesundheit haben können. Die Assoziationen zwischen sozialen Beziehungen, sozialer Ungleichheit und Gesundheit wurden bisher in zwei zentralen Thesen beschrieben: Die These der differenziellen Exposition besagt, dass untere Statusgruppen über geringere soziale Beziehungen verfügen (Mediator). Die These der statusspezifischen Vulnerabilität hingegen postuliert, dass sich ein geringeres Ausmaß an sozialen Beziehungen in unteren Statusgruppen stärker gesundheitlich niederschlägt (Moderator). Die bisherigen empirischen Befunde zu beiden Thesen sind widersprüchlich. Die Ergebnisse aktueller längsschnittlicher Analysen stützen die These der differenziellen Exposition und weisen darauf hin, dass soziale Beziehungen zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit beitragen. In Bezug auf einen moderierenden Effekt des sozialen Status finden sich jedoch kaum Hinweise. Hier besteht weiterhin Forschungsbedarf, da prospektive Studien mit einer differenzierten Erhebung sozialer Beziehungen fehlen. Schlüsselwörter

Gesundheitliche Ungleichheit · Soziale Beziehungen · Soziale Netzwerke · Soziales Kapital · Soziale Integration

1

Einleitung

Die Untersuchung sozialer Beziehungen ist ein Kernbestandteil soziologischer Forschung und hat vor dem Hintergrund einer langen Forschungstradition mittlerweile verschiedene theoretische Ansätze und Konzepte hervorgebracht. Zu nennen sind hier Begriffe wie soziales Netzwerk, soziales Kapital und soziale Unterstützung, welche im Folgenden ausführlicher betrachtet werden. Schon früh wurden Zusammenhänge mit Gesundheit untersucht, beginnend etwa mit Durkheims Untersuchungen zum Selbstmord. Ausgehend davon hat sich ein breites medizinsoziologisches und sozialepidemiologisches Forschungsfeld entwickelt, welches im vorliegenden Beitrag dargestellt wird. Zur Erklärung des Zusammenhangs zwischen sozialen Beziehungen und Gesundheit haben sich zwei zentrale Erklärungsansätze etabliert, das sogenannte Haupteffekt-Modell und das Puffer-Modell. Auch diese werden im Folgenden ausgeführt. Im vorliegenden Handbuch werden an anderer Stelle die Zusammenhänge zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit beschrieben (Abschn. 3.2). Verschie-

Gesundheitliche Ungleichheiten und soziale Beziehungen

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dene Erklärungsansätze wurden entwickelt, um diese Zusammenhänge erklären zu können, neben materiellen und verhaltensbezogenen auch psychosoziale Ansätze. Im Letztgenannten lässt sich auch der Erklärungsbeitrag sozialer Beziehungen verorten (These der differenziellen Exposition, Mediator). Es ist ebenso vorstellbar, dass die Zusammenhänge zwischen sozialen Beziehungen und Gesundheit variieren, je nachdem, welche soziale Statusgruppe betrachtet wird (These der statusspezifischen Vulnerabilität, Moderator). Inwiefern aktuelle empirische Studien Hinweise auf einen solchen Moderator-Effekt des sozialen Status beziehungsweise einen Mediator-Effekt sozialer Beziehungen zeigen, und welche Implikationen sich aus diesen Ergebnissen für die weitere Forschung ergeben, wird am Ende dieses Beitrages diskutiert.

2

Konzeptuelle Grundlagen sozialer Beziehungen

Das Forschungsfeld zu sozialen Beziehungen ist breit gefächert, es reicht von der Soziologie hin zur Sozialpsychologie, von Ökonomie über Public Health hin zur Epidemiologie, ohne dass dies eine vollständige Liste aller Fächer und Forschungsschwerpunkte sein soll, die sich mit diesem Thema befassen. In der Soziologie kann die wissenschaftliche Betrachtung sozialer Beziehungen auf eine lange Tradition zurück blicken: diese erstreckt sich von Durkheims bekannter Arbeit zum Selbstmord (Durkheim 1993, Original 1897), über Parsons funktionalistisch ausgerichtete Gesellschaftsanalyse (Parsons 1951), welche den sozialen Interaktionen zugrunde liegenden Werten und Normen Beachtung schenkt, bis hin zu Bourdieus KapitalTheorien und seinen Analysen der gesellschaftlichen Differenzierung (Bourdieu 1994). Die dabei entstandene begriffliche Vielfalt ist durchaus gewünscht und zeugt von der Pluralität an Forschungsaktivitäten. Gleichzeitig aber ist dies problematisch, wenn die Begriffe und die dahinter stehenden Konzepte sich überschneiden oder synonym verwendet werden, ohne dass damit klare Definitionen und Abgrenzungen verbunden sind (Holt-Lunstad et al. 2010; Berkman und Krishna 2014). Ziel der folgenden Übersicht ist es, die Begriffe zu ordnen und deren Entstehung zu skizzieren, um darauf aufbauend Zusammenhänge mit Gesundheit beschreiben und diskutieren zu können.

2.1

Soziale Netzwerke

Die Netzwerkforschung interessiert sich für Beziehungen zwischen Individuen sowie für die Eigenschaften dieser Beziehungen, mehr als für die Eigenschaften der Individuen selbst. Grundgedanke ist, dass Individuen nicht unabhängig handeln, sondern dass diese Handlungen eingebettet sind in ein Netz zwischenmenschlicher Beziehungen (Burt 1982). Auch stehen nicht nur die Beziehung zwischen Ego, also dem zentralen Akteur, von dem die Betrachtung des Netzwerkes ausgeht, und verschiedenen Alteri, also Referenzpersonen des Ego im betrachteten Netzwerk, im Mittelpunkt, vielmehr geht es der Netzwerkanalyse darum, ein gesamtes Bezie-

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hungsgeflecht zu untersuchen. Denn die Beziehung zwischen Ego und den Alteri wird auch beeinflusst durch Beziehungen der Alteri untereinander, die indirekt wiederum mit Ego verbunden sind. Soziale Interaktion und soziale Prozesse werden nicht allein durch Merkmale der Individuen, sondern durch ihre Integration in ein soziales Umfeld erklärbar (Elder et al. 2003; Häußling 2010). Um diese sozialen Zusammenhänge zu veranschaulichen, werden grafische Netzwerkmodelle entwickelt, die die Beziehungen sichtbar machen. Mit dem Blick der Netzwerkforschung verlässt man entsprechend schnell die Mikroperspektive der Einzelnen, hin zu einer Meso-Ebene, welche die Verflechtungen von Individuen und Gruppen sichtbar macht. Wichtiger Grundgedanke in der Netzwerkforschung ist es, dass nicht nur die Position eines Individuums innerhalb eines sozialen Netzes identifiziert werden kann, sondern durch Offenlegung der Strukturen eines Netzwerks auch die Möglichkeiten für Kontaktfähigkeit, Einfluss und Möglichkeiten der Kontrolle innerhalb von Netzwerken analysiert werden können. Diese Strukturen, welche sich anhand netzwerktheoretischer Begrifflichkeiten wie etwa Knoten, Dichte, Zentralität und Position beschreiben lassen, werden zur Beschreibung sozialer Phänomene hinzugezogen (Holzer 2009). Die Komplexität sozialer Netzwerke ergibt sich aus den verschiedenen möglichen Formen und Arten der Interaktion von Individuen und Gruppen untereinander. Zudem lassen sich soziale Netzwerke nach ihrem jeweiligen Charakter unterscheiden, welcher formaler Natur sein kann, wenn es sich um Organisationen und Vereine handelt, oder informell, wenn es sich um persönliche, verwandtschaftliche oder freundschaftliche Netzwerke und Kontakte handelt. Weiterhin ist eine Differenzierung nach Kontakthäufigkeit, der Intensität, sowie nach Größe und Reichweite der Netzwerke, der Extension, möglich. Die frühe (soziologische) Netzwerkforschung hat sich vor allem auf diese eher quantitativen Aspekte sozialer Beziehungen konzentriert. Hier weist der Begriff der sozialen Netzwerke Überschneidungen mit dem Konzept der sozialen Integration auf. Einer Definition von Laireiter zufolge lässt sich soziale Integration als Integration von Individuen in soziale Gruppen, Vereine oder ehrenamtliche Organisationen, als die Anzahl sozialer Kontakte zu Familie, Verwandten und Freunden sowie die Verfügbarkeit und der Zugang zu sozialen und interpersonalen Ressourcen verstehen (Laireiter 1993). Gleichzeitig verweist soziale Integration auf Normen und Werte als Orientierung für individuelle Handlungen, welche durch soziale Interaktion entstehen und durch diese verstetigt werden. Zahlreiche Indikatoren wurden entwickelt, um soziale Netzwerke und den Grad an sozialer Integration zu erfassen. Beispielsweise lassen sich aus der sozialepidemiologischen Forschung der Social Integration Index von Berkman oder der Social Connection Index von Kaplan aufführen (Berkman und Syme 1979; Kaplan et al. 1977). In jüngerer Zeit wird nun auch in der Netzwerkforschung zunehmend versucht, das bisherige, eher quantitative Verständnis sozialer Netzwerke zu erweitern und auch qualitative Aspekte in die Erforschung sozialer Netzwerke einzubeziehen, indem beispielsweise die Verfügbarkeit von Ressourcen oder gemeinsam geteilte Normen und Werte innerhalb von Netzwerken mit in Betracht gezogen werden (Henning und Kohl 2011). Was der soziologischen Untersuchung sozialer Netzwerke bisher weitgehend fehlt, ist eine eigenständige Theorie (Holzer 2009). Es finden sich Anknüpfungspunkte an Rational Choice-Ansätze sowie an strukturalistische Gesellschaftstheo-

Gesundheitliche Ungleichheiten und soziale Beziehungen

257

rien, auch in der Systemtheorie lassen sich Zusammenhänge zur Untersuchung von sozialen Netzwerken herstellen. In der Netzwerkforschung stehen formale und methodische Fragen im Vordergrund, weniger die Entwicklung einer gemeinsamen theoretischen Basis. In früheren Arbeiten wurde dieses Fehlen von übergeordneter Theorie auch als strukturelle Intuition der Netzwerktheorie bezeichnet (Freeman 2004). Holzer hebt dies in seinem Beitrag zur Netzwerktheorie wie folgt hervor: „Um den entscheidenden Schritt von der Netzwerkanalyse zu einer Netzwerktheorie machen zu können, muss jedoch den besonderen Konstitutionsbedingungen [der Netzwerkanalyse] Rechnung getragen werden“ (Holzer 2009, S. 264). Diese Aussage bezieht sich darauf, dass bisherige Ansätze einer Netzwerktheorie in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen Anklang finden, wie etwa der Physik, der Biologie, der Psychologie und der Soziologie, diese jeweiligen Ansätze aber nicht immer auf andere Bereiche übertragbar sind und eine gemeinsame theoretische Fundierung entsprechend erschweren. Es gibt bisher nur vereinzelt Ansätze, welche auf der Grundlage theoretischer Überlegungen versuchen, die relationale Analyse mit kulturellen und symbolischen Aspekten zu füllen, um so Handlungen und Interaktionen erklärbar zu machen (White 1995; Gibson 2005; Fuhse 2008).

2.2

Soziale Unterstützung

Ohne soziale Kontakte, ohne eine Einbettung in soziale Netzwerke kann keine soziale Unterstützung stattfinden. Sind erstere Maße für die Quantität sozialer Beziehungen, dann ist soziale Unterstützung ein Maß für die Qualität dieser Beziehungen. In der Unterstützungsforschung wird zwischen objektiven und subjektiven Aspekten von Unterstützung unterschieden (Turner und Marino 1994). Es konnte gezeigt werden, dass nicht nur die tatsächlich erhaltene Unterstützung relevant ist, sondern die subjektiv wahrgenommene Unterstützung eine zentrale Rolle spielt, gerade im Zusammenhang mit (mentaler) Gesundheit. Zudem wurden zwischen tatsächlich erhaltener und subjektiv wahrgenommener Unterstützung nur geringe Korrelationen gefunden, was darauf hindeutet, dass diese als jeweils relativ eigenständige Konstrukte angesehen werden können (Barrera 1986; Lakey und Cohen 2000). Bereits das Gefühl, dass gegebenenfalls verschiedene Formen der Unterstützung zur Verfügung stehen, kann sich positiv auswirken, ohne dass tatsächlich Unterstützung in Anspruch genommen wurde (Cobb 1976; House et al. 1988; Turner und Marino 1994; Uchino 2009). Dieser funktionale Aspekt sozialer Beziehungen umfasst in der Regel Unterstützungsformen auf emotionaler, instrumenteller sowie informationeller Ebene. Emotionale Unterstützung bezieht sich auf diejenigen sozialen Kontakte, die für Gespräche über eigene Gefühle zur Verfügung stehen, die zur Diskussion alltäglicher Ängste und Sorgen beitragen oder auch Bestätigung für Sympathie und Zuneigung bieten können (siehe Tab. 1, dazu auch Lin et al. 1999). Instrumentelle Unterstützung dagegen umfasst diejenigen Unterstützungsformen, die sich durch praktische Hilfe beispielsweise im Haushalt, mit der Kinderbetreuung oder durch das Leihen von Geld oder anderen Waren auszeichnen. Unter informationeller Unterstützung werden alle jene Leistungen erfasst, die Wissen zum Lösen bestimm-

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Tab. 1 Unterschiedliche Funktionen von sozialer Unterstützung nach Wills und Shinar, eigene Darstellung (Wills und Shinar 2000) Unterschiedliche Funktionen von sozialer Unterstützung Emotionale Unterstützung

Instrumentelle Unterstützung

Informationelle Unterstützung

Beispiele Diskussion von Gefühlen, Gespräche über Sorgen und Ängste, Bestätigung von Sympathie und Zuneigung, Akzeptieren einer Person Verfügbarkeit von Geld, Haushaltsgütern, Werkzeug, Transport, Hilfe in der Kinderbetreuung, Unterstützung im Haushalt Information über Ressourcen, Vorschlag von alternativen und effektiveren Handlungsstrategien

Freundschaftliche Unterstützung

Partner für gemeinsame Aktivitäten (Sport, Theater, Kino, Partys, Reisen etc.)

Bestätigung (Feedback, soziale Vergleiche)

Bietet Orientierung an Normen und Werten, Feedback zum individuellen Status im Vergleich zur jeweiligen Population

Möglicher Nutzen Verringerung von wahrgenommener Bedrohlichkeit kritischer Lebensereignisse, Verstärkung von Selbstbewusstsein, Verbesserung von Bewältigungsstrategien Trägt zur Lösung praktischer Probleme bei, erlaubt mehr Zeit für Erholung, Unterstützt weitere Bewältigungsstrategien Steigert den Anteil verfügbarer nützlicher Informationen, trägt zur Erreichbarkeit erforderlicher Unterstützung bei, führt zu effektiverer Bewältigung Positiver Affekt, Entlastung und Erholung von Pflichten und Anforderungen, positive Ablenkung Verringert subjektive Wahrnehmung eigener Abweichung, Akzeptanz eigener Einstellungen und Gefühle, bietet die Möglichkeit vorteilhafter Vergleiche (Selbstwert)

ter Probleme oder Wissen über den Zugang zu bestimmten Ressourcen wie beispielsweise innerhalb von Gemeinden, verfügbar machen. In Tab. 1 findet sich eine kurze Darstellung unterschiedlicher Aspekte sozialer Unterstützung (basierend auf Wills und Shinar 2000). Der Forschungsansatz zu sozialer Unterstützung fokussiert stark auf die individuelle Ebene. Da jedoch durch die Konzentrierung auf Einzelne der strukturelle Aspekt aus dem Blick gerät, wurde wiederholt vorgeschlagen, zusätzlich die Gesamtstruktur der Netzwerke zu untersuchen, um die strukturelle Bedingtheit von individuellen Unterstützungsleistungen und -möglichkeiten herausarbeiten zu können (Holt-Lunstad et al. 2010; Berkman und Krishna 2014).

2.2.1 Soziales Kapital Wie auch soziale Netzwerke ist das soziale Kapital bereits Untersuchungsgegenstand verschiedener Fachdisziplinen (Soziologie, Ökonomie, Sozialpsychologie, Politikwissenschaft) gewesen. Es lassen sich allen unterschiedlichen Definitionen und theo-

Gesundheitliche Ungleichheiten und soziale Beziehungen

259

retischen Grundlagen dieser Fächer zum Trotz zwei zentrale Gemeinsamkeiten ausmachen (Kawachi und Berkman 2014). Soziales Kapital wird als Ressource verstanden (1), welche nicht durch Einzelne produziert wird, sondern erst durch soziale Interaktion mit Anderen entsteht (2). Soziologisch betrachtet, liegt einer der Ursprünge der Erforschung von sozialem Kapital in den Arbeiten von Pierre Bourdieu sowie von James Coleman und Robert Putnam. Der Kapitaltheorie nach Bourdieu zufolge steht neben ökonomischem Kapital auch kulturelles und soziales Kapital zur Verfügung. Soziales Kapital meint, dass über soziale Beziehungen Zugang zu Ressourcen ermöglicht werden kann (Bourdieu 1994). Auch können Individuen gezielt in diese sozialen Beziehungen investieren, um entsprechend Zugang zu sozialem Kapital zu erhalten, was sich wiederum auf die anderen Kapitalformen auswirken kann. Es wird von einer „[. . .] Konkurrenz zwischen Investitionen in Sozialkapital und andere Kapitalien [. . .]“ gesprochen (Lüdicke und Diewald 2007, S. 15). Die Ansätze von Coleman und Putnam unterscheiden sich in ihrer Herangehensweise von Bourdieu insofern, als soziales Kapital stärker als Eigenschaft von sozialen Netzwerken verstanden wird und dementsprechend die Betonung auf der zwischenmenschlichen Ebene liegt (Coleman 1988). „Unlike other forms of capital, social capital inheres in the structure of relations between actors and among actors“ (Coleman 1988, S. 98). Diese nordamerikanische Tradition entwickelt ihr Verständnis von sozialem Kapital aus der Untersuchung sozialer Netzwerke. Im Vordergrund steht dabei die Frage, wie und unter welchen Bedingungen sich soziales Kapital in sozialen Netzwerken ausbildet (Lin 2000). Betrachtet man soziales Kapital auf der Mikro-Ebene der Individuen, so ergeben sich Überschneidungen sowohl mit dem Konzept der sozialen Unterstützung als auch mit sozialen Netzwerken. Soziale Unterstützung geht von zumeist engen, eher stärkeren sozialen Beziehungen aus. Das Konzept des sozialen Kapitals hingegen unterscheidet zwischen starken und schwachen Beziehungen und sieht gerade die Möglichkeiten der schwächeren Beziehungen, neue Informationen und Ressourcen zur Verfügung zu stellen und ist hier eng an das Konzept sozialer Netzwerke angelehnt. Dies wurde unter dem Schlagwort „strength of weak ties“ diskutiert (Granovetter 1973; Putnam 1995). Diese von Granovetter entwickelte These besagt, dass nicht die häufig frequentierten, engen und mit höherer Intensität geführten Beziehungen (auch als „bonding social capital“ bezeichnet) relevante Ressourcen, wie etwa Zugang zum Arbeitsmarkt, zur Verfügung stellen können, sondern dass dies durch Kontakte ermöglicht werden kann, welche sich durch geringere Kontaktfrequenzen und niedrige Intensität charakterisieren lassen. Diese als „bridging social capital“ (überbrückendes soziales Kapital) bezeichneten Kontakte zeichnen sich dadurch aus, dass sie über unterschiedliche soziale Gruppen hinweg etabliert werden und dass sie die Zugangswahrscheinlichkeit zu bestimmten Ressourcen erhöhen (Lin et al. 1999). Demgegenüber sind es die engeren Kontakte, die eher instrumentelle und emotionale Unterstützung zur Verfügung stellen (Dahl et al. 2010). Auf der Makro-Ebene betrachtet, lässt sich soziales Kapital zugleich als Eigenschaft sozialer Gruppen sowie als Charakteristik von Lebensräumen bestimmen. Aufbauend auf der Erfassung individueller Einschätzungen wie etwa der Reziprozität und dem Vertrauen in die jeweilige Lebensumgebung (z. B. Nachbarschaft, Stadtteil),

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zu sozialem und ehrenamtlichem Engagement sowie generellen Einstellungen zu Gruppen oder Lebensräumen werden Indizes auf einer Aggregatebene gebildet, welche das Ausmaß an sozialem Kapital widerspiegeln und entsprechend als Charakteristik von Gruppen oder umgrenzten Räumen verwendet werden. Grundlegende Annahme ist hierbei, dass erst durch erlebte Reziprozität und Vertrauen sowie auf gemeinsam getragenen Werten und Normen regelmäßige Interaktion entsteht, welche wiederum Zugang zu Ressourcen innerhalb von Gruppen ermöglicht und soziales Kapital entstehen kann (Putnam 1995; Ichida et al. 2009; Dahl et al. 2010).

3

Soziale Beziehungen und Gesundheit

Unterschiedliche Gesundheitsindikatoren sind mit den oben beschriebenen Konzepten sozialer Beziehungen in Zusammenhang gebracht worden. Dazu zählen Mortalität, subjektive Gesundheit sowie psychische und somatische Erkrankungen. Auf Basis einer Meta-Analyse kommen Holt-Lunstad und Kollegen zu dem Ergebnis, dass besser ausgeprägte soziale Beziehungen mit einer im Vergleich um bis zu 90 % niedrigeren Sterbewahrscheinlicht gegenüber Personen mit schwächeren sozialen Beziehungen assoziiert ist (Holt-Lunstad et al. 2010, siehe dazu Abb. 1). In die Analyse wurden 148 Studien eingeschlossen, wovon 61 Studien sowohl funktionale als auch strukturelle Aspekte sozialer Beziehungen integrierten. 24 Studien erfassten ausschließlich funktionale Aspekte sozialer Beziehungen, deutlich mehr Studien

Abb. 1 Zusammenhänge zwischen verschiedenen Aspekten sozialer Beziehungen und Überlebenswahrscheinlichkeit, eigene Darstellung nach Holt-Lunstad et al. 2010; Ergebnisse einer MetaAnalyse auf Basis von 148 Studien (N = 308.849). *Ursprüngliche negative Kodierung dieser Items wurde im Sinne der Darstellung umgekehrt; nicht alleine zu leben, keine Einsamkeit anzugeben und nicht sozial isoliert zu sein, erhöhen die Wahrscheinlichkeit, länger zu überleben

Gesundheitliche Ungleichheiten und soziale Beziehungen

261

(63) erhoben strukturelle Aspekte. In ihrem Fazit berichten die Autoren, dass die Auswirkungen sozialer Beziehungen auf die Mortalität vergleichbar mit bereits etablierten Risikofaktoren wie etwa Übergewicht oder Bewegungsmangel sind. Besonders hervorzuheben ist hierbei, dass die gefundenen Zusammenhänge zwischen strukturellen Aspekten sozialer Beziehungen und Gesundheit dann am stärksten waren, wenn diese mit Hilfe komplexerer Indikatoren erhoben wurden. In Studien, in denen soziale Beziehungen mit wenigen, häufig binär kodierten Items erfasst wurden (z. B. „Leben Sie allein?“ Ja/Nein), zeigten sich insgesamt geringere Effektstärken. Die Assoziationen ausschließlich funktionaler Aspekte sozialer Beziehungen mit verschiedenen Gesundheitsindikatoren wurden in einer ganzen Reihe von Studien untersucht. Beispielsweise zeigte eine frühe längsschnittliche Studie von Berkman und Kollegen, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit älterer Patienten nach erlittenem Myokardinfarkt dann größer war, wenn sie über mindestens zwei Personen in ihrem Umfeld verfügten, die sie emotional unterstützten (Berkman et al. 1992). Seit diesem Befund gab es weitere Studien, welche zu ähnlichen Ergebnissen gekommen sind (Hemingway und Marmot 1999; Smith und Ruiz 2002; Szreter und Woolcock 2004; Almedom 2005; Orth-Gomer 2009). Auch für Deutschland konnten aktuelle Untersuchungen des Robert-Koch Instituts zeigen, dass diejenigen ihre subjektive Gesundheit besser einschätzten, welche über eine als ausreichend wahrgenommene Unterstützung verfügten (RKI 2010, S. 44 f.). Arbeiten, die insbesondere auf quantitative Aspekte fokussierten, kommen zu ähnlichen Ergebnissen wie die bereits oben genannten Studien. Soziale Isolation, also eine geringe Anzahl sozialer Kontakte, ist mit schlechterer subjektiver Gesundheit und höherer Wahrscheinlichkeit für depressive Symptome sowie mit Bluthochdruck assoziiert (Kroll und Lampert 2007; Gorman und Sivaganesan 2007; Stringhini et al. 2012). Ältere Menschen stellen im Rahmen solcher Zusammenhänge eine vulnerable Gruppe dar: In höheren Altersgruppen ist insgesamt das Risiko von Vereinsamung erhöht. Nummela und Kollegen zeigten, dass gerade in dieser Altersgruppe einsame Frauen ihre Gesundheit im Vergleich zu gleichaltrigen Männern schlechter einschätzten (Nummela et al. 2011). Soziale Beziehungen sind jedoch nicht generell als reine Protektivfaktoren für Gesundheit anzusehen (Knesebeck et al. 2009). Zwar gibt es erst wenige Studien, welche sich mit negativen Aspekten sozialer Beziehungen auseinandersetzen, die Ergebnisse deuten aber darauf hin, dass solche Zusammenhänge bestehen. So können sich Konflikte und Stress in sozialen Beziehungen negativ auf Gesundheit und Wohlbefinden auswirken, ebenso konnten Auswirkungen auf die Wahrscheinlichkeit von psychischen Erkrankungen gezeigt werden (Brisette et al. 2000; Lincoln et al. 2010). Auch ein länger erfahrenes Ungleichgewicht zwischen Geben und Nehmen innerhalb von sozialen Beziehungen kann gesundheitliche Auswirkungen haben. Ausbleibende Reziprozität innerhalb sozialer Beziehungen, sowohl innerhalb von Partnerschaften und in der Beziehung zu Kindern als auch allgemeine und eher unspezifische Erfahrungen mit mangelnder Reziprozität konnten mit schlechter subjektiver Gesundheit und einem höheren Risiko für depressive Symptome assoziiert werden (Knesebeck et al. 2009). Ähnlich Ergebnisse konnten weitere Studien zur mangelnden Reziprozität zeigen (Knesebeck und Siegrist 2003; Chandola et al. 2007). Zukünftige Forschungen

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N. Vonneilich und O. von dem Knesebeck

zum Zusammenhang zwischen sozialen Beziehungen und Gesundheit sollten belastenden Aspekten mehr Aufmerksamkeit widmen.

3.1

Erklärungsansätze

Aus einer epidemiologischen, eher biomedizinischen Perspektive sind soziale Kontakte bereits aufgrund möglicher Übertragungswege von Bakterien, Viren und Erkrankungen mit Gesundheit und Krankheit assoziiert. Bisherige Arbeiten konnten, wie oben ausgeführt, zeigen, dass soziale Beziehungen sich langfristig auch auf anderen Wegen auf die Gesundheit auswirken, etwa durch das soziale Umfeld, die Verfügbarkeit bestimmter Ressourcen oder über die Entwicklung der Persönlichkeit. Bisher gibt es zwei zentrale Erklärungsansätze, welche versuchen, über das angeführte biomedizinische Modell hinaus, die Zusammenhänge zwischen sozialen Beziehungen und Gesundheit zu erklären.

3.1.1 Das Puffer-Modell Die Grundannahme des Puffer-Modells ist, dass sich der positive Effekt von sozialen Beziehungen auf die Gesundheit in Zeiten von erhöhtem Stress und Belastungen bemerkbar macht. In Situationen, in denen Individuen Hilfe und Unterstützung benötigen und diese nicht bekommen, sind diesem Erklärungsmodell zufolge gesundheitlich negative Folgen besonders wahrscheinlich, während diejenigen, die über Unterstützungsressourcen aus ihrem sozialen Umfeld verfügen können, die gesundheitlichen Stressoren besser abfedern („puffern“) können. Demzufolge haben soziale Beziehungen eine protektive Funktion in Zeiten erhöhter Stressexposition. Gerade im Zusammenhang mit dem plötzlichen Auftreten kritischer Ereignisse, wie etwa dem Verlust des Partners oder dem Tod einer nahe stehenden Person, konnten stressreduzierende Auswirkungen sozialer Beziehungen beobachtet werden (Rosengren et al. 1993). Darüber hinaus zeigten sich in Bezug auf den Erklärungsbeitrag des Puffer-Modells bisher eher uneinheitliche Ergebnisse (Uchino et al. 1996; Wills und Shinar 2000). 3.1.2 Das Haupteffekt-Modell Im Haupteffekt-Modell (main effect model) wird davon ausgegangen, dass dauerhafte soziale Beziehungen langfristig einen positiven Effekt auf die Gesundheit haben, unabhängig von (akuten) gesundheitlichen Stressoren. Diesem Erklärungsansatz zu Folge wirken sich stabile soziale Beziehungen und soziale Interaktion positiv auf die Persönlichkeitsentwicklung, das Selbstvertrauen sowie die generelle Entwicklung von Bewältigungsstrategien (coping) aus. Mit einem höheren Grad an sozialer Interaktion und mit stärker ausgeprägten sozialen Beziehungen gehen bessere Zugangschancen zu materiellen Ressourcen im sozialen Umfeld einher, welche wiederum positiv mit Gesundheitsoutcomes assoziiert sind (Stansfeld 2006; Berkman und Krishna 2014). Auch soziales Engagement kann langfristig positive Gesundheitsoutcomes zur Folge haben. Es konnte gezeigt werden, dass ehrenamtliches Engagement, die Übernahme verschiedener sozialer Funktionen und sozialer

Gesundheitliche Ungleichheiten und soziale Beziehungen

263

Rollen generell sinnstiftend sein und zur Identitätsbildung der Einzelnen beitragen können, da hierdurch die Einbettung in gesellschaftliche Zusammenhänge und die eigene Bedeutung (sense of coherence) innerhalb dieser sozialen Netze den Individuen widergespiegelt wird (Antonovsky 1997). Unter anderem ist dies mit psychischer Gesundheit und mit psychischer Funktionsfähigkeit im höheren Lebensalter assoziiert (Glymour et al. 2008). Auch Merkmale der Persönlichkeit sind ein Faktor, welcher zu den Zusammenhängen zwischen sozialen Beziehungen und Gesundheit beitragen kann. Entsprechende Assoziationen finden sich in der sozialpsychologischen Forschung (Brisette et al. 2000). Persönliche Disposition und Charakteristika können die Aufnahme sozialer Kontakte vereinfachen oder erschweren und tragen so zur spezifischen Ausbildung persönlicher Netzwerke und deren Auswirkungen auf Gesundheit bei. Innerhalb sozialer Beziehungen werden Werte und Normen transportiert, welche sich beispielsweise auf gesundheitsrelevante Verhaltensweisen wie etwa das Rauchen und die Ernährung auswirken (Christakis und Fowler 2008). Gerade Studien im Jugendalter konnten die Einflüsse der peer group hervorheben (Moody et al. 2010; Valente et al. 2013). Einer Studie von Kouvonen und Kollegen zufolge erreichten Personen mit ausreichend sozialer Unterstützung sowohl einen höheren Grad an physischer Aktivität und entwickelten einen aktiveren Lebensstil (Kouvonen et al. 2011). So kann soziale Unterstützung die Chancen erhöhen, dass körperliche Aktivität über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten bleibt. Demgegenüber deutet eine Studie von Strine et al. an, dass geringere emotionale Unterstützung mit höheren gesundheitlichen Risiken (Übergewicht, Rauchen) wie auch mit einem schlechteren allgemeinen Gesundheitszustand (subjektive Gesundheit, depressive Symptome) assoziiert ist (Strine et al. 2008). Ein solcher Zusammenhang lässt sich bis ins hohe Lebensalter nachweisen (Nummela et al. 2011). Die Auswirkungen sozialer Beziehungen lassen sich auch direkt anhand körperlicher Reaktionen messen. Soziale Beziehungen wurden mit Immunreaktionen des Körpers, sowohl entzündlichen als auch neurophysiologischen Reaktionen in Verbindung gebracht. Insbesondere stehen hierbei soziale Beziehungen im Zusammenhang mit körperlichen Stressreaktionen im Mittelpunkt (siehe z. B. Uchino et al. 2012; von Känel 2012). Eine fehlende soziale Unterstützung ist mit höherer Stressbelastung assoziiert. Diese kann dauerhaft negative Folgen haben, insbesondere über die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse (HPA), welche die körperliche Reaktion auf Stress kontrolliert. Dauerhafte Aktivitäten über die HPA-Achse können Beeinträchtigungen des Stoffwechsels, Verringerung der Immunreaktionen des Körpers und dauerhafte Anstiege von Blutdruck und Blutzuckerspiegel zur Folge haben (von Känel 2012). Die geschilderten Zusammenhänge und Wirkungsweisen haben Berkman und Kollegen in einem Pfadmodell zusammengetragen (siehe Abb. 2). Ziel des Modells ist es, die Erklärungsansätze zu den Zusammenhängen zwischen sozialen Beziehungen und Gesundheit zu ordnen und die jeweiligen Einflussfaktoren zu benennen. Das Modell beinhaltet sowohl Faktoren der Makro-, der Meso- als auch der MikroEbene. Ausgehend von der Beschreibung sozialer Netzwerke, ihrer Größe und Zusammensetzung sowie ihrer jeweiligen Charakteristika (z. B. Kontakthäufigkeit

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N. Vonneilich und O. von dem Knesebeck

Abb. 2 Das Pfad-Modell zum Zusammenhang zwischen sozialen Beziehungen und Gesundheit nach Berkman, eigene Darstellung (Berkman und Krishna 2014)

innerhalb des Netzwerks, Reziprozität, Dauer etc.) werden in dem Modell upstream factors, also Faktoren der höheren Ebene benannt, welche die Eigenschaften sozialer Netzwerke und deren Entstehen beeinflussen können. Hier werden neben kulturellen Faktoren, wie etwa gesellschaftlichen Normen und Werten, auch politische (z. B. Gesetze und Gesellschaftspolitik) und gesellschaftliche (z. B. ökonomische Bedingungen) Entwicklungen berücksichtigt. Die Netzwerke selbst wiederum beeinflussen Faktoren auf der Meso- und Mikro-Ebene (downstream factors). Innerhalb sozialer Netzwerke können verschiedene Formen sozialer Unterstützung verfügbar gemacht werden, soziales Engagement ermöglicht oder verhindert werden, regelmäßige soziale Kontakte von unterschiedlicher Intensität eingegangen werden, sozialer Einfluss beispielsweise auf gesundheitsrelevante Verhaltensweisen ausgeübt sowie Ressourcen und materielle Güter verfügbar gemacht werden. Zudem werden im Pfadmodell mögliche Belastungen und Konflikte innerhalb sozialer Netzwerke explizit miteinbezogen. In einem letzten Schritt werden in dem Model die Einflüsse sozialer Netzwerke auf die Gesundheit, welche durch die genannten psychosozialen Faktoren erklärbar werden, aufgezeigt (pathways). Soziale Beziehungen wirken sich über verschiedene psychosoziale Mechanismen auf gesundheitsrelevante Verhaltensweisen aus, ebenso sind psychologische (z. B. Selbstbewusstsein und Coping) sowie physiologische Reaktionen (z. B. Responsivität der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinde-Achse, von Känel 2012) wahrscheinlich. Ein zentraler Vorteil des Modells ist, dass es nicht nur zeigen kann, in welcher Form sich soziale Netzwerke auf die Gesundheit auswirken und wie diese Wirkung über verschiedene Pfade auf die Gesundheit übertragen wird, sondern dass darüber hinaus auch die Einbettung der sozialen Netzwerke in übergeordnete gesellschaftliche Strukturen und Bedingungen sichtbar gemacht wird.

Gesundheitliche Ungleichheiten und soziale Beziehungen

265

Abb. 3 These der differentiellen Exposition (Mediator-Effekt): Aus der Veränderung der ursprünglichen Assoziation zwischen sozioökonomischem Status und Gesundheit (c-c‘) nach Berücksichtigung sozialer Beziehungen ergibt sich der Mediator-Effekt

3.2

Gesundheitliche Ungleichheit und soziale Beziehungen

Wie im Pfadmodell beschrieben, werden durch die Position des Einzelnen im gesamtgesellschaftlichen Gefüge, die Verfügbarkeit von Ressourcen wie etwa Bildung und Einkommen und die berufliche Position, die Möglichkeiten zur Entwicklung und Beibehaltung sozialer Beziehungen beeinflusst. Ein mehr an Ressourcen, insbesondere ökonomischer Art, macht in der Regel attraktiver für soziale Austauschbeziehungen. Es finden sich Hinweise auf Homophilie innerhalb sozialer Netzwerke, wonach sich Menschen eher mit Menschen vernetzen, die über einen ähnlichen sozialen Status verfügen (Lin 2000; Fuhse 2008). Zwischen diesen Gruppen unterscheiden sich die Möglichkeiten, über bestimmte Ressourcen verfügen zu können. Wie im Rahmen des Pfadmodells durch die Integration sozioökonomischer Faktoren angedeutet, könnten soziale Beziehungen als Mediator zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit beitragen. Diese Annahme findet sich in der These der differenziellen Exposition wieder (Abb. 3). Die These postuliert, dass sich ein geringerer sozialer Status unter anderem deshalb negativ auf die Gesundheit auswirken kann, weil untere Statusgruppen über weniger und/oder schwächere soziale Beziehungen verfügen und sie daher gesundheitlichen Risiken gegenüber stärker exponiert sind. Neben einem möglichen Erklärungsbeitrag sozialer Beziehungen zu gesundheitlicher Ungleichheit wurde die These diskutiert, dass sich unterschiedliche Auswirkungen von sozialen Beziehungen auf die Gesundheit finden, je nachdem, welche soziale Statusgruppe man untersucht (Abb. 4). Diese These der statusspezifischen Vulnerabilität wird durch die bereits geschilderten Hinweise gestützt, dass innerhalb sozialer Beziehungen Homophilie eine Rolle spielt und so generell Ressourcen zwischen sozialen Gruppen unterschiedlich verteilt sind. Dies mag dazu beitragen, dass in unteren Statusgruppen der Zusammenhang zwischen sozialen Beziehungen und Gesundheit

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Abb. 4 These der statusspezifischen Vulnerabilität (ModeratorEffekt): Moderierender Effekt des sozialen Status (a) auf die Assoziation zwischen sozialen Beziehungen und Gesundheit (b)

stärker ausgeprägt ist als in höheren Statusgruppen, weil die gesundheitliche Vulnerabilität hier höher ist und zudem durch die sozialen Kontakte auch vergleichsweise weniger Ressourcen mobilisiert werden können.

3.2.1 Empirische Evidenz zur These der differentiellen Exposition Die Studienlage hinsichtlich der Frage, inwiefern soziale Beziehungen zu einer Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit beitragen können, ist uneinheitlich. Einige Studien finden einen entsprechenden Erklärungsbeitrag (Fone et al. 2007; Aida et al. 2011; Beauchamp et al. 2010; Kroll und Lampert 2007; Stringhini et al. 2012; Vonneilich et al. 2012), wobei sich die Studien sowohl hinsichtlich der verwendeten Indikatoren für soziale Beziehungen als auch hinsichtlich der Gesundheitsindikatoren unterscheiden. Auch basieren nur die wenigsten dieser Studien auf längsschnittlichen Daten (Marmot 1998; Skalicka et al. 2009; Klein et al. 2012; Vonneilich et al. 2012). Eine Analyse auf Basis längsschnittlicher Daten der SHIP-Studie aus Mecklenburg-Vorpommern konnte zeigen, dass sowohl soziale Unterstützung als auch soziale Integration, gemessen anhand enger sozialer Kontakte und der Mitgliedschaft in ehrenamtlichen Organisationen, zu einer Verringerung des sozialen Gradienten in der subjektiven Gesundheit beitragen können (Klein et al. 2012). Ähnliche Ergebnisse fanden sich in Analysen auf Basis prospektiver Daten aus den Kernstädten des Ruhrgebiets, der Heinz Nixdorf Recall-Studie. Dabei lagen die Erklärungsanteile für quantitative Aspekte höher als diejenigen für qualitative Aspekte sozialer Beziehungen (Vonneilich et al. 2012). Hinsichtlich der Erklärung von sozioökonomischen Unterschieden in der Mortalität fanden Skalicka und Kollegen auf Basis längsschnittlicher Daten aus Norwegen, dass die soziale Integration zu einer Verringerung der Mortalitätsunterschiede zwischen den Statusgruppen beitragen kann (Skalicka et al. 2009). Andere Studien wiederum fanden keine oder nur schwache Hinweise, dass Aspekte sozialer Beziehungen einen Mediator-Effekt auf den Zusammenhang zwischen sozialem Status und Gesundheit ausüben (Jungbauer-Gans 2002; Gorman und Sivaganesan 2007; Huurre et al. 2007; Knesebeck und Geyer 2007; Dahl und Malmberg-Heimonen 2010). Knesebeck und Geyer fanden in ihrer europaweit vergleichenden Querschnittsstudie geringe Mediatoreffekte emotionaler Unterstützung beim Zusammenhang zwischen Bildung und subjektiver Gesundheit (Knesebeck und Geyer 2007). In einer US-Studie auf Basis querschnittlicher Daten konnten

Gesundheitliche Ungleichheiten und soziale Beziehungen

267

weder für soziale Unterstützung noch für soziale Integration Erklärungsbeiträge zu gesundheitlicher Ungleichheit identifiziert werden (Gorman und Sivaganesan 2007). Der Erklärungsbeitrag von sozialen Beziehungen ist im Vergleich zu anderen Faktoren wie etwa dem Gesundheitsverhalten eher als gering einzuschätzen (Beauchamp et al. 2010). Insbesondere fehlen nach wie vor längsschnittliche Untersuchungen, welche die Zusammenhänge auch auf Basis „harter“ Gesundheitsindikatoren (z. B. Mortalität oder spezifische Morbidität) untersuchen, um so zu einer präziseren Einschätzung des Erklärungsbeitrages zu kommen.

3.2.2

Empirische Evidenz zur These der statusspezifischen Vulnerabilität Diese als moderierender Effekt des sozialen Status auf die Zusammenhänge zwischen sozialen Beziehungen und Gesundheit bezeichnete These wurde mehrfach im Rahmen von Studien untersucht. Auch hier sind die Studienergebnisse uneinheitlich. Einige Studien zeigten, dass die Zusammenhänge zwischen sozialen Beziehungen und Gesundheit je nach Statusgruppe variieren. Andere wiederum fanden keine solchen Zusammenhänge. Auf Grundlage einer querschnittlichen Untersuchung aus Frankreich fanden Heritage und Kollegen, dass in unteren Statusgruppen bei schwachen sozialen Beziehungen ein höheres Risiko besteht, eine schlechte subjektive Gesundheit anzugeben (Heritage et al. 2008). Ähnliche Ergebnisse zeigte eine Studie, welche die Zusammenhänge zwischen sozialer Integration und Bluthochdruck untersuchte. Auch hier moderierte der sozioökonomische Status die untersuchten Zusammenhänge (Gorman und Sivaganesan 2007). Nur wenige prospektive Studienergebnisse liegen bisher zu dieser Fragestellung vor. Auf Basis der französischen GAZEL-Kohortenstudie konnten Melchior und Kollegen keinen eindeutig moderierenden Effekt finden (Melchior et al. 2003). Für Männer ergab sich in dieser Studie sogar ein umgekehrter Trend, wonach eher statushöhere Männer bei schwachen sozialen Beziehungen ein höheres Risiko für schlechte subjektive Gesundheit zeigten. Moderierende Effekte des sozioökonomischen Status im Elternhaus auf den Zusammenhang zwischen sozialer Unterstützung und Depression fanden sich in einer finnischen Studie an jungen Heranwachsenden (Huurre et al. 2007). Für Deutschland liegen bisher nur wenige Studienergebnisse vor. Unterschiede in der Ausprägung moderierender Effekte des sozioökonomischen Status, je nachdem, ob Zusammenhänge zwischen funktionalen oder strukturellen Aspekten mit Gesundheit untersucht wurden, konnten in einer Untersuchung zur älteren Bevölkerung gefunden werden (Knesebeck 2005). Keine moderierenden Effekte des sozialen Status, weder für funktionale noch strukturelle Aspekte sozialer Beziehungen fanden Vonneilich und Kollegen auf Basis einer querschnittlichen Analyse von Bevölkerungsdaten aus dem Ruhrgebiet (Vonneilich et al. 2011). Alles in allem zeichnet sich eine inkonsistente Studienlage hinsichtlich der These der statusspezifischen Vulnerabilität ab.

3.3

Fazit und Ausblick

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass im vorliegenden Beitrag ‚soziale Beziehungen‘ als begrifflicher Rahmen dienen, welcher die unterschiedlichen Konzepte

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(soziale Netzwerke, soziale Unterstützung, soziales Kapital) umfasst. Während anhand sozialer Netzwerke vornehmlich strukturelle Aspekte sozialer Beziehungen erfasst werden, bezieht sich soziale Unterstützung auf die funktionalen Aspekte sozialer Beziehungen. Soziales Kapital umfasst sowohl funktionale als auch strukturelle Aspekte und entzieht sich so einer klaren Einordnung. Soziales Kapital wird jedoch weniger als die vorher genannten Begriffe aus individueller, sondern vornehmlich aus einer Meso- beziehungsweise Makro-Perspektive als Eigenschaft bestimmter Gruppen oder Gemeinschaften betrachtet. Aufbauend auf dieser Differenzierung konnte gezeigt werden, dass soziale Beziehungen einen wichtigen Faktor für Gesundheit darstellen, da sie beispielsweise auf die Mortalität einen mit bekannten Risikofaktoren durchaus vergleichbaren Einfluss ausüben. Ähnliches gilt für weitere Gesundheitsindikatoren: sowohl für subjektive Gesundheit und Wohlbefinden als auch für depressive Symptome sowie somatische Erkrankungen konnten Assoziationen mit sozialen Beziehungen aufgedeckt werden. In der sozialepidemiologischen Forschung hat sich gezeigt, dass eine Unterscheidung zwischen quantitativen und qualitativen Aspekten sozialer Beziehungen sinnvoll ist, da sich jeweils die Zusammenhänge mit Gesundheit unterschiedlich darstellen und entsprechend andere Erklärungsmuster für die Zusammenhänge greifen. In der Erklärung spielen zwei Modelle eine zentrale Rolle. Sowohl für das Puffer-Modell, wonach soziale Beziehungen in Zeiten von akutem Stress und Belastungen helfen, diese zu „puffern“, als auch für das Modell des Haupteffekts (ausgeprägte soziale Beziehungen wirken sich generell positiv auf die Gesundheit aus), konnten empirische Hinweise gefunden werden. Für ein tiefergehendes Verständnis der gesundheitsbezogenen Bedeutung von sozialen Beziehungen spielt der gesamtgesellschaftliche Kontext eine wichtige Rolle. Das von Berkman entwickelte Pfadmodell verdeutlicht dies (Berkman und Krishna 2014). Hier werden Wirkungspfade sozialer Beziehungen auf die Gesundheit und unterschiedliche Erklärungsfaktoren dargestellt, gleichzeitig hebt das Modell hervor, wie soziale Beziehungen im gesamtgesellschaftlichen Kontext verortet sind. Inwiefern soziale Beziehungen dazu beitragen können, gesundheitliche Ungleichheiten zu erklären (Mediator), ist angesichts der aufgezeigten Forschungslandschaft eher unklar, zumal sich die Studien hinsichtlich verwendeter Indikatoren und Studiendesigns unterscheiden. Aktuellere längsschnittliche Analysen fanden Erklärungsbeiträge sozialer Beziehungen, sowohl für funktionelle als auch strukturelle Aspekte (Klein et al. 2012; Vonneilich et al. 2012). Ein solcher Erklärungsbeitrag von sozialen Beziehungen zu gesundheitlichen Ungleichheiten verweist auf die gesellschaftlichen Strukturen, innerhalb derer soziale Interaktion stattfinden (Berkman und Krishna 2014). Im Sinne des Ansatzes der capabilities, also von Ressourcen und Fähigkeiten, welche nicht nur dem einzelnen Individuum, sondern kollektiven Akteuren zur Verfügung stehen, werden diese strukturellen Aspekte hervorgehoben (Abel und Fröhlich 2012). So wird im Rahmen der Diskussion um gesundheitliche Ungleichheit dem sozialen Umfeld mehr Aufmerksamkeit gewidmet und populationsbezogene Ansätze rücken stärker in den Vordergrund (Marmot 1998; SinghManoux und Marmot 2005). Diese wiederum können letztlich nicht allein über individuelle Interventionen zum Lebensstil beeinflusst werden (Singh-Manoux und Marmot 2005).

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Mögliche Erklärungsbeiträge sozialer Beziehungen zu gesundheitlicher Ungleichheit verweisen zudem auf die Möglichkeit, über eine Verbesserung von sozialer Interaktion letztlich auch positive Auswirkungen auf die Gesundheit zu erreichen. Hierzu gibt es bisher nur wenige Arbeiten, die sich mit der Frage einer Förderung von sozialer Interaktion durch Veränderungen des sozialen Raumes befasst haben (Eriksson und Emmelin 2013; Conklin et al. 2014). Die Ansätze reichen von einer Anpassung der Lebensumgebung bis hin zur Beeinflussung des Gesundheitsverhaltens mittels Stärkung von sozialer Kontrolle. Ein höheres Maß an sozialer Interaktion trägt eher zu gesundheitsförderlichem Verhalten und der Etablierung entsprechender Normen bei und erleichtert innerhalb von gut organisierten Communities und Nachbarschaften den Zugang zu Versorgung und gesundheitsrelevantem Wissen (Berkman und Krishna 2014). Ungünstige Wohn- und Lebensbedingungen, wovon überproportional häufig untere sozioökonomische Statusgruppen betroffen sind, bieten im Vergleich wenig Raum für soziale Interaktion und sind darüber hinaus mit höheren Risiken für die Gesundheit assoziiert (Dragano et al. 2009). Variieren die Zusammenhänge zwischen sozialen Beziehungen und Gesundheit, je nach untersuchter sozioökonomischer Statusgruppe (Moderator)? In der beschriebenen Studienlage finden sich kaum Hinweise auf einen moderierenden Effekt des sozialen Status auf die Zusammenhänge zwischen sozialen Beziehungen und Gesundheit. Vor dem Hintergrund der im vorliegenden Beitrag ausgeführten Differenzierung verschiedener Arten von sozialem Kapital ist argumentiert worden, dass bindendes soziales Kapital (bonding social capital), also enge verwandtschaftliche und enge freundschaftliche Kontakte und Unterstützung, allen Statusgruppen in ähnlichem Maß zur Verfügung steht. Hier sollten sich demzufolge keine Unterschiede zwischen den Statusgruppen im Zusammenhang mit Gesundheit ergeben. Demgegenüber könnten sich Unterschiede zwischen sozioökonomische Statusgruppen finden, was den Zugang und die Verfügbarkeit von sogenanntem überbrückenden sozialen Kapital (bridging social capital) angeht. Es gibt Hinweise, dass dieses in unteren Statusgruppen in geringerem Umfang zur Verfügung steht (Abel und Fröhlich 2012; Uphoff et al. 2013). Demzufolge könnte sich der Zusammenhang zwischen sozialen Beziehungen und Gesundheit unterschiedlich darstellen, weil aufgrund geringerer Ressourcen in unteren Statusgruppen gesundheitliche Auswirkungen stärker ausgeprägt sein können, diese Gruppen gesundheitlich vulnerabler sind (statusspezifische Vulnerabilität). Unterschiedliche Verfügbarkeit sozialer Ressourcen wiederum kann Prozesse der sozialen Exklusion beschleunigen, wenn diese bestimmten Gruppen nicht oder schwer zugänglich sind, mit den entsprechenden möglichen gesundheitlichen Auswirkungen. Daher bleibt es aus Sicht der Autoren weiterhin relevant, der Frage eines möglichen moderierenden Effekts des sozioökonomischen Status nachzugehen. Auch sollten in zukünftigen Studien soziale Beziehungen möglichst umfassend erhoben werden. Wie gezeigt werden konnte, sind komplexe Erhebungsinstrumente einfachen und häufig binär kodierten Items zur Erfassung sozialer Beziehungen überlegen und es finden sich für komplexe Instrumente stärkere Zusammenhänge mit Gesundheit. Zudem ist auch angesprochen worden, dass sich für unterschiedli-

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che Aspekte sozialer Beziehungen unterschiedliche Assoziationen mit Gesundheit ergeben, seien es nun soziale Kontakte und soziale Netzwerke oder Aspekte der sozialen Unterstützung, welche betrachtet werden. Eine komplexe Erhebung von sozialen Beziehungen würde auch Möglichkeiten eröffnen, in zukünftigen Studien negative Aspekte sowie potenzielle Konflikte zu erfassen und diese in die Analysen einzubeziehen. Ähnliches gilt für Indikatoren der Gesundheit. Auch hier spielt es sowohl für die Stärke als auch für die Erklärung der Zusammenhänge eine Rolle, ob Mortalität, psychische oder physische Morbidität oder subjektive Gesundheit und Wohlbefinden als Indikatoren erhoben werden.

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Health Literacy Entwicklung und Bedeutung einer Schlüsselkompetenz für gesundheitsgerechtes Leben Norbert Lenartz, Renate Soellner und Georg Rudinger

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Gesundheitskompetenz: Begriffsbestimmung und -entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Modelle der Gesundheitskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Die empirische Erfassung der Gesundheitskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Empirische Befunde zur Gesundheitskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Eine hohe Gesundheitskompetenz ermöglicht es Menschen, aktiv und selbstbestimmt Verantwortung für Ihre Gesundheit zu übernehmen. Was dies im Einzelnen heißt und welche Fähigkeiten und Fertigkeiten hierfür notwendig sind, wird im vorliegenden Beitrag aufgezeigt. Zentrale Forschungsparadigmen und Modelle zur Gesundheitskompetenz werden dargestellt und in eine integrierte Betrachtungsweise überführt. Instrumente zur empirischen Erfassung der Gesundheitskompetenz werden ebenso vorgestellt, wie grundlegende Forschungsbefunde und mögliche Interventionsansätze zur Förderung der Gesundheitskompetenz.

N. Lenartz (*) working well: gute Arbeit, Konstanz, Deutschland E-Mail: [email protected] R. Soellner (*) Universität Hildesheim, Hildesheim, Deutschland E-Mail: [email protected] G. Rudinger (*) Universität Bonn, Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Kriwy, M. Jungbauer-Gans (Hrsg.), Handbuch Gesundheitssoziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06392-4_15

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Der Beitrag zeigt auf, dass Gesundheitskompetenz eine Schlüsselkompetenz für gesundheitsgerechte Lebensführung ist, aus dessen Beachtung klare Implikationen für die Gestaltung gesundheitsbezogener Maßnahmen und Rahmenbedingungen in allen Lebensbereichen resultieren. Schlüsselwörter

Empowerment for health · Gesundheitsförderung · Health competence · Health literacy · Health promotion · Undheitskompetenz

1

Einleitung

Ist es mir möglich, alltägliche Entscheidungen so zu treffen, dass sie sich positiv auf meine Gesundheit auswirken? Kann ich aus der Vielzahl an Handlungsoptionen diejenigen erkennen, die für meine Gesundheit und mein Wohlbefinden am besten sind? Wie gut gelingt es mir im Krankheitsfall, mich über meine Erkrankung zu informieren und diese Informationen für meine Gesundheit zu nutzen? Verfüge ich also – kurz gesagt – über die notwendige Gesundheitskompetenz, um aktiv und selbstbestimmt Verantwortung für meine Gesundheit zu übernehmen? Mit health literacy wurde im angloamerikanischen Raum in den 1970er-Jahren ein Begriff eingeführt, dem seit der Jahrtausendwende eine stetig zunehmende Bedeutung zugemessen wird. Unter dem Begriff der Gesundheitskompetenz – so die deutschsprachige Bezeichnung – wurden lange Zeit gesundheitsrelevante Leseund Schreibfähigkeiten betrachtet, die für das Handeln von Patienten innerhalb des Gesundheitssystems von Bedeutung sind. Angestoßen durch die Weltgesundheitsorganisation wurde die Diskussion zur Gesundheitskompetenz um die Jahrtausendwende über den klinischen Kontext hinausgeführt (Nutbeam 1998). Dabei wurde Gesundheitskompetenz als Schlüsselkompetenz für eine gesunde Lebensführung erkannt (Nutbeam 2000; Kickbusch 2001). Im Zentrum stehen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse, die Menschen benötigen, um ihr Leben so zu gestalten, dass ein hohes Maß an körperlichem und psychischem Wohlbefinden erreicht werden kann (Nutbeam 1998; Rödiger und Stutz Steiger 2009; Soellner et al. 2010). Diese Kompetenzen für Gesundheit greifen im Lebensalltag der Menschen und sind gleichermaßen für alle Lebensbereiche bedeutsam (Kickbusch et al. 2005). Obwohl Gesundheitskompetenz die individuellen Kompetenzen Einzelner in den Fokus rückt, kommt den gesellschaftlichen Bedingungen für ein gesundheitskompetentes Handeln eine zentrale Bedeutung zu. Kompetenzen lassen sich hier als situative und kontextspezifische Leistungsdispositionen verstehen, die sich funktional auf Situationen und Anforderungen beziehen (Weinert 2001). In diesem Sinne ist die Gesundheitskompetenz immer auch in ihrer Beziehung zu den jeweiligen Anforderungen und Bedingungen der Umwelt zu betrachten (z. B. Baker 2006). Individuelle Gesundheitskompetenz ist sowohl als Resultat wie auch als auch Aufgabe der Gesundheitsförderung zu verstehen (Nutbeam 2000) (Abb. 1).

Health Literacy Abb. 1 Interaktiver Rahmen zur Gesundheitskompetenz Anmerkung: Grafik in Anlehnung an Parker 2009

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Individuelle Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten

Gesundheitskompetenz

Anforderungen und Bedingungen aus dem Umfeld

Gesundheitskompetenz: Begriffsbestimmung und -entwicklung

Gesundheitskompetenz ist ein in Wissenschaft und Politik viel diskutiertes Konstrukt. Dies spiegelt sich in der Anzahl wissenschaftlicher Arbeiten zum Thema wider. Zurzeit finden sich allein in Pub Med über 5000 Publikationen, von denen die meisten nach 2005 erschienen sind (Sørensen et al. 2012). Die Bandbreite unterschiedlicher Perspektiven auf die Gesundheitskompetenz ist groß, wobei sich die jeweiligen Autoren in ihren Beiträgen nur bedingt aufeinander beziehen (Pleasant und Kuruvilla 2008; Nutbeam 2008; Soellner et al. 2009). Grundsätzlich können zwei parallele Forschungsrichtungen zur Gesundheitskompetenz unterschieden werden: der klinische und der Public-Health Ansatz. Der klinische Ansatz der Gesundheitskompetenz Die Wurzeln der Gesundheitskompetenz liegen im klinischen Ansatz. Dieser fokussiert den Zusammenhang zwischen den funktionalen Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen von Patienten und ihrem Verhalten im Gesundheitswesen. Insbesondere in den USA haben groß angelegte Studien schon früh auf gravierende Mängel im Verständnis einfacher gesundheitsbezogener Texte und Informationen hingewiesen (z. B. Williams et al. 1995; Baker et al. 1996). Diese zeigten wiederum deutliche Auswirkungen auf die Compliance und die Gesundheit der Patienten, was unter anderem mit hohen Kosten für das Gesundheitssystem einherging. In der Folge wurde Gesundheitskompetenz von dem US Department for Healthcare Research and Quality zu einer „National Priority“ erklärt. Das Ad Hoc Committee on Health Literacy for the Council on Scientific Affairs der einflussreichen American Medical Association definiert Gesundheitskompetenz als „. . . a constellation of skills, including the ability to perform basic reading and numerical skills required to function in the health care environment“ (Ad Hoc Committee on Health Literacy 1999). Demnach geht es um die Fähigkeit, „. . . to apply literacy skills to health related materials such as prescriptions, appointment cards, medicine labels, and directions for home health care“ (Parker et al. 1995, S. 537). Dazu gehören Handlungen wie: • Ausfüllen von komplexen Formularen • Auffinden von Leistungserbringern und medizinischen Dienstleistungen • Auskünfte geben über den Verlauf der eigenen Krankengeschichte

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• Persönliche Hygiene und Pflege • Selbst-Management einer chronischen Krankheit • Verstehen, wie Medikamente einzunehmen sind. Das amerikanische Institute of Medicine (IOM) definiert Gesundheitskompetenz weiterführend als „The degree to which individuals have the capacity to obtain, process and understand basic health information and services needed to make appropriate health decisions“. Gesundheitskompetenz wird hier als dynamischer Prozess verstanden, der sich aus der Interaktion des Individuums mit dem Gesundheitssystem ergibt (Baker 2006). Die Forschung zum klinischen Ansatz der Gesundheitskompetenz mit ihrem hohen praktischen Bezug zum Gesundheitswesen und der Entwicklung konkreter Handlungsleitfäden und Programme erhält weltweit nach wie vor große Aufmerksamkeit (Berkman et al. 2011; Soricone et al. 2005). Gesundheitskompetenz im Public-Health-Ansatz Die Diskussion zur Gesundheitskompetenz wurde Ende der 1990er-Jahre – initiiert durch die Weltgesundheitsorganisation – um eine Public-Health-Perspektive erweitert (Nutbeam 1998, 2000; Pleasant und Kuruvilla 2008; Rödiger und Stutz Steiger 2009; Soellner et al. 2009; Kickbusch et al. 2005). Gesundheitskompetenz wurde damit zu einer wichtigen Größe im Prozess des Empowerments von Menschen für die Belange ihrer Gesundheit. Empowerment kann dabei als sozialer Prozess verstanden werden, durch den Menschen mehr Kontrolle über Entscheidungen und Handlungen erlangen (Page und Czuba 1999). Dieser Prozess fokussiert die Befähigung von Menschen, Gemeinschaften und der Gesellschaft als Ganzem. So wird Gesundheitskompetenz zu einer Schlüsselkompetenz für Gesundheit mit dem Ziel, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen (siehe Ottawa-Charta, WHO 1986). Die wohl einflussreichste Definition zur Gesundheitskompetenz stammt von der Weltgesundheitsorganisation selbst. In ihrem Health Promotion Glossary wird Gesundheitskompetenz 1998 wie folgt definiert: „Health literacy represents the cognitive and social skills, which determine the motivation and ability of individuals to gain access to, understand and use information in ways which promote and maintain good health. [. . .] Health literacy implies the achievement of a level of knowledge, personal skills and confidence to take action to improve personal and community health by changing personal lifestyles and living conditions.“

Nach dieser Definition zielt Gesundheitskompetenz auf die Verbesserung des Lebensstils und der Lebensumstände der Menschen, die sich positiv auf die individuelle Gesundheit als auch auf die Gesundheit der Gemeinschaft auswirken soll. In der weiteren Ausführung grenzt die WHO den Begriff ausdrücklich von der klinischen Konzeption ab und verweist darauf, dass Gesundheitskompetenz mehr meint als das Lesen von Beipackzetteln oder das Einhalten von Terminen.

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In Einklang damit definiert Kickbusch Gesundheitskompetenz als „. . . the ability to make sound health decision in the context of everyday life“ und benennt für die Gesundheitskompetenz fünf zentrale Handlungsbereiche des täglichen Lebens: persönliche Gesundheit, Orientierung im Gesundheitssystem, Konsumverhalten, Gesundheitspolitik und die Arbeitswelt (Kickbusch 2006). Weitere Definitionen zur Gesundheitskompetenz sehen diese kurz „[. . .] als die Fähigkeit des Einzelnen, im täglichen Leben Entscheidungen zu treffen, die sich positiv auf die Gesundheit auswirken“ (Abel und Walter 2002) und „[. . .] entsprechend zu handeln“ (Spycher 2009). Diese Definitionen verweisen auf die neue und aktive Rolle in Bezug auf die Gesundheit, die dem Einzelnen innerhalb der Gesellschaft mehr und mehr zugewiesen wird (Rödiger und Stutz Steiger 2009; Kickbusch 2006). Integrative Ansätze zur Gesundheitskompetenz Seit einigen Jahren finden sich zunehmend Bemühungen, die beiden Perspektiven zur Gesundheitskompetenz zusammenführen (Nutbeam 2008; Lenartz 2012; Jordan et al. 2013; Sørensen et al. 2012). Nutbeam (2008) charakterisiert die beiden Forschungsparadigmen als Komplementarität von Risiko und Potential. Der klinische Ansatz fokussiere dabei den potenziellen Risikofaktor innerhalb des Gesundheitssystems, während der Ansatz der Gesundheitsförderung für ein Potential stehe, das den Menschen ermöglicht, eine größere Kontrolle über ihre Gesundheit und die persönlichen, sozialen und umweltbezogenen Determinanten ihrer Gesundheit auszuüben (Nutbeam 2008; Rödiger und Stutz Steiger 2009). Ein weitreichender Ansatz zur Integration vorhandener Forschung zur Gesundheitskompetenz wurde vom European Health Literacy Project (2009–2012) vorgelegt. Auf Basis einer umfassenden Literaturrecherche wurde eine „all-inclusice“Definition der Gesundheitskompetenz entwickelt (Sørensen et al. 2012). Gesundheitskompetenz ist danach „. . . linked to literacy and entails people’ s knowledge, motivation and competences to access, understand, appraise, and apply health information in order to make judgments and take decisions in everyday life concerning healthcare, disease prevention and health promotion to maintain or improve quality of life during the life course.“ (Sørensen et al. 2012, S. 3).

Diese umfassende Definition hat sich als sehr einflussreich erwiesen und liegt vielen neueren Arbeiten zur Gesundheitskompetenz zugrunde (z. B. Davey et al. 2015; Kowalski et al. 2015; Haun et al. 2015; WHO 2013)

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Modelle der Gesundheitskompetenz

Seit der Neudefinition des Begriffs durch die WHO wurden zahlreiche Modelle zur Gesundheitskompetenz entwickelt. Im Folgenden werden Modelle vorgestellt, die für die Entwicklung des Konzeptes von zentraler Bedeutung sind.

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Konzeptuelles Modell der Gesundheitskompetenz nach Baker Auf Basis der klinischen Forschungsarbeiten zur Gesundheitskompetenz schlägt Baker (2006) ein Modell vor, das in drei Teilbereiche untergliedert ist. Der erste Bereich umfasst Lesefähigkeit (reading fluency) und Gesundheitswissen (prior knowledge), die als allgemeine Voraussetzungen für den Umgang mit Gesundheitsinformationen betrachtet werden. Der zweite Bereich stellt die eigentlichen Komponenten der Gesundheitskompetenz im klinischen Sinne dar. Er beinhaltet die Fähigkeiten zum Umgang mit verbalen und schriftlichen Gesundheitsinformationen. Diese werden in Bezug gesetzt zu Komplexität und Schwierigkeit der Inhalte, mit denen umgegangen werden muss. Der dritte Bereich beschreibt die Resultate einer hohen Gesundheitskompetenz. Diese bestehen nach dem Modell in einem höheren Gesundheitswissen, einer positiven Einstellung gegenüber notwendigen Maßnahmen, einer größeren Selbstwirksamkeit im Umgang mit dem Gesundheitssystem und letztlich einer besseren Gesundheit (Baker 2006). Bakers Modell liefert einen klar definierten Handlungsrahmen zur empirischen Erfassung der Gesundheitskompetenz und unterstützt die Ableitung konkreter Maßnahmen für das Gesundheitswesen, bspw. für die Entwicklung von Patienteninformationen. Gesundheitskompetenzmodell nach Nutbeam Das Modell von Nutbeam unterscheidet drei hierarchisch aufeinander aufbauende Stufen der Gesundheitskompetenz (Nutbeam 2000). Die funktionale Gesundheitskompetenz umfasst kontextspezifisches Lesen und Schreiben und ermöglicht ein grundlegendes Verständnis gesundheitsrelevanter Informationen. Damit ist die funktionale Gesundheitskompetenz identisch mit der klinischen Definition. Die zweite Stufe, die interaktive Gesundheitskompetenz, rückt soziale und kommunikative Fähigkeiten zu Gesundheit in das Blickfeld. Die dritte Stufe des Modells bildet die kritische Gesundheitskompetenz, die eine reflektierte Auseinandersetzung mit gesundheitsrelevanten Informationen und dem Gesundheitssystem selbst ermöglicht. Vorgaben und Normen zu Gesundheit werden in Frage gestellt und mit dem eigenen Verständnis abgeglichen. Insbesondere die dritte Stufe ermöglicht gesellschaftliches Handeln und die bewusste und gezielte Einflussnahme auf soziale, ökonomische und umweltbezogene Determinanten der Gesundheit. Zu den Folgen hoher Gesundheitskompetenz gehören nach Nutbeam ein gesundheitsförderlicher Lebensstil, ein effektives Gesundheitssystem und eine gesunde Umwelt. Diese Resultate tragen letztlich zu mehr Gesundheit und Wohlbefinden bei (Nutbeam 2000, S. 262). Strukturmodell der Gesundheitskompetenz nach Soellner et al. und Lenartz Ausgehend von der Fragestellung, welche konkreten Fähigkeiten und Fertigkeiten die Gesundheitskompetenz definieren, haben Soellner et al. (2010) und darauf aufbauend Lenartz (2012) eine systematische und empirisch fundierte Modellbildung vorgenommen. Mittels qualitativer und quantitativer Forschungsmethoden

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Basisfertigkeiten

Gesundheitsbezogenes Grundwissen

Gesundheitsbezogene Grundfertigkeiten

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Weiterentwickelte Fähigkeiten

Verant. wortungsübernahme

Umgang mit Gesundheitsinformationen

Selbstkontrolle Selbstwahrnehmung

Outcome

Gesundheitsverhalten & Gesundheit

Selbstregulation Kommunikation und Kooperation

Abb. 2 Strukturmodell der Gesundheitskompetenz nach Lenartz (2012)

wurde unter Einbezug (s. auch Soellner et al. 2017) von Experten ein Strukturmodell der Gesundheitskompetenz entwickelt, das den klinischen und den Public-HealthAnsatz integriert (Abb. 2). Die Basis des Modells umfasst gesundheitsbezogene Grundfertigkeiten und Grundkenntnisse. Darauf aufbauend werden weiterentwickelte Fähigkeiten postuliert, die von den Autoren in eine strukturelle Beziehung zueinander gesetzt werden. Den Ausgangspunkt dieser Struktur bildet die gesundheitsbezogene Selbstwahrnehmung, welche – wenn sie hinreichend ausgeprägt ist – eine aktive Verantwortungsübernahme für die Gesundheit befördert. Hohe Selbstwahrnehmung und Verantwortungsübernahme befördern eine effektive Kommunikation und Kooperation zu gesundheitsbezogenen Fragen und ermöglichen einen reifen und reflektierten Umgang mit den vielfältigen Gesundheitsinformationen. Fähigkeiten zur gesundheitsbezogenen Selbstregulation und Selbstkontrolle komplettieren das Kompetenzmodell. Letztere bilden einen Aspekt der Gesundheitskompetenz ab, der in vorangegangenen Modellen weitgehend vernachlässigt wurde (Lenartz 2012; Lenartz et al. 2014). Das Strukturmodell der Gesundheitskompetenz postuliert einen Zusammenhang der Gesundheitskompetenz mit Gesundheitsverhalten, körperlicher und psychischer Gesundheit. Modell der Gesundheitskompetenz nach Jordan et al. Zeitgleich zu den Arbeiten von von Soellner und Lenartz wurde von einem Forscherteam aus Australien die Frage nach den individuellen Fähigkeiten der Gesundheitskompetenz mit einem vergleichbaren methodischen Ansatz untersucht (Jordan et al. 2013). Im Resultat zeigt sich ein zwei Ebenen-Modell mit sechs Kernfähigkeiten der Gesundheitskompetenz. Diese umfassen (1) das Wissen, wie man Zugang zu Gesundheitsinformationen erhält, (2) verbale Kommunikationsfähigkeiten, (3) eine

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proaktive Haltung im Umgang mit Gesundheitsinformationen, (4) gesundheitsbezogene Lese- und Schreibfähigkeiten (literacy skills), (5) die Fähigkeit, gesundheitsrelevante Informationen zu verarbeiten und zu behalten, sowie (6) die Fähigkeit, diese Informationen anzuwenden. Die nachfolgende Ebene des Modells beschreibt elf extrinsische und intrinsische Kontextfaktoren, die diese Kernfähigkeiten stützen. Beispiele sind der individuelle Bildungshintergrund, Einstellungen zu Gesundheit, emotionale und physische Dispositionen (intrinsisch) oder vorhandene soziale Unterstützung (extrinsisch).

Das konzeptionelle Modell der Gesundheitskompetenz nach Sørensen et al. Ein dimensionales Modell der Gesundheitskompetenz wurde von der Arbeitsgruppe um Sørensen vorgelegt. Auf der Basis eines integrativen Forschungsansatzes war eine all inclusive-Integration (Sørensen et al. 2012, S. 3) vorhandener Arbeiten ein vornehmliches Ziel des Projekts. Nach dem konzeptionellen Modell umfasst Gesundheitskompetenz vier prozesshaft ineinander übergehende Fähigkeitsdimensionen des Zugangs, Verstehens, Bewertens und Nutzens von gesundheitsrelevanten Informationen. Diese Fähigkeiten ermöglichen es, in drei Domänen der Gesundheit zu handeln: (1) der Krankheitsbewältigung im Rahmen von Therapie und Behandlung, (2) der Prävention und (3) der Gesundheitsförderung. So ergibt sich eine 4x3-Matrix mit insgesamt 12 Dimensionen der Gesundheitskompetenz (Tab. 1). Zu den Einflussfaktoren der Gesundheitskompetenz gehören u. a. soziodemografische Faktoren, persönliche Merkmale (z. B. Geschlecht, Alter) und situative Einflüsse (z. B. soziale Unterstützung, Medien, Familie). Als Resultate von Gesundheitskompetenz werden Gesundheitsverhalten, die Nutzung des Gesundheitssystems und eine ganze Reihe weiterer persönlicher und gesellschaftlicher Faktoren guter Gesundheit gesehen. Dazu gehören u. a. die Verbesserung der Lebensqualität des Einzelnen, die Reduktion sozialer Ungleichheit sowie die Verbesserung der Nachhaltigkeit von Veränderungen im Gesundheitssystem. Das konzeptionelle Modell hat eine hohe Bedeutung erlangt und wurde in empirischen Untersuchungen verschiedener Länder Europas angewandt (Sørensen et al. 2013).

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Die empirische Erfassung der Gesundheitskompetenz

In jüngerer Zeit sind verschiedene Übersichtsarbeiten zur empirischen Erfassung der Gesundheitskompetenz erschienen (Altin et al. 2014; Haun et al. 2015; Pleasant 2014). Dabei wurden bis zu 50 verschiedene Instrumente zur Gesundheitskompetenz betrachtet (Haun et al. 2015), die eine große Bandbreite unterschiedlicher Instrumente zur Erfassung der Gesundheitskompetenz aufweisen. Diese reichen von 1-Item-Screenings für den klinischen Bedarf bis hin zu umfassenden wissenschaftlichen Testinstrumenten zur Erfassung multidimensionaler Aspekte der Gesundheitskompetenz (Haun et al. 2015).

Fähigkeit, Informationen zu Risikofaktoren zu finden

Fähigkeit, sich über Gesundheitsthemen auf dem Laufenden zu halten

„Disease prevention“ Prävention

„Health promotion“ Gesundheitsförderung

„Health care“ Therapie und Behandlung

Zugang zu gesundheitsrelevanten Informationen Fähigkeit, Informationen zu medizinischen und klinischen Themen zu finden

Fähigkeit, gesundheits-relevante Informationen zu verstehen und Bedeutung abzuleiten

Fähigkeit, Informationen zu Risikofaktoren zu verstehen und Bedeutung abzuleiten

Verstehen gesundheitsrelevanter Informationen Fähigkeit, medizinische Informationen zu verstehen und Bedeutung abzuleiten

Fähigkeit, Informationen zu gesundheits-relevanten Themen zu interpretieren und beurteilen

Fähigkeit, Informationen zu Risikofaktoren zu interpretieren und zu evaluieren

Beurteilen gesundheitsrelevanter Informationen Fähigkeit, medizinische Informationen zu interpretieren und zu evaluieren

Anwenden gesundheitsrelevanter Informationen Fähigkeit, souveräne Entscheidungen in medizinischen Fragen zu treffen Fähigkeit, die Relevanz von Informationen zu Risikofaktoren richtig zu beurteilen Fähigkeit, sich eine reflektierte Meinung zu gesundheitlichen Themen zu bilden

Tab. 1 Matrix der vier Dimensionen der Gesundheitskompetenz in den drei Domänen der Gesundheit nach Sørensen et al. (2012); eigene Übersetzung

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Objektive Verfahren Die meisten objektiven Verfahren entsprechen dem klinischen Ansatz der Gesundheitskompetenz. Diese Verfahren sind in der Regel eindimensional konzipiert. Sie zielen auf die Erfassung der Lesefähigkeit im medizinischen Kontext oder auf spezifische Wissenskomponenten. Häufig enthalten sie konkrete Aufgabenstellungen, um Fähigkeiten im Umgang mit geschriebenen und gehörten Informationen innerhalb des Gesundheitswesens zu testen (Sommerhalder 2009; Haun et al. 2015; Altin et al. 2014). Etablierte Beispiele dafür sind der Rapid Estimate of Adult Literacy in Medicine (REALM) (Davis et al. 1993) oder der Test of Functional Health Literacy in Adults (TOFHLA) (Parker et al. 1995). Ein neueres Instrument ist beispielsweise der auf dem REALM basierende Medical Term Recognition Test (METER) (Rawson et al. 2010). Ein Beispiel für ein objektives Verfahren, das über diese eindimensionale Erfassung der Gesundheitskompetenz hinausgeht, ist der Critical Health Competence Test (CHC-Test), der in vier unterschiedlichen Szenarien Fähigkeiten zum Verstehen medizinischer Konzepte, der Suche nach Informationen oder zum Umgang mit einfachen Statistiken untersucht (Steckelberg et al. 2007). Subjektive Verfahren Subjektive Verfahren zur Erhebung der Gesundheitskompetenz basieren auf Selbstauskünften. Diese kommen insbesondere im Public-Health-Ansatz mit dem Ziel zum Einsatz, verschiedene Dimensionen der Gesundheitskompetenz zu erfassen (Haun et al. 2015). Der Fragebogen zum Strukturmodell der Gesundheitskompetenz (Soellner et al. 2017; Lenartz 2012) erfasst die weiterentwickelten Fähigkeiten des Modells. Insgesamt 29 Items bilden sechs Dimensionen der Gesundheitskompetenz ab, wobei kein Gesamtwert gebildet wird. Vielmehr gehen die Autoren davon aus, dass in unterschiedlichen Anforderungssituationen andere Komponenten des Modells bedeutsam für das Gesundheitsverhalten und die Gesundheit sind. Die postulierte Modellstruktur konnte an verschiedenen Stichproben repliziert werden. Zusammen klären die Komponenten des Modells in den untersuchten Stichproben bis zu 40 % der Varianz körperlicher und psychischer Gesundheit auf (Abb. 3). Der Health Literacy Management Scale (HeLMS) misst acht der insgesamt 17 Dimensionen des theoretischen Modells von Jordan et al. (2013). Die Auswahl der Dimensionen wurde anhand von Annahmen über ihre Entwicklungsfähigkeit getroffen. Die Skalen umfassen Inhalte wie die Einstellung zur Gesundheit, soziale Unterstützung, sozioökonomische Aspekte, Kommunikation mit Akteuren des Gesundheitswesens oder das proaktive Handeln zur Gesundheit. Die Fragen zum HeLMS sind inhaltlich überwiegend im Gesundheitssystem angesiedelt und erfassen die Fähigkeit von Patienten, in diesem Umfeld Gesundheitsinformationen zu suchen, zu verstehen und anzuwenden. Mit dem in mehreren Sprachen vorliegenden European Health Literacy Survey Questionnaire (HLS-EU-Q) wurde ein für europäische Vergleichsstudien maßgebliches Instrument vorgelegt (Sørensen et al. 2013). Der HLS-EU-Q basiert auf dem konzeptionellen Modell der Gesundheitskompetenz, dessen zwölf Dimensionen

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Abb. 3 Strukturmodell der Beziehung der Skalen der Gesundheitskompetenz mit den Skalen physische und psychische Gesundheit gemessen mit dem WHOQOL-BREF (Lenartz 2012)

durch 47 Items repräsentiert werden. Zur Auswertung wird eine Gesamtskala gebildet, die vier Bereiche von ausgezeichneter über ausreichende und problematische bis zu unzureichender Gesundheitskompetenz umfasst. Der European Health Literacy Survey hat im Rahmen der HLS-EU-Studie eine breite Anwendung in Europa erfahren. Er wurde in 8 Ländern (Deutschland, Bulgarien, Österreich, Griechenland, Spanien, Irland, Holland, Polen) an je ca. 1000 Probanden erhoben. So wurde erstmals in Europa ein internationaler Vergleich von Daten zur Gesundheitskompetenz möglich. Trotz der hier vorgestellten Vielfalt aktueller Instrumente wird die Modell- und Instrumentenentwicklung zur Gesundheitskompetenz von verschiedenen Experten noch nicht als abgeschlossen betrachtet (Pleasant 2014; Haun et al. 2015).

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Empirische Befunde zur Gesundheitskompetenz

Inzwischen liegen zahlreiche empirische Studien zur Gesundheitskompetenz vor. Nach einer frühen Studie des Nation Center for Education Statistics zur Lese- und Schreibfähigkeit (Adult Literacy) in den USA, an der über 18.000 Personen teilgenommen haben, verfügt nur knapp über die Hälfte der US-amerikanischen Bevölkerung über eine ausreichende Lesefähigkeit (Kirsch et al. 2002; Andrus und Roth 2002). In Großbritannien hatten in einer Studie des National Consumer Council etwa

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20 % der Befragten Probleme damit, einfache Gesundheitsinformationen zu verstehen (Sihota und Lennard 2004). Aktuelle Befunde zur Gesundheitskompetenz in Europa liefert die HLS-EUStudie (Sørensen et al. 2015). Nach dieser Studie zeigen etwa 12 % der befragten Teilnehmer eine unzureichende und mehr als ein Drittel eine problematische Gesundheitskompetenz. Zwischen den teilnehmenden Ländern finden sich zum Teil deutliche Unterschiede. So liegt in den Niederlanden der Anteil von Menschen mit unzureichender Gesundheitskompetenz bei etwa 2 %, wohingegen dieser in Bulgarien 29 % beträgt. Für Deutschland weist die Studie für 11,0 % der Personen unzureichende, für 35,3 % problematische, für 34,1 % ausreichende und für 19,6 % ausgezeichnete Gesundheitskompetenz aus. Befunde des klinischen Forschungsansatzes zeigen, dass eine niedrige Gesundheitskompetenz mit einer erheblichen Beeinträchtigung der Compliance von Patienten, einem mangelhaften Wissen zu gesundheitsrelevanten Fragen, Fehlern im Umgang mit Empfehlungen von Ärzten, und einer fehlenden Inanspruchnahme medizinischer Vorsorgemaßnahmen einhergeht (Andrus und Roth 2002; Kickbusch et al. 2005; Berkman et al. 2011; DeWalt et al. 2004). Menschen mit geringen gesundheitsbezogenen Lese- und Schreibfähigkeiten nehmen seltener medizinische Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch, müssen häufiger im Krankenhaus behandelt werden und zeigen insgesamt ein ungünstigeres Verhalten bei chronischen Erkrankungen. In der Folge verursachen sie signifikant höhere Kosten im Gesundheitssystem. Die Gesundheitskompetenz im Verständnis des klinischen Ansatzes zeigt in Studien zudem signifikante Zusammenhänge mit selbst eingeschätzter Gesundheit, Erkrankungsraten und Sterblichkeit (Baker et al. 2007; Sudore et al. 2006; Wolf et al. 2005). Patienten mit niedriger Gesundheitskompetenz haben demnach ein 1,5- bis 3-fach erhöhtes Risiko für ungünstige klinische Ergebnisse (DeWalt et al. 2004). Eine prospektive Kohortenstudie an über 3200 Senioren in den USA zeigte, dass eine geringe funktionale Gesundheitskompetenz der zweitwichtigste Prädiktor für einen vorzeitigen Tod ist (Baker et al. 2007). Als wesentliche Determinanten mangelnder Gesundheitskompetenz im Sinne des Public-Health-Ansatzes identifiziert die HLS-EU-Studie finanzielle Probleme (r = 0,30), einen schwachen sozialen Status (r = 0,29), einen niedrigen Ausbildungsstand (r = 0,24), ein hohes Alter (r = 0,12) und männliches Geschlecht (r = 0,05) (HLS-EU Consortium 2012). Als Bereiche, in denen sich Gesundheitskompetenz widerspiegelt, weist die HLS-EU Studie die folgenden aus: Gesundheitsverhalten, Gesundheitsstatus sowie die Nutzung des Gesundheitssystems. Für das Gesundheitsverhalten zeigt sich ein günstiger Zusammenhang der Gesundheitskompetenz mit der Häufigkeit körperlicher Aktivitäten (r = 0,19), Übergewicht (r = 0,07) und Alkoholkonsum (r = 0,07). Auch hinsichtlich des selbst eingeschätzten Gesundheitsstatus findet sich ein signifikant positiver Zusammenhang (r = 0,27). Für die Nutzung von Gesundheitsdienstleistungen ergibt sich, dass eine hohe Gesundheitskompetenz mit weniger Arztbesuchen einhergeht (r = 0,11) und seltener Notfalldienste und Krankenhauseinrichtungen aufgesucht werden (r = 0,06).

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Die HLS-EU-Studie weist darauf hin, dass es gefährdete Gruppen für niedrige Gesundheitskompetenz gibt. Insbesondere bei geringem sozio-ökonomischem Status haben Menschen ein bis zu 70 % erhöhtes Risiko einer geringen Gesundheitskompetenz. Gefährdet sind ebenso Personen mit geringer Ausbildung, finanziellen Schwierigkeiten, multiplen chronischen Erkrankungen und hohem Alter (Sørensen et al. 2015). Interventionsansätze zur Gesundheitskompetenz Der klinische Ansatz zur Gesundheitskompetenz hat eine Reihe klar definierter Handlungsempfehlungen zur Gesundheitskompetenz hervorgebracht. Ein Beispiel ist der Health Literacy Study Cycle+, der gemeinsam von der Health and Adult Literacy and Learning Initiative der Harvard School of Public Health und dem National Center for the Study of Adult Learning and Literacy der Harvard Graduate School of Education herausgegeben wurde (Soricone et al. 2005). Der Study Circle + fokussiert drei in der klinischen Forschung zur Gesundheitskompetenz als kritisch herausgearbeitete Bereiche: (a) Zugang und Orientierung im Gesundheitssystem, (b) Management chronischer Erkrankungen und (c) Krankheitsprävention und Screening. Die Materialien geben eine umfassende Handreichung zur Gestaltung von Lerngruppen zur Stärkung der individuellen Gesundheitskompetenz bezogen auf den jeweiligen Themenschwerpunkt. Eine Übersicht zur Evaluation klinisch orientierter Interventionen zur Gesundheitskompetenz wurde im Auftrag der Agency for Healthcare Research and Quality in den USA vorgelegt (Berkman et al. 2011). Dabei wurden insgesamt 42 qualitativ hochwertige Studien zur Überwindung geringer Gesundheitskompetenz ausgewertet. Die untersuchten Interventionen umfassten beispielsweise Maßnahmen zur Verbesserung der Lesbarkeit von Dokumenten, alternative oder zusätzliche Informationsübermittlung mittels Bilder und Grafiken oder Maßnahmen zur Verbesserung der Lesbarkeit von Texten und Dokumenten im klinischen Setting. Die zentrale Outcome-Variable war das Verständnis der Materialien durch Patienten. Die Ergebnisse werden von den Autoren insgesamt kritisch gesehen. Die Untersuchung gibt jedoch konkrete Hinweise auf Merkmale wirksamer Interventionen: (1) Wichtige Informationen sollten für sich alleine dargeboten werden. (2) Wichtige Informationen sollten zuerst dargestellt werden. (3) In den Materialien sollten Hinweise zur Wirkrichtung der Maßnahmen gegeben werden (z. B. dass höhere Werte eine höhere Qualität präsentieren). (4) In der Darstellung von Ergebnissen sollte immer der gleiche Bezugspunkt für Basisrisiko und Behandlungserfolg herangezogen werden. (5) Pfeile und Icons sollten bei der Darstellung genutzt werden, um den Nutzen von Maßnahmen zu kennzeichnen. (6) Eine zusätzliche Videounterstützung verbessert das Verständnis des Klienten. Über diese Einzelmaßnahmen hinaus zeigt die Übersichtsarbeit des RTI, dass kombinierte Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheitskompetenz eine moderate bis gute Wirksamkeit haben. So beeinflussen beispielsweise intensive Programme

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zum Disease-Management die Prävalenz und Schwere von Erkrankungen (Berkman et al. 2011, S. 7). Einzelne Studien zeigen, dass sich durch geeignete Interventionen das Selbstmanagement der Patienten verbessern lässt, ebenso das Wissen zu Gesundheit, die Selbstwirksamkeit im Handeln, gesundheitsrelevante Fähigkeiten, das Kommitment zu medizinischen Vereinbarungen, sowie Lebensqualität und Krankheitskosten. Effektive Interventionen zeichnen sich dabei durch folgende Komponenten aus: Sie haben eine hohe Intensität, sind theoretisch fundiert, sind vor der Implementierung in einer Pilotstudie getestet worden, sie zielen auf die individuelle Kompetenzentwicklung und sie werden von professionellen Akteuren aus dem Gesundheitswesen umgesetzt. Das Ziel der Interventionen aus dem wesentlich breiter gefassten Public-HealthAnsatz ist die Befähigung zu eigenverantwortlichem Handeln in Fragen der Gesundheit in den verschiedenen Bereichen des Lebens. Eine Publikation der Weltgesundheitsorganisation gibt für handelnde Akteure und politische Entscheider einen Überblick zu möglichen Handlungsansätzen der Gesundheitskompetenz (WHO 2013), wenngleich zu einigen dieser Bereiche noch keine Best-Practice-Beispiele vorliegen. Den Bezugspunkt bildet das Modell nach Sørensen et al. (2012). Die Publikation setzt wissenschaftliche Befunde und BestPractice-Beispiele aus verschiedenen Bereichen in Bezug zueinander. Im Folgenden werden einige Beispiele wiedergegeben: Prävention chronischer Krankheiten: Menschen mit hoher Gesundheitskompetenz zeigen ein günstigeres Verhalten zu Bewegung, Ernährung, Rauchen und Alkohol (WHO 2013). Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung fokussieren auf Verständnis und Wissen zu chronischen Erkrankungen, fördern das Selbstwirksamkeitserleben und bestärken Verhaltensänderungen. Beispiele dafür sind die Partnership to Fight Chronic Disease in den USA oder die European Chronic Disease Alliance. Verringerung sozialer Ungleichheit: Die Ergebnisse des HLS-EU zeigen, dass eine ungenügende Gesundheitskompetenz in einigen Bevölkerungsgruppen besonders ausgeprägt ist. Insbesondere bildungsferne und finanziell schwache Personengruppen sind gefährdet, ebenso wie Migranten, Ältere und Personen mit schlechtem Gesundheitszustand. Zur Stärkung der Gesundheitskompetenz dieser vulnerablen Gruppen gilt es, spezielle Strategien zu entwickeln, die situative Bedürfnisse, kulturellen Besonderheiten und spezifische Lebenssituation berücksichtigen. Gesundheitskompetenz für Gemeinden: Gesundheitskompetenz kann als Form des Sozialkapitals gesehen werden (WHO 2013). Gemeinden und Länder profitieren von der Gesundheitskompetenz ihrer Bürger. Neben geringeren Kosten im Gesundheitswesen wird dazu eine höhere Produktivität und Aktivität der Bürger postuliert. In den Niederlanden wurde 2010 eine National Alliance for Health Literacy ins Leben gerufen, deren Ziel ein größeres Empowerment von Personen und Gemeinden zu ihrer Gesundheit ist. Die Allianz umfasst bereits mehr als 60 Organisationen, die sich dafür einsetzen, dass Gesundheitskompetenz in den

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täglichen Handlungen der Gesundheitsinstitutionen berücksichtigt wird und entsprechender Wissens- und Erfahrungsaustausch stattfindet. Gesundheitskompetenz in der Schule: Gesundheitskompetenz im Bildungssystem bedeutet, relevantes Gesundheitswissen und entsprechende Handlungskompetenzen bereits in der Schulzeit aufzubauen. Die Entwicklung von Fähigkeiten zur Gesundheit sollte in Curricula von Schulen verankert sein. So hat die Bertelsmann-Stiftung unter dem Titel „Anschub.de“ zwischen 2002 und 2013 Programme für Kindergärten und Schulen entwickelt, die die Kompetenzen zum Umgang mit Gesundheit stärken sollen. Gesundheitskompetenz in Unternehmen: Die Perspektive der Gesundheitskompetenz kann zur Qualität des Handelns im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF) und des Betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) beitragen. In einer Studie der BAUA F2141 wurden Experten und Unternehmer auf der Basis des Strukturmodells von Soellner et al. (2010) dieses Beitrags befragt, inwieweit Gesundheitskompetenz für Mitarbeiter von kleinen und mittelständigen Unternehmen von Bedeutung ist (Lenartz et al. 2013). Die Ergebnisse weisen auf einen hohen Lernbedarf der Beschäftigten zur Gesundheitskompetenz hin. Gleichzeitig benennen die Experten eine Vielzahl geeigneter Ansätze zur Stärkung dieser im Unternehmen. Maßnahmen und Handlungsansätze aus dem Public-Health-Ansatz lassen sich häufig nur unscharf von bereits vorhandenen Interventionen der Gesundheitsförderung unterscheiden. Eine solche Abgrenzung ist aus Sicht der betrieblichen Gesundheitspolitik auch wenig hilfreich. Vielmehr fügen die Arbeiten zur Gesundheitskompetenz vorhandenen Maßnahmen und Aktivitäten eine spezifische Perspektive hinzu, die einen wesentlichen Beitrag zum Erfolg und der inhaltlichen Ausgestaltung von Interventionen leisten kann.

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Fazit

Die Forschung zur Gesundheitskompetenz zeigt einen klaren gesellschaftlichen Bedarf auf. Im Kern besteht dieser Bedarf in einer Differenz zwischen gesundheitsrelevanten Anforderungen, die ein Mensch zu bewältigen hat, wenn er sein Leben gesundheitsgerecht gestalten möchte, und den dafür notwendigen Kompetenzen, die es ihm ermöglichen, dies erfolgreich zu tun. Sei es als Klient im Gesundheitswesen, so wie es der klinische Ansatz fokussiert, oder darüber hinaus in allen Bereichen des Lebens, wie es dem Verständnis des Public-Health-Ansatzes entspricht. Mit der klaren Perspektive auf die individuellen Kompetenzen der Menschen, der expliziten Zielsetzung eines Empowerments für Gesundheit und Handlungsansätzen, die sowohl den Menschen als auch situative Kontexte, Anforderungen und Umweltbedingungen ins Auge fassen, birgt die Gesundheitskompetenz das Potential, sich als zentrales Konzept der Gesundheitsförderung zu etablieren und für Forschung und Praxis weitreichende Impulse zu setzen.

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Familie und Gesundheit Ein methodenkritischer Blick auf die aktuelle Forschung Oliver Arránz Becker, Katharina Loter und Sten Becker

Inhalt 1 2 3 4

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familie und Gesundheit: Theoretische und methodologische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschung zur gesundheitsbezogenen Bedeutung von Partnerschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswirkungen von Partnerverlust durch Trennung, Scheidung und Tod auf die Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fertilität, Elternschaft und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Gestaltung von Familienbeziehungen und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag gibt einen detaillierten Überblick über die Auswirkungen verschiedener Familienbildungsprozesse wie Geburt, Heirat, Scheidung und Verwitwung sowie der Gestaltung von Familienbeziehungen auf die Gesundheit im Erwachsenenalter. Wir werfen einen methodenkritischen Blick auf die vorliegenden empirischen Befunde, unter Berücksichtigung verschiedener vermittelnder Mechanismen: soziale Unterstützung, soziale Kontrolle, ökonomische Ressourcen sowie evolutionäre bzw. biologische Prozesse. Besondere Beachtung schenken wir dabei möglichen Selektionsprozessen und kausaler Inferenz: Insgesamt zeigt sich, dass partnerschaftsbezogene und familiale Übergänge als Katalysator gesundheitlicher Ungleichheit fungieren können, indem sie einerseits durch einen guten Gesundheitszustand wahrscheinlicher werden (Positivselektion) und ande-

O. Arránz Becker (*) · K. Loter · S. Becker Institut für Soziologie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Kriwy, M. Jungbauer-Gans (Hrsg.), Handbuch Gesundheitssoziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06392-4_45

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rerseits gesundheitliche Vorteile produzieren können (mögliche Kausaleffekte). Für eine umfassendere Erforschung und präzisere Differenzierung beider Wirkrichtungen sind weitere Panelstudien notwendig. Schlüsselwörter

Gesundheit · Lebenslauf · Partnerschaft · Elternschaft · Methoden

1

Einleitung

Den vielleicht bedeutendsten sozialen Rückhalt im Leben vieler Menschen leistet die Familie (Jungbauer-Gans 2002). Wenngleich in Einzelfällen familiale Phänomene wie häusliche Gewalt oder Kindeswohlgefährdung die Gesundheit der Familienmitglieder schädigen können (vgl. van Hasselt et al. 1987), wirkt sich regelmäßig die gegenseitige emotionale und soziale Unterstützung in der Familie auf direkte und indirekte Weise positiv auf die Gesundheit aus und kann daneben die Auswirkungen kritischer Lebensereignisse (z. B. Krankheit, Arbeitslosigkeit) oder chronischer Belastungen abfedern. Im vorliegenden Beitrag behandeln wir zunächst einmal die grundlegende Frage, ob Gesunde eher in Familien leben (Selektion) oder ob das Leben in Familien gesund macht (Kausation, vgl. den Beitrag von Hoffman et al. in diesem Band). Einerseits kann mit der Selektionshypothese vermutet werden, dass gesunde Menschen bessere Chancen auf dem Partner- bzw. Heiratsmarkt und damit auf eine Familiengründung haben (Goldman et al. 1995; Goldman 2001). Andererseits postuliert die Protektionsthese einen positiven Kausaleffekt der Ehe bzw. einer festen Partnerschaft auf die Gesundheit. Trotz umfangreicher Studienbelege für vielfältige Interdependenzen zwischen Elternschaftsstatus, Familienstand und -struktur und diversen Gesundheitsindikatoren wie subjektiv-globalen Gesundheitsselbsteinschätzungen, physischen und psychischen Erkrankungen wie Depression (vgl. den umfassenden Überblick von Wood et al. 2007) und auch der Lebenserwartung (Manzoli et al. 2007) stellt sich außerdem die Frage, über welche sozialen Mechanismen familiale Effekte auf die Gesundheit kausal vermittelt sind. An dieser Stelle möchten wir zunächst den Fokus des Beitrags eingrenzen. Folgt man den Familiendefinitionen in einschlägigen Lehrbüchern (z. B. Nave-Herz 2013, S. 30), dann lassen sich insbesondere drei im Kontext des vorliegenden Beitrags relevante Kernaspekte von Familie herausarbeiten: Erstens ist der Ausgangspunkt einer Familiengründung, trotz der gegenwärtigen großen familialen Diversität, in der Regel nach wie vor eine elterliche Partnerschaft, d. h. eine „enge, persönliche und intime, auf Dauer angelegte, exklusive Beziehung zwischen zwei erwachsenen Personen unterschiedlichen oder gleichen Geschlechts“ (Huinink 1995, S. 119). Zweitens ist das primäre Charakteristikum neuerer Familiendefinitionen, welche die reale Vielfalt der modernen Familie möglichst breit abzubilden versuchen, die Generationendifferenzierung. Diese impliziert, dass es sich bei Familie um ein System von zwei – durch biologische oder soziale Elternschaft – miteinander verbundenen Generationen handelt. Langfristig ergeben sich drittens aus einer

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Familiengründung in der Regel lebenslange Interaktionsbeziehungen zwischen zwei oder mehreren Generationen, die potenziell gesundheitsrelevant sind. Unter Berücksichtigung von Selektions- und Kausalprozessen wird der Nexus zwischen Familie und Gesundheit anhand der folgenden Leitfragen vertiefend diskutiert: (1) Welche Gesundheitsdynamiken ergeben sich aus dem Eingehen, Scheitern bzw. Auflösen (nicht-)ehelicher Beziehungen, aus Familienbildungsprozessen und aus der Gestaltung von Familienbeziehungen? (2) Welche biopsychosozialen Mechanismen sind für diese systematischen Unterschiede verantwortlich? In unserer Darstellung des Forschungsstands werden ausschließlich Studien mit sozialwissenschaftlichem Bezug berücksichtigt, um die enorm umfangreiche Literatur besser handhabbar zu machen. Das bedeutet, dass medizinische Studien (z. B. zu spezifischen Krankheiten, in denen beispielsweise der Familienstand als Kontrollvariable berücksichtigt wird) sowie die ökonomisch dominierte „Happiness“- und Lebenszufriedenheitsforschung ausgeklammert werden, obgleich Lebenszufriedenheit bzw. -qualität positiv mit subjektiven Gesundheitsmaßen assoziiert ist (vgl. hierzu den Beitrag von Schübel in diesem Band). Mortalitätsstudien werden ebenfalls nur dann einbezogen, wenn sie explizit Gesundheitsaspekte berücksichtigen. Des Weiteren beschränken wir uns auf Studien zur Gesundheit Erwachsener; Einflüsse auf die Gesundheit von Kindern werden z. B. von Carr und Springer (2010) diskutiert. Besonderes Augenmerk wird in den Ausführungen auf Längsschnittstudien gelegt, da Querschnittstudien sehr stark von Selektionseffekten betroffen sind und ihre Resultate daher im Hinblick auf mögliche Kausaleffekte familialer Übergänge und Prozesse auf die Gesundheit weitaus weniger aussagekräftig sind als die aus den vergleichsweise wenigen vorliegenden Panelstudien (vgl. hierzu den Beitrag von Hoffmann et al. in diesem Handbuch). Gesundheit (vgl. zur Konzeptualisierung und Messung von Gesundheit die Beiträge von Jungbauer-Gans und Kriwy sowie von Carstensen in diesem Band) verstehen wir als dynamisches, mehrdimensionales Konzept des physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens (vgl. Hurrelmann 1988), welches durch biologische, psychische und soziale Prozesse determiniert ist (vgl. Ormel et al. 1997). Im Weiteren skizzieren wir einige gesundheitssoziologische Theorieansätze zum Zusammenhang zwischen Familie und Gesundheit, wobei wir kurz auf die Problematik von Selektions- und Kausaleffekten eingehen. Anschließend geben wir einen Überblick zum Forschungsstand zum Einfluss von Partnerschaft, Elternschaft und Familienbeziehungen auf Gesundheit. Der Beitrag schließt mit einem Fazit und Ausblick für weiteren Forschungsbedarf.

2

Familie und Gesundheit: Theoretische und methodologische Aspekte

Gemäß der soziologischen Ressourcenperspektive verbessert die Ausstattung mit ökonomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen den Umgang mit psychosozialen Stressoren und Belastungen und dadurch letztlich die Gesundheit (Jungbauer-Gans und Gross 2009). Nach der Verursachungs- oder Protektionsthese nehmen sozialisato-

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risch erworbene, gesundheitsrelevante Ressourcen Einfluss auf Gesundheits- und Lebenschancen (Richter und Hurrelmann 2009), und zwar über den gesamten Lebensverlauf. So schafft die Herkunftsfamilie von Geburt an den Rahmen für ein gesundes Aufwachsen und prägt den Umgang mit der eigenen Gesundheit: Gesundheitsbezogenes Denken, Wahrnehmen und Handeln wird in der familialen Primärsozialisation verinnerlicht (Siegrist 2005). Im Erwachsenenalter gewinnt, gegenüber der Herkunftsfamilie, das Leben in einer eigenen Familie bzw. Partnerschaft an Gesundheitsrelevanz, z. B. durch in die Beziehung, in den Haushalt und/oder in die Ehe eingebrachte Ressourcen wie emotionale, soziale und finanzielle Unterstützung. Neben der Verursachungsthese postuliert die Selektions- bzw. Drifthypothese, dass gesundheitliche Ungleichheit auch dadurch erzeugt bzw. verstärkt wird, dass weniger gesunde Menschen ein erhöhtes Risiko für soziale Abwärtsmobilität aufweisen (Richter und Hurrelmann 2009). Übertragen auf den Familienkontext können Kinderlosigkeit oder ein geringer Institutionalisierungsgrad der Paarbeziehung (z. B. Ledigsein) auch als Konsequenzen einer gesundheitsbedingt erfolglosen Partnersuche bzw. geringeren Attraktivität als Heiratspartner(in) und, damit einhergehend, geringerer Opportunitäten zur Familiengründung interpretiert werden (vgl. Umberson 1987; Williams und Umberson 2004). Kausal- und Selektionseffekte schließen sich keineswegs gegenseitig aus und können in ihrem Zusammenwirken im Zeitverlauf zu einer eigendynamisch zunehmenden gesundheitlichen Ungleichheit führen. Obgleich nach Auffassung einiger ForscherInnen Verursachungseffekte dominieren (DiPrete und Eirich 2006; Jungbauer-Gans 2002), sind Selektionseffekte nach Möglichkeit stets mit zu berücksichtigen. Dies erfordert allerdings eine konsequente Prozessperspektive über den Lebensverlauf. Ein zentraler theoretischer Rahmen zum Verständnis gesundheitlicher Ungleichheiten ist die Lebensverlaufsperspektive. Anwendungsmöglichkeiten bieten sich u. a. bei gesundheitlichen Problematiken im Erwachsenenalter (z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Übergewicht und assoziierte Folgeerkrankungen), die aus widrigen sozialen Umweltbedingungen in früheren Lebensphasen herrühren. Aufgrund der expliziten Prozess- und Längsschnittorientierung bietet die Lebensverlaufsperspektive hierfür ein angemessenes Instrumentarium. Das interdisziplinäre Programm der Lebensverlaufsforschung zielt auf eine umfassende Beschreibung sozial strukturierter Verlaufsmuster (z. B. Partnerschaftsverläufe) und Lebensereignisse (z. B. die Haushalts- und Familiengründung) und versucht diese unter Betrachtung des historischen, sozialen und institutionellen Wandels zu erklären (Mayer 2009). Biographisch einschneidende (zunächst positiv besetzte) Ereignisse, wie der Übergang zur Elternschaft, können dabei auf komplexe Weise mit biologischen Prozessen, Veränderungen im Beruf (Arbeitsmarktausstieg) oder elterlicher Paarbeziehung (Unzufriedenheit) verbunden sein, wodurch sich ein Gesundheitsgradient ergeben kann. Allgemein können in der Literatur zwei zentrale Modelle zur Entstehung gesundheitlicher Differenzen im Lebensverlauf unterschieden werden (vgl. Dragano und Siegrist 2009): Das Modell kritischer Perioden und das so genannte CumulativeAdvantage-Disadvantage-(CAD-)Modell. Das CAD-Modell (Dannefer 2003) nimmt an, dass gesundheitliche Ausgangsnachteile und -vorteile im Lebensverlauf (z. B. infolge gesundheitsassoziierter Übergänge) pfadabhängig kumulieren. Das Modell sensibler bzw. kritischer Perioden postuliert in spezifischen Zeitfenstern

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oder Lebensphasen auf den Organismus wirkende Umweltfaktoren, wie sie etwa während der intrauterinen Entwicklung auftreten und für eine soziale Ungleichverteilung von Gesundheit zum Lebensbeginn sorgen. Lebenszeitverkürzende Erkrankungen, z. B. koronare Herzkrankheiten, sind aus diesem Blickwinkel quasi mit „in die Wiege gelegt“ (Erhart et al. 2008). Prozesse der Akkumulation von Gesundheit erstrecken sich aber nicht nur über Kindheit und Jugend, sondern setzen sich im Erwachsenenalter fort (oder nehmen hier erst ihren Anfang, wie etwa infolge langfristig gesundheitswirksamer hormoneller Veränderungen während der Schwangerschaft). Hier rücken soziale Nahbeziehungen (Familie, Partnerschaft), genauer ihre Entstehung, Institutionalisierung und Auflösung in den Gesundheitsfokus. Im Lebensverlauf werden Erwachsene mit Übergängen in den Bereichen Arbeit (Jobwechsel, Arbeitslosigkeit) und Familie (Institutionalisierung einer Partnerschaft, Trennung, Scheidung, Verwitwung, Geburt/Tod eines Kindes) konfrontiert (Willson und Shuey 2007). Übergänge im Lebensbereich Familie können als kritische (vulnerable) Phasen konzeptualisiert werden, welche bei Nicht-Bewältigung in Folge von Ressourcenmangel potenzielle Gesundheitsrisiken bergen (Hallqvist et al. 2004). Diese Risiken entfalten ihre Wirkung über physiologische Stressreaktionen oder, vermittelt über das Gesundheitsverhalten (z. B. Substanzmissbrauch), als riskante Anpassungsreaktion an erhöhte Stresslevel. Zentral ist nun die Überlegung, dass bereits subjektive Erwartungen zu sich im Lebensverlauf abzeichnenden Übergängen (z. B. antizipiertes Ende der Partnerschaft) die Gesundheit noch vor dem Eintreten des Ereignisses (Trennung, Scheidung, Verwitwung) negativ beeinflussen können („antizipatorische Effekte“). Zudem müssen die gesundheitlichen Beeinträchtigungen nach kritischen Übergängen nicht dauerhaft sein, sondern es kann in späteren Phasen zu einer Erholung auf das Ausgangsniveau kommen. Derartige nicht lineare Gesundheitsdynamiken werden auf Basis des Set-Point-Modells verständlich, welches ursprünglich im Hinblick auf die physiologische Homöostase des Körpergewichts entwickelt und dann auf ehebedingte Veränderungen der Lebenszufriedenheit übertragen wurde (Lucas 2007). Um antizipatorische Effekte und temporäre Gesundheitsschwankungen mit Erholung auf das „typische“ individuelle Ausgangsniveau untersuchen zu können, sind allerdings längere Zeitreihen notwendig. So könnte beispielsweise eine gesundheitliche Erholung nach einem Scheidungsereignis ohne Berücksichtigung schockartiger gesundheitlicher Beeinträchtigungen im Vorfeld einer Scheidung fälschlicherweise als Gesundheitsverbesserung interpretiert werden.

3

Forschung zur gesundheitsbezogenen Bedeutung von Partnerschaften

Bei der Durchsicht des Forschungsstandes zu partnerschaftsbezogenen Protektionseffekten zeigen sich zwei grundlegende Forschungsdefizite: Erstens handelt es sich zum großen Teil um Querschnittstudien, wodurch die Möglichkeiten kausaler Inferenz stark begrenzt sind. Ein gravierendes Problem von Querschnittvergleichen

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besteht darin, dass sich Personen in unterschiedlichen Lebensformen in der Regel eben nicht nur hinsichtlich der Lebensform, sondern auch bezüglich weiterer gesundheitsrelevanter Merkmale unterscheiden, die zum Teil meist nicht beobachtet bzw. erhoben werden (z. B. Persönlichkeitsmerkmale). Der zeitkonstante Teil dieser so genannten unbeobachteten Heterogenität lässt sich dadurch eliminieren, dass Personen vor und nach dem zu untersuchenden Zustandswechsel (z. B. Eheschließung) beobachtet und dadurch über die Zeit mit sich selbst verglichen werden (intraindividuelle „within“-Analyse, z. B. mittel Fixed Effects (FE), Giesselmann und Windzio 2014). In derartigen Analysen sind sämtliche unveränderlichen Personenmerkmale, also u. a. auch Persönlichkeitsmerkmale, automatisch als Varianzquelle „ausgeschaltet“ (für ein instruktives Beispiel zu Scheidungsfolgen vgl. Blekesaune 2008). Um diese Analysestrategie einsetzen zu können, sind allerdings Paneldaten – und hier vorzugsweise längere Zeitreihen – notwendig.1 Zweitens greift die Konzentration, insbesondere der US-Forschung, auf Gesundheitsvorteile Verheirateter zu kurz. So hat die Prävalenz nichtehelicher Lebensformen in Europa über die vergangenen Dekaden stark zugenommen und zu einer Pluralisierung von Lebensformen geführt (vgl. Brüderl 2004), weshalb Vergleiche z. B. zwischen Ledigen und Verheirateten der real existierenden Diversität von Partnerschaftstypen zunehmend weniger gerecht werden. Daher stellt sich immer dringender die Frage nach den relevanten Vergleichsgruppen, also den zu analysierenden Lebensformen (Carr und Springer 2010, S. 748): Zumindest wären gesundheitliche Outcomes Verheirateter wohl mit denen nichtehelich Zusammenlebender (NEL, nichteheliche Lebensgemeinschaften), partnerschaftlich gebundener, aber nicht zusammenlebender Personen (in einer bilokalen Partnerschaft) sowie partnerloser Individuen (Singles) zu vergleichen. Ähnliche Differenzierungen erscheinen notwendig im Hinblick auf nacheheliche Lebensformen (Barrett 2000). Nimmt man an, dass der Partnerschaftsstatus bzw. die Lebensform nicht augenblicklich, sondern erst nach einer gewissen Zeit auf die Gesundheit wirkt, d. h. dass verzögerte Kausaleffekte vorliegen, dann wären im Längsschnitt auch die jeweiligen Verweildauern in den genannten lebensformbezogenen Zuständen systematisch mit zu berücksichtigen (Barrett 2000). Dies geschieht jedoch in vielen bisherigen Studien nicht. Fasst man den Forschungsstand zum Einfluss der Lebensform auf den Gesundheitszustand zu einem Gesamtbild zusammen, dann scheinen die relativen Gesundheitsvorteile mit dem Institutionalisierungsgrad der Lebensform – also: bei Personen mit bilokaler Partnerschaft über nichteheliche Lebensgemeinschaften bis hin zu Ehepaaren – tendenziell anzusteigen (vgl. Carr und Springer 2010, S. 751; Rapp und Klein 2015, S. 780). Allerdings gibt es bislang kaum Studien zu bilokalen Paaren (eine Ausnahme ist die US-Querschnittstudie zu Personen mit Kindern von

1 Gemäß einem aktuellen systematischen Übersichtsartikel von Cullati et al. (2014) bleiben von einem Pool von N = 674 Gesundheitsstudien nur N = 23 Studien übrig, wenn das Einschlusskriterium auf mehr als zwei Messzeitpunkte sowie auf größere Abschnitte des Lebensverlaufs (d. h. auf Untersuchungen von altersheterogenen Stichproben) festgesetzt wird.

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DeKlyen et al. 2006); die beschriebene Rangfolge der übrigen drei Lebensformen konnte hinsichtlich verschiedener Gesundheitsindikatoren nachgewiesen werden, darunter Depressivität (Brown 2000; Marcussen 2005) sowie gesundheitliche Selbsteinstufungen (Wu et al. 2003). Waldron et al. (1996) berichten in einer Querschnittstudie von geringeren Summenscores über diverse funktionale Einschränkungen und psychosomatische Symptome bei Verheirateten im Vergleich zu nicht Verheirateten. Eine methodisch bessere FE-Analysestrategie wählt Blekesaune (2008), allerdings unterscheidet er in dieser spezifischen Analyse leider nicht zwischen ehelichen und nichtehelichen Partnerschaften; die Befunde deuten, insbesondere bei in Trennung oder Scheidung lebenden Singles, auf eine temporäre Abnahme nach Partnerschaftsbeginn bei generell steigendem Trend des psychischen Distress hin. Eine Wiederheirat nach einer Scheidung oder Verwitwung scheint auch in anderen Studien mit geringeren gesundheitlichen Verbesserungen einherzugehen als eine Erstheirat (Barrett 2000; Johnson und Wu 2002). Obgleich es vereinzelte Hinweise auf stärkere eheliche Protektionseffekte bei Männern gibt (Gardner und Oswald 2006), ist die Befundlage zu Geschlechtsunterschieden nach wie vor unklar (Carr und Springer 2010, S. 749). Zur theoretischen Begründung von Lebensformeffekten sind verschiedene potentiell vermittelnde soziale Mechanismen in den Blick zu nehmen (vgl. Carr und Springer 2010; Rapp und Klein 2015). Erstens ist davon auszugehen, dass das Vorhandensein eines Partners oder einer Partnerin in der Regel mit einer erhöhten sozialen Unterstützung einhergeht, die sich prinzipiell positiv auf die eigene Gesundheit auswirken sollte (Smith und Christakis 2008). So ist der mentale Gesundheitsvorteil Verheirateter offenbar partiell über wahrgenommene Unterstützung durch Familie und Freunde vermittelt (Bierman et al. 2006). Direkte Formen sozialer Unterstützung umfassen Pflegeleistungen zwischen den Partnern im Krankheitsfall, die allerdings für den pflegenden Partner negative gesundheitliche Belastungen mit sich bringen können (Adelman et al. 2014). Hier gerät die mögliche „Kehrseite“ dysfunktionaler, unglücklicher Partnerschaften in den Blick: So zeigen sich beispielsweise risikosenkende Effekte gegenseitiger emotionaler Unterstützung auf Depressivität (Ross 1995) sowie auf das Auftreten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Kiecolt-Glaser und Newton 2001), während Ehekonflikte offenbar den typischen sinkenden Trend gesundheitlicher Selbsteinstufungen über die Zeit zusätzlich beschleunigen (Umberson et al. 2006). Es erscheint daher notwendig, neben der Lebensform als Strukturmerkmal auch Indikatoren des „Funktionierens“ der Beziehung – z. B. Dimensionen der Partnerschaftsqualität – stärker systematisch einzubeziehen (vgl. Ross 1995). Die neuere Forschung deutet darauf hin, dass das sozioemotionale Klima in Partnerschaften unter Vermittlung über physiologische – insbesondere kardiovaskuläre, endokrinologische und immunologische – Prozesse auf die Gesundheit Einfluss nimmt (Robles und Kiecolt-Glaser 2003). Neben diesen – direkten und vermittelten – Effekten sozialer Unterstützung ist anzunehmen, dass Unterstützung als Puffer gesundheitsschädliche Auswirkungen anderer Stressoren abfedern kann (Thoits 2011). Auch hier zeigen erste Studien, dass dieser Moderator- bzw. Puffereffekt auf physiologischer Ebene vermittelt sein könnte: Das Ausmaß wahrgenommener Unterstützung durch den Partner geht

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danach mit günstigeren physiologischen Prozessen – einem erhöhten Oxytocinniveau und einem geringeren Blutdruck – in Stresssituationen einher (Grewen et al. 2005). Der zweite vermittelnde Mechanismus von Partnerschaftseffekten ist als Effekt sozialer Kontrolle charakterisierbar (Carr und Springer 2010, S. 750). Danach ist zu erwarten, dass Partner gegenseitig ihr – auch gesundheitsbezogenes – Verhalten „überwachen“ und dadurch gesundheitsschädliches Verhalten regulieren (Umberson 1987); beispielsweise neigen Verheiratete zu stärkerer Adhärenz gegenüber ärztlichen Behandlungsempfehlungen (DiMatteo 2004). Das Zusammenleben in einer – ehelichen oder nichtehelichen – Partnerschaft wirkt sich weiterhin günstig auf die Chance einer Rauchentwöhnung aus (kein Effekt auf Rauchen findet sich hingegen bei Duncan et al. 2006; Klein et al. 2013). Der Übergang in die Ehe, in abgeschwächter Form auch der Übergang in eine NEL, geht schließlich tendenziell mit einer Abnahme übermäßigen Alkohol- (Duncan et al. 2006; Umberson 1992) und Marihuanakonsums (Duncan et al. 2006) einher. Auf der anderen Seite sind Einflüsse von Partnerschaften und Ehen nicht ausnahmslos gesundheitsförderlich, vielmehr kann es nach dem Eingehen einer (dauerhaften) Bindung auch dazu kommen, dass man sich – vermutlich aufgrund des Überwindens der Konkurrenzsituation auf dem Partnermarkt – stärker „gehen lässt“ (vgl. Klein 2011). Ein Beispiel hierfür stellt das Körpergewicht dar, welches häufig als globaler Indikator des Gesundheitsverhaltens interpretiert wird. Hier zeigt sich in verschiedenen Quer- und Längsschnittstudien ein ungünstiger Effekt einer Partnerschaft bzw. Ehe auf den Body-Mass-Index (Averett und Kohn 2014; Burke et al. 2004; Klein 2011; Klein et al. 2013) sowie auf das Risiko von Übergewicht (The und Gordon-Larsen 2009), teilweise nur bei Männern (Umberson 1992) oder nur bei Frauen (Sobal et al. 2003). Es gibt Hinweise darauf, dass der Gewichtsüberschuss Verheirateter zum Teil auf ein geringeres physisches Aktivitätsniveau zurückgeht (Burke et al. 2004; Umberson 1992); die FE-Panelanalyse von Rapp und Schneider (2013) zeigt, dass Übergänge in alle drei genannten Lebensformen mit einer Abnahme der physischen Aktivität assoziiert sind. Meyler et al. (2007) weisen in ihrem systematischen Literaturüberblick darauf hin, dass gegenseitige dyadische Anpassungseffekte (als eine Form von „health concordance“) generell nicht nur gesundheitsförderliche, sondern auch schädliche Verhaltensweisen umfassen und dadurch auch zu einer ungünstigen Verstärkungsdynamik über die Zeit (z. B. Steigerung der Häufigkeit des Rauchens) beitragen können. Der dritte Vermittlungsmechanismus, der primär auf einem gemeinsamen Haushalt basiert und daher Gesundheitsvorteile nichtehelich oder ehelich zusammenlebender Paare erwarten lässt, sind Einspareffekte durch geteilten Besitzstand und ökonomische Ressourcen (Carr und Springer 2010, S. 750), von denen auch die Gesundheit profitieren sollte und die den Protektionseffekt der Ehe offenbar partiell erklären (Waldron et al. 1996). Auch hier ist die Wirkrichtung nicht ganz eindeutig: So gibt es einerseits potentiell gesundheitsförderliche Einkommensgewinne nach der Eheschließung, insbesondere bei Männern (Pollmann-Schult 2010), andererseits finden sich jedoch auch Belege für einen die Heiratsneigung fördernden Effekt des Einkommens (Arránz Becker und Lois 2010), was für Selbstselektion spricht. Der

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positive Gesundheitsgradient hinsichtlich diverser soziökonomischer Statusindikatoren gehört wiederum zu den am häufigsten replizierten Befunden in der Gesundheitsforschung; er umfasst eine große Variationsbreite verschiedener Dimensionen des Gesundheitszustands sowie des Gesundheitsverhaltens (vgl. im Überblick Lampert et al. 2016). Angesichts der Tatsache, dass das Gesundheitsverhalten ebenfalls einen deutlichen (zumeist positiven) Schichtgradienten aufweist (vgl. JungbauerGans und Gross 2009), muss hier von teilweise indirekten Auswirkungen des Sozialstatus unter Vermittlung des Verhaltens ausgegangen werden. Während Personen in allen Lebensformen von (1) sozialer Unterstützung und (2) sozialer Kontrolle profitieren, sind (3) ökonomische Ressourceneffekte, z. B. aufgrund von Einsparungen durch einen gemeinsamen Haushalt bei (ehelich oder nichtehelich) zusammenlebenden Paaren zu erwarten. Unter der Annahme kumulativer Vorteile ergibt sich somit das eingangs beschriebene Muster mit dem partnerschaftlichen Institutionalisierungsgrad steigender gesundheitlicher Protektionseffekte. Allerdings wird bisweilen konstatiert, dass neben protektiven Partnerschaftseffekten auch Selektionseffekte dadurch zustande kommen (Goldman 2001 spricht hier von „reverse causation“), dass insbesondere gesündere Paare eine erhöhte Institutionalisierungswahrscheinlichkeit (z. B. Heiratsneigung) aufweisen. Derartige gesundheitsbezogene Selektionseffekte auf partnerschaftliche Übergänge wurden bislang eher selten untersucht, und die Befundlage ist nicht eindeutig: Während eine Studie auf positive Effekte mentaler Gesundheit auf das Ereignis Eheschließung hindeutet, insbesondere bei Männern (Hope et al. 1999), zeigt eine andere Untersuchung keine Effekte der Depressivität auf den Übergang in eine nichteheliche Lebensgemeinschaft oder Ehe (Lamb et al. 2003). Lillard und Panis (1996) finden hingegen eine Negativselektion ungesünderer Männer in die Ehe, die mit der besonderen Attraktivität dieser Lebensform für diese Zielgruppe begründet wird, in Verbindung mit einer Positivselektion hinsichtlich gesundheitsfördernder unbeobachteter Faktoren. Wenngleich von vielen Autoren Protektionseffekte von Partnerschaften für bedeutsamer als Selektionseffekte erachtet werden (vgl. Wood et al. 2007), muss auf Basis des Forschungsstands ein gravierendes Forschungsdefizit, insbesondere an aussagekräftigen Längsschnittanalysen, konstatiert werden, welches im Grunde noch keine endgültige Einschätzung erlaubt (vgl. Goldman 2001).

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Auswirkungen von Partnerverlust durch Trennung, Scheidung und Tod auf die Gesundheit

Angesichts der im vorangehenden Abschnitt geschilderten Befunde zu den vermittelnden Mechanismen von Partnerschaftseffekten auf Gesundheit könnte angenommen werden, dass die Auflösung von ehelichen oder nichtehelichen Partnerschaften mit einem Wegfall protektiver Ressourcen eingehergeht, sodass der Protektionseffekt quasi „neutralisiert“ wird. Darüber hinaus ruft ein Partnerverlust starke Stressund Trauerreaktionen hervor (Holmes und Rahe 1967), die im Fall einer Trennung oder Scheidung in der Regel mit erheblichen Konflikten verbunden (Amato 2000)

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und als zusätzliche Belastungsfaktoren unbedingt in Rechnung zu stellen sind (Williams und Umberson 2004). Bei gezielter Inspektion der aussagekräftigeren Panelstudien finden sich einige Belege für gesundheitsbeeinträchtigende Kausaleffekte einer Ehescheidung, insbesondere mit Blick auf die mentale Gesundheit, in der Regel gemessen über die Dimensionen Depressivität (Johnson und Wu 2002; Simon 2002; Strohschein et al. 2005; Wade und Pevalin 2004; Wu und Hart 2002) oder psychischer Distress (Gardner und Oswald 2004; Hope et al. 1999; Lorenz et al. 2006; Mastekaasa 1995). Vereinzelt werden unterschiedlich starke Effekte bei Männern und Frauen gefunden (z. B. stärkere Effekte bei Frauen bei Simon 2002), eine ausgeprägte systematische Geschlechtsspezifik im Ausmaß von Scheidungsfolgen scheint insgesamt jedoch nicht zu bestehen (Carr und Springer 2010, S. 753). Eine methodisch äußerst differenzierte FE-Paneluntersuchung von Blekesaune (2008), in der zeitbezogene Veränderungen in psychischem Distress um das Trennungs- bzw. Scheidungsereignis herum untersucht wurden, zeigt ein temporäres Absinken mentaler Gesundheit in einem 3-Jahres-Zeitraum (jeweils 1,5 Jahre vor und nach dem Ereignis) mit einem Tiefpunkt direkt nach dem Ereignis und einer Erholung auf das Ausgangsniveau ab ca. 2–3 Jahre danach. Dabei fällt die Beeinträchtigung bei Geschiedenen zwar deutlich stärker aus als bei einer Trennung vormals nichtehelich Kohabitierender, das generelle Muster ist aber vergleichbar, und die Effekte für Männer und Frauen sind ähnlich. Eine ebenfalls vorübergehende Beeinträchtigung der mentalen Gesundheit findet sich in einigen weiteren Studien (Gardner und Oswald 2006; Hope et al. 1999; Wade und Pevalin 2004), während andere Längsschnittuntersuchungen (Johnson und Wu 2002; Lorenz et al. 2006; Mastekaasa 1995) eher für längerfristige Effekte sprechen. Im Fall einer Verwitwung sind im Prinzip ähnliche Konsequenzen zu erwarten wie bei einer Scheidung; davon betroffen sind vorwiegend Frauen im höheren Alter (Trivedi et al. 2009). Die wenigen prospektiven Panelstudien zum Einfluss von Verwitwung auf die Gesundheit (Chou und Chi 2000; Lee und DeMaris 2007; Lindeboom et al. 2002; Sasson und Umberson 2014; Schaan 2013; Stroebe et al. 2007; Wilcox et al. 2003) unterstreichen vor allem psychische Verwitwungsfolgen wie Depression, Einsamkeit und Angst. Die meisten dieser Studien sind jedoch durch kleine Stichproben und nicht mehr als drei Panelwellen limitiert. Sasson und Umberson (2014) führen eine längsschnittliche Mehrebenenanalyse durch und sind so in der Lage, zwischen kurz- und langfristen Effekten von Verwitwung auf mentale Gesundheit zu unterscheiden. Kurzfristig (bis zu 30 Monate nach Partnerverlust) zeigt sich für beide Geschlechter ein Depressivitätsanstieg, welcher allerdings im Laufe der Zeit abnimmt. Von langfristigen Effekten scheinen insbesondere früh und/oder dauerhaft verwitwete Personen betroffen zu sein; diese zwei Risikogruppen, die überdurchschnittlich häufig einen unerwarteten Partnerverlust erleben, leiden über Jahre an depressiven Episoden und erholen sich nur sehr langsam und meist unvollständig davon. Inspiziert man die genannten Längsschnittstudien im Kontext geschlechtsspezifischer Effekte einer Verwitwung auf die Veränderungen mentaler Gesundheit, findet man – anders als in den meisten Querschnittsstudien sowie der Panelstudie von Chou und Chi (2000) für Personen im Alter 70+ in Hong Kong (vgl. im Überblick Lee und

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DeMaris 2007) – keine Unterschiede zwischen Witwen und Witwern, weder im amerikanischen (Lee und DeMaris 2007; Sasson und Umberson 2014) noch im europäischen Raum (Schaan 2013). Kaum Studien liefern empirische Evidenz für Kausaleffekte von Verwitwung auf physische Gesundheit. Wilcox et al. (2003) berichten zwar von unbeabsichtigtem Gewichtsverlust in den ersten drei Jahren nach dem Tod des Partners; einen signifikanten Anstieg an körperlichen Beschwerden in Folge einer Verwitwung konnte jedoch bislang keine Panelstudie nachweisen (Schulz et al. 2001; Wilcox et al. 2003). Da Ehen die höchsten (materiellen und immateriellen) Trennungskosten von allen Lebensformen aufweisen, könnte angenommen werden, dass ein Ehepartnerverlust durch Scheidung oder Tod mit den gravierendsten negativen Konsequenzen einhergeht (Holmes und Rahe 1967). Vorliegende Studien deuten allerdings auf ein ähnliches Ausmaß an Belastungen nach Auflösung ehelicher und nichtehelicher Partnerschaften hin (Wu und Hart 2002). Ähnlich wie bei den Auswirkungen des Übergangs in die verschiedenen Lebensformen kann auch bei Scheidungs- und Verwitwungseffekten vermutet werden, dass das Ausmaß verlustbedingter Beeinträchtigungen des Gesundheitszustands von der Qualität der ehelichen oder nichtehelichen Beziehung vor deren Auflösung abhängt. Es liegen Befunde vor, die hinsichtlich gesundheitlicher Selbsteinschätzungen positive (Hawkins und Booth 2005; Williams und Umberson 2004) bzw. abgeschwächte negative Effekte (Kalmijn und Monden 2006) der Auflösung unglücklicher Ehen zeigen. Nach Scheidungen aus Ehen mit hoch aggressiver Paarinteraktion beobachten Kalmijn und Monden (2006) hingegen einen verstärkten Anstieg der Depressivität, was die Autoren als Spillover-Effekt interpretieren. Auch Verwitwete, die vor dem Tod des Ehepartners eine hohe Ehequalität berichtet haben, zeigen ein höheres Niveau an depressiven Symptomen im Vergleich zu Personen aus Ehen mit niedriger Qualität (Schaan 2013). Im Hinblick auf den ersten vermittelnden Mechanismus, soziale Unterstützung, zeigt sich, dass nach Auflösung einer Partnerschaft wichtige soziale Bezüge zu Familie und Freunden als schwächer wahrgenommen werden, was zu einer Verstärkung psychischer Probleme beiträgt (Bierman et al. 2006). Bislang sind die konkreten Wirkmechanismen der Unterstützungseffekte noch unklar, die Suche nach vermittelnden psychologischen Prozessen wie Stresswahrnehmungen oder affektiven Prozessen hat bislang wenig bestätigende Befunde erbracht (Uchino et al. 2012); aus Laborstudien gibt es allerdings Hinweise auf mediierende physiologische Prozesse, z. B. über Blutdruckreaktivität (Sbarra et al. 2009). Vielversprechender könnte die Untersuchung möglicher Puffereffekte sozialer Unterstützung sein: So fallen gesundheitsbezogene Scheidungsfolgen auf das Wohlbefinden umso weniger gravierend aus, je mehr soziale Unterstützung vorhanden ist, auch wenn dieser Moderatoreffekt unseres Wissens bislang nur für Wohlbefinden (well-being) nachgewiesen wurde (Kalmijn 2010). Im Falle einer (mehr oder weniger) absehbaren oder sogar „erwarteten“ Verwitwung (Stroebe et al. 1995) unterstützen sich (Ehe-) Partner häufig gegenseitig in Form von Pflege im Krankheitsfall oder im Alter. Verwitwete, die sich um ihre pflegebedürftigen Partner vor deren Tod gekümmert haben, leiden in geringerem Maße an Depression als die Nicht-Pflegenden (Sasson

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und Umberson 2014; Schaan 2013). Für diesen Befund finden sich zwei Begründungen in der Literatur (Sasson und Umberson 2014; Schulz et al. 2001; Trevisan et al. 2016; Wilcox et al. 2003): Erstens kann der Tod eines pflegebedürftigen Partners (trotz Trauer) körperliche und mentale Entlastung mit sich bringen; zweitens kann die Pflege einer geliebten Person (insbesondere über einen längeren Zeitraum) die Trauer, zumindest zum Teil, zeitlich vorverlagern. In Bezug auf den zweiten Mechanismus, soziale Kontrolle, existieren ebenfalls einige Studien zu Partnerverlusteffekten auf das Gesundheitsverhalten. Die wohl umfassendsten Analysen zum Drogenkonsum berichten Bachman et al. (1997): Danach kommt es nach Scheidungen bei Männern und Frauen zu einem Anstieg der Rauchhäufigkeit (S. 68 ff.), zu höherem Alkoholkonsum (S. 99 ff.; vgl. die Befunde bei Bierman et al. 2006) sowie zu leicht erhöhtem Marihuanakonsum (S. 127 ff.). Nach Verwitwung finden Eng et al. (2005) einen signifikanten Anstieg des Alkoholkonsums, wohingegen es sowohl nach Scheidung als auch nach Verwitwung zu einer Abnahme gesunder Ernährung (hier: Gemüsekonsum) und gleichzeitig des BMI kommt; keine Auswirkungen einer Scheidung oder Verwitwung finden sich in dieser Studie auf Veränderungen des physischen Aktivitätsniveaus. Einige Studien unterscheiden zusätzlich zwischen Personen mit niedrigem und hohem Trauerniveau und zeigen, dass insbesondere die intensiv Trauernden dazu tendieren, ärztliche Konsultationen trotz weiterhin bestehender oder neu aufkommender gesundheitlicher Probleme (wie z. B. hoher Blutdruck oder Depression) zu verringern (Stroebe et al. 2007). Eine umfangreiche Forschung verweist auf die Relevanz des dritten Mechanismus, der Vermittlung über ökonomische Ressourcen: FE-Panelanalysen zur Einkommensentwicklung vor und nach einem Trennungs- bzw. Scheidungsereignis in Deutschland zeigen vor allem bei Frauen einen deutlichen Knick direkt nach der Trennung sowie einen allmählichen Anstieg auf das Ausgangsniveau im Zeitraum bis fünf Jahre nach der Trennung (Andreß et al. 2006). Unter Kontrolle der vorherigen Erwerbspartizipation und der Kinderzahl beläuft sich die geschätzte Einbuße im adjustierten Pro-KopfNettoeinkommen nach einer Trennung bei deutschen Männern auf rund 200 Euro, bei Frauen auf über 500 Euro (Andreß und Bröckel 2007). Die Gesundheitsrelevanz des Einkommens wurde weiter oben bereits angesprochen. Gesundheitseffekte auf Trennung und Scheidung gemäß der Selektionsthese wurden ebenfalls in einer Reihe von Studien untersucht. So findet Simon (2002) einen geschlechtsunspezifischen, das Scheidungsrisiko fördernden Effekt von Depressivität. Ähnliches gilt hinsichtlich physischer Gesundheit (Lorenz et al. 2006) sowie globaler subjektiver Gesundheitseinstufungen (Wilson und Waddoups 2002). In einer Untersuchung mit deutschen Paneldaten zeigt Rapp (2012), dass Krankheit – operationalisiert als subjektiv schlechte Gesundheit – eines oder beider Ehepartner das Scheidungsrisiko steigert. Dieser Effekt wird partiell durch die geringere Zufriedenheit mit dem Einkommen vermittelt, was der Autor über die krankheitsbedingt erhöhten finanziellen Ausgaben erklärt. Ein allgemeines methodisches Problem derartiger Längsschnittanalysen (z. B. Ereignisdatenanalysen) besteht allerdings in antizipatorischen Effekten: So ist es plausibel anzunehmen, dass Trennungspaare bereits vor der Scheidung einem erhöhten Risiko für gesundheitliche Probleme ausgesetzt sind, sodass die

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gefundenen Zusammenhänge partiell durch umgekehrte Kausalität erklärbar sind (Johnson und Wu 2002; Wade und Pevalin 2004). Zukünftige Analysen zum Einfluss von Veränderungen des Gesundheitszustands auf Lebensformübergänge könnten hier u. U. mehr Klarheit schaffen.

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Fertilität, Elternschaft und Gesundheit

Der Übergang zu einer (erneuten) Elternschaft – gleich ob durch eine Geburt, Adoption, Pflegschaft oder Stiefelternschaft – ist eines der bedeutsamsten Ereignisse im Leben (Holmes und Rahe 1967). In Anlehnung an die Lebensverlaufsperspektive und konkret an das Argument der Risikokumulation kann ein Geburtsereignis sowohl als ein Resultat einer kontinuierlichen Wechselwirkung von zeitlichen und kontextuellen Einflüssen als auch ein möglicher Zündmechanismus für spätere Heilungs- und Krankheitsprozesse gesehen werden (Halfon et al. 2014; Kuh et al. 2013; Mayer 2009; Mirowsky 2002; Mishra et al. 2010). Zahlreiche Studien untersuchen den Einfluss abgeschlossener Fertilitätsbiografien auf die Gesundheit ab dem 50. Lebensjahr, welches für das weibliche Geschlecht dem Durchschnittsalter für den Eintritt einer natürlichen Menopause entspricht (vgl. im Überblick Mishra et al. 2010). Bis auf sehr wenige Studien zum Einfluss von Stief- oder Adoptivkindern auf die elterliche Gesundheit (Grundy und Read 2015 wie auch Pudrovska 2009 finden keine signifikanten Effekte) liegt der bisherige Forschungsfokus eindeutig auf biologischer Elternschaft. Im Folgenden beschränken wir uns auf empirische Evidenz aus Studien mit wiederholten Messungen der elterlichen Gesundheitsoutcomes. Um die Bedeutung von Elternschaftsbiografien und Familienkonstellationen als Ganzes zu erfassen, untersucht die Mehrzahl dieser Studien zwar simultan Effekte verschiedener Merkmale – von der Geburtenanzahl und -dichte bis hin zum Kontakt mit (meistens schon erwachsenen) Kindern und (falls vorhanden) auch Enkelkindern. Die Befundlage zum Einfluss von Übergängen zur Familiengründung und -erweiterung auf die Gesundheit bleibt jedoch bislang uneinheitlich (vgl. Rapp und Klein 2015). In Bezug auf die Parität, also die Anzahl biologischer Kinder, lassen sich die existierenden Befunde in drei Gruppen unterteilen: (1) Befunde zur Nulliparität (Kinderlosigkeit), (2) zur niedrigen Parität (in neueren Studien häufig eine Lebendgeburt) und (3) zur höheren Parität (je nach Studie drei und mehr Lebendgeburten). Für Frauen scheint Kinderlosigkeit zum einen mit einem höheren Risiko gesundheitlicher Einschränkungen (u. a. bei täglichen Aktivitäten) (Read et al. 2011) und zum anderen mit schlechteren kognitiven Funktionen (Read und Grundy 2016) verbunden zu sein; für Männer bringt sie keine gesundheitlichen Nachteile (Grundy und Read 2015; Read et al. 2011; Read und Grundy 2016). Die Studien können jedoch aufgrund unzureichender Daten nur selten dafür kontrollieren, ob es sich um eine gewollte oder ungewollte Kinderlosigkeit handelt. Eine ältere Studie (van Balen und Trimbos-Kemper 1993) zeigt, dass insbesondere Frauen aus einer langzeitig infertilen Beziehung häufiger unter niedrigem Selbstwertgefühl, Angst, Depression und gesundheitlichen Beschwerden leiden. Das widerspricht allerdings neueren

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Ergebnissen von Maximova und Quesnel-Vallée (2009), die keinen Zusammenhang zwischen ungewollter Kinderlosigkeit und psychischem Distress finden. Die systematische Übersichtsarbeit von Hurt et al. (2006) geht von einer U-förmigen bzw. J-förmigen Assoziation zwischen Parität und Mortalität bei Frauen aus, welche konzeptionell auch auf Studien zu Gesundheit übertragen wird. Folglich wären zwei (in manchen Studien zwei bis drei) Kinder eine für die Gesundheit optimale Parität. Aktuelle Befunde bestätigen dies aber nur zum Teil: Hohe Parität scheint zwar für britische (Read et al. 2011), jedoch nicht für amerikanische Eltern (Spence 2008) mit negativen gesundheitlichen Folgen einherzugehen, was ein Indiz für eine moderierende Rolle nationaler Familienpolitiken sein könnte (vgl. Grundy und Foverskov 2016 für west- und osteuropäische Kontraste). Eine schlechtere kognitive Gesundheit von Vätern mit einem Kind sowie von Müttern und Vätern mit vier und mehr Kindern kann im Vergleich zu Eltern mit zwei bis drei Kindern in einer neuen Längsschnittstudie empirisch nur unter Kontrolle des Alters, jedoch nicht bei gleichzeitiger Berücksichtigung des sozioökonomischen Status (SES), nachgewiesen werden (Read und Grundy 2016). Dies spricht für eine mediierende Rolle des SES bei der Erklärung des Effekts der Parität auf kognitive Funktionen. Für Mütter mit nur einem Kind entfällt allerdings der schützende Mechanismus; auch unter Kontrolle des SES, Gesundheitsstatus und Lebensstils scheint ihre Kognition durch die niedrige Parität langfristig beeinträchtigt zu sein. Mit Blick auf zwei weitere Fertilitäts- und Elternschaftsmerkmale, die durch das Alter bei der Geburt (Timing) sowie den Altersabstand zwischen zwei oder mehreren Geburten (Spacing) operationalisiert werden, zeigt sich ein einheitlicheres Bild. Ein junges Alter bei der Geburt des ersten Kindes (in den meisten Studien vor dem 20. Lebensjahr für Frauen und vor dem 23. Lebensjahr für Männer) und insbesondere eine Elternschaft im Jugendalter sind mit vielen gesundheitlichen Nachteilen im späteren Lebensverlauf assoziiert, z. B. mit Einschränkungen täglicher Aktivitäten (Read et al. 2011; Spence 2008), depressiver Symptomatik (Spence 2008) sowie chronischen Erkrankungen und erhöhter allostatischer Last (Grundy und Read 2015; vgl. auch McEwen und Lasley 2002 für die Begriffsklärung). Demgegenüber erfreuen sich Mütter, die ihr erstes Kind erst im fünften Lebensjahrzehnt bekommen haben (und alleine aufgrund des Alters zu Risikoschwangeren zählen), besserer kognitiver Gesundheit im Alter (Read und Grundy 2016). Ergänzend dazu kommen Booth et al. (2008) jedoch zu dem Schluss, dass ein früher Übergang zur Elternschaft nicht zwingend ungesund sein muss, vorausgesetzt es handelt sich um eine stabile Partnerschaft. Kurze Zeitabstände zwischen zwei oder mehreren Geburten (weniger als 18 Monate), die keine ausreichende Erholung von den physiologischen und psychischen Belastungen einer Schwangerschaft erlauben, erhöhen für Mütter sowohl das Morbiditäts- als auch Mortalitätsrisiko (Grundy und Kravdal 2014; Read et al. 2011). Zu hochgradig traumatischen Aspekten einer Schwangerschaft und Elternschaft gehören Fehl- und Stillgeburten und selten auch der spätere Tod des eigenen Kindes. Der Verlust eines Kindes ist aus psychologischer Sicht ein „off-time“-Ereignis, das in keiner Weise zu einem normativen Lebenslauf gehört (Pudrovska 2009). Es verwundert somit nicht, dass empirische Studien von langfristigen negativen Konsequenzen eines Schwangerschaftsverlustes durch eine Fehl- oder Totgeburt (Sudha

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2006) oder eines Kindsverlustes nach einer Lebendgeburt (Pudrovska 2009) berichten, insbesondere in Bezug auf die mentale Gesundheit. Auch Stress – vor allem in Familien mit Kleinkindern (Nomaguchi und Milkie 2003), verursacht durch Rollenüberlastung, mangelnde bzw. unzureichende Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie erhöhtes Konfliktpotenzial zwischen beiden Elternteilen und ein dadurch erhöhtes Trennungsrisiko – gehört zu negativen Elternschaftsaspekten, die häufig zu Depression führen (Perry-Jenkins et al. 2007). Elterliche Gesundheitsverläufe im Kindesalter ihrer Nachkommen sind jedoch bislang selten untersucht worden, da eine Differenzierung zwischen Familien mit Säuglingen, Kleinkindern und Schulkindern in den bisherigen Studien kaum vorgenommen wird (Pudrovska 2009). Eine Längsschnittstudie von Wickrama et al. (2001) indiziert für Mütter, dass elterlicher Stress (in einem größeren Maße als ehelicher Stress) Bluthochdruck zur Folge haben kann. Myrskylä und Margolis (2014) zeigen mittels FE-Panelanalysen mit Lebenszufriedenheit als Outcome (FE-Analysen zum Einfluss von Fertilität und Elternschaft auf Gesundheit sind uns nicht bekannt), dass das subjektive Wohlbefinden angehender Eltern in Deutschland und Großbritannien drei Jahre vor dem Übergang zur Elternschaft kontinuierlich anzusteigen beginnt und mit der Geburt des ersten Kindes den Höhepunkt erreicht. Bereits ein bis zwei Jahre danach kommt es jedoch zu einer deutlichen Abnahme des subjektiven Wohlbefindens beider Elternteile und zu einem stabilen Verbleib auf dem Ausgangsniveau (bzw. für hochgebildete Mütter auf weiterhin sinkendem Niveau) bis zum 18. Lebensjahr des Kindes. Lediglich für Großbritannien findet sich ein kontinuierlicher Anstieg des Wohlbefindens bei verheirateten Eltern nach der Geburt des ersten Kindes; weitere Geburten sind mit einem deutlich kleineren Anstieg der Glücksgefühle verbunden, und spätestens mit dem dritten Kind nimmt das Wohlbefinden über die Jahre rasant ab (Myrskyla und Margolis 2014). Zu gegenläufigen Ergebnissen kommt eine FE-Panelanalyse aus Neuseeland (Mckenzie und Carter 2013): Der Übergang zu einer (erneuten) Elternschaft trägt danach zumindest in den ersten 12. Monaten nach der Geburt zur Reduzierung des psychischen Distress bei. Allerdings ist dieser Effekt langfristig nicht mehr empirisch nachzuweisen, was darauf hindeuten könnte, dass sich Eltern von älteren bzw. erwachsenen Kindern in Bezug auf das Niveau des psychischen Distress kaum von kinderlosen Individuen unterscheiden (Evenson und Simon 2005; Pudrovska 2008). Wir verzichten an dieser Stelle auf Überlegungen zum Einfluss von Alleinelternschaft auf Gesundheit und verweisen auf Rapp und Klein (2015), die auf dieses Thema ausführlicher eingehen. Die Effekte von Fertilität und Elternschaft auf die Gesundheit lassen sich aus theoretischer Sicht, neben den bereits erwähnten sozialen Mechanismen (soziale Unterstützung, soziale Kontrolle und ökonomische Ressourcen), zusätzlich über biologische und evolutionäre Mechanismen begründen. Letztere greifen dabei ausschließlich im Falle einer natürlichen Zeugung und insbesondere auf Seiten der Schwangeren bzw. leiblichen Mütter. Evolutionäre Theorien liefern mindestens zwei Erklärungen für den Einfluss von Fertilität auf Gesundheit. Erstens besagt die Disposable-Soma-Theorie von Kirkwood (1977), dass Fertilität und Langlebigkeit sich in einem kontinuierlichen, substitutiven Verhältnis zueinander befinden. Ausgangspunkt sind die begrenzten

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Energieressourcen eines Individuums, die entweder in die körperliche Instandhaltung (Gesundheit) oder Reproduktion „investiert“ werden können. Fällt die Entscheidung des Organismus auf hochenergetische Reproduktion, kann keine optimale Zuteilung der Energieressourcen in somatische Erhaltungsprozesse gewährleistet werden. Hohe Parität und früher Übergang zur Elternschaft würden demzufolge mit schlechter Gesundheit wie auch mit kürzerer Lebenserwartung einhergehen (Westendorp und Kirkwood 1998). Anzumerken ist allerdings, dass dieses „TradeOff-Modell“ vorwiegend auf historische und natürliche Fertilitätspopulationen anzuwenden ist, wohingegen in gegenwärtigen Populationen die bereits erwähnte U-förmige bzw. J-förmige Assoziation zwischen Parität und Frauenmortalität üblich ist (Kaptijn et al. 2015). Konträr zur Disposable-Soma-Theorie stützen sich, zweitens, Robson und Smith (2011) auf das Argument des robusten Phänotyps auf Grundlage einer historischen Population von Müttern mit abgeschlossenen Fertilitätsbiografien, die bis zur Hälfte des 20. Jahrhunderts – also in Zeiten, in denen künstliche Befruchtung noch nicht praktiziert wurde – mindestens einmal Mehrlinge zur Welt brachten. So seien Mehrlingsmütter (unter Kontrolle kindlicher Sterblichkeit) – dank ihrer phänotypischen Prädispositionen – von Natur aus selektierte Individuen, die energetisch und metabolisch in der Lage sind, besonders belastende Schwangerschaften auszutragen. Daraus ließe sich ableiten, dass ein an hoher Parität, Mehrlingsgeburten oder kurzen Geburtsintervallen bestimmter Fertilitätserfolg für eine überdurchschnittliche Widerstandsfähigkeit und somit für gute Gesundheit steht. An den evolutionären Rahmen lassen sich nun biologische Mechanismen anschließen. Boddy et al. (2015) berichten von gesundheitlichen (positiven wie negativen) Folgen des bisher eher unbekannten fetalen Mikrochimärismus, wonach sich fetale und mütterliche Zellen während einer Schwangerschaft miteinander vermischen und noch Jahre nach der Entbindung im Körper von Mutter und Kind medizinisch nachweisbar sind (Bianchi et al. 1996). Allerdings haben nur manche fetalen Zellen stammzellenähnliche und somit heilende Eigenschaften. Dieses Phänomen kann für Mütter zu einer schnelleren Wundheilung (insbesondere nach einem Kaiserschnitt) sowie zur Prophylaxe bzw. Verlangsamung der Alzheimerkrankheit beitragen. Es kann allerdings auch mit erhöhtem Risiko für die Parkinsonkrankheit und einer Reihe von Autoimmunerkrankungen wie rheumatoide Arthritis und chronische Schilddrüsenerkrankungen einhergehen. Abhängig von Präsenz und Menge fetaler Zellen im mütterlichen Gewebe jeweiliger Organe kann der fetale Mikrochimärismus zudem sowohl zur Heilung als auch zur Krankheit bei bestimmten Krebsarten wie Brust- oder Schilddrüsenkrebs beitragen (vgl. im Überblick Boddy et al. 2015). Dies deckt sich mit empirischen Befunden aus früheren Studien, die übereinstimmend berichten, dass physiologische und hormonelle Veränderungen während einer Schwangerschaft und Stillperiode Schutzmechanismen gegen Brust-, Eierstock- und Gebärmutterkrebs im Körper der Mutter aktivieren können; sie können aber auch Prävalenzraten für Übergewicht, Diabetes und Herzkrankheiten beeinflussen (z. B. Beral 1985; Grundy und Kravdal 2010; Kobayashi et al. 2012; Lawlor 2003; Schwarz et al. 2009). Aus soziologischer Sicht sind daneben soziale Mechanismen von hoher Bedeutung. Eine Elternschaft kann insbesondere in Form von reziproker sozialer Unter-

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stützung, die in den meisten Familien durch regelmäßige Interaktionen sowie Austausch von Pflege- und Hilfeleistungen zwischen Eltern und Kindern gewährleistet wird, langfristig positive Auswirkungen auf die Gesundheit haben (Knoester und Eggebeen 2006; Umberson et al. 2010). Eltern-Kind-Interaktionen können ebenfalls eine Quelle sozialer Kontrolle zur Prävention oder Reduktion von gesundheitsschädigendem Verhalten darstellen (Kendig et al. 2007; Umberson 1987). Die langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen einer Familiengründung, welche sich in einer konkreten Ausgestaltung von Generationenbeziehungen2 manifestiert, werden in Abschn. 6 beschrieben. In Bezug auf ökonomische Ressourcen ist das Vorhandensein von Kindern meistens mit hohen finanziellen Ausgaben verbunden, die eine mediierende Rolle bei der Erklärung kausaler Effekte von Elternschaft auf Gesundheit spielen können. An dieser Stelle ist anzumerken, dass die oben genannten sozialen Mechanismen nicht nur für eine biologische Elternschaft gelten, sondern auch als Erklärungsgrundlage für nicht biologische Elternschaftsformen herangezogen werden können; trotzdem können gerade eine Stief- oder Pflegeelternschaft von (insbesondere) minderjährigen Kindern mit vielerlei zusätzlichen Stressoren einhergehen, die bei einer biologischen Elternschaft entfallen (z. B. Lansford et al. 2001; Pudrovska 2009; Vanschoonlandt et al. 2013). Gegenseitige Abneigung oder erhöhtes Konfliktpotenzial zwischen Stiefeltern und Stiefkindern können unter Umständen zum Wegfall sozialer Unterstützung und Kontrolle führen, was für beide Seiten schlechtere Gesundheit zur Folge haben könnte (vgl. auch Rapp und Klein 2015). Die Ergebnisse einer Längsschnittstudie von Pudrovska (2009) zeigen jedoch, dass auch unter Kontrolle der Beziehungsqualität in Stiefeltern-Stiefkind-Dyaden die Präsenz von Stiefkindern die mentale Gesundheit der Stiefeltern nicht nachhaltig zu beeinflussen scheint. Kausalschlüsse hinsichtlich der Interdependenzen zwischen Fertilität und Elternschaft auf die Gesundheit sind ohne Berücksichtigung von Selektionsmechanismen und unbeobachteter Heterogenität kaum möglich. Dieses Problem betrifft insbesondere Studien mit Fokus auf die zweite Lebenshälfte (vgl. im Überblick Grundy und Read 2015), da Individuen mit einer abgeschlossenen Fertilitätsbiografie – die bis ins höhere Alter, möglicherweise wegen ihrer gesundheitlichen Resilienz, überlebt haben – alleine des Alters wegen eine selektive Untersuchungspopulation sind. Auch Parität und Timing von Geburten lassen sich zum Teil durch Selektion erklären. Einerseits können gravierende gesundheitliche Probleme im früheren Lebensverlauf oder eine Behinderung die Chance, einen Partner zu finden und eine Elternschaft zu erleben, deutlich verringern (Grundy und Read 2015; Yi und Vaupel 2004) bzw. die Familiengründung um einige Jahre verzögern (Yi und Vaupel 2004). Zudem können ein übermäßiger Alkohol- und Zigarettenkonsum (Joesoef et al. 1993) sowie Übergewicht (Sallmen et al. 2006) zu (temporärer) Infertilität führen. Andererseits kann jedoch auch ein früher Übergang zur Elternschaft mit genau

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Als wichtigste Dimensionen werden in der Literatur Kontakthäufigkeit, emotionale Verbundenheit sowie gegenseitige Unterstützung zwischen Eltern und ihren (erwachsenen) Kindern genannt (vgl. Bengtson 2001).

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diesen Risikofaktoren einhergehen (Grundy und Read 2015). Dies lässt sich dadurch begründen, dass ungünstige Umstände im Kindheits- und Jugendalter – einschließlich physischer und insbesondere psychischer Probleme sowie niedriger Bildung – eine frühe (häufig minderjährige) Elternschaft implizieren können, die im weiteren Lebensverlauf in einer hohen Parität resultieren kann (Hobcraft 2008; Hobcraft und Kiernan 2001).

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Gestaltung von Familienbeziehungen und Gesundheit

Der Einfluss der Gestaltung familialer Beziehungen auf die Gesundheit der betreffenden Familienmitglieder wurde bislang eher fragmentarisch und ausschnitthaft untersucht. Die sozialisatorische Bedeutung der Familie für die Reproduktion von Gesundheit wird in der Forschung zur intergenerationalen Gesundheitstransmission3 (vgl. im Überblick Smith und Christakis 2008) dokumentiert, welche offenbar insbesondere über intergenerationale Ähnlichkeit spezifischer Aspekte des Gesundheitsverhaltens wie schlechte Ernährung (Rimal 2003), Bewegungsmangel und Substanzmissbrauch (Wickrama et al. 1999) vermittelt wird. Studien zum Einfluss von Generationenbeziehungen auf die elterliche Gesundheit beschränken sich weitgehend auf hochaltrige Eltern. Erwachsene Kinder sind eine wichtige potentielle Quelle sozialer Unterstützung für Eltern. Regelmäßige Interaktionen sowie Gewährleistung von Hilfe und Pflege sind (insbesondere im Alter) von großer Bedeutung für physische, mentale und kognitive Gesundheit (Buber und Engelhardt 2008; Evenson und Simon 2005; Offer und Schneider 2007; Grundy und Read 2012; Read und Grundy 2016; Umberson et al. 2010). Daneben gibt es Hinweise auf Puffereffekte der Enge der Eltern-Kind-Beziehung auf die Mortalität des überlebenden Elternteils nach einer Verwitwung (Silverstein und Bengtson 1991). Konflikthafte Familienbeziehungen wirken sich zudem besonders ungünstig auf die Depressivität hochbetagter Eltern aus (Schwarzbach et al. 2014). Gesundheitliche Auswirkungen von Generationenbeziehungen lassen sich prinzipiell über mehrere Generationen hinweg erwarten: Eine aktuelle Studie von Moorman und Stokes (2016) zeigt, dass eine hohe emotionale Nähe der Großelternteil-Enkelkind-Dyade für beide Seiten das Risiko einer Depression reduziert. Daneben liegt eine umfangreiche Forschung zu Effekten horizontaler (Paar-)Beziehungen auf die Gesundheit in der Kindgeneration vor, beispielsweise zu langfristigen psychischen Beeinträchtigungen bei (erwachsenen) Kindern nach einer elterlichen Scheidung (vgl. im Überblick Amato 2000). Insgesamt scheinen Familienbeziehungen jedoch nicht protektiver zu wirken als andere Netzwerkbeziehungen, z. B. zu Freunden (vgl. im Überblick für Depressivität Santini et al. 2015). Im Sinne der Selektionshypothese wird Gesundheit in der familiensoziologischen Literatur zu Intergenerationenbeziehungen im Erwachsenenalter (Bengtson 2001) 3

Smith und Christakis (2008) weisen darauf hin, dass gesundheitliche Probleme oder eine Behinderung des Kindes auch zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustands der Eltern, also quasi zu einer „Aufwärtstransmission“ der Gesundheit führen kann.

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einerseits als Kontakt ermöglichende Ressource angesehen, andererseits wird (schlechte) Gesundheit der Eltern als Indikator des Kontakt- und Unterstützungsbedarfs eingesetzt; die bisherige Forschung bestätigt zumeist den zuletzt genannten negativen Einfluss der elterlichen Gesundheit auf Kontakthäufigkeit und Wohnentfernung zu Kindern (Hank 2007).

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Fazit

Abschließend ist festzustellen, dass insbesondere Partnerschaften als Verstärker gesundheitlicher Ungleichheit im Lebensverlauf wirken können: Im Einklang zu den Vorhersagen des soziologischen Ressourcenmodells tragen (glückliche) Paarbeziehungen zu einer Akkumulation gesundheitsrelevanter Ressourcen bei (positiver Kausaleffekt). Gleichzeitig kommen typischerweise vor allem solche Personen in den Genuss partnerschaftlicher Bindungen, die bereits ex ante eine bessere Ressourcenausstattung aufweisen (Positivselektion). Insgesamt kann dadurch möglicherweise eine sich selbst verstärkende Dynamik gesundheitlicher Kumulationseffekte in Gang gesetzt werden, die zu einer zunehmenden gesundheitlichen Ungleichheit im Lebensverlauf beiträgt. In Bezug auf Elternschaft scheinen ähnliche Prozesse wirksam zu sein, wobei jedoch z. T. gegenläufige Mechanismen (Negativselektion früher bzw. höherer Fertilität bei bestimmten ungünstigen Gesundheitsmerkmalen) sowie moderierende Rahmenbedingungen (z. B. Alter bei der ersten Geburt) die Komplexität des Zusammenhangs erhöhen. Auch durch die in der Regel lebenslangen Solidarbeziehungen von Kindern gegenüber ihren Eltern hat Elternschaft häufig positive langfristige Konsequenzen für die elterliche Gesundheit, zukünftige Forschung sollte jedoch hierzu verstärkt die potentiell moderierende Rolle der Qualität von Generationenbeziehungen fokussieren. Insgesamt besteht trotz umfangreicher empirischer Evidenz weiterer dringender Forschungsbedarf zur kausalen Wirkrichtung und zu den mediierenden Mechanismen. Querschnittstudien, die bislang auf diesem Forschungsgebiet vorherrschen, sind methodisch nicht in der Lage, adäquat mit durch Selektions- und Kausalitätseffekte entstehenden Herausforderungen umzugehen. Die vergleichsweise wenigen Panelstudien, über die wir im vorliegenden Beitrag berichten, sind jedenfalls ein guter Anfang, um mehr Klarheit in die Erklärung der komplexen Zusammenhänge zwischen Partnerschaft, Elternschaft und Gesundheit zu bringen. Als ein mögliches und geeignetes Analyseinstrument erscheinen (FE-)Panelanalysen, die sowohl zeitkonstante unbeobachtete Heterogenität als auch partiell Selektionseffekte kontrollieren können.

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Die Gesundheit von Menschen mit Migrationshintergrund aus sozialepidemiologischer Sicht Patrick Brzoska und Oliver Razum

Inhalt 1 2 3 4

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale und gesundheitliche Lage von Menschen mit Migrationshintergrund . . . . . . . . . . . . Nutzung und Ergebnisse von Versorgungsangeboten am Beispiel der medizinischen Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Barrieren in der gesundheitlichen Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Notwendigkeit und Chancen einer diversitätssensiblen Gesundheitsversorgung . . . . . . . . . . 7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Menschen mit Migrationshintergrund unterscheiden sich in gesundheitsrelevanten Aspekten von Menschen ohne Migrationshintergrund. Bestimmte chronische Erkrankungen treten bei Menschen mit Migrationshintergrund beispielsweise häufiger auf. Bisher begegnet diese Bevölkerungsgruppe zahlreichen Barrieren im Gesundheitssystem, die ihren Zugang zu Angeboten behindern und Versorgungsergebnisse nachteilig beeinflussen können. Diversity Management kann einen Beitrag leisten, diese Barrieren abzubauen und die Versorgung für die gesamte Bevölkerung, einschließlich Menschen mit Migrationshintergrund, nutzerorientierter zu gestalten.

P. Brzoska (*) Fakultät für Gesundheit, Universität Witten/Herdecke, Witten, Deutschland E-Mail: [email protected] O. Razum (*) Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Abt. Epidemiologie & International Public Health, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Kriwy, M. Jungbauer-Gans (Hrsg.), Handbuch Gesundheitssoziologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06392-4_17

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320

P. Brzoska und O. Razum

Schlüsselwörter

Migration · Rehabilitation · Versorgung · Diversity Management · Soziale Ungleichheit

1

Einleitung

Menschen mit Migrationshintergrund machen einen substanziellen Teil der Bevölkerung Deutschlands und anderer europäischer Länder aus. Sie unterscheiden sich in gesundheitsrelevanten Aspekten oftmals von Menschen ohne Migrationshintergrund. Bestimmte chronische Erkrankungen treten bei Menschen mit Migrationshintergrund im Durchschnitt häufiger als bei Menschen ohne Migrationshintergrund gleichen Alters auf. Verantwortlich dafür sind soziale und gesundheitliche Einflussfaktoren, denen Menschen mit Migrationshintergrund in ihrem Leben ausgesetzt sind. Neben einigen positiven zählen hierzu als negative Einflussfaktoren belastende Arbeitsbedingungen, unten denen viele Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland arbeiten. Aber auch eine ungünstige soziale Lage und Diskriminierung tragen zu gesundheitlichen Unterschieden zwischen beiden Bevölkerungsgruppen bei. Eine bedarfs- und bedürfnisgerechte Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund stellt zahlreiche Herausforderungen an Institutionen der Gesundheitsversorgung, die bisher nicht flächendeckend adressiert werden. Das führt dazu, dass diese Bevölkerungsgruppe in allen Phasen des Versorgungsprozesses Barrieren begegnet, die sowohl ihren Zugang zu Angeboten behindern als auch Versorgungsergebnisse nachteilig beeinflussen können. In diesem Beitrag geben wir zunächst einen Überblick über die soziodemografische sowie ökonomische Situation von Menschen mit Migrationshintergrund und präsentieren empirische Ergebnisse zu ihrer gesundheitlichen Lage. Danach stellen wir am Beispiel der medizinischen Rehabilitation Ergebnisse zur Inanspruchnahme gesundheitlicher Angebote durch Menschen mit Migrationshintergrund vor und erörtern, inwiefern sich diese Bevölkerungsgruppe Zugangs- und Wirksamkeitsbarrieren in der Versorgung gegenübersieht. Abschließend leiten wir Handlungsempfehlungen für eine diversitätssensible Versorgungsgestaltung ab.

2

Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland

Die Bevölkerung Deutschlands wird zunehmend vielfältiger. Internationale Migration trägt entscheidend dazu bei. Gemeint ist damit die Mobilität von Menschen, die ihren Wohnort dauerhaft oder zweitweise von einem Land in ein anderes verlegen (International Organization for Migration 2011). Die Gründe hierfür sind vielfältig (Bodvarsson und van den Berg 2013). Migration kann z. B. ökonomisch motiviert sein, wie bei der Zuwanderung ausländischer Arbeitsnehmer/innen, der sog. „Gastarbeiter“, vor allem aus der Türkei, dem ehemaligen Jugoslawien, Portugal, Spanien, Italien und Griechenland in den 1950er- bis Anfang der 1970er-Jahre.

Die Gesundheit von Menschen mit Migrationshintergrund aus. . .

321

Tab. 1 Bevölkerung Deutschlands nach ausgewählten Migrationshintergründen. (Quelle: Mikrozensus 2014, Statistisches Bundesamt 2015) Kein Migrationshintergrund Migrationshintergrund darunter: Türkei ehemalige Sowjetunion Polen ehemaliges Jugoslawien Italien Süd- und Südostasien

Anzahl (in Millionen) 64,5 16,4 2,9 2,9 1,6 1,5 0,8 0,8

Anteil an Gesamtbevölkerung in % 79,7 20,3 3,6 3,6 2,0 1,9 1,0 1,0

Viele der damals angeworbenen Menschen entschlossen sich dazu, sich gemeinsam mit ihren Familien in Deutschland niederzulassen. Die Arbeitsmigration gewinnt seit der Erweiterung der Europäischen Union um neue mittel- und osteuropäische Staaten zu Beginn des 21. Jahrhunderts und der damit verbundenen Arbeitnehmerfreizügigkeit wieder an Bedeutung. Daneben spielte ab Ende der 1980er-Jahre, begünstigt durch das Ende des Kalten Krieges und die politische Wende in Osteuropa, die Zuwanderung vieler Menschen deutscher Herkunft, der sog. (Spät-)Aussiedler/ innen, u. a. aus Polen und der ehemaligen Sowjetunion, eine bedeutende Rolle. Seit seiner Gründung ist Deutschland außerdem das Ziel von Menschen, die Schutz vor Krieg, politischer Verfolgung oder Naturkatastrophen suchen und hier Asyl beantragen (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2014). Heute leben ca. 16,4 Millionen Menschen in Deutschland, die einen Migrationshintergrund haben. Hierzu zählen gemäß der Definition des Statistischen Bundeslandes zum einen alle Menschen ausländischer Staatsangehörigkeit und zum anderen alle deutschen Staatsangehörigen, die selbst oder deren Eltern aus einem anderen Land zugewandert sind. Menschen mit einer Herkunft aus der Türkei oder der ehemaligen Sowjetunion machen heute mit je ca. 3 Millionen Personen die beiden größten Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund in Deutschland aus (Statistisches Bundesamt 2015) (Tab. 1).

3

Soziale und gesundheitliche Lage von Menschen mit Migrationshintergrund

Menschen mit Migrationshintergrund sind im Laufe ihres Lebens unterschiedlichen Faktoren ausgesetzt, die einen Einfluss auf ihren Gesundheitszustand haben können. Im Falle einer eigenen Migrationserfahrung umfasst das Einflussfaktoren, denen sie im Herkunftsland, während der Migration sowie im Zuzugsland ausgesetzt sind (Spallek et al. 2011). Direkt nach der Zuwanderung weisen Migranten/innen oft einen besseren Gesundheitszustand auf als Menschen der Mehrheitsbevölkerung im Zuzugsland.

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P. Brzoska und O. Razum

Dieses auch als „Healthy-migrant“-Effekt bezeichnete Phänomen (manchmal wird in diesem Zusammenhang auch vom „Phänomen des gesunden Migranten“ gesprochen) ist dadurch zu erklären, dass oft nur diejenigen Menschen die Belastungen einer Migration in Kauf nehmen, die gesund und belastbar sind. Handelt es sich um Migranten/innen, die aus einem Entwicklungsland in ein Industrieland wie Deutschland zuwandern, weisen sie wie die Herkunftsbevölkerung, aus der sie stammen, im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung in Deutschland außerdem oft niedrigere Erkrankungswahrscheinlichkeiten für chronische Erkrankungen wie Krebs und HerzKreislauf-Erkrankungen auf. In Deutschland wurde der „Healthy-migrant“-Effekt zusätzlich dadurch verstärkt, dass häufig nur diejenigen Menschen als „Gastarbeiter/ innen“ angeworben wurden, deren berufliche Belastbarkeit durch medizinische Untersuchungen bestätigt worden war (Miller 2012). Die Krankheitsrisiken nähern sich, bedingt durch die lange Latenzzeit dieser Krankheiten, erst über viele Jahre oder Jahrzehnte denen der Mehrheitsbevölkerung an. Die in vielen Herkunftsländern von Migranten/innen meist noch hohen Inzidenzen von Infektionskrankheiten sinken durch bessere Hygiene und Behandlungsmöglichkeiten hingegen schnell auf das Niveau des Zuzugslandes ab. Mit zunehmender Aufenthaltsdauer und einer Übernahme des Lebensstils der Mehrheitsbevölkerung steigt allerdings das Risiko für chronische Erkrankungen. Zusammen mit bereits bestehenden teils lebensstil-, teils genetischbedingt höheren Risiken für Schlaganfall und bestimmte Krebserkrankungen kann das im Laufe von Jahrzehnten bei Migranten/innen zu einer im Durchschnitt höheren Krankheitslast führen (Razum 2009). Zu den negativen Einflussfaktoren, denen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland ausgesetzt sind, zählt auch ein im Durchschnitt niedrigerer sozialer Status. Dieser wird beispielsweise in einem geringeren Nettoeinkommen und in höheren Anteilen von Menschen deutlich, die als un- oder angelernte Arbeiter/innen beschäftigt sind. Menschen mit Migrationshintergrund arbeiten außerdem häufiger in manuellen Fertigungsberufen und sind hier stärker körperlichen, psychischen und sozialen Belastungen ausgesetzt (European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions 2007; Statistisches Bundesamt 2015). Vor allem ältere Menschen mit Migrationshintergrund haben außerdem nach wie vor Probleme mit der deutschen Sprache (Haug 2008). Neben einem niedrigen sozialen Status sind Menschen mit Migrationshintergrund auch Diskriminierung und Stigmatisierung ausgesetzt, die sich ebenfalls negativ auf Gesundheit auswirken können (Salentin 2008; Schunck et al. 2015; Williams und Mohammed 2013). Die Datenlage zur Gesundheit von Menschen mit Migrationshintergrund ist in Deutschland insgesamt als unzureichend zu bewerten. Das liegt daran, dass viele amtliche Statistiken, Routinedaten und Surveys oft nur eine Unterscheidung zwischen deutschen und ausländischen Staatsangehörigen erlauben (Razum et al. 2008). Angaben, die eine Identifikation von Deutschen mit Migrationshintergrund ermöglichen würden, wie der Geburtsort der Eltern, fehlen hingegen (Schenk et al. 2006; Brzoska et al. 2012b). Alles in allem deuten die verfügbaren Daten bei Menschen mit Migrationshintergrund aber auf eine im Vergleich zu Menschen ohne Migrationshintergrund höhere Krankheitslast hin, was sich in zahlreichen gesundheitlichen Indikatoren widerspiegelt. Menschen mit Migrationshintergrund schätzen ihre Ge-

Die Gesundheit von Menschen mit Migrationshintergrund aus. . .

323

sundheit beispielsweise im Durchschnitt schlechter als Menschen ohne Migrationshintergrund ein (Razum et al. 2008). Darüber hinaus weisen sie eine höhere Prävalenz bestimmter chronischer Erkrankungen wie Diabetes mellitus Typ 2, Herz-KreislaufErkrankungen, chronischer Schmerzen und psychischer Erkrankungen auf, die zudem in jüngeren Altersjahren als bei Menschen der Mehrheitsbevölkerung auftreten (Razum et al. 2008; Icks et al. 2011; Bermejo et al. 2010; Schouler-Ocak et al. 2015). Ausländische Staatsangehörige erleiden im Vergleich zu Deutschen darüber hinaus häufiger Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten und weisen höhere Arbeitsunfähigkeitszeiten sowie Erwerbsminderungsquoten auf (Brzoska et al. 2010a; Grofmeyer 2010).

4

Nutzung und Ergebnisse von Versorgungsangeboten am Beispiel der medizinischen Rehabilitation

85-94

75-84

65-74

55-64

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35-44

25-34

15-24

5-14

20 18 16 14 12 10 8 6 4 2 0