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German Pages 419 [422] Year 2022
Der Historiker Daniel Meis studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Rechtswissenschaft. Seit 2020 lehrt er in Düsseldorf, nun auch in Bonn und Stuttgart. Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Biografik, Mediengeschichte, Nationalsozialismus, Regionalgeschichte und Unternehmensgeschichte.
www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-45032-9
Daniel Meis Hamburgs „Führer“ Karl Kaufmann (1900–1969)
Karl Kaufmann baute von frühester Zeit an die NSDAP mit auf, war ein Gesicht des linken Parteiflügels und ab 1925 Mitglied der zweiten Reihe der NS-Führung. In Hamburg etablierte er eine Herrschaft, die mit Vorläufern aus dem Saarland Muster für annektierte Gebiete und die geplante Neuordnung des Reiches wurde. Nach dem Krieg erst schwer erkrankt, dann als Unternehmer aktiv und teils bis heute von gutem Rufe in Hamburg war Kaufmann ein ungewöhnlicher NS-Politiker. Der Historiker Daniel Meis geht all diesem in der ersten umfassenden Biografie nach. Deutlich wird, dass Kaufmann anders war, als es lange schien.
Daniel Meis
Hamburgs „Führer“ Karl Kaufmann (1900–1969) Ein Leben zwischen Macht, Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Krankheit
Daniel Meis
Hamburgs „Führer“ Karl Kaufmann (1900–1969)
Daniel Meis
Hamburgs „Führer“ Karl Kaufmann (1900–1969) Ein Leben zwischen Macht, Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Krankheit
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
wbg Academic ist ein Imprint der wbg © 2022 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Umschlag und eBook: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH Umschlagabbildungen: Bild 1, 2, 4, 5 Riksarkivet (National Archives of Norway) from Oslo, Norway, No restrictions, Bild 3 Bundesarchiv Bild 146-1973-079-70 (Unknown), CC-BY-SA 3.0 Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-45032-9 Elektronisch ist folgende Ausgabe erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-45033-6
Inhalt
Vorwort .........................................................................................................................................7 Einleitung: Warum eine Karl-Kaufmann-Biografie? ...................................................9
Aufbauarbeit im Rheinland ..................................................................................................... 25
1. Herkunft ................................................................................................................................ 26 1.1. Kindheit, Jugend und gescheiterter Einstieg ins Berufsleben (1900– 1925) ...................................................................................................................................... 26
1.2. Erster Weltkrieg (1917–1918/1919)............................................................... 36 1.3. Kaufmann und die Freikorps (1920–1921) ................................................... 39
2. Aufstieg in und mit der Partei ...................................................................................... 45 2.1. Aufbau der NSDAP im Rheinland (1920–1925) ........................................... 45
2.2. Gauleiter des Gaues Rheinland-Nord (1925–1926) ................................... 60 2.3. Aufwertung zum Gauleiter des „Groß-Gaues“ Ruhr (1926–1928) ....... 86
2.4. Schriftleiter der „Nationalsozialistischen Briefe“ (1926–1928) ........ 100
2.5. Mitglied des Landtages des Freistaates Preußen (1928–1930) ......... 106
Weg zum und Wirken als „absolutistischer“ „Führer Hamburgs“ ....................... 120
3. Weiterer Aufstieg im „roten Hamburg“ ................................................................. 121 3.1. Professionalisierung bis zur Perfektion: Gauleiter des Gaues Hamburg (1929–1945) .................................................................................................................... 121
3.2. (Kein gewöhnliches) Mitglied des Reichstages: Schriftführer des Präsidiums (1930–1945) ............................................................................................ 151
4. „Machtergreifung“, Machtausbau, Machtsicherung und Machterhalt ...... 168
4.1. Reichsstatthalter für Hamburg (1933–1938/1945) ............................... 168 4.2. Leiter der Landesregierung, der Staats- und der Gemeindeverwaltung (1936–1945) .................................................................................................................... 207 5
4.3. Reichsverteidigungskommissar im Wehrkreis X/für den Gau Hamburg (1939–1945) .................................................................................................................... 258 4.4. Reichskommissar für die Seeschifffahrt: Wettlauf gegen das Material (1942–1945) .................................................................................................................... 278
Ein neues Leben inklusive alter Kontinuitäten ........................................................... 290
5. Kriegsende und frühe Nachkriegszeit.................................................................... 291 5.1. Kampflose Übergabe Hamburgs (1945)....................................................... 291 5.2. Zeit der Internierung und Zeit des körperlichen Verfalls (1945–1948) ................................................................................................................................................ 310
5.3. Ermittlungs- und Gerichtsverfahren.............................................................. 319
6. Politisches „Nachbeben“: „Bruderschaft“ und „Naumann-Kreis“ (1945– 1953) ........................................................................................................................................ 337
7. Berufliche und finanzielle Situation nach 1945 ................................................. 348 7.1. Vermögen und Versorgungsansprüche nach dem Zweiten Weltkrieg ................................................................................................................................................ 348
7.2. Kaufmann wird Geschäftsmann (1959–1969) .......................................... 363
8. Tod und Legendenbildung. Die Rezeption von Hamburgs „Führer“ nach 1945/1969 ............................................................................................................................. 370
Fazit: Was erbringt eine Karl-Kaufmann-Biografie? ................................................. 381
Abkürzungen.............................................................................................................................. 385
Quellen- und Literaturverzeichnis.................................................................................... 388 Personenregister ...................................................................................................................... 416
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Vorwort Das vorliegende Buch entspricht bis auf leichte Überarbeitungen meiner von 2020 bis 2022 angefertigten Dissertation, die ich im Wintersemester 2021/2022 an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn eingereicht habe. Das Rigorosum fand im Sommersemester 2022 statt. Ausdrücklich danken möchte ich zur Anfertigung der Dissertation mehreren Kreisen. Danken möchte ich eigentlich wie immer, ob gesagt oder ungesagt, jedem einzelnen Leser. Auch möchte ich allen Personen danken, die irgendwie ihren Anteil an dieser Arbeit gehabt haben. Sodann sei dem Verlag für die gute Zusammenarbeit gedankt. Zudem sei der Friedrich-Ebert-Stiftung dafür gedankt, dass sie mich mit einem Promotionsstipendium während der Anfertigung der Dissertation zeitweise gefördert hat. Natürlich sei den vielen Bibliotheken und Archiven für ihre offenen Tore (auch und gerade in Zeiten von Corona) und ihre wunderbare Arbeit gedankt. Zu nennen sind hier das Staatsarchiv Hamburg, das Bundesarchiv in Berlin wie in Koblenz, das Landesarchiv des Landes Nordrhein-Westfalen in Duisburg, die National Archives in London, das Archiv des Norddeutschen Rundfunks und die Kommunalarchive in Hennef (Sieg), Krefeld, dem Rhein-Sieg-Kreis und Wuppertal. Allen Archivaren, und ganz besonders denen, die im gegenseitigen Kontakt immer mal wieder einen zusätzlichen Hinweis geben konnten, sollen sich angesprochen und mit öffentlich geäußertem Dank versehen fühlen. Hierbei ist auch ganz speziell dem Verwahrer von Karl Kaufmanns Nachlass zu danken, der als Kaufmann-Enkel mir gegenüber vollkommen aufgeschlossen war und mir großzügigerweise als erstem Historiker überhaupt umfassenden Einblick in seinen erstaunlichen Fundus gewährt hat. Dank sei auch den Zeitzeugen ausgesprochen, die bereit waren mit mir zu sprechen und Auskunft zu erteilen. Ganz spezieller Dank gebührt den Personen, die einzelne Kapitel oder sogar die gesamte Arbeit Probegelesen haben. Sie haben mich durch ihre Rückmeldungen, Meinungen und Kritiken dahin gebracht, dass die Arbeit nun so geworden ist, wie sie geworden ist. Danke deshalb an Christian, Eileen, Frank, Julia und Leo. Ein ganz besonderer Dank geht an die vielen wichtigen akademischen Lehrer, die während der Anfertigung der Dissertation wichtige Funktionen besaßen. Herrn Prof. Dr. Martin Lücke von der Freien Universität Berlin möchte ich dafür danken, dass er beim Start der Promotion inhaltlich wie organisatorisch geholfen hat. Herrn apl. Prof. Dr. Mike Schmeitzner von der Technischen Universität Dresden soll mein Dank dafür ausgesprochen sein, dass er von Beginn bis zum Ende ein kritischer Begleiter war, mit dem besonders der Austausch über die uns beide seit Jahren und hoffentlich noch für Jahre begleitende Gauleiterthematik sehr anregend ausfiel. Herrn Prof Dr. Friedrich Kießling von der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn möchte ich für seine Bereitschaft danken, das Zweitgutachten der Dissertation zu übernehmen. Mir ist bewusst, dass dies nicht selbstverständlich war. Herrn Prof. Dr. Christoph Nonn von der Heinrich-Heine-
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Universität Düsseldorf soll hier mein Dank erbracht werden, dass er mir die Möglichkeit gab, direkt nach meinem Masterstudium in die Lehre einzusteigen und wertvolle Erfahrungen zu sammeln. Er war ein Ansprechpartner, der immer auch auf ungewöhnliche Fragen ungewöhnliche und zielführende Antworten parat hatte. Ich freue mich, weiterhin an seinem Lehrstuhl wirken zu dürfen. Zuletzt möchte ich Herrn Prof. Dr. Joachim Scholtyseck von der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn meinen Dank aussprechen. Schon als ich für das Masterstudium nach Bonn ging, war er ein einzigartiger Lehrer. Für den langjährigen Austausch und die Begleitung, für seine Kritik und seine Ideen, für das lange Abschleifen von Ecken und Kanten danke ich ihm als meinem Doktorvater nachdrücklich.
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Einleitung: Warum eine Karl-Kaufmann-Biografie?
Abb. 1: Karl Kaufmann als Reichskommissar für die Seeschifffahrt auf „Nordlandfahrt“ im Sommer 1942 1. „So kennen wir die Männer, die Adolf Hitler als Sachwalter und nimmermüde Trommler für seine Idee und seine Bewegung an die Spitze der deutschen Gaue gesetzt hat: Immer rastlos und immer tätig. Keinen Augenblick dem eigenen Ich lebend, immer bestrebt, dem Führer noch bessere Gefolgsmänner und den ihnen anvertrauten Volksgenossen noch bessere Ratgeber und Helfer zu sein. Und so kennen wir den Gauleiter Hamburgs: Immer mit Arbeit überhäuft, immer mit schweren Problemen beschäftigt, und immer wieder doch plötzlich im Volke stehend, unter Arbeitern und Angestellten, unter den Männern und Frauen des großen Heeres der Werktätigen.“ 2
Die vorliegende Arbeit nimmt diesen „Sachwalter“, „Trommler“, „Ratgeber“ und „Helfer“ namens Karl Kaufmann in den Blick. Das Ziel ist dabei, eine hinsichtlich der einzelnen Lebensabschnitte möglichst zusammenhängende und zeitlich ausgewogene Darstellung dieser vielfältigen politischen Biografie zwischen 1900 und 1969 zu erreichen. Das heißt, es werden alle Lebensstationen und wichtigen Aspekte berücksichtigt, verglichen, 1 Mit dem Reichskommissar nach Nordnorwegen und Finnland. 10. bis 27. Juli 1942 [o. A.] [o. H.] [o. O.]. Es handelt sich dabei um ein Fotoalbum von Mitarbeitern. Das Bild entspricht unter den unnummerierten Seiten der 26. Fotografie. 2 Vathje, H. H.: „Sozialistische Pflicht. Sätze und Gedanken aus einer Gauleiter-Rede“, HT, 9 (1938), H. 350.
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kontextualisiert und analysiert. Hierdurch soll eine ausgeglichene und alle wesentlichen Fragen zu seinem Werdegang beantwortende Biografie präsentiert werden. Es stellt sich die Frage, wer dieser Karl Kaufmann war. Kaufmann wurde 1900 in Krefeld geboren und wuchs in Elberfeld auf. Er versuchte den Einstieg ins Berufsleben, schloss aber weder seine landwirtschaftliche noch seine kaufmännische Ausbildung ab. Wie die meisten seiner Generation lockte der Erste Weltkrieg auch ihn zu den Schlachtfeldern. Die Erfüllung der Sehnsucht nach dem Kampf blieb ihm aber durch mehrere Zufälle verwehrt. Wenig später holte er dies in den Freikorps der frühen Weimarer Republik nach. In der Atmosphäre der frühen 1920er Jahre geriet er schließlich mit den Ideen des Sozialismus und des Nationalismus in Berührung. Nun erst begann eine Kontinuität in seinem Leben. Er wirkte am Aufbau rechtsradikaler Organisationen mit, gründete und führte solche, lernte weitere Gleichgesinnte kennen, kam mit Adolf Hitlers Nationalsozialismus in Kontakt, sah in dieser Ideologie die Antwort auf die Frage des menschlichen Zusammenlebens und widmete sich der Propagierung und Weiterentwicklung dieser politischen Idee. Schon 1925 wurde er Gauleiter, Hitlers „Führer der Provinz“ im nördlichen Rheinland, später dann im Ruhrgebiet. Das Amt des Gauleiters war der Ausgangspunkt für alles weitere, was Kaufmann (und auch andere Amtsinhaber) an Ämtern und Kompetenzen erreichen sollte. Unabhängig davon, welche Funktionen er nach 1925 noch erlangte: Grundlage war immer das Amt des Gauleiters. Der politische Aufstieg Kaufmanns gelang jedenfalls weiter. Er verdiente als hauptamtlicher Parteifunktionär erstmals konstant Geld, baute die Partei weiter auf und aus, zog in den Preußischen Landtag ein, führte eine Parteizeitschrift und fiel dann im Strudel der Machtpolitik 1928 sehr tief hinab. Sein Fall war so verheerend, dass seine Karriere schon fast beendet schien, nachdem sie doch gerade erst begonnen hatte. Doch Kaufmann verschrieb sich weiter der Idee. Er hielt an ihr fest, setzte alles auf eine Karte, und bekam 1929 mit dem Gau Hamburg die Chance, sich zu bewähren. Während er im Reichstag neben Hermann Göring im Reichstagspräsidium saß und dabei half, in einer der bekanntesten Szenen der deutschen Parlamentsgeschichte öffentlich den Reichskanzler Franz von Papen zu demütigen, strukturierte er „seinen“ Gau Hamburg völlig neu. Er leistete Basisarbeit im wortwörtlichsten Sinne, schuf eine effiziente Organisation und errang infolge der „Machtergreifung“ auf Reichsebene 1933 die absolute Macht im „roten Hamburg“. Durch die „Gleichschaltung“ der Länder wurde er der Landesregierung Hamburgs als Reichsstatthalter vorgesetzt, konnte überall reinreden, und redete auch überall rein, wenn er es für nötig hielt. Kaufmann gestaltete innerhalb seiner Möglichkeiten. Aber trotzdem hatte er noch nicht das, was er wollte. 1936 übernahm er in Personalunion selbst die Führung der Landesregierung, wurde „Führer der Landesregierung“ und stieß entscheidend die territoriale Reform Hamburgs zu Groß-Hamburg an. Damit leitete er zugleich die Etablierung des einzigen Reichsgaues im „Altreich“ ein, und verschmolz in seiner Person und seinen Ämtern Partei und Staat zu einem neuartigen Gebilde, das später in den eroberten Gebieten als Vorlage behandelt wurde. Innenpolitisch konsolidierte er nicht nur seine Macht, sondern baute ohne sich darüber im Klaren zu sein ein einzigartiges Herrschaftssystem auf. Er hatte Einblick in alles, was auf der oberen und mittleren Ebene in
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Hamburg geschah, wusste über alles Bescheid, hatte das letzte Wort, wenn es strittig wurde, und konnte sich in der Regel delegierend darauf verlassen, dass seine Gefolgsleute das „Tagesgeschäft“ in seinem Sinne leiteten. Der Aufstieg ging weiter. Neben der absoluten zivilen Macht in Hamburg kam mit Kriegsbeginn 1939 auch das Reichsverteidigungskommissariat für Hamburg hinzu. Es war keine militärische Funktion, aber die zivile Reichsverteidigung hatte zwangsläufig militärische Züge. 1942 folgte der letzte große Karrierehöhepunkt. Als Reichskommissar für die Seeschifffahrt sollte er den immer weiter wachsenden zivilen Schiffsbedarf für zivile und militärische Zwecke decken. Dadurch erhielt er umfassende Einblicke in die Rüstung und sah die mit ihr verbundenen Probleme direkt vor sich. Mitte 1943 zerstörte dann die „Operation Gomorrha“ den Großteil Hamburgs. Der bis dahin einzigartige Angriff in mehreren Bombenwellen auf einige Tage verteilt führte bei Kaufmann zur Einsicht, dass der Krieg nicht mehr gewonnen werden konnte. Bestenfalls könnte es einen erträglichen Waffenstillstand geben, doch sicher war auch das nicht. Kaufmann hoffte das Beste, und zog sich zugleich zurück. Er arbeitete weiter, doch wurde er fortan eher zum Verwalter seiner Ämter, als Gestalter seiner Politik zu bleiben. 1945 kam die Front nahe an Hamburg heran, einen Kampf um „seine“ Stadt wollte er auf keinen Fall, nur mussten die Möglichkeiten zur kampflosen Übergabe geschaffen oder genutzt werden. Schließlich wurde es letzteres. Für Kaufmanns Ruf im Hamburg der Nachkriegszeit war dies ein großer Erfolg. Er selbst aber wurde interniert. Die Bestrafung für seine führende Rolle im Hamburg der Jahre bis 1945 blieb ihm nur durch eine Tragödie erspart. Auf dem Weg zu einer Vernehmung in Nürnberg kam der Wagen von der Straße ab, und Kaufmanns Gesundheit war für immer geschädigt. Die nächsten Jahre waren geprägt von Krankheit und mehrfachen „Beinahe-Todesfällen“. Als es langsam zumindest etwas besser wurde, entstanden bereits neue Probleme für ihn. Die „Entnazifizierung“ und die damit verbundene Vermögenssperre erzielten kaum Fortschritte. Und sein Versuch, im „Naumann-Kreis“ dem Nationalsozialismus wieder zur Macht zu verhelfen, scheiterte an seiner Krankheit wie an den Briten, die 1953 die Verschwörung offenlegten. Ab 1959 gelang es ihm schließlich, beruflich wieder Fuß zu fassen. Als Teilhaber zweier Unternehmen hatte er wenig Arbeit, dafür aber im florierenden Immobiliengeschäft der 1950er und 1960er Jahre beträchtlichen Erfolg. 1969 verstarb er schließlich an den Langzeitfolgen seiner Krankheiten. Zentrales Charakteristikum an Kaufmanns politischem Werdegang war sein Gauleiteramt. Was dieses für das Herrschaftsgefüge des Nationalsozialismus bedeutete, war lange Zeit „nur“ grob und oberflächlich klar, zumal sich der Blick der Forschung eher auf die Reichs- statt die Regionalebene konzentrierte. Das war nur logisch, da die Reichsspitze im allgemeinen Bewusstsein gemäß ihrem eigenen Anspruch als die entschei-
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dende Ebene verankert war. Neben einigen wenigen zeitgenössischen Werken wie Theodor Heuss’ 3 und Konrad Heidens Hitler-Biografien 4, Hermann Rauschnings Ideengeschichte des Nationalsozialismus 5 oder Ernst Fraenkels 6 und Franz Neumanns Strukturgeschichten 7, die allesamt naheliegenderweise kaum Zugriff auf interne Quellen hatten, aber trotzdem erste wichtige Anhaltspunkte gaben, befasste sich die frühe Forschung nach dem Ende des „Dritten Reiches“ 1945 vor allem mit Fragen der Kontinuität des „Dritten Reiches“ in der deutschen Geschichte und der Ursachen des Untergangs des Reiches. Besondere Bedeutung kam dabei den Untersuchungen Friedrich Meineckes 8 und Ludwig Dehios 9 zu. Frühe Analysen der Strukturgeschichte des Nationalsozialismus wurden dahingehend eher weniger beachtet, wobei es immer wieder herausstechende Ausnahmen wie die SS-Studie Eugen Kogons gab 10; ähnliches gilt für die HitlerForschung wie das Werk Hugh Trevor-Ropers zeigte 11. Es überwogen mit der ab den 1950er Jahren besser zugänglichen Quellen immer mehr die Ereignisgeschichte, die zwangsläufig mit der Strukturgeschichte zusammenfiel, was besonders anschaulich und für die Erforschung des Nationalsozialismus wichtig an Karl Dietrich Brachers klassischen Studie zur „Machtergreifung“ 12 betrachtet werden kann. In den 1970er und 1980er Jahren erhielt die Erforschung zum sogenannten „Phänomen Hitler“ einen erheblichen Schub, von Joachim Fest 13 über Werner Maser 14 bis hin zu John Toland 15 und vielen weiteren. Hieran entzündete sich die durchgehend laufende Erforschung der Strukturgeschichte nachhaltig; und konkret was die lokal- sowie regionalgeschichtliche Forschung anbelangt, eröffneten sich nach Klärung vieler Grundfragen der Reichsebene
3 Heuss, Theodor: Hitlers Weg. Eine historisch-politische Studie über den Nationalsozialismus, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1932. 4 Das Werk erschien in zwei Bänden: Heiden, Konrad: Adolf Hitler. Eine Biographie, Bd. 1. Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit, Zürich 1935 sowie Heiden, Konrad: Adolf Hitler. Eine Biographie, Bd. 2. Ein Mann gegen Europa, Zürich 1937. 5 Rauschning, Hermann: Die Revolution des Nihilismus, Zürich 1938. 6 Fraenkel, Ernst: The Dual State. A Contribution to the Theory of Dictatorship, New York/London/Toronto 1941. 7 Das Werk wurde erstmals 1942 veröffentlicht und dann 1944 um die bis dahin hinzugekommenen Geschehnisse ergänzt: Neumann, Franz: Behemoth. The structure and practice of national socialism, London 1942 und Neumann, Franz: Behemoth. The structure and practice of national socialism 1933–1944, London 1944. 8 Meinecke, Friedrich: Die deutsche Katastrophe, Wiesbaden 1946. 9 Dehio, Ludwig: Gleichgewicht oder Hegemonie, Krefeld 1948. 10 Kogon, Eugen: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, Frankfurt am Main 1946. 11 Trevor-Roper, Hugh: The last Days of Hitler, London 1947. 12 Bracher, Karl Dietrich: Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland 1933/34, Bd. 1. Stufen der Machtergreifung, Köln/Opladen 1960. 13 Fest, Joachim: Hitler. Eine Biographie, Frankfurt am Main/Berlin 1976. 14 Maser, Werner: Adolf Hitler. Legende – Mythos – Wirklichkeit, Köln 1971. 15 Toland, John: Adolf Hitler, St. Garden 1976.
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und der Funktionsweise des Nationalsozialismus völlig neue Möglichkeiten, regionale Ansätze zu verfolgen. Im Wesentlichen verhält es sich bis heute so. Hinsichtlich Struktur- wie Personengeschichte werden große Fortschritte erzielt, die deutlich aufzeigen, dass beide Richtungen die jeweils andere nicht verdrängen oder weniger gültig erscheinen lassen. Erst durch beide zusammen kann ein Blick auf das „Große Ganze“ geworfen werden. Gerade an der Erforschung der NS-Mittelinstanz ist das immer wieder deutlich geworden. Auf breiter Front erfolgte die Erforschung der Mittelinstanz aber erst ab den 1990er Jahren. Bis dahin gab es immer wieder herausragende Werke, die zur Bearbeitung des Themas nach wie vor herangezogen werden müssen. Aber hinsichtlich der Hauptströmungen in der NS-Forschung standen diese mitunter relativ isoliert für sich. Das klassische Standardwerk bildet dabei Peter Hüttenbergers Studie zu den Gauleitern 16. 1969 erschienen, wurden bereits zentrale Probleme der späteren Gauleiterforschung deutlich, ebenso wie die Vermischung von Personengeschichte in Form des jeweiligen Gauleiters und der Strukturgeschichte in Gestalt der beherrschten Gaue, Länder und Provinzen. Hüttenberger arbeitete aber auch heraus, wie heterogen die Gauleiter waren. Es war zuvor in groben Umrissen bekannt gewesen, aber erst Hüttenbergers Pionierstudie machte die Unterschiede zwischen den einzelnen Gauleitern deutlich: Es gab auf beiden Parteiflügeln Gauleiter, es existierten Gauleiter mit immer größerer Ämter- und Kompetenzanhäufung gegenüber Gauleitern, die davor zurückblieben, und die Machtfülle innerhalb des Gaues bis hinunter in die Kommunen wurde nunmehr wesentlich sichtbarer. Aber auch wenn diese Studie immer wieder von der NS-Forschung gelobt wurde und mit Verweis auf sie gefordert wurde, den Gauleitern weiter nachzugehen, blieben andere Themenfelder im Fokus. Erst mit dem erläuterten Zuwachs an lokal- und regionalgeschichtlichen Studien, der durch Klärung von Grundfragen der Reichsebene möglich wurde, erhielten auch die Gauleiter wieder verstärkte Beachtung. Seit Mitte der 1990er Jahre hält dies bis heute weiter an. Zentrale Bedeutungen kamen wie bei unerforschten Themen häufig ersten tastenden Tagungen und daraus folgenden Sammelbänden zu, darunter einem Sammelband von Horst Möller, Andreas Wirsching und Walter Ziegler aus dem Jahre 1996, der sich einer regionalen Sichtweise des Nationalsozialismus näherte 17 . Ob Gaue, Länder oder Kommunen, wurden die Gauleiter dabei immer als Fixpunkt der Herrschaft identifiziert. Ähnlich sah es mit einem Sammelband von Michael Ruck und Karl Heinrich Pohl von 2003 aus, der sich explizit den Regionen im Nationalsozialismus als solchen widmete 18. Die Verquickung von Personen- und Strukturgeschichte ließ Monokratie und Polykratie in Form des Verhältnisses von Hitler als zentraler Gewalt und der polykrati-
16 Hüttenberger, Peter: Die Gauleiter. Studie zum Wandel des Machtgefüges in der NSDAP, Stuttgart 1969. 17 Möller, Horst/Wirsching, Andreas/Ziegler, Walter (Hrsg.): Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, München 1996. 18 Ruck, Michael/Pohl, Karl Heinrich (Hrsg.): Regionen im Nationalsozialismus, Bielefeld 2003.
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schen Ordnung unter ihm, die aber auf ihn zulief, wurde gerade bei den Gauleitern und Gauen immer sichtbarer. Einen besonders wichtigen Sammelband lieferten hierzu 2007 Jürgen John, Horst Möller und Thomas Schaarschmidt 19 . Die genannten Werke einte, dass sie immer (erfolgreich) versuchten, einen allgemeinen Zugang zur Mittelinstanz zu finden, dabei aber stets die Besonderheiten und Individualitäten der einzelnen Gauleiter berücksichtigten. Andere äußerst wichtige Sammelbände zur Mittelinstanz konnten durch die Setzung eines bestimmten regionalen Schwerpunkts sogar noch weitergehen. Durch deren Ergebnisse wurde ebenfalls immer deutlicher und immer mehr bestätigt, wie heterogen die Verhältnisse von Gau, Region und Land jeweils liegen konnten. Die mitteldeutschen Gaue erhielten beispielsweise 2007 in einem Sammelband von Michael Richter, Thomas Schaarschmidt und Mike Schmeitzner zur dortigen systemübergreifenden Regionalgeschichte eine nähere Betrachtung 20 . Die Reichsgaue in Österreich wurden durch den 2000 erschienenen Sammelband von Emmerich Tálos, Ernst Hanisch und Wolfgang Neugebauer detailliert in den Blick genommen 21 . Baden und Württemberg erfuhren durch den 1997 erstmals vorgelegten Sammelband von Michael Kißener und Joachim Scholtyseck mehr Aufmerksamkeit seitens der Forschung 22. Neben den Sammelbänden und etlichen Aufsätzen vorrangig zu Einzelaspekten waren es aber vor allem monografische Gauleiterbiografien, die das Gesamtbild der Mittelinstanz aufgrund der besonderen Verquickung von Monokratie und Polykratie weiter erhellten. Inzwischen vergeht kaum noch ein Jahr, ohne dass eine monografische Gauleiterbiografie erschiene, von Aufsätzen gar zu schweigen. Dies hält weiter an. Die letzten zehn Jahre sollen das einmal inklusive Neuauflagen ganz plastisch verdeutlichen: 2012 erschien bereits die vierte Auflage der äußerst wichtigen Biografie Steffen Raßloffs über Fritz Sauckel 23. Sauckel war Gauleiter von Thüringen, schon in der Weimarer Republik Ministerpräsident und avancierte im „Dritten Reich“ gar zur bestimmenden Persönlichkeit für den Nachschub an Zwangsarbeitern. Ebenfalls 2012 wurde die fünfte Auflage von Ralf Georg Reuths klassischer Biografie über Joseph Goebbels veröffentlicht, hinzu trat Peter Longerichs Goebbels-Biografie 24 . Goebbels hatte als Ausgangspunkt seiner Karriere wie auch Kaufmann das Gauleiteramt inne; in seinem Falle des Gaues Berlin.
19 John, Jürgen/Möller, Horst/Schaarschmidt, Thomas (Hrsg.): Die NS-Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen Führerstaat, München 2007. 20 Richter, Michael/Schaarschmidt, Thomas/Schmeitzner, Mike (Hrsg.): Länder, Gaue und Bezirke. Mitteldeutschland im 20. Jahrhundert, Halle 2007. 21 Tálos, Emmerich/Hanisch, Ernst/Neugebauer, Wolfgang (Hrsg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000. 22 Kißener, Michael/Scholtyseck, Joachim (Hrsg.): Die Führer der Provinz: NS-Biographien aus Baden und Württemberg, Konstanz 1997. 23 Raßloff, Steffen: Fritz Sauckel. Hitlers „Muster-Gauleiter“ und Sklavenhalter, 4. Aufl., Erfurt 2012. 24 Reuth, Ralf Georg: Goebbels. Eine Biographie, 5. Aufl., München 2012 und Longerich, Peter: GoebbelS. Biographie, München 2012.
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Bekanntheit erlangte er zeitlebens zuerst 1926 als Gauleiter, dann 1930 Reichsleiter für Propaganda und schließlich 1933 als Reichsminister für Propaganda. Bei den GoebbelsBiografien liegt zwar ein leichter Schwerpunkt beider Studien. Doch war das machtstrategische Fundament sein Gau, zumal er alle drei Ämter bis zuletzt ausfüllte. 2013 erfuhr dann die Biografie Lothar Wettsteins über Josef Bürckel eine neue Auflage 25. Bürckel war ursprünglich Gauleiter der Pfalz, wurde dann auch Gauleiter des wieder dem Reich zugehörigen Saarlandes, und formte in einer der beiden Vorwegnahmen der Reichsreform im „Altreich“ daraus die Saarpfalz. Nach der inoffiziellen Annexion Lothringens erweiterte er den Gau zur Westmark. Wie viele andere Gauleiter wurde auch Bürckel von Hitler für „Spezialaufgaben“ herangezogen. Beispielsweise war er zuständig für die verwaltungstechnische Angliederung Österreichs und hierbei in Personalunion auch zeitweilig Gauleiter von Wien. 2014 dann erhielt Julius Streicher eine monografische Betrachtung durch Daniel Roos 26. „Roter Faden“ war dabei Streichers Leben und Karriere, aber trotz Gauleiteramt in Franken besaß die Arbeit einen Fokus auf Streichers antisemitische Zeitung „Der Stürmer“. Durch die enorme Verbreitung der Zeitung kann darüber diskutiert werden, was für Streicher einen größeren Einflussfaktor bedeutete: Gauleitung oder Zeitung. Politischen Werdegang als Gauleiter und Zeitungseigentümer betrachtete 2015 die Neuauflage einer anderen Studie durch Franco Ruault 27, die noch im gleichen Jahr vom gleichen Autor eine Neuauflage einer anderen Studie über Streicher zur Seite gestellt erhielt 28, im dem es losgelöst von Streichers politisch-gesellschaftlichen Funktionen um seinen rabiaten Antisemitismus ging. Wie nicht zuletzt diese Studie zeigte, können bei Gauleitern auch andere Themenfelder im Fokus stehen, wobei gerade Streicher das beste Beispiel dafür ist; wurde er doch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht für sein drei Jahre vor Kriegsende verlorenes Gauleiteramt bestraft, sondern für seine Weiterverbreitung des Antisemitismus. 2017 dann erschien die Monografie Ralf Salomons über Mecklenburgs Gauleiter Friedrich Hildebrandt 29. Die Studie war in ihrer Struktur relativ technisch aufgebaut und arbeitete sich an Hildebrandts politischem Werdegang entlang durch sein Leben wie den Nationalsozialismus als Ideologie und Herrschaftssystem. Gerade die Verbindung von Partei und Staat wurde dabei auf regionaler Ebene in Form der Personen der Gauleiter noch einmal sehr deutlich. Die Zusammenlegungen beider mecklenburgischen Länder unter Hildebrandt war dabei lediglich das auffälligste Merkmal, aber keinesfalls das wichtigste. 2019 wurde wieder eine Biografie Sauckels veröffentlicht, nun durch Swant25 Wettstein, Lothar: Josef Bürckel. Gauleiter, Reichsstatthalter, Krisenmanager Adolf Hitlers, 3. Aufl., Norderstedt 2013. 26 Roos, Daniel: Julius Streicher und „Der Stürmer“ 1923–1945, Paderborn 2014. 27 Ruault, Franco: „Neuschöpfer des deutschen Volkes“. Julius Streicher im Kampf gegen „Rassenschande“, Neuaufl., Frankfurt am Main 2015. 28 Ruault, Franco: Tödliche Maskeraden. Julius Streicher und die „Lösung der Judenfrage“, Neuaufl., Frankfurt am Main 2015. 29 Salomon, Ralf: Friedrich Hildebrandt. NSDAP-Gauleiter und Reichsstatthalter in Mecklenburg. Sozialrevolutionär und Kriegsverbrecher, Bremen 2017.
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je Greve 30; dieses Mal lag der Fokus auf Sauckels Wirken als Beschaffer der Zwangsarbeiter. Ausgehend von seinen politischen Funktionen als Gauleiter, Ministerpräsident und Reichsstatthalter tauchte die Studie tief in die strukturellen Institutionenproblematiken von Sauckels „Spezialaufgabe“ der Herbeiführung von Zwangsarbeitern ein. Ohne seine Kontakte, Kompetenzen und Machtgrundlagen als Gauleiter wäre er hierin nicht so weit gekommen, wie es ihm im „Kompetenzgerangel“ des „Dritten Reiches“ dann beim „zivilen Arbeitseinsatz“ gelang. Hiernach erschien 2020 eine kurze Monografie vom Verfasser vorliegender Arbeit über Josef Grohé 31, der Gauleiter von Köln-Aachen war. Diese zeigte auf, wie mächtig selbst die vermeintlich schwächeren Gauleiter waren, die über kein höheres Staatsamt verfügten. Innerhalb des eigenen Gaues war ein höheres Staatsamt nicht notwendig, es konnte relativ umproblematisch als Gauleiter an sich geherrscht werden. Ein Jahr später erschien 2021 die Übersetzung einer polnischsprachigen Gauleiterbiografie über Fritz Bracht von Mirosław Węcki 32. Bracht war Gauleiter von Oberschlesien und ähnlich wie Grohé lange für (verglichen mit anderen Gauleitern) wenig einflussreich gehalten worden. Erst der biografische Blick zeigte auf, wie vielfältig seine eigene Politik und seine Herrschaft tatsächlich aussahen. Noch im gleichen Jahr erschien dann die bislang letzte Gauleiterbiografie. Bei Goebbels’ prominenter Rolle in der Rezeption des Nationalsozialismus ist es wenig überraschend, dass dies wieder eine neuerliche, überarbeitete Auflage Reuths’ Werkes war 33. Nunmehr im Jahre 2022 ist noch keine Gauleiterbiografie erschienen, was mit der vorliegenen Kaufmann-Biografie geändert werden soll. Dem Verfasser sind allerdings vier weitere Gauleiterbiografien bekannt, an denen zur Zeit gearbeitet wird: Zwei über Grohé, eine über Martin Mutschmann, den Gauleiter von Sachsen, dessen letzte Biografie von 2011 stammt, sowie eine über Carl Röver, den Gauleiter von Weser-Ems, der bislang überhaupt keine monografische Biografie erfahren hat. In den letzten zehn Jahren erschienen also zwölf Biografien über Gauleiter. Selbst wenn hierbei die Streicher-Studie mit dem Schwerpunkt des Antisemitismus sowie die drei Goebbels-Biografien, in denen ein Schwerpunkt auf der Reichs- statt Gaupolitik lag, außer Acht gelassen würde, wären das immer noch acht Biografien. Hinzu treten die vorliegene Biografie und die vier aktuell in Arbeit befindlichen. Gerade die Beschäftigung der Forschung mit den Biografien der einzelnen Gauleiter haben die Berechtigung und Notwendigkeit solcher Gauleiterbiografien noch einmal deutlich aufgezeigt. Durch die Beschäftigung mit einer der elementaren tragenden Säulen des Nationalsozialismus, also den Gauleitern, wurden und werden mit jeder weiteren Biografie neue Erkenntisse über den Nationalsozialismus erbracht. Hierdurch vertieft sich das Wissen über den Aufbau und die Funktionsweise der NSDAP bis 1933 und des „Dritten Reiches“ nach 1933
30 Greve, Swantje: Das „System Sauckel“. Der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz und die Arbeitskräftepolitik in der besetzten Ukraine 1942–1945, Göttingen 2019. 31 Meis, Daniel: Josef Grohé (1902–1987) – ein politisches Leben?, 2. Aufl., Berlin 2020. 32 Węcki, Mirosław: Fritz Bracht – Gauleiter von Oberschlesien. Biographie, Paderborn 2021. 33 Reuth, Ralf Georg: Goebbels. Eine Biographie, Neuaufl., München 2021.
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immer weiter. Das wäre eigentlich ein Thema der Strukturgeschichte. Doch in einem totalitären System mit „Führerprinzip“ vermischen sich Struktur- und Personengeschichte zwangsläufig ab einem gewissen Punkt. Durch die Erforschung der Gauleiter ist des Weiteren aber auch immer klarer geworden, wie genau die NS-Mittelinstanz funktioniert hat. Gerade weil jeder Gauleiter seinem Gau den individuellen „Stempel aufdrücken“ konnte, sind also weitere Gauleiterbiografien nötig. Zudem haben die Gauleiterbiografien auch regionalhistorischen Charakter, da die Gauleiter schließlich regionalpolitisch agierten. Zugleich wird aus ihnen auch erkenntlich, wie die Lokalebene mitunter arbeitete, da die Gauleiter hierauf mal mehr, mal weniger Einfluss besaßen. Nicht zuletzt erhellte sich auch das Bild in Richtung Reichsebene. Denn einerseits war das Korps der Gauleiter ein Reservoir für „Spezialaufträge“ seitens Hitler (wie etwa vom Reichskommissar für die Seeschifffahrt, über den Beauftragten für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Reich, dem Lieferanten für den „zivilen Arbeitseinsatz“, bis hin zu den Reichskommissaren in besetzten Ländern sowie vielen weiteren) und andererseits bestand immer ein institutionelles Spannungsverhältnis zwischen den Gauhauptstädten und der Parteizentrale München wie der Reichshauptstadt Berlin. Nicht zuletzt ist an den Biografien der besondere Einfluss des Einzelnen erkennbar. Warum reagierte jemand auf die Ideologie des Nationalsozialismus? Welche Programmpunkte sprachen ihn an, welche versuchte er umzusetzen, welche lehnte er ab? War er eher ein Repräsentant seines Gaues oder eher ein Repräsentant Münchens und/oder Berlins? Wie und wozu nutzte er die ihm verliehene Macht? Wo stieß er an Grenzen, wo konnte er sie erweitern oder umgehen? Und wo stand der Einzelne bei alledem im Vergleich mit den anderen Gauleitern? Ohne den detataillierten Erläuterungen nachfolgender Kapitel vorzugreifen, lässt sich durch diese wenige Punkten schon anreißen, wo sich die Gauleiter im Herrschaftsgefüge des Nationalsozialismus verorten lassen. Erstens waren sie die dominierenden Persönlichkeiten der Mittelinstanz. Zweitens waren sie nur Hitler verantwortlich und von ihm abhängig. Drittens ließ Hitler ihnen fast völlig freie Hand in ihrer Amtsführung. Viertens verfügten sie direkt wie indirekt nach unten und zur Seite hin bis auf wenige Ausnahmen wie der SS über sämtliche Machtmittel der Partei und ab 1933 auch des Staats. Fünftens erlangten die Gauleiter ausgehend von diesem ihrem zentralen Amt immer weitere Funktionen, die sie in ihre persönlichen Personalunionen einreihten. Waren die Gauleiter also tatsächlich die „Führer der Provinz“ 34? Grundsätzlich ja, wobei zwischen einzelnen Gauleitern differenziert werden muss. Im einzelnen Fall bedeutet das konkret, den jeweils untersuchten Amtsinhaber auch tatsächlich im seinem Amt zu betrachten. Es muss also einerseits eine stete Vergegenwärtigung mit den Strukturen von Partei und Staat stattfinden. Die Gauleiter besaßen hierbei eine Schlüsselposition. Sie unterstanden lediglich Hitler als „Führer“, verfügten innerhalb ihres Gaues faktisch über keine Einflussgrenzen als jene, die Hitler im Einzelfalls aufstellte, konnten auf direktem Wege durch eigene Personalunionen oder Gesetze
34 Zur Charakterisierung der Gauleiter als „Führer der Provinz“ und weiterer Umschreibungen durch die Forschung vgl. vor allem die Ausführungen im Unterkapitel 2.2.
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zugunsten des Parteieinflusses oder auch indirekt durch Personalpolitik oder nötigendenfalls Druck wie Drohungen in der Mittelinstanz von Gau, Land und Region herrschen. Nach unten hin unterstanden ihnen die Kreisleiter im gleichen Verhältnis wie die Gauleiter Hitler unterstanden. Damit war eine Machtbasis errichtet, die bis zum Ende des Reiches intakt blieb. Einen Amtsinhaber in seinem Amt zu untersuchen bedeutet andererseits aber auch, nicht nur die allgemeinen Strukturen und ihre regionalen, individuellen Spezifika zu erforschen, sondern auch die Auswirkungen von Persönlichkeiten, also dem Faktor des Einzelnen. Anhand der Strukturen und der klassischen Politikfelder des Nationalsozialismus sowie regionaler Spezialfelder ist also zu ermitteln, wo, wann, wie, und vor allem warum der untersuchte Amtsinhaber anders handelte als andere. Hierbei kommt der persönliche Einfluss zum tragen. Es kann beispielsweise die These gewagt werden, dass die bayerischen Gauleiter, die eher dem rechten, nationalistischen Parteiflügel angehörten, andere Ziele und Politiken im Umgang mit regionalen Unternehmen verfolgten, als die rheinischen Gauleiter, die eher dem linken, sozialistischen Parteiflügel angehörten. Solange aber die einzelnen Gauleiter nicht detaillierter erforscht sind, bleibt das eine These. Sie macht aber die Notwendigkeit von Biografien deutlich. Es ist hinsichtlich der Frage nach Biografien ranghoher Nationalsozialisten angemerkt worden, dass der Nationalsozialismus als Ideologie und als System zugleich auf strukturellen wie individuellen Faktoren beruhte, und nur deshalb existieren konnte, weil seine Individuen ihn nun einmal „immer aufs Neue vollzogen“ 35 . Hierin liegt zugleich eine zentrale Besonderheit der Werdegänge von Führungspersönlichkeiten totalitärer Ideologien. Denn völlig losgelöst von den jahrzehntelangen Debatten zwischen Struktur- und Personengeschichte, deren Symbiose (je nach Fragestellung) wohl am sinnvollsten und ergiebigsten ist, haben solche Führungspersonen schon aufgrund der ihnen verliehenen Macht als Individuen einen gänzlich anderen Einfluss als etwa ein Politiker in einem demokratischen, monarchischen oder „nur“ autoritären Staat. Eine Biografie zu verfassen, also eine Person zu erforschen, bedeutet in jedem Fall, vor allem aber in einem politischen Spektrum wie dem Nationalsozialismus, auch die wesentlichen Kontexte mit Blick auf die Biografie zu untersuchen, und die Person in ihren Bezugsrahmen zu stellen 36. Nur aus der Symbiose von Struktur und Person kann sich ein klareres Bild des Ganzen ergeben, während ein „Gegeneinander“ bestimmte Aspekte
35 Etzemüller, Thomas: Die Form „Biographie“ als Modus der Geschichtsschreibung. Überlegungen zum Thema Biographie und Nationalsozialismus, in: Ruck, Michael/Pohl, Karl Heinrich (Hrsg.): Regionen im Nationalsozialismus, Bielefeld 2003, S. 71–90, hier S. 90. 36 Denn wie es treffend formuliert worden ist: „Das biographische Projekt erzwingt […] von sich aus eine Darlegung der politischen Geschichte“. Vgl. LeGoff, Jacques: Wie schreibt man eine Biographie?, in: Braudel, Fernand/Febvre, Lucien/Momigliano, Arnaldo/Davis, Natalie Zemon/ Ginzburg, Carlo/LeGoff, Jacques/Koselleck, Reinhart (Hrsg.): Der Historiker als Menschenfresser. Über den Beruf des Geschichtsschreibers, [West-]Berlin 1990, S. 103–112, hier S. 107. Allgemein zur Entwicklung der Erforschung von Biografien vgl. Hähner, Olaf: Historische Biographik. Die Entwicklung einer geschichtswissenschaftlichen Darstellungsform von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1999.
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im Dunkeln verschwinden lässt. Erst durch ein solches „Zusammengehen“ kann ersichtlich werden, welche Möglichkeiten ein Individuum besaß, welche es nutzte, warum es sie nutzte und inwiefern dies den Zeitlauf der Geschichte beeinflusste. Wie aber konkret die Lebensbeschreibung einer Person auszusehen hat, wie sie verfasst werden kann, und worin Probleme bestehen, ist in allen akademischen Disziplinen, die sich mit Biografik befassen, bislang eine schwierige Fragestellung. Theoretisch-methodische Annäherungen gibt es in allen Disziplinen; ihre Unterscheidung besteht primär in fachwissenschaftlichen Einzelfragen. Einen interdisziplinären Zugang zu versuchen, ist nicht zum Scheitern verurteilt, hat aber zwangsläufig mit den Problemen umzugehen, die sämtliche Einzeldisziplinen bereits haben. Zentral bleibt aber immer, eine Lebensbeschreibung einer Person zu liefern, und dabei einen personenfokussierten Blick einzunehmen 37. Wer eine Biografie schreibt, schreibt also über das Leben einer Person. Was insofern relativ einfach klingen könnte, erweist sich beim näheren Hinsehen als das eigentlich Komplizierte an Biografien. Denn eine Person existiert nicht für sich oder vor sich hin. Sie ist geprägt von der Umwelt, und sie selbst prägt ihre Umwelt mit. Sie ist in einer bestimmten Zeit sozialisiert worden, und sozialisiert andere Personen um sich herum mit. Würde lediglich eine Person isoliert betrachtet, so wäre sie, ihr Handeln, Denken und Fühlen nur wenig verständlich. Erst durch Einbettung in die sie umgebende Welt wird die Person besser nachvollziehbar. Konkret für die Erforschung eines NS-Gauleiters bedeutet dies, dass er nur in seinen Kontexten verstanden werden kann. Warum ein Gauleiter als junger Mann vom Nationalsozialismus angezogen wurde erklärt sich beispielsweise häufig durch die Faktoren der Niederlage im Ersten Weltkrieg, der verrohten politischen Kultur der Weimarer Republik und der Vielseitigkeit des Nationalsozialismus als Ideologie. Zugleich zeigen sich durch die Kontextualisierung einer Person aber auch Möglichkeiten und Grenzen dieser auf. Ein Gauleiter, der später Reichsstatthalter und vielleicht sogar Landesregierungschef wurde, hatte enorme Möglichkeiten, seine politischen Vorstellungen umzusetzen. Die jeweilige Landesplanung und der Städtebau sind hierfür ein anschauliches Beispiel unter den Gauleitern. Genauso gab es aber auch Momente, in denen Amtsvollmachten und Gewicht der Persönlichkeit nicht mehr weitergelangten. Hinsichtlich der Judenverfolgung beispielsweise konnte innerhalb eines Gaues zwar verschärfend oder mildernd eingegriffen werden, aber im Ganzen war sie viel zu sehr Anliegen der Reichsspitze, als dass ein einzelner Gauleiter sie vollends hätte umkehren können. Solcherlei Fakten können aber erst ermittelt werden, wenn eine Person auch kontextualisiert und dabei auch 37 Wichtige Werke der diversen Forschungsdisziplinen, die sich Biografien widmen, sind: Fetz, Bernhard (Hrsg.): Die Biographie – Zur Grundlegung ihrer Theorie, Berlin/New York 2008; Klein, Christian (Hrsg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart 2009; Blamberger, Günter/Görner, Rüdiger/Robanus, Adrian: Biography – A Play? Poetologische Experimente mit einer Gattung ohne Poetik, Paderborn 2020. Eine Zusammenstellung zentraler Aufsätze zur Biografik und deren Diskussion liefern Fetz, Bernhard/Hemecker, Wilhelm (Hrsg.): Theorie der Biographie. Grundlagentexte und Kommentar, Berlin/New York 2011.
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mit dem Verhalten anderer, vergleichbarer Personen abgeglichen wird. Dann jedoch kann das Ergebnis sehr erhellend für die Erforschung von Person wie Struktur sein. Biografien haben also nicht nur ihre Berechtigung, sondern stellen sogar eine Notwendigkeit dar. Umso mehr gilt dies für Gauleiterbiografien. Nun ist aber zu fragen, warum das auch speziell für eine Karl-Kaufmann-Biografie gelten soll. Kaufmann war als Gauleiter nicht „nur“ ein Teil der „NS-Führung“. Er ragte selbst unter den Gauleitern heraus. Er war einer der wenigen Reichsstatthalter, einer der noch wenigeren Landesregierungschefs und einer der noch viel wenigeren Amtsinhaber, die zugleich eine überregionale Funktion innehatten. Bei Kaufmann war dies das Reichskommissariat für die Seeschifffahrt. Kann die Geschichte Hamburgs im „Dritten Reich“ vollends verstanden werden, wenn die entscheidende Persönlichkeit nicht erforscht ist? Kann die NS-Mittelinstanz korrekt eingeordnet werden, wenn ihre einzelnen Persönlichkeiten, vor allem die führenden, nicht näher bekannt sind? Kann das Herrschaftssystem des Nationalsozialismus nachvollzogen werden, wenn seine Stützen nicht verstanden werden? Dies alles ist in Ansätzen möglich, aber mehr eben nicht. Die kampflose Übergabe Hamburgs 1945 beispielsweise ist nur aus Kaufmanns Werdegang, seinem Denken und seinem Blick auf den Krieg erklärbar. Oberflächlich betrachtet könnte angenommen werden, er habe nur irgendwie „seine Haut retten“ wollen. Bei näherem Hinblick aber wird offensichtlich: Kaufmann wollte Schaden von Hamburg abwenden. Die Erforschung Kaufmanns hat eine besondere Berechtigung, wenn der Nationalsozialismus, sein Werden und seine Ideen, das Herrschaftssystem des „Dritten Reiches“, das Geschehen in Hamburg, das Herkommen der Mitglieder der „NS-Führung“ und ihr Leben in Internierung und Freiheit nach 1945 begriffen werden soll. Zu dieser Untersuchung Kaufmanns gliedert sich die vorliegende Arbeit wie folgt. Der Hauptteil besteht grundsätzlich aus drei Teilen, deren einzelne Kapitel sich an den wichtigsten Stationen von Kaufmanns Werdegangs orientieren. Der erste Teil befasst sich vor allem mit der Aufbauarbeit im Rheinland. Einzelne Kapitel und Unterkapitel widmen sich dabei seiner Herkunft, dem Ersten Weltkrieg, den Freikorps, seinem Engagement für und in völkischen Organisationen, dem Aufbau der Partei im Rheinland, seinem ersten und zweiten Gauleiteramt im Rheinland und im Ruhrgebiet, seiner Leitung einer Parteizeitschrift sowie seinem Landtagsmandat. Damit ist der Zeitraum bis 1928/1930 abgedeckt. Der zweite Teil handelt vom Weg zum und dem Wirken als „absolutistischer“ „Führer Hamburgs“. Hierbei konzentrieren sich Kapitel und Unterkapitel auf die Leitung des Gaues Hamburg, auf das Reichstagsmandat, das Reichsstatthalteramt, die Führung der Landesregierung, die Etablierung des Reichsgaues, das Reichsverteidigungskommissariat sowie das Reichskommissariat für die Seeschifffahrt. Dadurch ist Kaufmanns Leben bis zur Kapitulation 1945 dargestellt. Der dritte Teil wiederum dreht sich um Kaufmanns neues Leben inklusive alter Kontinuitäten. Dessen Kapitel und Unterkapitel analysieren die legendenumwobene kampflose Übergabe Hamburgs, die krankheitsgeprägte Internierungszeit, die Ermittlungsverfahren, das politische „Nachbeben“ in Form neuen politischen Engagements, den beruflichen Neustart sowie die Rezeption nach 1945/1969. Damit ist Kaufmanns weiteres
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Leben vom Ende seiner Herrschaft in Hamburg 1945 bis zu seinem unerwarteten Tod 1969 detailliert ausgeleuchtet und auch seine Rezeption berücksichtigt. Ein Fazit rundet die Arbeit schließlich ab. Die Quellenlage für eine Kaufmann-Biografie ist zwiespältig. Bestimmte Abschnitte und Aspekte sind vergleichsweise gut nachzuverfolgen, während andere Bereiche eine akzeptable, aber keineswegs detaillierte Betrachtung ermöglichen. Zwei Beispiele sollen das verdeutlichen: Für sein Agieren als Gauleiter in Hamburg zwischen 1929 und 1945 haben sich nur sehr wenige interne Quellen erhalten, da das Gauarchiv bei einem Bombenangriff zu großen Teilen zerstört wurde. Für sein gleichzeitiges Handeln als Reichsstatthalter liegen aber enorm viele interne Quellen vor, da die staatlichen Unterlagen von den Luftangriffen ungewöhnlich gut verschont blieben. Grundsätzlich lassen sich die Quellen für Kaufmanns Leben in drei Kategorien einteilen. Eine erste Kategorie sind die Archivmaterialen. Sie bilden die umfassendsten Quellen über Kaufmann. Der Großteil der Archivalien findet sich im Staatsarchiv Hamburg (StaHH), einige auch im Bundesarchiv Berlin (BA B), viele im Bundesarchiv Koblenz (BA K) und die einen oder anderen auch in der Abteilung Rheinland des Landesarchivs des Landes Nordrhein-Westfalen (LAV NRW R). Einzelne verwendete Archivalien finden sich auch in den National Archives London (NARA), im Stadtarchiv Hennef (Sieg) (StaH), im Stadtarchiv Krefeld (Sta K), dem Stadtarchiv Wuppertal (StaW), dem Archiv des Norddeutschen Rundfunks (NDR Retro) sowie dem Ullstein-Bildarchiv (Ullstein Bild). Unter die Archivquellen sind auch mehrere Tausend Seiten an Memoirenentwürfen 38, Briefen, Notizen und weiteren Unterlagen aus dem Persönlichen Nachlass Karl Kaufmanns (PNKK) zu subsumieren, in die der Verfasser dankenswerter Weise von Kaufmanns Enkel und heutigen Verwahrer des Nachlasses, Jörg Boekholt, Einblick erhalten hat. Eine zweite Kategorie an Quellen bilden die zeitgenössischen Druckerzeugnisse. Hierunter fallen unter anderem die Presse, amtliche Veröffentlichungen und Propagandamittel. Eine dritte und damit die letzte Kategorie an Quellen sind Memoiren von Zeitgenossen sowie publizierte Quellen wie etwa Tagebucheditionen. Selbstverständlich ist für jede Quellenart eine eigene Herangehensweise gefragt. Vernehmungsprotokolle aus Ermittlungsverfahren könnten beschönigend sein, Tagebucheintragungen sehr subjektiv, Memoiren verklärend, Presseartikel hatten ein bestimmtes Zielpublikum und Akten waren stets Teil eines übergeordneten Geschäftsganges. Wenn dies alles mitbedacht 38 Es ist angedacht, die Manuskriptentwürfe als zusammenhängendes Werk in Form einer Quellenedition zu publizieren. Die Entwürfe stammen, soweit im Einzelnen abschätzbar, aus dem Zeitraum von 1945 bis 1953. Anfang 1953 lag das Manuskript in ausgearbeiteter Form vor, umfasste etwa 280 Seiten und besaß einen Anhang mit amtlichen wie privaten Dokumenten. In Rahmen der Beschlagnahme von Unterlagen durch die britischen Besatzer wurde auch das Manuskript konfisziert und blieb danach verschollen. Dies lässt sich verschiedenen Schreiben in PNKK Ordner Nr. 8 und Ordner Nr. 17 entnehmen. Bemühungen, die letztgültige Version in britischen Archiven auszumachen, blieben bis zum Zeitpunkt des Verfassens der vorliegenden Arbeit ergebnislos.
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wird und die Quellen entsprechend kritisch analysiert werden, kann sich dennoch ein stimmiges Gesamtbild ergeben. Wo in der vorliegenden Arbeit Quellen einander widersprechen oder sonstwie unglaubwürdig oder zumindest zweifelhaft erscheinen, wird hierauf eigens hingewiesen. Der Forschungsstand zu Kaufmann ist sehr schmal. Wie bei den meisten Vertretern der zweiten und dritten Führungsreihe des Nationalsozialismus liegen zwar etliche Kurzbiografien vor 39. Das allgemeine Problem bei solchen handbuch- oder steckbriefartigen Kurzbiografien ist aber, dass sie erstens sehr wenig Platz zur Verfügung haben 39 Chronologisch erschienen in Reihenfolge der Erstveröffentlichung: Schwarz, Max: M.d.R. Biographisches Handbuch der Reichstage, Hannover 1965, S. 687; Stockhorst, Erich: Fünftausend Köpfe. Wer war was im Dritten Reich, Velbert 1967, S. 227–228; Hüttenberger: Wandel, S. 215; Kaufmann, Karl, in: Munzinger-Archiv. Internationales Biographisches Archiv, 8/1976 [o. A.]; Wistrich, Robert: Who’s who in Nazi Germany, London 1982, S. 167–168; Skrentny, Werner: Was aus Hamburgs Nazis wurde, in: Bruhns, Maike/Krause, Thomas/McElligott, Anthony/Preuschoft, Claudia/Schildt, Axel/Skrentny, Werner (Hrsg.): „Hier war doch alles nicht so schlimm“. Wie die Nazis in Hamburg den Alltag eroberten, Hamburg 1984, S. 138–145, hier S. 139f.; Höffkes, Karl: Hitlers politische Generale. Die Gauleiter des Dritten ReicheS. Ein biographisches Nachschlagewerk, Tübingen 1986, S. 170–175; Kaufmann, Karl, in: Benz, Wolfgang/ Graml, Hermann (Hrsg.): Biographisches Handbuch zur Weimarer Republik, München 1988, S. 60f. [o. A.]; Vierhaus, Rudolf: Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 5, München 1997, S. 473; Weiß, Hermann: Karl Kaufmann, in: Weiß, Hermann (Hrsg.): Biographisches Lexikon zum Dritten Reich, Frankfurt am Main 1998, S. 257–258; Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt am Main 2003, S. 301; Lilla, Joachim: Statisten in Uniform. Die Mitglieder des Reichstags 1933–1945. Ein biographisches Handbuch. Unter Einbeziehung der völkischen und nationalsozialistischen Reichstagsabgeordneten ab 1924, Düsseldorf 2004, S. 516–517; Bajohr, Frank: Die Zustimmungsdiktatur. Grundzüge nationalsozialistischer Herrschaft in Hamburg, in: Schmid, Josef (Hrsg.): Hamburg im „Dritten Reich“, Göttingen 2005, S. 69–121, hier S. 70–72; Stubbe da Luz, Helmut: Kaufmann, Karl, in: Kopitzsch, Franklin/Britzke, Dirk (Hrsg.): Hamburgische Biografie. Personenlexikon, Bd. 3, Göttingen 2006, S. 195–197; Karl Kaufmann, 1900–1969. Hamburgs „Führer“, in: In den Tod geschickt. Die Deportationen von Juden, Roma und Sinti aus Hamburg 1940 bis 1945, Berlin 2009. Herausgegeben von Apel Linde, CD-Rom-Beilage [o. A.]; März, Markus: Nationale Sozialisten in der NSDAP. Strukturen, Ideologie, Publizistik und Biographien des nationalsozialistischen Straßer-Kreises von der AG Nordwest bis zum Kampf-Verlag 1925–1930, Graz 2010, S. 420–423 (die hervorragendste der Kurzbiografien); Zweng, Christian: Das Führerkorps der NSDAP, Bd. 2. Die Reichsund Gauleiter der NSDAP, Osnabrück 2016, S. 195–196; Miller, Michael D./Schulz, Andreas: Gauleiter: The Regional Leaders of the Nazi Party and Their Deputies, 1925–1945, Vol. 2. Georg Joel to Dr. Bernhard Rust, S. 52–75 [o. O.] (die Seitenanzahl täuscht über den Umfang. Der Abschnitt ist eine klassische Kurzbiografie in Stichpunkten, wenngleich diese umfangreicher und detaillierter sind als der Durchschnitt. Die Seitenanzahl beruht wie bei allen Biografien der beiden Autoren darauf, dass fast drei Viertel aus Fotos und leicht zugänglichen Quellenauszügen wie den publizierten Protokollen der „Nürnberger Prozesse“ besteht); Von Hindenburg, Barbara: Biographisches Handbuch der Abgeordneten des Preußischen Landtags. Verfassungsgebende Preußische Landesversammlung und Preußischer Landtag 1919–1933, Bd. 2, Frankfurt am Main/Bern/ Wien 2017, S. 1156–1159; Karl Kaufmann, in: Hannoverscher Bahnhof, https:/
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(überwiegend sogar nur ein bis zwei Seiten), zweitens in ihren Kernaussagen fast immer identisch und drittens mangels breiterer Forschungslage häufig zu erheblichen Teilen falsch oder missverständlich sind. Dies soll im Übrigen keineswegs die Pionierarbeit von Kurzbiografien schlecht reden oder gar in Frage stellen. Mangels detaillierterer Forschung leisten sie elementare Grundlagenarbeit, die zumeist die wichtigsten Eckpunkte zutreffend wiedergeben und erste Orientierungen bieten können. Biografisch betrachtet existieren neben der Vielzahl an Kurzbiografien nur drei Aufsätze mit Kaufmann als Mittelpunkt. Der erste Aufsatz stammt von Frank Bajohr aus dem Jahre 1995 und beschäftigte sich auf 28 (beziehungsweise 32) Seiten grob mit Kaufmanns Werdegang von der Jugend bis zum Alter. Notgedrungen blieben hierbei viele Lücken und „weiße Flecken“ übrig, darunter etwa solch wichtige Stationen wie das Amt des Reichskommissars für die Seeschifffahrt, durch das Kaufmann tiefen Einblick in die Rüstungsproblematik und die schwierigen Siegesaussichten des Reiches erhielt. Da es zu Kaufmann vorher nur die üblichen Kurzbiografien gab und er gelegentlich in anderen Zusammenhängen wie der „Machtergreifung“ in Hamburg erwähnt wurde, leistete Bajohr aber eine große Pionierarbeit. In vielerlei Hinsicht wagte er auch bereits einige vorsichtige Interpretationen bei noch unklaren Thematiken. Zwar erwies sich vieles davon im Nachhinein als nicht ganz zutreffend, aber für die bis 1995 geleistete oder eben nicht geleistete Forschung über Kaufmann kommt dem Aufsatz eine sehr wichtige Orientierungsfunktion zu 40. Insofern ist dieser erste auch der wichtigste der drei Aufsätze. Der zweite Aufsatz stammt von Manfred Asendorf, erschien kurz danach im gleichen Jahr und befasste sich auf elf Seiten fast ausschließlich mit Kaufmanns Agieren gegen Ende des Krieges, vor allem mit der kampflosen Übergabe Hamburgs. Der Aufsatz versuchte ein in Forschung und Gesellschaft hoch umstrittenes Thema näher zu beleuchten und brachte dabei auch die eine oder andere neue Perspektive in die Debatte ein. Eine umfassende Beantwortung der Fragestellung, die sich der Aufsatz gestellt hatte, ist aber erst möglich, wenn Kaufmanns Werdegang besser verstanden wird. Nur aus Kaufmanns eigenem Herkommen lässt sich seine Rolle während der Kapitulation korrekt einordnen. Dies konnte der Autor des Aufsatzes deshalb mangels Forschung zu Kaufmann noch nicht völlig erbringen, sodass er sein Verhalten so interpretierte, wie Kaufmann „auf den ersten Blick“ erscheinen könnte: Als karrierfixierten Nationalsozialisten, der im April
/hannoverscher-bahnhof. hamburg.de/taeter-profiteure/2103336/karl-kaufmann/, zuletzt abgerufen am 12. November 2021 [o. A.]. 40 Der Aufsatz ist in einem Textteil inklusive Fußnoten in drei Publikationsorganen erschienen. Chronologisch sind dies Bajohr, Frank: Gauleiter in Hamburg. Zur Person und Tätigkeit Karl Kaufmanns (1900–1969), in: VfZ, 34/1995, S. 267–295, Bajohr, Frank: Hamburgs „Führer“. Zur Person und Tätigkeit des Hamburger NSDAP-Gauleiters Karl Kaufmann (1900–1969), in: Bajohr, Frank/Szodrynski, Joachim (Hrsg.): Hamburg in der NS-Zeit. Ergebnisse neuerer Forschungen, Hamburg 1995, S. 59–91, und Bajohr, Frank: Hamburgs „Führer“. Zur Person und Tätigkeit des Hamburger NSDAP-Gauleiters Karl Kaufmann (1900–1969), in: Erdmann, Heinrich (Hrsg.): Hamburg im Dritten Reich. Sieben Beiträge, Hamburg 1998, S. 119–147. Die unterschiedliche Aufsatzlänge erklärt sich durch unterschiedliche Formate und physische Größen der drei Publikationsorgane, nicht jedoch durch zusätzliche Unterkapitel oder ähnliches.
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und Mai 1945 nur Ruf und Leben retten wollte 41. Hinter Kaufmanns Handeln steckte aber viel mehr. Dies wird erst klar, wenn seine Biografie detailliert untersucht wird. Dann erst kann Kaufmanns Rolle in den letzten Wochen des „Dritten Reiches“ korrekt eingeordnet und verstanden werden. Der dritte Aufsatz wurde von Jürgen Sielemann verfasst, stammt aus dem Jahre 1997 und widmete sich auf 29 Seiten Kaufmanns Rolle in der „Reichspogromnacht“ im November 1938. Äußerst akribisch ging der Autor des Aufsatzes dabei der Frage nach, ob Kaufmann, wie er es selbst darstellte, nichts von der Vorbereitung des Pogroms wusste, ob in Hamburg alles vergleichsweise ruhig geblieben und ob er persönlich gegen Ansätze der Eskalation vorgegangen sei. Der Aufsatz kam zu dem Ergebnis, dass nichts davon den nachprüfbaren Fakten entsprach 42. Wie zu sehen sein wird, kann dieses Fazit des Aufsatzes in der vorliegenden Arbeit nochmals bestätigt werden. Insgesamt ist die Forschungslage biografischer Sichtweisen auf Kaufmann mit nur drei Aufsätzen also sehr dürftig und ambivalent. Die vorliegende Arbeit stimmt einigen Eckpunkten des ersten Aufsatzes zu, ergänzt diese aber nicht nur, sondern will ein stimmiges Gesamtbild mit allen Eckpunkten von Kaufmanns Werdegang liefern. Die vorliegende Arbeit wendet sich klar gegen die Interpretation des zweiten Aufsatzes, da erst eine Gesamtperspektive auf Kaufmann sein Verhalten während der Kapitulation erklärbar macht. Isoliert betrachtet und aus sich heraus ist dies bei den komplizierten Verstrickungen der Endphase in Hamburg nicht möglich. Die vorliegende Arbeit stimmt dem dritten Aufsatz in allen Punkten zu und ergänzt diese hinsichtlich der Einordnung von Kaufmanns Verhalten in der „Reichspogromnacht“ in dessen Antisemitismus. Mit der vorliegenden Arbeit soll also das bislang ausstehende Werk über Kaufmanns gesamten Werdegang unter Würdigung aller wichtigen Aspekte vorgelegt werden.
41 Vgl. Asendorf, Manfred: Karl Kaufmann und Hamburgs langer Weg zur Kapitulation, in: Buck, Kurt (Hrsg.): Kriegsende und Befreiung, Bremen 1995, S. 12–23. 42 Vgl. Sielemann, Jürgen: Fragen und Antworten zur „Reichskristallnacht“ in Hamburg, in: Eckardt, Hans Wilhelm/Richter, Klaus (Hrsg.): Bewahren und Berichten. Festschrift für Hans-Dieter Loose zum 60. Geburtstag, Hamburg 1997, S. 473–501.
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Aufbauarbeit im Rheinland
Abb. 2: Porträtbild anlässlich eines Zeitungsartikels in einer bürgerlich-liberalen Zeitung während des noch laufenden „Machtergreifungsprozesses“ in Hamburg 1.
1 „Karl Kaufmann“, HFB, 71 (1933), H. 89.
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1. Herkunft
1.1. Kindheit, Jugend und gescheiterter Einstieg ins Berufsleben (1900–1925) „Ich bin am 10. Oktober 1900 in Krefeld geboren und zwar als Sohn des Fabrikanten Karl Kaufmann und dessen Ehefrau Friederike[,] geb. Peters.“ 1
Karl Otto Kurt Kaufmann wurde in Krefeld geboren 2. Doch bereits 1901 zog die Familie, zu der auch zwei Brüder und eine Schwester gehörten 3, nach Elberfeld. Sein gleichnamiger Vater baute dort ein Geschäft auf, über das Kaufmann in einem seiner Nachkriegsverfahren folgendes zu Protokoll gab: „[Mein Vater] gründete dort die Wäschefabrik Karl und Richard Kaufmann. Aus kleinen An-fängen heraus entwickelte sich das Unternehmen bis zur Inflation auf etwa 300–400 Arbeiter und Angestellte, von denen natürlich ein gewisser Prozentsatz, wie in dieser Sparte üblich, in Heimarbeit beschäftigt war.“ 4
Kaufmann nannte das Unternehmen seines Vaters an anderer Stelle auch „Wäschefabrik und Textilgroßhandlung“ 5 . Es sind hierzu keine Einwohner-, Gewerbemeldekartei- oder eigene Unterlagen der Firma erhalten geblieben. Weiteren Aufschluss über diese geben lediglich die zeitgenössischen Adressbücher und eine Zeugenaussage aus einem der Nachkriegsverfahren. Im Adressbuch von 1901 findet sich der Eintrag: „‚Carl & Richard Kaufmann‘, Inh.: Karl u. Rich. Kaufmann u. Heinr. Dörendahl, Kinderkleidchen, Schürzen und Jupons, Brausenwertherstraße 15“ 6. Offenbar war Kaufmanns Vater also nicht alleiniger Inhaber. Die Firma verlegte in den Jahren ihres Bestehens mehrfach ihren
1 StaHH 213-11, 72422, Protokoll vom 15. September 1948. 2 Vgl. StA K Standesamt Krefeld Mitte, Reg.-Nr. 2427/1900. 3 Vgl. StaHH 213-11, 72422, Protokoll vom 15. September 1948 4 StaHH 213-11, 72424, Protokoll vom 16. Juni 1950. 5 Vgl. BA K Z 42-IV/7172, Protokoll vom 19. März 1948 und StaHH 213-11, 72422, Protokoll vom 15. September 1948. 6 Adreß-Buch der Stadt Elberfeld für 1901 nebst neuestem Stadtplan von Elberfeld und einem Uebersichtsplan des Stadtkreises, das ganze Gemeindegebiet umfassend, ferner einer Uebersicht der einzelnen Etagen des neuen Rathauses und des Stadttheaters sowie einer im Statistischen Amte der Stadt hergestellten Statistik der Stadt Elberfeld, Elberfeld 1901 [o. H.], S. 465.
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Standort, teilweise nur um einige Häuser weiter in der gleichen Straße 7, teilweise aber auch mehrere Straßen weiter 8. Ähnliches gilt für die Firmenbeschreibung. Denn spätestens 1907 lautete die ursprünglich lange und sperrige Beschreibung nur noch „Konfektionsfabrik“ 9. Nun könnte aus den mehrfachen Umzügen der Firma geschlossen werden, dass aus ökonomischen Erwägungen gehandelt wurde. Kaufmann berichtete nach dem Krieg wie zitiert von 300 bis 400 Mitarbeitern. Dies würde bedeuten, dass die Firma sehr schnell gewachsen sei. Ein Zeuge gab in einem Nachkriegsverfahren Kaufmanns jedoch das Gegenteil zu Protokoll. Demnach besaß Kaufmanns Vater „eine kleine Wäsche-Macherei und beschäftigte etwa 15–20 Mädchen, womit er sich schlecht und recht durchs Leben schlug.“ 10 Mangels Quellen lassen sich diese widerstreitenden Angaben nicht überprüfen. Zumindest zur Aussage des Zeugen kann aber festgehalten werden, dass sie in vielen anderen Punkten wenig seriös war. Etwa behauptete der Zeuge (der angab, regelmäßig mit einem der engsten Mitarbeiter Kaufmanns in Hamburg trinken zu gehen und der über Kaufmanns Schwester, welche angeblich in ihn verliebt gewesen sein soll, einen Zugang zu dessen Familie hatte) auch, dass Kaufmann homosexuell gewesen sei und ein Verhältnis mit Hitler gehabt habe 11. Selbst wenn das wahr gewesen wäre, hätte es nie so lange vor so vielen Menschen geheim gehalten worden sein. Dies beeinträchtigt neben vielem weiteren jedenfalls die Glaubwürdigkeit der Aussage dieses Mannes. Auch die Staatsanwaltschaft, bei der diese Aussagen zu Protokoll gegeben wurde, hielt offenbar die Aussage Kaufmanns für seriöser 12. Der Vollständigkeit halber und aufgrund der Nichtüberprüfbarkeit muss dieser Widerspruch aber erwähnt werden. Auch die Familie scheint in den ersten Jahren innerhalb der wachsenden Industriestadt Elberfeld noch relativ oft umgezogen zu sein. Laut den Adressbüchern lebte sie 1901 in der Ronsdorferstraße 15 13, 1907 in der Hardtstraße 30 14 und um 1911 in der Aue 98 15. Auch dies könnte ein Indiz für schwierige finanzielle Verhältnisse sein, muss es aber nicht. Es könnte genauso ein Vergrößern des Wohnraumes und gewachsene finanzielle Mittel bedeuten, wenngleich die Familie nicht in die nobleren Stadtgegenden zog.
7 Dies legt beispielsweise der Eintrag von 1905 nahe, in der der Firmensitz mit den Hausnummern 19 und 21 angegeben wird. Vgl. Adreß-Buch der Stadt Elberfeld für 1905 mit dem alphabetischen Einwohnerverzeichnis der Stadt Cronenberg und Gemeinde Vohwinkel. Beilagen: Grundstücks-Angebote (8 seitig) und zwei Stadtpläne. XV. Jahrgang, Elberfeld 1905 [o. H.], S. 527. 8 Der Eintrag von 1911 nennt als Adresse die Hofaue 66. Vgl. Adreßbuch der Stadt Elberfeld. Beilagen: Grundstücksangebote und zwei Stadtpläne. XXI.-Ausgabe, Elberfeld 1911 [o. H.], S. 344. 9 Adreß-Buch der Stadt Elberfeld. Jubiläums-Ausgabe 25. 1882–1907. Beilagen: Grundstücksangebote und zwei Stadtpläne. XVII. Ausgabe, Elberfeld 1907 [o. H.], S. 364. 10 StaHH 213-11, 72423, Schreiben vom 10. Juni 1945. 11 Ebd. 12 StaHH 213-11, 72425, Anklageschrift vom 1. März 1951. 13 Adreß-Buch 1901, S. 466. 14 Adreß-Buch 1907, S. 364. 15 Adreßbuch 1911, S. 344.
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Über Kaufmanns Kindheit, Jugend und Schulzeit lässt sich mangels Quellen ebenfalls nur sehr wenig vorbringen. Die einzige Einschätzung zu seinem Wesen als Kind stammt von dem bereits zitierten Zeugen aus dem Nachkriegsverfahren, der sich dabei auf Kaufmanns Mutter und Schwester berief. Demnach sei dieser „von Kindheit an ein jähzorniger und sprunghaft veranlagter Mensch [gewesen], der, wenn er seinen Willen nicht bekam, daheim alles kurz und klein schlug. 16“ Die Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Zeugen wurden erwähnt. Allerdings passte die Wesensbeschreibung durchaus auf den Kaufmann der 1920er Jahre, über den wesentlich mehr Quellen vorliegen. Es ist also durchaus möglich, dass dieser bereits in seiner Kindheit ein unruhiger und aggressiver Mensch war. Wie für die meisten Kinder begann auch für Kaufmann seine Schulzeit mit sechs Jahren: „Ich selbst kam im Jahre 1906 in die Vorschule in Elberfeld. Nach Durchlauf von 3 Klassen kam ich in die Sexta des Humanistischen Gymnasiums, wurde dann aber in die Oberrealschule, Elberfeld umgeschult, die ich bis zum Jahre 1917 besuchte und mit dem Zeugnis der Primareife verliess.“ 17
Das Schulsystem Preußens im Kaiserreich hatte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend ausdifferenziert. Bis dahin hatten nebeneinander das Gymnasium mit seinem auf höhere Bildung ausgerichteten Unterricht und die Volksschulen für alles weitere bestanden. Nicht zuletzt aufgrund wachsenden Drucks aus Gesellschaft und Wirtschaft gliederte sich das Schulwesen zu Kaufmanns Schulzeit inzwischen in das weiter bestehende (neuhumanistische) Gymnasium, das Realgymnasium, die Oberrealschule, sowie die ebenfalls weiterhin existierende Volksschule. Zwar waren die drei ersteren ab der Jahrhundertwende rechtlich formal fast vollständig gleichgestellt. Inhaltlich orientierte sich das Gymnasium aber immer noch zu großen Teilen an der klassischen Bildung, und seine Absolventen studierten meistens an den Universitäten, während die der beiden neuen Institutionen eher an den technisch ausgerichteten Hochschulen studierten. Faktisch blieb auch die ursprüngliche ständische Gliederung aufgrund der sozioökonomischen Situation auch an den Schulen gewahrt 18. Dahingehend ist Kaufmanns schulischer Werdegang aus mehreren Gründen sehr ungewöhnlich. Erstaunlich ist etwa, dass Kaufmann mit der höchsten Schulform begonnen hatte, die zumeist zum Besuch einer Universität führte, dann jedoch um zwei Schulformen versetzt wurde. Dies könnte einerseits auf zumindest zeitweise relativ gute ökonomische Verhältnisse der Eltern hindeuten. Diese Frage war hinsichtlich der Firmengröße nicht nachhaltig zu klären, erhält hiermit aber ein weiteres Indiz für ein höheres Familieneinkommen. Andererseits könnte der Schulwechsel auch auf schlechte Leistungen des 16 StaHH 213-11, 72423, Schreiben vom 10. Juni 1945. 17 BA K Z 42-IV/7172, Protokoll vom 19. März 1948. 18 Vgl. eingehend zur gesamten Entwicklung von Friedeburg, Ludwig: Bildungsreform in Deutschland. Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch, Frankfurt am Main 1992, S. 158–200.
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Schülers hinweisen. Da keine Schulunterlagen erhalten sind, wäre aber alles weitere hierzu Spekulation. Ebenfalls ungewöhnlich an Kaufmanns Schulzeit ist deren Dauer. Der Besuch der Oberrealschule endete eigentlich nach der Stufe 13 mit der Hochschulreife. Kaufmann wurde 1906 eingeschult und verließ die Schule 1917, also in oder nach der Stufe 11. Dennoch gab er wie zitiert an, dass er die Primareife erlangt habe. Wie noch zu sehen sein wird, nahm Kaufmann nie ein Studium auf. Da er auch nicht zum Kriegsdienst eingezogen wurde oder sich noch während der Schulzeit freiwillig meldete, kann es sich auch nicht um ein sogenanntes „Notabitur“ handeln 19. Es könnte vermutet werden, dass er den Ermittlern der beiden Nachkriegsverfahren hinsichtlich seines Schulabschlusses nicht die Wahrheit erzählt hat 20. Offenbar prüften diese Kaufmanns Schulabschluss aber auch nicht nach, sondern schenkten ihm Glauben oder hielten die Angelegenheit hinsichtlich ihrer Ermittlungen für nebensächlich 21. Hinzu kommt, dass er in einem der Verfahren zweimal zu seiner Schulzeit und seinem Berufseinstieg Stellung bezog, und dabei einmal das Gymnasium unerwähnt ließ: „Ich selbst besuchte die Vorschule in Elberfeld und anschliessend die städtische Ober-Real-Schule am gleichen Ort.“ 22 Welche Version auch stimmen mag: Es ist davon auszugehen, dass er die Hochschulreife nicht erlangte. Bei kleineren Details ist aber nicht auszuschließen, dass er sich schlicht irrte. Schließlich war er zum Zeitpunkt seiner Vernehmungen schwer krank 23. Zugleich geben aber auch Quellen aus der Zeit des „Dritten Reiches“ nur noch weitere Verwirrung auf. Denn in diesen, wo Kaufmann auf die Frage nach seiner Schulkarriere bei diversen Formularen oft nur ein bis zwei Zeilen Platz für möglichst unmissverständliche Stichworte hatte, fanden sich ebenfalls keine einheitlichen Angaben 24. Noch konfuser wird die Frage nach seiner Schulzeit jedoch, wenn seine Auskünfte für amtliche Publikationen wie dem 19 Kaufmann meldete sich zwar für den Dienst in der Landwirtschaft, dieser hatte auf die Schulabschlüsse aber nicht die gleichen Konsequenzen wie der Dienst im Militär. Zur Arbeit der Schüler in der Landwirtschaft während des Krieges anhand einiger Fallbeispiele vgl. Kronenberg, Martin: Kampf der Schule an der „Heimatfront“ im Ersten Weltkrieg. Nagelungen, Hilfsdienste, Sammlungen und Feiern im Deutschen Reich, Hamburg 2014, S. 131–143. Zum „Notabitur“ im Ersten Weltkrieg vgl. Bölling, Rainer: Kleine Geschichte des Abitur, Paderborn 2010, S. 71–76. 20 In beiden Verfahren sprach er ausdrücklich von der Primareife, es kann sich also nicht um ein Versehen oder ein Missverständnis handeln, zumal das Protokoll stets noch einmal durchgegangen und von Kaufmann bestätigt werden musste. Vgl. BA K Z 42-IV/7172, Protokoll vom 19. März 1948, StaHH 213-11, 72422, Protokoll vom 15. September 1948 und StaHH 213-11, 72424, Protokoll vom 16. Juni 1950. 21 Beide Ermittlungsbehörden prüften den Schulabschluss nicht nach. In beiden Anklageschriften wurden seine Erstangaben einfach übernommen. Vgl. BA K Z 42-I/263, Anklageschrift vom 20. Juli 1948 und StaHH 213-11, 72425, Anklageschrift vom 1. März 1951. 22 StaHH 213-11, 72422, Protokoll vom 15. September 1948. 23 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen in den (Unter-)Kapiteln 5.2., 5.3. und 6. 24 Als ein Beispiel unter vielen sei seine SS-Stammrolle aus dem Jahre 1933 genannt. Vgl. BA B R 9361-III/534743, SS-Stammrollenauszug des [Karl Kaufmann].
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Reichstagshandbuch angeführt werden. In diesen hieß es hierzu: „Besuchte die Oberrealschule Süd in Elberfeld, die er mit dem Berechtigungszeugnis zum einjährig-freiwilligen Militärdienst verließ. […] 1917 […] Kriegsfreiwilliger“ 25. Würde dieser Version gefolgt, hätte Kaufmann mit 17 Jahren bereits als Einjährig-Freiwilliger 26 die Oberrealschule verlassen. Die genauen Umstände seines Schulabgangs bleiben also unklar. Kaufmanns Berufseinstieg war von großer Unstetigkeit geprägt. Auch hierzu liegen als Quellen überwiegend die Unterlagen der beiden Nachkriegsverfahren vor. Demnach waren die einzelnen Berufsstationen jeweils nur von kurzer Dauer, noch dazu waren sie zweimal von Militärzeiten unterbrochen. Den Übergang von Schule zu Berufsleben beschrieb er selbst folgendermaßen: „Ich verliess die Ober-Real-Schule mit der Primareife, um den Beruf eines Landwirts zu erlernen.“ 27 Während Kaufmann in der zitierten Aussage also Freiwilligkeit und Planmäßigkeit suggerierte, äußerte er sich in einer anderen Aussage im gleichen Ermittlungsverfahren grundlegend anders: „Da der Krieg [1917] schon im Gange war, und die Landwirtschaft dringend Hilfskräfte benötigte, bestand eine staatliche Anordnung, dass die höheren Schüler auch über die Zeit ihrer Ferien hinaus im ‚Landwirtschaftlichen Hilfsdienst‘ tätig waren. […] In dem Hilfsdienst bin ich wohl 3/4 Jahr tätig gewesen und meldete mich dann freiwillig zum Kriegsdienst.“ 28
Demnach sei also der staatlich angeordnete Erntehilfsdienst während seiner Schulzeit 29 ausschlaggebend für den Eintritt in die Landwirtschaft gewesen. In dem anderen der beiden Nachkriegsverfahren lautete aber die Angabe zu seinem Berufseinstieg folgen25 Reichstags-Handbuch. V. Wahlperiode 1930, Berlin 1930. Herausgegeben vom Bureau des Reichstags, S. 387. Um einen unbewussten Fehler Kaufmanns bei den Angaben für das Reichstagshandbuch kann es sich dabei nicht handeln, da diese Angaben in den darauffolgenden Reichstagshandbüchern nicht korrigiert wurden, sondern im Wortlaut so erhalten blieben. Vgl. Reichstags-Handbuch. VI. Wahlperiode 1932, Berlin 1932. Herausgegeben vom Büro des Reichstags, S. 124, Reichstags-Handbuch. VII. Wahlperiode 1932, Berlin 1933. Herausgegeben vom Büro des Reichstags, S. 313f., Reichstags-Handbuch. VIII. Wahlperiode 1933, Berlin 1933. Herausgegeben vom Büro des Reichstags, S. 179, Reichstags-Handbuch. IX. Wahlperiode 1933, Berlin 1934. Herausgegeben vom Büro des Reichstags, S. 224, Der Deutsche Reichstag. 1936. III. Wahlperiode nach dem 30. Januar 1933, Berlin 1936. Herausgegeben von E. Kienast, S. 201 sowie Der Großdeutsche Reichstag 1938. IV. Wahlperiode (nach dem 30. Januar 1933), Berlin 1938. Herausgegeben von E. Kienast, S. 273. 26 Zum Einjährig-Freiwilligen vgl. Mertens, Lothar: Das Privileg des Einjährig-Freiwilligen Militärdienstes im Kaiserreich und seine gesellschaftliche Bedeutung, in: MGM, 20/1986, S. 59–66. 27 StaHH 213-11, 72422, Protokoll vom 15. September 1948. 28 StaHH 213-11, 72424, Protokoll vom 16. Juni 1950. 29 Die Kriegserntehilfsdiensten besaßen einen ausgesprochen militärischen Charakter. Dies blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Mentalität der hierzu verpflichteten Schüler. Vgl. hierzu Donson, Andrew: Why did German youth become fascists? Nationalist males born 1900 to 1908 in war and revolution, in: SH, 31/2006, S. 337–358, hier S. 354–356.
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dermaßen: „Ich habe zunächst in Elberfeld die Oberrealschule bis zur Primareife besucht. Danach habe ich ein Jahr lang die Landwirtschaft erlernt und habe mich dann freiwillig zum Militär gemeldet.“ 30 Welche Version nun im Einzelnen auch stimmen mag, fest steht, dass er sich nicht schon während der Schulzeit, sondern erst nach etwa einem Jahr in der Landwirtschaft zum Kriegseinsatz meldete. Diese Militärzeit wird im nachfolgenden Unterkapitel zum Ersten Weltkrieg erläutert. Deswegen soll hier nun die kurze Berufstätigkeit oder auch der zweite Versuch des Berufseinstiegs 1919 dargestellt werden: „Ich hatte während meines Einsatzes im landwirtschaftlichen Hilfsdienst im Jahre 1917 schon den Entschluss gefasst, Landwirt zu werden. Nach meiner Entlassung aus dem Heeresdienst verstärkte sich dieser Entschluss, und ich ging im Jahre 1919 in den Sieg-Kreis in die Nähe von Eitorf, wo ich bis Anfang 1920 auf einem Hof die landwirtschaftliche Lehre durchmachte. Während der Lehrzeit habe ich ein Semester die landwirtschaftliche Winterschule in Hennef besucht und war praktisch nach Beendigung meiner Lehrzeit Landwirt.“ 31
Die beiden anderen Aussagen zu Kaufmanns Berufseinstieg widersprechen einander dieses Mal nicht 32. Kritisch ist jedoch die Aussage, er sei nach der Landwirtschaftlichen Winterschule „praktisch […] Landwirt“ gewesen. Mit dieser Formulierung umging er eine klare Auskunft, ob er seinen Abschluss erworben hatte. In seinen späteren Memoirenentwürfen legte er sich aber fest, dass er eine „abgeschlossene landwirtschaftliche Berufsausbildung“ habe 33. Im Schülerverzeichnis der Landwirtschaftlichen Winterschule ist Kaufmann unter den 44 Schülern nicht eingetragen 34. Dies muss jedoch nicht automatisch bedeuten, dass er bezüglich seines Besuchs der Landwirtschaftlichen Winterschule gelogen hat. Es ist möglich, dass er diese nur zeitweise besucht, aber an der Abschlussprüfung im März 1920 nicht teilgenommen hat. Denn wie noch zu sehen sein wird, befand sich Kaufmann im März und April mehrere Wochen in einem Freikorpseinsatz 35. Kaufmanns zumindest zeitweise Anwesenheit in Hennef könnte jedoch durch ein Foto des Jahrgangs belegt werden:
30 BA K Z 42-IV/7172, Protokoll vom 19. März 1948. 31 StaHH 213-11, 72424, Protokoll vom 16. Juni 1950. Der ehemalige Sieg-Kreis grenzte an Köln und Bonn. Vgl. hierzu Künster, Karl/Schneider, Sigfrid: Der SiegkreiS. Regierungsbezirk Köln, Bonn 1959, S. 68–70. 32 Vgl. BA K Z 42-IV/7172, Protokoll vom 19. März 1948 und StaHH 213-11, 72422, Protokoll vom 15. September 1948. 33 PNKK Ordner Nr. 5, Entwurf Manuskript [S. 24]. 34 Vgl. 36.–37.–38. Bericht der Landwirtschaftlichen Winterschule der Landwirtschaftskammer für die Rheinprovinz zu Hennef. Winterhalbjahre 1917–1919/1920, Siegburg 1920 [o. H.], S. 5. 35 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen im Unterkapitel 1.3.
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Abb. 3: Jahrgangsbild der Landwirtschaftlichen Winterschule 36.
36 StAH SN 1, 882. Weder auf der Rückseite des Originals, noch bei der später in einer Festschrift veröffentlichten Version des gleichen Bildes sind die Namen der Schüler aufgeschlüsselt. Vgl.
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Bei diesem stellen sich jedoch zwei Schwierigkeiten. Erstens sehen mindestens zwei der jungen Männer auf dem Bild Kaufmann ähnlich: In der ersten stehenden Reihe die zweite Person von links sowie in der letzten stehenden Reihe die zweite Person von links. Da jedoch kein Bild mehr aus Kaufmanns Jugend existiert, kann eine eindeutige Identifikation nicht erfolgen. Zweitens fehlten an dem Tag der Aufnahme nicht weniger als acht Schüler. Es könnte also theoretisch sein, dass Kaufmann die Landwirtschaftliche Winterschule tatsächlich besucht, aber an der Abschlussprüfung nicht teilgenommen hat, sodass er in der Liste nicht auftaucht. Zufälligerweise könnte er aber auch ausgerechnet am Tag der Aufnahme des Jahrgangsbildes abwesend gewesen sein. Doch unabhängig davon, wie es sich nun zugetragen hat, ist eine bewusste Falschbehauptung Kaufmanns zwar nicht unwahrscheinlich, aber damit auch nicht bewiesen. Denn wenn er tatsächlich bewusst falsche Angaben gemacht haben sollte, hätte er sicherlich eine überlegtere Version vorbringen können, statt auf eine konkret nachprüfbare Landwirtschaftliche Winterschule in einem relativ kleinen Ort hinzuweisen. In der Landwirtschaft verblieb er 1920 jedenfalls ohnehin nicht. Nach einigen Wochen in einem Freikorps, die seinen Berufseinstieg unterbrachen 37, ließ er die Landwirtschaft hinter sich. Er begründete dies rückschauend mit einer mangelnden Aussicht auf einen eigenen Hof. Warum er nicht als angestellter Landarbeiter auf einem fremden Hof arbeiten wollte, erschließt sich aus seinen Aussagen jedoch nicht: „Ich hatte angenommen, dass mir mein Vater bei dem Ankauf eines Hofes helfen könne. Dies zerschlug sich aber, und ich sah keine Möglichkeit für mich, mich irgendwie selbstständig zu machen. Ich kam dem langgehegten Wunsch meines Vater, in die elterliche Fabrik einzutreten, nach und habe im elterlichen Betrieb vom Jahre 1920 an eine kaufmännische Lehre durchgemacht. Die Lehrzeit betrug etwa 2 1/2 Jahre. Während dieser Zeit besuchte ich in Elberfeld die kaufmännische Handelsschule.“ 38
Hier liegt kein Widerspruch der einzelnen Aussagen vor, in einer bemerkte Kaufmann jedoch zusätzlich, dass die Handelsschule eine Privatschule gewesen sei 39. Näheres ist Festschrift zum 75jährigen Bestehen der Landwirtschaftsschule Gummersbach-Oberpleis-Hennef, zum 25jährigen Bestehen der Mädchenabteilung Hennef und zur Einweihung des Schulerweiterungsbaues am 25. November 1950 [o. O.] [o. H.]. 37 Auch hier liegt wieder ein Indiz gegen die Glaubwürdigkeit des bereits zitierten Zeugen vor, der Kaufmann ein Verhältnis mit Hitler unterstellt hatte. Dieser behauptete nämlich, Kaufmann sei zu den Freikorps gegangen, weil er dort mehr Geld erhielt als zuvor. Bis dahin sei er Straßenmusiker gewesen, nachdem er eine von seinem Vater organisierte Ausbildung in einer Bank abgebrochen habe. Vgl. StaHH 213-11, 72423, Schreiben vom 10. Juni 1945. Die Fragwürdigkeit dieses Zeugen dürfte damit endgültig geklärt sein. 38 StaHH 213-11, 72424, Protokoll vom 16. Juni 1950. 39 Vgl. BA K Z 42-IV/7172, Protokoll vom 19. März 1948 und StaHH 213-11, 72422, Protokoll vom 15. September 1948.
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aber mangels Unterlagen der Elberfelder Schulen nicht klärbar. Schon 1923 erfolgte jedenfalls der nächste Umbruch: „Während meiner kaufmännischen Lehrzeit im elterlichen Geschäft kam es zwischen mir und meinem Vater zunächst zu geringen, später zu erheblichen Differenzen über unsere gegenseitige Auffassung über die soziale Frage. Da eine Einigung insoweit nicht zu erzielen war, verliess ich Elberfeld und bin nach Bayern in den Chiemgau gegangen, wo ich Bauhilfsarbeiter, Verladearbeiter an einem Holzplatz und auch kurzfristig als Holzfäller tätig war. Diese Arbeitertätigkeit in Bayern dauerte etwa bis zum Jahre 1925. Während dieser Zeit bin ich auch einige Male zum Besuch meiner Mutter in Elberfeld gewesen, kehrte im Jahre 1925 auch dorthin zurück und arbeitete noch einige Monate in dem väterlichen Betrieb.“ 40
Die soziale Frage als Begründung für einen Austritt aus der Firma anzuführen 41 könnte wie eine Ausrede wirken. Allerdings könnte dahinter durchaus etwas wahres stecken. Denn wie noch mehrfach umfänglich gezeigt wird, war Kaufmann einer der prominenteren Vertreter des linken, sozialistisch geprägten Parteiflügels der NSDAP 42. Ein Konflikt zwischen unternehmerisch tätigem Vater und sozialistisch eingestelltem Sohn ist nicht unwahrscheinlich. Die verschiedenen Nachkriegsaussagen für den Weggang nach Bayern widersprechen sich auch hier wieder nur geringfügig. Kaufmann präzisierte beispielsweise in einer Aussage die Ortsangabe seiner Tätigkeit von Bayern auf Oberbayern 43. Auch die Angaben für amtliche Veröffentlichungen wie dem Reichstagshandbuch weichen hiervon „nur“ in der zeitlichen Präzisierung ab („[i]n den Jahren 1922 bis 1924 als Bauhilfsarbeiter, Holzarbeiter, Verladearbeiter tätig. 44“), ebenso wie seine Zeugenaussage in Nürnberg 1946 („Sie [waren] Arbeiter von 1921 bis 1925 […]? […] Nein, von 1923 bis 40 StaHH 213-11, 72424, Protokoll vom 16. Juni 1950. 41 Eine Publikation aus dem „Dritten Reich“ erklärt die Situation wieder etwas anders. In dieser hieß es etwa, dass „sogar das Geschäft der Eltern Karl Kaufmanns […] der politischen Tätigkeit des Sohnes wegen boykottiert [wurde]! Kein Wunder, daß es hierüber zu einem Zerwürfnis in der Familie kam, denn die ältere Generation konnte einfach das heiße Wollen der jungen Front nicht begreifen.“ Lenzing, Rudolf: Der Reichsstatthalter in Hamburg. Karl Kaufmann, in: Ekkehart, Klaus (Hrsg.): Die Reichsstatthalter. Ein Volksbuch, Gotha, S. 39–44 [o. J.], hier S. 41. 42 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen in den Unterkapiteln 2.2., 2.4. und 2.5. 43 Vgl. BA K Z 42-IV/7172, Protokoll vom 19. März 1948 und StaHH 213-11, 72422, Protokoll vom 15. September 1948. Im „Dritten Reich“ hieß es in einer Publikation genauer, er sei in Marquartstein im Chiemgau gewesen. Dort habe er zudem wie schon im Rheinland Ortsgruppengründungen vorangetrieben. Vgl. Lenzing: Kaufmann, S. 42. 44 Dies traf auf alle Reichstagshandbücher zu: Reichstags-Handbuch, V. Wahlperiode 1930, S. 387, Reichstags-Handbuch, VI. Wahlperiode 1932, S. 124, Reichstags-Handbuch, VII. Wahlperiode 1932, S. 313f., Reichstags-Handbuch, VIII. Wahlperiode 1933, S. 179, Reichstags-Handbuch, IX. Wahlperiode 1933, S. 224, Reichstag 1936, S. 201 sowie Reichstag 1938, S. 273.
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1925.“ 45). Nach seiner endgültigen Rückkehr nach Elberfeld 1925 war Kaufmann hauptsächlich mit der Politik beschäftigt. Nach seiner letztlichen Rückkehr und nach dem erneuten Ausscheiden aus der Firma seines Vaters erhielt er zeitweise von seiner Mutter Geldbeträge in unbekannter Höhe. Diese dienten offenbar zur Überbrückung von finanziellen Engpässen, die sich aus der Tätigkeit für die noch im Aufbau befindliche NSDAP ergaben 46. Auch erwähnte Kaufmann in einer Vernehmung nach dem Krieg, er habe zusätzlich etwas Geld durch die Parteizeitschrift der „Nationalsozialistischen Briefe“ erhalten. Er nannte dafür aber keine Summe, und auch sonst ist aus anderen Quellen kein Hinweis auf Einkommen durch die Zeitschrift ersichtlich 47. Zudem berichtete Kaufmanns zu jener Zeit bester Freund Goebbels in einem Tagebucheintrag vom 24. Mai 1925, Kaufmann habe „in seinem Geschäft endgültig bankrott gemacht. Armer Kerl! Aber er kommt schon drüber.“ 48 Um was für ein Geschäft es sich hierbei handelte, ist nicht klar. Aber erst Ende der 1950er Jahre nahm Kaufmann wieder eine (längerfristige) Berufstätigkeit auf, die nicht im Zusammenhang mit seinen Parteifunktionen stand.
45 Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg. 14. November 1945–1. Oktober 1946, Bd. XX. Verhandlungsniederschriften 30. Juli 1946–10. August 1946, Nürnberg 1948. Herausgegeben vom Internationalen Militärgerichtshof, S. 32. 46 Vgl. StaHH 213-11, 72424, Protokoll vom 16. Juni 1950 und StaHH 213-11, 72422, Protokoll vom 15. September 1948. 47 Vgl. StaHH 213-11, 72424, Protokoll vom 16. Juni 1950. Joseph Goebbels erhielt in seiner Zeit als Schriftleiter 150 RM im Monat. Vgl. Reuth: Goebbels, S. 91f. Aber ob Kaufmann diese auch zwischen 1926 und 1928 erhielt, ist fraglich. Quellen, die hierüber Aufschluss geben könnten, haben sich nicht erhalten. Indirekt aber kann festgehalten werden, dass Quellen, die sich mit Kaufmanns Finanzen in dieser Zeitspanne beschäftigten, das Gegenteil nahelegen. Diesen lässt sich stets nur das Einkommen als Gauleiter und später als Landtagsabgeordneter entnehmen. Hierauf wird noch zurückgekommen. Jedenfalls erhielt er zumindestens in der Zeit der Personalunion Gauleiter-Schriftleiter von 1926 bis 1928 kein Geld durch die „Nationalsozialistischen Briefe“. Zuvor könnte er zumindest geringe Summen erhalten haben. 48 Goebbels, Paul Joseph: Tagebücher 1924–1945, Bd. 1. Tagebücher 1924–1929, München/Zürich 2003. Herausgegeben von Ralf Georg Reuth, S. 185.
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1.2. Erster Weltkrieg (1917–1918/1919)
„Im Jahre 1917 wurde ich eingezogen und habe den ersten Weltkrieg bis zum Jahre 1919 mitgemacht.“ 49
Wie nachfolgend zu sehen sein wird, gestaltet sich die Aussagekraft der Quellen zu Kaufmanns Militärdienst im Ersten Weltkrieg ähnlich widersprüchlich wie es bei den Quellen zu seiner Schullaufbahn und seinem Berufseinstieg der Fall ist 50. Zudem ist diese kurze Zeitspanne auch ähnlich unstet. In gleicher wie oben zitierter Aussage sagte er noch, er habe sich freiwillig gemeldet. In anderen Aussagen betonte er gerade diese Freiwilligkeit 51. Unstreitig ist in seinen Aussagen auch das Jahr 1917. Seine danach mehrfach wechselnden Stationen im Militärdienst beschrieb er in einem Verfahren wie folgt: „Ich wurde für die Fliegertruppe ausgemustert und kam zur Flieger-Ersatzabteilung 7, Braunschweig. In Braunschweig bekam ich zunächst die infanteristische Grundausbildung, wurde dann als Hilfsmonteur verwandt [sic] und kam anschliessend, alles im Jahre 1917, zur Fliegerschützenschule in Braunschweig als Fliegerschütze. Während meiner Ausbildungszeit hatte ich […] Anfang 1918 einen Flugzeugabsturz, durch den ich erheblich verletzt wurde. Neben einer Gehirnerschütterung wurden rechtsseitige Quetschungen festgestellt, die dazu führten, dass ärztlicherseits die Fliegertätigkeit für mich als nicht mehr gegeben festgestellt wurde. Ich wurde darauffhin [sic] von der Fliegertruppe zur Inf. Ers. Abt. des Inf. Reg. 92 in Braunschweig versetzt, wo ich zunächst wieder die infanteristische Grundausbildung durchmachen musste. Ich kam […] [danach zur] Gebirgsmaschinengewehrabteilung nach Seesen i. Harz. Dort erkrankte ich sehr bald an einer doppelseitigen Lungenentzündung und wurde nach Hannover in das Lazarett verbracht. Dort lag ich noch, als die Waffenstillstandsverhandlungen mit den damaligen Feindmächten bekannt wurden. Ich bin aus Hannover nach meiner Genesung als Oberjäger und Offiziersanwärter entlassen worden.“ 52
Laut dieser Aussage ist Kaufmann nach eigenem Bekunden also nie im Kampfeinsatz gewesen. Zugleich sei seine relativ kurze Zeit beim Militär auch noch zweimal von wahrscheinlich längeren Krankheitsphasen unterbrochen. In den weiteren Vernehmungen, in denen er seinen Militärdienst erwähnte, wurde aber anderes suggeriert. In einer sagte er hierzu, er habe 49 BA K Z 42-IV/7172, Protokoll vom 19. März 1948. 50 Quellen der entsprechenden militärischen Stellen gingen im Zweiten Weltkrieg vollständig verloren. 51 Vgl. StaHH 213-11, 72422, Protokoll vom 15. September 1948 und StaHH 213-11, 72424, Schreiben vom 12. August 1950. 52 StaHH 213-11, 72424, Protokoll vom 16. Juni 1950.
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„den ersten Weltkrieg […] mitgemacht. Verwundungen habe ich nicht erlitten, sondern erlitt nur eine Verletzung bei der Ausbildung als Flieger. Kriegsauszeichnungen hab-e [sic] ich nicht erhalten. Nach der Beendigung des Krieges habe ich zunächst etwa ein Jahr in der Landwirtschaft gearbeitet“ 53.
Nun könnte Kaufmann bei der Vernehmung vielleicht einfach nicht genau auf seine Wortwahl geachtet haben, sodass es sich um ein Missverständnis handelte. Allerdings suggeriert auch der Wortlaut einer anderen Aussage den aktiven Kampfeinsatz an der Front: „Meine landwirtschaftliche Lehre wurde unterbrochen durch den 1. Weltkrieg, den ich als Freiwilliger 1917 bis 1919 mitmachte und zwar als Flieger und Jäger. Im Kriege hatte ich zum Abschluss den Dienstgrad eines Ober-Jägers erreicht.“ 54
Bei einer solchen Formulierung kann es sich kaum um ein Missverständnis oder eine versehentlich mehrdeutige Darstellung des Geschehens handeln. Die beiden letzten Zitate wurden zudem im gleichen Ermittlungsverfahren gemacht. Die Hamburger Staatsanwaltschaft ließ sich im Gegensatz zu den Kollegen des Bielefelder Spruchgerichtsverfahrens 55 nicht von Kaufmanns Wortwahl beirren und zählte in ihrer Anklageschrift die einzelnen Stationen auf 56, sodass geklärt war, dass er nicht an der Front zum Einsatz gelangte. Ausgehend von diesen Informationen kann aber zumindest gemutmaßt werden, dass Kaufmann wohl doch noch zum Einsatz herangezogen worden wäre, wenn nicht die beiden krankheitsbedingten Ausfälle dazwischen gekommen wären. Kaufmanns Formulierungen waren oft kein Zufall. Schon in der Weimarer Republik brüstete er sich mit seinem angeblichen Kriegseinsatz. Dies ging so weit, dass er sich sogar eine mit Auszeichnungen versehene Uniform eines Freundes anzog und sich in Pose fotografieren ließ. Anschließend wurden die Fotos verbreitet. Dieser „Ordensschwindel“ wurde von innerparteilichen und anschließend von parteipolitischen Gegnern aufgegriffen und führte schließlich zur Verurteilung zu einer Geldstrafe in Höhe von 1000 RM 57. Und selbst beim Lesen von Kaufmanns Angaben für das Reichstagshandbuch wird ein durchgehender Kampfeinsatz in Krieg und Nachkrieg suggeriert, obwohl sein Leben zwischen 1917 und 1925 wie dargelegt tatsächlich einem ständigen
53 BA K Z 42-IV/7172, Protokoll vom 19. März 1948. 54 StaHH 213-11, 72422, Protokoll vom 15. September 1948. 55 Selbst in der Anklageschrift des Spruchgerichtsverfahrens wurde noch die Feststellung getroffen, Kaufmann habe „sich freiwillig gemeldet und hat den ersten Weltkrieg bis zum Jahre 1919 mitgemacht. Er wurde nicht verwundet und erhielt auch keine Kriegsauszeichnungen.“ BA K Z 42-I/263, Anklageschrift vom 20. Juli 1948. 56 Vgl. StaHH 213-11, 72425, Anklageschrift vom 1. März 1951. 57 Vgl. eBd. Diese für einen Nationalsozialisten rufschädigende Angelegenheit ging in der Folgezeit aber in der Öffentlichkeit unter. Zwar wurde gelegentlich noch einmal darüber berichtet und der Sachverhalt öffentlichkeitswirksam aufbereitet, aber zu einem langanhaltenden Echo führte dies nie.
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Wechsel von Ausbildungen, Militärzeiten, Freikorps und ungelernten Arbeitstätigkeiten entsprach: „1917 als Kriegsfreiwilliger zur Flieger-Ers.-Abtlg. 7 Braunschweig, später verletzt zum Inf.-Regt. 92 und gegen Ende des Krieges zur Gebirgs-M.-G.-Abtlg. 5. Nach dem Kriege 1920 Mitglied des Selbstschutzes Oberschlesien, Sturmkomp. von Killinger, [Kaufmann] beteiligte sich an der Niederwerfung des Polenaufstandes. Während des Ruhrabwehrkampfes in führender Stellung der Sabotagekommandos.“ 58
Solche für die Öffentlichkeit bestimmten Episoden sprechen aber nicht nur dafür, dass Kaufmann seinen Ruf in Partei und allgemeiner Öffentlichkeit aufbessern wollte, sondern auch für typische Verhaltensweisen der oft als „Zuspätgekommenen“ bezeichneten Männer, die den Krieg nicht mehr aktiv als Soldaten im Kampfeinsatz miterlebten. Die politische Kultur der Weimarer Republik und besonders die vielen Saalschlachten und Gewalttaten durch die extreme Linke und extreme Rechte können zwar nicht monokausal erklärt werden. Aber eine der wichtigsten Gründe hierfür ist in den jüngeren Zeitgenossen zu finden, also konkret bei den zwischen 1900 und 1912 Geborenen. Diese sogenannte „Kriegsjugendgeneration“ zeichnet aus, dass sie den aktiven Fronteinsatz aufgrund ihres späten Geburtsdatums nicht mehr erfuhr. Oftmals führte dies zu Frustration und dem Gefühl einer verpassten Chance. Umso mehr wollten viele dieser jungen Männer in der Weimarer Republik das nachholen, was ihnen vermeintlich zu Unrecht verwehrt geblieben war. Kaufmann war 1900 geboren und 1917 zum Militär gegangen. Sein aktiver Einsatz blieb aber aus, sodass auch er zu dieser „Generation des Unbedingten“ gezählt werden muss 59. Dies sollte sich auch mit Kaufmanns Handeln in der Weimarer Republik decken. Der Luftkrieg mit dem gezielten Einsatz von Flugzeugen war vor dem Ersten Weltkrieg erst noch im Entstehen. Durch den Krieg selbst erhielt die Weiterentwicklung von Flugzeugen einen bis dahin ungekannten Schub. Zu besonders großer militärischer Effizienz konnte der Luftkrieg bis Ende 1918 zwar nicht mehr reifen. Die Nutzbarmachung im militärischen Bereich darf aber nicht unterschätzt werden, vor allem im Hinblick auf die Erfahrungen, auf denen in den folgenden Jahrzehnten aufgebaut werden konnte. Als Kaufmann also zum Flieger ausgebildet wurde, steckte der Luftkrieg noch in seinen Anfängen 60. Er erwähnte es zwar nicht explizit, aber es könnte vermutet werden, dass sein 58 Reichstags-Handbuch, V. Wahlperiode 1930, S. 387, Reichstags-Handbuch, VI. Wahlperiode 1932, S. 124, Reichstags-Handbuch, VII. Wahlperiode 1932, S. 313f., Reichstags-Handbuch, VIII. Wahlperiode 1933, S. 179, Reichstags-Handbuch, IX. Wahlperiode 1933, S. 224, Reichstag 1936, S. 201 sowie Reichstag 1938, S. 273. 59 Vgl. zur Mentalität der genannten Jahrgänge und ihren Auswirkungen Wildt, Michael: Generation des Unbedingten, 2. Aufl., Hamburg 2013, S. 847–849. 60 Zur Entwicklung des Luftkriegs im Rahmen des Ersten Weltkriegs sowie seiner technischen Problemstellungen und Schwächen vgl. Müller, Rolf-Dieter: Der Bombenkrieg 1939–1945, Berlin 2004, S. 14–21.
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Flugzeugabsturz dabei nicht zuletzt auf technischen Schwierigkeiten beruhten, die die zeitgenössische Fliegerei noch entscheidend prägten. Die bei dem Flugzeugabsturz 1918 erlittenen Verletzungen sind noch äußerst wichtig zu erwähnen. An ihrer Authentizität kann kein Zweifel sein, da ärztliche Gutachter diese Verletzungen und ihre langfristigen Auswirkungen nach dem Zweiten Weltkrieg bestätigten. Hier ist es notwendig darauf hinzuweisen, dass die Schäden langfristige Auswirkungen haben sollten 61. Es handelte es also um ein einschneidendes Erlebnis, das Kaufmanns gesamtes weiteres Leben mitprägen sollte.
1.3. Kaufmann und die Freikorps (1920–1921)
„Meine kaufmännische Lehrzeit war durch zwei kurzfristige Ereignisse unterbrochen.“ 62
Bei diesen zwei „Ereignissen“ handelte es sich um Kaufmanns Einsätze in Freikorps 1920 und 1921. Hiermit bildete er unter der späteren Führungsschicht des „Dritten Reiches“ keine Ausnahme. Vielmehr war dies für viele Angehörige der späteren nationalsozialistischen Elite ein typischer Werdegang 63. Die Freikorps der frühen Weimarer Republik waren militärische Verbände, die mehr oder weniger losgelöst von der Reichsregierung existierten. Zum Verständnis ist ein kurzer Rückblick auf den „Versailler Vertrag“ notwendig. Laut diesem durfte das Reich ab Inkrafttreten nur noch ein stehendes Heer von 100 000 Mann bei weiteren 15 000 Marineangehörigen besitzen 64. Die Konsequenz hieraus war, dass die zeitweise acht Millionen Mann zählende Armee nach dem ersten Waffenstillstand vom November 1918 demobilisiert und bis Februar 1919 auf eine Million verringert werden musste 65. Anschließend wurde in sie Teilschritten auf 420 000, 220 000, 165 000 und schlussendlich auf die geforderten 115 000 Mann reduziert 66. Wie in beinahe ganz Mittel- und Osteuropa sammelten sich aus den Millionen demobilisierten Soldaten Hunderte bewaffnete Gruppen von Mannstärken im zwei- bis
61 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen in den (Unter-)Kapiteln 5.2., 5.3 und 6. 62 StaHH 213-11, 72424, Protokoll vom 16. Juni 1950. 63 Vgl. zu den personellen Kontinuitäten näher Sprenger, Matthias: Landsknechte auf dem Weg ins Dritte Reich? Zu Genese und Wandel des Freikorpsmythos, Paderborn 2008, S. 55f. 64 Vgl. zu den militärischen Bestimmungen des „Versailler Vertrages“ und ihrer Einordnung in den Gesamtzusammenhang des Friedensvertrages Kolb, Eberhard: Der Frieden von Versailles, 3. Aufl., München 2019, S. 58–68. 65 Vgl. Wette, Wolfram: Die militärische Demobilmachung in Deutschland 1918/19 unter besonderer Berücksichtigung der revolutionären Ostseestadt Kiel, in: GG, 12/1986, S. 63–80, hier S. 65f. 66 Zur Transformation der demobilisierten Armee in die spätere Reichswehr der Weimarer Republik vgl. Keller, Peter: „Die Wehrmacht der Deutschen Republik ist die Reichswehr“. Die deutsche Armee 1918–1921, Paderborn 2014, S. 146–161.
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fünfstelligen Bereich, um den linksradikalen Revolutionen zum Sieg zu verhelfen oder aber ebendiese zu unterdrücken. Monetäre Gründe spielten ebenfalls eine erhebliche Rolle 67. Bei diesen Soldaten handelte es sich zu bedeutenden Teilen um junge Erwachsene, die früh an die Front gingen und nach Jahren des Krieges nichts anderes als den Krieg kennengelernt hatten, nun jedoch auf ein Leben in Friedenszeiten nicht vorbereitet waren 68. Für Kaufmann war der zweimalige Gang zu den Freikorps aber offenbar weder von verrohten Erfahrungen an der Front, noch von mangelnden Berufsaussichten geleitet. Denn über die Ausbildungszeit beim Militär war er nicht hinaus gelangt und konnte danach auch seine Arbeit in der Landwirtschaft wieder aufnehmen. Wäre letzteres aus irgendwelchen Gründen gescheitert, hätte er notfalls immer noch einen Vater mit einer Wäschefabrik gehabt. Dieser wäre sicherlich bereit gewesen, seinen Sohn ins Unternehmen aufzunehmen. Kaufmanns Motivation für die beiden Freikorpseinsätze wird aber wohl eher in der erwähnten Mentalität der „Zuspätgekommenen“ zu finden sein. Da er im Krieg nicht mehr an die Front gelangte, konnte dies mit den Freikorps zumindest teilweise nachgeholt werden. Dazu bot sich ihm die Chance, als im „Ruhraufstand“ im März und April 1920 Reichswehr und Freikorps gemeinsam gegen die überwiegend kommunistisch gesinnte „Rote Ruhrarmee“ und ihre Revolte vorging 69. Seine Teilnahme an der Niederschlagung des „Ruhraufstands“ schilderte Kaufmann in seinen Vernehmungen nicht ausführlich, sondern erwähnte sie nur kurz 70. Demnach habe er sich ausdrücklich freiwillig hierfür gemeldet und „etwa 6 Wochen an dem Kampf […] teilgenommen.“ 71 Wo sich Kaufmann zuvor konkret befand ist nicht aufklärbar. Wie erwähnt hatte er seine Tätigkeit in der Landwirtschaft kurz vor dem Einsatz eingestellt, und nach dem Einsatz die Arbeit in der Firma des Vaters in Elberfeld aufgenommen. Wenn er sich zum Zeitpunkt seiner Meldung bereits wieder in Elberfeld befunden hat, könnte vermutet werden, dass 67 Die Entstehung der Freikorps verlief keineswegs einheitlich, geordnet oder gar zentral geleitet. Vgl. zur Entstehung und Etablierung im Allgemeinen Schulze, Hagen: Freikorps und Republik 1918–1920, Boppard am Rhein 1969. 68 Vgl. Keegan, John: Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Tragödie, Hamburg 2001, S. 582f. 69 Zum Kampf gegen den „Ruhraufstand“, der mit äußerster Brutalität geführt wurde, vgl. Pöppinghege, Rainer: Republik im Bürgerkrieg. Kapp-Putsch und Gegenbewegung an Ruhr und Lippe 1919/20, Münster 2019, S. 75–103. In einer „geschönten“ zeitgenössischen Publikation über die Reichsstatthalter des „Dritten Reich“ hieß es zudem, dass Kaufmann „1920 während des unglücklichen Kapp-Unternehmens Zeitfreiwilliger in Elberfeld“ gewesen sei. Vgl. Lenzing: Kaufmann, S. 40. Da diese Information nirgends sonst nachweisbar ist, ist sie wohl am ehesten durch eine sprachliche Ungenauigkeit erklärbar. Denn der Aufstand der „Roten Ruhrarmee“ war schließlich eine unmittelbare Folge des misslungenen „Kapp-Putsches“. Dass er als „Zeitfreiwilliger“ bezeichnet wurde, sagt zudem nichts über die tatsächliche Zugehörigkeit zur Reichswehr aus, da sich die meisten Freikorpsangehörigen als solche empfanden und/oder genannt wurden. 70 Vgl. BA K Z 42-IV/7172, Protokoll vom 19. März 1948, StaHH 213-11, 72422, Protokoll vom 15. September 1948 und StaHH 213-11, 72425, Protokoll vom 12. Juni 1950. 71 BA K Z 42-IV/7172, Protokoll vom 19. März 1948.
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er die örtliche Gelegenheit nutzte, um sich den Soldaten anzuschließen. Sollte er aber zu diesem Zeitpunkt noch in der Winterschule gewesen sein, muss er aus der Ferne heraus aktiv seine Teilnahme vorangetrieben haben. In beiden Fällen lag jedenfalls Freiwilligkeit vor. Zumindest zeitweise hat er sich aber in Elberfeld aufgehalten, wofür zwei Punkte sprechen. Erstens gehörte Kaufmann der sogenannten „Kameradschaft Schill“ an, zu der viele weitere Völkische und Nationalisten gehörten. Mit dieser sei er am „Ruhrkampf“ beteiligt gewesen. In einer Publikation aus dem „Dritten Reich“, die keine Rücksicht auf etwaige Strafverfolgung für die Namensnennung von Nationalsozialisten am Geschehen zu fürchten hatte, hieß es unter anderem, dass Kaufmann „mit der Kameradschaft ‚Schill‘ im Abwehrkampf gegen die ins Ruhrgebiet eingebrochenen Franzosen [stand]. Die Kameradschaft gehörte geschlossen der NSDAP. an; auch Schlageter war bei ihr. Vergebens hat Karl Kaufmann zusammen mit dem heutigen Oberpräsidenten von Ostpreußen, Erich Koch, auf dem Elberfelder Polizeipräsidium versucht, den von der preußischen Polizei verhafteten Heinz loszueisen, mit dessen Hilfe allein das Rettungswerk für Schlageter gelingen konnte. Dort war er Zeuge des beschämenden Ferngesprächs mit Berlin, durch das aus dem Innenministerium die Anweisung gegeben wurde, Heinz weiter festzuhalten, selbst wenn er vom Untersuchungsrichter freigelassen werden sollte. Die Retter waren gefangen, und Schlageter musste sterben.“ 72
Das gesamte Geschehen um den Tod von Albert Leo Schlageter gab bereits den Zeitgenossen Rätsel auf und ist nach wie vor nicht lückenlos und einwandfrei erforscht. Mangels genauerer Quellen (vor allem zeitgenössischer Natur, da fast nur retrospektive existieren) wird dies wohl auch so bleiben 73. Klar ist jedoch, dass Schlageter fest im völkischen Milieu verankert war, mit den führenden Köpfen der späteren NSDAP verkehrte, sozialistische Anwandlungen aufwies, im „Ruhrkampf“ von der französischen Besatzungsmacht hingerichtet wurde und später von Nationalsozialisten (und gar Teilen der KPD) zu einem Helden idealisiert wurde. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass sich Kaufmann in dem zitierten Beitrag (den er vor der Publikation mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlicht gelesen und freigegeben hat) mit dem „Schlageter-Mythos“ schmücken wollte. Allerdings ist bezeugt, dass Personen wie Kaufmann, Erich Koch oder Schlageter bei der „Kameradschaft Schill“ gemeinsam im „Ruhrkampf“ aktiv waren 74. Diese Episode ist also durchaus realistisch, wenngleich sie wie vieles im Falle Schlageters nicht genau überprüfbar ist. 72 Lenzing: Kaufmann, S. 41. 73 Eine durchaus mögliche Version präsentiert Meindl, Ralf: Ostpreußens Gauleiter. Erich Koch – eine politische Biographie, Osnabrück 2007, S. 47f. 74 Zu Schlageters Werdegang, Beteiligung am „Ruhrkampf“ sowie späteren propagandistischen Vereinnahmung durch Nationalsozialisten wie Kommunisten vgl. grundlegend Zwicker, Stefan: „Nationale Märtyrer“: Albert Leo Schlageter und Julius Fučík. Heldenkult, Propaganda und Erinnerungskultur, Paderborn/München/Wien/Zürich 2006, S. 32–138.
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Der zweite Punkt für Kaufmanns mindestens zeitweise Anwesenheit in Elberfeld ist einem seiner späteren Reden als preußischer Landtagsabgeordneter zu entnehmen. Ausgehend von Ausführungen über die „Schwarze Reichswehr“ war er hierbei auf seine eigenen Erfahrungen im „Ruhraufstand“ gekommen. Dabei berichtete er dem Plenum folgendes: „Auch die Ruhrabwehr im Jahre 1923, von der die Sozialdemokratie immer so heftig abgerückt ist, hat mir persönlich einen Einblick in die ganzen Verhältnisse gestattet, und ich habe gar keine Veranlassung, über die damaligen Vorgänge jetzt noch zu schweigen. Damals, im Jahre 1923, haben in meiner Heimatstadt Elberfeld 4 Waggons des Reichsverkehrsministeriums gestanden. In diesen Waggons wohnten Ingenieure, die vom Reichsverkehrsministerium die Aufgabe zugewiesen erhalten hatten, Sprengkommandos für den Ruhrabwehrkampf zu organisieren. (hört, hört! bei der Nat.-Soz. D. A.-P.) Ich selbst habe damals von diesen Reichsbahningenieuren die Sprengladungen im Empfang genommen. Diese Ladungen hat damals das Reichsverkehrsministerium in Form von Bauklötzen verpackt, und wir waren in dieser Zeit dumm genug, um diese Sprengaufträge des Ministeriums auszuführen und uns im besetzten Gebiet dieser gewaltigen Gefahr auszusetzen. […] Ich habe damals unzählige Mal Gelegenheit gehabt, mit dem verstorbenen Lohnschlichter Mehlich, einem prominenten Mitgliede der sozialdemokratischen Partei, in Verhandlungen über die Formen dieses Abwehrkampfes zusammenzusitzen. (hört, hört! bei der Nat.-Soz. D. A.-P.) Kaum war diese Angelegenheit durch die Liquidationsmaßnahmen des Reichsaußenministers Dr. Stresemann erledigt, als auch sofort wieder der Staatsanwalt kam und zugriff. So habe ich Gelegenheit gehabt, nicht weniger als 36mal zum Schutze dieser Republik eingesperrt und vor die Schranken der Justiz gezerrt zu werden. (hört, hört! bei der Nat.-Soz. D. A.-P.) Wir Nationalsozialisten haben aus all diesen Dingen gelernt, und sollte sich der Zustand wiederholen, daß diese Republik wieder einmal in Gefahr gerät, so würden wir es uns beileibe überlegen, ob wir nach den gemachten Erfahrungen uns nochmals an irgendeiner Stelle für diese Republik einsetzen würden.“ 75
Kaufmann unterschied also (zumindest in der Rückschau) zwischen Vaterland und Staat. Während der „Ruhraufstand“ in unmittelbarer Nähe des Orts seiner Kindheit und Jugend stattfand, und vielleicht gerade wegen dieser räumlich nahen Bedrohung für den erst 19 Jahre alten Kaufmann auch besonders prägend gewesen war, lag sein zweiter
75 Sitzungsberichte des Preußischen Landtags. 3. Wahlperiode. 1. Tagung: begonnen am 8. Juni 1928. 4. Band. 54. bis 71. Sitzung (28. Februar bis 13. April 1929), Berlin 1929 [o. H.], Sp. 4663f. Die gesamte Rede befindet sich auf den Sp. 4661–4665. Mit Mehlich war offenbar Ernst Mehlich gemeint, der zeitweise Staatskommissar für das besetzte Ruhrgebiet war. Einen Überblick über seinen Werdegang bietet Klotzbücher, Alois: Ernst Mehlich (1882–1926), in: Benser, Günter/Schneider, Michael (Hrsg.): „Bewahren – Verbreiten – Aufklären“. Archivare, Bibliothekare und Sammler der Quellen der deutschsprachigen Arbeiterbewegung, Bonn 2009, S. 190–195.
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Einsatz in einem Freikorps geografisch weiter entfernt. Der dritte Aufstand in Oberschlesien zwischen März und Juli 1921 war gegen die Abstimmung um die Zugehörigkeit Oberschlesiens gemäß „Versailler Vertrag“ gerichtet. Diese habe ein Votum zugunsten des Verbleibs beim Reich statt einer Angliederung an Polen ergeben, wogegen polnische Freiwilligenverbände gewaltsam vorzugehen versuchten 76. Kaufmann gab folgendes zu Protokoll: „Während dieser Ausbildung [in der Firma des Vaters] bin ich im Jahre 1921 nach Oberschlesien gegangen. Ich gehörte nämlich der Erhardt-Brigade an und kam somit mit der Kompanie von Killinger unter General Höfer [sic] zur Niederwerfung des Polenaufstandes nach Oberschlesien. Dort war ich etwa 8 Wochen eingesetzt, wurde jedoch nicht verwundet.“ 77
Das Freikorps „Brigade Erhardt“, dem Kaufmann laut Publikationen im „Dritten Reich“ schon seit Ende 1919 angehört habe 78, war offiziell wie alle Freikorps ein Jahr zuvor aufgelöst worden, existierte jedoch faktisch und mit staatlicher Duldung als „Organisation Consul“ (OC) größtenteils fort. 79. (Die entsprechenden staatlichen Stellen hofften damit nicht zuletzt die militärischen Begrenzungen des „Versailler Vertrags“ unterlaufen zu können 80.) Die OC war selbst für die Verhältnisse der Freikorps besonders nationalistisch und antisemitisch 81. Bereits an den Beteiligten, die Kaufmann in seinen Vernehmungen mit Namen nannte, lässt sich ersehen, wie stark die Kontinuität zwischen freiwilligen Freikorpseinsätzen und später berühmten Nationalsozialisten waren. Beispielsweise erwähnte er in seiner Aussage ebenso wie in seinen Angaben für das Reichtagshandbuch 82 Manfred von Killinger. Dieser wirkte in Oberschlesien als Kaufmanns 76 Zu den drei Aufständen in Oberschlesien zwischen 1919 und 1921, der Abstimmung sowie der 1922 vollzogenen Teilung der Region und ihrer Einordnung in der wechselvolle Geschichte Oberschlesiens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vgl. Smolorz, Dawid/ Kordecki, Marcin: Schauplatz Oberschlesien. Eine europäische Geschichtsregion neu entdecken, Paderborn 2019, S. 35–63. 77 BA K Z 42-IV/7172, Protokoll vom 19. März 1948. 78 Exemplarisch: Lenzing: Kaufmann, S. 40. 79 Zur Entstehung und frühen Struktur der OC vgl. Stern, Howard: The Organisation Consul, in: JModH, 35/1963, S. 20–32, hier S. 21–25. 80 Auf das schwierige Verhältnis der diversen Organisationen und der jungen Weimarer Republik verweist ausführlich das Werk von Mauch, Hans-Joachim: Nationalistische Wehrorganisationen in der Weimarer Republik. Zur Entwicklung und Ideologie des „Paramilitarismus“, Frankfurt am Main/Bern 1982. 81 Zur Mentalität der OC vgl. Krüger, Gabriele: Die Brigade Ehrhardt, Hamburg 1971, S. 84–88. 82 Vgl. Reichstags-Handbuch, V. Wahlperiode 1930, S. 387, Reichstags-Handbuch, VI. Wahlperiode 1932, S. 124, Reichstags-Handbuch, VII. Wahlperiode 1932, S. 313f., Reichstags-Handbuch, VIII. Wahlperiode 1933, S. 179, Reichstags-Handbuch, IX. Wahlperiode 1933, S. 224, Reichstag 1936, S. 201 sowie Reichstag 1938, S. 273.
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Kompanieführer und war ab 1928 NSDAP-Politiker in wechselnden Funktionen, darunter sogar Ministerpräsident in Sachsen 83. In den anderen Aussagen nannte Kaufmann noch weitere bekannte Freikorpsführer sowohl in Oberschlesien als auch im Ruhrgebiet 84. In Oberschlesien jedenfalls habe er „etwa 8–10 Wochen [den Freikorps] angehört und […] in dieser Zeit einige Gefechte mitgemacht[,] u. zwar wie ich mich noch erinnere: Annaberg, Groß-Stein, CoselOderhafen und Nieder-El[l]gut.“ 85
Der Einsatz in Oberschlesien war räumlich also weiter entfernt von allem, was Kaufmann bis dahin gesehen hatte. Zugleich bekundete er hierzu, dass er an konkreten Schlachten wie jener am Annaberg 86 teilgenommen habe, während er für den „Ruhraufstand“ keine Einzelereignisse nannte. In der Laudatio eines jahrzehntelangen Freundes, die anlässlich Kaufmanns Beerdigung im Dezember 1969 gehalten wurde, gab der genannte Freund (der ebenfalls im völkischen und später nationalsozialistischen Milieu aktive Hans Schwarz van Berk) an, dass Kaufmann sich nach der Rückkehr aus dem Militärdienst 1919 der bündisch-militanten Jugend in Elberfeld angeschlossen habe. Mit dieser seien beide dann zusammen 1921 nach Oberschlesien gegangen 87. Dies würde parallel zu allem bereits Dargelegtem noch einmal verdeutlichen, dass zwischen Kaufmanns Militärzeit und seinem ersten Freikorpseinsatz kein eindeutiger Bruch bestand, sondern vielmehr durch die bündisch-militante Jugend 88 in der Heimat Elberfeld eine gewisse Kontinuität in Denken und Handeln bestand. Kaufmanns Freikorpseinsätze waren insgesamt zwar nur von kurzer Dauer. Das minderte aber keineswegs ihre Bedeutung für seinen Werdegang. Das, was er im Ersten Weltkrieg verpasst hatte, konnte er im Nachkrieg wettmachen. Die (bürger-)kriegsartigen Zustände, welche er dort erleben konnte, waren prägend. Rohe Gewalt und der Hang zum Militärischen sollten in Kaufmanns weiterem Leben eine bleibende Rolle spielten.
83 Zu von Killingers Werdegang vgl. Matić, Igor-Philip: Killinger, Manfred Frh. von, in: Weiß, Hermann (Hrsg.): Biographisches Lexikon zum Dritten Reich, Frankfurt am Main 2002, S. 263–264. 84 Vgl. StaHH 213-11, 72425, Protokoll vom 12. Juni 1950 und StaHH 213-11, 72422, Protokoll vom 15. September 1948. 85 StaHH 213-11, 72425, Protokoll vom 12. Juni 1950. Die schon mehrfach erwähnte repräsentative Publikation aus dem „Dritten Reich“ über Kaufmanns Werdegang nennt zudem noch die Erstürmung von Lemkau, und dass Kaufmann mit dem Schlesischen Adler II. Klasse ausgezeichnet worden sei. Vgl. Lenzing: Kaufmann, S. 40. 86 Vgl. zur sehr bekannten Schlacht um den Annaberg Przybyła, Piotr: Annaberg. Die Heilige und der Vulkan, in: Hahn, Hans Henning/Traba, Robert (Hrsg.): 20 Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, Paderborn 2018, S. 107–129, hier S. 115–117. 87 Vgl. Schwarz van Berk: Laudatio in memoriam. Karl Kaufmann. * 10.10.1900, † 4.12.1969 in Hamburg [o. J.] [o. O.], S. 2. 88 Zu den rechtskonservativen Jugendbünden innerhalb der sehr heterogenen Jugendbewegung nach dem Ersten Weltkrieg vgl. Ahrens, Rüdiger: Bündische Jugend. Eine neue Geschichte. 1918–1933, Göttingen 2015, S. 77–99.
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2. Aufstieg in und mit der Partei
2.1. Aufbau der NSDAP im Rheinland (1920–1925)
„Ich erwarte Kaufmann. Hitler wird verboten. Der alte Jammer. Aber eine Idee läßt sich nicht unterdrücken. Der Gedanke lebt und wird leben. Wir jungen Männer müssen ihn zur Tat machen. Opfern! Das Reden hilft nichts. Handeln! Sozialisten der Tat sein. Wie wenig sind wir das. Wahre Christen sein! So schwer, so wahnsinnig ist das!“ 1
Dies schrieb Goebbels am 16. März 1925 in sein Tagebuch. In der Tat waren die frühen 1920er Jahre für die Partei und ihre Aktivisten eine entbehrungsreiche Zeit, auch und gerade im Rheinland. Quellentechnisch betrachtet ist die sogenannte „Frühzeit“ der NSDAP bis zu ihrer formalen Wiedergründung 1925 in beinahe jedem Gau äußerst schwierig nachvollziehbar. Dies hat mehrere Gründe. Es war nicht einfach von Beginn an das gesamte Reichsgebiet mit NSDAP-Gliederungen übersät. Die Partei selbst war zuerst nur in München, später dann in ganz Bayern und nach und nach in anderen Teilen des Reiches aktiv. Hierdurch entstand eine Art „Wildwuchs“ an Gliederungen. Nicht nur stritten sich Gauleiter untereinander über ihre Gaugrenzen, sondern oftmals wechselten auch ganze Gliederungen von der Ortsgruppe bis zum Gauverband von rechtsextremenvölkischen Splittergruppierungen hin zur NSDAP, obwohl diese meistens keine geschlossenen Übertritte, sondern individuelle Aufnahmeanträge jedes Einzelnen haben wollte. Die Vorläufer der Parteiorganisation waren jedenfalls je nach Region die gleichen: Meistens handelte es sich um den eher losen „Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund“ (DVSTB), Streichers recht kleine „Deutschsozialistische Partei“ (DSP), diverse Freikorps oder kleinste Einzelgruppen. In dieser „Frühzeit“ bestand noch kein professioneller Parteiapparat, der durchbürokratisiert, hoch effizient und straff diszipliniert hätte arbeiten können. Vielmehr war in dieser Phase eher typisch, dass die „Gauzentrale“ aus einer privat genutzten Schreibmaschine in der Privatwohnung des jeweiligen Gauleiters bestand 2. Dass solche Umstände gepaart mit häufigen Gauleiterwechseln und Übertritten der Gliederungen zu anderen (und oft rivalisierenden) Organisationen sowie der Umwandlung in nominell anderslautende „Tarnorganisationen“ zwecks Umgehung der vielen Parteiverbote zu einer sehr ungünstigen Quellenlage führten, war fast schon vorprogrammiert. Ähnliches ist auch für Kaufmanns persönliche Aufbauarbeit im Rheinland zu beobachten. Da die Thematik der Gauleiter und Kaufmanns eigene Amtsführung als einer 1 Goebbels: Tagebücher, Bd. 1, S. 166. 2 Vgl. Hüttenberger: Wandel, S. 25f.
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der Gauleiter der „Frühzeit“ noch an anderer Stelle dargelegt wird 3, soll hier nur darauf eingegangen werden, was Kaufmann innerhalb dieses recht unstrukturierten „Haufens“ an sich gegenseitig ablehnenden rechtsextremen Organisationen für die NSDAP bis zur Übernahme der Gauleitung geleistet hat. Hierbei ist bereits vorab ein Umstand deutlich zu machen, auf den noch detailliert eingegangen wird: Kaufmanns Gauleiteramt wurde von den Nationalsozialisten und ihm selbst oftmals mit 1921, 1922 oder auch mal mit 1924 angegeben. Diese Jahresdaten wurden auch über 1945 hinaus immer weiter tradiert. All diese Angaben sind unzutreffend (denn Kaufmann wurde „erst“ 1925 Gauleiter). Die verschiedenen Angaben haben zwei Gründe. Erstens war wegen der hohen Fluktuation von Organisationszugehörigkeit, Funktionären und Gliederungen retrospektiv für die jeweils rückschauenden Personen offenbar nie ganz klar, ab wann denn nun von einem NSDAP-Gau gesprochen werden könnte, und noch dazu, ab wann Kaufmann diesem vorgestanden haben soll. Zweitens lag der Vorteil einer möglichst frühen Führungsposition für die Zeitgenossen der NSDAP nach 1925 deutlich auf der Hand: Wer sich so früh zur „Wahrheit“ bekannt und für diese engagiert hatte, hatte „Durch-“ wie „Weitblick“ bewiesen. Es gab aber erst 1925 offiziell und formal einen NSDAP-Gauverband im nördlichen Rheinland. Auch rein faktisch kann vor 1925 nicht von Gaustrukturen gesprochen werden. Klar ist auch, dass andere Gauverbände vor 1925 einer anderen Organisation hätten angehören müssen. Kaufmann war aber beispielweise kein DSP-Mitglied oder gar DSP-Gauleiter. Und nicht zuletzt ist auch klar, dass Kaufmann bis 1924 als Arbeiter die meiste Zeit über in Bayern war. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass es einen rheinischen NSDAP-Gauleiter gegeben haben soll, der sich als ungelernter Arbeiter in Bayern durchschlug, gleichzeitig von dort einen Gauverband im teils besetzten Rheinland leitete, und der sowohl den dortigen Ortsgruppen als auch der Parteizentrale in München völlig unbekannt war. Kaufmann war vor 1925 definitiv kein Gauleiter, sondern anderweitig für die „Bewegung“ aktiv. Das Ruhrgebiet war eine der ersten Regionen, in denen die NSDAP außerhalb Bayerns Fuß fassen konnte. Schon für den Mai 1920 ist eine Ortsgruppe in Dortmund belegt. Einzelne Mitglieder gab es auch ohne Organisation (diese waren dann Mitglieder der Ortsgruppe München oder „nur“ der Gesamtpartei), aber mit der Ortsgruppe Dortmund war die erste förmliche Gliederung im Ruhrgebiet entstanden 4. Von einem getarnten Gauverband der mit Deutschvölkischen vermischten Nationalsozialisten kann mit etlichen Einschränkungen ab 1924 gesprochen werden, wenngleich nicht unter der Führung Kaufmanns. Während die NSDAP verboten war, schlossen sich Nationalsozialisten und Völkische verschiedener Richtungen zu mehreren rivalisierenden Organisationen zusammen. Für die Nationalsozialisten war damit die Möglichkeit der „Ersatzorganisation“ gegeben, nachdem ihre Partei nicht mehr als NSDAP firmieren durfte. Dies waren besonders die „Großdeutsche Volksgemeinschaft“ (GVG), der „Völkisch-Soziale Block“
3 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen in den (Unter-)Kapiteln 2.2. und 2.3. 4 Vgl. grundlegend Böhnke, Wilfried: Die NSDAP im Ruhrgebiet 1920–1933. Eine Regionalstudie zur Entstehung und zum Aufstieg der Staatspartei des Dritten Reiches in der Weimarer Republik, Marburg 1970, S. 40–48.
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(VSB) sowie die „Deutschvölkische Freiheitspartei“ (DVFP) 5. Auf lokaler Ebene fanden sich auch diverse „Lesezirkel“ und ähnliche Gruppierungen zusammen, darunter auch in Elberfeld 6. Im Bereich des nördlichen Rheinlands bildeten sich jedenfalls drei sogenannte Landesverbände des VSB aus, denen Kreise, Bezirke sowie Ortsgruppen als Untergliederungen zugeordnet waren. Nicht nur in dieser Struktur, sondern auch in den ungefähren Grenzen der Landesverbände Westfalen-Süd, Westfalen-Nord und Rheinland-Nord 7 finden sich erste gautypische Merkmale. Die NSDAP hatte solche bis Anfang 1925 erst in Ansätzen in Bayern entwickelt. Formal stand die Partei damit bei ihrer Reorganisation nach Hitlers Haftentlassung Ende 1924 vor einer zentralen Frage: Wie soll die künftige Struktur zwischen Gesamtparteileitung und Ortsgruppen aussehen? Eine Mittelinstanz musste schon aus rein organisatorischen Gründen eingeführt werden, wenn die Macht nicht schlagartig durch einen Putsch, sondern mittel- bis langfristig durch demokratische Wahlen erlangt werden sollte. Hitler wollte ein Bindeglied zwischen der Parteileitung und den lokalen Ortsgruppen 8. Als solche kristallisierten sich schließlich die Gaue heraus, wobei wie erwähnt mitunter auf die Vorläufer der Ersatzorganisationen zurückgegriffen werden konnte, während in Bayern schon Untergaue bestanden. Über die konkrete Arbeit der Landesverbände und der Ortsgruppen der völkisch-nationalsozialistischen Organisationen lässt sich mangels Quellen nur sehr wenig ermitteln. Die Politische Polizei und die zeitgenössische Presse, also zwei Quellengattungen, die lokale Aktivitäten wohl am schnellsten entdeckt hätten, berichteten beinahe überhaupt nichts über Nationalsozialisten in der Region. Eigene Presseerzeugnisse, wie die von Goebbels dominierte „Völkische Freiheit“, die sich gar als Gauzeitschrift präsentierte, beschäftigten sich eher mit übergeordneten Themen statt lokalen oder regionalen Ereignissen. Wahrscheinlich lag das nicht zuletzt gerade am Mangel an solchen. Insofern ist es auch nur sehr eingeschränkt möglich, Kaufmanns Biografie in diesem wichtigen Zeitabschnitt näher zu kommen. Wie erwähnt kehrte er irgendwann im Laufe des Jahres 1924 endgültig aus Bayern zurück. Warum er zurückkam ist genauso unklar 5 Vgl. zur Problematik, vor der die Regional- und Lokalgliederungen der NSDAP nach dem verbotsbedingten Wegfall ihres Fixpunktes Hitler/München standen, und wie diese versuchten damit umzugehen, Büttner, Ursula: „Volksgemeinschaft“ oder Heimatbindung: Zentralismus und regionale Eigenständigkeit beim Aufstieg der NSDAP 1925–1933, in: Möller, Horst/Wirsching, Andreas/Ziegler, Walter (Hrsg.): Nationalsozialismus in der Region. Beitrage zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, München 1996, S. 87–96, hier S. 92– 96. 6 Vgl. hierzu Kiel, Markus: „Wuppertal – Hochburg der nationalsozialistischen Bewegung“. Die Gründung der NSDAP in Elberfeld vor 100 Jahren und deren Entwicklung von 1922 bis 1932, Wuppertal 2021, S. 35–43. 7 Vgl. Böhnke: Ruhrgebiet, S. 68–70. 8 Vgl. Horn, Wolfgang: Der Marsch zur Machtergreifung. Die NSDAP bis 1933, 2. Aufl., Düsseldorf 1980, S. 280.
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wie der konkrete Zeitpunkt. Die Datierungsfrage wird noch zusätzlich dadurch erschwert, dass einzelne Quellen beweisen, dass er vor 1924 zumindest zeitweise wieder in Elberfeld war, darunter auch sein zeitweiliger Freikorpseinsatz im Ruhrgebiet. Es ist also zu untersuchen, was ür diese Zeitspanne zwischen 1920 und 1924 für Kaufmann selbst nachweisbar ist. Ergänzend ist zu fragen, was für diese Zeitspanne für die Elberfelder NSDAP und die Völkischen nachweisbar ist. Hieraus können Informationen über Kaufmanns Wirken oder eben Nichtwirken gewonnen werden. Ein Ansatzpunkt ist hierbei der DVSTB. Der DVSTB war zwar eine recht lose Organisation, die aus dem kaiserzeitlichen „Alldeutschen Verband“ (ADV) hervorgegangen war und sich dabei nochmals erheblich radikalisiert hatte. Aber gerade diese lose Struktur begünstigste seinen Sammlungscharakter, vor allem im rechtsgerichteten Spektrum. Viele spätere Nationalsozialisten (vor allem außerhalb Bayerns) erlebten den DVSTB nach dem Ersten Weltkrieg als erste einigende Organisation völkischer Interessen und wurden von den wenigen Jahren seiner Existenz stark geprägt 9. Da ein Großteil der später führenden Nationalsozialisten zu diesem Zeitpunkt im Alter von Anfang 20 waren, also in einem charakterbildenden Lebensabschnitt, wirkte diese politische Sozialisation oftmals noch intensiver. Auch in Elberfeld entstand in Nachfolge des ADV eine DVSTB-Ortsgruppe. Und auch Kaufmann gehörte der besagten Ortsgruppe an. Ihre Aktivitäten wurden von der Politischen Polizei als potentiell republikfeindliche Organisation beobachtet. Eine Satzung besaß die Ortsgruppe offenbar nicht, sodass die Polizei sich in einem ersten Schritt mit der Satzung des Gesamtbundes auseinandersetzte, welche sie als von der Ortsgruppe übernommen einschätzte. Wichtige Punkte waren hierbei unter anderem folgende: „Der Bund erstrebt die sittliche Wiedergeburt des deutschen Volkes durch die Erweckung und Förderung seiner gesunden Eigenart. Er erblickt in dem unterdrückenden und zersetztenden [sic] Einfluß des Judentums die Hauptursache des Zusammenbruchs. […] Der Schutz- und Trutzbund macht es sich zur Aufgabe, über Wesen und Umfang der jüdischen Gefahr aufzuklären und sie unter Benutzung aller politisch, staatsbürgerlichen und wirt-s[c]haftlichen Mittel zu bekämpfen. […] Mitglieder können alle unbescholtenen deutsche Männer und Frauen werden, die bei der Anmeldung schriftlich versichern, daß sie deutscher Abstammung sind.“ 10
Die Satzung war also mit einigen strikt antisemitisch ausgerichteten Programmpunkten ausgestattet. Dies war einer der wenigen Hauptelemente des DVSTB. In das Blickfeld der 9 Vgl. zum DVSTB und dem völkischen Milieu, innerhalb dessen ihm die beschriebene Sammlungsfunktion zukam, ohne selbst jemals eine schlagkräftige Organisation zu werden, Breuer, Stefan: Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008, S. 150– 160. 10 LAV NRW R BR 0007, Nr. 15609, Satzungen des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbündnisses.
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Polizei geriet der DVSTB in Elberfeld ab 1921 11. Der Regierungspräsident Düsseldorf ließ sich gelegentlich über diese informieren. Die Kriminalpolizei hielt in einem entsprechenden Schreiben unter anderem fest: „Die vor zwei Jahren gegründete hiesige Ortsgruppe […] zählt rund 1500 Mitglieder. Eine besondere Jugendgruppe umfaßt 120 Angehörige. […] Die Gruppe veranstaltet regelmäßig Mitglieder- und zeitweilig Volksversammlungen. […] In der letzten grösseren Versammlung sprachen Roth-Hamburg und Wulle-Berlin.“ 12
Einen Elberfelder DVSTB-Ableger gab es laut dem Schreiben bereits seit 1919. Eine besondere Rolle spielte innerhalb dieser Ortsgruppe nach übereinstimmender Auffassung der verschiedenen Polizeistellen die Jugendgruppe. Und bei dieser kam schließlich auch Kaufmann ins Spiel: „Dieser Verein [DVSTB] gründete 1920 eine Jugendgruppe mit etwa 300 Mitgliedern. Der Kaufmann Karl Kaufmann […] ist ihr Vorsitzender. Zweck der Gruppe ist, die Jugend geistig und körperlich zu stählen und dieselbe in christlicher, nationaler Weise zu erziehen. Durch sportliche Veranstaltungen und Vorträge will man die Jugend vor sittlicher Verwahrlosung schützen. Sie bekämpft wie der Hauptverein das Judentum. Vereinsabzeichen ist ein Wikkingerschiff auf blauem Grund. Als Bundesabzeichen gilt eine blaue Rosette mit einem darin befindlichen Hakenkreuz; daher der Name ‚Hakenkreuzler‘. Die Versammlungen finden jeden Freitag Abend im Vereinshaus statt.“ 13
11 Die allgemeine Stimmungslage war aber wie in großen Teilen des Reiches schon seit der Revolution von 1918 mindestens gereizt. Dass die rechtsradikalen Organisationen im Tal der Wupper konkret 1920 und teilweise sogar erst im Lauf der frühen 1920er Jahre von der Polizei näher beobachtet wurden, lag an der Niederlage des „Kapp-Putsches“ im März 1920. Hierbei fielen dann mehrere der rechtsextremen Gruppierungen ins Auge, vgl. Klein, Ulrich: „Mekka des deutschen Sozialismus“ oder „Kloake der Bewegung“? Der Aufstieg der NSDAP in Wuppertal 1920 bis 1934, in: Goebel, Klaus (Hrsg.): Über allem die Partei. Schule, Kunst, Musik in Wuppertal 1933–1945, Oberhausen 1987, S. 105–149, hier S. 106–107. 12 LAV NRW R BR 0007, Nr. 15609, Schreiben vom 11. Januar 1921. Hervorhebungen im Original. Gemeint waren Alfred Roth, der unter anderem zeitweise Hauptgeschäftsführer des GesamtDVSTB war, sowie Reinhold Wulle, der zum Beispiel deutschnationaler, später deutschvölkischer Reichstagsabgeordneter war. Vgl. zu ersterem Lohalm, Uwe/Ulmer, Martin: Alfred Roth und der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbundes. „Schrittmacher für das Dritte Reich“, in: Schmidt, Daniel/Sturm, Michael/Livi, Massimiliano (Hrsg.): Wegbereiter des Nationalsozialismus. Personen, Organisationen und Netzwerke der extremen Rechten zwischen 1918 und 1933, Essen 2015, S. 21–36 und zu letzterem Schrader, Stefanie: Deutscher Herold, in: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 5. Organisationen, Institutionen, Bewegungen, Berlin/Boston 2012, S. 173–175. 13 LAV NRW R BR 0007, Nr. 15609, Schreiben vom 18. März 1922.
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Kaufmann war also zumindest zeitweise Vorsitzender der Jugendabteilung. Und hierbei handelte es sich nicht um eine kleine Gruppe, sondern um eine dreistellige Ansammlung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. In Kaufmanns Händen lag also bereits mit Anfang 20 Jahren die Organisation, der Zusammenschluss sowie das Zusammenhalten des Vereinslebens mehrerer Hundert Personen, darunter beispielsweise die wöchentlichen Veranstaltungen jeden Freitag. Die Bedeutung von seiner Jugendgruppe ging aber noch weiter. Die Polizei machte gegenüber dem Regierungspräsidenten umfangreiche Ausführungen über diese, woraus ein längeres Zitat folgen soll: „Bei der hiesigen Ortsgruppe […] ist zu unterscheiden zwischen dem eigentlichen Hauptverein, dessen Mitglieder sehr wenig von sich reden machten, und der Jugendgruppe, die, namentlich so lange Günther [Kaufmanns nicht näher datierbarer Vorgänger] ihr Führer war, wiederholt hervorgetreten ist. Der Hauptverein hatte am 1. April 1921 500 Mitglieder, die Jugendgruppe zur gleichen Zeit 300, bei Auflösung [im Juli 1922] bestand die gesamte Organisation aus 1400 Mitgliedern, darunter 500 Jugendliche. […] Der Hauptverein hielt seine wöchentlichen Mitgliederversammlungen Mittwochs im hiesigen Evgl. Vereinshause ab, die Jugendgruppe hatte Freitags ihre bestimmten Zusammenkünfte, teils ebenfalls im Evgl. Vereinshaus, teils in anderen Lokalen. Im letzten Jahre veranstaltete die Ortsgruppe 8 grosse öffentliche Vorträge in Elberfeld. […] Auch gehörten viele Jugendliche aus der Ortsgruppe gleichzeitig dem Stahlhelm an. […] Am bekanntesten von allen Mitgliedern der Ortsgruppe wurde der frühere Vorsitzende der Jugendabteilung, der Kaufmann Alfred Günther, der seit einigen Wochen […] spurlos verschwunden ist. […] Er stand lange Zeit hindurch in dem dringenden Verdacht, Gruppenführer der Geheimverbindung ‚Organisation Consul‘ zu sein. Eine weitere [besonders bekannte Person] war Hans Hustert […], der [sich] mit seinem Freunde und Vereinsgenossen Oe[h]lschläger z. Zt. in Cassel in Untersuchungshaft wegen des Attentats auf den Oberbürgermeister Scheidemann befindet. […] Die Jugendgruppe unterhielt Beziehungen zu von Killinger, Kapitänleutnant Werber und wahrscheinlich deren Hintermann Ehrhardt. Eine ganze Anzahl der Mitglieder hatte an den Oberschlesienkämpfen teilgenommen und dort dem Führer der Sturmkompagnie Koppe, dem oben erwähnten Korvettenkapitän von Killinger, unterstanden. Von Killinger und Werber haben mehrfach die jungen Leute in Elberfeld besucht. Diese Besuche gaben zu dem Gerücht Anlass, die hiesige Jugendgruppe sei eine verkappte Organisation Escherich bezw. Ehrhardt. Tatsache ist, dass die Mörder Erzbergers, Schultz und Tillessen, […] den Mitgliedern der Ortsgruppe bekannt gewesen sind. Tatsache ist ferner, dass Mitglieder der Jugendgruppe den Versuch unternommen hatten, […] von Killinger aus der Untersuchungshaft zu befreien.“ 14
14 Ebd., Schreiben vom 6. September 1922.
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Da immer intensivere Kontakte nach München entstanden und sich konsolidierten, ging die Polizei auch davon aus, dass „es sich aber um Herstellung einer innigen Verbindung zwischen dem nationalsozialistischen Führern Hitler und Klintzssch in München mit der hiesigen Ortsgruppe bezw. deren Jugendabteilung [handelt]“ 15.
Die von der Polizei gesammelten Informationen geben also einen ungefähren Eindruck von der Lage des Elberfelder DVSTB. Offenbar war die Ortsgruppe stark von der Jugendabteilung geprägt. Diese war nicht nur quantitativ ein starker Faktor. Es bestanden Verbindungen zu mehreren Freikorps, zur OC als Organisation sowie einzelnen Attentätern, zudem auch zur werdenden NSDAP in München 16. Da Kaufmann Freikorpsmitglied gewesen war, und dies auch noch ausgerechnet unter von Killinger in Oberschlesien, und er zudem auch noch der OC zugehörte, passt die von der Polizei beobachtete Tätigkeit der Jugendgruppe in Elberfeld zum Werdegang des noch jungen Kaufmann. Weiteres über Kaufmanns Tätigkeit im DVSTB ist aber mangels Quellen unklar. Es lässt sich nicht einmal präzise seine Amtszeit als Vorsitzender der Jugendgruppe feststellen. Denn da weder originäre Unterlagen des DVSTB existieren, noch Kaufmann in seinen Nachkriegsverfahren auf diese Zeit zu sprechen kam, kann vieles nicht geklärt werden. Aus den bisher zitierten internen Unterlagen der Polizei wird nur noch deutlich, dass Kaufmann offenbar nicht von Beginn an die Jugendgruppe leitete. Ob er sie noch in ihrem ersten Jahr 1920 übernahm, ist auch unklar. Definitiv war er 1921 und 1922 ihr Vorsitzender. Zugleich war er ab 1920 bis 1923 auch definitiv überwiegend in Elberfeld, da er in dieser Zeit in der Firma seines Vaters den Beruf des Kaufmanns erlernte. Erst im Laufe des Jahres 1923 ging er nach Bayern. Wann sein Wirken im DVSTB aber sein Ende fand, ist ähnlich schwierig zu datieren. Am 1. Juli 1922 erging aus Berlin die Anordnung, den als (zu) offen republikfeindlich
15 Ebd. Unter definitiven Angehörigen der OC fand sich Kaufmann in den Polizeiunterlagen jedoch nicht. Vgl. LAV NRW R BR 0007, Nr. 16805, Schreiben vom 15. Juni 1923 sowie ebd., Schreiben vom 8. Februar 1926. Das kann aber nicht weiter verwundern, da eine Geheimgesellschaft immerhin auf Geheimhaltung achten muss, und bei der OC zeitgenössisch in der Regel nur diejenigen Mitglieder bekannt wurden, die bei Attentaten festgenommen werden konnten. 16 Spätestens bei einer solchen Reise nach München, vielleicht aber auch schon bei seinem Weggang aus dem Rheinland nach Bayern, kam Kaufmann offenbar mit der Parteizentrale in direkten Kontakt. Alfred Rosenberg schilderte rückblickend auf seine erste Begegnung mit Kaufmann Anfang der 1920er folgendes: „Als wir ganz am Beginn des Kampfes standen, kamen auch manche blutjunge Burschen nach München zu mir in die Redaktion [der Parteizeitung „Völkischer Beobachter“], um Auskunft zu erhalten über Hitler, über das Programm. Sie suchten – wie Millionen andere. Darunter auch einer mit einem Jungengesicht, aber schon damals mit klarem sachlichem Blick. Es war Karl Kaufmann, der spätere Gauleiter von Hamburg. Kein Mensch der Massenversammlung oder der Feder, aber ein zäher, überzeugender Werber mit innerem Feuer.“ Rosenberg, Alfred: Letzte Aufzeichnungen. Ideale und Idole der nationalsozialistischen Revolution, Göttingen 1955, S. 153. Hervorhebungen im Original.
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eingestuften DVSTB zu verbieten 17. Der zuständige Regierungspräsident kam schon am 12. Juli dieser Anordnung nach 18. Die Entwicklung der zitierten Mitgliederzahlen schwankte zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon stark, und das Aufkommen anderer, attraktiverer rechtsextremer Organisationen hatte bei dem losen Sammlungscharakter des DVSTB bereits zuvor zu einem langsamen Zerfall geführt. Dies galt auch für Elberfeld. Von den bis zu 1500 Mitgliedern waren bei der Auflösung nur noch knapp Einhundert nachweisbar, wobei es sich bei deren Ermittlung ausdrücklich um eine „noch nachträglich ermittelte Liste“ handelte 19. Die besagte Liste enthielt nicht Kaufmanns Namen 20, obwohl er erstens immer noch in Elberfeld lebte und zweitens der letzte nachweisbare Vorsitzende der Jugendgruppe ist. Dies könnte zwar ein Indiz darauf sein, dass Kaufmann bereits aktiv ausgetreten war, während sich der Bund 1922 im Zerfall befand 21. Dass die Polizei seinen Namen und seine etwaige Mitgliedschaft zum Verbotszeitpunkt nicht nachweisen konnte, obwohl er gerade als eine der wichtigsten Persönlichkeiten des DVSTB in Elberfeld galt, weist darauf hin. Parallel zum Auflösungsprozess gab es bereits Bestrebungen, in Elberfeld eine Ortsgruppe der NSDAP zu gründen. Den ersten Versuch machte offenbar niemand anderes als Kaufmanns Vorgänger im Amt des Jugendvorsitzenden: „Günther-Elberfeld hatte vor einem Jahr [1921] die Absicht, hier eine Ortsgruppe zu gründen. Das Vorhaben kam nicht zur Ausführung. Heute ist die Bewegung im hiesigen Bezirk tot.“ 22 Trotz der vorherigen jahrelangen Kontakte zwischen Elberfelder DVSTB (beziehungsweise dessen Jugendgruppe) und der Münchener NSDAP und entgegen der erwähnten Empfehlung der OC, in die NSDAP einzutreten, gab es in Elberfeld erst unmittelbar nach Verbot des DVSTB neuerliche Bestrebungen zur Gründung einer NSDAP-Ortsgruppe. So konnte die Politische Polizei im Juli und August 1922 kurz nach dem Verbot des DVSTB nicht weniger als vier Versuche dazu ausmachen. Die betreffenden Initiatoren handelten teilweise von sich aus und offenbar teilweise im Auftrag Münchens. Es scheiterte aber stets daran, genügend Interessierte hierfür zu finden, obwohl gezielt unter den DVSTB-Mitgliedern geworben wurde. Unter den dabei bekannt gewordenen Namen war Kaufmann aber
17 Vgl. LAV NRW R BR 0007, Nr. 15609, Schreiben vom 1. Juli 1922. Zu den allgemeinen Umständen, die zum Verbot des DVSTB 1922 in etlichen Ländern führten vgl. Lohalm, Uwe: Völkischer Rassismus. Die Geschichte des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes. 1919–1923, Hamburg 1970, S. 246–258. 18 Vgl. LAV NRW R BR 0007, Nr. 15609, Schreiben vom 12. Juli 1922. 19 Vgl. LAV NRW R BR 0007, Nr. 16795, Schreiben vom 12. Oktober 1922. 20 Vgl. ebd, Namentliche Liste des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes. 21 Dies lag einerseits an der lockeren Organisation, die Fliehkräfte einer Sammlungsorganisation ohnehin begünstigten, und andererseits an Streitigkeiten in der Führung, etwa zwischen einzelnen völkischen Gruppen. Vgl. Lohalm: Rassismus, S. 268–272. 22 LAV NRW R BR 0007, Nr. 15717, Schreiben vom 13. Mai 1922.
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nicht vertreten 23. Dies muss aber nicht heißen, dass Kaufmann nicht unmittelbar an einer NSDAP-Mitgliedschaft arbeitete. Denn wie die Polizei an anderer Stelle herausfand, hatten „nach der Auflösung der [DVSTB-]Jugendgruppe eine Reihe Mitglieder derselben sich sofort als Mitglieder der Nationalsozialistischen Arbeiter-Partei […] einschreiben“ lassen, indem sie sich nach München zur Parteizentrale begaben 24. Gleichzeitig hatte die Gründung einer NSDAPOrtsgruppe in Elberfeld nach etlichen Anläufen noch im September Erfolg 25 Die Politische Polizei reagierte sofort und vernahm einige der neuen Parteimitglieder. Einer von ihnen erklärte dabei, dass die Ortsgruppe etwa 180 Mitglieder habe 26. Fast jeder Vernommene wurde auch nach konkreten Namen der neuen Mitglieder befragt. Kaufmanns erklang aber nie 27. Dies könnte durchaus der Wahrheit entsprochen haben, da sich Kaufmann wahrscheinlich unter den nach München Gereisten befand und er zugleich unter den neuen NSDAP-Mitgliedern in Elberfeld als führender DVSTB-Mann sehr bekannt sein musste, denn laut Polizei haben „[v]on den 34 jungen Leuten, die [namentlich] als Mitglieder jener Partei in der vorliegenden Ermittlungssache genannt sind, […] nicht weniger als 29 den aufgelösten Vereinen ‚Deutsch-völkischer Schutz und Trutzbund‘ […] bezw. ‚Stahlhelm‘ angehört“ 28.
Wäre Kaufmann bei der Gründung der NSDAP-Ortsgruppe dabei gewesen, wäre er also definitiv von mindestens einer der vernommenen Personen erkannt worden. Kaufmanns NSDAP-Beitritt ist also formal betrachtet äußerst verworren. Ohne hier schon zu sehr vorzugreifen sei aber schon erwähnt, dass sich diese durchaus chaotische Angelegenheit auch unmittelbar auf seinen offiziellen Beitrittszeitpunkt und seine Mitgliedsnummer auswirkte. Er hatte hierdurch keine Nachteile, aber erst Hitlers Eingreifen war es zu verdanken, dass auch Kaufmann 1935 rückwirkend eine der begehrteren Mitgliedsnummern erhielt. Die erste Nummer erhielt Kaufmann erst 1926, obwohl er 23 Der erste Versuch war offenbar bereits am 19. Juli, also nur eine Woche nach der Auflösung der DVSTB-Ortsgruppe, vgl. ebd., Schreiben vom 29. Juli 1922. Weitere Personen gaben gar an, bereits eine NSDAP-Ortsgruppe gegründet zu haben, was sich jedoch als unzutreffend erwies, vgl. ebd., Vermerk vom 26. Juli 1922. Auch gab es eine Person, die behauptete, eine Anordnung zur Gründung einer Ortsgruppe direkt von der Parteileitung in München erhalten zu haben, vgl. ebd., Schreiben vom 17. August 1922. Ein weiterer Gründungsversuch scheiterte daran, dass bereits versammelte DVSTB-Mitglieder es am 11. August ablehnten, eine NSDAP-Ortsgruppe zu gründen, und anschließend den Versammlungsort verließen, vgl. ebd., Vermerk vom 16. August 1922, ebd., Vermerk vom 21. August 1922, sowie ebd., Vermerk vom 26. August 1922. 24 LAV NRW R BR 0007, Nr. 15609, Schreiben vom 6. September 1922. 25 Vgl. LAV NRW R BR 0007, Nr. 16795, Schreiben vom 12. September 1922. 26 Ebd., Protokoll vom 2. Oktober 1922. 27 Ebd., Protokoll vom 3. Oktober 1922. 28 Ebd., Schreiben vom 10. Oktober 1922.
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sogar seit 1925 Gauleiter war, da sich ein jahrelanger Streit zwischen Gau und Parteileitung über die Ausweise neuer Mitglieder und deren Aufnahmegebühren hinzog, durch den auch seine Nummer betroffen und er nicht nach dem von München aufgestellten Verfahren Gauleiter geworden war 29. Die Nummer 32 667 von 1926 war bei später mehr als 10 Millionen Mitgliedern zwar immer noch sehr prominent. Aber da er eigentlich schon 1921/1922 eine Nummer hätte erhalten müssen 30, wäre er eher im hohen vierstelligen Bereich einzuordnen gewesen. 1935 erhielt er jedenfalls rückwirkend die Nummer 95. Die Konsolidierung der neuen Ortsgruppe wurde schon zwei Monate nach ihrer Gründung erheblich erschwert. Denn bereits am 15. November 1922 wurde die NSDAP als Partei in Preußen mithilfe des „Republikschutzgesetzes“ verboten und aufgelöst 31 (was in den meisten Ländern des Reiches 1922 wegen der Vielzahl an politischen Morden rechtsextremer Provenienz geschah, zugleich aber bereits ein Jahr vor dem reichsweiten Parteiverbot lag 32). Während also der Elberfelder DVSTB verboten war, die NSDAP bald nach ihrer Gründung sein Schicksal geteilt hatte und Kaufmann wieder dauerhaft in Elberfeld weilte, musste sich nunmehr die Frage nach einer Konsolidierungsmöglichkeit stellen. Die Rückmeldungen der Politischen Polizei an den Regierungspräsidenten geben auch hierüber wieder Aufschluss. In diesem Falle war es allerdings nicht die örtliche Dienststelle in Elberfeld, sondern im benachbarten Barmen, die sich in ihrem Bericht aber ausdrücklich auf die Situation im gesamten Bergischen Land bezog: „Die seinerzeitige Auflösung […] hat die Entwicklung nur vorübergehend gehemmt. Der Zusammenhalt der einzelnen Mitglieder blieb bestehen. Man trat der Ortsgruppe München als Einzelmitglied bei und kam im übrigen zwanglos und in unregelmässigen Zwischenräumen zu Unterhaltung und Besprechung in den Wohnungen, am Biertisch, auf der Strasse zusammen. […] Das geistige Bindeglied bildete der stark gelesene ‚Völkische Beobachter‘, der heute in nicht kleiner Zahl nach hier gesandt wird, übrigens auch an den Zeitungsständen zu haben ist. […]
29 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen in den Unterkapiteln 2.2. und 2.3. 30 In einem seiner Nachkriegsverfahren gab er an, „[i]ch bin im Jahre 1921 erstmalig in die N.S.D.A.P. eingetreten. Eine Mitglieds-Nummer aus damaliger Zeit ist mir nicht bekannt.“ Vgl. StaHH 213-11, 72424, Protokoll vom 12. Juni 1950. Es könnte hierbei der Verdacht entstehen, dass er überhaupt nicht in die Partei eingetreten sei. Dies kann aber so gut wie ausgeschlossen werden. Sonst wäre er wohl nicht in der „Verbotszeit“ bis 1925 für die Partei werbend, diskutierend und organisierend durch das Land gezogen. Die Situation wird also mit der chaotischen Parteiverwaltung zusammengehangen haben. 31 Vgl. zum Instrument des Parteiverbots in der Weimarer Republik und der Rolle der NSDAP hierbei Stein, Katrin: Parteiverbote in der deutschen Verfassungsgeschichte vom Vormärz bis zum Ende der Weimarer Republik, in: ZParl, 32/2002, S. 536–550, hier S. 545–550. 32 Eine Übersicht zu den einzelnen Verboten gibt die gleiche Autorin an anderer Stelle: Stein, Katrin: Parteiverbote in der Weimarer Republik, Berlin 1999, S. 173–175.
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Sie bilden [im April 1923] noch immer keine geschlossene Organisation. Einer sicher erwarteten abermaligen Auflösung setzt man sich nicht aus. Nichtsdestoweniger wird von Eingeweihten die heutige Mitgliederzahl im Bergischen auf 15 000 geschätzt.“33
Relativ früh war Kaufmann in führender Position der Elberfelder NSDAP. Der exakte Zeitpunkt lässt sich zwar nicht bestimmen. Aber da er eine Führungspersönlichkeit des dortigen DVSTB dargestellt hatte, und sich die NSDAP im Bergischen Land anfangs primär aus dem Mitgliederbestand des verbotenen Bundes rekrutierte, ist es nicht unwahrscheinlich, dass Kaufmann einen fließenden Übergang zwischen dem Zerbröckeln des DVSTB und der Findung der NSDAP erlebt hatte. Schon ein interner Polizeibericht vom April 1923 sprach Kaufmann eine Führungsrolle in der Elberfelder NSDAP zu: „Am Sonntag, den 15.4. haben junge Elberfelder Leute unter angeblicher Führung von Alfred Günther, Brinkmann und Kaufmann um 8 Uhr vormittags einen militärisch aufgezogenen Marsch nach Aprath unternommen, der unter Mitwirkung einer Musikkapelle und einer Radfahrerabteilung infanteristische Übungen abgehalten und gegen 11 Uhr mittags den Rückzug angetreten [hat]“ 34.
Ein Polizist war zur Beobachtung geschickt worden (er konnte sich nach seiner Entdeckung nur durch Zufall wieder verstecken) und berichtete unmittelbar danach folgendes über diese Übungen: „Es waren ungefähr 300 Mann. Die Leute teilten sich nun in Gruppenkolonnen. Jede Gruppe war ungefähr 10–12 Mann stark. Die Gruppenführer gaben halblaute Kommandos. Gruppenführer sowie ein Teil der Leute trugen übergeschnallte Leibriemen. Waffen oder sonstige Gegenstände habe ich nicht wahrgenommen. Die einzelnen Gruppen nahmen die ersten Übungen des Exerzier-Reglements durch, z. B. stillgestanden, richt euch, rechts marschiert auf usw. […] Der Busch [des Geländes] war rundherum mit Posten besetzt. Eine Radfahrerabteilung, bestehend aus 25–30 Mann, befuhr die Strasse […]. An der Strassenkreuzung […] stand ein Radfahrerposten, welcher die mit Verspätung angetroffenen Leute zurechtwies. Dieser leitete auch mit Handbewegung die hier und da erscheinenden Radfahrer. 35“
Auch wenn eine solche Übung mit militärischem Charakter für die Elberfelder NSDAP „auf den ersten Blick“ aktiv und aktionistisch erscheinen könnte, war sie doch eine absolute Ausnahme. Insgesamt war von der NSDAP wenig vernehmbar, wenn von den obliga-torischen, aber ebenfalls nicht durchweg nachweisbaren Versammlungsabenden 33 LAV NRW R BR 0007, Nr. 16738, Schreiben vom 19. April 1923. 34 Ebd., Schreiben vom 27. April 1923. Hervorhebungen im Original. 35 Ebd., Schreiben vom 15. April 1923.
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abgesehen wird 36. Erst 1925 sollte es eine Art Durchbruch in der öffentlichen Wahrnehmung und auch in der (internen) Aktivität der bergischen Nationalsozialisten geben. Die weitere „Verbotszeit“, wie sie von den Nationalsozialisten genannt wurde, erschwerte allerdings die Aufrechterhaltung der Ortsgruppe, zumal besonders die Wirren der Jahre 1922 und 1923 ein kontinuierliches Engagement für die noch junge NSDAP bei vielen Mitgliedern und Interessierten be-, wenn nicht gar verhindert haben dürften. Auch der Umstand, dass eine eigentlich verbotene Organisation aufpassen musste, nicht zu viele strafrechtlich verfängliche Beweise für ihre Existenz oder ihre Aktivitäten entstehen zu lassen, erklärt die dünne Quellenlage für die Zeit bis zur Neugründung der Partei 1925. Doch lassen sich auch hier wieder einige wenige Punkte ausmachen, wo Kaufmann als Handelnder hervortrat. Gerade die Spaltung der NSDAP nach dem gescheiterten Putsch in München vom November 1923 zwang die bergischen Nationalsozialisten, sich für oder gegen ein Zusammengehen mit anderen völkischen Gruppen zu entscheiden. Wie erwähnt bildeten sich aus den Ersatzorganisationen, die sich mit Teilen des völkischen Milieus vermengten, 1924 erste gautypische Landesverbände im Ruhrgebiet aus, auf deren Strukturen die 1925 neugegründete NSDAP zurückgreifen konnte. Innerhalb dieser Ersatzorganisationen herrschte aber mehr ein Gegen- als ein Miteinander, wobei gleichzeitig die einzelnen widerstreitenden Gruppen in sich keineswegs homogen und geeint waren. Diese Heterogenität fiel auch der Polizei auf. Noch kurz vor der Reorganisation der NSDAP an Rhein und Ruhr konnte die zuständige Dienststelle dem Regierungspräsidenten rückblickend erläutern, dass „[i]n meinem Amtsbereich […] sich die völkische Bewegung in zwei Lager getrennt [hat]. Es bestehen eine deutsch-völkische Freiheitsbewegung ‚Grossdeutschland‘ und eine nationalsozialistische Freiheitsbewegung ‚Grossdeutschland‘. Die erst genannte Richtung treibt im Kielwasser ‚Wulle‘[,] während die zweite Richtung unter der Führerschaft ‚Hitler – v. Graefe‘ steht. Als örtliche Führer kommen im ersten Falle der Landtagsabgeordnete Wiegershaus und im zweiten Falle der Kaufmann Karl Kaufmann, beide in Elberfeld wohnhaft, in Frage.“37
36 Vielsagenderweise fand sich etwa bei einer Veranstaltung kurz nach Verbot der NSDAP in Preußen ausgerechnet im schon erwähnten evangelischen Vereinshaus niemand anderes als Hermann Esser ein, der dort vor Gleichgesinnten eine Rede hielt, wahrscheinlich auch mit der üblichen anschließenden Diskussion. Vgl. LAV NRW R BR 0007, Nr. 15717, Schreiben vom 15. November 1922. Esser war einer der frühesten Gefolgsleute von Hitler und leitete zeitweise auch den „Völkischen Beobachter“. Ab 1935 hatte er im „Dritten Reich“ stark an Einfluss verloren, und offenbar war es nur Hitlers Eingreifen zugunsten seines alten Freundes, welches Esser vor dem völligen Sturz bewahrte. Vgl. Selig, Wolfram: Esser, Hermann, in: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2/1. Personen. A–K, Berlin 2009, S. 217–218. 37 LAV NRW R BR 0007, Nr. 16738, Schreiben vom 12. Mai 1925. Hervorhebungen im Original.
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Die völkisch-nationalsozialistischen Wirren der „Verbotszeit“ werden durch den zitierten Bericht sehr anschaulich dargestellt (zumal die Nationalsozialisten bis 1925 ohnehin „nur“ eine Gruppe unter vielen innerhalb der Völkischen darstellten). Es gab zwei Lager, beide als „Bewegung“ zu verstehen, beide als „Großdeutschland“ betitelt, eine Richtung unter dem Völkischen Reinhold Wulle und eine unter dem völkisch-nationalsozialistischen Duo Albrecht von Graefe und Hitler. Die Völkischen in Elberfeld wurden angeführt vom früheren DVSTB-Vorsitzenden Friedrich Wiegershaus 38, die Völkischen mit nationalsozialistischem Einschlag vom früheren DVSTB-Jugend-Vorsitzenden Kaufmann (wobei Kaufmann deutlich die Rückkopplung an Hitler suchte, soweit sich dies nachvollziehen lässt 39). Erst die Reorganisation der NSDAP 1925 und das damit einsetzende Absorbieren der völkischen Gruppierungen sollte solchen verworrenen Verhältnissen ein Ende bereiten. In der hier dargelegten Aufbauphase ereignete sich auch der bereits mehrfach erwähnte „Hitler-Ludendorff-Putsch“. Dieser fiel mit dem November 1923 ausgerechnet in Kaufmanns Zeit in Bayern. Offenbar war er genau an jenem Tage auch in München. In der Propaganda der Partei vor und nach 1933 wurde hierauf immer mit Stolz verwiesen. Das Beispiel einer stark gefärbten Publikation soll dies illustrieren: „Am 6. November 1923 ging Karl Kaufmann nach München, um beim Stabschef der SA., Kapitänleutnant Hoffmann, Befehle zu holen. So erlebte er auch den tragischen 9. November in München. Die blutigen Ereignisse vor der Feldherrnhalle zeigten, daß die Zeit noch nicht reif war. An jenem Tage half Kaufmann auf der Geschäftsstelle Alfred Rosenberg die Akten der Partei zu verbergen; nachmittags sah er dort auch zum letzten Mal den Dichter Dietrich Eckart. – Zwei Tage später hatte ihn im Wuppertal schon die Polizei aufgespürt und verhaftet.“ 40
38 Von Graefe, Wiegershaus und Wulle weisen klassische Werdegänge der Völkischen der frühen Weimarer Republik auf. Sie waren im Kaiserreich sozialisiert worden, gründeten völkische Organisationen und wurden schließlich von den Nationalsozialisten an den Rand gedrängt. Mehrfach auf alle drei zu sprechen kommt Lohalm: Rassismus. 39 Ein anschauliches Indiz hierfür ist seine Kontaktaufnahme zu Gregor Strasser nach dem Münchener Putschversuch. Beide verstanden sich als „nationale Sozialisten“, standen innerhalb des Nationalen aber in der Richtung Hitlers. In seinen Memoirenentwürfen schilderte Kaufmann das Zustandekommen der Verbindung von ihm und Strasser, die sich beide offenbar sofort und ohne Diskussionspotential ideologisch auf einer Linie wiederfanden. Problematisch war aber die Frage nach dem (zeitweisen) Zusammengehen mit anderen Völkischen: „Wir berieten[,] was nun während der Haftzeit Hitlers und des Verbotes der N.S.D.A.P. geschehen sollte. In Wuppertal-Elberfeld gründeten wir als Tarnorganisation den ‚Volksbund der schaffenden Stände‘ [,] vor dessen Mitglieder[n] u. a. auch prominente Sozialisten Vorträge hielten. Während Gregor Straßer es zu dieser Zeit aus taktischen Gründen für zweckmäßig hielt, mit der ‚völkischen Freiheitspartei‘ zusammenzugehen, lehnte ich zum Kummer von General Ludendorff diesen ‚völkisch sozialen Block‘ kompromisslos ab. Mir waren die reaktionären Einflüsse […] politisch unerträglich.“ PNKK Ordner Nr. 19, Entwurf Manuskript [S. 6]. 40 Lenzing: Kaufmann, S. 42.
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Der Wortlaut suggerierte, Kaufmann sei für Befehle zur Ausführung des Putsches und der Machtübernahme in München gewesen und habe dabei gar aktiv geholfen, nach dem Scheitern Beweise zu verstecken. In einem Nachkriegsverfahren klang dies wieder gänzlich anders: „Nach meiner Rückkehr aus Oberschlesien nahm ich an einer Versammlung der NSDAP gelegentlich eines Aufenthalts in München teil, auf der Hitler sprach. Bei dieser Gelegenheit trat ich in die NSDAP ein und habe mich zunächst nicht in ihr betätigt, sondern war nur einfaches Mitglied. Von dem Putsch im November 1923 war ich vorher auch nicht unterrichtet, habe ihn aber erlebt, aber nur als Zuschauer.“ 41
Einen Grund unwahr auszusagen hatte Kaufmann in diesem Moment nicht. Denn hinsichtlich seines frühen Parteieintritts und -engagements zeigte er sich in seinen Vernehmungen immer stolz und als Idealist. Dass aber die vermeintliche Teilnahme am Putschversuch im „Dritten Reich“ nicht propagandistisch ausgenutzt wurde, zeigt eindrücklich, dass die Wahrheit wohl näher an Kaufmanns Nachkriegsaussage als an geschönten Veröffentlichungen aus dem Zeitraum 1933 bis 1945 liegt. Die Verschleierung hatte aber Erfolg gehabt. Denn selbst in den Kurzbiografien, die in der Einleitung vorliegender Arbeit erläutert wurden, findet sich noch regelmäßig die Angabe, Kaufmann habe am Putsch aktiv teilgenommen. Eines sollte hier noch kurz erwähnt werden. Elberfeld wurde vorliegend immer wieder genannt. Elberfeld war zwar bis zum Abzug von Franzosen und Belgiern geografisches Zentrum der Organisationen rechtsextremer „Ruhrkämpfer“, wie sich etwa die betreffenden Nationalsozialisten nannten, nicht zuletzt, weil im Vorort Vohwinkel die geografisch betrachtet letzte Kontrollstation vor dem besetzten Gebiet stand. Das sagt aber nichts über ein politisches Kräftefeld Elberfelds aus. Denn nur, weil rechtsextreme Organisationen im Kampf gegen die Besatzungmächte vereint waren, heißt das nicht, dass sie sich im politischen Bereich, wo es um etwa um die Formulierung und Bewerbung von Parteiprogrammen ging, auch einig werden konnten. Elberfeld wurde zwar schließlich „Gauhauptstadt“ des späteren NSDAP-Gaues. Aber hieraus einen Führungsanspruch der Elberfelder Ortsgruppe ableiten zu wollen, wäre zu spekulativ, auch wenn wichtiges Führungspersonal dieses Gaues wie Kaufmann, Goebbels und Koch dort sozialisiert worden waren und ihre ersten politischen Erfahrungen durchlebten. Bis Ende des Jahres 1924 fanden sich also im Ruhrgebiet mit Kaufmann, Koch, Gregor Strasser und vielen weiteren bereits viele Persönlichkeiten zusammen, die später wichtige Persönlichkeiten der ersten und Reihe der „NS-Führung“ werden sollten. Eine weitere wichtige Persönlichkeit, für die „NS-Führung“ wie für Kaufmanns eigene Biografie gleichermaßen, traf 1924 in Elberfeld ein. Otto Strasser beschrieb Goebbels’ Eintritt in Kaufmanns Leben wie folgt: 41 BA K Z 42-IV/7172, Protokoll vom 19. März 1948.
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„Die Zentrale des Strasserismus war damals Elberfeld. Dort war [später] Karl Kaufmann Gauleiter, ein blendender Redner und guter Organisator. Karl Kaufmann war es – unterstützt von einigen seiner Bezirksführer wie Erich Koch und Wilhelm Schepmann – gelungen, in die roten Arbeiterorganisationen der Ruhr eine Bresche zu schlagen. In den nationalsozialistischen Versammlungen erschien zu jener Zeit als Diskussionsredner ein junger Mann aus den Reihen der Deutsch-Völkischen. Er führte eine scharfe Sprache gegen die Nationalsozialisten. Materiell schien es ihm miserabel zu gehen, er sah aus wie halb verhungert. […] Sein Name war Dr. Joseph Goebbels. Ende 1924 war Goebbels bei Kaufmann erschienen, um ihm seine Dienste anzutragen. Aber Kaufmann wußte zunächst nichts Rechtes mit ihm anzufangen. […] Kaufmann charakterisierte Goebbels mit fünf Worten: ‚Sehr gescheit, aber sehr wendig.‘“ 42
In der hier dargestellten (Vor-)Aufbauphase wurden auch einige Grundpfeiler für die NSDAP im Rheinland und Westfalen sowie große Teile des linken Parteiflügels gelegt. Dies ist nicht nur wegen des geografischen Bezugs zu Kaufmanns politischer Biografie wichtig, sondern auch und gerade für seine ideologische Verordnung innerhalb der Partei. Das „25-Punkte-Programm“, welches von Hitler für die Partei als unabänderlich erklärt worden war, enthielt einige Punkte, die sozialistisches Gedankengut wiedergaben oder daran anknüpften. Gleiches gilt für Hitlers Reden und selbst sein Buch „Mein Kampf“ 43. Die Partei besaß also zwei sehr attraktive Komponenten für junge, von Kriegsniederlage, Besatzungszeit und Republik enttäuschte Männer, die im Ruhrgebiet mit allen seinen latenten sozialen Gesellschaftskonflikten sozialisiert worden waren: Einerseits den übersteigerten Nationalismus, andererseits den soziale Konflikte zu lösen versprechende Sozialismus. Hieran knüpften die Nationalsozialisten an Rhein und Ruhr 42 Strasser, Otto: Mein Kampf. Eine politische Autobiographie, Frankfurt am Main 1969, S. 24. 43 Otto Strasser behauptete später, Kaufmann und viele weitere Protagonisten hätten das Buch nie gelesen. Dies ist nicht nur wegen Strassers herablassenden und oft grotesken Art nach seinem Weggang 1930 über Hitler zu schreiben zu bezweifeln. Auch der Umstand, dass sich führende Nationalsozialisten beider Parteiflügel hinter Hitlers Rücken offen über ihn auslachten dürfte trotz des frühen Zeitpunkts der abgeblichen Ereignisse sehr unwahrscheinlich sein. Konkret beschrieb Strasser beispielsweise folgendes: „Wir befanden uns auf dem Nürnberger Parteitag 1927. […] Ich zitiere einige Sätze aus ‚Mein Kampf‘, und das rief eine Sensation hervor. Abends als ich mit einigen Kameraden von der Partei – Feder, Kaufmann, Koch und anderen – beim Essen war, fragten mich diese, ob ich wirklich das Buch gelesen hätte; keiner von ihnen schien es zu kennen. Ich gestand, einige bezeichnende Sätze herausgenommen zu haben, ohne mich überhaupt um den Zusammenhang zu kümmern. Allgemeines Gelächter brach aus, und es wurde festgelegt, daß der erste, der nun noch kommt und ‚Mein Kampf‘ gelesen haben will, die Zeche der anderen mitbezahlen soll. Gregor Strasser, der schon auf der Türschwelle gefragt wurde, antwortete mit einem sonoren Nein. Goebbels schüttelte müde den Kopf, Göring brach in lautes Lachen aus. Graf Reventlow entschuldigte sich mit Zeitmangel.“ Strasser, Otto: Hitler und ich, Konstanz 1948, S. 79f.
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nicht nur an, sondern entwickelten den Nationalsozialismus entscheidend weiter, woraus sich mit dem linken Parteiflügel eine gewisse Eigendynamik entfaltete.
2.2. Gauleiter des Gaues Rheinland-Nord (1925–1926)
2.2.1. Die Stellung der Gauleiter als „Führer der Provinz“ im Nationalsozialismus „Die Gauleitung – Gauleiter mit Gaustab – hat einen bestimmten Teil des Reiches politisch zu führen und gestaltend in ihm zu wirken. Innerhalb seines Hoheitsbereiches ist der Gauleiter für die gesamte politische, kulturelle und wirtschaftliche Gestaltung aller Lebensäußerungen nach nationalsozialistischen Grundsätzen verantwortlich.“ 44
Das Zitat stammt aus dem Organisationshandbuch der NSDAP und bezeichnete die wesentliche Aufgabe der Gauleiter. Hierbei handelte es sich aber nicht einfach um ein noch zu erreichendes Ziel oder gar eine Utopie, die nie erreicht worden wäre. Vielmehr trifft die zitierte, umfassende Aufgabe der Gauleiter durchaus auf die Realität zu. Mit der Umsetzung dieser Aufgabe ging eine beinahe einzigartige Stellung innerhalb des Nationalsozialismus einher. Dies betraf ursprünglich die Partei, ab 1933 aber auch den Staat. Einerseits repräsentierten die Gauleiter in ihren jeweiligen Gauen den „Führer“ und die Partei. Andererseits repräsentierten sie ihre Gaue beim „Führer“. Zu dieser Zwischenstellung bemerkte das Organisationshandbuch der NSDAP folgendes: „Der Gauleiter untersteht unmittelbar dem Führer. Er wird vom Führer ernannt. Der Gauleiter trägt dem Führer gegenüber die Gesamtverantwortung für den ihm anvertrauten Hoheitsbereich. […] Dem Gauleiter unterstehen (unter Beibehaltung des Dienstweges) disziplinär sämtliche Politischen Leiter seines Hoheitsbereiches sowie die Parteigenossen als solche, außerdem politisch alle Partei- und Volksgenossen, die in den Gliederungen und angeschlossenen Verbänden der Partei tätig sind.“ 45
Diese Zwischenstellung der Gauleiter entsprach also vollkommen dem Ideal des „Führerprinzips“ 46. Verschiedene Angehörige der „NS-Führung“ bestätigten aus ihrer Sicht 44 Organisationshandbuch der NSDAP, 7. Aufl., München 1943. Herausgegeben vom Reichsorganisationsleiter der NSDAP, S. 136. 45 Ebd., S. 137f. 46 Zum „Führerprinzip“ und seiner Bedeutung sowie Umsetzung in den Gauen vgl. Tyrell, Albrecht: Führergedanke und Gauleiterwechsel. Die Teilung des Gaues Rheinland der NSDAP 1930,
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heraus nach 1945 diese Unterordnung unter Hitler und die gleichzeitige völlige Bewegungsfreiheit „nach unten“. Beispielsweise berichtete der einstige Gauleiter Rudolf Jordan 47 von Hitlers Feststellung einer vollkommenen Handlungsfreiheit der Gauleiter, da die „eigentliche Frontarbeit der Partei […] in den Gauen [liege]. Er hasse die Gleichheit; jeder Gau solle – je nach der Persönlichkeit seines Führers und den besonderen Problemen der Bevölkerung – ein eigenes Gesicht haben.“ 48
Ein anderes anschauliches Beispiel bieten Albert Speers „Erinnerungen“, also von jemandem, der auch zur „NS-Führung“ gehörte, selbst kein Gauleiter war, und mit einzelnen Gauleitern teils freundschaftlich verbunden, teils von Grund auf verfeindet war. Nach einer gemeinsamen Tagung, auf der sie sich aus Furcht um eigene Kompetenzverlust wieder gegen diverse seiner Vorschläge gerichtet hatten, ereignete sich laut Speer folgendes: „Am nächsten Morgen bat ich Hitler, einige temperenzlerische Worte an seine politischen Mitarbeiter zu richten; aber wie immer schonte er die Gefühle der Gefährten seiner Frühzeit. Auf der anderen Seite informierte Bormann Hitler über meine Auseinandersetzungen mit den Gauleitern. Hitler gab mir zu verstehen, daß alle Gauleiter aufgebracht seien, ohne mir nähere Gründe mitzuteilen. […] Von nun an konnte ich nicht mehr wie selbstverständlich auf die Loyalität Hitlers rechnen.“ 49
Selbst ein machtbewusster Speer biss sich unzählige Male die Zähne an den Gauleitern aus, weil sich Hitler immer wieder schützend vor sie stellte. Hierzu bemerkte Speer auch einmal, dass einige der Gauleiter zu den wenigen Menschen gehörten, „wo [vonseiten Hitlers] Gefühle herrschten oder doch eine starke Sentimentalität. Mussolini wäre an erster Stelle zu nennen. Aber auch Streicher gehörte […] dazu,
in: VfZ, 23/1975, S. 341–374, hier S. 346–348. „Führerbefehle“, die über das „Führerprinzip“ ausgegeben und ausgeführt wurden, erhielten späterhin faktisch einen eigenen rechtlichen Stellenwert, der mit der Zeit immer größere Geltung vor anderen Rechtsquellen erlangte. Insofern prägte das „Führerprinzip“ die Verfassungswirklichkeit nicht nur, sondern dominierte sie gar. Zum rechtlichen Aspekt des „Führerprinzips“ vgl. Lepsius, Oliver: Gab es ein Staatsrecht des Nationalsozialismus? in: ZNR, 26/2004, S. 102–116, S. 102–106. 47 Jordan war von 1931 bis 1937 Gauleiter des Gaues Halle-Merseburg und von 1937 bis 1945 Gauleiter des Gaues Magdeburg-Anhalt. Zu Jordans Werdegang vgl. Höffkes: Generale, S. 159– 162. 48 Jordan, Rudolf: Erlebt und erlitten. Weg eines Gauleiters von München bis Moskau, Leoni (am Starnberger See) 1971, S. 13. 49 Speer, Albert: Erinnerungen, Berlin 2003, S. 326.
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[…] desgleichen die Gauleiter Sauckel, Kaufmann, Bürckel und überhaupt die sogenannten Alten Kämpfer.“ 50
Neben Speer gelang auch vielen weiteren Mitgliedern der „NS-Führung“ nur partieller Erfolg gegen die Gauleiter, und wenn, dann in der Regel auch nur in konkreten Sonderfällen gegen einzelne von ihnen. Abgesehen von Hitler gab es tatsächlich nur eine Person, die sich ab 1941 immer häufiger gegen die Gauleiter durchsetzen konnte. Diese Durchsetzungskraft von Martin Bormann, dem Leiter der Parteikanzlei, kam aber nicht aus sich heraus, sondern im Wesentlichen dadurch, dass es ihm gelang, sich zwischen Hitler und allem Äußeren „hineinzudrängen“. Hierbei schaffte er es mit der Zeit immer besser, Hitler abzuschirmen und als dessen Sprachrohr zu agieren. Da Bormann in Hitlers Testament zu einer Art „Parteiminister“ ernannt worden war, und damit faktisch als sein Nachfolger an der Parteispitze eingesetzt wurde 51, wären umfassende und tiefgreifende Konflikte zwischen Gauleitern und neuem Parteivorsitzenden vorprogrammiert gewesen, wenn Bormann nicht auf dem Weg aus Berlin umgekommen und das „Dritte Reich“ nicht kurz darauf zusammengebrochen wäre. Die Gauleiter besaßen im Herrschaftsgefüge von Partei und Staat also eine einzigartige Position. Zudem sind sie neben den Reichsleitern der einzige Machtfaktor, dessen besondere Stellung in der gesamten Geschichte der NSDAP nicht ausgeschaltet wurde 52. Das Korps der Gauleiter bildete also eine der wenigen mächtigen Konstanten des Nationalsozialismus. Auch an Kaufmanns eigener politischer Biografie sollte das noch oftmals deutlich werden. Die politische Führung des Gaues war also alleinige Aufgabe des jeweiligen Gauleiters. Zwar hatte dieser stets einige, und mit zunehmenden Erfolg der Partei bei Wahlen sowie ihrer zunehmenden Professionalisierung der internen Verwaltung sogar relativ viele Mitarbeiter. Allerdings waren ihm diese einerseits durch das „Führerprinzip“ strikt untergeordnet, und andererseits bildeten sich im Laufe der Zeit sogenannte „Gaucliquen“ heraus. Diese zeichneten sich dadurch aus, dass sie (analog zum Verhältnis von Hitler
50 Fest, Joachim: Die unbeantwortbaren Fragen. Notizen über Gespräche mit Albert Speer zwischen Ende 1966 und 1981, Hamburg 2005, S. 45f. 51 Zum Verhältnis zwischen Gauleitern und Bormann vgl. Hüttenberger: Wandel, S. 195–212. Zu Bormann sind zwar bereits mehrere Biografien erschienen, aber keine davon konnte vollends das Fachpublikum überzeugen. Einen kurzen anschaulichen Einstieg bietet Fest, Joachim: Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft, 7. Aufl., München 1980, S. 175– 189. Kaufmann selbst hatte auch seine Probleme mit Bormann. In seinen Memoirenentwürfen wird mit Abstand keine einzige Person so negativ kommentiert wie er. In einer längeren Charakterisierung schrieb Kaufmann unter anderem folgendes: „Diesem Mann ging es nicht um Ideen, Probleme, Interessen des deutschen Volkes oder irgendein über-persönliches Ziel. Er kannte nur ein Streben: Seine eigene Macht unter allen Umständen und mit allen Mitteln zu stärken. Vordergründig gesehen wurde das sehr bald vielen führenden Männern klar. […] Jede eigenständige Meinung wurde von ihm automatisch als Gegnerschaft betrachtet.“ PNKK Ordner Nr. 2, Entwurf Manuskript [S. 53]. 52 Vgl. Hüttenberger: Wandel, S. 117–137.
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und den Gauleitern) bis auf wenige Ausnahmen in ihrer Stellung vollkommen vom Gauleiter abhängig waren und deswegen absolute Loyalität bewiesen 53. Am Ende waren in den Gauen also die politischen Vorstellungen und Wünsche der Gauleiter ausschlaggebend, und nicht die von diversen Mitarbeitern oder untergeordneten Führungskräften. Begrenzt wurde die Handlungsfreiheit der Gauleiter in der Regel nur von Hitler und seinen Anordnungen, oder wie es der Gauleiter Karl Wahl formulierte: „Es gab […], außer der allgemeinen Parteilinie, von der er in seinem Arbeitsbereich zu allen Zeiten abweichen konnte, keine festgelegten Paragraphen oder Parteidogmen, nach denen er hätte unbedingt arbeiten müssen.“ 54
Diese Besonderheit innerhalb des polykratischen Systems des „Dritten Reiches“ muss näher erläutert werden. Der Grund, warum den Gauleitern recht deutlich freie Hand in der Umsetzung der nationalsozialistischen Politik in ihren jeweiligen Gauen gelassen wurde (was nicht heißt, dass sie in allen Politikbereichen direkten Einfluss besaßen 55), mag zwar zu gewissen Teilen in einem Gefühl der Verbundenheit Hitlers zu seinen frühen und frühesten Mitstreitern zu suchen sein. Hauptsächlich handelte es sich aber um 53 Zu den „Gaucliquen“ vgl. ebd., S. 56–58. Analog zum Verhältnis von Hitler als „Führer“ zu den Gauleitern gestaltete sich auch das Verhältnis der Gauleiter zu den Kreisleitern, der Kreisleiter zu den Ortsgruppenleitern bis hinunter in die unterste Führungsebene der Hierarchie der NSDAP. Diese stringente Gliederung der Partei, die stets von einem Abhängigkeits- und Vertrauensverhältnis zwischen den vertikalen „Politischen Leitern“ geprägt war, war dafür verantwortlich, dass Anliegen „nach unten“ nicht ohne weiteres auf irgendeiner Parteiebene unerledigt versandeten. Solches hätte schnell zu strengen Ermahnungen und Konsequenzen führen können, da die „Politischen Leiter“ in dem ihnen anvertrauten Bereichen persönlich die Verantwortung trugen und somit auch persönlich verantwortlich gemacht werden konnten und dieser Logik zufolge auch mussten. Zum Verhältnis von Gauleitern und Kreisleitern, die die ausschlaggebenden Mittelinstanzen der Partei darstellten vgl. Düwell, Kurt: Gauleiter und Kreisleiter als regionale Gewalten des NS-Staates, in: Möller, Horst/Wirsching, Andreas/Ziegler, Walter (Hrsg.): Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, München 1996, S. 161–173, hier S. 162–164. 54 Wahl, Karl: „…es ist das deutsche Herz“. Erlebnisse und Erkenntnisse eines ehemaligen Gauleiters, Augsburg 1954, S. 83. Wahl war von 1928 bis zum Ende 1945 Gauleiter des Gaues Schwaben. Zu seiner Biografie vgl. Höffkes: Generale, S. 375–379. 55 Wie erläutert waren die Gauleiter zwar ursprünglich reine Parteifunktionäre der Mittelinstanz, die auf regionaler Ebene nach 1933 auch in staatliche Angelegenheiten eingreifen konnten. Eine inhatliche Begrenzung gab es jedoch, die Wahl zutreffend zusammengefasst hat: „In Angelegenheiten des Reiches, ob innen- oder außenpolitisch. [sic] hatte der Gauleiter nichts mitzureden, soweit er nicht gleichzeitig Reichsminister war. In Ländersachen ebensowenig, es sei denn, er war Landesminister oder Reichsstatthalter. Aber diese letzteren hatten wieder in Reichsfragen nichts mitzubestimmen.“ Wahl: Herz, S. 111. Solange also ein Parteigau nicht halbwegs mit einer staatlichen Entität übereinstimmte, waren die Einwirkungsmöglichkeiten der Gauleiter auf die regionalen und lokalen Aspekte des Staats in seinem Gau „beschränkt“.
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ganz einfache machtpolitische Erwägungen. Innerhalb der widerstreitenden Strömungen, Richtungen, Flügel und Interessen der „Bewegung“ bildeten die Gauleiter eine Art Stütze seiner persönlichen Herrschaft 56. Über die in den Jahren der aussichtslosen „Kampfzeit“ entstandene Loyalität verfügte Hitler in den nur und ausschließlich ihm persönlich verantwortlichen Gauleitern eine andere, speziellere Unterstützung, als es beispielsweise nach 1933 in den Verwaltungen der Ministerien der Fall war. Während er sich in aller Regel auf das „Treueverhältnis zwischen […] [ihm] und den Gefährten seines Aufstiegs aus den zwanziger Jahren“ verlassen konnte 57, musste der unangefochtene Führungsanspruch im 1933 eroberten Staat erst rigoros durchgesetzt werden. Trotzdem erreichte er nie die gleiche Qualität. Hitler konnte seine Machtstütze der ihm ergebenen Gauleiter nicht einfach untergehen lassen, da sie eine wesentlich zuverlässigere Säule seiner persönlichen Herrschaft darstellten, als andere Säulen. Das beste und zugleich anschaulichste Beispiel hierfür bilden die Tagungen der Reichs- und Gauleiter. Die letzte Kabinettssitzung der Reichsregierung fand 1938 statt 58. Ebenfalls 1938 wurde die Wehrmacht ihrer unabhängigen Spitze beraubt und direkt Hitler untergeordnet 59. Die letzte große Tagung der Reichs- und Gauleiter fand aber noch im Februar 1945 statt 60. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits einige Territorien des Reiches besetzt und die Städte lagen zu großen Teilen in Schutt und Asche 61. Diese Tagungen dienten nicht einfach zur Akklamation von Hitlers Maßnahmen oder anderen passiven Handlungsmustern. Vielmehr wurden überwiegend tagespolitische Themen
56 Vgl. Hüttenberger: Wandel, S. 198f. 57 Entsprechend etwa Speers Bewertung, vgl. Speer: Erinnerungen, S. 326. Anders herum hieß das nicht automatisch, dass jeder Gauleiter mit dem kleinsten Anliegen zu Hitler gehen und auf Hilfe rechnen konnte. Als Gauleiter hatten sie sich selbst durchzusetzen, sonst wären sie in Hitlers Augen nicht amtsfähig gewesen. Und auch wenn einige Gauleiter ständigen Umgang mit Hitler hatten, konnten größere Probleme nur in wohldosierten Portionen vorgebracht werden. Wahl erläuterte dies in einer seiner Memoiren wie folgt: „Für die Gauleiter war es ein ungeschriebenes Gesetz, sich nur in ausweglosen Situationen an Hitler zu wenden. Hitler wußte das, er wußte aber auch, daß es brannte, wenn einer seinen Beistand suchte.“ Wahl, Karl: Aus Liebe zu Deutschland. 17 Jahre als Gauleiter, Kiel 1997, S. 47. Bei dem Werk handelt es sich um eine Neuauflage von Wahl, Karl: Patrioten oder Verbrecher. Aus fünfzigjähriger Praxis davon siebzehn Jahre als Gauleiter, 3. Aufl., Heusenstamm bei Offenbach am Main 1975. 58 Vgl. Kershaw, Ian: Hitlers Macht. Das Profil der NS-Herrschaft, München 1992, S. 175–186. 59 Vgl. Krausnick, Helmut: Die Wehrmacht im nationalsozialistischen Deutschland, in: Broszat, Martin/ Möller, Horst (Hrsg.): Das Dritte Reich. Herrschaftsstruktur und Geschichte, 2. Aufl., München 1986, S. 176–208, hier S. 194–196. 60 Vgl. Moll, Martin: Steuerungsinstrument im „Ämterchaos“? Die Tagungen der Reichs- und Gauleiter der NSDAP, in: VfZ, 49/2001, S. 215–273, hier S. 273. 61 Zur militärischen Situation an Ost- und Westfront vgl. Müller, Rolf-Dieter/Ueberschär, Gerd R.: Kriegsende 1945. Die Zerstörung des Deutschen Reiches, Frankfurt am Main 1994, S. 64 und 72. Speziell zur Situation im „Bombenkrieg“ vgl. Müller: Bombenkrieg, S. 208–222.
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und ihre Bedeutung für die Arbeit der Reichs- und Gauleiter vergleichsweise offen diskutiert 62, was angesichts des „Führerprinzips“ im „Dritten Reich“ ansonsten äußerst selten der Fall war. Angesichts der „Aushöhlung“ anderer Institutionen ist die Beibehaltung der Tagungen also durchaus erstaunlich. Diese Kontinuität weist darauf hin, dass es sich bei den Reichs- und Gauleiter 1945 nach wie vor um mächtige Stützen der nationalsozialistischen Herrschaft handelte. Diese Sicherheit der Fortexistenz blieb vielen anderen Institutionen im „Dritten Reich“ versagt. Markant ist zudem, dass die große Eigenständigkeit, die Hitler seinen „Paladinen“ 63 ließ, zur Folge hatte, dass es bei der Ausübung des Amts eines Gauleiters ganz auf die Persönlichkeit des Betreffenden ankam. Jeder Gauleiter konnte dadurch dem ihm anvertrauten Gau seinen eigenen „Stempel aufdrücken“ 64. Einer der entscheidendsten Unterschiede zwischen den Gauleitern und anderen Institutionen des „Dritten Reiches“ lag zudem in Hitlers Rücksichtnahme auf diverse Befindlichkeiten. Beispielsweise wurden die Kompetenzen der Gauleiter immer mehr erweitert, während „menschliche“ Nachlässigkeiten oftmals vergeben und vergessen wurden. Selbst Absetzungen von Gauleitern wurden nach der „Machtergreifung“ nur im äußersten Notfall vorgenommen, wenn der Betreffende absolut untragbar und für Hitlers Ziele in hohem Maße hinderlich geworden war. Für die Zeit bis zur „Machtergreifung“ ist ihre genaue Anzahl mangels Quellen nicht genau bezifferbar, wobei jedoch zu beachten ist, dass die Partei in ihrer teils chaotischen frühen Aufbauphase nicht immer geordnet oder transparent „ihre“ Gauleiter hätte benennen können 65. Für die Zeit zwischen 1933 und 1945 war dies anders. In dieser Zeit wurden innerhalb im Gebiet mit Hitler an der Staatsspitze (also etwa ohne 62 Vgl. Moll: Steuerungsinstrument, S. 226–231. 63 Entsprechend ihrer besonderen Stellung innerhalb des Systems des Nationalsozialismus und des „Dritten Reiches“ haben sich im Laufe der Zeit einige Bezeichnungen für die Gauleiter entwickelt. Die bekanntesten lauten „Führer der Provinz“, „Vizekönige“, „politische Generale“ oder auch „Gaufürsten“. Vgl. zur Einordnung dieser Bezeichnungen, die in ihrer jeweiligen Bedeutung allesamt zutreffend sind John, Jürgen: Die Gaue im NS-System, in: John, Jürgen/Möller, Horst/Schaarschmidt, Thomas (Hrsg.): Die NS-Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen Führerstaat, München 2007, S. 22–55, hier S. 36. Je nach persönlichem Herrschaftsstil und der politischen Sozialisation der Gaubevölkerung kamen auch individuelle Bezeichnungen als „Könige“ hinzu, so etwa bei Albert Forster in Danzig-Westpreußen als „König Albert“ oder Martin Mutschmann in Sachsen als „König Mu(h)“. Vgl. zu ersterem Schenk, Dieter: Hitlers Mann in Danzig. Albert Forster und die NS-Verbrechen in Danzig-Westpreußen, Bonn 2000, S. 189 und zu letzterem Schmeitzner, Mike: Martin Mutschmann und Manfed von Killinger. Die „Führer der Provinz“, in: Pieper, Christine/Schmeitzner, Mike/Naser, Gerhard (Hrsg.): Braune Karrieren. Dresdner Täter und Akteure im Nationalsozialismus, Dresden 2012, S. 22–31, hier S. 28. 64 Zum Faktor der Persönlichkeit vgl. John: NS-System, S. 36. 65 Es gibt beispielsweise nicht weniger als zehn Gauleiter, bei denen mangels Quellen überhaupt nicht auszumachen ist, warum sie zeitweise als „Gauleiter“ bezeichnet wurden. Diese könnten teilweise zwar mit Druckfehlern oder ähnlichen menschlichen Fehlern erklärbar sein. Allerdings ist gerade die Frühzeit der Partei durch teils ungeklärte Fragen der Autorität geprägt gewesen. Vgl. zu den betreffenden zehn Personen Höffkes: Generale, S. 394f.
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die österreichischen Gauleiter bis 1938) sechs Gauleiter abgesetzt 66, „lediglich“ zwei von ihnen verloren Leib und Leben 67. Das prominenteste Beispiel der abgesetzten Gauleiter ist Streicher. Ende 1938/Anfang 1939 tangierte die von ihm in seinem Gau Franken praktizierte Korruption die parallel laufenden Kriegsvorbereitungen in einem solch erheblichen Maße, dass Hitler nicht umhin kam, ihn seines Postens zu entheben. Allerdings blieb Streicher unversehrt und konnte mit dem „Stürmer“ weiterhin in Wohlstand leben 68. In der Rückschau urteilte Wahl über Streichers Dreistigkeit, er „nützte Hitlers Dankbarkeit alten Mitkämpfern gegenüber weidlich aus“ 69. Die Gauleiter schienen sich ihrer privilegierten Stellung durchaus bewusst zu sein. Hieraus erwuchs aber zu keiner Zeit eine Gefahr für Hitlers eigene Stellung als „Führer“. Die besondere Loyalität, die in beinahe allen Fällen aus der frühen „Kampfzeit“ rührte, in der die Erfolgsaussichten trotz aller öffentlichen Beteuerungen dieser nur äußerst gering waren, bildete die Grundlage der Beziehungen zwischen Hitler und seinen Gauleitern. Abgesehen von persönlicher Treue bestand die Grundlage des Verhältnisses zwischen „Führer“ und Gauleiter in den machtpolitischen Gegebenheiten des Aufbaus von Partei und Staat. Jeder Gauleiter war sich der Tatsache bewusst, dass seine gesamte Stellung, also der Rang in der Partei, die Macht „nach unten“ hin, die Reputation, der Wohlstand, das eigene Fortkommen, die Positionen in den staatlichen Institutionen und nicht zuletzt die Protektion vor anderen Einrichtungen der Partei am Ende einzig und allein von Hitlers Gunst abhingen 70. Hitler brauchte die Gauleiter als seine „verlängerten Arme“ vor Ort. Aber der einzelne Gauleiter brauchte Hitler mehr, als Hitler den einzelnen Gauleiter. Eine innerparteiliche Rebellion gegen den Kopf der „Bewegung“ wäre schon alleine deshalb nicht möglich gewesen, weil die anerkannte Legitimität jedes Gauleiters bei Hitler ihren Ausgangspunkt nahm. Dies blieb nach der Neugründung und Konsolidierung der Partei 1925/1926 bis zum Ende in Trümmern 1945 der Fall 71. Trotz aller Macht lag es also weder in den Möglichkeiten noch im Interesse der Gauleiter, Hitler zu stürzen. 66 Helmuth Brückner 1934, Wilhelm Kube 1936, Streicher 1939, Josef Wagner 1941, Karl Weinrich 1943/ 1944 und Fritz Wächtler 1945. 67 Bei ersterem handelte es sich um Josef Wagner, 1928 bis 1930 Gauleiter des Gaues Westfalen, 1931 bis 1941 des Gaues Westfalen-Süd, 1935 bis 1941 des Gaues Schlesien. Letztendlich stürzte er wohl über eine gegen ihn gerichtete Intrige. Zu seinem Werdegang vgl. Höffkes: Generale, S. 367–370. Zweiterer war Wächtler, Gauleiter des Gaues Bayerische Ostmark von 1935 bis 1945. Auch dieser stürzte über eine Intrige, allerdings nicht ohne dass er die Voraussetzungen dafür geschaffen hatte. Zu seinem Werdegang vgl. ebd., S. 358–362. 68 Zum Sturz Streichers und seiner weiteren Tätigkeit danach vgl. Roos: Streicher, S. 350–358. 69 Wahl: Herz, S. 161. 70 Vgl. Hüttenberger: Wandel, S. 195–199. 71 Den Einschnitt bildet hierbei die „Bamberger Tagung“ von 1926. Während bis dahin lokale und regionale Eigeninitiativen von Teilen der Partei, und damit verbunden auch die Infragestellung von Hitlers Position an der Tagesordnung waren, gelang es Hitler auf der besagten Tagung sei-
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Doch nicht nur rein machtpolitische Überlegungen sprachen gegen eine Rebellion der Gauleiter gegen ihren „Chef“, wie etwa Goebbels Hitler gerne bezeichnete. Über Hitlers „Charisma“ als Mensch wie als politischen Führer ist bereits einiges publiziert worden 72. Wichtig ist für den Bereich der Gauleiter, dass diese charismatische Herrschaft auch auf die einzelnen Gauleiter nicht wirkungslos blieb. Vielmehr ist es sehr gut möglich, dass die Gauleiter diese charismatische Herrschaft noch wesentlich stärker zu spüren bekamen als die breite Masse des Volkes. Denn wie bereits ausgeführt gehörten die meisten Gauleiter dem größeren Umfeld Hitlers an, und das in der Regel bereits weit vor dem „Wendepunkt“ der NSDAP von einer Splitter- zur Massenpartei Ende 1929. Sie standen in den meisten Fällen hautnah und jahrelang unter einem stärkeren Einfluss Hitlers als die Gesellschaft oder die unteren Ränge der Partei. Eine Begegnung Goebbels’ mit Hitler wenige Monate vor seiner „Beförderung“ vom Gaugeschäftsführer zum Gauleiter, welche er am 23. November 1925 in seinem Tagebuch festhielt, spiegelt dies anschaulich wider. Es ist in Bezug auf Hitlers Wirkung auf seine Umgebung wohl das bekannteste Goebbelszitat: „Hitler ist da. Meine Freude ist groß. Er begrüßt mich wie einen alten Freund. Und umhegt mich. Wie lieb ich ihn! So ein Kerl! Und er erzählt den ganzen Abend. Ich kann nicht genug hören. Eine kleine Versammlung. Ich muß auf seinen Wunsch zuerst sprechen. Und dann redet er. Wie klein ich bin! Er gibt mir sein Bild. Mit einem Gruß ans Rheinland. Heil Hitler!“ 73
Der einzelne Gauleiter der 1920er Jahre hing also an Hitler persönlich und „glaubte“ auch an die von ihm verkörperte Weltanschauung. Hiermit ist nicht „nur“ die für den Nationalsozialismus kennzeichnende religiöse Verehrung gemeint 74, die Hitler wahlweise als Messias, Märtyrer oder Prophet interpretierte, sondern auch der individuelle Glaube an eine übergeordnete politische Vision. Was der Einzelne (oder auch die beiden Parteiflügel) unter einer solchen Vision einer besseren Welt verstand, spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Denn jeder dachte, er würde Hitler am ehesten richtig verstehen. Und für die Erreichung und Umsetzung dieser Vision ordnete sich der Einzelne bereitwillig unter. Dies konnte auch zu vorauseilendem Gehorsam führen. Wahl drückte dies im Hinblick auf einige Gauleiter und weitere führende Persönlichkeiten der Partei vergleichsweise reflektiert aus:
nen Anspruch auf alleinige Führung in vielen wesentlichen Punkten durchzusetzen. Zur „Bamberger Tagung“ und Hitlers Anspruch vgl. Fest, Joachim: Hitler. Eine Biographie, 4. Aufl., Frankfurt am Main/Berlin 2002, S. 357–359. Vollends gelingen sollte ihm dies jedoch erst ab 1929. 72 Für die Zeit vor 1933, als die meisten Gauleiter, die auch im „Dritten Reich“ Rang und Namen haben sollten, bereits in der Partei wirkten, ist besonders wichtig das Werk von Herbst, Ludolf: Hitlers Charisma. Die Erfindung eines deutschen Messias, Frankfurt am Main 2010. 73 Goebbels: Tagebücher, Bd. 1, S. 207. 74 Zum Nationalsozialismus als „Religion“ beziehungsweise „Religionsersatz“ vgl. Heep, Stefan: Hitler – das „Heilige in Erscheinung“? Die religiöse Dimension des Nationalsozialismus neu beurteilt, in: ZFR, 26/2018, S. 323–378, hier S. 325–330.
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„Einige dieser überheblichen Parteipäpste lebten offenbar in dem Wahn, die Lösung einiger heikler Fragen könne Hitler, seiner exponierten Stellung wegen, nicht selbst durchführen, also müsse er vor vollzogene Tatsachen gestellt werden. […] Diese, ihre Privatmeinung, wollten sie nun, da sie in der NSDAP zu Macht und Einfluß gelangt waren, zur offiziellen Parteimeinung erheben.“ 75
Es handelte sich bei der Gauleiterherrschaft also um eine Art Mischung von drei Faktoren. Erstens ließ Hitler seinen „Führern der Provinz“ erhebliche Freiräume in ihren Entscheidungen, zweitens nahmen diese ihre Freiräume im Sinne einer individuellen idealistischen Vision wahr, und drittens interpretierten sie Hitlers Wille eigenständig, um diesen dann umzusetzen. Ursprünglich waren die Gauleiter „nur“ für die Parteiorganisation in ihrem Gau zuständig. Mit der „Eroberung“ des Staates änderte sich dies jedoch rasant. Die usurpierten Positionen im Staat wurden schnell von verlässlichen Nationalsozialisten oder Sympathisanten eingenommen. Die Ämter der (neu geschaffenen) Reichsstatthalter und der preußischen Oberpräsidenten wurden nach der „Machtergreifung“ fast alle an die Gauleiter der regional am ehesten zutreffenden Gaue vergeben 76. Damit gelangten die staatlichen Aufsichtsstellen der Mittelinstanz in die Hände der Mittelinstanz der Partei. Auf die Bedeutung dieses Umstands kann kaum genug hingewiesen werden. Einerseits offenbarte sich hier bereits das polykratische System des „Dritten Reiches“, welches bis zum Ende 1945 immer „wildwüchsiger“ werden sollte. Andererseits handelte es sich hierbei um eine individuelle Machtsicherung der Amtsinhaber vor lokalen und regionalen Konkurrenten in ihrer Region. Als Gauleiter hatten die jeweiligen Amtsinhaber die Führung der Partei im Gau inne und als preußische Oberpräsidenten/Reichsstatthalter für die Reichsregierung die Führung der preußischen Provinz/des Landes, wobei auf die staatlichen Stellen parallel auch als Gauleiter indirekt Einfluss ausgeübt werden konnte. Hitlers Parole, die Partei habe dem Staat zu befehlen, erhielt hierbei ihre erste Umsetzung 77. Bei diesen beiden Funktionen sollte es für die Gauleiter jedoch nicht bleiben. 75 Wahl: Herz, S. 128. 76 Vgl. Hüttenberger: Wandel, S. 75–80. Bei den Oberpräsidenten betraf das 1933 aus machtpolitischen Gründen jedoch erst nur die Hälfte der neuen Amtsinhaber. Die anderen sechs stammten aus NSDAP-nahen Organisationen oder von den Verbündeten während der „Machtergreifung“. Später wurden diese fast alle durch Gauleiter ersetzt, die meisten davon bis 1935. Bei den Reichsstatthaltern hingegen wäre ein solches Entgegenkommen schon aufgrund der 1933 noch wesentlich größeren Machtfülle des Reichsstatthalteramtes gegenüber dem Oberpräsidentenamt wohl ausgeschlossen gewesen. Zu den Oberpräsidenten im „Dritten Reich“ vgl. Teppe, Karl: Die preußischen Oberpräsidenten 1933–1945, in: Schwabe, Klaus (Hrsg.): Die preußischen Oberpräsidenten 1815–1945, Boppard am Rhein 1985, S. 219–248, hier S. 220–248. 77 Im weiteren Verlauf der inneren Ausformung des „Dritten Reiches“ fand dies keinen Abschluss. Vielmehr drängten die Einrichtungen der Partei die des Staates stetig zurück und/oder übernahmen sie in Personalunion. Meistens waren die staatlichen Einrichtungen aber ohnehin kein Hort von Widersetzlichkeit, sondern schon aus Eigeninteresse und gemeinsamen Zielen
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Einige wenige von ihnen erlangten zusätzlich noch das jeweils regional entsprechende Amt des Ministerpräsidenten 78. Auch wenn dieses nach 1933 gegenüber Gauleitern und Reichsstatthaltern an Einfluss verloren hatte, füllten die betreffenden Amtsinhaber damit doch ihre Kompetenzen weiter an und schlossen „blinde Flecken“. Als Gauleiter, Reichsstatthalter und Ministerpräsident existierten in den von ihnen beherrschten Territorien immer weniger Angelegenheiten, an denen sie nicht administrativ mitwirkten oder von denen sie zumindest Kenntnis erlangten. Hinzu traten 1939 für einige, 1942 dann für alle Gauleiter, das neu geschaffene Amt des Reichsverteidigungskommissars, welches für die zivile Reichsverteidigung in einem Wehrkreis beziehungsweise dem Gau zuständig zeichnete. Dies legitimierte noch tieferere Eingriffe ins Zivilleben, als es den Gauleitern, preußischen Oberpräsidenten/Reichsstatthaltern und Landesregierungschefs sowieso bereits an die Hand gegeben war 79. Doch damit nicht genug. Etliche Sondergewalten, zumeist als Reichskommissare bezeichnet, wurden zwischen 1933 und 1945 ins Leben gerufen. Sehr häufig wurden sie auf Gauleiter übertragen. Der Grund ist auch hier wieder in der besonderen Art und Weise von Loyalität zu finden, die für Hitler offenbar nirgendwo sonst so ausgeprägt schien wie im Korps der Gauleiter 80. Es war für Hitler eine Art Reservoir an Führungskräften, welches wegen seiner besonderen Eigenschaften für den „Führer“ alternativlos war. In einem seiner „Tischgespräche“ sagte er hierzu passenderweise: „Wie schwer es sei, für alle Führungsstellen die geeigneten Männer zu finden, davon wisse er, der Chef [Hitler], ein Lied zu singen. Immer wieder müsse er auf dieselben Leute zurückgreifen. Selbst bei der Besetzung der Reichskommissarposten im Osten habe er auf den Einsatz alter Gauleiter […] nicht verzichten können. Dabei sei er bestrebt, die führenden Männer möglichst lange in ihren Positionen zu halten, um wirklich gediegene Arbeit mit ihnen zu leisten.“ 81
auf ähnlichem Kurs. Für eine völlige, reichsweite Verschmelzung reichte die Zeit bis 1945 zudem nicht aus. Zum fortlaufenden Vormarsch der Partei vgl. Ruck, Michael: Zentralismus und Regionalgewalten im Herrschaftsgefüge des NS-Staates, in: Möller, Horst/Wirsching, Andreas/Ziegler, Walter (Hrsg.): Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, München 1996, S. 99–122, hier S. 120– 122. 78 Vgl. Hüttenberger: Wandel, S. 117–120. 79 Vgl. ebd., S. 152–171. 80 Diese Loyalität war nicht bei allen ehemaligen Angehörigen der „NS-Führung“ mit dem 8. Mai 1945 plötzlich verschwunden. Vielmehr hielt sie sehr oft auf die eine oder andere Art an. Zumeist äußerte sich dies in Aussagen, wonach die jeweilige Person bis 1945 davon überzeugt gewesen sei, Hitler sei gut für Deutschland gewesen, und die Person selbst habe bis zuletzt daran geglaubt. Vgl. hierzu eingehender Ziegler, Walter: Gaue und Gauleiter im Dritten Reich, in: Möller, Horst/Wirsching, Andreas/Ziegler, Walter (Hrsg.): Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, München 1996, S. 139–159, hier S. 153. 81 Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, 3. Aufl., Stuttgart 1977. Herausgegeben von Henry Picker, S. 264.
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Für die Amtsinhaber bedeuteten all diese Ämter-, Kompetenz-, Macht- und Verantwortungszuwächse immer mehr Einfluss, mehr Macht, mehr Prestige, aber auch mehr Arbeit und mehr Verantwortung, die sie jedoch bereitwillig übernahmen. Auch ist dabei festzuhalten, dass sich das Korps der Gauleiter hiermit immer weiter ausdifferenzierte. Alle Gauleiter gehörten klar zur „NS-Führung“. Aber einige von ihnen sind in der ersten oder zweiten Reihe zu verorten, während andere langfristig „auf der Strecke blieben“ und sich in der dritten Reihe wiederfanden.
2.2.2. Auf- und Ausbau einer Parteiorganisation: Kaufmann und die Gauleitung des Gaues Rheinland-Nord „Hier im Gau geht die Bewegung schneidig voran. Gelegentlich meiner Besuche in benachbarten […] Ortsgruppen habe ich dasselbe mit grosser Freude feststellen können.“ 82
Dies äußerte Kaufmann als Gauleiter des kurzlebigen Gaues Rheinland-Nord in einem Brief an einen Amtskollegen. Nicht zuletzt aufgrund dieser Kurzlebigkeit des Gaues, sondern auch mit Blick auf die äußerst dünne Quellenlage ist seine Tätigkeit als Gauleiter des Gaues Rheinland-Nord nur sehr lückenhaft rekonstruierbar. Wie jedoch zu sehen sein wird, war diese Station in seinem Leben trotzdem eine der entscheidenden und wichtigsten. Grundsätzlich konnte eine Partei der äußersten Linken oder der äußersten Rechten im Rheinland und Ruhrgebiet 1925 auf einen ihnen geneigten Nährboden hoffen. Dies ist vor allem auf die Ruhrbesetzung und die soeben erst überwundene Inflation zurückzuführen. Unter diesen Vorzeichen und mit den entsprechenden Erwartungen nahm der mit der Neukonstituierung der NSDAP gegründete Gau Rheinland-Nord seine Arbeit auf. Erster Gauleiter war ab dem 27. März 1925 Axel Ripke 83. Ripke stellt ein klassisches Beispiel für die schnellen und kurzlebigen Gauleiterwechsel in der Partei vor 1929/ 1933 dar. Da er einerseits in gegenseitige Intrigen mit Goebbels verwickelt war, und andererseits die Parteileitung in München gegen sich aufbrachte, endete seine Tätigkeit bereits im Juli 84. Goebbels leitete den Gau vorerst kommissarisch (und ohne Befugnis aus München), bis im September Kaufmann das Amt übernahm. Die Umstände von seiner Amtsübernahme waren sehr verworren. Er wurde im September 1925 nicht regulär gemäß dem „Führerprinzip“ von Hitler ernannt, sondern (wie so häufig in dieser chaotischen Aufbauphase) über eine Delegiertenversammlung eigener „Parteigenossen“ des Gaues. Erst im Anschluss daran kam Kaufmann auf Hitler zurück: 82 LAV NRW R RW 0023, Nr. 53, Schreiben vom 9. Oktober 1925. 83 Vgl. zu Ripkes Werdegang Höffkes: Generale, S. 273f. 84 Vgl. zu Ripkes faktischen Kampf an zwei Fronten näher Hüttenberger: Wandel, S. 27. Konkret zur bereits Monate zuvor schwelenden Intrige Reuth: Goebbels, S. 89–131.
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„Die Vertreterversammlung der Ortsgruppen bestimmt einstimmig Pg. Karl Kaufmann, Elberfeld, zum Gauführer des Gaues Rheinland-Nord, und bittet um baldige Bestätigung durch Herrn Hitler.“ 85
Hitlers Reaktion ist nicht erhalten geblieben, aber solche „Eigenmächtigkeiten“ der Parteigliederungen, die sich nicht an die von ihm festgelegten und von ihnen bestätigten Verfahrensweisen hielten, sollten noch lange die Auseinandersetzungen zwischen Parteizentrale und Parteigliederungen bestimmen 86. Der neue Gauleiter Kaufmann war da keine Ausnahme. Es gab nun drei Möglichkeiten für die Parteileitung, was sie nun unternehmen konnte: Erstens die Ernennung formal bestätigen. Das wäre aber dem eigenen Anspruch und dessen Durchsetzung zuwidergelaufen. Dies kam bei Parteigliederungen zwar durchaus vor, aber selbst dann war der eigentliche Konflikt nur zugedeckt, nicht aber gelöst 87. Zweitens die Ernennung zurückweisen. Dazu war die Parteileitung im Jahre 1925 aber außerhalb Bayerns noch nicht stark genug, vor allem nicht bei einer zentralen Person wie einem Gauleiter. Die Folgen eines solchen Konflikts wären schlimmstenfalls Gesichtsverluste und Parteiabspaltungen gewesen. Erst mit der Festigung und Konsolidierung der Gesamtpartei ab 1926/1927 hätte die Parteizentrale sich auf so einen schwer abschätzbaren Konflikt einlassen können. Dies entsprach grundsätzlich dem Standardvorgehen der Partei in jener Zeit. Drittens den Vorgang einfach in der Schwebe lassen und ignorieren, bis sich eine Lösungsmöglichkeit ergeben sollte. Damit wurde ein Konflikt umgangen, aber klare Verhältnisse waren dies nicht. Bei Kaufmann jedenfalls ging die Parteizentrale 1925 genau diesen Weg. Dieses Offenhalten des Status quo führte dazu, dass Kaufmann einfach keine Rückmeldung aus München erhielt, während der reguläre Geschäftsverkehr zwischen Elberfeld und München beibehalten wurde 88. Selbst auf die für die Parteigeschichte äußerst wich85 BA B NS 1/340, Schreiben vom 29. September 1925. 86 Passend ist daher zur lange dauernden Durchsetzung von Hitlers Führungsanspruch von einer Art „Erfindung des Führers“ gesprochen worden, der in der später zelebrierten Form anfangs noch überhaupt nicht existierte, zumindest nicht außerhalb Münchens. Vgl. Thamer, Hans-Ulrich: Adolf Hitler. Biographie eines Diktators, München 2018, S. 47. 87 Entsprechend wurde beispielsweise bei Köln vorgegangen, wo einige Personen 1921 eine Ortsgruppe der NSDAP gründeten, staatlicherseits anerkannt und ins Register eingetragen wurden, von der Parteizentrale aber eine Rüge erhielten, weil sie nicht formal als Einzelpersonen ihre Mitgliedschaft bei der Parteileitung beantragt hatten. Erst 1922 wurde die Ortsgruppe auch offiziell durch die Parteileitung anerkannt. Dies sorgt bis zum Verfassen vorliegender Arbeit noch für das gelegentliche Auftauchen der beiden Jahresdaten als Entstehungszeitpunkt der Kölner NSDAP. Sie selbst nannte hierfür 1921, der Parteizentrale galt aber 1922 als richtig. Vgl. Meis, Daniel: Köln im Nationalsozialismus 1933–1945. Eine Bestandsaufnahme, Berlin 2021, S. 9f. 88 Kaufmann bemühte sich beispielsweise schon kurz nach Amtsübernahme darum, den alten „Scherbenhaufen“ der Mitgliedsaufnahme zu bereinigen, indem er der Parteizentrale versicherte, dass der Gau in Zukunft keine eigenen Mitglieder mehr aufnehmen würde. Vgl. BA B NS
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tige „Bamberger Tagung“ der Reichs- und Gauleiter im Februar 1926, auf deren Bedeutung für Kaufmann und den linken Parteiflügel noch genauer eingegangen wird 89, erhielt er keine Einladung, obwohl ihm eine solche als Gauleiter zugestanden hätte. Auf seine Nachfrage hin, warum er nicht eingeladen worden sei (wohinter er die immer noch nicht bestätigte Amtsübernahme und den Dauerkonflikt der Mitgliederaufnahme als Vermutung formulierte) 90 erhielt die Gaugeschäftsstelle nach einem Monat folgende Rückmeldung: „Aus Unserer Zentralkartei haben wir ersehen, dass der Gauleiter von RheinlandNord, Herr Karl Kaufmann, bis jetzt noch nicht offiziell als Mitglied eingetragen ist. Wir erbitten die Einsendung eines ausgefüllten Anmeldeformulars des Pg. Kaufmann umgehend zu veranlassen. Die gewünschte Bestätigung durch Herrn Hitler wird dann sofort nachfolgen.“ 91
Inzwischen waren schon sechs Monate seit der Amtsübernahme vergangen und selbst die Umwandlung des Gaues Rheinland-Nord in den „Groß-Gau“ Ruhr war vollführt worden, ohne dass das Gauleiterproblem gelöst worden wäre. Im Gegenteil: Es war herausgekommen, dass Kaufmann überhaupt nicht als Parteimitglied geführt wurde. Elberfeld kam der Bitte Münchens sofort nach und versuchte hierbei auch zu erklären, warum Kaufmann in den Münchener Akten offenbar nicht registriert war: „Der Aufnahmeschein des Pg. Karl Kaufmann wird Ihnen heute mit den sämtlichen Aufnahmeformularen der Ortsgruppe Elberfeld und weiteren aus den Ortsgruppen des Gaues zugehen. Aus diesem Fall können Sie deutlich ersehen, daß die Mehrzahl der jetzt sich [bei der Parteizentrale] anmeldenden Parteigenossen bereits früher schon überzeugte Mitglieder der Bewegung waren, die jedoch infolge des Verbotes der Partei in Preußen sich entweder als Mitglieder der Ortsgruppe München oder sonstiger bayrischer Ortsgruppen angemeldet hatten.“ 92
Wie erwähnt führte diese verspätete Formalität der Mitgliederausweise im Rheinland für Kaufmann zu der Mitgliedsnummer 32 667. Dies war zwar eine später hoch begehrte Nummer, aber natürlich weit entfernt von den ersten drei- bis vierstelligen Nummern der Jahre 1921/1922, in denen Kaufmann zur „Bewegung“ gestoßen war. Mit Kaufmanns Erklärung, warum er nicht in den Münchener Akten als Mitglied geführt wurde, gab sich die Parteileitung jedenfalls zufrieden und verfolgte die Angelegenheit offenbar 51/203, Schreiben vom 29. Oktober 1925. Wie später noch ausführlich zu erläutern sein wird, hielt dieses Mitgliederaufnahmeproblem dennoch weitere Jahre lang an. Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen im Unterkapitel 2.3. 89 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen im Unterkapiteln 2.3. 90 Vgl. BA B NS 51/203, Schreiben vom 12. Februar 1926. 91 Ebd., Schreiben vom 13. März 1926. 92 Ebd., Schreiben vom 17. März 1926.
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nicht weiter. In München wussten die entsprechenden Stellen, wie chaotisch die Parteiverwaltung in Teilen der Gliederungen aussah. Goebbels hatte es bei der Versammlung im September 1925 zwar eigentlich selbst auf das Gauleiteramt abgesehen, war hierbei aber nicht zum Zuge gekommen. Die genaueren Hintergründe dafür sind jedoch mangels Quellen nicht mehr nachzuvollziehen. Jedenfalls notierte Goebbels kurz nach der endgültigen Entscheidung am 28. September, derzufolge er Gaugeschäftsführer blieb, zuversichtlich in sein Tagebuch: „Kaufmann ist Gauführer. Ich habe die notwendige Entlastung. Wir werden in Kameradschaft zusammenarbeiten. Die Leute haben Vertrauen zu uns. Einheitlicher Geist. Mich freute diese rührende Anhänglichkeit. […] Nächsten Monat große Aufgaben. Man wollte mich zum Gauführer machen. Ich kann das nicht noch dazu. Ein kleiner Stachel gegen Kaufmann in mir. Ich mache die Arbeit, und er ‚führt‘. Aber das wird sich legen. Es geht um die Sache, und nur um die Sache. 93“
Mangels Quellen lässt es sich nicht beweisen, ob Goebbels der „wahre Gauleiter“ des Gaues Rheinland-Nord hinter Kaufmann war. Wie noch noch zu sehen sein wird, entsprach Goebbels Sichtweise aber zumindest dort im Nachfolge-Gau Ruhr nicht den Tatsachen 94. Ohne ins Spekulative abzugleiten sei der Hinweis angebracht, dass es kein Indiz dafür gibt, dass es sich im Falle Rheinland-Nord anders verhalten hat, zumal der Übergang der beiden Gaue relativ flüssig erfolgte. Hinsichtlich Kaufmanns Amtstätigkeit als Gauleiter sind nur sehr wenige Akten erhalten geblieben. Diese wenigen Akten spiegeln aber relativ deutlich die allgemeinen Verhältnisse der Gaue Mitte der 1920er Jahre wider. So sind beispielsweise Korrespondenzen Kaufmanns mit dem Gauleiter des Gaues Rheinland-Süd, Robert Ley 95, sowie des Gaues Westfalen, Franz Pfeffer von Salomon 96, erhalten geblieben, die die Abgrenzung der exakten Gaugrenzen zum Inhalt haben 97. Auf deren Inhalt soll hier nicht näher eingegangen werden, da diese Streitfragen sich noch über Jahre hinzogen. Dargestellt wird dies daher im Unterkapitel zum Gau Ruhr. Es sei jedoch bereits an dieser Stelle vermerkt, dass die unsichere Grenzziehung charakteristisch für die Konstituierung der Gaue war. Wie in so vielen Bereichen überließ Hitler es auch hier anderen, sich um die „Kleinigkeiten“ zu streiten, sodass er einerseits nicht damit belastet wurde und andererseits auch für keine Seite Partei ergreifen musste. Dies ist eines der ausschlaggebenden 93 Goebbels: Tagebücher, Bd. 1, S. 196. 94 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen im Unterkapitel 2.3. 95 Zu Leys Wirken in der „Kampfzeit“ der Partei, er der er von 1925 bis 1932 Gauleiter war, vgl. Smelser, Ronald: Robert Ley. Hitlers Mann an der „Arbeitsfront“. Eine Biographie, Paderborn 1989, S. 77–102. 96 Zu Pfeffer von Salomons Gauleitertätigkeit zwischen 1924 und 1926 vgl. Fraschka, Mark A.: Franz Pfeffer von Salomon. Hitlers vergessener SA-Führer, Göttingen 2016, S. 267–290. 97 Exemplarisch: LAV NRW R RW 0023, Nr. 52, Schreiben vom 28. Juli, 1. August, 7. August und 29. August 1925.
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Charakteristika seiner Herrschaft 98. Insofern waren Kaufmanns Auseinandersetzungen mit seinen Kollegen im Süden und Westen nichts ungewöhnliches, sondern etwas geradezu „normales“. Aus den Akten geht gleichfalls hervor, dass Kaufmann als Gauleiter in stetigen Kontakt mit dem schon erwähnten Pfeffer von Salomon stand, bei dem es vor allem um organisatorische Fragen und Überschneidungen ging. Dies hing einerseits mit Pfeffer von Salomons Tätigkeit als Oberster SA-Führer zusammen, sodass Kaufmann seinen Bedarf an nicht genügenden SA-Männern hierüber „abzudecken“ versuchte, und andererseits mit der Nachbarschaft beider Gaue, die grenzüberschreitende Fragen zu klären hatten 99. Auch diese Hilfestellung war Mitte der 1920er Jahre nichts seltenes, da die Parteileitung den Gauen kaum solche Unterstützung gab, und sich diese selbst helfen mussten. Gelegentlich arbeiteten so auch einzelne Gaue in bestimmten Bereichen zusammen 100. Insofern ist auch in diesem Punkt Kaufmanns Arbeit als „normal“ zu bezeichnen. Schon alleine der geringen Anzahl an Akten, die aus Kaufmanns Tätigkeit erhalten sind, lässt sich eine weitere für die NSDAP bis 1928/1929 typische Eigenschaft entnehmen. Die Akten sind nicht „nur“ durch den Krieg zerstört worden. Die Verwaltung und Organisation der Partei war bis zum Aufschwung der NSDAP ab 1928/1929 vielmehr schon aufgrund der sehr begrenzten Mittel 101 äußerst schlicht und einfach gehalten. In der Regel änderte sich dies erst mit dem jeweiligen regionalen Aufstieg der NSDAP bei Wahlen. Erst ab dann ist eine zunehmende Professionalisierung erkennbar, die sich nicht zuletzt auch in der Aktenführung der Gauleitungen bemerkbar machte 102. Wie viel im Einzelnen jedoch durch Kriegseinwirkungen und wie viel durch eine schlechte Aktenführung an Material verloren gegangen ist, lässt sich aber nicht mehr feststellen. Angesichts der chaotischen Verwaltungsführung ist es umso erstaunlicher, dass Kaufmanns Gauleitung eine der wenigen war, die schon Mitte der 1920er Jahre eine eigene Geschäftsstelle besaß. Zumeist „zogen“ die Geschäftsstellen der Gaue mit den jeweils amtierenden Gauleitern „mit“, da diese ihre Aufgaben bis zur Professionalisierung ab 1928/1929 überwiegend in ihren Privaträumen verrichteten. Ständige „Umzüge“ und mangelhafte Unterbringungsmöglichkeiten waren auch einer der Hauptgründe für die lückenhafte Verwaltungsführung 103. Für die „Aktenarmut“ des Gaues Rheinland-Nord kann hierbei ein einfaches, aber anschauliches Beispiel gewählt werden: Der Wahlkampf
98 Vgl. Kershaw: Macht, S. 149. 99 Exemplarisch: LAV NRW R RW 0023, Nr. 53, Schreiben vom 7. November 1925. 100 Vgl. Hüttenberger: Wandel, S. 25f. 101 Die finanziellen Mittel, bei denen die Gaue fast völlig auf sich alleine gestellt waren und sogar noch diverse Abgaben an die Parteileitung in München zu erfüllen hatten, wurden mit den zunehmenden Wahlerfolgen und der weiteren Verbreitung der gaueigenen Zeitungen immer größer. Bis dahin musste mit den sehr geringen Mitteln möglichst effizient gearbeitet werden. Vgl. hierzu näher Tyrell, Albrecht: Das Scheitern der Weimarer Republik und der Aufstieg der NSDAP, in: Broszat, Martin/Frei, Norbert (Hrsg.): Das Dritte Reich im Überblick. Chronik, Ereignisse, Zusammenhänge, 8. Aufl., München 2007, S. 20–34, hier S. 24f. 102 Vgl. zum Prozess der Professionalisierung Hüttenberger: Wandel, S. 38–55. 103 Vgl. hierzu ebd., S. 25.
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um das Amt des Reichspräsidenten 1925 war noch mit Ripke als Gauleiter geführt worden. Die NSDAP hatte hierbei gemeinsam mit einigen anderen völkischen Splittergruppen Erich Ludendorff als Kandidaten unterstützt. Auch wenn die Chancen auf einen Wahlerfolg kaum vorhanden waren, passte die Teilnahme an der Wahl zum neuen Legalitätskurs der neugegründeten Partei. Ludendorff erhielt jedenfalls nicht mehr als 1,06 Prozent der Stimmen 104, sodass im zweiten Wahlgang der Kandidat Paul von Hindenburg unterstützt wurde 105. In den erhaltenen gauinternen Unterlagen der Gauleitung des Gaues Rheinland-Nord ist der Wahlkampf aber kaum präsent. Keine Protokolle von Besprechungen, keine Plakatbestellungen, keine Notizen, keine Korrespondenz, keine Rechnungen, sodass in solchen Einzelfällen nur Parallelüberlieferungen wie die Korrespondenz mit München oder andere Quellengattungen Aufschluss geben. Aber auch ohne umfangreiche Aktensammlungen der Gauleitung lassen sich einige Aussagen über Kaufmann als Gauleiter der Jahre 1925 und 1926 treffen. Goebbels beispielsweise hatte in den Jahren 1924 bis 1926, also der gemeinsamen Zeit in Elberfeld, sehr engen Kontakt zu Kaufmann. Zeitweise war er gar sein bester und einziger Freund. Aus seinen Tagebucheintragungen gehen einmalige Charakterbilder hervor. Für deren Authentizität ließe sich unter anderem anführen, dass sie vor allem die persönliche und sehr zerbrechliche Seite von Kaufmann zeigen, während öffentliche Verlautbarungen über ihn stets das Bild eines harten, unbarmberzigen Nationalsozialisten enthielten. Gerade Goebbels ist hierbei ein anschauliches Beispiel. Dieser verfasste 1926 beispielsweise eine Beschreibung Kaufmanns, die als Teil eines Artikel in der Gaupresse veröffentlicht wurde, und die dortigen führenden Persönlichkeiten präsentierten.. In dieser hieß es unter anderem folgendes: „Den Krieg machte er fast als Knabe mit. Draußen wurde er zum fanatischen Nationalrebell. Nach dem Kriege als Jüngling durch die harte Schule der Politik. Kein angenehmer, bequemer Jasager. Wo er war, da gab's Revolution. Immer drehte es sich um eins: Sozialismus. Dafür kämpfte und opferte er. […] Manch einer von den Feinsten hat sich an seiner Unerbittlichkeit das Genick zerbrochen. Man hetzte ihn von Anklage zu Anklage, von Haussuchung zu Haussuchung. Er blieb hart.“ 105
Diesem für die Öffentlichkeit bestimmten Bild standen die privaten Tagebucheinträge fundamental entgegen. Diese zeichneten vielmehr einen innerlich gebrochenen, einsamen jungen Mann. Am 18. April 1925 notierte Goebbels unter dem Eindruck, dass er mangels Geld nun wahrscheinlich zurück ins Elternhaus, und damit aus Elberfeld fort müsse, folgendes: 104 Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich. Fünfundvierzigster Jahrgang 1926, Berlin 1926. Herausgegeben vom Statistischen Reichsamt, S. 450. 105 Zur Reichspräsidentenwahl 1925 und ihren innenpolitischen Implikationen vgl. Kolb, Eberhard/Schumann, Dirk: Die Weimarer Republik, 8. Aufl., München 2013, S. 84f. 105 Goebbels, Joseph: „Neue Köpfe“, NSB, 1 (1925), H. 18.
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„Kaufmann hat einen inneren Dämon. Das bindet mich so sehr an ihn und umgekehrt. Gestern, als ich ihm sagte, ich müßte vielleicht weg von Elberfeld, da traten ihm die Tränen in die Augen. ‚Nein, das geht nicht‘, sagte er, ‚dann habe ich ja niemanden mehr.‘ Oh, Gott, gib mir Kaufmann als Freund. Er ist alles für mich und ich alles für ihn.“ 106
Am 2. Januar 1926 notierte Goebbels über den Jahreswechsel folgendes zu seinem Freund: „Ein trauriger Übergang ins neue Jahr. Kaufmann bekam noch kurz vor Torschluß einen seiner fürchterlichsten Nervenanfälle. Wir standen mit ihm ringend und tobend auf der dunklen Treppe, er schrie wie ein Besessener und wollte in die Wupper, da schlug es 12 Uhr. Prosit Neujahr! […] Gestern abend lag er zu Hause im Bett. Ich besuchte ihn und versuchte, ihn etwas aufzuheitern, was mir auch in etwa gelang. Gleich will ich wieder hingehen. Mir ist so traurig zu Mut. […] Was müssen wir alles ertragen. Ich möchte weinen, aber es kommt keine Träne.“ 107
Auch neben solch negativen Höhepunkten in Kaufmanns Gefühlsleben, notierte Goebbels oftmals, wie unausgeglichen dessen Inneres gewesen sei. So etwa am 8. Januar 1926: „Kaufmann ist zu gutmütig und zu weich. Er läßt gerne im letzten Augenblick nach. Er ist aufgerieben. Verbrauchte Nerven.“ 108 Insofern schien Kaufmann, der mit seinen gescheiterten Ausbildungen, seinem verpassten Kampfeinsatz im Krieg und dem Weggang nach Bayern ohnehin immer wieder Rückschläge hatte erleiden müssen, auch nicht aufzurichten, dass er 1925 mit erst 24 Jahren Gauleiter geworden war. Rückblickend war er damit einer der ersten Gauleiter überhaupt geworden, und gehörte zu den Gauleitern, die sich auf besonders frühes Engagement in Führungspositionen der Partei berufen konnte. 1925 und 1926 glich dies sein mangelndes Selbstvertrauen und seine offenbar depressiven Stimmungen aber keineswegs aus. Auch die erfolgreiche Bilanz seiner ersten Jahre als Gauleiter konnte Kaufmann allem Anschein nach nicht trösten. Im Laufe der Zeit sprach die hochgradige Parteiprominenz auf Parteiversammlungen und Diskussionsabenden, darunter Wilhelm Frick, Gottfried Feder, Gregor Strasser, Streicher 109 und viele weitere (natürlich stets unter Beobachtung der Polizei), deren Besuche einerseits Vor- und Nacharbeit für den Gauleiter bedeuteten und andererseits eine große Werbewirkung besaßen. Ein wichtiges Ereignis für die Parteigeschichte, welches auch für Kaufmanns politische Biografie sehr wichtig wurde, fiel in diesen kurzen Zeitabschnitt als Gauleiter in Rheinland-Nord. Es handelt sich hierbei um die „Arbeitsgemeinschaft der nord- und 106 Goebbels: Tagebücher, Bd. 1, S. 179. 107 Ebd., S. 217. 108 Ebd., S. 220. 109 Vgl. LAV NRW L BR 0007, Nr. 16738, Schreiben vom 30. Oktober 1925; vgl. ebd., Schreiben vom 23. Januar 1926; vgl. ebd., Schreiben vom 11. März 1926.
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westdeutschen Gaue der NSDAP“. Die Hintergründe dieser „Spezialgemeinschaft“ innerhalb der eigentlichen Partei sind vielschichtig, und ihre Interpretation schwankte mitunter von einer Gregor-Strasser-Organisation gegen Hitler bis hin zu einer reinen Aufbaugemeinschaft der noch nicht gefestigten neuen NSDAP-Gaue. Beides ist nicht ganz falsch. Hitler selbst regte die Gründung einer entsprechenden Arbeitsgemeinschaft bei Gregor Strasser an. Nicht zuletzt handelte es sich hierbei um die kritische Frage, wie die zumeist noch recht jungen Gaue im Norden und Westen von den dort äußerst starken Deutschvölkischen ferngehalten und auf Kurs der Münchener gebracht oder gehalten werden könnten. Dass er hiermit Gregor Strasser als Reichsorganisationsleiter beauftragte, und nicht dieser selbst initiativ tätig wurde, zeigt an, dass es nicht um eine gegen die Person Hitler gerichtete Organisation ging. Die neue Arbeitsgemeinschaft jedenfalls wurde auf einer Tagung im September 1925 offiziell gegründet. Vorarbeit hatten Führungspersönlichkeiten der entsprechenden Gaue geleistet. Auch spätere Programmentwürfe der untereinander ähnlich strukturierten Gaue wurden von dort beigesteuert, darunter vor allem von Goebbels und zu guten Teilen auch von Kaufmann 110. Durch die Sozialstruktur der dortigen Bevölkerung, der eigenen „Parteigenossen“ sowie der Zusammensetzung der Arbeitsgemeinschaft selbst (Elberfeld war Sitz, Gregor Strasser Leiter, Goebbels Geschäftsführer, die „Nationalsozialistischen Briefe“ Presseorgan) kann es deshalb nur „auf den ersten Blick“ verwundern, dass die neue Arbeitsgemeinschaft den linken sozialistischen Parteiflügel dominierte beziehungsweise der linke Flügel in der Arbeitsgemeinschaft dominierte 111. Ein Konflikt mit München ergab sich also programmatisch, aber nicht machtpolitisch im Voraus geplant. Hiermit befanden sich die entsprechenden Gaue aber zumindest anfangs 112 nicht im Widerspruch zu München. Erstens gab es im Gesamtprogramm der NSDAP starke sozi110 Zur Gründung der Arbeitsgemeinschaft vgl. die nach wie vor grundlegende Arbeit von Schildt, Gerhard: Die Arbeitsgemeinschaft Nord-West. Untersuchungen zur Geschichte der NSDAP 1925/1926, Freiburg im Breisgau 1964, S. 105–122. Einen detaillierten chronologischen Ablauf der Existenz der Arbeitsgemeinschaft bietet März: Sozialisten, S. 93–144. 111 Vgl. detailliert Kühnl, Reinhard: Die nationalsozialistische Linke 1925–1930, Meisenheim am Glan 1966, S. 11–18. 112 Im weiteren Verlauf ihrer Existenz und Aktivität kristallisierte sich heraus, dass die Arbeitsgemeinschaft auf dem linken Flügel stand und die Gesamtpartei inklusive Hitler in diese Richtung ziehen wollte. Mit der Auflösung der Arbeitsgemeinschaft Mitte 1926 nahm Hitler ihr aber die Basis der gauübergreifenden Zusammenarbeit von immerhin elf Gauen. Eine Koordinierung gegen den rechten Flügel und direkt wie indirekt gegen Hitler, der keinem Flügel den Ausschlag geben wollte, war damit erheblich erschwert worden. Nicht zuletzt die besonders bekannt gewordene Tagung der Arbeitsgemeinschaft im Januar 1926, auf der von den versammelten Gauleitern und -geschäftsführern alle außer Ley gegen die von Hitler vehement verteidigte „Fürstenabfindung“ waren und Goebbels angeblich Hitlers Parteiausschluss forderte, machte einen gewissen Konflikt zwischen beiden Flügeln deutlich. Dass hierbei auch noch ausgerechnet gegen den „Führer“ Hitler opponiert wurde, statt gemäß des zu dieser Zeit noch nicht vollends
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alistische Ansätze, die auch Hitler immer wieder propagierte. Zweitens bildete die Arbeitsgemeinschaft nicht alleine den linken Flügel, sondern stärkte diesen „nur“ enorm. Vorhanden war er schon zuvor, besonders prominent etwa in Mutschmanns Gau Sachsen oder Albert Krebs’ Gau Hamburg. Drittens gingen die Protagonisten der Arbeitsgemeinschaft von Goebbels über Kaufmann, Koch und Gregor Strasser davon aus, dass Hitler eigentlich mehr dem sozialistischen als dem nationalistischen Flügel zugehören würde. Er sei einfach nur von den „falschen Personen“ umgeben und beraten. Dies ist ein Motiv, welches sich also nicht erst bei großen Teilen der Bevölkerung des „Dritten Reiches“ wiederfand, sondern sogar schon in der „NS-Führung“ des Jahres 1925. Jeder interpretierte Hitler für sich. Inwiefern diese Arbeitsgemeinschaft tatsächliche Auswirkungen auf die Gesamtpartei hatte ist umstritten. Klar ist aber, dass sie die Parteimitglieder der entsprechenden Gaue zumindest innerhalb der NSDAP hielt beziehungsweise dieser zuführte. Anderenfalls wären sie entweder zu den Deutschvölkischen oder eigenen Organisationsgründungen gelangt. Klar ist aber auch, dass sich der sozialistische Gedanke der nationalsozialistischen Ideologie trotz der Konsolidierung der einzelnen Gaue der Arbeitsgemeinschaft nie in der Gesamtpartei durchsetzen konnte. Ob nun das Ende jeder Chancen auf eine Durchsetzung auf das Ende der Arbeitsgemeinschaft Mitte 1926, den Parteiausschluss Otto Strassers 1930, den endgültigen Rückzug Gregor Strassers Ende 1932 oder gar die Eliminierung diverser innerparteilicher Konkurrenten Mitte 1934 datiert wird: Die einstigen Sozialisten innerhalb der Nationalsozialisten verstanden sich weiterhin als linker Flügel. Hierauf wird in Bezug auf Kaufmann, bei dem dies bis tief in die Bonner Republik nachweisbar ist, immer wieder zurückzukommen sein. In beiden genannten klaren Auswirkungen der Arbeitsgemeinschaft auf die Gesamtpartei ist also ein wichtiger Umstand für Kaufmanns eigenes Leben und Wirken erkennbar. Kaufmann gehörte zu den Nationalsozialisten der „Frühzeit“ der Partei vor 1925 und er blieb es über die Zersplitterung und Neukonsolidierung der Partei 1925 und 1926 hinaus. Zugleich war er eine der zentralen sozialistischen Führungspersönlichkeiten in der NSDAP. Weniger präsent und hochrangig als Gregor Strasser oder Goebbels, aber noch weit präsenter und hochrangiger als Hildebrandt oder Friedrich Karl Florian. Und Kaufmann blieb innerhalb des Nationalsozialismus Sozialist, und soweit es sich rekonstruieren lässt, blieb er dies für immer. durchgesetzten „Führerprinzips“ zu handeln, machte die Arbeitsgemeinschaft schon aus rein strategischen Gründen für Hitler gefährlich. Zum Stand der Arbeitsgemeinschaft und Hitlers innerhalb der Gesamtpartei vgl. Kissenkoetter, Udo: Gregor Straßer und die NSDAP, Stuttgart 1978, S. 28–30. Aus der großen „Überlappung“ von sozialistischem Flügel, Arbeitsgemeinschaft, linken Gauen sowie dem Programm Gregor Strassers hat sich insofern auch erst die Bezeichnung „Strasser-Flügel“ entwickelt. Dieser Begriff ist sehr irreführend, da Strasser weder die Gauleiter anführte, noch sie von seinem Programm erst überzeugen musste. Der Begriff kann mit diesem Hintergrundwissen aber dennoch genutzt werden, da Gregor Strasser immerhin Leiter der Arbeitsgemeinschaft war und mit seinem Verlag sowie einer eigenen Verortung auf dem linken Parteiflügel als bekanntestes Gesicht dieses Flügels gilt.
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Die Arbeitsgemeinschaft schlug nun umfassende Programmpunkte für den künftigen Gesamtkurs der Partei vor. Zuerst einmal ist es wichtig klarzustellen, dass ihre Vorschläge für die Gesamtpartei nicht utopisch waren. Die Partei befand sich 1925 erst in ihrer Neugründungsphase und begann sich langsam zu konsolidieren. Die „nur“ Deutschvölkischen wurden zugleich abgestoßen, ohne die gemeinsamen Ziele aufzugeben oder zu ersetzen. Wie sich die Partei also neu ausrichten würde, war erstens noch nicht deutlich und zweitens konnten parteiinterne Gruppen darauf Einfluss nehmen. Insofern gingen die Beteiligten also gutgläubig davon aus, dass ihr Programm durchaus Chancen hätte, sich in der Gesamtpartei durchzusetzen, statt „nur“ das Teilprogramm eines dauerhaft unterlegenen Parteiflügels zu werden. Das Programm titulierte sich selbst als „nationalen Sozialismus“ und definierte dessen Inhalt als den „einer völlig neuen umfassenden Anschauung politischer Oekonomie (Synthese des staatenbildenden Nationalismus und Ernährung und Gedeihen des einzelnen gewährleistenden Sozialismus).“ 113
Das sogenannte „Strasser-Programm“ war zumindest außenpolitisch auf einer Linie mit dem Großteil des nationalistischen Flügels, des „25-Punkte-Programms“ sowie dem Großteil der zeitgenössischen Gesellschaft. Es forderte unter anderem die Vereinigung aller Deutschen in Europa in einem „Großdeutschen Reich“ sowie die Rückgabe der verlorenen Kolonien und die Übergabe weiterer Kolonien von zweitrangigen Kolonialreichen wie Portugal 114. Innenpolitisch war zumindest mit Blick auf Staatsaufbau und -praxis mit dem nationalistischen Flügel auch kein größeres Konfliktpotential gegeben. Hier wurde ein autoritär-diktatorischer Ständestaat auf Berufsgrundlage gefordert, dessen einzelne Bestandteile sich gegenseitig blockieren und damit kontrollieren konnten 115. Kritisch waren aber im Wesentlichen die Vorstellungen der Arbeitsgemeinschaft zur Wirtschaftspolitik. Grundbesitz sollte komplett verstaatlicht und grundsätzlich wie im Mittelalter per Lehen vergeben werden. In der Industrie war bei mehr als zwanzig Angestellten in einem Betrieb dieser jeweils in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln. Bei „[l]ebenswichtigen Industrien“ sollten solche zu 41 Prozent in Staatshand und zehn Prozent in Belegschaftshand gehen, bei „[n]icht lebenswichtigen Industrien“ zu 39 und 10 Prozent. Verwaltung wie Leitung solcher Betriebe sollte zwar weiterhin nach privatwirtschaftlichen Gesichtspunkten möglich sein, aber der Vorsitzende des Aufsichtsrats sollte gemäß der relativen Aktienmehrheit von 30 Prozent in der Regel vom Reichswirtschaftsministerium gestellt werden. Verkäufe landwirtschaftlicher Güter sollten nur innerhalb einer 113 Zur Programmatik der nationalsozialistischen Linken: Das Strasser-Programm von 1925/26. Herausgegeben von Reinhard Kühnl, in: VfZ, 14/1966, S. 317–333, hier S. 324. Das Programm ist abgedruckt ebd., S. 324–333. 114 Vgl. ebd., S. 324f. 115 Vgl. ebd., S. 325–327
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regionalen Zwangsinnung beziehungsweise Genossenschaften erlaubt sein 116. In mancher Hinsicht wäre bei einem solchen Programm zu fragen gewesen, was es noch von planwirtschaftlichen Vorstellungen des Kommunismus unterschied. Im Wesentlichen waren dies zwei Punkte. Erstens wies dieses Programm zwar weitgehende Staatsbeteiligungen auf, so auch in Schlüsselbereichen. Allerdings hatten diese entweder nur eine relative oder hauchdünne absolute Mehrheit, die sich noch dazu auf mehrere Staatsebenen verteilte. In den meisten Planwirtschaften hieß Staatsbeteiligung allerdings sichere absolute Mehrheit bis vollständiger Staatsbesitz. Zweitens waren in diesem Programm zwar Beschränkungen und Richtungsangaben für Rechtsgeschäfte gegeben, vor allem in Form von Warenflüssen. Es waren aber nicht Wirtschaftspläne mit festen Zielen geplant. Nicht zuletzt war das Denken in nationalistischen Kategorien und Grenzen ein erheblicher Unterschied gegenüber dem auf Internationalismus angelegten Kommunismus. Deutlich ist hierbei aber auch, wie fließend die Grenzen zwischen linken Nationalsozialisten und rechten Kommunisten werden konnten 117. Denn die Nationalbolschewisten der KPD hätten ein solches Programm als Diskussionsgrundlage empfunden, wie vorliegend noch in anderen Kontexten gezeigt wird 118. Ein gemeinsamer Boden, auf dem diskutiert werden konnte, bestand jedenfalls. Auch hier ist aber festzuhalten, dass die Anhänger des „Strasserismus“, hinsichtlich ihres Nationalismus einen deutlichen Kontrast selbst zu den rechtesten Kommunisten darstellten. Was „auf den ersten Blick“ widersprüchlich wirken könnte, nämlich eine ideengeschichtliche Verbindung von Sozialismus und Nationalismus, war für den „Strasser-Flügel“ und auch schon für Vordenker der Politischen Theorie eines „deutschen“ oder „nationalen Sozialismus“ 119 nicht utopisch. Der Schlüssel liegt im Detail. Denn nicht nur Sozialdemokraten, Kommunisten und links orientierte Katholiken stritten sich über den Sozialismusbegriff und reklamierten ihn inklusive eigener Definition für sich selbst. Auch Völkische und später die Nationalsozialisten hatten eine eigene Vorstellung von „Sozialismus“ 120. Den Nationalsozialisten ging es dabei nicht um kommunistische Plan116 Vgl. ebd., S. 327–351. 117 Vgl. grundlegend zum deutschen Nationalbolschewismus das Werk von Dupeux, Louis: „Nationalbolschewismus“ in Deutschland 1918–1933. Kommunistische Strategie und konservative Dynamik, München 1985. 118 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen im Unterkapitel 2.3. 119 Zur Politischen Theorie des „nationalen Sozialismus“, der in verschiedenen Ausgestaltungen auch außerhalb des Nationalsozialismus Zulauf fand vgl. Sontheimer, Kurt: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, 2. Aufl., München 1964, S. 341–356. 120 Dies führte in der langen Begriffsgeschichte des „Sozialismus“ immer wieder zu Irritationen und Miss-verständnissen. Vgl. zum Begriff des „Sozialismus“ als von verschiedenen Seiten unterschiedlich definierter Ideologie Bracher, Karl Dietrich: Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert, München 1985, S. 155–157. Speziell auf die Problematik einer einheitlichen Definition des „Sozialismus“ unter den Anhängern des linken NSDAP-Flügels, die sich ebenfalls nicht ganz einig waren, vgl. März: Sozialisten, S. 188–190.
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wirtschaft, Avantgardismus, Internationalismus und „Diktatur des Proletariats“ zur Behebung sozialer Probleme. Ihnen ging es um eine Beseitigung sozialer Probleme sowie des Klassenkampfes und seiner Vorbedingungen durch die Ideologie der nationalen, alle Individuen umspannenden Einheit 121. Das Ziel der Gleichheit sollte also nicht durch allgemeine und internationale soziale Nivellierung und Angleichung erreicht werden, sondern durch innernationale Nivellierung und Angleichung. Durch den Standpunkt der gemeinsamen, solidarischen nationalen Einheit der Gesellschaft sollten soziale Gräben zwischen den sozial ungleichen Gliedern dieser Gesellschaft zugeschüttet und (langfristig) überwunden werden. Dies ist der fundamentale Unterschied, über den keine Diskussion zwischen linken Nationalsozialisten und rechten Kommunisten hinweg führen konnte. Soziale Gerechtigkeit und/oder Gleichheit durch innere Einigung der Nation oder durch Ausschaltung und Enteignung einer „Klasse“ oder Gesellschaftsschicht zugunsten anderer innerhalb der Nation? Hierbei ging es um grundlegende Anschauungen vom ideal vorgestellten Zusammenleben der Menschen, die bei dieser Frage ihren Kernsatz fanden, von dem keine Seite abrücken konnte. (Entsprechend sind auch Kaufmanns ständige Angriffe gegen den Marxismus und sein Werben um KPD- wie SPD-Wähler zu verstehen. Hierauf wird noch eingegangen 122.) Für die Kommunisten musste das „Grundübel“ ausgeschaltet werden, welches sie in der ungleichen Verteilung am Eigentum der Produktionsmittel verorteten. Für die linken Nationalsozialisten musste das „Grundübel“ ausgeschaltet werden, welches sie in der nationalen Uneinigkeit verorteten. Nationalismus und Sozialismus müssten demnach also kein Widerspruch sein, sondern würden sich gar bedingen. Wie erwähnt wurde die Arbeitsgemeinschaft schließlich für Hitlers Alleinführungsanspruch und allgemein das von ihm vertretene „Führerprinzip“ zur Gefahr. Ob das den Tatsachen entsprach oder nicht, war dabei zweitrangig, denn zumindest war Hitler selbst davon überzeugt. Er hatte 1925 gerade erst begonnen, die Partei wieder zu sammeln und zu reorganisieren 123. Die Trennung von den Deutschvölkischen schmerzte zugleich einigen Gruppierungen in der „Bewegung“ 124. Dennoch waren die Vorstellungen der Arbeitsgemeinschaft sowie des „Strasser-Flügels“ nicht unvereinbar mit dem Parteiprogramm oder Hitlers „Mein Kampf“, welches genau zu diesem Zeitpunkt in zwei Bänden erschien und als politisches Grundsatzwerk verstanden werden sollte. Zudem hatte Hitler selbst die Neuordnung der außerbayerischen Gaue unter Gregor Strasser angeordnet. Gregor Strasser wiederum verstand sich stets als loyaler Mann Hitlers. 121 Vgl. Kühnl: Linke, S. 57. 122 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen in den Unterkapiteln 2.3, 2.5. und 4.2. 123 Vgl. zum Neuordnungsprozess der NSDAP nach Hitlers Haftentlassung im Dezember 1924 Rösch, Mathias: Die Münchner NSDAP 1925–1933. Eine Untersuchung zur inneren Struktur der NSDAP in der Weimarer Republik, München 2002, S. 102–110. 124 Vgl. zum „Trennungsprozess“ Ende 1924/Anfang 1925, der sich je nach Region auch länger hinzog Wulff, Reimer: Die Deutschvölkische Freiheitspartei 1922–1928, Marburg 1968, S. 66– 74.
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Selbst auf der Tagung der Arbeitsgemeinschaft, auf der Goebbels angeblich Hitlers Parteiausschluss beantragte und alle Gauleiter außer Ley zustimmten, war es Gregor Strasser, der sich dem in den Weg stellte 125. Auch blieben die Vertreter der Arbeitsgemeinschaft nach ihrer Auflösung im Juli 1926 in der Partei und stiegen mitunter zu höchsten Ehren auf. Das galt auch für Kaufmann. Nun existierten mehrere Gründe, warum Hitler die Arbeitsgemeinschaft beseitigt wissen wollte. Erstens hatte sie ihren Zweck erfüllt. Die Konsolidierung der Gaue hatte inzwischen entscheidende Schritte gemacht. Zweitens war sie für Hitler als eigenständige Organisation innerhalb der Partei zu gefährlich. Sie begann ideologisch eigene Ideen weiterzuentwicklen und würde vielleicht gar eines Tages (erneut) gegen Hitler aufbegehren. Vielleicht würde sie dann sogar erfolgreich sein. Es war also offenbar weniger der Programmentwurf, den Hitler für verfehlt hielt, auch wenn sich viele Äußerungen oberflächlich so interpretieren ließen. Bei der „Bamberger Führertagung“ im Februar 1926, die absichtlich auf einem Wochentag in München gelegt worden war, damit möglichst wenige Gauleiter der Arbeitsgemeinschaft kommen könnten, hielt er sich auch nicht mit Fragen der Wirtschaftspolitik auf, sondern machte außenpolitische Vorwürfe gegen das Programm geltend. Er warf ihm zwar oberflächlich „Bolschewismus“ vor. Aber inhaltlich ging es vor allem um die Frage des außenpolitischen Umgangs mit den sowjetischen Bolschewisten. Auch der „Strasser-Flügel“ wollte wie erwähnt ein „Großdeutsches Reich“ in Mittel- und Osteuropa. Hitler wollte aber mehr, nämlich auch und gerade sowjetischen Boden 126. Dies könnte „auf den ersten Blick“ wie eine sekundäre, später möglicherweise auszudiskutierende Frage erscheinen. Aber der Zeitpunkt Anfang 1926 ist hierbei entscheidend. Hitlers innerparteiliche Macht war nicht gefestigt. Er musste mit Gewalt seinen Führungsanspruch durchsetzen. Die Arbeitsgemeinschaft war dabei einfach im Wege, egal wie marginal die ideologischen Abweichungen zwischen ihr und den Hitler-treuen oder zurückhaltenden Gauen war. Eine kleine Frage ist hierbei aber noch zu klären. Auch wenn Hitler offenbar vor allem aus machtpolitischen Gründen gegen die Arbeitsgemeinschaft und den „Strasser-Flügel“ vorging, klärt das nicht unbedingt über seine eigene Einstellung zu einem „nationalen Sozialismus“ auf. Hitlers Biografen diskutierten und diskutieren bis zum Verfassen vorliegender Arbeit fast schon 100 Jahre über diese Frage. Die wichtigsten Biografen Hitlers betonten dabei immer wieder, dass er zwar einen sozialen Ausgleich innerhalb der Nation anstrebte, dabei aber keinesfalls im größeren Stile die Eigentumsverhältnisse berühren wollte. Mitunter wurde deshalb auch angeführt, Hitler habe die Sozialisten in der 125 Soweit zumindest Otto Strasser, wobei dessen Memoiren hinsichtlich ihrer Wahrhaftigkeit mitunter problematisch sind. Ausgangspunkt war Hitlers Weigerung, die Partei für die Fürstenenteignung stimmen zu lassen. Vgl. Strasser: Hitler, S. 113 und leicht abweichend Strasser: Kampf, S. 27. 126 Vgl. Schüddekopf, Otto-Ernst: Linke Leute von rechts. Die nationalrevolutionären Minderheiten und der Kommunismus in der Weimarer Republik. Nationalbolschewismus in Deutschland von 1918 bis 1933, Stuttgart 1973, S. 200–202.
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Partei nur „an der Nase herumgeführt“, habe sie gar absichtlich weiter an die ferne Verwirklichung ihres Sozialismuskonzepts glauben lassen und darin gar bestärkt, ohne dies jemals zur Ausführung gelangen lassen zu wollen. Selbst die von Hitler auf höchster Ebene angestoßenen sozialpolitischen Themen habe er nur aus machtstrategischen Gründen verfolgt, etwa wenn er sich bis zum Ende des „Dritten Reiches“ gegen Steuererhöhungen der unteren und mittleren Einkommensstufen wehrte 127. Auch wenn einzelne Punkte hiervon zutreffend sein mögen, muss doch festgestellt werden, dass Hitler die wichtigsten sozialistischen Protagonisten der Partei nicht ausschaltete, obwohl er mehrfach die Chancen dazu besaß. Zwischen 1926 und 1945 hätte er 19 Jahre Zeit gehabt, gelegentlich immer mal wieder einen Goebbels, Kaufmann, Koch, Florian und viele weitere mit welchen Gründen auch immer abzusetzen 128. Vorwürfe gab es gegen jeden von ihnen genug. Sie mussten nur instrumentalisiert werden. Der einzelne Gauleiter war abhängiger von Hitler als Hitler vom einzelnen Gauleiter. Doch nichts dergleichen geschah. Es könnte eingeworfen werden, dass dies den Zusammenhalt der Partei und die Bindung der Parteimitglieder gefährdet hätte, die auf dem linken Flügel zu finden waren. Doch hätte diese Konstruktion zumindest die Entfernung von einigen der Protagonisten ausgehalten. Sie hielt schließlich auch die Entfernung beider Strasser-Brüder aus. Kaufmanns Verortung auf dem linken Parteiflügel, die sich bis zum Ende nicht ädern sollte, äußerte sich beginnend mit seiner Tätigkeit als Gauleiter nicht zuletzt in seinem Wirken als Redner. Seine Sozialismuskonzeption stand grundsätzlich spätestens ab Mitte der 1920er fest, ohne danach noch größere Veränderungen zu erfahren. Wie es davor aussah, ist mangels Quellen nicht ganz klar, aber einiges (wie etwa der Konflikt mit dem als Unternehmer tätigen Vater) deutet darauf hin, dass er schon zuvor eine gewisse Festigung in seinen Positionen erfahren hatte. Jedenfalls sind die Inhalte einiger seiner Reden und Diskussionsabende aus den 1920er Jahren durch die internen Berichte der beobachtenden Polizei erhalten geblieben. Da sie mit die ersten längeren, ausführlichen politischen Aussagen Kaufmanns waren, soll nachfolgend etwas detaillierter auf sie eingegangen werden. Im Oktober 1925 127 Zu den entsprechenden Einschätzungen derjenigen unter den wichtigsten Biografen, die auf das Thema eingingen vgl. Bullock, Alan: Hitler. Eine Studie über Tyrannei, 2. Aufl., Düsseldorf 1969, S. 136–139; Fest: Hitler, S. 392f.; Kershaw, Ian: Hitler, Bd. 2. 1886–1936, München 2013, S. 273–279; Longerich, Peter: Hitler. Biographie, München 2017, S. 163–165.; Toland, John: Adolf Hitler, Bergisch Gladbach 1977, S. 291–297; Ullrich, Volker: Adolf Hitler, Bd. 1. Die Jahre des Aufstiegs. 1886–1939, Frankfurt am Mai n 2013, S. 219–225. Einen Überblick über die Entwicklung der Hitler-Forschung bis 2006 gibt Hildebrand, Klaus: Das Dritte Reich, 7. Aufl., München 2009, S. 166–171. Obwohl die Frage nach Hitlers Tendenz in seiner eigenen ideologischen Ausrichtung sowie in seiner praktizierten Politik hinsichtlich der NSDAP-Flügel eigentlich von größter Wichtigkeit ist, sparen einige der wichtigsten Biografien über Hitler das Thema aus, darunter etwa Maser, Werner: Adolf Hitler. Legende, Mythos, Wirklichkeit, 18. Aufl., München/Esslingen 2001. 128 Zur Zusammensetzung im Einzelnen Schildt: Arbeitsgemeinschaft, S. 114.
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war er beispielsweise Gast bei einer dreistündigen Versammlung der Ortsgruppe Duisburg. Er „hielt einen kurzen Vortrag über die Bewegung und Ziele der oben erwähnten Organisation. Demgegenüber bemängelte er die Richtlinien der Sozialdemokratischen Partei und stellte die Führer derselben als Werkzeug des kapitalistischen Systems dar. […] In seinen Ausführungen ersuchte er die Arbeiterparteien sich zu einer Nationalsozialistischen – Deutschen Arbeiterpartei zusammenzuschließen […]. Als Wagenredner trat ein gewisser Hineler, Anhänger der K.P.D. von hier auf. Er schloß sich den Ausführungen seines Vorredners teilweise an, bemerkte aber, daß die K.P.D. mit den Hakenkreuzlern den gemeinsamen Weg vorläufig nicht gehen könne, denn sie müßten befürchten, daß die Hakenkreuzler ihnen in den Rücken fallen würden, wie sie dieses auch klar bei Ausbruch der Revolution getan hätten. […] Als 3. Redner trat ein gewisser Klinker oder Küpper von hier, ebenfalls Kommunist, auf. Genannter hat zuerst an den Referenten Kaufmann die Frage gestellt, was die N.S.D.A.P. zu tun gedenkt, falls ein Westpakt zustande kommen sollte. Darauf erklärte Kaufmann, daß die N.S.D.A.P. von Stunde an mit den Brüdern der K.P.D. Schulter an Schulter gegen die sozialdemokratischen Schieberknechte und dem [sic] Westpakt nach Anweisung der Sowjet-Regierung vorgehen werden. Die Auffassung wurde von den anwesenden Kommunisten mit Bravorufen und Händeklatschen begrüßt. […] An der Versammlung haben etwa 60 Anhänger der N.S.D.A.P. und 40 der K.P.D. teilgenommen.“ 129
Kaufmann warb also für einen gemeinsamen sozialistischen Kurs, auch unter den marxistisch ausgerichteten Kommunisten. Dies sollte bis zum Ende des „Dritten Reiches“ auch so bleiben. Er lehnte den Marxismus ab und betrachtete es als großen Erfolg, die marxistischen Parteien SPD und KPD in Hamburg nach 1933 ausgeschaltet zu wissen, sah aber nicht den Sozialismus als das „Problem“, sondern dessen marxistische statt nationalistische Form. Die „verirrten“ Anhänger von SPD und KPD sollten demnach auf den „richtigen“ und „wahren“ Pfad des Sozialismus gebracht werden. Bei einer anderen Veranstaltung, die von mehreren Ortsgruppen gemeinsam organisiert wurde und immerhin rund 300 Menschen mobilisierte, sprach Kaufmann ausführlich „über das Thema: ‚Was will der Nationalsozialismus‘“: „Kaufmann erklärte den Anwesenden das Programm der Nationalsozialisten und wies darauf hin, dass das internationale Kapital der grösste Feind des Nationalismus sei und er es für seine heilige Pflicht halte, das Kapital im Sinne von Adolf Hitler zu bekämpfen. Gerade Hitler sei die Person, dem [sic] das Wohl und Wehe der deutschen Arbeiterschaft am meisten am Herzen liege. Durch die Novemberrevo-
129 LAV NRW R BR 0007, Nr. 16738, Schreiben vom 9. Oktober 1925.
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lution 1918, die durch die Sozialdemokraten heraufbeschworen sei, seien die Führer der S.P.D. zu Amt und Würden gekommen. Den Arbeitern dagegen ginge es dagegen heute sehr schlecht. Die Arbeiter seien geradezu verbrecherisch behandelt worden, weil ihre Führer sie durch schrankenlose Ausbeutung dem Kapital ausgeliefert hätten. […] Ausserdem streifte Kaufmann die Judenfrage und erwähnte, dass die Juden an dem Elend im Deutschen Reich Schuld trügen.“ 130
Dieses Mal erhielt Kaufmann wesentlich mehr Gegenwind, aber auch hier stellte er sich wieder der Diskussion und beendete die Veranstaltung gar mit einem Friedensappell: „Nach der freien Aussprache erteilte der Vorsitzende dem Referenten Kaufmann nochmals das Wort. Kaufmann ging kurz auf die Ausführungen der einzelnen Redner ein und ermahnte die Anwesenden zum Schluss, ruhig und still ihres Weges zu ziehen.“ 131
Überhaupt war Kaufmann seit Beginn seines Wirkens als Gauleiter rednerisch aktiv. Dies sollte bis zum Ende des „Dritten Reiches“ auch so bleiben. Und nicht erst mit seinem Einzug in den Preußischen Landtag 1928, durch den eine Freifahrtkarte mit der Eisenbahn winkte, war er reichsweit im „Rednereinsatz“ für die Partei. Schon Mitte der 1920er war er oftmals unterwegs, um für die NSDAP zu werben, Anfang Juni 1926 beispielsweise in Mecklenburg 132. Er leistete also nicht „nur“ im Rheinland Aufbauarbeit an der Parteibasis, sondern half als prominenter „Parteigenosse“ auch andernorts mit. Fraglich ist, ob Kaufmann als Gauleiter des frühen Gaues Rheinland-Nord repräsentativ für die Gauleiter Mitte der 1920er Jahre ist. Und in eingeschränkter Weise ist er das tatsächlich. Die Partei befand sich im Aufbau, Gaue wurden teilweise erst gegründet und traten teilweise von anderen Organisationen zur NSDAP über. Im Mittelpunkt stand stets die Aufbauarbeit. Da hierbei noch kaum Finanzmittel oder umfassendere Möglichkeiten zur Propaganda wie eigene Presse, Flugblätter oder Großveranstaltungen zur Verfügung standen, war die Aufbauarbeit der frühen Gauleiter entscheidend für die Zusammenfassung und das Zusammenhalten der Ortsgruppen. Deren Arbeit musste ebenfalls immer wieder angeregt werden. Dahingehend ist Kaufmanns Amtsführung repräsentativ für die frühen Gauleiter 133. Nicht repräsentativ ist sie dahingehend, als dass er äußerst jung war. Andere Gauleiter wie Heinz Haake, Krebs oder Pfeffer von Salomon stammten in der Regel aus der vorherigen Generation und waren hierdurch noch im Wilhelminismus sozialisiert worden. Sie dachten auch nationalistisch, aber dabei eher noch in den Kategorien von Autoritarismus und Elitenschemata, statt wie die jüngeren und ab Mitte/Ende der 1920er in der NSDAP entscheidenden Gauleiter, die sich eher in den Kategorien von Totalitarismus und „Volksstaat“ bewegten. 130 Ebd., Schreiben vom 5. Dezember 1925. 131 Ebd. 132 Vgl. Goebbels: Tagebücher, Bd. 1, S. 252. 133 Vgl. Hüttenberger: Wandel, S. 13–26.
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2.3. Aufwertung zum Gauleiter des „Groß-Gaues“ Ruhr (1926– 1928) „Nachmittags v. Pfeffer. Alles perfekt. Großgau wird gemacht. Er kommt nach hier. Elberfeld Sitz. Auf die Arbeit. […] Strasser da. Vollständig einig. Auch in Pressefragen. Er ist befriedigt wieder abgefahren. Auch v. Pfeffer da. Einigung vollzogen.“ 134
Dies schrieb Goebbels am 29. Dezember 1925 und am 16. Januar 1926 in sein Tagebuch. Gemeint waren damit die Vorbereitungen für den Zusammenschluss der Gaue Rheinland-Nord und Westfalen zu einem gemeinsamen sogenannten „Groß-Gau“. Inwiefern diese Einigung wirklich nur über Gregor Strasser, Goebbels und Pfeffer von Salomon, also unter Umgehung von Kaufmann liefen, ist mangels Quellen nicht mehr rekonstruierbar. Bei Kaufmanns Parteiarbeit und -position ist es aber höchst unwahrscheinlich. Die Gründung des Gaues wurde aus mehreren Motiven heraus angestoßen. Einerseits sollte der neue Groß-Gau eine Machtbasis für die Arbeitsgemeinschaft sein, die ihre Zentrale in deren Geschäftsstelle inne hatte. Dies sollte nicht nur in finanzieller Hinsicht eine Effizienzsteigerung herbeiführen. Es sollte zugleich auch das Gewicht der sozialistisch geprägten Arbeitsgemeinschaft stärken. Zwar wurde die Arbeitsgemeinschaft als solche schon innerhalb weniger Monate geschickt von Hitler entmachtet, der Groß-Gau blieb aber bestehen. Am 7. März 1926 wurde der neue Gau offiziell gegründet, ohne dass vorher das Einverständnis aus München eingeholt wurde. Gregor Strasser hatte kurz zuvor lediglich eine Information zur Kenntnisnahme an die Parteileitung verschickt 135. Diese Eigenmächtigkeit, die ganz klar dem Anspruch der Parteileitung zuwiderlief, war in der „Frühzeit“ der „Bewegung“ keineswegs selten, sondern sogar wie schon mehrfach dargestellt eher der „Normalfall“. Auch hier blieb aber nichts anderes übrig, als „gute Miene zum bösen Spiel zu machen“, und damit zu versuchen, wenigstens das eigene Gesicht zu wahren 136. Eine unangenehme Strategie, rückblickend war sie aber erfolgreich. In dem neu gegründeten Gau hatte Kaufmann wie bereits im aufgelösten Gau Rheinland-Nord das Gauleiteramt inne. Gemäß der im neuen Gau vorgenommenen Arbeitsund Dreiteilung der wichtigsten Aufgaben war er zuständig für innere Personalfragen 134 Goebbels: Tagebücher, Bd. 1, S. 215 und S. 221. 135 Zu den einzelnen Stationen der erzwungenen Unterordnung unter Hitler im Februar 1926 vgl. Broszat, Martin: Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, 9. Aufl., München 1981, S. 37–39. Zur sozialistischen Attitüde, die aber trotzdem in der Gesamtpartei als Strömung bis Ende 1932 eine große Rolle spielte vgl. Aly, Götz: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main 2005, S. 11–15. 136 Diese Eigenmächtigkeiten der regionalen und lokalen Parteigliederungen gingen gelegentlich auch weit über die bereits geschilderten Gründungen und Mitgliedschaften hinaus, und erfassten dabei auch so sensible Bereiche wie die Finanzabwicklung. Vgl. differenzierend zu den Eigeninitiativen der Parteigliederungen Broszat, Martin: Die Machtergreifung. Der Aufstieg der NSDAP und die Zerstörung der Weimarer Republik, 5. Aufl., München 1994, S. 303f.
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des Gaues (ein „Minenfeld“, an dem er bis 1928 resignieren sollte). Auch Goebbels hatte rein formal seine Position als Gaugeschäftsführer behalten. Seinem Zuständigkeitsbereich waren hierbei unter anderem die Propaganda, die Versammlungen, sowie die Pressefragen zugeordnet. Pfeffer von Salomon hingegen verlor sein Amt als Gauleiter des Gaues Westfalen, und wurde im neuen Gau zuständig für die SA und einzelne organisatorische Angelegenheiten 137. Pfeffer von Salomons scheinbarer Rückschritt in der Parteihierarchie darf jedoch nicht missverstanden werden. In dieser Phase der Partei und teilweise auch noch bis nach 1926/1927 bildete die SA ein solch großes Machtpotenzial, dass die Vereinigung der Zuständigkeit für die SA in den ehemaligen Gauen Rheinland-Nord und Westfalen nicht unbedingt einen machtpolitischen Rückschritt bedeutete 138. Das Triumvirat Kaufmann-Goebbels-Pfeffer von Salomon, das faktisch eine kollegiale Führung des Gaues in Form einer Teilung von Arbeit und Zuständigkeiten unter drei Führungsgestalten von theoretisch unterschiedlichem Rang konzipiert hatte, hielt jedoch nicht allzu lang. Bereits nach drei Monaten, also im Juni 1926, bestimmte Hitler Kaufmann ausdrücklich zum alleinigen Gauleiter 139. Dies ging einher mit den Folgen der praktischen Umsetzung der „Bamberger Tagung“. Zu diesen Folgen gehörte auch die Auflösung der Arbeitsgemeinschaft und nicht zuletzt die strikte Umsetzung des „Führerprinzips“, mit dem sich die Arbeitsteilung im Groß-Gau nicht vertragen hatte. Zu diesem „Rundumschlag“ kann auch Goebbels’ „Versetzung“ und Beförderung im Herbst nach Berlin gewertet werden 140. Parallel wurde auch Pfeffer von Salomon nach München „versetzt“ und befördert 141. Entscheidend ist jedenfalls für Kaufmanns Werdegang, dass er ab Juni 1926 alleine dem größten Gau der NSDAP vorstand. Für ihn persönlich bedeutete dies nicht zuletzt, dass sein Freund Goebbels nunmehr fort war. Beide hatten sich in der für sie sehr schwierigen Zeit zwischen 1924 und 1926 gegenseitig unterstützt und immer wieder motiviert. Es ist fraglich, was aus beiden geworden wäre, wenn sie in dieser für ihre politischen Karrieren entscheidenden Jahre nicht einander immer wieder ermutigt hätten. Dennoch schien es zwischen ihnen ein Problem zu geben, welches nicht oberflächlicher, sondern eher grundlegender Art gewesen zu sein scheint. Zudem nahm dieses offenbar immer weiter zu. Am 11. Februar 1926 beispielsweise vertraute Goebbels seinem Tagebuch noch an, er habe „eine lange 137 Vgl. Hüttenberger: Wandel, S. 34. 138 Vgl. hierzu näher Siemens, Daniel: Sturmabteilung. Die Geschichte der SA, München 2019, S. 76–78. 139 Vgl. hierzu Böhnke: Ruhrgebiet, S. 106–109. 140 Vgl. hierzu zum Vorgang im Einzelnen Büttner: Volksgemeinschaft, S. 93f. Goebbels’ „Versetzung“ durch Hitler erfolgte nicht zuletzt deshalb, weil Hitler damit den sozialistischen Parteiflügel schwächen wollte. Indem er Goebbels geografisch vom Schwerpunkt des linken Flügels entfernte und administrativ näher an sich selbst heranzog, entfremdete er einen der wichtigsten Sozialisten der Partei dem Flügel. Hinsichtlich der innigen Freundschaft zwischen Goebbels und Kaufmann zumindest hervorragend. Zu Goebbels’ „Versetzung“ und ihrer Hintergründe vgl. Reuth: Goebbels, S. 100–107. 141 Vgl. Hüttenberger: Wandel, S. 47.
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Aussprache mit Kaufmann [gehabt]. Ich habe ihm alles gesagt. Er erkannte restlos an.“ 142 Am 22. März schrieb er: „Gestern den ganzen Nachmittag mit Kaufmann durch den leuchtenden Frühling gegangen. […] Über die tieferen Gegensätze haben wir nicht gesprochen.“ 143 Es gab zwischen beiden zwar immer wieder Aussprachen, aber auch immer wieder ein Stolpern über „die tieferen Gegensätze“. Goebbels schrieb aber nie, was darunter zu verstehen sei. Wie Otto Strasser im Nachhinein berichtete, soll Goebbels mehrfach seine Umgebung, auch und gerade Kaufmann, belogen haben, darunter etwa über eine vermeintliche Verhaftung und Misshandlung als „Ruhrkämpfer“. Als dies herauskam, soll Kaufmann gar eine gauinterne Untersuchung angeordnet haben, der Goebbels durch den Weggang nach Berlin entging 144. Genaueres bleibt unklar. Anhand der erhaltenen Akten kann für den Gau Ruhr Goebbels’ frühere Behauptung überprüft werden, ob er (weiterhin) der „wahre Gauleiter“ gewesen sei. Wie erläutert, reicht die Quellenbasis für den Gau Rheinland-Nord dabei nicht aus. Da die Positionen der beiden aber im Gau Ruhr die gleichen waren wie im Gau Rheinland-Nord, besteht kein Anlass anzunehmen, dass sich die inoffizielle Aufgabenverteilung plötzlich geändert hätte. Das heißt, dass die Aufgabenverteilung zwischen Kaufmann und Goebbels im Gau Ruhr höchstwahrscheinlich der entsprach, die zuvor im Gau Rheinland-Nord zwischen ihnen bestand. Werden die Akten des Gaues Ruhr auf diesen Aspekt hin untersucht, stellt sich heraus, dass Goebbels sich auf Propaganda, Versammlungen und den größten Teil der Pressearbeit konzentrierte 145. In die Bereiche von Kaufmann und Pfeffer von Salomon griff er offenbar nicht ein, ebenso wenig, wie diese beiden in seinen Bereich eingriffen. Es könnte natürlich sein, dass Goebbels zumindest mündlich die Richtung vorgab, und Kaufmann dann die aktenkundig gewordenen Angelegenheiten ausführte. Aber auch hierfür gibt es bis auf die zitierten Einträge in Goebbels’ Tagebuch keine Indizien. Da in Kaufmanns aktenkundig gewordenen Tätigkeiten als Gauleiter vor und nach Goebbels’ Weggang nach Berlin aber keine augenfälligen Unterschiede zu vernehmen sind, obwohl solche beim Weggang des vermeintlich „wahren“ Gauleiters hätten hervortreten müssen, scheint Goebbels’ Behauptung tatsächlich lediglich eine Behauptung zu sein, die er sich entweder selbst einredete, für die Nachwelt aufstellte, oder aber an die er selbst glaubte. „Wahrer Gauleiter“ scheint jedenfalls der „offizielle Gauleiter“ gewesen zu sein, und das war Kaufmann. Eine andere quellentechnische Frage, die sich bereits zum Gau Rheinland-Nord stellte, war die nach den Gaugrenzen. Wie erläutert waren die exakten Gaugrenzen nicht von Beginn an geklärt. Gestritten wurde hierbei um einzelne Ortsgruppen wie auch um ganze Bezirke. Der Sachverhalt wurde im vorherigen Unterkapitel nicht erläutert, da er sich tief bis in die Zeit des Gaues Ruhr hinzog, sodass seine Darstellung eher in dessen Bereich fällt. Entscheidend für die territoriale Abgrenzung des Gaues Ruhr war die Grenze zum Gau Rheinland-Süd. Über Jahre wurde hierbei ein Kompromiss gesucht. Die 142 Goebbels: Tagebücher, Bd. 1, S. 227. 143 Ebd., S. 236. 144 Vgl. Strasser: Hitler, S. 111. 145 Es handelt sich hierbei vor allem um die Unterlagen in LAV NRW R RW 0023, Nr. 48.
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schriftlichen Auseinandersetzungen hierzu besaßen einen teilweise polemischen Unterton. In einem Schreiben von Kaufmann an Ley vom April 1926 erklärte er sich beispielsweise nach langer Zeit damit einverstanden, die Kreise Grevenbroich und Neuss als Teil des Gaues Rheinland-Süd zu betrachten, wies dabei aber ausdrücklich Leys Anspruch auf Opladen zurück: „Wichtig ist uns der verkehrstechnische Zusammenhang eines Gebietes. Es bedarf hier keines Wortes. Wichti[g] ist uns der wirtschaftliche Zusammenhang, der ebensowenig keines Wortes bedarf. Wichtig ist uns aber vor allem der völkische Zusammenhang der Bewohner. […] Hier wohnen Leute, die nicht zu Ihren Rheinländern der Lande Köln-Trier-Koblenz-Mainz gehören und sich selbst nicht Rheinländer nennen. Hier wohnen ‚Bergische‘, wie bei uns, Niederdeutsche, Niedersachsen, die sogar den Nordwestfalen näherstehen als den Ihrigen. Lassen Sie die Leute zu ihren Brüdern zurückkehren.“ 146
Die gesamten Grenzstreitigkeiten zwischen den beiden Gauen stellte noch ein „Erbe“ aus der Frühzeit der Partei dar, als sich die Gaue erst langsam konstituierten. Der unklare Grenzverlauf ist jedoch nur eines von vielen Beispielen für die chaotische und schlichte Verwaltungsführung, die die Gauleitungen bis zu ihrer Professionalisierung nach 1928/1929 entscheidend prägten. Für Kaufmanns Tätigkeit als Gauleiter des Gaues Ruhr lassen sich auch einige weitere Beispiel für die sehr einfach gehaltene Verwaltungsarbeit aufzeigen. Die Aktenlage etwa ist auch für den Gau Ruhr relativ lückenhaft. Doch nicht nur hinsichtlich der Aufbewahrung von Dokumenten ist dies offensichtlich. Auch terminliche Abstimmungen verliefen sehr oft chaotisch 147. Und auch viele weitere Bereiche waren davon stark betroffen, darunter beispielsweise die Abgleichung von gauinterner Mitgliederaufstellung und jener der Parteileitung 148. Bis zur Auflösung des Gaues waren diese Unstimmigkeiten nicht gänzlich zu klären. Offenbar existierten aber in der gaueigenen Kartei mehrere Doppelmitgliedschaften 149, und dass sich die Bezirke 146 LAV NRW R RW 0023, Nr. 52, Schreiben vom 19. April 1926. Das es sich bei dem Streitobjekt des Zitats um Opladen handelt, geht erst aus dem umfänglichen Briefverkehr hervor, konkret ebd., Schreiben vom 29. September 1926. Das Streitobjekt Opladen war seit dem 7. August 1925 von Rheinland-Süd verwaltet worden, nachdem sich Rheinland-Nord damit einverstanden erklärt hatte. Dies war jedoch mit der Einschränkung verbunden, dass diese Verwaltung nur „bis zum Abzug der Engländer“ gelten sollte. Vgl. hierzu den Brief von Goebbels in ebd., Schreiben vom 7. August 1925. Dieser Sachverhalt soll verdeutlichen, wie lange sich solche territoriale Unstimmigkeiten hinziehen konnten, trotz aller Versuche beider Seiten, zu einem einvernehmlichen Kompromiss zu gelangen. 147 Exemplarisch: LAV NRW R RW 0023, Nr. 39, Schreiben vom 8. November 1926 und dem 9. November 1926. 148 Vgl. ebd., Schreiben vom 30. November 1926. 149 Exemplarisch: LAV NRW R RW 0023, Nr. 39, Schreiben vom 18. Dezember 1926.
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des ehemaligen Gaues Westfalen bei der Zusammenlegung zum Groß-Gau bei der Mitgliederverwaltung einige Reservatrechte sichern konnten, und hiervon wohlgemerkt auch ausgiebig Gebrauch machten, verwirrte die gesamte Angelegenheit noch mehr 150. Für Kaufmann müssen diese jahrelangen Diskussionen um die Mitgliederbestände sehr zermürbend gewesen sein, zumal hiervon Finanzfragen abhingen. Nicht zuletzt hing mit der Frage nach dem Mitgliederbestand auch eine der für die 1920er Jahre charakteristischen Auseinandersetzungen zwischen den Gauen und der Parteileitung zusammen. Die Parteileitung behielt es sich stets vor, selbst über die Aufnahme von neuen Mitgliedern zu entscheiden. Hierzu verlangte sie, die Aufnahmeanträge inklusive der Aufnahmegebühr (am besten über die Gauleitungen) zugesandt zu bekommen. Nach deren Bearbeitung sollten die Parteiausweise zurückgeschickt werden. Für die Gauleitungen war dies mit einigem Aufwand verbunden, zudem lag damit eine der zentralen Kompetenzen der Partei, nämlich die Entscheidung über Aufnahme oder Ablehnung eines Interessenten, in München, statt vor Ort. Andere Gaue hatten hiermit erhebliche Probleme, die erst gegen Ende der 1920er alle ausgeräumt waren. Kaufmann erledigte diese Aufgaben jedoch sachgemäß (von den üblichen verwaltungstechnischen Problemen der Gaue abgesehen) 151, ohne aber die Münchener über die Aufnahme entscheiden und die Parteiausweise ausstellen zu lassen. Dies hatte gegen die Parteileitung aber keinen Erfolg 152, sodass Kaufmann ab einem bestimmten Punkt sowieso nichts anderes übrig geblieben wäre, als nachzugeben. Kaufmann weigerte sich lange Zeit hindurch einfach, diese zentrale Kompetenz in vollem Umfang abzugeben. Aus seiner Sicht kann das kaum näher verwundern, schließlich war er es spätestens seit 1920 im Rahmen seiner Führungsämter bei DVSTB und NSDAP gewohnt, dass die jeweilige Gliederung eigenständig über ihre Mitglieder entscheiden sollte, statt das einer Gesamtführung aller Gliederungen zu überlassen, die von den Mitgliedern vor Ort persönlich gar keinen Eindruck erhalten konnte. Die Diskussion ging jedenfalls über Jahre zwischen Elberfeld und München hin und zurück. Das bedeutendste Problem in der Führung des Gaues lag für Kaufmann jedoch in den Finanzfragen. Die Kassenlage des Gaues war während Kaufmanns gesamter Amtszeit stets äußert kritisch. Als anschauliches Beispiel hierfür kann ein Brief an die Parteileitung vom Januar 1927 gelten, in dem Kaufmann unter anderem folgendes ausführte: „Unter Berücksichtigung der […] schlechten Gesamtlage in finanzieller Hinsicht des Gaues Ruhr, ist es mit beim besten Willen nicht möglich, die [an die Parteileitung monatlich zu entrichtende] Pauschale über 150.-- Mark hinaus zu erhöhen. Sie glauben nicht, welche ungeheure Mühe es mich kostet, wenigstens einen Teil der für die hiesigen Parteikreise ganz unverständlichen Aufnahmegebühr beizutreiben.
150 Vgl. ebd., Schreiben vom 16. November 1926. Hier zeigt sich übrigens auch, dass das bereits erläuterte Autoritätsproblem, das ja die Parteileitung im Umgang mit den Gauen hatte, auch ein Problem zwischen den Gauen und den Bezirken sein konnte. 151 Exemplarisch: Ebd., Schreiben vom 29. Dezember 1926 und vom 30. Dezember 1926. 152 Vgl. ebd., Schreiben vom 15. Dezember 1926.
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Ich hoffe, dass sich die Fainzlage [sic] in den nächsten Monaten bessern wird, ich kann jedoch zurzeit beim besten Willen keine diesbezügliche positive Zusage machen.“ 153
Es ist zu verdeutlichen, dass der Gau hier nicht seinen Verpflichtungen gegenüber der Parteileitung nachkommen konnte, also deren Anspruch unerfüllt blieb, weil die örtlichen Mitglieder nicht ihren Verpflichtungen gegenüber der Gauleitung nachkamen, also wiederum deren Anspruch unerfüllt blieb. Der gesamte Vorgang ist ein sehr anschauliches Beispiel für die Autoritätsprobleme und die unvollständige Durchsetzung des „Führerprinzips“ in den 1920er Jahren. (Zumindest aber erhielt der Gau Anfang 1927 seine Parteiausweise 154, die aber die zu diesem Zeitpunkt regulär vergebenen Mitgliedsnummer enthielten. Wie erwähnt war das bei Kaufmann die Nummer 32 667, wodurch er in der gleichen Höhe rangierte wie soeben erst neu aufgenommene Mitglieder.) Einige Zeit später konnte Kaufmann hinsichtlich der Aufnahmegebühren an die Parteileitung Fortschritte vermelden: „Nach schweren Bemühungen und heftigen Auseinandersetzungen mit einzelnen Ortsgruppenführern ist es mir gelungen, den Standpunkt der Parteileitung bezüglich der Beiträge bei Neuaufnahmen wenigstens in etwa durchzusetzen.“ 155
Zugleich hatte Kaufmann neben den Problemen hinsichtlich der Gaueinnahmen auch mit den Gauausgaben, konkret den Passiva zu kämpfen. In einem Brief an einem Gläubiger des Gaues schrieb er unter anderem folgendes: „Als seinerzeit der Gau Ruhr durch Zusammenlegung der Gaue Rheinland-Nord und Westfalen gebildet wurde, hat mir Herr Hauptmann v. Pfeffer, der damalige Leiter es Gaues Westfalen ausdrücklich erklärt, daß irgendwelche berechtigten, bezw. unerledigten Verpflichtungen finanzieller Art des Gaues Westfalen nicht mehr beständen. Nur unter dieser Voraussetzung und ausdrücklichen Erklärung des Herrn Hauptmann v. Pfeffer ist die Zusammenlegung überhaupt zustandegekommen. Nun muß ich zu meinem Bedauern feststellen, daß […] verschiedene Gläubiger existieren, ich bin jedoch zu meinem Bedauern nicht zur Erledigung dieser Forderungen in der Lage.“ 156
Die Forderung blieb unerfüllt, Kaufmann weigerte sich zu zahlen, und verwies ihn an Pfeffer von Salomon, der zu diesem Zeitpunkt nicht mehr im Gau tätig war 157. Ob der Gläubiger juristische Mittel ergriff, ist nicht klar. 1928 war die finanzielle Lage des Gaues 153 Ebd., Schreiben vom 5. Januar 1927. 154 Vgl. Klein: Wuppertal, S. 125. 155 Ebd., S. 193. 156 LAV NRW R RW 0023, Nr. 39, Schreiben vom 29. Oktober 1926. 157 Vgl. ebd.
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jedenfalls so stark angeschlagen, dass Kaufmann zur Regelung der Gaufinanzen der Parteileitung alles zugestand, was er zuvor drei Jahre lang verweigert hatte 158. Nun griff aber Koch als Geschäftsführer ein, fuhr persönlich nach München und versuchte das Beste zu erreichen, was noch zu erreichen war. Erst hierdurch war die Parteileitung bereit, auf die Gauschulden zu verzichten und sich auf einen Pauschalbetrag festlegen zu lassen 159. Sie verzichtete hiernach auf ausstehende Beträge in Höhe von 1000 RM, begrenzte die künftige monatliche Pauschale inklusive Aufnahmebeiträgen auf höchstens 300 RM, und bestand nur noch auf eine Restzahlung von 100 RM 160. Kaufmanns Reaktion hierauf ist nicht erhalten, aber seine Erleichterung muss groß gewesen sein. Zugleich aber ist damit ein Gesichtsverlust eingetreten, der zu Kaufmanns „Krisenjahr“ 1928 neben personalpolitischen Problemen und seiner Beurlaubung noch hinzukam. Hierzu nachfolgend genaueres. Das bereits mehrfach erwähnte Autoritätsproblem zwischen Gau und Parteizentrale ist an einem Begriff sehr anschaulich zu erläutern. Mehrfach bezeichnete sich Kaufmann in Briefen bis 1928 als „Gauführer“ 161. Und auch die Bezirksleiter nannte er teilweise „Bezirksführer“ 162. Die sich selbst konstituierenden Gliederungen der Partei, von der Ortsgruppe bis hin zum Gau, nannten ihre Obmänner sehr häufig „-führer“. Diese Begriffsendung sollte nach dem Willen der Parteileitung aber nicht jeder Person mit einer Leitungsfunktion überlassen werden. Zwar war die Bezeichnung „-führer“ zumindest als Wortendung nie ausschließlich für den „Führer“ Hitler reserviert Das kann bereits sehr deutlich an den Rängen der SA erkannt werden. Dennoch war die Parteileitung sehr bestrebt, zumindest unter den nicht rein militärischen „Politischen Leitern“ der Parteiorganisation die Wortendung „-führer“ durch die Wortendung „-leiter“ zu ersetzen. Angesichts der Eigenwilligkeit vieler Parteigliederungen dauerte dies einige Jahre 163. Auch hierbei lagen die Aktivitäten des Gauleiters Kaufmann also durchaus im Durchschnitt oder auch Trend seiner Zeit. Zugleich gab es aber auch zwischen Gau und Bezirken beziehungsweise Ortsgruppen Autoritätsprobleme. Dass Kaufmann und Goebbels sowie nach ihm Koch im Gau Ruhr besonders selbst- und machtbewussten Bezirksleitern gegenüberstanden, gegen die sie sich schließlich nicht durchsetzen konnten, klang bereits mehrfach an und wird nachfolgend ausführlicher erläutert. Zuvor sei aber hinsichtlich einer sehr speziellen Ortsgruppe auf eine kuriose Episode in Kaufmanns Wirken als Gauleiter hingewiesen, die das allgemeine Durchsetzungsproblem hinsichtlich der innerparteilichen Autoritätsansprüchen in dieser Zeit deutlich macht. 158 Vgl. LAV NRW R RW 0023, Nr. 82, Schreiben vom 31. Mai 1928. 159 Vgl. ebd., Schreiben vom 6. Juni 1928. 160 Vgl. ebd., Schreiben vom 6. Juni 1928. 161 Exemplarisch: LAV NRW R RW 0023, Nr. 39, Schreiben vom 5. Januar 1927. 162 Exemplarisch: Ebd., Schreiben vom 24. November 1926. 163 Vgl. hierzu im Einzelnen Schmitz-Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus, 2. Aufl., Berlin/New York 2007, S. 241–245.
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Die Ortsgruppe Elberfeld war offenbar ein sehr unruhiges Element für den Gau. Dass es innerhalb von Ortsgruppen Querelen gab war weder selten noch allzu kritisch. Dass aber ausgerechnet die Ortsgruppe Elberfeld, aus der Personen wie Kaufmann und Koch hervorgingen. und die eigentlich die Gauhauptstadt präsentieren sollte, in internen personalpolitischen Streitereien versank und dabei die Parteiarbeit nachhaltig blockierte, zwang Kaufmann als Gauleiter 1926 zum Eingreifen (genauso wie die Bezirksleiter und Kaufmann wenig später mit ihren Streitigkeiten den Gau blockierten und Hitler zum Eingreifen zwangen). Unmissverständlich schrieb Kaufmann folgendes an die Ortsgruppe: „Meine jahrelangen Bemühungen, dem leidigen Streit, der sich wie ein roter Faden durch die Ortsgruppe Elberfeld zieht und jede praktische Aufbauarbeit unmöglich macht, ein Ende zu bereiten, haben leider zu keinem Ergebnis geführt. Aus diesem Grunde sehe ich mich gezwungen und halte es für meine Pflicht, diktatorisch einzugreifen und weitgehend von meinen Rechten Gebrauch zu machen. […] Ab 1.12.1926 gilt die Ortsgruppe Elberfeld als aufgelöst. Sämtliche bisherigen Vorstandsmitglieder sind […] bis auf weiteres ihrer Ämter enthoben. […] Die Führung der Ortsgruppe Elberfeld übernehme ich ab 1.12. dieses Jahres selbst. […] Am […] 30.11. dieses Jahres abends 8 Uhr findet im Lokal ‚Kracht‘ […] die erste Generalmitgliederversammlung der neu gegründeten Ortsgruppe Elberfeld statt.“ 164
In der angesetzten Versammlung erschienen immerhin zwei Drittel der Mitglieder, offenbar nicht zuletzt, weil es darum ging, wer überhaupt in der Partei bleiben oder austreten wolle. Bei der darauffolgenden regulären Versammlung, auf der Kaufmann vom kommissarischen zum regulären Ortsgruppenleiter gewählt wurde (auch dies wieder typisch für die frühe Zeit der Partei, dass in Elberfeld weiterhin Wahlen statt autoritäre Einsetzungen stattfanden) kamen aber bereits nur noch rund ein Viertel der Mitglieder. Bei der nächsten Versammlung ergab sich das gleiche Bild. Daraufhin ließ Kaufmann den mit ihm gewählten stellvertretenden Ortsgruppenleiter zum neuen regulären Ortsgruppenleiter wählen. Damit fand sein eigenes Zwischenspiel als Ortsgruppenleiter von Dezember 1926 bis April 1927 sein Ende. Ob er die Ortsgruppe als befriedet ansah oder einfach resignierte ist unklar. Wahrscheinlich aber war letzteres der Fall, da sie kontinuierlich Mitglieder verlor, 1928 auch Koch als Bezirksleiter an ihrer zeitweiligen Übernahme und Neuordnung resignierte. und sie tatsächlich erst ab 1929 zur Ruhe kam 165. Erst mit der allgemeinen Konsolidierung, Professionalisierung und dem Durchbruch der Partei bei Wahlen kehrte also auch in Elberfeld Kontinuität und Eintracht ein. Zu Kaufmanns Tätigkeit als Gauleiter des Gaues Ruhr ist zudem auf die durchgehenden personalpolitischen Streitigkeiten hinzuweisen. Das Ruhrgebiet bildete wie erläutert ab 1925 eine der Hauptbetätigungsgebiete der NSDAP, und es ist kein Zufall, dass 164 LAV NRW R, RW 0023, Nr. 39, Schreiben vom 23. November 1926. 165 Vgl. Klein: Wuppertal, S. 128f.
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aus dem Gau Ruhr einige der Angehörigen der zeitgenössischen und späteren „NS-Führung“ stammten. Diese unterstanden zu jener Zeit aber noch Kaufmann, und lagen oftmals im „Dauerstreit“ mit ihm und den anderen Größen des Gaues (meistens mit dem vordergründigen Vorwurf der Unterschlagung von Parteigeldern): Koch gegen Josef Terboven Ende 1927, Kaufmann gegen Terboven im Frühjahr 1928, Josef Wagner gegen Koch im Sommer 1928, Koch gegen Kaufmann im Herbst 1928 166. Schließlich fand sogar ein Verfahren vor dem Parteigericht gegen Kaufmann statt, angestrengt von Koch mit dem Verweis darauf, dass Kaufmann Parteigelder für private Vergnügungen nutzte 167. Die Differenzen führten zur arbeitstechnischen Blockade und Inaktivität des Gaues. Es ist in den bereits angeführten Forschungswerken zur NSDAP im Ruhrgebiet zwar oftmals Kaufmann dafür verantwortlich gemacht worden, dass die Partei im Gau von 1926 bis 1928 nur geringe Fortschritte gemacht habe. Tatsächlich spricht aber beim Blick auf Kaufmann selbst einiges dafür, dass dieser einfach resignierte. Denn auch Goebbels, der sich in seinen Tagebüchern immerhin darüber echauffierte, dass er und nicht Kaufmann der „wahre“ Gauleiter sei, kam trotz seiner steten Aktivität bis zu seinem Weggang nach Berlin gegen die „Politischen Leiter“ unter ihm nicht an, ebensowenig wie sein Nachfolger Koch. Goebbels klagte seinem Tagebuch die Situation am 12. Juni 1926: „Der Gau ist durch die Schlappheit Kaufmanns ein großer Sauhaufen geworden. Jetzt spinnt sich Gemeinheit an Gemeinheit und Intrigue an Intrigue. Die Bezirksführer wachsen uns über den Kopf. Kaufmann ist ratlos und verteidigt doch sein
166 Vgl. Hüttenberger: Wandel, S. 48. Die gesamten Verwicklungen haben mehrere Hintergründe, die sich offenbar noch gegenseitig potenzierten. Erstens stand für jeden Unterführer die Frage nach dem eigenen Vorrankommen im Raum. Denn verlässlich Geld verdienten in der Partei zu dieser Zeit nur die wenigen Abgeordneten, Gauleiter, Presseeigentümer und gelegentlich einige Mitarbeiter. Zweitens warfen die Bezirksleiter Kaufmann als Gauleiter vor, seinen Aufgaben nicht gerecht zu werden. Dies wurde gar vom Parteigericht bestätigt und Kaufmann im Sommer 1928 beurlaubt. Inwiefern die Vorwürfe sachlich berechtigt waren und inwiefern sie absichtlich übertrieben wurden, ist mangels Quellen unklar. Dass Kaufmann beurlaubt wurde, scheint aber eher für erstes zu sprechen. Woran diese mangelnde Verfolgung seiner Aufgaben gegen Ende hin lag, ist auch unklar. Es konnte zwar an seiner Persönlichkeit gelegen haben, wie oft vermutet wurde, aber mit seiner Aufbauarbeit der vorhergehenden vier Jahre hatte er eigentlich gerade das Gegenteil bewiesen. Dort hatte er aber noch nicht ein halbes Dutzend Unterführer vor sich, die über Gregor Strasser, Hitler, das Parteigericht und unter sich gegen ihn revoltierten. Es ist sehr gut möglich, dass Kaufmann einfach resigniert hat, oder wie Goebbels unter dem 7. Juni 1926 verzweifelt über seinen Freund meinte: „Ein böser Geist geht in unserem Gau um. Und Kaufmann steckt in seinen Klauen.“ Goebbels: Tagebücher, Bd. 1, S. 252. 167 Bei all diesen Streitigkeiten und teilweise ausgewachsenen Machtkämpfen darf jedoch nicht übersehen werden, wie sehr sich die einzelnen Protagonisten gegenseitig in ihrer Sozialisation prägten. Koch etwa wurde hinsichtlich seiner Sicht auf Sozialismus bis 1926 stark von Kaufmann beeinflusst, mit dem er bis 1927/1928 eng befreundet war und von dem er viel hielt. Vgl. Meindl: Koch, S. 55.
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Recht. Mir hängt die Organisation zum Halse heraus. Mit den Leuten wollen wir Deutschland frei machen. Heute ein Morgen voll Qual und Schimpferei.“ 168
Die Gesamtlage war im Gau war so diffus und verworren, dass Hitler 1928/1929 schließlich für seine Verhältnisse hart durchgreifen musste: Koch wurde nach Ostpreußen versetzt, Kaufmann musste als Gauleiter „freiwillig“ ausscheiden, Terbovens autonomer Bezirk Essen wurde zum eigenen Gau erhoben und Josef Wagner übernahm den übrig gebliebenen Gau Ruhr, bis dieser aus einfachen Organisationsgründen 1931 weiter zerlegt wurde in die Gaue Westfalen-Süd unter ihm und Westfalen-Nord unter Alfred Meyer 169. Der „Groß-Gau“ Ruhr wurde damit in angemessenere Territorien aufgeteilt, ohne dass jemand aktiv abgesetzt wurde oder nachhaltig sein Gesicht verlor. Für Kaufmann persönlich war die Zeit als Gauleiter des Gaues Ruhr zwischen 1926 und 1928 einerseits offenbar eine große Herausforderung. Hatte er zuvor noch seinen Freund Goebbels als persönliche wie politische Unterstützung gehabt, musste er nach dessen „Versetzung“ nach Berlin alleine zurechtkommen. Zumindest in seiner Arbeit als Gauleiter gelang ihm das auch, wohl nicht zuletzt auch dank der Unterstützung von anderen Freunden und Wegbegleitern wie Koch. Über die Befindlichkeiten seiner Persönlichkeit zu dieser Zeit existieren zu wenige Quellen, aber es spricht einiges dafür, dass sein angeschlagenes Selbstvertrauen gestärkt wurde. Einerseits spricht dafür, dass ihm die Führung des Gaues ohne seinen Vertrauten und seine Stütze Goebbels gelang. Andererseits verdiente er ab Gründung des neuen Gaues im April 1926 erstmals in seinem Leben konstant Geld. Zwar schwankte der Betrag nicht unerheblich, was wohl auf die schwierige Kassenlage des Gaues zurückzuführen ist. Aber bis einschließlich Juni 1928 erhielt er im Durchschnitt monatlich 182,40 RM 170. Aus den Unterlagen geht zwar nicht hervor, ob es dabei um den Brutto- oder den Nettobetrag handelte. Da in dieser Höhe jedoch kaum Einkommenssteuern gezahlt werden mussten, dürfte der Betrag eher dem Nettobetrag entsprochen haben. Zur Einordnung sei angeführt, dass nur in den wenigsten Wirtschaftsbereichen zwischen der Währungsreform 1924 und der Weltwirtschaftskrise 1929 ein höheres Bruttodurchschnittsgehalt als 200 RM gezahlt wurde 171. 168 Goebbels: Tagebücher, Bd. 1, S. 253. 169 Vgl. Hüttenberger: Wandel, S. 48f. Vielsagenderweise gelang es in den Jahren bis zum Ende des „Dritten Reiches“ allen diesen intrigenerprobten „Politischen Leitern“, sich gegen andere Intrigen erfolgreich zu wehren und zu behaupten. Lediglich Josef Wagner stürzte ohne sein Zutun 1941. Vgl. hierzu ausführlicher Bräuninger, Werner: Hitlers Kontrahenten in der NSDAP 1921–1945, München 2004, S. 207–219. 170 LAV NRW R RW 0023, Nr. 82, Schreiben vom 10. September 1928. Eine Aufschlüsselung der Einzelmonate ist erst ab August 1926 möglich. Am wenigsten verdiente er mit 95 RM im Juni 1928, als seine Beurlaubung wirksam wurde. Den Höchstbetrag erzielte er mit 330 RM. Zudem gab es noch einige Zuschläge in insgesamt mittlerer dreistelliger Höhe, wie die Unterlagen des NSDAP-Reichsschatzmeisters nahelegen. Zur Aufschlüsselung vgl. BA B NS 1/340, An K. Kaufmann gezahlte monatliche Beträge von August 1926 bis Juni 1928. 171 Von den zwanziger zu den achtziger Jahren. Ein Vergleich der Lebensverhältnisse der Menschen, Mainz 1987. Herausgegeben vom Statistischen Bundesamt, S. 34–37.
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Kaufmann ging es in dieser Zeit finanziell also nicht allzu schlecht. Für die Zeit nach Juli 1928 erhielt er wegen der Beurlaubung kein Gehalt mehr als Gauleiter, was aber mit Blick auf die Diätenzahlungen als preußischer Landtagsabgeordneter seit dem Mai 1928 unproblematisch war. Auf diese Finanzfragen wird noch zurückzukommen sein 172. Finanziell war Kaufmann abgesichert. Genau zu dieser Landtagswahl muss noch erwähnt werden, dass sich hierzu nichts explizites in den Akten der Gauleitung findet. Zwar war Kaufmann sowieso jahrelang (und bis tief in den Krieg hinein) reichsweit als Redner der NSDAP eingesetzt, aber Unterlagen über Wahlkampfveranstaltungen zu den gleichzeitig stattfindenden Wahlen zum Reichstag und zum preußischen Landtag vom 20. Mai 1928 haben sich nicht erhalten. Dabei steht jedoch fest, dass Kaufmann als Gauleiter mit der Organisation dieser für die NSDAP sehr wichtigen Doppelwahl befasst sein musste, sei es, um Wahlplakate aus München zu erhalten, sei es, um Versammlungen vorzubereiten und abzuhalten. Rekonstruierbar ist, dass Kaufmann 1928 im Kampf mit den Bezirksleitern offenbar schon resigniert hatte. Denn die Wahlkampfführung oblag vor allem seinem Stellvertreter und Geschäftsführer Koch 173. Detailliert darstellbar sind diese Geschehnisse aber mangels genauerer Quellen nicht. Über einige Persönlichkeiten, mit denen Kaufmann Mitte der 1920er Jahre eng verbunden war, und die (mindestens zeitweise) zur „NS-Führung“ gehörten, wurde bereits einiges angemerkt, darunter etwa Pfeffer von Salomon oder Goebbels. In dieser Zeit der „Bewegung“ lernte Kaufmann auch Heinrich Himmler kennen. Angesichts der parteiinternen Hierarchie stand Kaufmann als Gauleiter dabei noch über Himmler, der zu diesem Zeitpunkt „nur“ Gregor Strassers Gaugeschäftsführer und stellvertretender Gauleiter des Gaues Nieder-Bayern war 174. Den Akten lässt sich dieses Hierarchiegefälle deutlich entnehmen. Himmler war 1926 beispielsweise von der Reichsleitung beauftragt worden, die Versendung von Flugblättern aus München an die Gaue zu organisieren. Himmler hatte selbst mit Verwaltungschaos in München zu kämpfen, dennoch erhielt er unter anderem einen Brief mit einer Beschwerde Kaufmanns: „Zu meinem Bedauern muß ich feststellen, daß sich die Propagandastelle in philosphisches Schweigen hüllt. Leider ist aber damit die ihr [und damit Himmler] obliegende Aufgabe nicht erfüllt. […] Also, lieber Parteigenosse Himmler, baldigst Nachricht.“ 175
Ein solcher Ton wäre beim späteren Himmler kaum noch möglich gewesen. Zwar lockerte sich das Verhältnis nach und nach. Das früheste „Du“ ist bereits auf den 29. März 172 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen im Unterkapitel 2.5. 173 Vgl. hierzu näher Meindl: Koch, S. 73. 174 Zu Himmlers Parteikarriere bis zur Übernahme der SS 1929, auf die er jedoch bereits als stellvertretender Reichsführer-SS ab 1927 entscheidend einwirkte vgl. Longerich, Peter: Heinrich Himmler. Biographie, München 2010, S. 97–111. 175 LAV NRW R RW 0023, Nr. 39, Schreiben vom 18. November 1926.
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1928 datierbar 176. Dennoch schien sich die erklärte Freundschaft der beiden schnell wieder abzukühlen, zuerst mangels Kontakts, dann aufgrund persönlicher Animositäten. In einem Nachkriegsverfahren erläuterte Kaufmann selbst dies folgendermaßen: „Mit Himmler war ich ursprünglich befreundet und zwar etwa in den Jahren 1925– 1927, als er noch Gaugeschäftsführer unter Gregor Strasser im Gau Nieder-Bayern war. Ab 1927 widmete sich Himmler ganz dem Aufbau der SS. Ab 1932 begannen die Differenzen mit Himmler. Dieser ließ nämlich Gregor Strasser fallen, zu dem ich nach wie vor in aller Freundschaft hielt. Später kamen meine Differenzen hinsichtlich des SD und […] der Gestapo hinzu.“ 177
Die Akten spiegeln dies entsprechend wider. Für Kaufmanns Zeit im Ruhrgebiet ist jedoch wichtig, dass die Differenzen zwar erst später entstanden, die Freundschaft sich aber bereits davor auflöste. Die Unstimmigkeiten zwischen den „Politischen Leitern“ im Rheinland und in Westfalen waren es schließlich auch, die zu einer Umverteilung der Gauleiter führte. Mangels genauerer Quellen ist unklar, ob dahinter ein tatsächlicher „Plan“ Hitlers stand, oder ob sich dies einfach aus dem Kontext heraus ergab. Offensichtlich war aber, dass es im Rheinland und Westfalen viele „Politische Leiter“ unter den Gau-, Bezirks- und Kreisleitern gab, deren Konspirationen untereinander ihre Freundschaften zerbrechen ließen. Eine ähnlich hohe Dichte an „Politischen Leitern“ gab es nur in Bayern, aber ohne dass dort die Parteiarbeit unter persönlichen Streitigkeiten in ihrer Existenz bedroht war. Gleichzeitig herrschte in großen Teilen des Reiches ein Mangel an halbwegs geeigneten „Politischen Leitern“. Zwischen 1926 und 1929/1931 erhielten solche Gaue, die bis dahin kaum ausgewachsene Strukturen besaßen und in internen Problemen versanken, versetzte Gauleiter, die zuvor im Rheinland und Westfalen tätig gewesen waren. Goebbels ging nach Berlin, Kaufmann nach einer Beurlaubungsphase nach Hamburg, Koch nach Ostpreußen. Weitere „Politische Leiter“ wie einige Bezirksleiter aus dem Rheinland und Westfalen wurden zu Gauleitern befördert, darunter Florian in Düsseldorf, Grohé in Köln, Alfred Meyer in Westfalen-Nord, Gustav Simon in Koblenz, Terboven in Essen und Josef Wagner in Ruhr/Westfalen-Süd. (Daneben wurden in dieser Atmosphäre des sozialistischen Flügels und des Groß-Gaues auch viele nachgeordnete „Politische Leiter“ nachhaltig geprägt, die später noch selbst zu Gauleitern aufstiegen, darunter etwa Bracht in Oberschlesien 178.) Diese Umstrukturierungen hatten zweierlei Folgen. Erstens erfolgte erst mit den neuen Gauleitern eine nachhaltige Konsolidierung der zerrütteten Gaue, sowohl im Rheinland und Westfalen, als auch in den neu bestückten Gauen quer über dem Reich. Zweitens wurde der sozialistische Parteiflügel indirekt erheblich gestärkt und durch die Verteilung nur scheinbar geschwächt. Denn bis dahin gab es neben kleineren Schwerpunkten wie Sachsen zwei große regionale Schwerpunkte 176 LAV NRW R RW 0023, Nr. 82, Schreiben vom 29. März 1928. 177 BA K Z 42-IV/7172, Protokoll vom 13. März 1948. 178 Vgl. zu Brachts entsprechender Sozialisation zwischen 1925 und 1931 Węcki: Bracht, S. 9–35.
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der Partei, die sich jeweils einem Parteiflügel zuordnen ließen: Bayern war überwiegend dem nationalistischen Flügel, das Rheinland und Westfalen überwiegend dem sozialistischen Flügel zuzuordnen. Nunmehr gab es aber etliche Gauleiter vom sozialistischem Flügel, die sich nicht schwerpunktmäßig auf das Rheinland und Westfalen konzentrierten, sondern (neben schon zuvor bestehenden einzelnen Gauen mit sozialistischer Neigung) sich bis nach Hamburg und Ostpreußen ausbreiteten. Wie schon beim Gau Rheinland-Nord ist auch hier beim Gau Ruhr wieder fraglich, wie es sich mit der Repräsentativität Kaufmanns als Gauleiter verhält. In vielerlei Hinsicht war er charakteristisch für die Gauleiter Mitte/Ende der 1920er Jahre. Die Arbeit machte langsame, aber dennoch deutlich vernehmbare Schritte des Wachstums. Eigene Gaupresse wurde eingeführt, Ortsgruppen reihenweise gegründet, die Mitgliederzahlen wuchsen stark, zunehmend konsolidierten sich die Gaue als Mittelinstanz, die den Vorrang der Reichsleitung immer mehr anerkannten, ihre Grenzen untereinander absteckten, und sich hinsichtlich ihrer formalen Organisation immer weiter professionalisierten. Kaufmann leistete hierbei die gleiche Arbeit, die die meisten Gauleiter leisteten. Bis 1929 war die Masse der Gaue „befriedet“ 179. Ungewöhnlich war nur, dass Kaufmann mit dem „Groß-Gau“ tatsächlich einem territorial und demografisch äußerst umfassenden Gau vorstand. Diesen zusammenzuhalten gelang nur eingeschränkt, sodass er nach und nach in kleinere Gaue zerlegt wurde. Aufgrund der starken Bezirks- und Kreisleiter im Ruhr-Gau, die späterhin allesamt zur ersten, zweiten oder mindestens dritten Reihe der „NS-Führung“ zählten, kann dies aber nur „auf den ersten Blick“ überraschen. Nicht nur Kaufmann hätte diesen Vorgang langfristig nicht aufhalten können. Wahrscheinlich wäre es den meisten Gauleitern entsprechend ergangen. Kaufmanns Tätigkeit als Gauleiter im Ruhrgebiet endete unerwartet schnell und plötzlich. Nach dem gegenseitigen „Verhaken“ und Blockieren der „Politischen Leiter“ im Gau war die Situation wie erwähnt äußerst verfahren. Innerhalb des Gaues waren die Zentrifugalkräfte sehr groß. Essen und Bochum waren als Parteibezirke schon vor ihrer Erhebung zu Gauen nur noch nominell Teil des Gaues Ruhr, da sie im Dauerkonflikt große Autonomie zuerkannt bekamen. Innerhalb des Rest-Gaues waren gleichzeitig die Konflikte gravierend. Es war schließlich Koch, der für die „Lösung“ des Problemkomplexes sorgte. Als Gaugeschäftsführer und stellvertretender Gauleiter beantragte er beim Obersten Parteigericht einen Parteiausschluss gegen seinen früheren Freund und Mentor Kaufmann. Die Freundschaft beider war ohnehin längst zerbrochen (Koch sprach Hitler gegenüber gar die Bitte aus, Kaufmann auch außerhalb der Partei rechtlich dafür belangen zu dürfen, dass er „die Ehre meiner Gattin […] in [der] infamsten Weise besudelet hat“ 180). Für die eigene Parteikarriere aber war zentral, was er ihm vorwarf. Erstens ging es um Unterschlagungen, die Kaufmann tatsächlich auch in vierstelliger Höhe nachgewiesen wurden. Da er im gleichen Zeitraum als Gauleiter insgesamt einen mittleren vierstelligen Betrag als Gehalt erhielt, waren diese Unterschlagungen also nicht gering, zumal (wie auch Koch bemerkte) die Finanzlage des Gaues nach wie vor 179 Vgl. Hüttenberger: Wandel, S. 38–55. 180 Vgl. BA B NS 1/340, Schreiben vom 25. August 1928.
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kritisch war. Um Zufälle oder unsaubere Kassenführung konnte es sich bei den zur Last gelegten Fällen nicht handeln. Dafür traten sie zu gehäuft und systematisch auf. Kaufmann ließ sich beispielsweise für Zwecke wie Parteitage eine gewisse Summe in Bargeld auszahlen, ohne dafür ausreichende Verwendungsbelege nachzureichen. Teilweise reichte er solche zur ordnungsgemäßen Buchung ein, teilweise aber reichte er überhaupt keine Belege ein, sodass Fehlbeträge blieben, die im Falle kritischen Nachfragens oder einer simplen vereinsrechtlichen Kassenrevision einfach hätten nachgewiesen werden können. Viele weitere Beispiele ließen sich anführen, darunter etwa eine vermeintliche (Bonus-)Gehaltszahlung an eine Mitarbeiterin, die zwar verbucht und an Kaufmann ausgezahlt, aber nie an die Mitarbeiterin weitergegeben wurde. Zweitens erhob Koch noch Anklage wegen „Ordensschwindels“. Obwohl Kaufmann im Ersten Weltkrieg nie im Kampfeinsatz gewesen war, lieh er sich Orden eines Fliegerkameraden (darunter gar das Eiserne Kreuz II. Klasse) und ließ sich mit diesen fotografieren 181. Auch sonst hatte Kaufmann es bis in die Bonner Republik hinein immer wieder geschafft, dass nur wenige wirklich wussten, dass er nie im Kriegseinsatz gewesen war. Kochs Hinweis für das Parteigericht nahms zwar Kaufmanns „Ordensschwindel“ zur Kenntnis 182, aber ein nachhaltiges öffentliches oder parteiinternes Echo ging davon nicht aus. Die Legende blieb also weiter bestehen. Konsequenzen hatten Kochs Attacken keine im Sinne des angestrengten Parteiausschlusses. Das Verfahren wurde nicht regulär beendet. Es war Hitler, der stattdessen personalpolitisch regulierend eingriff. Zwar erwies sich Hitlers Eingriff als immer noch nicht ausreichend (daher die erwähnte Auflösung des Rest-Gaues 1931), aber vorerst war der Dauerstreit im Ruhrgebiet etwas besänftigt. Der Ausgang der Personalquerelen im Ruhrgebiet war für Kaufmann ambivalent. Er blieb Parteimitglied und wurde noch nicht einmal gezwungen, sein Landtagsmandat niederzulegen. Die anderen Beteiligten von Koch über Terboven bis Josef Wagner hatten gar eine Statuserhöhung erlebt. Dies ließ hoffen, dass es 1928 bei einer Rüge und einem tiefen, aber nicht nachhaltigen Fall bleiben würde. Andererseits aber war seine politische Zukunft trotzdem nicht sicher. Würde Hitler ihm noch einmal einen Gau anvertrauen? Würde er bei der nächsten Landtags- oder Reichstagswahl wieder einen aussichtsreichen Listenplatz erhalten? Würde die Partei überhaupt wieder ein paar Abgeordnete in das jeweilige Parlament entsenden können, oder würden ihr die zwei, drei oder vier Prozent an Wählern bei der nächsten Wahl von einer anderen Partei streitig gemacht werden? Würde er bis dahin bei Hitler positiv im Gedächtnis verankert bleiben? Dies alles war unklar. Kaufmanns weiterer Berufsweg war 1928 also in Frage gestellt. Die politische Karriere hatte einen erheblichen, vielleicht sogar endgültigen Rückschlag erhalten. 181 Der Reichsschatzmeister registrierte im Übrigen das Verfahren, offenbar nicht zuletzt mit Blick auf die Kassenfrage. Vgl. als ein die Details explizit zusammenfassendes Dokument über die Problematik in BA B NS 1/340, Schreiben vom 25. August 1928. 182 Ebd.
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Was hätte Kaufmann in dieser Situation unternehmen können? Eine Eingliederung in die freie Wirtschaft wäre schwer gewesen. Er war mittlerweile kurz vor seinem 28. Geburtstag, hatte sowohl seine kaufmännische als auch seine landwirtschaftliche Ausbildung nicht beendet, und auch sonst außerhalb der Politik keine Berufserfahrung gesammelt. Wie sollte er in einer ökonomisch durchgehend angeschlagenen Weimarer Republik seinen Berufsweg noch einmal neu ausrichten? Die Möglichkeiten waren begrenzt. Was er offenbar verfolgte, war auf bessere Zeiten für den Fortgang der Parteikarriere zu hoffen und dann seine Chance zu ergreifen. Sofern er nicht doch noch gezwungen würde, sein Landtagsmandat abzugeben, war er darüber bis zum Ende der Legislaturperiode 1932 abgesichert. Das waren noch vier Jahre, in denen sich neue Chancen innerhalb der Partei ergeben konnten. Einen anderen beruflichen Weg einzuschlagen hatte er offenbar nicht vor. Jedenfalls lassen sich keine entsprechenden Tendenzen erkennen. Zugleich aber gab es in Kaufmanns „Krisenjahr“ 1928 mit seiner Hochzeit ein Ereignis, das verglichen mit seinen politischen Niederlagen positiv heraussticht 183. Für seine Generation hatte er damit bereits relativ spät geheiratet. Aber die Ehe sollte bis an sein Lebensende Bestand haben. Für seine politische Biografie war seine Ehefrau besonders in der frühen Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs von großer Relevanz. Denn als Kaufmann durch Internierung und Krankheit nur eingeschränkt handlungsfähig war, war sie es, die immer wieder und nicht selten mit Erfolg auf seinen Internierungsstatus, seine Gesundheitsversorgung sowie seine Vermögenssperre einwirkte.
2.4. Schriftleiter der „Nationalsozialistischen Briefe“ (1926–1928) „Es handelte sich zunächst darum, die verstreuten Mitglieder der Partei neu zu gruppieren, ihnen so schnell wie möglich eine intelligente Presse zur Verfügung zu stellen, die ebenso sehr ihren geistigen Ansprüchen angepaßt war, wie sie den von uns verfolgten Zielen diente. Wir gründeten zunächst eine zweimal im Monat erscheinende Zeitschrift, die nur für die Funktionäre der NSDAP bestimmt war, und nannten sie ‚Nationalsozialistische Briefe‘.“ 184
Soweit laut Otto Strasser die Funktion und der Hintergrund der „Nationalsozialistischen Briefe“. Grundsätzlich erfüllten sie damit im Hinblick auf die Funktionäre des linken Parteiflügels den Zweck, den die Nationalsozialisten anfangs allgemein ihrer Parteipresse zudachten 185, bevor sie ein Instrument zur Werbung um neue Parteimitglieder wurde.
183 Vgl. StaW Standesamt Elberfeld, Heiratsregister Nr. 1655/1928. 184 Strasser: Hitler, S. 107. 185 Vgl. zum Aspekt der Parteipresse der NSDAP im Allgemeinen Frei, Norbert: Nationalsozialistische Presse und Propaganda, in: Broszat, Martin/Möller, Horst (Hrsg.): Das Dritte Reich. Herrschaftsstruktur und Geschichte, 2. Aufl., München 1986, S. 152–176.
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(Wegen des kleineren Leserkreises lagen die Verkaufszahlen auch nur bei etwas mehr als 1000 Abonnenten 186.) Die „Nationalsozialistischen Briefe“ sollten zudem gleichzeitig auch das Presseorgan der Arbeitsgemeinschaft sein. Was genau verstanden diese darunter? Otto Strasser schilderte in Erinnerungen an die Gründung der Arbeitsgemeinschaft das Verständnis der neuen Parteizeitschrift folgendermaßen. Bis auf Kölns Gauleiter Ley und Feder aus der Parteileitung in München waren alle einverstanden, „als wir uns einigten, für den norddeutschen Bereich unter Gregor eine eigene Presse zu schaffen, denn wir wollten nicht von Hitlers Eher-Verlag und von Max Amann in München abhängig sein. ‚Es ist also beschlossen‘, verkündete Gregor, sichtlich voller Freude, ‚daß wir vom 1. März 1926 an für sämtliche Gaue des Nordens unsere eigenen Zeitungen herausbringen.‘“ 187
Nachdem aber Hitler weitere organisatorisch wie ideologisch eigenständige Wege der Arbeitsgemeinschaft verhindert hatte, war der sozialistische Flügel Mitte 1926 entscheidend geschwächt. Eine Opposition oder ein Aufbegehren hatte kaum Aussichten. Weitere kleine Schritte von Hitlers „Teile und Herrsche“ gegenüber der Arbeitsgemeinschaft betrafen auch die „Nationalsozialistischen Briefe“. Diese wurden durch Hitler als freie Zeitschrift erklärt 188. Hiermit verlor sie nicht „nur“ ihren parteiamtlichen Status. Sie musste künftig auch in eigener Verantwortung Gregor Strassers als Herausgeber und Kaufmanns als Schriftleiter agieren, stand also nunmehr außerhalb der Partei (was die beiden nicht daran hinderte, die Zeitschrift organisatorisch über ihre Ämter zu steuern 189). Sie verlor damit ihren Status als eine der (Stand 1928) 20 „parteiamtlichen“ Presseorgane, wurde aber zumindest noch unter die zwölf „offiziell anerkannten“ Presseblätter gerechnet 190. Dies war kein völliges Abweisen, aber eine für alle aufmerksamen Beobachter deutliche Herabstufung. Inhaltlich bedeutete das für die „Nationalsozialistischen Briefe“ zweierlei. Erstens waren sie in der Propagierung und Weiterentwicklung der Ideologie theoretisch freier als 186 Vgl. März: Sozialisten, S. 393. 187 Strasser: Kampf, S. 26f. 188 Vgl. Schüddekopf: Linke, S. 201f. 189 Gregor Strasser nutzte beispielsweise für Briefe, die im Zusammenhang mit der Zeitschrift standen mal Briefbögen der Partei (in seiner Funktion als Reichsorganisationsleiter) und mal Briefbögen seines eigenen Verlags. Offenbar nutzte er einfach den Briefbogen, den er im jeweiligen Moment greifbar hatte. Gleiches gilt für Kaufmann. Wenn er in Elberfeld war, nutzte er die Briefbögen der Partei (in seiner Funktion als Gauleiter) und wenn er als Landtagsabgeordneter in Berlin war, nutzte er die Briefbögen, die jeder Abgeordnete erhielt. Eine formale Trennung der Ämter vollzogen beide nicht. Bei Kaufmann etablierte sich eine solche erst dadurch, dass er ab 1933 Reichsstatthalter in Hamburg wurde und sein Gauleiteramt organisatorisch vernachlässigte. Ab 1936 lief seine gesamte Korrespondenz (also auch jene an und von ihm als Gauleiter) über seine Reichsstatthalterdienststelle. Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen im Unterkapitel 4.2. 190 Vgl. Hale, Oron J.: Presse in der Zwangsjacke. 1933–1945, Düsseldorf 1965, S. 52–54.
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die amtliche Parteipresse. Zweitens aber, und dies war problematisch, konnten diese Freiheiten nur begrenzt ausgekostet werden, damit die Grenze des für und in der Partei Akzeptablen gewahrt bliebe. Ein schwieriger Spagat. Die Aufgabenverteilung in der Arbeitsweise der „Nationalsozialistischen Briefe“ sah nun folgendermaßen aus. Während Kaufmanns aktiver Zeit als Schriftleiter zwischen 1926 und 1928 war die Zeitschrift noch die Zeitschrift mit beschränktem Leserkreis (den Funktionären des linken Flügels), besaß aber angesichts des steten Wachstums der Partei erhebliches Ausbaupotential. Nach Goebbels’ Weggang im Sommer 1926 nach Berlin wurde Kaufmann Schriftleiter. Dies war nur logisch, da es sonst keinen höherrangigeren „Politischen Leiter“ im Einzugsraum gab. Bis dahin waren Goebbels/Gregor Strasser die entscheidenden Persönlichkeiten der „Nationalsozialistischen Briefe“ gewesen. Kaufmann sprang faktisch einfach für Goebbels ein, genauso wie nach Kaufmanns Ausscheiden keine inhaltliche Kehrtwende der „Nationalsozialistischen Briefe“ vorlag, sondern schlicht unverändert weitergearbeitet wurde. Als Schriftleiter war er jedenfalls für die gesamte redaktionelle Organisation zuständig. Zugleich schrieb er gelegentlich auch eigene Artikel. Herausgeber blieb Gregor Strasser, da die Zeitschrift über den Verlag Strassers (und organisatorisch innerhalb dessen im Eigenverlag „RheinRuhr-Verlag Karl Kaufmann“ 191) vertrieben wurde. Die Erscheinungsweise blieb zweiwöchentlich mit (die meiste Zeit über) jeweils rund zehn Seiten. Die einzelnen Beiträge umfassten in der Regel zwei bis vier Seiten. Die Autoren waren verschiedene „Politische Leiter“ und ideologische Denker des linken Parteiflügels. Hierin unterschieden sich die „Nationalsozialistischen Briefe“ von anderen NS-Zeitschriften. Es ging nicht primär um die Werbung für die eigene Partei oder die Darstellung politischer Ereignisse aus der eigenen Sicht. Es ging auch nicht um die Diffamierung politischer Gegner, sondern um eine mitunter durchaus intensive ideologische Auseinandersetzung mit den Ideen des nationalen Sozialismus des linken Parteiflügels. Selbst konträren Standpunkten innerhalb dieses Flügels wurde in der Zeitschrift der Raum gegeben, sich schriftlich mit dem jeweils anderen auseinanderzusetzen. Dies alles zeigt, dass es beim linken Flügel nicht um „Phrasen“ zur Vereinnahmung oder gar arglistige Täuschung des Arbeitermilieus ging, wie es oftmals interpretiert wurde. Der linke Parteiflügel setzte sich mit seinen Ideen auseinander, entwickelte sie weiter, deutete tagesaktuelle politische Ereignisse unter den Gesichtspunkten des nationalen Sozialismus und versuchte ihn von anderen Sozialismuskonzeptionen abzugrenzen. Es ging dabei auch nicht immer und in allen Artikeln um entsprechende Themen oder dahingehend interpretierte Motive. Auch andere Aspekte des Nationalsozialismus kamen zu Wort, vom rassistischen Antisemitismus, über die Wiedererlangung der deutschen Kolonien bis hin zum „Versailler Vertrag“. Das ganz klare Übergewicht lag aber in der Auseinandersetzung mit dem nationalen Sozialismus des linken Parteiflügels. Schon die Titel der Artikel der „Nationalsozialistischen Briefe“ geben einen deutlichen Eindruck des Inhalts der Zeitschrift. Hierunter finden sich beispielsweise Beiträge 191 Vgl. März: Sozialisten, S. 394.
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von Gregor Strasser zum Thema „Wir und die Altsozialisten“ 192, Ernst Graf zu Reventlow über „Unser[en] Sozialismus“ 193 oder auch Ulrich von Hutten (also Otto Strasser unter seinem Pseudonym) „Vom Wesen des Kapitalismus“ 194. Zur Illustrierung von Kaufmanns eigenen Beiträgen sollen zwei Beispiele folgen. In einem Artikel befasste er sich mit der schwierigen (und bis ins „Dritte Reich“ hinein ungeklärten 195) Frage nach der Stellung von Nationalsozialismus und Gewerkschaftswesen. In diesem hielt er unter anderem folgendes fest: „Aber Wirtschaft, die oben wie unten jene Leistung hemmt, d. h. sowohl in der Arbeitgeberorganisation aus mangelnden Erkenntnissen der Zusammenhänge, wie aus bewußter Irreführung der Arbeitnehmerorganisation, wo hier wie dort, ich möchte sagen fast organisationsmäßig die Leistung ausgeschlossen wird, ist zum endgültigen Siechtum verurteilt. Wenn wir nun wissen, daß die sogennanten Führer der Wirtschaft diese Zeichen unserer Entwicklung nicht zu deuten wissen, so müssen wir zu der Erkenntnis kommen, daß der notwendige Gesundungsprozeß unserer Wirtschaft und damit die Lebensmöglichkeit unseres Volkes organisch von unten herauf muß. Das aber bedeutet, daß die in unseren Reihen organsierten Arbeitnehmer die Pflicht der Leistung, aber auch ihren Schutz verlangen. Mobilgemacht wird aber der Wille zur Leistung nur dann, wenn die Standesvertretung, in diesem Falle also die Gewerkschaften, ihre Aufgabe darin sehen, auf gesetzmäßigem Wege und durch die Machtstellung der berufsständischen Vertretung des Arbeitnehmertums in voller Wahrung der Interessen der ganzen Wirtschaft und der volkswirtschaftlichen Belange der Gesamtheit den Schutz der Leistung durchzusetzen wissen. So setzen wir Nationalsozialisten der leistungstötenden, wirtschaftmordenden Parole des Marxismus die wirtschaftfördernde Forderung nationalsozialistischer Kampfgewerkschaften entgegen. […]
192 Vgl. Strasser, Gregor: „Wir und die Altsozialisten“, NSB, 3 (1927), H. 5. 193 Vgl. Graf Reventlow, E.: „Unser Sozialismus“, NSB, 4 (1928), H. 2. 194 Vgl. von Hutten, Ulrich [=Strasser, Otto]: „Vom Wesen des Kapitalismus.“, NSB, 2 (1927), H. 2. 195 Die NSDAP hatte in Form der „Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation“ (NSBO) zwar eine Art eigene Gewerkschaft. Dieser war von der Parteileitung eine tatsächliche Gewerkschaftstätigkeit zwar untersagt (denn im Nationalsozialismus sollte kein „Klassenkampf“ existieren, sondern die „Klassen“ durch die „Volksgemeinschaft“ aufgehoben werden), aber faktisch erfüllte sie einen Großteil der Merkmale einer zeitgenössischen Gewerkschaft. In ihr fanden sich vor allem Nationalsozialisten des linken Parteiflügels wieder. Mit der Zerschlagung der Gewerkschaften im Mai 1933 und der Gründung der „Deutschen Arbeitsfront“ (DAF), die ebenfalls keine vollwertige (Einheits-)Gewerkschaft darstellte, entstand ein latenter Konflikt zwischen NSBO und DAF. Letztere gewann diesen, nicht zuletzt durch Hitlers Unterstützung. Die NSBO ging schließlich 1935 in der DAF auf. Vgl. zur Geschichte der NSBO das Werk von Kratzenberg, Volker: Arbeiter auf dem Weg zu Hitler? Die nationalsozialistische Betriebszellen-Organisation. Ihre Entstehung, ihre Programmatik, ihr Scheitern 1927–1934, 2. Aufl., Frankfurt am Main/ Bern/New York 1989.
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Die Zeit aber zur Gründung eigener Gewerkschaften muß reifen. Eintagsfliegen auf dem Gebiete der Gewerkschaften wäre Verbrechen am Arbeitnehmertum.“ 196
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des zitierten Artikels 1927 war der Richtungskampf in der NSDAP noch vergleichsweise offen. Der Artikel zeigt jedoch eine programmatische Ideensetzung auf. Die Debatte um eine nationalsozialistische Gewerkschaft sollte aufrecht erhalten bleiben oder gar ausgeweitet werden. Einen möglichen Ansatz zur ideologischen Fundierung hatte Kaufmann mit seinem Beitrag zur Debatte gestellt. Hier zeigt sich also die deutliche Tendenz der „Nationalsozialistischen Briefe“ als Zeitschrift zur Beschäftigung mit der Ideologie des Nationalsozialismus. Dies hatte eine gewisse intellektuelle Qualität und einen entsprechenden Anspruch und stand damit der oftmals als „Hetze“ charakterisierten NS-Presse vieler anderer Gaue (wie etwa Streichers „Stürmer“ 197) fundamental gegenüber. Ein zweites Beispiel für Kaufmanns eigene Artikel ist ein Beitrag mit außenpolitischer Thematik, die er aus Sicht seiner Weltanschauung, also des nationalen Sozialismus deutete. Er betonte darin beispielsweise folgendes: „Die englische Außenpolitik des Augenblicks steht nach wie vor im Zeichen der großen Gefahr, die die außenpolitische Propaganda der Sowjets unter der Parole des Selbstbestimmungsrechts der Völker in den Britischen Dominions und Kolonien hervorgerufen hat. Alle anderen Momente in der englischen Außenpolitik, die scheinbar andere Wege gehen, sind nur geboren aus der taktischen Notwendigkeit des Augenblicks. Noch nie war das in den britischen Kolonien investierte Weltkapital so in Gefahr wie heute. Die geschickte Außenpolitik der Sowjets, verbunden mit der nun sich rächenden Tatsache, daß der Weltkriegsschauplatz die Kolonialvölker die moderne Kriegführung lehrte, bedrohen die Sicherheit des britischen Weltimperiums fortgesetzt. Wenn man diese außenpolitischen Zeichen im Spiegel der kapitalistischen Entwicklung unserer Zeit sieht, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es sich bei diesen ganzen außenpolitischen Zusammenhängen viel weniger um nur machtpolitische Fragen einzelner Staaten handelt, sondern man muß nach objektiver Prüfung der Zusammenhänge mit klarem Blick erkennen, daß es sich bei den außenpolitischen Bestrebungen Englands mehr darum handelt, unter allen Umständen das in den britischen Kolonien investierte Weltkapital und damit die Ausbeutungsmöglichkeit der halben Welt und ihrer Völker für den überstaatlichen Kapitalismus zu erhalten.“ 198
Nicht im politischen Inhalt des linken Parteiflügels, aber in der in der Selbsteinordnung als „objektiv“ und „mit klarem Blick“ waren die „Nationalsozialistischen Briefe“ aber 196 Kaufmann, Karl: „Grundsätzliches zur Gewerkschaftsfrage“, NSB, 3 (1927), H. 20. 197 Vgl. Roos: Streicher, S. 414–441. 198 Kaufmann, Karl: „Ursachen und Folgen des englisch-russischen Konfliktes.“, NSB, 3 (1927), H. 1.
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ähnlich aufgestellt wie die gesamte NS-Presse. Der zuletzt zitierte Artikel kann hierfür als exemplarisch betrachtet werden. Kaufmann als Politiker sowie allgemein die „Nationalsozialistischen Briefe“ sahen den Nationalsozialismus nicht als subjektive Ideologie unter anderen. Sie gingen vielmehr davon aus, im Besitz der einzigen Wahrheit zu sein, und daher objektiv die Welt als einzige Personen richtig oder zumindest besser als alle anderen Menschen zu verstehen. Kaufmanns Tätigkeit als Schriftleiter des Theorieorgans endete relativ plötzlich. Infolge seiner Beurlaubung als Gauleiter des Gaues Ruhr ließ er auch die Schriftleitung ruhen. Die letzte von ihm verantwortete Ausgabe war die achte des Jahres 1928. Seine journalistische Tätigkeit hatte damit ihren Höhepunkt hinter sich. Er schrieb zwar später noch gelegentlich Artikel für die verschiedenen nationalsozialistischen Presseorgane in seinem späteren Gau Hamburg, den er 1929 übernahm. Aber eine Schriftleitung übernahm er dort nicht und rein quantitativ betrachtet strebte er eine umfangreichere publizistische Aktivität auch nicht an 199. Dies mag mit der schwierigen und für die Gaue der Partei vergleichsweise seltenen Konkurrenzsituation mehrerer NS-Presseorgane im Gau Hamburg zusammengehangen haben. Aber auch nach Lösung dieser Problematik hielt er sich zurück. Die Aufgaben als Gauleiter und dann als Reichsstatthalter nahmen seine Zeit voll ein.
199 Im Rahmen seines einzigartigen Herrschaftssytems nach 1933 behielt er aber auch die Presse, parteieigene wie parteipolitisch ungebundene, stets im Blick und ließ sich oder in Vertretung dem Gaupresseamt gar alles Hamburgspezifische vor Veröffentlichung persönlich vorlegen, um es zu genehmigen. Vgl. hierzu unter anderem die Aussage einer Mitarbeiterin einer Hamburger Zeitung in einem von Kaufmanns Nachkriegsverfahren BA K Z 42-IV, 7172, Protokoll vom 8. Januar 1948.
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2.5. Mitglied des Landtages des Freistaates Preußen (1928–1930) 2.5.1. Die NSDAP und der Parlamentarismus in Preußen
„Solange die Republik das nicht kann [ihre Versprechungen zu erfüllen], sondern sich im Gegenteil auf Grund dieser Regierungspraxis die Volksnot von Tag zu Tag immer mehr steigert, so lange wird keine Maßnahme, kein Verbot, kein Verfassungsbruch den Erfolg der Opposition aufhalten können. […] Verbieten Sie, verfolgen Sie, schaffen Sie Märtyrer, nehmen Sie Verträge an, die die Not steigern! Wir werden trotz Verbot und Verfolgung nicht weichen und werden ruhelos und rastlos arbeiten, bis dieses Volksbegehren durch ein Volksbegehren abgelöst wird, das der Staat in seiner gegenwärtigen Form nicht überdauern wird.“ 200
Wie Kaufmann in der zitierten Landtagsrede, ließ die Partei allgemein an ihrer antidemokratischen Gesinnung und letztendlichen Zielsetzung nie einen Zweifel 201. Und auch wenn die NSDAP bereits seit dem November 1922 in Preußen verboten war 202, schadete das ihrer Sache nur eingeschränkt. An Wahlen hatte sie bis zu ihrem Verbot ohnehin nicht teilgenommen 203. Dies geschah erst mit der Änderung der Strategie im Streben nach der Macht. Nachdem der gewaltsame Versuch die Herrschaft zu erlangen beim „Hitler-Ludendorff-Putsch“ 1923 im Kugelhagel gescheitert war, und die „Bewegung“ während Hitlers Haftzeit zwar nicht „auseinanderbrach“, dafür aber „zerbröselte“, änderte Hitler die künftige strategische Ausrichtung fundamental. Die Macht sollte legal erworben werden. Keine Putschversuche, sondern reguläre Wahlen galt es nunmehr vorzubereiten und durchzuführen 204. Dies hatte diverse Vor- wie Nachteile. Grundlegend für das Verhältnis der NSDAP und dem Parlamentarismus in Preußen ist jedenfalls, dass die NSDAP in Preußen auf andere Umstände traf, als auf Reichsebene oder beispielsweise in der „Ordnungszelle“ Bayern. Während die Reichsebene in der
200 Sitzungsberichte des Preußischen Landtags. 3. Wahlperiode. 1. Tagung: begonnen am 8. Juni 1928. 6. Band. 89. bis 104. Sitzung (25. Juni bis 24. Oktober 1929), Berlin 1929 [o. H.], Sp. 8531– 8537. 201 Zur Genese der NSDAP innerhalb des deutschen Parteienspektrums vgl. Kolb/Schumann: Republik, S. 112–114. 202 Das Verbot lag vollauf im Handeln der demokratischen Landesregierung im Preußen, die wesentlich weniger nachgiebig und „zimperlich“ mit den antidemokratischen Strömungen umging, als dies in den meisten anderen deutschen Staaten der Fall war. Vgl. Ribhegge, Wilhelm: Preußen im Westen. Kampf um den Parlamentarismus in Rheinland und Westfalen, Münster 2008, S. 351–353. 203 Vgl. Kolb/Schumann: Republik, S. 113. 204 Vgl. zu diesem grundsätzlichen Wandel in der Ausrichtung der Partei nach wie vor Tyrell, Albrecht: Vom Trommler zum Führer. Der Wandel von Hitlers Selbstverständnis zwischen 1919 und 1924 und die Entwicklung der NSDAP, München 1975, S. 165–173.
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Weimarer Republik selbst in ihren „Goldenen Zwanzigern“ von 1924 bis 1929 nur eine fragile Stabilität aufwies 205, bildete Preußen das vollkommene Gegenteil. Denn die allgemeine Festigkeit in Preußen, die trotz aller Wahlerfolge von NSDAP und KPD erst mit von Papens „Preußenschlag“ 206 1932 beendet wurde, stellte für die NSDAP einen anderen Gegner dar, als es die krisengeschüttelte Reichsebene war. Preußen zwischen 1919 und 1932 war wesentlich stärker gekennzeichnet von Demokratie und gefestigter Kontinuität als der Großteil des Reiches 207. Aufgrund der herausgehobenen Bedeutung Preußens innerhalb des Reichsverbands darf zudem nicht vergessen werden, wie bedeutend das Erringen der Macht in Preußen für die NSDAP gewesen wäre 208. Bis zum „Preußenschlag“ im Juli 1932 saß in bereits vier Ländern ein nationalsozialistischer Ministerpräsident der Regierung vor, in denen einige Elemente der reichsweiten „Machtergreifung“ von 1933 bereits vorweg genommen wurden 209. Ähnliches wäre im Falle einer NSDAP-geführten Landesregierung für Preußen zu erwarten gewesen, nur dass Preußen innerhalb des Reiches das mit Abstand wichtigste Land war.
205 Zur lediglich scheinbaren und oberflächlichen Stabilität, die zwar nicht monokausal erklärt werden kann, aber dennoch zu nicht unbeträchtlichen Teilen auf ausländische Investitionen zurückzuführen ist vgl. Longerich, Peter: Deutschland 1918–1933. Die Weimarer Republik. Handbuch zur Geschichte, Hannover 1995, S. 145. 206 Zum „Preußenschlag“ und seiner Bedeutung für die politischen Verhältnisse im Reich 1932 und Anfang 1933 vgl. Höner, Sabine: Der nationalsozialistische Zugriff auf Preußen. Preußischer Staat und nationalsozialistische Machteroberungsstragie 1928–1934, Bochum 1984, S. 356– 387. Der allgemeine, im gesamten Reich zu beobachtende Aufschwung der NSDAP und ihre zumeist destruktiven Strategien in den Parlamenten waren den Verantwortlichen der preußischen Landesregierung naheliegenderweise nicht verborgen geblieben. Deshalb wurden vor der Wahl 1932 noch einige Vorbereitungen getroffen, um sich gegen die kommenden Angriffe seitens der NSDAP und der KPD zu wappnen. Hierzu zählt unter anderem eine Änderung der Geschäftsordnung, wonach der Ministerpräsident zwar das Misstrauen des Landtags ausgesprochen bekommen konnte, aber dadurch nicht seines Postens enthoben wurde. Dafür müsse im Gegenzug erst ein neuer Ministerpräsident gewählt werden, also ein konstruktives Misstrauensvotum erfolgen. Es wurde davon ausgegangen, dass NSDAP und KPD sicherlich keinen gemeinsamen Ministerpräsidenten wählen würden, nur um den Kandidaten der demokratischen Parteien zu verhindern. Zu den Vorbereitungen innerhalb der Landesregierung auf die Wahl und ihre zu erwartenden Ergebnisse vgl. Möller, Horst: Preußen von 1918–1947: Weimarer Republik, Preußen und der Nationalsozialismus, in: Neugebauer, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. 3. Vom Kaiserreich zum 20. Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens, Berlin/New York 2001, S. 147–316, hier S. 298–300. 207 Vgl. vor allem im Verhältnis zum Reich Möller, Horst: Parlamentarismus in Preußen 1919– 1932, Düsseldorf 1985, S. 11–16. 208 Zum Dualismus „Preußen-Reich“ in der Weimarer Republik Bracher, Karl Dietrich: Dualismus oder Gleichschaltung: Der Faktor Preußen in der Weimarer Republik, in: Bracher, Karl Dietrich/Funke, Manfred/Jacobsen, Hans-Adolf (Hrsg.): Die Weimarer Republik 1918–1933. Politik. Wirtschaft. Gesellschaft, 3. Aufl., Bonn 1998, S. 535–551, hier S. 537–549. 209 In Anhalt, Mecklenburg-Schwerin, Oldenburg und Thüringen konnten sich 1932 NSDAP-geführte Landesregierungen in regulären Koalitionen etablieren. Exemplarisch können die augenblicklich folgenden Maßnahmen, die in vielen Bereichen dem reichsweiten Vorgehen ab 1933
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Das „Besondere“ oder „Spezielle“ im Verhältnis der NSDAP zum preußischen Parlamentarismus sind also die geringeren Chancen auf legalen Erfolg, wenn diese mit den instabilen Verhältnissen im Reich oder anderen Ländern verglichen werden sollen. Ein sehr anschauliches Beispiel hierfür sind die (Neu-)Wahlen zum jeweiligen Parlament. Auf Reichsebene fanden zwischen der ersten Reichstagswahl 1920 und der letzten vor der „Machtergreifung“ nicht weniger als sieben Parlamentswahlen in zwölf Jahren statt. Regulär, also ohne vorzeitige Neuwahlen, hätten lediglich vier stattfinden sollen (1920, 1924, 1928, 1932). Mit der fünften Reichstagswahl begann der Durchbruch der NSDAP auf Reichsebene 210. Die verbotene NSDAP errang 1924 mit ihrer „Ersatzorganisation“ NSFP nur 2,47 Prozent der Stimmen. 1928 lag die wieder erlaubte NSDAP bei nur noch 1,84 Prozent. Der reichsweite Aufschwung der NSDAP ab Ende 1928/Anfang 1929 blieb für den preußischen Landtag belanglos, da die erste Landtagswahl nach dem Beginn dieses Aufschwungs erst 1932 stattfand. Hierbei holte die Partei dann jedoch 36,76 Prozent 211. Kurz darauf erfolgte der Papen’sche „Preußenschlag“. Die NSDAP spielte im preußischen Parlamentarismus also kaum eine Rolle, da sie keine wirkliche Gelegenheit dazu erhielt. Wäre dies der Fall gewesen, wären die Auswirkungen aber umso größer gewesen. Der einzelne Abgeordnete aber, in hier vorliegenden Falle Kaufmann, konnte immer individuell handeln.
2.5.2. Mandatsführung des (National-)Sozialisten Kaufmann „Wir Nationalsozialisten erklären, daß wir jedem Antrage zustimmen werden, ganz gleich, von welcher Seite er kommt, der dahin wirkt, daß die Folgen einer falschen Außenpolitik und die Folgen eines falschen wirtschaftlichen Systems nicht auf die wirtschaftlich schwächsten Teile der Bevölkerung abgewälzt werden […]. Wir benutzen die Gelegenheit, um zu erklären, daß wir in den preisdiktierenden Konzernen und in der Kapitalkonzentration der Konzerne eine Entwicklung der Wirtschaft sehen, die wir mit allen Mitteln bekämpfen werden.“ 212
Mit diesen Worten fasste Kaufmann im Plenum des Landtags einmal die Position der NSDAP-Abgeordneten zusammen. Der Weg bis dahin, also der Wahlkampf zur dritten Legislaturperiode des preußischen Landtags, war für die NSDAP nicht wirklich erfolgähnelten, an Thüringen betrachtet werden. Vgl. Post, Bernhard: Vorgezogene Machtübernahme 1932: Die Regierung Sauckel, in: Heiden, Detlev/Mai, Günther (Hrsg.): Thüringen auf dem Weg ins „Dritte Reich“, Erfurt 1996, S. 147–181, hier S. 147–149. 210 Vgl. Kolb/Schumann: Republik, S. 344f. 211 Vgl. Möller: Parlamentarismus, S. 602–604. 212 Sitzungsberichte des Preußischen Landtags. 3. Wahlperiode. 1. Tagung: begonnen am 8. Juni 1928. 2. Band. 23. bis 39. Sitzung (13. Dezember 1928 bis 2. Februar 1929), Berlin 1929 [o. H.], Sp. 1767f.
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reich gewesen. Sie erreichte bei den Wahlen am 20. Mai 1928 landesweit nur 1,84 Prozent. Damit entsendete sie aber immerhin sechs Abgeordnete nach Berlin. Solche Wahlergebnisse waren für die extremen Parteien in den „Goldenen Zwanzigern“ der Weimarer Republik nichts ungewöhnliches. Aber mit sechs Abgeordneten unter insgesamt 450 213 ließ sich die über den parlamentarischen Weg angestrebte „Machtergreifung“ nur langsam vorantreiben. Genau jene geringe Größe der NSDAP im Landtag ist aber für Kaufmanns politische Biografie ein wichtiger Punkt. Bis auf Haake waren alle nationalsozialistischen Abgeordneten neu in das Parlament eingezogen. Ihre Namen lassen bereits erahnen, welche herausgehobene Stellung ihnen in der Hierarchie der Partei zukam. Sie waren schon 1928 Teil der „NS-Führung“ und sollten es (bis auf Haake aus gesundheitlichen Gründen und dem zeitweise politisch abgesetzten Kube 214) bis zum Ende bleiben. Es handelte sich hierbei um den bereits erwähnten Ley und den ebenso schon angesprochenen Haake. Hinzu kamen noch Hinrich Lohse (ab 1925 unter anderem Gauleiter von Schlewsig-Holstein, 1933 preußischer Oberpräsident, 1941 Reichskommissar Ostland) 215 und Hanns Kerrl (1933 bis 1934 preußischer Justizminister, 1934/1935 bis zum Tod 1941 Reichskirchenminister) 216. Kaufmann befand sich also unter wesentlicher Parteiprominenz zum Ende des Jahrzehnts, wobei einige bis zum Ende des „Dritten Reiches“ Teil dieser Parteiprominenz bleiben sollten. Dies zeigt den bedeutenden Status an, den Kaufmann bei seiner Wahl 1928 bereits besaß. Der Grund hierfür wird unter anderem in seiner Eigenschaft als Gauleiter, als auch in seiner starken Position innerhalb der nichtbayerischen Nationalsozialisten zu suchen sein. Hinzu kam noch seine politische Verortung als einer der Hauptvertreter des sozialistischen Parteiflügels, welcher 1928 noch relativ stark war. Alleine die Tatsache, dass Kaufmann zu diesem sehr dünn besetzten Kreis der (Reichstags- und Landtags-)Abgeordneten der NSDAP gehörte, veranschaulicht also seine herausgehobene Position innerhalb der Partei. Für Kaufmann persönlich bedeutete das Landtagsmandat aber natürlich noch viel mehr als die bloße Strahlkraft über andere „Parteigenossen“. Mit dem Mandat gingen einige Privilegien einher. Besonders wichtig war hierbei die Abgeordnetenimmunität, wodurch sich Kaufmann noch einiges mehr „erlauben“ konnte, als manch anderer Parteifunktionär. Zudem konnte er mit der obligatorischen Freifahrtkarte die preußischhessischen (und durch Übernahme der Auslagen reichsweit sämtliche) Eisenbahnen 213 Vgl. Statistisches Jahrbuch des Deutschen Reiches. Siebenundvierzigster Jahrgang 1928, Berlin 1928. Herausgegeben vom Statistischen Reichsamt, S. 582f. 214 Kube war zeitweise Gauleiter der Gaue Ostmark und Kurmark sowie Generalkommissar für Weißruthenien. Vgl. zu seiner Biografie Höffkes: Gauleiter, S. 195–198. 215 Zu Lohse vgl. Danker, Uwe: Die drei Leben des Hinrich Lohse, in: DG, 11/1998, S. 105–114. 216 Über Kerrl wurde bislang nicht eigenständig geforscht. Sein Werdegang wird aber im Rahmen seiner wichtigsten Funktion als Reichskirchenminister ausführlicher analysiert von Buss, Hansjörg: Das Reichskirchenministerium unter Hanns Kerrl und Hermann Muhs, in: Gailus, Manfred (Hrsg.): Täter und Komplizen in Theologie und Kirche 1933–1945, Göttingen 2015, S. 140–170, hier S. 144–158.
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nutzen, und dadurch im entsprechenden Gebiet als Parteiredner für wenig Geld eingesetzt werden. Es ist deshalb gelegentlich angemerkt worden, dass Hauptschriftleiter der Parteipresse sowie Parteiredner Abgeordnete wurden, ebenso wie die entgegenstehende Interpretation, dass die nationalsozialistischen Abgeordneten häufig nach Übernahme eines Mandats erst Hauptschriftleiter und Parteiredner wurden. Verallgemeinern lässt sich dies nicht. Aber für Kaufmann ist festzuhalten, dass er schon vor seiner Wahl 1928 Hauptschriftleiter der „Nationalsozialistischen Briefe“ war und auch als Parteiredner auftrat. Zugleich wäre es aber mitunter schwierig gewesen, ihm einen aussichtsreichen Listenplatz zu verwehren. Denn selbst wenn er nicht Schriftleiter und Parteiredner gewesen wäre, war er trotzdem eine der führenden Persönlichkeiten der Partei. Hierfür spricht nicht nur seine Eigenschaft als Gauleiter, sondern auch seine Rolle als einer der Protagonisten des noch starken sozialistischen Parteiflügels. Etwas anderes für Kaufmann sehr wichtiges war die Abgeordnetendiät. Gemäß Landesverfassung stand den Landtagsabgeordneten eine Entschädigung zu 216. Zum Zeitpunkt von Kaufmanns Mandat lagen die Entschädigungen bei monatlich „25 vom Hundert des Grundgehalts der Einzelgehälter Gruppe V des Beamtendiensteinkommensgesetzes“ 217. In der vor Beginn der Legislaturperiode zuletzt gültigen Besoldungsordnung Preußens entsprach dies 575 RM 218. Zeitgenössisch also eine stattliche Summe und mehr als dreimal so viel wie sein Gauleitergehalt bis 1928. Bei den meisten hauptamtlich beschäftigen NSDAP-Funktionären nutzte die Partei solche Einnahmen wie Abgeordnetendiäten dazu, die Partei finanziell zu entlasten. Wenn also jemand eine Summe von (rein exemplarisch) 250 RM durch die Partei erhielt, aber als Abgeordneter zugleich eine Summe von 200 RM, wurde das Parteieinkommen um die gleiche Höhe gemindert. Es gab hierbei allerdings Ausnahmen, beispielsweise im Falle Görings 219. Auch Kaufmann war offenbar eine solche Ausnahme. Warum die Reichsleitung der Partei nicht darauf pochte, dass der finanziell ohnehin stets angeschlagene Gau Ruhr nicht die durchschnittlich 182 RM für Kaufmann einsparte, da er immerhin als Abgeordneter 575 RM erhielt, ist nicht klar. Es wird aber in den verworrenen Verhältnissen zu sehen sein, denen sich die Beziehungen zwischen Gau und Parteizentrale ausgesetzt sahen. Da Streitigkeiten hinsichtlich der Finanzfragen bestanden, könnte es sehr gut sein, dass die Parteileitung von Kaufmanns Einkommen als Gauleiter nichts wusste. Sie ging offenbar davon aus, dass er wie schon im Falle Rheinland-Nords unentgeltlich arbeitete, nur dass ab 1928 seine Abgeordnetendiäten hinzu kamen. Hierfür spricht unter anderem, dass sich der NSDAP-Reichsschatzmeister erst nach Kaufmanns
216 Vgl. PrGS/1920, S. 543–558, hier S. 548. 217 PrGS/1923, S. 358, hier ebd. 218 Vgl. PrGS/1927, S. 223–282, hier S. 257. 219 Vgl. Hubert, Peter: Uniformierter Reichstag. Die Geschichte der Pseudo-Volksvertretung 1933–1945, Düsseldorf 1992, S. 372.
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Ausscheiden aus der Gauleitung des Gaues Ruhr über die Gehaltszahlungen genau informierte, wahrscheinlich wegen der Unterschlagungen, die aufgefallen waren 220. Das Ergebnis der gesamten Finanzsituation war jedenfalls, dass Kaufmann als Gauleiter seit 1926 seine rund 182 RM im Monat bezog, während er durch das Landtagsmandat ab Mai 1928 weitere 575 RM erhielt, insgesamt also 757 RM im Monat (plus die vierstelligen Gelder, die Kaufmann von 1926 bis 1928 im Gau unterschlug). Zwar währte dieses enorme Einkommen nicht lange, da er im Juni das Gauleiteramt im Ruhrgebiet abgab. Aber gemessen an den erwähnten rund 200 RM, die während der „Goldenen Zwanziger“ der Weimarer Republik nur in wenigen Berufen überschritten wurden, verfügte Kaufmann als Abgeordneter über ungewöhnliche Summen. Kaufmann war also durch die Übernahme des Landtagsmandats in der Hierarchie der Partei noch ein Stück höher gestiegen. Zugleich profitierte er materiell enorm. Sein konkretes Handeln als Parlamentarier äußerte sich in unterschiedlichen Formen. Hierbei ist zuerst festzuhalten, dass der Anteil der Redebeiträge im Plenum 221 unter den sechs nationalsozialistischen Abgeordneten sehr erheblich schwankte. Bei der Durchsicht der Plenarprotokolle bis zu Kaufmanns Ausscheiden aus dem Landtag im Oktober 1930 ergibt sich folgendes: Kube sprach als Vorsitzender der Gruppe mit Abstand am häufigsten (47). Kerrl (9), Ley (10) und Lohse (7) hingegen sprachen relativ wenig. Haake ergriff im Plenum recht oft das Wort (24), ähnliches gilt für Kaufmann (17). Worüber sprach Kaufmann dabei? Beinahe alle Beiträge eint das Merkmal der sozialpolitischen Thematik. Teilweise waren seine Beiträge darauf abgestellt, sich kurz zu einem jeweils gerade im Plenum behandelten Themenkomplex der Sozialpolitik zu äußern. Mitunter waren dies nur wenige Sätze. Teilweise (vor allem in seinen längeren Reden) machte er auch zum Sozialismus selbst einige Aussagen und positionierte sich dabei unmissverständlich als Sozialist im nationalsozialistischen Sinne. Dies konnte mitunter auch zu einem mehrseitigen Protokoll alleine für seinen Redebeitrag führen. Für beides sollen einige Beispiele folgen. Das erste Mal ergriff Kaufmann am 14. Juni 1928 das Wort im Plenum. Inhaltlich ging es in dem Moment um einen Antrag der KPD zur Einführung des Achtstundentages für Bergarbeiter. Kaufmann meldete sich zur Debatte, erhielt vom Landtagspräsidenten das Wort, und bemerkte kurz und bündig: „Im Auftrage meiner Parteifreunde […] habe ich zu den Uranträgen der kommunistischen Fraktion unter Nr. 2 der Tagesordnung folgendes zu erklären. Meine Parteifreunde im Reichstage haben bereits im Jahre 1924 […] einen Antrag auf grundsätzliche Einführung des Achtstundentages für die Industriearbeiterschaft eingereicht. Unter Berücksichtigung der besonderen wirtschaftlichen Notlage der Berg-
220 Vgl. BA B NS 1/340, An K. Kaufmann gezahlte monatliche Beträge von August 1926 bis Juni 1928. 221 Hiermit sind ausdrücklich Redebeiträge gemeint, unabhängig davon, ob sie kurz oder lang waren, Zwischenfragen oder eigenständige Reden darstellten. Nicht gemeint sind hiermit Zwischenrufe oder Kommentare.
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arbeiterschaft und der besonders schwierigen Gesundheitsverhältnisse dieser Kategorie von Arbeitnehmern erklären wir Nationalsozialisten dieses Hauses, daß wir grundsätzlich den Anträgen der kommunistischen Fraktion unter Nr[.] 2 a und b der Tagesordnung zustimmen werden.“ 222
Aus Gründen der Interessenüberschneidung kündigte Kaufmann noch einige Male im Plenum an, Anträgen der KPD zuzustimmen 223. Dies heißt jedoch nicht, dass er nicht auch scharf gegen die KPD sprach. Anfang 1930 beispielsweise warf er den Kommunisten vor, sich nicht an ihre eigenen Grundsätze zu halten, „den Staat mit allen möglichen und unmöglichen Mitteln [zu] bekämpfen“. Konkret zählte er dabei einzelne lokale Fälle der Zusammenarbeit mit SPD und Institutionen des preußischen Staates auf 224. Auffällig ist dabei, dass seine Angriffe gegen die KPD keineswegs die Intensität erreichten, die seine Ausfälle gegen alle anderen Parteien von SPD bis DNVP kennzeichnete. Die Übereinstimmungen in mehreren Aspekten des wie auch immer jeweils definierten Sozialismus waren offenbar stark genug, um die Angriffsfläche zu vermindern. Wichtig ist hierbei auch, dass Kaufmann selbst entweder keine Trennung von Sozialpolitik und der Ideologie des Sozialismus sah, oder aber dass er Sozialpolitik für einen Hauptaspekt des Sozialismus betrachtete. Möglich ist also, dass er andere wesentliche Aspekte eines Sozialismus gleich welcher Prägung für weniger vorrangig hielt. Eindeutig bestimmen lässt sich dies allerdings nicht, da er sich als Landtagsabgeordneter offenbar vollauf bewusst war, dass es hierbei um landesspezifische Themen ging. Dies legen zumindest seine Redebeiträge nahe. Die meisten Komponenten eines wie auch immer gearteten Sozialismus lagen im Kompetenzbereich der Reichsebene. Wenn Kaufmann im Landtag also von Einkommenssteuern, Arbeitsrecht, Verstaatlichungen im großen Stil oder auch einem umfassenden Umbau von Staat und Gesellschaft hätte sprechen wollen, hätte dies vielleicht einen propagandistischen Effekt gehabt. Aber tatsächliche Politik ließe sich mangels Kompetenzen auf Landesebene damit nicht umsetzen. Erst als Gauleiter und später Reichsstatthalter in Hamburg sollte erkennbar werden, das Kaufmann auch andere Komponenten des Sozialismus für wichtig erachtete und propagierte, darunter vor allem eine unmittelbare Verbesserung der Lebensumstände für sozial weniger gut Gestellte sowie eine angestrebte „Versöhnung“ von Sozialismus und Wirtschaft. Darauf wird noch ausgiebig zurückzukommen sein 225. Das, was der Landtag an Kompetenzen besaß, war hinsichtlich Kaufmanns Sozialismuskonzeption also vor allem im Bereich der Sozialpolitik angesiedelt. 222 Sitzungsberichte des Preußischen Landtags. 3. Wahlperiode. 1. Tagung: begonnen am 8. Juni 1928. 1. Band. Einberufungsverordnung Seite XIV. 1. bis 22. Sitzung (8. Juni bis 12. Dezember 1928), Berlin 1929 [o. H.], Sp. 291. 223 Exemplarisch: ebd., Sp. 874f. 224 Vgl. Sitzungsberichte des Preußischen Landtags. 3. Wahlperiode. 1. Tagung: begonnen am 8. Juni 1928. 8. Band. 122. bis 136. Sitzung (31. Januar bis 28. Februar 1930), Berlin 1930 [o. H.], Sp. 11677–11691. 225 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen in den (Unter-)Kapiteln 4.1. und 4.2.
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Da Kaufmann das Plenum des Landtags für eine entsprechend eingeengte Erläuterung des Sozialismus im nationalsozialistischen Sinne nutzte (und angesichts der geringen Anzahl an NSDAP-Abgeordneten auch ausgiebig nutzen musste), sind vor allem seine längeren Reden eine sehr anschauliche Quelle für seine Ansichten über Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Niemals davor und niemals danach, auch nicht in seinen Presseartikeln oder Reden als Reichsstatthalter, hat Kaufmann sich hinsichtlich dieser „großen Fragen“ des Zusammenlebens der Menschen detaillierter und konkreter geäußert. Deshalb soll nachfolgend näher auf exemplarische Ausschnitte der einen oder anderen längeren Rede zu und über Sozialismus und Sozialpolitik eingegangen werden. Sehr anschaulich geht Kaufmanns Position zu Sozialpolitik aus einem Redebeitrag anlässlich der Debatte über Gewerbesteuern 1929 hervor: „Die nationalsozialistische Gruppe des Preußischen Landtages lehnt die Ausdehnung der Gewerbesteuer auf die freien Berufe ab. Einmal bestimmt sie hierzu ihr Standpunkt als revolutionäre Opposition (Lachen links) gegenüber einem System, für das nur die Lösung gelten kann: Diesem System keinen Mann und keinen Groschen! Weiter lehnen wir Nationalsozialisten es grundsätzlich ab, Volksgenossen tiefer in den heutigen Steuersumpf hineinzuziehen. Solange der knechtsselige Erfüllungswahnsinn gegenüber dem Feindbund und den Bankgewaltigen Regierung und Parteien beherrscht, wirkt jede Besteuerung der Arbeit – gleichgültig, ob der Industriearbeiter, der Bauern und Landarbeiter, der Gewerbetreibenden oder der freien Berufe – wie die Tat eines armen Irren, der ein Faß ohne Boden zu füllen versucht.“ 226
Oftmals glichen Kaufmanns entsprechende Reden aber auch einem Rundumschlag gegen Unternehmer, Gewerkschaften und Sozialdemokratie. Anlässlich einer Debatte um die Entlassung von Arbeitern im Ruhrgebiet hielt er beispielsweise folgendes fest: „Wenn nun die Industriellen nicht nur den jetzigen Kampf an der Ruhr, sondern auch z. B. die Stillegung von Zechen damit begründet haben, daß das Wesentliche der Frage darin zu suchen wäre, daß diese Industrie nicht mehr exportfähig sei, daß wir aber in der deutschen Industrie auf die Exportfähigkeit angewiesen seien, dann erklären wir den Führern der Wirtschaft, daß sie es gerade gewesen sind, die mit ihren ganzen wirtschaftlichen Maßnahmen in der Nachkriegszeit, durch Annahme sämtlicher Wirtschaftsverträge [infolge des „Versailler Vertrags“], die Exportunmöglichkeit infolge Steigerung der sozialen Lasten geschaffen haben. (Sehr richtig! bei der Nat-Soz- D. A-P.)
226 Sitzungsberichte des Preußischen Landtags. 3. Wahlperiode. 1. Tagung: begonnen am 8. Juni 1928. 5. Band. 72. bis 88. Sitzung (15. April bis 16. Mai 1929), Berlin 1929 [o. H.], Sp. 5833. Die gesamte Rede befindet sich auf den Sp. 5833f.
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Wir sehen auch in diesem Fall nicht den geringsten Grund ein, eine offenbar unfähige Wirtschaftsführung dadurch zu unterstützen, daß wir zustimmen, daß die Erfolge dieser falschen Wirtschaftspolitik auf die wirtschaftlich schwächsten Schichten unseres Volkes abgeladen werden sollen. (Sehr richtig! bei der Nat-Soz- D. A-P.) Ich darf mich aber auch bei dieser Gelegenheit den Gewerkschaften zuwenden. Ich stehe selbstverständlich mit meinen Parteifreunden auf dem Standpunkt, daß bei der Entwicklung zur Konzernierung der Industrie der Zusammenschluß der Arbeitnehmer zur Abwehr der Diktate der Konzere eine Notwendigkeit ist. (Sehr richtig! bei der Nat-Soz- D. A-P.) […] Ich erkläre aber weiterhin, daß dieses System der bestehenden Gewerkschaften unter den bestehenden wirtschaftlichen Voraussetzungen niemals dazu beitragen kann, in Wirklichkeit die Lebenslage der Arbeiterschaft zu heben, (Sehr richtig! bei der Nat-Soz- D. A-P.) weil dieses Gewerkschaftssystem in diesem Wirtschaftsprinzip verurteilt ist, alle scheinbar e-reichten Lohnerhöhungen im Preisdiktat der Konzerne wiederzusehen, und weil wir feststellen, daß im Industriestaat Deutschland die Hauptmasse der Konsumenten die breite Masse ist, und daß diese Hauptmasse den Konsum aufnimmt, daß also in dem gegenwärtigen Wirtschaftssystem dieses falsche Prinzip der Gewerkschaften herbeiführt, daß die Preissteigerung der Konzerne gefördert wird und diese Preissteigerung sich letzen Endes nur auf Kosten der Arbeitnehmerschaft auswirkt. (Sehr richtig! bei der Nat-Soz- D. A-P.) […] Wir wenden uns weiter dagegen, daß die Sozialdemokratie sich jahrelang nach 1924 auf den Standpunkt gestellt hat […]: die Dawes-Gesetze und deren Annahme würden verhindern, daß Hunderttausende von Arbeitern brotlos werden. […] Wir wenden uns aber auch gegen die sogenannten bürgerlichen Parteien und sind erstaunt, mit welcher Flachheit man bestrebt ist, über diese wichtigen Fragen dauernd hinwegzugehen.“ 227
Der zitierte Beitrag ist symptomatisch für Kaufmanns Reden. Er grenzte sich und den Nationalsozialismus gegen Unternehmertum, bürgerliche Parteien, Sozialdemokratie und Gewerkschaften ab. Hierbei propagierte er einen Sozialismus nationalsozialistischer Prägung. Mit den verschiedenen Konzepten des Sozialismus, die von KPD, SPD und Teilen des Zentrums propagiert wurden, konnte er hierbei nur partielle Gemeinsamkeiten finden. Kaufmann sprach aber nicht „nur“ über die übergeordnete Metaebene von Sozialismus und Sozialpolitik. Ihm gelang es auch, das relativ komplexe Thema auf konkrete Einzelprobleme der Tagespolitik des Landes Preußen anzuwenden. Es handelte sich bei Kaufmann also nicht um einen „reinen“ Populisten, der inflationär die Begriffe „Proletarier“, „Arbeiter“ oder „Sozialismus“ benutze, sondern um einen Politiker, der eine eigene 227
Sitzungsberichte 1928, 1. Band., Sp. 1020f. Die gesamte Rede befindet sich auf den Sp. 1019– 1023.
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Vorstellung und Interpretation vom Inhalt dieser Begriffe hatte, sie also konkret anzuwenden wusste. Als Beispiel für diesen Transfer der übergeordneten Ideen und Anschauungen auf Detailfragen kann sein Redebeitrag zum Haushalt des Ministeriums für Volkswohlfahrt Anfang 1929 herangezogen werden. Aufgrund der Komplexität des Inhalts seiner Rede lohnt ein längeres Zitat: „Wenn ich mich […] jetzt intensiver mit den Krankenkassen beschäftige, so geschieht es lediglich in der Absicht, hier einige immerhin recht umfangreiche Korruptionserscheinungen auf dem Gebiete des Kassenwesens zu beleuchten. Wir sind nämlich der Auffassung, daß dieser starke und wichtigste Zweig der sozialen Versicherung nur die Aufgabe haben kann, den Versicherten ihre Existenz und ihre Lebenslage zu verbessern. Aber wir wenden uns mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die erwiesene Absicht verschiedener Spitzen innerhalb des Kassenwesens, die Kassen immer mehr zum Machtapparat einer gewissen Partei [SPD] aufzubauen (sehr wahr! Rechts) […]. Die Zahl der Versicherten betrug bereits 1926 insgesamt bei allen Kassen 20 Millionen direkt Versicherter und 20 Millionen indirekt versicherter Angehöriger […]. Daraus ergibt sich, welche gewaltige wirtschaftliche und organisatorische Bedeutung die Kassen auch in ihrer weiteren Entwicklung nach dem Krieg erreicht haben. Dabei ist es sehr interessant, festzustellen, wie stark von 1914 bis 1926, 1927 oder 1928 die Mitgliederbeiträge zu den Krankenkassen gestiegen sind, und einmal zu prüfen, was die Krankenkassen trotz dieser stark erhöhten Beiträge in der Verbesserung der Bezüge der Versicherten geleistet haben. Der jährliche Beitrag bei den Ortskrankenkassen betrug im Jahre 1914 33,40 M […]. Im Jahre 1924, also 10 Jahre später, betrug die Beitragsbelastung der Versicherten jährlich 54,90 M. (hört, hört! rechts – Widerspruch und Zurufe links) und im Jahre 1924 stieg diese Beitragssumme auf 74 M jährlich. – Wenn Sie sagen, daß diese Zahlen falsch sind, so bin ich in der Lage, Ihnen die Quelle anzugeben, aus der diese Zahlen stammen: dieses Material stammt aus dem ‚Jahrbuch der Krankenversicherung 1924‘, herausgegeben vom Hauptverband der Ortskrankenkassen, eingetragener Verein. Wenn diese Organisation falsche Zahlen angibt, dann bedauere ich das; dann liegt die Schuld aber nicht bei mir, (Zuruf im Zentr.: Sie haben sich verlesen!) sondern bei den Verfassern dieses Buches, die doch selbst das größte Interesse daran haben, keine falschen Berichte in die Welt zu setzen. […] Aber ich stehe nicht an, festzustellen, daß diese Beitragserhöhung um 120 % jedenfalls in gar keinem Verhältnis zu dem steht, was die Versicherten heute mehr als früher an Leistungen von den Krankenkassen zu erwarten haben. (Sehr richtig! bei der Nat-Soz- D. A-P.) Im Jahre 1925 betrug die Gesamteinnahme der Krankenkassen ungefähr 1 Milliarde 500 Goldmillionen. Um einmal die finanziellen Einnahmemöglichkeiten der Krankenkassen in Deutschland zu beleuchten, möchte ich dazu bemerken, daß der gesamte Notetat des preußischen Staates im Jahre 1925 ebenfalls etwa 1,5 Milliarden betrug. (hört, hört! rechts) […]
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[Wir stehen] auf dem Standpunkt, daß dieses System der Krankenkassen mit den gewaltigen herausgearbeiteten Überschüssen, die in großen kapitalistischen Transaktionen angelegt werden, die weiter dazu angelegt werden, Verwaltungsgebäude aufzurichten, die in gar keiner Weise der augenblicklichen Notlage der Bevölkerung entsprechen, die weiterhin dazu dienen, einen riesigen Beamtenapparat aufzustellen, der nach eigenen Mitteilungen auch der kommunistischen Presse den tatsächlichen Anforderungen zum Teil gar nicht entspricht […] – wir stehen auf dem Standpunkt, daß dieses System der Krankenkassen unhaltbar ist.“ 228
Mit seiner umfangreichen und zahlenreichen Kritik an der Organisation der Krankenkassen weit über die sozialpolitischen Vorstellungen von Zentrumspartei und SPD hinaus, bewegten diese sich bereits in Richtung der KPD. Dass die Krankenkassen die verwalteten finanziellen Mittel auch in Sachwerte investierten, um einem (erneuten) inflationsbedingten Wertverfall vorzubeugen, stand Kaufmanns Vorstellungen einer angemessenen Sozialversicherung offenbar weit entgegen. Daher veranschaulicht diese Rede exemplarisch, wie stark Kaufmanns Interpretation eines Sozialismus gingen, und dass er hierbei nicht oberflächlich blieb, sondern sich auch konkret mit sozialpolitischen Maßnahmen und ihren alltäglichen Auswirkungen beschäftigte. (Die Tatsache, dass seine Argumentation teilweise etwas „schief“ geraten war, zumal hinsichtlich der Vergleichbarkeit von Geldwerten der Jahre 1914 und 1924, ändert nichts an diesem Befund. Schließlich ging es in seiner Rede nicht um eine neutrale Beschreibung eines Sachzustandes, sondern um eine subjektive Anklage struktureller Probleme, konkret bezogen auf tagespolitische Einzelfragen.) Andere Themen sind in Kaufmanns Redebeiträgen weniger zu finden. Sie behandelten unter anderem folgende Fragen. In einer längeren Rede Anfang 1929 klagte er beispielsweise diverse Praktiken der preußischen Polizei an, die seiner Auffassung nach rechtswidrig oder zumindest unabgebracht seien. Diese Vorwürde reichten von unangemessenem Gewalteinsatz bis hin zu Korruption und Indiskretion gegenüber der Presse. Zugleich zog er die Polizei ins Lächerliche, indem er etwa folgendes bemerkte: „Ich komme jetzt zu einigen Verhandlungsmethoden der Kriminalpolizei und spreche da aus eigenster Erfahrung. Unter der Ära des Kriminaldirektors Römer, der zweifellos auch das Parteibuch der SPD. in der Tasche trägt, habe ich auf dem Gebiete der polizeilichen Vernehmung einige recht angenehme Erfahrungen gemacht. Herr Minister, ich möchte Sie nur bitten, daß Sie den vernehmenden Beamten der politischen Polizei, auch in Elberfeld, den freundlichen Rat erteilen, sich bei den Vernehmungen nicht gar so dämlich anzustellen, (sehr gut! bei der Nat.-Soz.- D. A.-P.) wie das in diesem Falle geschehen ist. Man hat in der Elberfelder I A [der Politischen Polizei] bei einer mit mir vorgenommenen Vernehmung versucht, mich
228 Sitzungsberichte des Preußischen Landtags. 3. Wahlperiode. 1. Tagung: begonnen am 8. Juni 1928. 3. Band. 40. bis 53. Sitzung (4. bis 27. Februar 1929), Berlin 1929 [o. H.], Sp. 4135–4137. Die gesamte Rede befindet sich auf den Sp. 4135–4141.
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dadurch zu beeinflussen, daß der Kriminalassist Dornuch, der mich dort vernommen hatte, als er wußte, daß ich in das Vernehmungszimmer hineintrat, ein Hindenburgbild aufhängte und sich ein Ordensbändchen in das Knopfloch steckte. (Zuruf bei der Nat.-Soz.- D. A.-P.: Dieser Hornochse! – Glocke des Präsidenten) […] Er glaubte nun, daß, wenn da einer sitzt, der den alten Vater Hindenburg an der Wand hängen hat und ein Ordensbändchen im Knopfloch trägt, mich das veranlassen würde, diesem republikanischen Spitzel vertrauensvoll mein Herz auszuschütten. Herr Minister, ich würde Ihnen empfehlen, Ihrem Kriminaldirektor Römer Anweisung zu geben, daß er diesen harmlosen Vierzehnender, der beförderungswütig war, von diesem Posten entfernt. (sehr gut! bei der Nat.-Soz.- D. A.-P.)“ 229
Ein anderes Themenfeld behandelte er beispielsweise in einer Rede von Anfang 1930. Die anderen rechts stehenden Parteien hatten es der NSDAP zuvor verübelt, dass ihre Reichstagsabgeordneten aus sozialpolitischer Intention für stärkere Mieterschutzgesetze gestimmt hatten. Kaufmann sah sich deshalb genötigt, dies detailliert zu erläutern. (Bei dieser Gelegenheit gelang ihm ein rhetorisch geschickter „Rundumschlag“ gegen sämtliche Parteien von KPD bis DNVP) 230. Um noch ein weiteres Beispiel zu nennen, sei auf eine Rede aus dem Frühjahr 1930 hingewiesen, in der er gegen die preußische Justiz wetterte, welche seiner Auffassung nach regelmäßig ungerecht urteilte 231. Insgesamt betrachtet waren dies aber Ausnahmen. Den Großteil seiner Plenarreden widmete Kaufmann der Sozialpolitik und der Propagierung des Sozialismus nationalsozialistischer Provenienz. Der Preußische Landtag war ein klassisches sogenanntes „Arbeitsparlament“. Im Plenum konnte öffentlichkeitswirksam auf verschiedene politische Themen eingegangen werden, aber die eigentliche „Arbeit“ im Sinne von Diskussionen über Anträge und die (Vor-)Abstimmung über diese erfolgte zumeist in den jeweiligen Fachausschüssen. Und hier lag ein zentrales Problem der geringen Anzahl von nur sechs NSDAP-Abgeordneten. Die Geschäftsordnung des Landtags bestimmte aber, dass „[a]ls Fraktion […] eine Vereinigung von mindestens 15 Abgeordneten [gilt]“ 232. Somit verblieb der NSDAP nur der Status als „Gruppe“. KPD, SPD, DDP, Zentrum, DVP, WP und DNVP bildeten aus ihren Abgeordneten reguläre Fraktionen. Vier weitere Wählergruppen, die keine Fraktionsstärke erlangt hatten (VRP, DHP, CNBL und VNB), schlossen sich zu einer „Deutschen 229 Sitzungsberichte 1929, 3. Band, Sp. 3346f. Die gesamte Rede befindet sich auf den Sp. 3341– 3350. 230 Vgl. Sitzungsberichte des Preußischen Landtags. 3. Wahlperiode. 1. Tagung: begonnen am 8. Juni 1928. 9. Band. 137. bis 154. Sitzung (1. März bis 1. April 1930), Berlin 1930 [o. H.], Sp. 12423–12427. 231 Vgl. ebd., Sp. 12787–12795. 232 Soweit § 13 Satz 1 der Geschäftsordnung in: Die Verfassung des Freistaates Preußen vom 30. November 1920. Kommentar für Wissenschaft und Praxis, 2. Aufl., Berlin 1928. Herausgegeben von Ludwig Waldecker, S. 218–242, hier S. 220.
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Fraktion“ mit 16 Abgeordneten zusammen. Die NSDAP wollte diesen Weg nicht gehen 234. Diese strikte Entscheidung hatte handfeste Nachteile. Der Landtag bildete neben dem Ältestenrat 18 Ausschüsse. § 18 der Geschäftsordnung des Landtags bestimmte, „[d]ie Fraktionen haben nach ihrer Stärke Anspruch auf Sitze in den Ausschüssen“ 235, womit die Abgeordneten der NSDAP für die Ausschussbesetzung wegfielen. Die drei kleinsten Landtagsfraktionen der DDP, WP und der gemischten „Deutschen Fraktion“ hatten zu Beginn der Legislaturperiode in jedem Ausschuss jeweils einen eigenen Vertreter sitzen. Die NSDAP war in keinem einzigen Ausschuss vertreten 236. Da der Preußische Landtag wie erwähnt ein klassisches „Arbeitsparlament“ war, in dem die reguläre Arbeit inklusive Beratung und teilweiser Fassung von Beschlüssen in den Ausschüssen ablief, hatte die NSDAP-Gruppe also auf die Kernkompetenz der Abgeordneten keinen Zugriff. Die NSDAP-Abgeordneten konnten höchstens im Plenum frei heraus ihren Standpunkt zu einem Vorhaben vorbringen, ohne aber bei den vergleichsweise stabilen Koalitionsverhältnissen in Preußen darauf hoffen zu können, die Stimmenanzahl ihrer sechs Abgeordneten einmal ausschlaggebend in Abstimmungen einbringen zu können. Was blieb, war die signalisierte Mitwirkung im Plenum. Kaufmann war als Landtagsabgeordneter also an der Mitarbeit in den Ausschüssen gehindert. Zugleich aber profitierte er von allen positiven Nebeneffekten seines Mandats, von der Abgeordnetendiät bis hin zur Immunität. Da er aber in keinem Ausschuss mitarbeiten konnte beziehungsweise musste, konnte er seine Zeit intensiver auf die Parteiarbeit im Ruhrgebiet und ab 1929 dann in Hamburg verwenden. Zudem bedeutete die Tatsache, dass er einer der wenigen NSDAP-Parlamentarier war, einen deutlich sichtbaren Rangunterschied gegenüber anderen Parteifunktionären. Niedrigere Ränge wie Kreisleiter zogen in der Regel erst kurz vor oder nach der „Machtergreifung“ in die überregionalen Parlamente ein. Nicht zuletzt bot das Landtagsplenum für Kaufmann die Möglichkeit seine politischen Ansichten frei heraus zu äußern. Markant ist hierbei, dass er sich fast ausschließlich auf das Thema Sozialpolitik beziehungsweise Sozialismus konzentrierte. Fast ebenso markant ist, dass Kaufmann recht realpolitisch orientiert blieb. Die NSDAP konnte in Preußens Parlament noch nicht die Verantwortung übernehmen und hätte daher auch Utopisches fordern können, um damit strikt populistisch Propaganda zu betreiben. Kaufmann hingegen blieb innerhalb der Bahnen der Landespolitik statt auf Themen auszugreifen, auf die der Landtag ohnehin keinen Einfluss hatte. Obendrein bewegte er sich auch noch in sachpolitischen Themen, die der preußischen Tagespolitik zuzuordnen waren. Dies erforderte nicht nur allgemein ein entsprechendes Auseinandersetzen mit diesen Themen, sondern auch die Beschäftigung mit größtenteils wenig populären Fragen der Tagespolitik. Ähnliches sollte sich später bei der Amtsführung als Reichsstatthalter in Hamburg zeigen. Kaufmann ging nicht „nur“ die großen
234 Vgl. Sammlung der Drucksachen des Preußischen Landtags (Anlagen zu den Sitzungsberichten). 3. Wahlperiode. 1. Tagung: begonnen am 8. Juni 1928. 1. Band. Drucksachen Nr. 1 bis 614, Berlin 1929 [o. H.], Sp. 28–34. 235 Verfassung Preußen, S. 221. 236 Vgl. die Listen in Sammlung Drucksachen Landtag, Sp. 44–59.
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populären Themen an, sondern behielt stets auch die kleinen Probleme im Blick. Er handelte nicht populistisch, sondern (innerhalb der Möglichkeiten der NSDAP-Gruppe) realpolitisch.
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Weg zum und Wirken als „absolutistischer“ „Führer Hamburgs“
Abb. 4: Porträtbild im „Führerlexikon“ 1.
1 Das Deutsche Führerlexikon. 1934/1935, Berlin 1934 [o. H.], S. 224.
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3. Weiterer Aufstieg im „roten Hamburg“
3.1. Professionalisierung bis zur Perfektion: Gauleiter des Gaues Hamburg (1929–1945) „Die Tätigkeit der Politischen Leiter richtete sich nach ihrem Amt. Es gab Politische Leiter, die rein fachlich ausgerichtet waren, und es gab Politische Leiter, die mehr politische Führungsaufgaben hatten. Die Aufgabe vor der Machtübernahme bestand wie bei jeder Partei im wesentlichen darin, für die Idee zu werben, die Partei zu organisieren und bei Wahlkämpfen in der Bevölkerung Stimmen für den Erfolg der Partei zu werben. Nach der Machtübernahme bestand die wesentliche Tätigkeit der Politischen Leiter zunächst in der sozialen Betreuung der Bevölkerung und in der Verwirklichung gestellter sozialer Ziele, daneben in Organisationsfragen, Schulungsaufgaben und Propagandafragen. Im Kriege wurden diese Aufgaben durch die Tatsachen des Krieges bestimmt und zu den sozialen Aufgaben des Friedens kamen die großen Betreuungsaufgaben, die der Krieg und seine Ereignisse bedingten.“ 1
Soweit äußerte sich Kaufmann als Zeuge im „Nürnberger Prozess“ 1946, als er nach der „allgemeine[n] praktische[n] Tätigkeit der Politischen Leiter“ 2 gefragt wurde. Wie zu sehen sein wird, stimmte diese allgemein formulierte Aussage Kaufmanns zwar auf dessen eigene Amtsführung bis zur „Machterergreifung“ 1933 zu. Auf die Zeit danach bezogen agierte er aber anders als der Großteil der Gauleiter. Dies sollte ein besonderes Merkmal von Kaufmanns Herrschaft in Hamburg werden. Es ist aber zuerst zu erläutern, wie sich Kaufmanns Amtsübernahme überhaupt gestaltete. Wie gezeigt, war er im Ruhrgebiet vergleichsweise tief gefallen. Während seine Kontrahenten vor Ort befördert (Terboven und Josef Wagner) oder wegbefördert (Koch) wurden, war er als einziger seines wichtigsten Amtes verlustig gegangen. Er blieb zwar (vorerst) noch Landtagsabgeordneter, aber seine politische Karriere stand nahe am Abgrund. Einen Wechsel aus der hauptamtlichen Politik heraus wäre für ihn schwierig gewesen, aber nicht unmöglich. Trotzdem versuchte er dies nicht einmal, sondern legte es weiterhin auf die Politik an. Bis zum Ende der Legislaturperiode blieben ihm noch vier Jahre. Bis dahin würde er vielleicht neue Chancen erhalten. Und tatsächlich sollte er eine bekommen. Der Gau Hamburg war organisatorisch betrachtet völlig zerrüttet. Dies wird nachfolgend noch genauer dargestellt. Wichtig ist vorab, dass Hamburg gar keinen eigenen Gauleiter mehr besaß und vom Nachbargau aus (zumindest auf dem Papier) kommissarisch verwaltet wurde. Der dortige Gauleiter Lohse war den Gau Hamburg aber leid. Und auch der Reichsorganisationsleiter Gregor 1 Prozeß Nürnberg, Bd. XX, S. 33. 2 Ebd.
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Strasser sah die Verworrenheit Hamburgs kritisch. Lohse brachte Kaufmann als potentiellen Gauleiter Hamburgs ins Spiel, Strasser fragte schließlich hochoffiziell bei diesem an, ob „Sie […] in der Lage und gewillt sind, den Gau Hamburg [zum 1. April] zu übernehmen“ 3 und erhielt ein deutliches und erwartbares „Ja“ zur Antwort. Als Kaufmann die Verantwortung für den Gau Hamburg übertragen erhielt, bekam er nach seiner jahrelangen und trotz aller Personalquerelen grundsätzlich erfolgreichen Aufbauarbeit im Rheinland „einen schönen Stall auszumisten“, wie sein Freund Goebbels es am 18. April anlässlich dessen Ernennung in seinem Tagebuch bezeichnete (nicht ohne den Zusatz versehen, er „fürchte, daß es ihm nicht gelingen wird.“) 4. Tatsächlich war die Situation im Gau Hamburg 1929 völlig verworren. Gauleitung und Parteibasis standen sich in Hamburg in etlichen Konfrontationspunkten gegenüber. Grob formuliert herrschten unter dem früheren Gauleiter Josef Klant gleichzeitig ein Generationenkonflikt, eine Meinungsverschiedenheit hinsichtlich der Ausrichtung auf Hitler und dann auch noch allgemeine Unzufriedenheit über die Amtsführung des Gauleiters vor 5. Für die erste Hälfte der 1920er Jahre eigentlich nichts untypisches, nur dass die Lage in Hamburg durch die Zuspitzung dieser Einzelprobleme ein besonders schwerer Fall war. 1926 wurde der Gauverband durch die Parteileitung aufgelöst und zu einer Ortsgruppe umgewandelt. Neuer Ortsgruppenleiter wurde der schon an anderer Stelle erwähnte Krebs. Krebs leistete in den folgenden zwei Jahren Arbeit von grundlegender Bedeutung. Es gelang ihm nicht nur, einige Mitglieder zu werben (die Gesamtzahl ging zu seiner Zeit aber immer noch nicht über einen niedrigen dreistelligen Bereich hinaus) 6, sondern auch in die Parteipresse einzusteigen. Ab Anfang Februar konnte einmal wöchentlich das „Hamburger Volksblatt“ erscheinen. Die Aufbauarbeit zahlte sich langsam aus: 1928 wurde die Ortsgruppe wieder zum Gauverband hochgestuft. Aufgrund von Differenzen mit München über das Vorgehen der NSDAP im gewerkschaftlichen Bereich (Krebs galt als Vertreter des sozialistischen Parteiflügels und hatte in der NS-nahen Gewerkschaft NSBO im Gau Hamburg eine eigene „Hausmacht“) trat Krebs als Gauleiter noch 1928 zurück. Während der Zeit der kommissarischen Leitung des Gaues durch den Nachbargau und den stellvertretenden Hamburger Gauleiter trat zum „Hamburger Volksblatt“ noch eine weitere nationalsozialistisch ausgerichtete Wochenzeitschrift hinzu. Geleitet wurde sie ausgerechnet von Krebs, stand rechtlich außerhalb der Partei und erschien als „Hansische Warte“ 7. Eine für die späten 1920er Jahre einmalige Kampfansage und Konkurrenzsituation in den Gauen. Soweit also zur Situation, auf die Kaufmann im April 1929 traf. Es handelte sich um einen kleinen Gau, der ähnlich „einfach“ geführt wurde wie die meisten Gaue in dieser Phase der NSDAP-Geschichte. Der Gau war kaum durchorganisiert, es gab zwei parallele
3 BA B NS 22/1052, Schreiben vom 27. März 1929. 4 Goebbels: Tagebücher, Bd. 1, S. 369. 5 Vgl. Krause, Thomas: Hamburg wird braun. Der Aufstieg der NSDAP 1921–1933, Hamburg 1987, S. 76f. 6 Vgl. ebd., S. 84–95. 7 Vgl. Höffkes: Generale, S. 191f.
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nationalsozialistische Zeitschriften, eine in (erfolgreichen) Rebellionen erfahrene Basis, sowie einen ehemaligen Gauleiter Krebs, der mit seiner Angestelltenorganisation und der „Hansischen Warte“ enormen Einfluss besaß. Dies alles muss zudem noch vor dem Hintergrund der Handelsstadt Hamburg gesehen werden, deren Führungsschichten liberal geprägt waren und deren starke Arbeiterschaft für die Parteien KPD und SPD regelmäßig 40 bis 60 Prozent der Stimmen bedeutete. Kaufmann versuchte zu Beginn seines neuen Amtes erst einmal, sich einen Übe-blick im chaotischen Gau zu verschaffen und dann einen Plan zu erarbeiten, wie der „Scherbenhaufen“ aufgekehrt und zu einer effizienten Parteiorganisation verwandelt werden könnte. Gegenüber Gregor Strasser als Reichsorganisationsleiter, der genau daran interessiert war, breitete er nach wenigen Monaten seine bis dahin verfolgten Ansätze schriftlich aus (und kündigte weitere Informationen für eine kommende mündliche Besprechung an, was er aber „aus bestimmten Gründen […] diesem Schreiben nicht anvertrauen kann“ 8, offenbar wegen der zerstrittenen Rivalitäten in Hamburg): „Inzwischen ist es mir mit sehr viel Mühe gelungen, einen endgültigen Status des Gaues wie auch der Gauzeitung aufzustellen. Die hierbei festgestellten Ergebnisse allerdings sind geradezu verheerend. Vor allen Dingen die Zeitungsfrage macht mir grosse Sorge. Durch intensives Werben und auch Zusammenlegen der beiden Blätter ist es mir gelungen, den Etat des Gaublattes auszugleichen. Die Schuldenlast, die hier ins Gewicht fällt, resultiert einerseits aus der katastrophalen Verlotterung der Organisation vor dem 1. Mai d. J. und andererseits aus der beispiellos nachlässigen Geschäftsführung unter der Aera Krebs, [und] deren Fortsetzung in dem s. Z. eingerichteten, von mir bereits im Mai aufgelösten Buchladen Dovenfleth. Hinzu kommt weiterhin erschwerend für die Finanzlage des Gaues, dass die Hansische Warte in den ersten Monaten ihrer Existenz ausserordentliche Zubussen bezw. Schulden an Lieferanten usw. mit sich gebracht hat.“ 9
Tatsächlich war die Lage sehr verworren. Ein einfaches Beispiel soll das illustrieren: Selbst die NSDAP-Abgeordneten in der Hamburgischen Bürgerschaft als dem dortigen Landesparlament mussten erst von der Reichsleitung der Partei nachdrücklichst schriftlich aufgefordert werden, sich mit ihrer Gauleitung zu besprechen, statt immer eigenständig zu agieren 10. Erst nach und nach gelang es Kaufmann, Gauleitung, Bürgerschaftsabgeordnete und Parteipresse unter seiner Ägide zu ordnen, zu einigen und zur Loyalität zu verpflichten. Durchweg beliebt machte er sich damit offenbar nicht. Diverse an München herangetragene Informationen mit gegen Kaufmann gerichteter Spitze führten dazu, dass er dem Reichsorganisationsleiter im Dezember 1930 einen längeren „Re-
8 BA B NS 22/1052, Schreiben vom 4. September 1929. Hervorhebungen im Original. 9 Ebd. 10 Ebd., Schreiben vom 18. November 1929.
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chenschaftsbericht“ aufsetzte, denn „mich [haben] die Erfahrung und das gezahlte Lehrgeld im Ruhrgebiet vorsichtig gemacht.“ 11 Er führte hinsichtlich der Organisationsarbeit im Gau unter anderem folgendes aus: „Ich habe im Mai 1929 als Nachfolger des kommissarischen Gauleiters Lohse den Gau Hamburg übernommen. Es scheint der Reichsleitung nicht genügend bekannt zu sein, was ich damals tatsächlich hier in Hamburg vorgefunden habe. Nicht 400 Mitglieder zahlten Beiträge, eine Unterorganisation des Stadtgaues war überhaupt nicht vorhanden, die Parteigenossenschaft, in 2 Lager zerspalten, scheute auch nicht in der Öffentlichkeit vor gegenseitigen Gewalttaten zurück. 2 Zeitungen, die beide nicht leben konnten – aber auch freiwillig nicht sterben wollten und sich ebenfalls gegenseitig befehdeten – vegetierten unter der Behauptung, nationalsozialistisch zu sein. Der damalige Gauleiter [Lohse], der den Gau 3/4 Jahr verwaltet hat, hat mir selbst erklärt, dass er in dieser ganzen Zeit die Hamburger Geschäftsstelle niemals betreten habe. – Die ersten Wochen meiner Tätigkeit waren damit angefüllt, die Anwürfe zu hören, die Leute kennen zu lernen, um allmählich ein Bild über die hiesigen Verhältnisse zu gewinnen. Bei dieser Gelegenheit stellte ich eine Schuldenlast von Mk. 21.800.–– fest, die durch eine Luderwirtschaft unerhörtester Art entstanden war. Im Herbst 1929 kam zu allem Unheil hinzu, dass der vorhandene, von mir zunächst übernommene Geschäftsführer Hüttmann in einem Prozess vor dem Gericht einer ganzen Anzahl ehrenrühriger Vorstrafen bezichtigt wurde. Auch die Böckenhauer[SA-]Opposition hat mir damals sehr viel zu schaffen gemacht. So habe ich mit meinen Mitarbeitern in langsamer, ruhiger Aufbauarbeit Stück für Stück diese unerhörten Miss[s]tände aus dem Weg räumen müssen, ohne jeden [sic] finanziellen Mittel – unsere Versammlungskassen wurden uns monatelang vom Gerichtsvollzieher gepfändet – haben wir uns mühselig durch unablässige Arbeit eine Organisation geschaffen. – Nach heftigen Kämpfen und Verhandlungen gelang es mir endlich, die beiden sich befehdenden Zeitungen zu vereinigen; mit den Gläubigern schloss ich einen Vergleich ab, damit unsere Versammlungstätigkeit fortgesetzt werden konnte. Hüttmann wurde entfernt und im Laufe der letzten 1 1/2 Jahre eine Grosstadt-Organisation der Partei hier aufgebaut, die sich nach meiner bescheidenen Auffassung vor keiner des Reiches zu schämen braucht. Ein einiger, geschlossener Funktionärskörper bildet heute das unerschütterliche Rückgrat der Bewegung hier in Hamburg. Nicht weniger als 5–800 Mk. Schuldentildung monatlich haben wir bei der unerhörten finanziellen Anspannung des Gaues auf uns nehmen müssen. […] Auch das Verhältnis zur S.A. ist hier das denkbar beste. Den Reichs-Uschla – auch das dürfte als günstiges Zeichen gelten – haben wir in der ganzen Zeit kaum in Anspruch genommen. Die Propagandatätigkeit […] ist mit den vorhandenen Kräften und den beschränkten Mitteln überhaupt nicht mehr zu steigern. Bezirke, Sektionen, Stützpunkte, Betriebszellen, Fachgruppen, arbeiten reibungslos und mit allerbestem Erfolge.“ 12
11 Ebd., Schreiben vom 13. Dezember 1930. 12 Ebd. Hervorhebungen im Original.
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Zwar war Kaufmann zwangsläufig daran gelegen, die Situation vor und nach seinem Amtsantritt besonders drastig voneinander zu scheiden. Aber alle anderen Quellen und die Forschung bestätigen im Wesentlichen seine zitierten Angaben. Und so wenig Unterlagen aus dem Gau Hamburg den Krieg überlebt haben, so deutlich ist trotzdem Kaufmanns Einfluss nachvollziehbar. Innerhalb weniger Jahre gelang es ihm, die Partei hochgradig zu professionalisieren. Im Juni 1929 ging das „Hamburger Volksblatt“ in der „Hansischen Warte“ auf, welche zugleich den parteiamtlichen Charakter des ersteren erhielt. Ab Anfang 1931 erschien sie nicht mehr als Wochen-, sondern als Tageszeitung namens „Hamburger Tageblatt“. Schriftleiter war beziehungsweise wurde Krebs. Das „Presseproblem“ war für Kaufmann erledigt, das potentielle (potentiell, da Kaufmanns Einbindung von Krebs und die Übereinstimmung im Sozialistischen den machtpolitischen Konflikt überdeckte) „Albert-Krebs-Problem“, das bei der immerhin ganze 30 000 Exemplare absetzenden Zeitung immer noch bestand, löste sich Ende 1932 ohne Kaufmanns Zutun. Krebs hatte zu einem für Hitlers Vorgehen auf Reichsebene äußerst ungünstigen Augenblick den Reichskanzler Kurt von Schleicher in einem Artikel kritisiert und vor einer eventuellen Zusammenarbeit mit diesem gewarnt. Krebs wurde persönlich von Hitler hierfür bestraft, indem er aus der Partei ausgeschlossen wurde 13. Neuer Schriftleiter wurde Hans Jacob, später Hermann Okraß 14. Kaufmann konnte sich auf diese vollkommen verlassen. Eine Besonderheit der hamburgischen „NS-Presse“ sei hier noch erwähnt, auch weil sie zu Kaufmanns Herrschaftsstil der Integration passt. Anders als in den meisten Gauen konnten sich relativ viele Zeitschriften und Zeitungen auch im Hamburg des „Dritten Reiches“ noch halten, wenngleich sie keineswegs freie Berichterstattung ausüben konnten. Dass vergleichsweise viele Presseerzeugnisse nach 1933 weiter erscheinen durften lag nur zu kleinen Teilen an der Rücksichtnahme auf deren Leserschaft. Vor allem die ungewöhnlich starke „Selbstgleichschaltung“ ist hier als Grund anzusehen, von der Illus13 Vgl. zur Entwicklung des „Hamburger Tageblatts“ Führer, Karl Christian: Medienmetropole Hamburg. Mediale Öffentlichkeiten 1930–1960, Hamburg 2008, S. 288– 291 und S. 339. 14 Okraß sollte nach 1933 eine ganz besondere Rolle erhalten, weil er publizistisch auch außerhalb der Parteipresse aktiv war. So verfasste er mehrere auf Spannung und ein breites Publikum angelegte Bücher über den Aufstieg der NSDAP in Hamburg. Diese waren sehr subjektiv (trotz des ihn gewährten direkten Zugangs zum Gauarchiv) und spiegelten vor allem die später erwünschte Sichtweise auf die „Kampfzeit“ wider. Über Kaufmanns Amtsübernahme in Hamburg vermerkte er beispielsweise: „Endlich! Der Mann ist da. Sie wissen genug von ihm, sie kennen ihn aus seinen Reden in Hamburg als Abgeordneter. Sie kennen seine Arbeit aus dem Ruhrgau. Aus dem Handbuch zum Landtag wissen sie auch die Daten aus seinem Leben. Bei der HitlerGeburtstagsfeier im Zirkus Busch spricht der neue Gauleiter zum ersten Male. Nach ihm sprechen Epp und [Gregor] Strasser. […] Der neue Gauleiter packt fest zu im Gau.“ Okraß, Hermann: „Hamburg bleibt rot“. Das Ende einer Parole, Hamburg 1934, S. 174. Zu Okraß selbst, der nach dem Krieg nicht mehr publizieren durfte, aber ein Pressebüro leitete, vgl. Sonntag, Christian: Medienkarrieren. Biografische Studien über Hamburger Nachkriegsjournalisten. 1946–1949, München 2006, S. 255f.
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trierten bis hin zur rechtskonservativen Presse. Der Weltkrieg verringerte zwar das Angebot. Aber sogar an Tageszeitungen konnten bis 1944 noch drei verschiedene erscheinen, davon nur eine von der NSDAP. 1944 wurde aus diesen dreien schließlich eine „Kriegsgemeinschaft“ in Form der „Hamburger Zeitung“ geformt, in der die NS-Seite dominierte 15. Dies war wie erwähnt ungewöhnlich, aber eben kennzeichnend für Kaufmanns Politik der Einbindung. In Kaufmanns Zeit als Gauleiter in Hamburg fiel auch der Fall von Otto Strasser. Otto Strasser besaß weder die Macht noch das dezidierte Programm (welches er später modifizierte) seines Bruders Gregor, kann aber dennoch problemlos dem „Strasser-Kreis“ zugerechnet werden. Während die anderen Angehörigen indessen nach der Auflösung der Arbeitsgemeinschaft 1926 ihre Konzeption eines nationalen Sozialismus ausschließlich innerhalb der aufgezeigten Grenzen propagierten und vorantrieben, ging Otto Strasser einen Schritt weiter. Damit ging er für Hitler einen Schritt zu weit. Dass es hierbei nicht „nur“ um eine Gratwanderung in der Frage nach Nationalisierung oder Sozialisierung von Privateigentum ging, macht Hitlers Reaktion deutlich. Offenbar ging es primär darum, dass Otto Strasser sich nicht wie sein Bruder zu einer Unterwerfung unter Hitlers Willen bereit fand. Den Verlag Strassers, über den etliche Schriften des linken Parteiflügels publiziert wurden, wollte Hitler beispielsweise aufkaufen, nicht zuletzt um die Eigenständigkeit und damit (potentielle) Eigenmächtigkeit des Verlags einzuhegen. Mit Sicherheit spielte es auch eine nicht unbedeutende Rolle, dass ein „zweiter Strasser“ eventuell gefährlich werden konnte, wo doch Hitler mit Gregor Strasser schon genug Querelen hatte 16. Dass Otto Strasser weit hinter dem Organisations- und Ideentalent seines Bruders zurückstand, spielte dabei keine Rolle. Mit Otto Strassers Ausschluss wurde jedenfalls ein Schlussstrich gezogen. Dieser reagierte sehr geschickt, indem er gezielt den sozialistischen Parteiflügel ansprach, mit ihm die Partei zu verlassen und eine neue aufzubauen. Gar noch zu Beginn der „Machtergreifung“ 1933 schrieb Otto Strasser Aufrufe wie folgenden: „Jetzt ist die Zeit für Graf Reventlow, Gregor Straßer, Karl Kaufmann, für die zahllosen echten Sozialisten der NS-Betriebszellenorganisation, zu beweisen, ob es ihnen mit dem nationalen Sozialismus ernst war.“ 17
Otto Strasser gründete jedenfalls 1930 die „Kampfgemeinschaft Revolutionärer Nationalsozialisten“ (KGRNS) und die „Schwarze Front“, beide dezidiert verstanden als Konkurrenz der NSDAP, beide schließlich aber ohne Erfolg verblieben. 18. Andere führende 15 Vgl. zu der gesamten Entwicklung im Einzelnen Führer: Medienmetropole, S. 182–218 und S. 329–338. 16 Vgl. zu diesem Presseproblem der Partei beziehungsweise Hitlers Hale: Presse, S. 55f. 17 Strasser, Otto: „Der Marsch nach der Wilhelmsstraße“, SF, 4 (1933), H. 5. 18 Beide blieben sehr kleine Organisationen. Erst die „Strasser-Krise“ Ende 1932 spülte weitere Mitglieder des linken Parteiflügels hinzu. Im „Dritten Reich“ war die „Schwarze Front“ gar noch
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Sozialisten der NSDAP blieben in der Partei, von Goebbels über Kaufmann, Koch und gar Otto Strassers Bruder Gregor. Kaufmanns Vorgehen ist hierbei symptomatisch für die meisten von ihnen: In einem wütenden Rundschreiben an die „Politischen Leiter“ des Gaues (das wahrscheinlich wütendste Kaufmann-Dokument überhaupt, welches noch dadurch verstärkt wird, dass er in Ton und Wortwahl meistens eher ruhig, wenngleich streng war) schrieb er unter anderem folgendes: „In berlin [sic] haben sich unter Führung des Dr. Otto Strasser einige literarische Querköpfe zur Gauleitung und damit zur Gesamtbewegung in Opposition gestellt. […] Es handelt sich bei dieser gesamten Affäre um insgesamt 10–12 berufsmässige Stänker[,] deren Ausschluss aus der Partei bereits erfolgt ist. Die ganze Angelegenheit wäre völlig bedeutungslos, wenn diesen Gesellen nicht das Organ des Kampfverlages ‚Der National Sozialist […]‘ zur Verfügung ständ. Mit Sozialismus hat dieses disziplinwidrige, Partei- […] und Ideeschädigende Verhalten nicht das geringste zu tun. Voraussetzung zu Sozialismus und Freiheit ist Disziplin! Die Zeitung ‚[…] Der National Sozialist […]‘, deren Lektüre und Bestellung ich unter anderen Voraussetzungen empfohlen habe, ist sofort abzubestellen! Der Versuch unserer Gegner, unseren Pg. Gregor Strasser in diese Meuterei einzubeziehen, ist […] widerlegt.“ 19
Eine klare Absage an die etwas weiter links außen stehende Sozialismuskonzeption Otto Strassers 20 müsste dies allerdings nicht unbedingt bedeuten. Der wütende Ton jedenfalls war für Kaufmann ohnehin und für seine Rundschreiben besonders ungewöhnlich und insoweit einmalig. Entweder war er tatsächlich sehr wütend oder aber in panischer Angst davor, von Hitler undifferenziert mit Otto Strasser verbunden zu werden. Insofern im Widerstand aktiv, war aber einerseits wegen ihrer zahlenmäßig geringen Größe und andererseits wegen der nicht seltenen „Kontaktunfreudigkeit“ anderer Gruppen ihnen gegenüber nicht allzu erfolgreich im Werben für ihren Kurs. Vgl. grundlegend zu beiden Moreau, Patrick: Nationalsozialismus von links. Die „Kampfgemeinschaft Revolutionärer Nationalsozialisten“ und die „Schwarze Front“ Otto Straßers 1930–1935, Stuttgart 1985, S. 41–199. 19 StaHH 614-2/5, A 4, Bd. 1, Rundschreiben vom 4. Juli 1930. Hervorhebungen im Original. 20 Die Unterschiede zwischen den Positionen der Anhänger der früheren Arbeitsgemeinschaft und den zwischen 1926 und 1930 leicht nach links abgedrifteten Anschauungen Otto Strassers waren nicht allzu groß, jedenfalls nicht groß genug, um deshalb Parteiausschlüsse durchzuführen. Dies zeigt noch einmal auf, dass es 1930 nicht um Otto Strassers Sozialismus ging, wenngleich er linker war als der des Großteils des linken Parteiflügels, sondern dass es um Machtpolitik ging. Vgl. zu Otto Strassers Weiterentwicklung in ideologischer Hinsicht folgendes Werk, in dem diese Konzeption Otto Strassers passenderweise mit der des ISK, der sich zwischen KPD und SPD befand, sowie allgemein der marxistischen Theorien verglichen wird: Wannenwetsch, Stefan: Unorthodoxe Sozialisten. Zu den Sozialismuskonzeptionen der Gruppe um Otto Straßer und des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes in der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 2010.
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hatte Hitlers Strategie Erfolg. Denn die Protagonisten des linken Parteiflügels solidarisierten sich weder mit Otto Strasser, noch lehnten diese sich noch einmal unter dem Banner des nationalen Sozialismus gegen Hitler auf. Nur bei Gregor Strasser ließe sich je nach Interpretation der Ereignisse im Dezember 1932 etwas entsprechendes feststellen, wobei dies mit seinem Sturz endete. Kaufmann war jedenfalls (ob bewusst oder unbewusst) bemüht, augenblicklich im Sinne Hitlers alle Brücken der Hamburger NSDAP zu Otto Strasser abzubrechen. Für Kaufmanns Wirken als Gauleiter des Gaues Hamburg ist die „Krisenzeit“ der Hansestadt von ganz besonderer Bedeutung. Denn in Hamburg trafen mehrere Faktoren aufeinander, welche die dortige Wirtschafts- und Staatskrise nochmals erheblich verschärften. Hamburg war bis zur Revolution 1918/1919 politisch von bürgerlichen Parteien geführt worden. Mit dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht aber, dass den Massen an Hafen- und Lagerarbeitern in der Hansestadt bis dahin größtenteils verwehrt geblieben war, wählten regelmäßig zwischen 46 Prozent (schlechtestes Ergebnis von 1932) 21 und 59 Prozent (bestes Ergebnis von 1919) MSPD/USPD und KPD 22. Eine Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten gestaltete sich aber nicht nur wegen des Demokratiedefizits der KPD als schwierig bis unmöglich. Denn einerseits war die Hamburger SPD (verglichen mit anderen SPD-Landesverbänden) wenig bis gar nicht bereit mit einer nicht-demokratischen Partei zusammenzuarbeiten, und andererseits war der von der KPD angeführte „Hamburger Aufstand“ von 1923 bis in das „Dritte Reich“ hinein für die Hamburger eine Art „Schreckgespenst“ 23. Die SPD jedenfalls teilte sich die Regierungsverantwortung stets mit der bürgerlichen Partei DDP/DStP und gelegentlich zusätzlich mit der DVP, welche in Hamburg bis 1931/1932 weniger weit rechts stand als im Großteil des Reiches. (Das Zentrum existierte mangels Katholiken in Hamburg nur als Splitterpartei.) 24 Diese Konstellation hatte grundsätzlich Bestand bis zur Weltwirtschaftskrise. Hier trafen nun ab Ende 1929 zwei Umstände zusammen, die Hamburgs Staat bereits weit vor dem Beginn des „Dritten Reiches“ erschüttern sollten. Als außenhandelsorientierte Hafenstadt wurde Hamburg wesentlich stärker von Wirtschaftskrise und Erwerbslosigkeit getroffen als Großstädte im Landesinneren. Hierauf wird noch in einem anderen Zusammenhang detaillierter zurückzukommen sein 25 (im Übrigen ökonomisch
21 Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich. Einundfünfzigster Jahrgang 1932, Berlin 1932. Herausgegeben vom Statistischen Reichsamt, S. 544f. 22 Statistische Mitteilungen über den hamburgischen Staat, Bd. 8, Hamburg 1919. Herausgegeben von Sköllin, S. 51. 23 Vgl. zum „Hamburger Aufstand“ der KPD nach wie vor grundlegend Voß, Angelika: Der „Hamburger Aufstand“ im Oktober 1923, in: Voß, Angelika/Büttner, Ursula/Weber, Hermann (Hrsg.): Vom Hamburger Aufstand zur politischen Isolierung. Kommunistische Politik 1923–1933 in Hamburg und im Deutschen Reich, Hamburg 1983, S. 9–54. 24 Zur Charakterisierung der besagten Parteien im Hamburg der Weimarer Zeit vgl. Büttner, Ursula: Politische Gerechtigkeit und sozialer Geist. Hamburg zur Zeit der Weimarer Republik, Hamburg 1985, S. 47–62. 25 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen in den Unterkapiteln 4.1. und 4.2.
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eine Entwicklung, die sich erst in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs wieder umkehren sollte, da das „Dritte Reich“ mit seinem Autonomiestreben den hamburgischen Außenhandel auch nach der Erholung der deutschen Wirtschaft 1933 bis 1935 stocken und im Krieg schließlich erstarren ließ. Im Krieg selbst richtete Hamburg deshalb sein wirtschaftliches Augenmerk wie viele andere Städte auf Ost- und Südosteuropa). Während also das Protestpotential und der Unmut zunahmen, erhielt auch die NSDAP einen ungekannten Aufschwung. Das besondere an der Situation in Hamburg war nun, dass bereits mit der ersten Bürgerschaftswahl nach Beginn der Wirtschaftskrise eine politische Konstellation entstand, die für zwei Jahre zu einer „Hängepartie“ führte. Bei der Bürgerschaftswahl vom September 1931 war die Hamburger NSDAP inzwischen vielfältig effizienter aufgestellt. Die gesamte Hansestadt wurde mit einem Wahlkampf überzogen, der jeden Stadtteil mit Versammlungen versah, vom großbürgerlichen Harvesthude bis hin zu den „roten“ Arbeitervierteln. Selbst Hitler trat auf, Spenden wurden gesammelt, SPD und KPD versucht, den Sozialismus abspenstig zu machen. Ein solch umfassender Wahlkampf mit weit verbreiteter Parteipresse, vielen eigenen Lokalen und Tausenden Helfern wäre vor Kaufmanns Aufbauarbeit in der zuvor noch völlig zerrütteten und soeben erst wieder zum Gau erhobenen NSDAP Hamburg nicht möglich gewesen 26. Finanziell war der Gau aber trotz langsamer Erholung und Konsolidierung durch den Wahlkampf völlig ausgelaugt 27, doch das Ergebnis war deutlich: Die NSDAP errang 26,25 Prozent der Stimmen, vor allem, aber nicht nur, auf Kosten der Parteien von DStP (die in Hamburg fast völlig der DDP entsprach) bis DNVP. Damit landeten die Nationalsozialisten knapp hinter den 27,81 Prozent der SPD 28. Ein solch überdeutlicher „Überraschungssieg“ wurde bis dahin auf Landesebene lediglich in Bremen 29 und Oldenburg 30 errungen. Ende 1931 und im Laufe des Jahres 1932 setzte sich dies in beinahe allen Ländern des Reiches fort. Für die SPD-DStP-DVP-Koalition bedeutete dies, dass sie fortan von 160 Bürgerschaftsabgeordneten nur noch 67 stellen würde. Selbst unter Zuhilfenahme aller anderen Abgeordneten jenseits von Kommunisten und Nationalsozialisten in Form von DNVP (9), Zentrum (2) und WP (2) hätte noch mindestens eines der beiden Splittermandate überzeugt werden müssen, um zumindest eine Einstimmenmehrheit zu erlangen.
26 Vgl. zum Wahlkampf der NSDAP Paschen, Joachim: Hamburg zwischen Hindenburg und Hitler. Die nationalsozialistische Machteroberung in einer roten Festung, Bremen 2013, S. 134–151. 27 Der Propagandaabteilung des Gaues konnte noch nicht einmal zusätzliches Geld für den Wahlkampf zur Verfügung gestellt werden, sodass die regulären Finanzmittel genutzt werden mussten. Vgl. StaHH 614-2/5, A 4, Bd. 1, Rundschreiben vom 25. Mai 1931. 28 Vgl. zu den Ergebnissen Aus Hamburgs Verwaltung und Wirtschaft. Monatsschrift des Statistischen Amts der Hansestadt, Bd. 8, Hamburg 1931. Herausgegeben vom Statistischen Landesamt, S. 241. 29 Im November 1930 wurde die NSDAP zweitstärkte mit 25,4, die SPD blieb stärkste Kraft mit 30,96 Prozent. Vgl. Jahrbuch 1932, S. 544f. 30 Im Mai 1931 wurde die NSDAP stärkste mit 37,23, die SPD zweitstärkste Kraft mit 20,9 Prozent Vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich. Fünfzigster Jahrgang 1931, Berlin 1931. Herausgegeben vom Statistischen Reichsamt, S. 548f.
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Rechnerisch wäre eine solche Mehrheit auch zwischen SPD (46) und KPD (35) 31 möglich gewesen, ebenso wie eine Koalition zwischen NSDAP und allen bürgerlichen Parteien inklusive beider Splittermandate. Nichts von alledem kam aber zustande. Die DNVP lehnte eine Zusammenarbeit mit der SPD ab, die liberalen Parteien eine Zusammenarbeit mit der NSDAP, und die Gespräche zwischen SPD und KPD scheiterten (und waren ohnehin mehr von Misstrauen als Konstruktivität oder gar Willen zur Zusammenarbeit geprägt). Der Senat trat in dieser parlamentarisch scheinbar ausweglosen Situation kollektiv zurück, blieb aber mangels Nachfolger geschäftsführend im Amt. Eine Notverordnung des Reiches vom Monat zuvor erlaubte es geschäftsführenden Landesregierungen, zumindest in der Finanzpolitik ohne oder gegen das Parlament zu entscheiden 32. Damit war zwar die für SPD und DStP grundlegende Demokratie in Fragen der Finanzen unterlaufen, aber die Alternative wäre ein völliger Stillstand des hamburgischen Staats gewesen. Schließlich wurden Neuwahlen greifbar. Ihre Terminierung und ihre nicht unwahrscheinliche Zwecklosigkeit (die meisten Parteien zwischen NSDAP und KPD gingen davon aus, die politischen Konstellationen würden sich kaum verschieben) zogen diesen Prozess bis in den März 1932 hinein, als die NSDAP die Neuwahl beantragte und der Antrag einstimmig angenommen wurde. Schon im April wurde gewählt, also gerade nach den Wahlerfolgen der NSDAP in zahlreichen Ländern sowie den beiden Wahlgängen bei der Reichspräsidentenwahl 33. Das Ergebnis verschob tatsächlich die Konstellationen, womit offenbar nur NSDAP und KPD gerechnet hatten: Die NSDAP wurde mit 31,23 Prozent stärkste Kraft und errang 51 von 160 Mandaten. Die SPD lag bei 49, die KPD bei 26, die DStP bei 18 Mandaten, während alle anderen Mandate zersplittert waren. Rein rechnerisch wäre ein Senat mit der für Hamburg bis 1931 tragenden Koalition nur noch unter Einbeziehung von Zentrum und DNVP möglich gewesen (81), was letztere jedoch ablehnte. WP und das einzige Splittermandat reichten als Alternative zur DNVP alleine nicht aus (75). SPD und KPD hatten in Hamburg zwar ohnehin ein gestörtes Verhältnis, hätten nunmehr aber selbst gemeinsam nur noch eine relative Mehrheit gehabt (77). Aber auch für einen NSDAP-beteiligten Senat brauchten NSDAP, DNVP und DVP die DStP (81), da die Alternative der kleineren Parteien zur DStP keine Mehrheit ergab (67) 34. Eine NSDAP-DNVP-DVP-DStP-Koalition war also die einzige parteipolitisch mögliche Mehrheitskonstellation. Dafür lag es nunmehr an den liberalen Parteien, da die DNVP hierzu bereit war. Die DVP war offen dafür, die DStP aber dagegen 35. Die „Hängepartie“ ging also bis zur „Machtergreifung“ unentwegt weiter. 31 Vgl. detailliert Verwaltung 1931, S. 241f. 32 Vgl. Büttner, Ursula: Hamburg 1932: Rettung der Republik oder Systemzerstörung?, in: Büttner, Ursula/ Jochmann, Werner (Hsrg.): Zwischen Demokratie und Diktatur. Nationalsozialistische Machtaneignung in Hamburg – Tendenzen und Reaktionen in Europa, Hamburg 1984, S. 41–65, hier S. 41f. 33 Vgl. Paschen: Hamburg, S. 152–170. 34 Vgl. zu den Wahlergebnissen Jahrbuch 1932, S. 544f. 35 Vgl. Büttner: Rettung, S. 42f.
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Die „Machtergreifung“ in Hamburg erfolgte in einer gestreckten Form mit mehreren Höhepunkten. Entscheidend waren hierbei die ersten Reaktionen auf Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar in Berlin, die „erzwungen-freiwillige“ Umgestaltung des Senats im Februar und März, die „Gleichschaltung“ der Bürgerschaft im April, und die Einsetzung eines Reichsstatthalters im Mai 36. Wenn von den zuvor auf parlamentarischem Wege errungenen Regierungsführungen in diversen Ländern wie Oldenburg abgesehen wird, verlief nirgendwo sonst im Reich der „Machteroberungsprozess“ zeitlich so lang gedehnt wie im Hamburg. Dies ist vor allem auf die spezifische innenpolitische Lage in der Hansestadt zurückzuführen. Die Senatsumbildung ist ein besonderes Beispiel für die neu gewachsene Macht Kaufmanns als oberster Nationalsozialist in Hamburg (die „Machtergreifung“ in Hamburg wird noch detailliert im Unterkapitel zu Kaufmann als Reichsstatthalter erläutert, da es chronologisch angemessener ist und da der gesamte „Machtergreifungsprozess“ in der Hansestadt eng mit der Frage nach einem eventuellen Reichsstatthalter verwoben war 37. Es sei hier nur anhand Kaufmanns Handeln als Gauleiter kurz Weimars Ende gegenüber der immer mächtiger werdenden Partei illustriert). Rechtlich betrachtet hatte Kaufmann als Gauleiter keine Handhabe, eine Senatsliste vorzubereiten, die dann der Bürgerschaft vorgelegt werden sollte, schließlich war er zu diesem Zeitpunkt „nur“ Gauleiter und noch nicht Reichsstatthalter. Es könnte hierbei allenfalls darauf verwiesen werden, dass er als Parteivorsitzender der NSDAP im Hamburg die Personalpolitik mitbestimmen müsste, nachdem DStP und DVP unter dem Eindruck der Geschehnisse im Reich ihre Bereitschaft zum Zusammengehen mit DNVP und NSDAP signalisierten. Zudem schien sich Kaufmann sehr siegessicher zu sein. Die Wahl durch die Bürgerschaft erfolgte zwar erst Anfang März, aber die Vorbereitungen liefen bereits ab dem 3. Februar, nachdem Kaufmann gerade aus Berlin zurückgekehrt war. Nur vier Tage nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler war er also davon überzeugt, nun in Hamburg legal die Macht für die NSDAP erringen zu können. Emil Helfferich beispielsweise, Mitglied im „Keppler-“ und „Himmlerkreis“, später auch Ratsherr und Staatsrat im nationalsozialistischen Hamburg 38, und immerhin bis zu Kaufmanns Tod einer seiner Freunde 39, war 36 Die einzelnen Stationen wurden treffend als „Abdankung“, „Machtwechsel“ und „Unterwerfung“ bezeichnet. Den Gesamtprozess hat dargestellt Paschen: Hamburg, S. 218–276. 37 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen im Unterkapitel 4.1. 38 Helfferichs Leben ist noch unerforscht. Einen Kurzüberblick bietet Klee: Wer, S. 242. 39 Helfferich bezeichnete die Beziehung zu Kaufmann, den er erst 1933 persönlich kennenlernte, nach Anfangsschwierigkeiten wegen beider Machtpositionen und des mehr als zwanzigjährigen Altersunterschieds als eine Freundschaft, „die auch heute noch [1969] besteht“. Noch im gleichen Jahr verstarb Kaufmann überraschend. In seinem Buch würdigte Helfferich ihn unter anderem mit den Worten: „Sein Beschluß, Hamburg nicht zu verteidigen, und seine männliche, klare Haltung vor den Richtern in Nürnberg prägen für immer sein Charakterbild.“ Helfferich, Emil: 1932–1946. Tatsachen. Ein Beitrag zur Wahrheitsfindung, Jever 1969, S. 49. Hinsichtlich seiner Qualitäten als Gauleiter schrieb er über ihn: „Der beste Gauleiter Deutschlands war ohne
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am Beginn der Senatsvorbereitungen am 3. Februar beteiligt und schrieb hierüber folgendes: „Am 3. Februar gegen 11 Uhr abends telephonierte mir Herr Ahrens und bat mich im Auftrage Krogmanns dringend, sofort in die Gaststätten am Hauptbahnhof zu kommen. Wichtige Angelegenheit. Dort traf ich Ahrens und Krogmann an, beide über eine Graphik gebeugt, die bei näherem Zusehen die Gliederung des künftigen Senats darstellte. Es handelte sich um die Neukonstituierung der Hamburgischen Regierung. Der Gauleiter und Alfred Richter, der präsumptive Polizeisenator, hatten schon vorher, von Berlin kommend, mit Krogmann und Ahrens konferiert und waren kurz vor meinem Eintreffen weggegangen. Ahrens setzte mich ins Bild und eröffnete mir, daß Krogmann von der NSDAP als Bürgermeister von Hamburg vorgeschlagen werden sollte, es sei eine sofortige Entscheidung nötig. Krogmann wollte dazu aber erst meine Ansicht hören. Ich habe keinen Augenblick geschwankt. Im Hinblick auf gewisse Strömungen in der Partei, aber auch aus traditionellen und persönlichen Gründen, erschien mir die Wahl Krogmanns, der einer angesehenen Hamburger Honoratiorenfamilie entstammte, als sehr glücklich. […] Krogmann zögerte. Ihm war das Anerbieten ebenso überraschend gekommen wie mir, und er wollte sich mit seiner Frau besprechen. […] So fuhren wir denn zu dreien zu ‚Krogmanns‘, und dort im zweiten Stockwerk des stolzen Krogmannschen Hauses an der Außenalster fiel in der Nacht die zusagende Entscheidung. Alea jacta est. Aber ganz so einfach ging es doch nicht. Krogmanns hatten für einen Erholungsurlaub in Tirol gebucht, und wenn ein Hamburger Grande sich etwas vorgenommen hat, läßt er sich davon nicht abhalten. […] Nach Rückkehr Krogmanns vollzog sich alles dann ganz ordnungsgemäß. Am Mittwoch, dem 8. März 1933, fand um 4 Uhr nachmittags die Senatorenwahl statt.“ 40
Die weitere Vorbereitung für den neuen Senat war relativ unkompliziert, zumal sie von den einschüchternden Elementen der „Machtergreifung“ im Reich und anderen Ländern des Reiches begleitet wurde. Doch dazu wie erwähnt näheres an dazu passenderer Stelle. Auch wenn also der Prozess der „Machtergreifung“ in Hamburg relativ lang gestreckt und damit vergleichsweise ungewöhnlich ablief, finden sich innerhalb dieses Prozesses in Hamburg doch etliche „normale“ Elemente, die beinahe überall im Reich gleich oder zumindest ähnlich abliefen. Ein besonders bekanntes Beispiel ist die erste große und zentral koordinierte antisemitische Aktion der neuen Machthaber. Der sogenannte „Judenboykott“ vom 1. April 1933 wurde nicht nur (zentral) bereits länger geplant, sondern auch (regional) öffentlich deutlich angekündigt. Kaufmann persönlich sprach in einer Rundfunkrede am 29. März in der für ihn typischen kontrollierten und deutlichZweifel Karl Kaufmann in Hamburg.“ Ebd., S. 229. Hervorhebungen im Original. Diese Bewertung war nicht einfach niedergeschrieben, denn Helfferich hatte beruflich mit einigen Gauleitern Kontakt. 40 Ebd., S. 46f.
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energischen Art an die Hamburger über die Gründe für den Boykott. Hieraus soll ein längeres Zitat folgen: „Deutsche Volksgenossinnen und Volksgenossen, die nationalsozialistische Bewegung hat in ihrem vierzehnjährigen Kampfe gegen rote und goldene Internationale stets darauf hingewiesen, dass beide, Sozialdemokratie und Judentum, vor des Krieges [sic], während des Krieges und nach des Krieges ihre internationalen Beziehungen stets zum Schaden des Volkes und gegen das deutsche Vaterland eingesetzt haben. […] Wenn nun in der Erklärung der Israelitischen Gemeinde Hamburgs wehleidig der Schlusssatz gebracht wird, ‚[m]it Gottes Hilfe wird es dem deutschen Juden gelingen, den Antisemitismus zu überwinden‘, so können wir der Israelitischen Gemeinde Hamburgs nur den Rat geben, dafür zu sorgen, dass alle Gründe und Voraussetzungen, die zum Antisemitismus führen mussten, schnellstens beseitigt werden. Die positiven Maßnahmen hierfür sollte aber das Judentum in Deutschland von sich aus bringen. […] Wir, die wir durch vierzehn Jahre Gefängnis und Verfolgung für diesen neuen Staat gekämpft haben, werden alles tun, um zu vermeiden, dass das hohe Ziel der nationalen Revolution durch irgendwelche unverantwortlichen Handlungen befleckt wird. An meine Parteigenossen richte ich daher die Aufforderung, zur äußersten Disziplin. Es wird nur gehandelt, wenn befohlen ist. Und den Befehl zum Handeln, erteile ich. […] Deutschland braucht Ruhe zum Aufbau. Wer diese Ruhe gefährdet oder stört, begeht Volks- und Landesverrat und wird als Landesverräter zur Rechenschaft gezogen werden. Es geht nicht um uns, es geht nicht um den Einzelnen, es geht um Deutschland!“ 41
Wie für viele Vertreter des linken Parteiflügels waren für Kaufmann Marxismus und Judentum also kaum trennbar. In der vollen Rede zum „Boykott“ sprach er quantitativ gar mehr über die Sozialdemokratie als über das Judentum. Sie kann dahingehend für Kaufmanns Antisemitismus als repräsentativ angesehen werden 42. Aufgrund grenzübergreifenden Charakters beider teilte auch der rechte Flügel diese Einstellung, aber interpretierte dies eher rassistisch statt sozioökonomisch. Wie andernorts schon erwähnt, waren die Grenzen hierbei fließend, aber solche Unterschiede sind bei einzelnen Personen stets möglich auszumachen. Allgemein kann zu Kaufmanns persönlichem Antisemitismus aber festgehalten werden, dass er relativ elastisch war. Vor „Parteigenossen“ konnte Kaufmann Internationalismus, Judentum und Marxismus in scharfen Worten anprangern, während er vor bürgerlichen Kreisen und der Hamburger Wirtschaft dem entgegengesetzt kritisch von
41 NDR Retro WR 23771/1 [Rede vom 29. März 1933]. Hervorhebungen im Original. 42 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen in den Unterkapiteln 4.1. und 4.2.
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„Auswüchsen“ in der Partei zu sprechen vermochte 43. Offenbar (und dies wird noch besonders bei der Darstellung der „Reichspogromnacht“ deutlich werden 44), war Kaufmann insgesamt nicht antisemitischer als es für den durchschnittlichen Alltagsantisemitismus seiner Zeit üblich war. Stark sticht bei ihm lediglich hervor, dass er erstens selbst kein Problem mit „Arisierungen“, Boykotten oder ähnlichem hatte, und dass er zweitens weitergehenderen Antisemiten um ihn herum keinen Einhalt gebot, wo es in seiner Macht gestanden hätte. Auf Passivität ist dies nicht zurückzuführen, sondern eher auf ein „Geschehenlassen“. Hier zeigen sich zwei Aspekte, welche die Mehrseitigkeit des Nationalsozialismus in der Person Kaufmanns widerspiegeln, wie nur bei wenigen Mitgliedern der „NS-Führung“. Auf der einen Seite wies Kaufmann eine sozialistische Komponente auf, die er niemals aufgab, und die immer Anteil an seinem Handeln und seinen Motiven besaß. Ob Alltagsprobleme sozial Benachteiligter, soziale Verpflichtungen von Unternehmern oder den sozialen Ausgleich der Gesellschaft: Kaufmann pflegte Vorstellungen von Sozialismus, die er nicht aus strategischen Gründen in konkretes politisches Handeln umsetzte, sondern die spätestens ab Mitte der 1920er als Grundlagen seines Politikverständnisses betrachtet werden können. Zugleich hinderte ihn ein auf soziale Gerechtigkeit in der Gesellschaft hin orientiertes Menschenbild nicht daran, die nationalistische Komponente des Nationalsozialismus aufzuweisen. Hinsichtlich eines patriotischen Denkens und Fühlens war er hierbei zwar auch nicht extremer als seine zeitgenössischen Mitmenschen. Aber da er nun einmal mehr Macht als die meisten Menschen um ihn herum besaß, ist das Nichteinschreiten gegen extremeren Nationalismus (inklusive Rassismus in Form von Antisemitismus) bei Kaufmann anders zu gewichten als bei der Mehrheit seiner Umgebung. Wäre er gegen den Antisemitismus eingestellt gewesen, hätte er innerhalb seiner Möglichkeiten die zentralen Maßnahmen aus Berlin abschwächen und die regionalen Maßnahmen sogar entscheidend verlangsamen können. Wäre er aber der Ansicht gewesen, dass der forcierte Antisemitismus nicht weit genug ginge, hätte er wiederum verschärfend eingreifen können. Dies wollte er aber offenbar beides nicht. In Kaufmann zeigt sich hier ausgehend vom Beispiel des „Judenboykotts“ vom 1. April 1933 also etwas, was „auf den ersten Blick“ am Nationalsozialismus widersprüchlich wirken könnte: Der Gedanke des sozialen Ausgleichs und der Gedanke der nationalen Überlegenheit, also Ungleichheit. Tatsächlich aber ist beides nicht unvereinbar, wie gerade Kaufmann anschaulich zeigt. Es ist zutreffend, dass Kaufmann eine sozial ausgeglichenere Gesellschaft erstrebte als jene, der er angehörte. Aber zu dieser neuen Gesellschaft sollte nicht „jede“ Rasse gehören. Kaufmanns Vorstellungen anders ausgedrückt bedeutet dies: Nicht alle Menschen seien gleich, aber die gleichen sollten untereinander eine sozial ausgeglichene und gerechte Gesellschaft bilden. Zugleich zeigen diese ideengeschichtlichen Erläuterungen, dass es bei allen für Kaufmanns Alltagsleben so prägenden Handlungen wie die rund zwanzigjährige Verwal43 Dies wurde herausgearbeitet von Bajohr, Frank: „Arisierung“ in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933–1945, 3. Aufl., Hamburg 2003, S. 67–70. 44 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen im Unterkapitel 4.2.
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tungsarbeit in Partei und Staat immer auch einen ideologischen Hintergrund gab. Dieser war sein Antrieb im Alltag, und genau so stellte sich die „NS-Führung“ auch den künftigen deutschen Beamten vor: Kein auf das Sachliche beschränkter Fachmann, sondern ein mit Ideologie unterfütterter Fachmann 45. Dass Kaufmann mit einem entsprechenden ideologischen Hintergrund seinen Verwaltungsalltag durchführte wird im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit noch oftmals sehr deutlich werden 46. Dahingehend erfüllte er das Ideal des angestrebten deutschen Beamten. Hinsichtlich des ideologischen Antriebs gab es in Kaufmanns Amtszeit als Gauleiter des Gaues Hamburg jedoch ein großes Ereignis, welches schnell zur Frage kommen lässt, warum Kaufmann als Teil des sozialistischen Parteiflügels weiter Parteimitglied und sogar -funktionär blieb. Die Rede ist von der „Enthauptung“ des „Strasser-Flügels“. Es ist im Verlauf der vorliegenden Arbeit bereits einige Male von den herausstechenden Vertretern des sozialistischen „Strasser-Flügels“ gesprochen worden. Hierzu gehörten Mitglieder der „NS-Führung“, die die Partei mit auf- und ausgebaut hatten. Goebbels, Koch, Kaufmann oder auch beide Strasser-Brüder werden in diesem Zusammenhang immer wieder angeführt. Vor allem Gregor Strasser hatte sich bis 1932 als Reichsorganisationsleiter eine enorme Machtbasis aufgebaut. Aufgrund seiner dezidiert sozialistischen Parteinahme war bei der starken innerparteilichen Polarisierung bis 1932 auch immer unklar, wie stark er im Konfliktfalle gegen den vermeintlich alleinigen „Führer“ Hitler sein würde. Hitler hatte Vorsorge getroffen, indem er beispielsweise Goebbels langsam aber stetig auf seine Seite zog (wie dargestellt für Kaufmann auch persönlich ein Tiefpunkt), die Arbeitsgemeinschaft sprengte, und die verfahrene Situation im Gau Ruhr 1928 nutzte, um auch Kaufmann und Koch territorial zu entzerren sowie diverse Unterführer beförderte und damit auch noch Dankbarkeit ihm gegenüber erzeugte. Der große Konfliktfall fand schließlich Ende 1932 seinen Höhepunkt. Dieser ging aber nicht von den Parteiflügeln aus, sondern von einem externen Ereignis, durch das die Parteiflügel entlang ihrer Grenzen nochmals polarisiert wurden. Das „Krisenjahr“ 1932 war mit seinen drei Präsidialkabinetten, zwei Reichstagswahlen, etlichen Landesparlamentswahlen mit regierungsunfähigen Ergebnissen sowie der engen Reichspräsidentenwahlen hochpolitisiert. Auch im Hamburger Alltag war dies zu spüren. Die Gewalt nahm nicht „nur“ zu, sondern erklomm völlig neue Ausmaße, die es in der Hansestadt zuletzt beim KPD-Aufstand 1923 gegeben hatte. Besonders bekannt dürfte der „Altonaer Blutsonntag“ im 1932 noch preußischen Altona gewesen sein. Darauf wird noch nachfolgend noch einzugehen sein. Die NSDAP befand sich 1932 allgemein in Unruhe. Nicht nur die Parteiflügel hatten mit einem latenten Konflikt zu kämpfen. Es stand auch eine Entscheidung an, wie die Macht auf Reichsebene errungen werden sollte. Vor allem nach der verlustreichen Wahl vom November wurde dies dringender als je zuvor. Sollte etwa mit dem Zentrum zusammengearbeitet werden? Sollte weiterhin versucht werden, alleine oder mit anderen 45 Vgl. hierzu näher Pyta, Wolfram: Verwaltungskulturen im NS, in: ZfI, 11/2017, H. 1, S. 41–46, hier S. 42–44. 46 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen in den Unterkapiteln 4.1., 4.2. und 4.4.
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Rechtsparteien parlamentarisch voranzukommen? Der letzte Reichskanzler der Weimarer Republik, von Schleicher, verfolgte im Dezember schließlich ein bereits länger geplantes Konzept, wonach er die seiner Auffassung nach „guten Elemente“ aller politischen Organisationen von Gewerkschaften und Parteien von SPD bis hin zur NSDAP unter der Flagge der Sozialpolitik in einer „Querfront“ einigen wollte. Hierdurch sollten nicht nur alle politischen Organisationen geschwächt und von ihm abhängig gemacht werden, sondern auch endlich wieder eine Reichsregierung mit parlamentarischer Mehrheit möglich werden 47. Nach Lage der Dinge hätte dies für die NSDAP die Spaltung entlang der Parteiflügel bedeutet. Gregor Strasser, der gezielt von Schleicher angesprochen wurde, wollte hierauf eingehen. Er sah die Gefahr, dass die Partei Schwung, Elan und Motivation verlieren würde, wenn nicht endlich auf Reichsebene regiert werden könnte. Hitler war dagegen. Schleichers Konzept hätte innerparteilich den künftigen Vizekanzler Strasser und den hinter ihm stehenden Parteiflügel gestärkt, während Hitler stark, vielleicht sogar ganz an den Rand gedrängt worden wäre. Auf einer entscheidenden Tagung der Reichs- und Gauleiter im Dezember gelang es Hitler schließlich im Sinne des „Führerprinzips“ Gregor Strassers Kurs zu isolieren und die Anwesenden hinter seinem „Alles-oder-Nichts-Vorgehen“ zu versammeln. Gregor Strasser bot seinen Rücktritt von allen Funktionen an, von Schleicher sah seinen „Querfront-Plan“ scheitern und Hitler siegte parteiintern. Damit verlor zugleich der sozialistische Parteiflügel seinen mit Abstand wichtigsten Protagonisten, ohne dass Gregor Strasser gegen Hitler auch nur ein einziger Vertreter dieses Flügel beigestanden hätte 48. Was wenige Wochen danach geschah, konnte dabei kaum abgeschätzt werden. Denn am 30. Januar 1933 wurde Hitler vom Reichspräsidenten zum Reichskanzler ernannt, die „Machtergreifung“ nahm die nächsten ein bis eineinhalb Jahre Zeit ein, die Partei wurde von „Märzgefallenen“ überschwemmt, festigte ihre Macht und hatte dann als Staatspartei mit den Ausläufern der Wirtschaftskrise und dem Beginn der Wiederaufrüstung zu kämpfen. Viel Raum für eine Umsetzung sozialistischer Ziele blieb dabei nicht, wenngleich etwa Kaufmann in Hamburg hierbei die Nischen der Landes- und Kommunalpolitik auszunutzen versuchte 49. Der Krieg jedenfalls ließ weiterhin kaum Spielräume für das sozialistische Parteiprogramm zu. Und da der Krieg mit einer totalen Niederlage des „Dritten Reiches“ endete statt mit der Hegemonie oder gar Dominanz über Europa oder die Welt, konnten die sozialistischen Mitglieder der „NS-Führung“ nie wirklich versuchen umzusetzen, was sie sich eigentlich vom Nationalsozialismus (mit-) erhofft hatten. 47 Vgl. zu den Abläufen innerhalb von Staat und Parteien im Einzelnen Barth, Rüdiger/Friederichs, Hauke: Die Totengräber. Der letzte Winter der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 2018. 48 Vgl. im Einzelnen Kissenkoetter: Straßer, S. 162–176. 49 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen in den Unterkapiteln 4.1. und 4.2.
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Dies war aus der Perspektive eines Mitte der 1920er Jahre eingetretenen, hoch idealistischen künftigen Parteiführers nicht unmittelbar absehbar. Doch muss die Frage gestellt werden, warum die sozialistischen Protagonisten wie Goebbels, Koch oder eben Kaufmann in ihrer Position verblieben, nachdem 1932 der sozialistische Flügel „enthauptet“ wurde und sich später in der Politik des „Dritten Reiches“ vor allem der nationalistische Flügel durchsetzte. Versorgungsgründe werden zwar eine Rolle gespielt haben. Denn jemand wie Goebbels, Koch oder Kaufmann hatte sich jahrelang der Partei gewidmet und beruflich völlig hierauf fixiert sowie mitunter mangels beruflicher Alternativen inzwischen auch abhängig gemacht. Doch ging es nach wie vor vor allem um Ideologie und Idealismus 50. Die Überzeugung, am Ende könnte sich „das Richtige“ durchsetzen, ließ weiter hoffen, zumal der Einzelne immer davon ausging, Hitler in Wahrheit auf seiner Seite zu haben. Auch Kaufmann begründete sein „Dabeibleiben“ vor allem mit Ideologie und Idealismus. In Nürnberg konnte er 1946 noch konzentriert und ausführlich über seine Beweggründe sprechen, da sich sein Unfall erst kurz danach ereignete. Dabei wurde er gefragt, warum er als Sozialist in der Partei blieb: „DR. SERVATIUS: Gab es also in der Partei verschiedene Richtungen? KAUFMANN: In wesentlichen Fragen der Auslegung der Programmpunkte, jawohl. DR. SERVATIUS: Was für Gruppen waren das? KAUFMANN: Ich möchte drei große Gruppen unterscheiden. Die sozialistische Gruppe, die nach meiner Auffassung die Masse der Mitglieder und Anhänger ausmachte. Eine mehr nationalistische Gruppe und eine negativ-antisemitische Gruppe. […] DR. SERVATIUS: Welches war der politische Einfluß der verschiedenen Gruppen, und wo lag das Schwergewicht? KAUFMANN: Das ist sehr schwer zu sagen. Wenn Sie von Einfluß sprechen, so unterstelle ich, daß die Masse der Parteigenossen wie ich an das sozialistische Wollen des Führers geglaubt hat. Daß in seiner Umgebung auch Männer waren, denen der Sozialismus weniger am Herzen lag als andere Ziele, das scheint mir wahrscheinlich. DR. SERVATIUS: Waren Sie mit der Parteiführung einverstanden als Sozialist? KAUFMANN: Ich war mit den sozialistischen Zielsetzungen des Führers durchaus einverstanden, dagegen mit manchen Männern in führenden Stellungen und deren Auffassungen nicht.
50 Den Idealismus der „Alten Kämpfer“, die bis mindestens 1928 keine wirkliche Aussicht auf Erfolg hatten, beschrieb Wahl einmal folgendermaßen: „Das war ja das Schöne, Charakteristische und Anziehende an der damaligen deutschen Freiheitsbewegung, daß der Idealismus das Karrieremachen völlig verdrängte und dem materialistischen Denken auch nicht den geringsten Spielraum ließ. Jeder war sich bewußt, daß er an einem Opfergang teilnahm, der persönliche Interessen ausschloß und gerade deshalb zum gesteckten hohen Ziel führen mußte.“ Wahl: Liebe, S. 224. Gerade diese Opferbereitschaft zeigte sich in den zeitgenössischen Aussagen der Beteiligten ebenfalls immer wieder.
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DR. SERVATIUS: Warum sind Sie und andere Politische Leiter, die mit diesen Zielen in manchen Belangen nicht einverstanden waren, im Amt verblieben, als Sie sahen, daß der Schwerpunkt der Politik von den sozialen Gebieten wegging und Kirchenund Judenverfolgung einsetzte? KAUFMANN: Ich habe zunächst in keinem Zeitpunkt bis zum Zusammenbruch und mit mir meine Mitarbeiter bemerkt, daß die sozialistische Zielsetzung aufgegeben war. Ich habe bereits betont, daß, wenn ein alter Nationalsozialist 25 Jahre fast für seine Partei gewirkt hat, es seine Pflicht ist, für die Durchsetzung der Ziele in seinem Sinn bis zur letzten Möglichkeit zu kämpfen. Und das ist nicht möglich außerhalb der Partei, sondern nur innerhalb der Partei. Das ist einer der bestehenden Gründe, warum ich in der Partei geblieben bin.“ 51
Die Aussage entsprach in vielerlei Hinsicht dem Verhalten des Großteils seiner Zeitgenossen in der Partei. Einerseits wurde ein persönlich nicht zusagendes Handeln Hitlers auf dessen Umgebung zurückgeführt. Aus Kaufmanns Sicht war das nur logisch, da er die Mehrheit der Partei auf der sozialistischen Seite glaubte. Ob Hitler selbst zum nationalistischen oder gar radikal-antisemitischen Flügel gehörte, kam für Kaufmanns Sicht auf „seinen“ „Führer“ offenbar überhaupt nicht in Betracht. Andererseits ähnelte Kaufmanns Begründung den Motiven vieler seiner außerparteilichen Zeitgenossen, darunter etwa vielen einstigen Angehörigen der liberalen und katholischen Parteien. Was für Kommunisten nahezu unmöglich und für Sozialdemokraten nur in Ausnahmefällen erreichbar war, bot sich vielen Mitgliedern und einigen Funktionären der Parteien der Mitte und des rechten Spektrums an: Nur innerhalb der neuen Staatspartei ließe sich Einfluss für das nehmen, was der Einzelne für „richtig“ hielt. Bei einstigen Zentrumsangehörigen hieß das beispielsweise politisch in der NSDAP für den Katholizismus zu wirken statt die Religionspolitik den ehemaligen politischen Gegnern alleine zu überlassen. Soweit also Kaufmanns Motivation. Aber war diese auch realistisch? Eine Beantwortung dieser Frage muss davon ausgehen, dass weder Hitler noch Kaufmann oder allgemein die Nationalsozialisten planten, dass die deutschen Städte 1945 in Schutt und Asche lagen. Hätte sich etwa der deutsche Machtbereich Mitte 1941 innerlich konsolidiert statt die Sowjetunion anzugreifen, wäre die Geschichte des „Dritten Reiches“ in eine völlig andere Richtung verlaufen. Ohne zu sehr zu spekulieren kann festgehalten werden, dass der deutsche Machtbereich von Mitte 1941 (um bei dem Beispiel zu bleiben) der deutschen und der „germanisierten“ Bevölkerung einen Großwirtschaftsraum geboten hätte, der andere sozialpolitische Spielräume als das auf eine „Alles-oderNichts-Rüstung“ zielende „Dritte Reich“ bis 1939 aufwies. Dass dann auch die Gesellschaft sozial im nationalsozialistischen Sinne (also durch Ausschluss Unliebsamer und innerer Nivellierung der Mehrheit) durchlässiger und ausgeglichener geworden wäre, ist nicht auszuschließen. Doch bleibt unklar, ob sich auch hier wieder andere Kräfte in der Partei durchgesetzt hätten. Anders formuliert bedeutet dies, dass Kaufmanns Ideen
51 Prozeß Nürnberg, Bd. XX, S. 39–41.
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einer (national-)sozialistischen Gesellschaft nicht utopisch und damit zumindest theoretisch realistisch waren. Ob sie sich aber gegen andere Parteiinteressen oder neu auftauchende Probleme eines Großwirtschaftsraumes hätten verwirklichen lassen bleibt fraglich. Es ist bei den Kräfteverhältnissen innerhalb der Partei eher zu bezweifeln. Ein zentrales Kennzeichen von Kaufmanns Herrschaft in Hamburg nach der „Machtergreifung“ sollte das Delegieren des „Tagesgeschäfts“ sein, bei dem er zugleich überall das letzte Wort behielt und alles im Blick hatte. Hierauf wird ausführlich zurückzukommen sein 52. Hier ist aber wichtig, dass er bereits vor 1933 nicht wenige Aufgaben delegierte beziehungsweise seinen engeren Mitarbeitern viele Felder überließ. Nach der „Machtergreifung“ erhielt dies nochmals einen extremen Schub. Anders ließen sich seine etlichen Aufgaben und Verantwortlichkeiten nicht mehr bewältigen. Dieses Delegieren als Gauleiter vor und nach 1933 lässt sich bereits sehr deutlich an einer eher ungewöhnlichen Quelle darstellen, nämlich den gauinternen Rundschreiben an die „Politischen Leiter“. Als Gauleiter vor der „Machtergreifung“ hatte Kaufmann noch viele Rundschreiben selbst verfasst. Mit dem Jahre 1933 änderte sich dies fundamental. Die Rundschreiben nach dem Januar 1933 stammten zum überwiegenden Teil vom Gaupropagandaleiter oder aber vom stellvertretenden Gauleiter. Die von Kaufmann persönlichen formulierten Rundschreiben des Jahres 1933 beschränkten sich im Wesentlichen auf interne Informationen und Richtlinien zum Wahlkampf des Oktobers und Novembers. Nachfolgend ein Beispiel hierzu: „Diese Wahl steht unter der Parole – innenpolitisch: Freiheit und Brot, außenpolitisch: Frieden, Ehre und Gleichberechtigung. Die Lage verlangt von jedem verantwortungsbewußten Nationalsozialisten, daß er sich von vornherein über die Methoden der Propaganda im klaren ist. Die kurze zur Verfügung stehende Zeit muß restlos dazu ausgenutzt werden, um überall bis in die kleinsten Zellen der Bewegung hinein, bis in jeden Betrieb, in jede Beamtenstube und jedes Haus hinein den Sinn und Zweck dieser Wahl klarzumachen. Die Propagandamethoden sind im wesentlichen folgende: 1. Propaganda durch die Presse, 2. Propaganda durch den Rundfunk (nur im Auftrage des Propagandaministers), 3. Propaganda durch Filme (soweit wie möglich), 4. Propaganda durch Flugblätter und Plakate, 5. Propaganda durch Massenversammlungen und öffentliche Versammlungen, 6. Propaganda durch Betriebsversammlungen, Fachgruppenversammlungen, 7. Propaganda durch Bearbeitung der Vereine und Verbände, 8. Hauspropaganda, 9. Propaganda von Mund zu Mund und in den Betieben und Stempelstellen. […] Die Führer haben in ihrer Lebensführung vorbildlich zu sein. Das Volk soll sehen, daß es zwischen nationalsozialistischer Theorie und Praxis keinen Unterschied gibt. Schlicht, einfach und pflichtbewußt, so wie der Führer uns ein glänzendes Beispiel
52 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen im Kapitel 4.
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gibt, haben die Amtswalter der NSDAP der Bewegung und dem Volk gegenüber aufzutreten.“ 53
Es könnte gemutmaßt werden, dass die Überlassung des Mediums der Rundschreiben des Jahres 1933 dem Gaupropagandaleiter und dem stellvertretenden Gauleiter (und ab 1941 dann dem Gaustabsleiter) auf temporäre Gegebenheiten zurückzuführen sein könnte, die sich aus Kaufmanns Einarbeitung als Reichsstatthalter ab Mai 1933 ergaben. Dieser Trend setzte sich aber über 1933 hinaus weiter fort. Kaufmann befand sich zwar stets im Verteiler, wenn Rundschreiben versendet wurden, er selbst aber formulierte kaum noch welche. Wie aus den Vermerken zu entnehmen ist, wonach Kaufmann einige sensiblere Rundschreiben vor ihrer Veröffentlichung erst genehmigen musste, behielt er sich aber ein letztendliches Einschreiten oder Veto bei „wichtigeren“, also bei über das „Tagesgeschäft“ hinausgehenden Angelegenheiten vor, etwa wenn es im März 1934 wegen einer Terminkollidierung um die Absage einer Besprechung der „Politischen Leiter“ ging 54. Hierbei ist aber auffällig, dass viele Angelegenheiten, die eigentlich als wichtig anzusehen wären, nicht immer von Kaufmann selbst in Form von Rundschreiben oder Anordnungen bearbeitet wurden. Es erging beispielsweise nach der „Röhm-Affäre“ 1934 vom stellvertretenden Gauleiter und nicht vom Gauleiter selbst die Anordnung an die SA, ihre „schweren Waffen“ (also „Gewehre, Karabiner, Maschinengewehre und ähnl.“) abzugeben 55. Im Einzelfall, wie bei den Ereignissen im Sommer 1934, könnte dahinter ein Kalkül der Vorsicht gesteckt haben 56, vielleicht auch persönliche Motive der Abneigung 57. Vielleicht spielten auch Krankheitsgründe und Zufälle eine Rolle. Zweifelsfrei feststellen lässt sich dies aber nicht mehr. Die wenigen Ausnahmen, bei denen Kaufmann wieder selbst Rundschreiben und Anordnungen verfasste und erließ, ließen sich für 1934 „an zwei Händen abzählen“. Für 1935 waren es sogar noch weniger. Hierbei handelte es sich vor allem um Repräsentatives und um elementare Angelegenheiten, die die eigene Macht über die Partei sicherten. Wie noch zu sehen sein wird, entsprach dieser Verwaltungsstil in vielerlei Hinsicht dem als Reichsstatthalter und Bürgermeister 58. Anlässlich des Jahrestags der „Machter53 StaHH 614-2/5, A 4, Bd. 1, Rundschreiben vom 18. Oktober 1933. Hervorhebungen im Original. 54 StaHH 614-2/5, A 4, Bd. 2, Rundschreiben vom 1. März 1934. 55 Ebd., Rundschreiben vom 3. Juli 1934. 56 Auch Hitlers Taktieren in diesen Tagen war von Vorsicht und kalkuliertem Risiko geprägt, sowohl im Hinblick auf die Spitzen von Partei und Staat als auch im Hinblick auf die Gesellschaft. Hitler ging zwar offensiv vor, während Kaufmann sich nicht selbst um die Angelegenheit in Hamburg kümmerte. Aber Vorsicht war offenbar angebracht. Vgl. zu Hitlers Vorgehen Süß, Dietmar: „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“. Die deutsche Gesellschaft im Nationalsozialismus, Bonn 2018, S. 34–40. 57 Bei den umfangreichen Beseitigungen starb immerhin auch Gregor Strasser, wozu Kaufmann in den Entwürfen seiner Memoiren festhielt, es seien „tragische Ereignisse […], die mich meines besten Freundes beraubt[en]“. PNKK Ordner Nr. 1, Entwurf Manuskript [S. 140]. 58 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen in den Unterkapiteln 4.1. und 4.2.
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greifung“ und des Gauparteitags kurz darauf ordnete Kaufmann unter anderem folgendes an: „Die Leiter der politischen Organisation sind verpflichtet, in den ihnen vertrauten Organisationsgliederungen darauf aufmerksam zu machen, dass sich alle Parteigenossen, gleichgültig ob sie der P.O. oder der S.A. usw. angehören, mit der Mitgliedsnummer 1–300 000 […] zur Ausfüllung eines Personalbogens [zu] melden [haben]. Zweck dieser Meldung ist, festzustellen, wer von den alten Kämpfern noch ohne Arbeit ist, damit auch denen, die noch nicht wieder in Arbeit stehen, zu Arbeit und Brot verholfen werden kann. Das gleiche gilt, unabhängig von der Mitgliedsnummer, für alle diejenigen, die im Dienste der Bewegung nachweisbar verwundet worden sind.“ 59
Weitere Beispiele sind konkrete Anordnungen zur Neustrukturierung des Gaues 60 oder auch die (insgesamt bereits dritte) Klarstellung, dass Parteiebenen sich nicht eigenmächtig an Behörden wenden dürften, sondern den dazu vorgesehenen Verbindungsreferenten zu nutzen hätten 61. Letzteres ist zudem ein anschauliches Beispiel für Kaufmanns Politik, Partei und Staat jeweils für sich arbeiten zu lassen, den gegenseitigen Einfluss in gewisse Bahnen zu lenken, und sich selbst als die letztgültige Entscheidungsinstanz zwischen beiden Sphären zu etablieren, sowie dabei keine Konkurrenz zuzulassen. Bei letzterem Punkt ist ohnehin auffällig, dass Kaufmanns perfekte Personalunion offenbar in beiderseitigem Interesse genutzt wurde. Hierzu nachfolgend ein Beispiel für einen Fall, in dem die Interessen der staatlichen Sphäre gegenüber der parteilichen gewahrt wurden. Eine Mitteilung von Kaufmanns Stellvertreter als Gauleiter an die „Politischen Leiter“ des Gaues Ende 1934 stellte ausdrücklich klar, dass nunmehr „wiederholt auf die Verfügung des Gauleiters hingewiesen [wird], wodurch das Bekleben von Häusern und Wänden mit Plakaten gleich welcher Art sämtlichen Gliederungen der Partei untersagt ist. Als Ersatz ist vom Senat grundsätzlich die Aufstellung von Schildern auf öffentlichem Grund gestattet, wenn es sich um örtlich feste Schilder handelt. In letzter Zeit ist es wiederholt vorgekommen, daß Gliederungen der Partei für Winterhilfe, Funkwoche, Versammlungen und dergleichen auf lose aufgestellten Kistendeckeln werben, wodurch das Stadtbild in starkem Maße verunziert wird. Die Aufstellung von Kistendeckeln für Propagandazwecke ist für die Zukunft streng untersagt.“ 62
Dies mag wie ein banales Beispiel wirken. Doch zeigt es eindrücklich auf, dass Kaufmann offenbar bestrebt war, einen Ausgleich oder eine Art friedliches Dasein zwischen beiden 59 StaHH 614-2/5, A 4, Bd. 2, Rundschreiben vom 6. März 1934. 60 Vgl. ebd., Rundschreiben vom 11. April 1934. 61 Vgl. ebd., Rundschreiben vom 24. April 1934. 62 Ebd., Rundschreiben vom 5. Dezember 1934.
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Sphären zu erhalten. Und mit der Arbeit an einem solchen Dasein musste bei grundsätzlichen und vermeintlich banalen Angelegenheiten angefangen werden. Da die beiderseitige Interessenabwägung betont wurde, soll noch ein andersherum geartetes Beispiel folgen. Bestimmte Stellen der Partei vom Gauleiter bis zum Amtswalter der DAF waren dazu berechtigt, Akten zur Einsicht bei Behörden anzufordern, wenngleich auf ordnungsgemäße und korrekte Behandlung wie Rückgabe ausdrücklich geachtet wurde, vor allem wenn es um Strafakten ging 63. Für die Betreffenden war eine Akteneinsicht von hohem Wert, ob es sich nun um interne Informationen eines Strafverfahrens oder andere verwaltungsintensive Vorgänge wie etwa eine Baugenehmigung handelte. Der Informationsvorsprung darf nicht unterschätzt werden. Die bereits erläuterte Entwicklung, nach der sich Kaufmann persönlich ab 1933 immer weniger mit der konkreten Arbeit als Gauleiter beschäftigte, setzte sich nach 1935 verstärkt fort. Was er persönlich bearbeitete waren vor allem Angelegenheiten, die sein eigenes Bild in der Öffentlichkeit positiv beeinflussten oder die seine Macht abzusichern halfen. Er ordnete etwa im Sommer 1935 an, dass das „Überhandnehmen von festlichen Veranstaltungen der Partei und ihrer Gliederungen“ nunmehr besser gesteuert werden sollte, indem künftig „alle Veranstaltungen […], die geselligen und festlichen Charakter tragen, nur [noch] nach vorhergehendem Antrag und nach erfolgter Genehmigung durch den Gauleiter oder dessen Stellvertreter“ 64
erfolgen dürften. In die gleiche Richtung bewegte sich etwa auch die Aufforderung Kaufmanns an seinen Gaustab und die Leiter der Dienststellen der Partei, dass diese sich ab so-fort vor einem Urlaub bei ihm eine Genehmigung dafür einzuholen und sich abzumelden hätten 65. Zugleich delegierte er neu entstandene Aufgaben oftmals schnell weiter. Als im Herbst 1935 aus Berlin diverse Anordnungen ergingen, wonach Aufmärsche und Kundgebungen nunmehr stets unter der Verantwortung des jeweiligen Gauleiters stünden, bildete Kaufmann einfach einen Ausschuss, in den er den stellvertretenden Gauleiter, den Gaupropagandaleiter, den Leiter des Staatsamts und den Polizeiherr berief. Dieser Ausschuss sollte die Verantwortung für die Richtlinien und die Organisation der konkreten Einzelfälle tragen, und ihm mündlich und schriftlich berichten und vorarbeiten 66. Die Vorbereitungen sollten faktisch unterschriftsfähig sein. Die Tendenz, dass Kaufmann seine Arbeit als Gauleiter zunehmend seinen engsten Mitarbeitern in der Gauleitung überließ, wird bei der weiteren Untersuchung der Rundschreiben der Gauleitung nach 1935 besonders deutlich. Quantitativ lässt sich hierüber zwar keine abschließende und exakte Aussage treffen, da nicht alle Rundschreiben und 63 Vgl. ebd., Rundschreiben vom 28. November 1934. 64 Ebd., Rundschreiben vom 14. Juni 1935. 65 Vgl. ebd., Rundschreiben vom 22. Oktober 1935. Anlass war der Urlaub von Vertretern von Vertretern weiterer Vertreter. 66 Vgl. ebd., Rundschreiben vom 10. Oktober 1935.
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Anordnungen erhalten sind (für 1939 etwa nur eines, für 1940 aber fast alle wöchentlichen sowie die Sonderschreiben), sodass „nur“ ein Querschnitt vorliegt. Aber auch andere Indizien sprechen klar für diese These, darunter etwa Kaufmanns Zeiteinteilung als Reichsstatthalter und Leiter der Landesregierung, noch detailliert eingegangen wird 67. Vorweg genommen werden kann aber, dass er offenbar immer weniger Zeit für die Parteiarbeit aufwendete. Ab 1938 befand er sich beispielsweise nur noch eineinhalb Tage in der Woche überhaupt noch im Gauhaus 68, und dabei hatte Kaufmann zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal den Höhepunkt seiner Ämtervielfalt erreicht. Diese Tendenz machte sich jedenfalls auch im Inhalt vieler seiner Rundschreiben bemerkbar. Oftmals ging es dabei nur noch um mehrere kleinere organisatorische Angelegenheiten, die relativ wenig Arbeit erforderten. Als Beispiel mag der Aufruf zu Spenden und Beflaggung anlässlich Hitlers Geburtstag 1937 dienen 69. Größere und aufwendigere Sachverhalte wurden immer mehr von seinem stellvertretenden Gauleiter bearbeitet und über die Rundschreiben den „Politischen Leitern“ bekannt gegeben. Dazu zählen selbst so heikle und wichtige Ereignisse wie die Organisation um den Auftritt und das Verhalten der Partei zum Besuch Hitlers anlässlich des Stapellaufs des zweiten KdF-Schiffes im März 1938 70. Inwiefern aber Kaufmann bei den wöchentlichen mündlichen Besprechungen mit seinen Gauamts- und Kreisleitern solche Sachverhalte beeinflusste, ist nicht mehr festzumachen. Klar ist jedoch, dass ein Machtmensch wie Kaufmann solche wichtigen Angelegenheiten nicht ohne weiteres seinen Mitstreitern überließ, zumal er nach wie vor die meisten Rundschreiben und Anordnungen vor ihrer Versendung erst zur Kenntnis nehmen musste. Kaufmanns Einfluss als Gauleiter machte sich aber auch dahingehend bemerkbar, als dass die Professionalisierung der Partei im Gau zunehmend weitere Schritte machte. Dies war bereits in den Gauen Rheinland-Nord und Ruhr mit quellenbedingten Einschränkungen feststellbar gewesen, und setzte sich mit der Übernahme des „Scherbenhaufens“ des Gaues Hamburg und dann auch der späteren „Machtergreifung“ nahtlos fort. Hierzu zählte auch die „Beförderung“ der Kreisleiter und Kreisamtsleiter zu hauptamtlich Tätigen im Jahre 1938. Damit einher ging nicht nur eine stärkere (schon rein finanzielle) Bindung an die Partei, sondern offenbar auch eine höhere Professionalisierung der von ihnen ausgeübten Parteiarbeit. Denn mit dieser Erhebung der Kreisebene der Partei, die nunmehr wie ihr Pendant der staatlichen Landräte ihre Funktion hauptamtlich ausübten, ließ auch die Partei wieder etwas stärker werden. Wie gezeigt durften Dienststellen von Partei und Staat bis auf wenige Ausnahme wie Kaufmann selbst und seine höchsten Mitarbeiter nur über den eigens geschaffenen Verbindungsreferenten der Partei hinsichtlich ihrer Wünsche miteinander kommunizieren. Dieses Vorgehen wurde nunmehr von Kaufmann abgeändert: 67 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen in den Unterkapiteln 4.1. und 4.2. 68 Vgl. StaHH 113-5, A I, 7, Schreiben vom 28. April 1938. 69 Vgl. StaHH 614-2/5, A 4, Bd. 3, Rundschreiben vom 15. April 1937. 70 Vgl. ebd., Rundschreiben vom 7. März 1938.
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„Wünsche und Beschwerden der Partei die Behörden betreffend und umgekehrt – auch soweit sie aus der Bevölkerung herangetragen werden – werden zunächst vom Kreisleiter persönlich oder einem geeigneten hauptamtlichen Kreisamtsleiter bearbeitet und erledigt. […] Hat eine Behörde besondere Wünsche gegenüber der Partei, so wendet sie sich – soweit die Angelegenheit nicht von grundsätzlicher Bedeutung für den gesamten Gaubereich ist – an den zuständigen Kreisleiter.“ 71
Gleichzeitig behielt Kaufmann jedoch seine besondere Kontrolle über die Personalpolitik bei. Dies war bereits früher als Gauleiter zu beobachten gewesen, und sollte auch als Reichsstatthalter nicht anders sein 72. 1940 bekräftigte er gegenüber den „Politischen Leitern“ seine letztgültige Kompetenz hinsichtlich Personalfragen nachdrücklich. Offenbar hatte er hierzu konkreten Anlass, der aber mangels Quellen nicht mehr aufzuklären ist. Es handelte sich jedoch um das Vorgehen des SD in Hamburg: „Alle personellen Auskünfte, die Dienststellen der Partei an den SD. im Gau Hamburg weiterleiten, sind ausnahmslos in Abschrift vor Abgabe an den SD. meiner Kanzlei zuzustellen, mit dieser abzustimmen und dürfen erst nach meiner Abstimmung weitergegeben werden. […] Alle personellen Aufkünfte über Hamburger Parteigenossen oder Volksgenossen, die von Dienststellen der NSDAP im Gau Hamburg an Berliner Stellen weitergegeben werden, sind gleichfalls vorher in Abschrift meiner Kanzlei einzureichen und sind erst nach Abstimmung mit derselben abzusenden.“ 73
Kaufmanns Kontrollverlangen setzte sich in den folgenden Jahren als Gauleiter ebenso nahtlos fort wie in den vorherigen und wie in seinen parallelen Tätigkeiten in Staatsämtern. Noch im gleichen Jahr teilte er seinen „Politischen Leitern“ etwa schriftlich mit: „Für die Dauer des Krieges ordne ich bis auf weiteres an: Sämtliche Versammlungen und Veranstaltungen jeder Art der NSDAP im Gau Hamburg, einerlei ob diese abends oder bei Tage stattfinden, bedürfen meiner ausdrücklichen, persönlichen Genehmigung. Anträge dieser Art sind an mich persönlich über meine Kanzlei rechtzeitig genug zu richten.“ 74
Besagter Krieg sorgte auch in Kaufmanns sorgfältig beobachtender Personalpolitik für Druck. Während er als Reichsstatthalter bei den höheren Positionen im Staatsdienst zumeist Vertreter für alle Funktionen intern zur Verfügung hatte, musste er bei Fronteinsätzen von Mitarbeitern der Gauleitung mehrfach neue Mitarbeiter auf unbestimmte 71 Vgl. ebd., Rundschreiben vom 11. Oktober 1938. Hervorhebungen im Original. 72 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen in den Unterkapiteln 4.1. und 4.2. 73 Vgl. StaHH 614-2/5, A 4, Bd. 3, Rundschreiben vom 30. August 1940. 74 Vgl. ebd., Rundschreiben vom 10. September 1940. Hervorhebungen im Original.
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Zeit in die zeitweilig vakanten Ämter heben. (Für die Verwaltung, der er als Reichsstatthalter vor-stand, verordnete er hingegen einen Einstellungsstop für neue oder vakante Stellen 75. Die Funktionsfähigkeit des Parteiapparats war ihm offenbar wichtiger als die des Staates.) Ob er hierbei seinen Einfluss und seine Kontakte nicht geltend machen konnte oder wollte, um diese in Hamburg zu behalten, ist nicht mehr zu ermitteln. Kaufmanns grundsätzlich positive Einstellung gegenüber dem Krieg ist aber bis 1943 recht eindeutig 76. Auffällig ist hingegen, dass selbst der Leiter seiner Parteikanzlei 1940 Soldat der Wehrmacht wurde 77, also jemand, der sich stets sehr nah am Schalthebel der Macht in Hamburg befunden hatte, sicherlich einige Interna auch und gerade über Kaufmann wusste, und der nicht zuletzt im Falle seines Ablebens weniger leicht zu ersetzen gewesen wäre als etwa ein Ortsgruppenleiter oder Blockwart. Ab 1942 übernahm Kaufmann noch mehr zusätzliche Ämter und damit auch Arbeit. Die Zeit hierfür wird er wahrscheinlich am ehesten von der Zeit für Besichtigungstermine in der Öffentlichkeit genommen und zusätzlich täglich länger gearbeitet haben 78, aber offenbar vernachlässigte er die Partei inzwischen noch mehr. Die Rundschreiben und Anordnungen der Gauleiter sind auch hierbei wieder eine anschauliche Quelle. Denn die letzte persönliche Anordnung Kaufmanns datiert mit dem Juni 1943 nicht nur relativ früh, sondern beschäftigte sich dazu auch noch mit einem kriegsrelevanten Thema, mit dem er staatlicherseits äußerst umfassend befasst war. Hierbei ging es um die karteimäßige Erfassung der Bevölkerung in Männer, Frauen, Jugendliche und Erwachsene, zwecks außerberuflichen Einsatzes 79. Wie noch an den dafür vorgesehenen Stellen ausführlich dargelegt wird, war der Sommer 1943 auch der Zeitpunkt, an dem Kaufmann selbst nicht mehr an den „Endsieg“ glaubte 80. Dies mag „auf den ersten Blick“ wie eine spätere Schutzbehauptung Kaufmanns wirken 81. Tatsächlich entsprach es aber den Tatsachen. Bevor dies genauer geschildert und analysiert werden kann, sind aber zuvor noch viele weitere Erläuterungen über die Entwicklung seines Engagements für den Nationalsozialismus und das „Dritte Reich“ notwendig. Ohne diese Kontextualisierung würde Kaufmanns Nachkriegsversion, er sei ab Mitte 1943 nicht mehr vom Kriegserfolg ausgegangen, nur wie „Schönfärberei“ Kaufmanns wirken. Deshalb sei hier nur bereits darauf hingewiesen, dass das „Abreißen“ der Aktivitäten Kaufmanns als Gauleiter im Sommer 1943 kein isolierter Einzelfall war. 75 Vgl. StaHH A2a 1939/1940, 15. Senatsberatung. Freitag, den 15. September 1939, S. 119–124, hier S. 120. 76 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen in den Unterkapiteln 4.2., 4.3. und 4.4. 77 Vgl. StaHH 614-2/5, A 4, Bd. 3, Rundschreiben vom 8. April 1940. 78 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen im Unterkapitel 4.2. 79 StaHH 614-2/5, A 4, Bd. 3, Rundschreiben vom 10. Juni 1943. 80 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen im Unterkapitel 4.2., 4.3. und 4.4. 81 Er erwähnte es an unterschiedlichsten Orten, ob in seinen Ermittlungsverfahren, dem „Nürnberger Prozess“ oder seinen Memoirenentwürfen. Ein Beispiel unter vielen stammt aus seinem Spruchgerichtsverfahren: „Schon im Jahre 1943 hatte ich den Eindruck gewonnen, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war.“ BA K Z 42-I/263, Protokoll vom 14. Mai 1949.
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Neben der zunehmenden Delegierung von Aufgaben an seine Mitarbeiter in der Gauleitung vernachlässigte Kaufmann das Amt des Gauleiters ab der „Machtergreifung“ also immer mehr. Dies ist kaum verwunderlich angesichts der Aufgaben, die nach der nach 1933 auf ihn zukamen. Das Amt des Gauleiters war Kaufmanns „Sprungbrett“ zu allen weiteren Funktionen. Mit der Erlangung anderer Ämter verringerte sich der Fokus auf sein Ausgangsamt erheblich. Während andere Gauleiter ihren Fokus nach der „Machtergreifung“ weiterhin auf das Parteiamt gerichtet hielten, ging dieses Augenmerk bei Kaufmann vor allem auf das Reichsstatthalteramt über. Dies hing mit zwei Umständen zusammen. Erstens erhielten nicht alle Gauleiter solch hohe Staatsämter wie Kaufmann. Diese übten ihre regionale gauweite Herrschaft zumeist indirekt aus. Dies gilt etwa für die Gauleiter der „Flächengaue“ Köln-Aachen und Koblenz-Trier, Grohé und Simon, die die Oberbürgermeister „ihrer“ großen Städte beliebig ersetzen konnten, wenn diese nicht in ihrem Sinne handelten. Kaufmann hingegen musste nicht indirekt Macht ausüben. Er konnte dank seines Staatsamtes ab 1933 der Landesregierung einfach „dazwischenfunken“, bis er ab 1936 selbst der Landesregierung vorstand. In beiden Fällen konnte er auf direktem Wege Macht ausüben. Zweitens verfügte Kaufmanns Gau über ein enges, homogenes und eher zusammenhängendes Territorium, wenn es mit so heterogenen Gauen wie den besagten Flächengauen verglichen wird. In diesen wechselten sich Großstädte, städtisch geprägte Landschaften und Dörfer miteinander ab. Sie erstreckten sich also auf etliche Verwaltungseinheiten, während Hamburg ein zwar nicht einheitliches, aber wesentlich stimmigeres politisches Gebilde war. Mit der Etablierung des Reichsgaues 1938 erhielten die genannten Umstände nochmals eine gesteigerte Bedeutung. Denn Kaufmann verfügte zwar schon zuvor über alle Machtmöglichkeiten in Hamburg, nunmehr fand aber eine Verschmelzung dieser Möglichkeiten statt. Ein mit solch umfassenden Kompetenzen ausgestatteter Reichsstatthalter wie Kaufmann in Hamburg war nicht gezwungen, sich auf das indirekte Herrschen mittels Parteiorganisation zu verlegen, da es über andere Geschäftswege viel schneller und effizienter möglich war. Hierin ist also der Grund zu finden, warum Kaufmann seine Position als Gauleiter nach der „Machtergreifung“ so stark vernachlässigte. Klar ist dabei aber auch, und dies ist der zweite Punkt, dass Kaufmann sein Amt niemals zur Verfügung stellte, um jemand anderem die Möglichkeit zu geben, auf der Karriereleiter höher zu klettern. Dies hätte ihn zwar um Arbeit erleichtert, aber um Machtmittel beraubt. Auch wenn er selbst die Gauleitung nicht als primäres, sondern neben der Reichsstatthalterschaft als sekundäres Machtmittel nutzte, blieb die Gauleiterherrschaft der Dreh- und Angelpunkt seines Herrschaftssystems und der Erhaltung seiner anderen Ämter. Andere Gauleiter hatten immer wieder vorgemacht, wie ihr Pendant in den staatlichen Institutionen umgangen oder gar ersetzt werden konnte. Solange Kaufmann also Gauleiter blieb, konnte ihm als Reichsstatthalter auch niemand gefährlich werden, da sich außer ihm niemand der ausschlaggebenden „Hausmacht“ der Partei bedienen konnte.
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Nach der „Machtergreifung“ verfügte die Partei über nie dagewesene Finanzmittel. Ähnlich wie bei der „Hamburger Stiftung von 1937“, welche Kaufmann als Reichsstatthalter gründete (dazu an geeigneter Stelle mehr 82), konnte auch die am 20. April 1938 von ihm als Gauleiter gegründete „Karl-Kaufmann-Stiftung“ durch Spenden ein nicht unbeträchtliches Vermögen aufbauen. In beiden Fällen profitierten die Stiftungen durch freiwillige Spenden in geringer Höhe von Einzelpersonen, sowie durch höhere Spenden von Unternehmen, deren Freiwilligkeit angesichts der Machtfülle Kaufmanns nicht unbedingt der Wahrheit entsprochen haben müssen. Wenn der Gauleiter eine „freiwillige“ Spende für karitative Zwecke erbat, wäre immer zu berücksichtigen gewesen, dass eine Verweigerung vielleicht zu einer Diskreditierung führen würde. Es ist daher angemessener, von einer „erzwungenen Freiwilligkeit“ auszugehen, wenngleich tatsächliche Freiwilligkeit aus politischer oder ökonomischer Übereinstimmung ebenfalls durchaus vorhanden gewesen sein kann. Anders als die vom Reichsstatthalter gegründete Stiftung konnte die des Gauleiters trotz eines großen Finanzvolumens nicht mit ersterer mithalten. Bei ersterer wurden Beträge in Millionenhöhe verwaltet, während die „Karl-Kaufmann-Stiftung“ nicht über sechsstellige Summen hinaus gelangte. Diese Stiftung wurde als „Sozialfonds des Gauleiters“ über das Gauschatzamt geführt und sollte vor allem karitative Zwecke bedienen. Ganz konkret wurden hierbei fast ausschließlich kleine, zumeist zweistellige Summen an Einzelpersonen ausgegeben, denen damit eine finanzielle Hilfe in einer individuellen Notlage gewährt werden sollte. In den meisten Fällen wurde bei den schriftlichen Anweisungen zur Barauszahlung oder zur Überweisung darauf hingewiesen, dass Kaufmann persönlich dies mündlich angeordnet habe. Es konnte sich dabei um sehr heterogene Fälle handeln. Als Beispiele können 20 RM für einen „Parteigenossen“ genannt werden, der in der „Kampfzeit“ eine Gehirnverletztung erlitten hatte 83, besondere runde Geburtstage wie den 80. einer Hamburgerin 84, 50 RM auf ein Sparkonto für ein Kind, welches kriegsbedingt Vollwaise geworden war 85, oder auch gelegentlich eine Auszahlung ohne Angabe von schriftlichen Gründen 86. Die Zuwendungen waren fast immer als einmalige Auszahlungen und ohne Rückzahlungspflichten konzipiert. In wenigen Ausnahmen wurden auch zinslose Darlehen gewährt, die in geringen Monatsraten zurück82 Die „Hamburger Stiftung von 1937“ wird an anderer Stelle ausführlicher untersucht, als die hier nur kurz vorgestellte „Karl-Kaufmann-Stiftung“. Der Grund liegt darin, dass letztere zwar kleinere Beträge an Einzelpersonen verteilte, dabei aber nie an die Wirkmächtigkeit und den enormen Radius ersterer anknüpfte. Diese hatte eine gänzlich andere Bedeutung und ging vom Reichsstatthalter statt dem Gauleiter aus, weshalb sie im Gegensatz zur „Karl-Kaufmann-Stiftung“ später im entsprechenden Unterkapitel detailliert betrachtet werden soll. Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen im Unterkapitel 4.1. 83 StaHH 614-2/13, 10, Schreiben vom 20. März 1941. 84 Ebd., Schreiben vom 16. August 1941. 85 Ebd., Schreiben vom 16. Oktober 1942. 86 Ebd., Schreiben vom 7. August 1941.
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gezahlt werden konnten. Beispielsweise erhielt eine Person 20 RM mit der Auflage, jeden Monat zwei RM zurückzuzahlen 87. Die Zuwendungen richteten sich, wie bereits an den Höhen der Summen erkannt werden kann, an Einzelpersonen, denen Kaufmann als Gauleiter in individuellen Notlagen aushelfen wollte. Dies kann zwar als paternalistisch interpretiert werden. Aber Kaufmann war innerhalb der NSDAP immerhin einer der prominentesten Vertreter des sozialistischen Flügels. Der Gedanke von Sozialpolitik und Wohlfahrtsstaat war bei ihm immer präsent und wurde stets gepflegt. Dass aber 20 RM aus den Händen des fürsorglichen Gauleiters für die Rückzahlung eigener Mietrückstände Kaufmanns Prestige bei „seinen“ Hamburger „Volksgenossen“ enorm gesteigert haben dürfte, ist dabei unbestreitbar. Die „Karl-Kaufmann-Stiftung“ ist in vielerlei Hinsicht ein anschauliches Beispiel für die Verlagerung von Kaufmanns Tätigkeitsfeldern weg von der Partei hin zum Staat. Sie erreichte nie ein solches Finanzvolumen und nie eine solche Reichweite wie ihr Pendant, ihre Ausdifferenzierung war kaum gegeben, und selbst der zuständige (staatliche) Referent für die „Hamburger Stiftung von 1937“ verwaltete die „Karl-Kaufmann-Stiftung“ einfach „nebenbei“. Dennoch darf ihre Bedeutung für Kaufmann als Person nicht unterschätzt werden. Im Gegensatz zu ihrer „großen Schwesterstiftung“ trug sie öffentlichkeitswirksam den Namen ihres Gründers. Zudem bot sie eine ergänzende Möglichkeit, Kaufmanns Ruf und Reputation in der Bevölkerung positiv zu steigern. Nicht zuletzt ist hinsichtlich der Bedeutung der Stiftung zu betonen, dass sie grundsätzlich eine andere Zielgruppe hatte, als die ein Jahr zuvor gegründete größere Stiftung. Während die größere Stiftung vorrangig Parteigliederungen und Karitatives mit höheren Summen im Blick hatte, wurden von der kleineren Stiftung überwiegend Einzelpersonen mit Kleinbeträgen unterstützt, die anderweitig keine Aussicht auf finanzielle Zuwendungen hatten. Dies besaß zwar ebenfalls karitativen Charakter, aber es nahm niemals solche umfangreichen Ausmaße an, wie bei der großen „Hamburger Stiftung von 1937“. Die weitaus geringere Bedeutung der vergleichsweise kleinen „Karl-Kaufmann-Stiftung“ spiegelt sich nicht zuletzt auch darin, dass sie rein von ihrer geringen Größe her nur sehr eingeschränkt in die Stiftungstradition Hamburgs passte. Die Hansestadt wies immerhin eine lange und umfassende Stiftungskultur auf 88. Auch ist ihre vergleichsweise untergeordnete Bedeutung auch ersichtlich an ihrem Schicksal nach 1945. Während um das große und politisch hoch brisante Vermögen der „Hamburger Stiftung von 1937“ Jahre lang in den staatlichen Institutionen diskutiert wurde, befassten sich mit dem geringen Vermögen der „Karl-Kaufmann-Stiftung“ ausschließlich die Finanzbehörden. Auf ihre Empfehlung hin wurde die Stiftung mit den wenigen ihr inzwischen verbliebenen Mitteln (rund 80 Prozent des Vermögens war 1944/ 1945 in Staatsanleihen des Reiches investiert worden und durch die Währungsreform verlor der Restbestand einen erheblichen Wert) in Höhe von etwa 33 000 DM 1952 der „Alida Schmidt-Stiftung“ 87 Ebd., Schreiben vom 10. Juni 1940. 88 Vgl. hierzu Werner, Michael: Stifungsstadt und Bürgertum. Hamburgs Stiftungskultur vom Kaiserreich bis in den Nationalsozialismus, München 2011, S. 427f.
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für soziale Zwecke angegliedert 89. Ihren ursprünglich einmal ins Auge gefassten Zweck, den des Wohnungsbaues, hat die „Karl-Kaufmann-Stiftung“ nicht erreicht. Aber sie dürfte Kaufmanns Prestige als Gauleiter aufrechterhalten und gesteigert haben. Für den ranghöchsten und mächtigsten Nationalsozialisten Hamburgs ist dies ein nicht zu vernachlässigender Punkt. Gleiches gilt für den karitativen Gedanken. Kaufmann stand mit seiner Stiftung von Gauleiters Gnaden nicht alleine im Korps der Gauleiter. Bürckel, Albert Forster, Koch und Sauckel (darunter waren Kaufmann, Bürckel sowie Koch Teil des linken Parteiflügels) unterhielten ebenfalls entsprechende Stiftungen, wobei dort keine institutionelle Trennung zwischen Gauleiter- und Reichsstatthalter-Stiftung bestand. Die Motive für ihre Gründungen waren in allen Fällen gleich. Stets bestand ein organisatorisches Interesse daran, die vielfältigen und vergleichsweise offen gestalteten Möglichkeiten der Rechtsform einer Stiftung zu nutzen. Im Endeffekt lief dies immer darauf hinaus, dass der jeweilige Gauleiter sich eine finanzkräftige Einrichtung schuf, die unabhängig von Staat und Partei existierte und völlig auf die Person des Gauleiters ausgerichtet war. Was der jeweilige Gauleiter mit dieser Machtfülle dann ausführte, kam auf den Einzelfall an. Hitler jedenfalls missfielen sämtliche dieser Stiftungen 90. Aber verzichten wollte offenbar keiner von ihnen auf sie. Es bleibt zu fragen, ob Kaufmanns drittes und letztes Gauleiteramt schließlich repräsentativ für die Gauleiter im Zeitraum zwischen 1929 und 1945 war. Wie ausgeführt waren sein erstes Gauleiteramt (Rheinland-Nord) und sein zweites (Ruhr) größtenteils repräsentativ, da er dort die klassische Aufbauarbeit leistete und die NSDAP erst zu einer schlagkräftigen Organisation auszubauen vermochte. Ungewöhnlich war nicht zuletzt, dass er Mitte der 1920er Jahre noch zur „neuen“ Gauleiter-Generation gehörte, die anders sozialisiert war, andere Ziele hatte und anders dachte. Ähnlich war es nun in Hamburg. Die Professionalisierung im Gau Hamburg erreichte im Zeitraum 1929 bis 1933 ein hohes Niveau: Gaustab, Gaumitarbeiter, etliche Gliederungen, fünfstellige Mitgliederzahlen, mehrere Presseorgane, Massenveranstaltungen und nicht zuletzt Wahlerfolge. Bis dahin wäre so etwas für den Gau Hamburg undenkbar gewesen. Die innere Zerstrittenheit konnte erst gestoppt werden, indem Hitler Kaufmann nach Hamburg entsandte. Das gleiche lässt sich auch bei anderen „unruhigen“ Gauen wie Berlin oder Ostpreußen beobachten, in denen erst die von Hitler geschickten Gauleiter Goebbels und Koch schlagkräftige Organisationen aufbauen konnten 91. Kaufmann leistete dies für den Gau Hamburg. Damit war ein Grundstein gelegt, ohne den die „Machtergreifung“ in der Hansestadt nicht so leicht und reibungslos möglich gewesen wäre. 89 Vgl. Vagt, Kristina: Vom Hamburger Wohnstift zum sozialwirtschaftlichen Unternehmen. Alida Schmidt-Stiftung 1874–2014, Hamburg 2014, S. 16–18. In dieser Stiftung gingen nach dem Zweiten Weltkrieg insgesamt zehn kleinere Hamburger Stiftungen auf. Sie widmet sich bis zum Verfassen vorliegender Arbeit vor allem der Unterbringung von Bedürftigen. Vgl. zur Eingliederung der Stiftungen ebd, S. 15–19. 90 Vgl. zum Charakter der Gauleiter-Stiftungen Werner: Stifungsstadt, S. 421f. 91 Vgl. Hüttenberger: Wandel, S. 56–60.
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Dies bedeutet aber nicht, dass sich lediglich aus dieser Aufbauarbeit Kaufmanns schon die Ereignisse von 1933 in Hamburg erklären. Im Gegensatz zu den Ländern Anhalt, Braunschweig, beiden Mecklenburg, Oldenburg oder Thüringen gelang der NSDAP in Hamburg vor 1933 nicht der Einzug in die Landesregierung. Hierzu bedurfte es erst des äußeren Drucks aus Berlin auf die Hamburger SPD, der zum Ausscheiden aus dem Senat führte, sodass die NSDAP sie ersetzen konnte. Dies aber wäre aber nicht möglich gewesen, wenn die Hamburger Nationalsozialisten immer noch untereinander in Grabenkriegen gelegen hätten, wie es bis zu Kaufmanns Amtsantritt als Gauleiter 1929 der Fall war. Repräsentativ ist jedenfalls auch, dass Kaufmann als Reichsstatthalter sein Gauleiteramt vernachlässigte. Er übte es weiter aus, er behielt den Überblick und delegierte. Aber ab 1933 kann nur noch eingeschränkt von einem Gauleiter Kaufmann gesprochen werden. Er legte seinen Fokus stark auf sein Staatsamt. Andere Reichsstatthalter handelten ähnlich 92. Die Partei hatte den Staat erobert, es begannen Verschmelzungen und über 92 Dies lässt sich (zumindest grob) für zwei der bereits erforschten Reichsstatthalter, die in Personalunion mindestens über eine gewisse Zeit hinweg auch die Landesregierung leiteten und Gauleiter des territorial einigermaßen entsprechenden Gaues waren, (mal mehr mal weniger deutlich) feststellen. Vgl. für Mutschmann in Sachsen, bei dem freilich die „Gauclique“ die Funktionen des Staats innerhalb der Staatsspähre übernahm, Schmeitzner, Mike: „Lieber Blut schwitzen...“ Martin Mutschmann und die sächsische „Gauregierung“ 1943 bis 1945, in: Schmeitzner, Mike/Vollnhals, Clemens/Weil, Francesca (Hrsg.): Von Stalingrad zur SBZ. Sachsen 1943 bis 1949, Göttingen 2016, S. 27–46, hier S. 34–40; für Robert Wagner in Baden(-Elsaß) Syré, Ludger: Der Führer vom Oberrhein. Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsaß, in: Kißener, Michael/Scholtyseck, Joachim (Hrsg.): Die Führer der Provinz. NS-Biographien aus Baden und Württemberg, 3. Aufl., Konstanz/München 2016, S. 733–780, hier S. 749f. Die drei gegenteiligen Fälle erklärten sich aus speziellen Bedingungen. Erster war Wilhelm Murr in Württemberg und Hohenzollern, höchstwahrscheinlich weil er als Ministerpräsidenten einen ihm treu ergebenen Gefolgsmann hatte, vgl. Scholtyseck, Joachim: „Der Mann aus dem Volk“. Wilhelm Murr, Gauleiter und Reichsstatthalter in Württemberg-Hohenzollern, in: Kißener, Michael/Scholtyseck, Joachim (Hrsg.): Die Führer der Provinz. NS-Biographien aus Baden und Württemberg, 3. Aufl., Konstanz/München 2016, S. 477–502, hier S. 491f. Zweiter war Jakob Sprenger in Hessen, wo sich der Gau zugleich auf den Volksstaat Hessen mit Sprenger als Reichsstatthalter und Ministerpräsident und auf die preußische Provinz Hessen erstreckte, er also nur teilweise der Staatsseite im Gau vorstand, vgl. Zibell, Stephanie: Jakob Sprenger (1884–1945). NS-Gauleiter und Reichsstatthalter in Hessen, Darmstadt/ Marburg/Lahn 1999, S. 304–306. Dritter war Alfred Meyer, bei dem das Gauleiteramt seine Wichtigkeit behielt, da sich der Gau auf vier staatliche Gebiete erstreckte, vgl. Priamus, Heinz-Jürgen: Meyer. Kaisertreue und NS-Täterschaft. Biographische Konturen eines deutschen Bürgers, Essen 2011, S. 294–299. Da bei Jordan für Anhalt diese Frage noch nicht untersucht wurde, kann für ihn nur spekuliert werden, dass er dem Trend eher entgegengesetzt wäre, wenn er es den anderen Reichsstatthaltern, Landesregierungschefs und Gauleitern nicht gleich getan hätte (vorausgesetzt, dass bei ihm nicht auch ein Spezialfall wie bei Meyer, Murr und Sprenger vorlag). Die Reichsstatthalter und Gauleiter der Reichsgaue außerhalb des „Altreichs“ sind hinsichtlich dieser Einzelfrage hier nicht vergleichbar, da sie mit den Reichsgauen institutionell zwar faktisch eine Art Ministerpräsident in Form von Reichsstatthalter und Gauleiter in einer Person
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Personalunionen und Anordnungsrechte war es eher die Partei die den Staat beherrschte, als der Staat die Partei. Für Kaufmann war damit der Zeitpunkt gekommen, Mitgliederwerbung, Parteiorganisation und ähnliches in den Hintergrund treten zu lassen, um den eroberten Staat mit nationalsozialistischem Geist zu füllen. Dies war nur konsequent. Kaufmann widmete sich also nach 1933 mehr der Führung des Staats Hamburg statt des Gaues Hamburg, und sein Fokus galt mehr den „Volksgenossen“ als den „Parteigenossen“. Wie noch ausführlich zu sehen sein wird, wurde Kaufmann nach 1933 eher ein Staatsmann, als dass er Parteipolitiker blieb 93, er wurde also mehr Reichsstatthalter und Bürgermeister, als dass er Gauleiter blieb.
3.2. (Kein gewöhnliches) Mitglied des Reichstages: Schriftführer des Präsidiums (1930–1945) „Der Parlamentarismus ist längst reif zum Untergang. Wir werden ihm das Sterbegeläut geben. Ich habe jetzt schon das Theater satt. Mich wird man nicht zu oft in diesem Hohen Hause zu sehen bekommen.“ 94
Der zitierte Tagebucheintrag Goebbels' stammt vom 13. Juni 1928 und bringt kurz und prägnant die Einstellung der NSDAP zum Parlamentarismus auf den Punkt. Im Zusammenhang mit der Erläuterung des Verhältnisses der NSDAP zum Parlamentarismus in Preußen wurde bereits dargestellt, dass die NSDAP zwar nie einen Hehl aus ihrer antidemokratischen Ausrichtung machte, zugleich jedoch nach der Neukonsolidierung der Partei ab 1925 einen vergleichsweise strengen Legalitätskurs verfolgte. Die Macht sollte nicht mehr über die Straße versucht werden zu erringen, sondern über die Parlamente. Je nach Interpretation gelang ihr das auch. In diesem Sinne war der Reichstag für die NSDAP zugleich eine Bühne und eine Annehmlichkeit. Als Bühne konnte der Reichstag genutzt werden, indem sie andere Parteien immer wieder vorführten. Eines der bekanntesten Beispiele hierfür ist die Plenarsitzung vom 12. September 1932, in welcher von Papen den Reichstag mithilfe des frisch
waren, aber nicht über die Verwaltungskörperschaft eines Landes verfügen mussten beziehungsweise konnten. Dies ist, wie noch ausführlich erläutert wird, gerade so kennzeichnend für die Reichsgaue nach 1938, da bei deren Einrichtung nicht auf ältere Befindlichkeiten Rücksicht genommen werden musste. Die Länderinstitutionen konnten dort problemlos ersetzt oder absorbiert werden. Zugleich wurde hierbei auch der Einfluss des Reichsinnenministeriums nachhaltig gebrochen, womit sich die Gauleiter des „Altreichs“ noch gelegentlich befassen mussten. Vgl. dazu Ruck, Michael: Partikularismus und Mobilisierung – traditionelle und totalitäre Regionalgewalten im Herrschaftsgefüge des NS-Regimes, in: Reichardt, Sven/Seibel, Wolfgang (Hrsg.): Der prekäre Staat. Herrschen und Verwaltung im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2011, S. 75–120, hier S. 97f. 93 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen in den Unterkapiteln 4.1. und 4.2. 94 Goebbels: Tagebücher, Bd. 1, S. 297f.
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durch von Hindenburg unterzeichneten Auflösungsdekrets auflösen wollte. Göring als Reichstagspräsident ignorierte ihn einfach so lange, bis ein von der KPD gegen die Regierung Papen angestrengtes Misstrauensvotum mit 512 zu 42 Stimmen durchgeführt worden war. Ursprünglich war nur eine Regierungserklärung von Papens als Tagesordnungspunkt vorgesehen gewesen. Göring schob den Misstrauensantrag davor 95. Aufgrund des exemplarischen Charakters für die regelmäßigen Störungen des Parlamentsbetriebs durch die NSDAP lohnt sich ein längeres Zitat aus dem Protokoll der genannten Sitzung: „Präsident Göring: Die Abstimmung ist namentlich. (Andauernde große Unruhe.) Ich bitte um Ruhe. […] Die Abstimmung hat begonnen. (Lebhafter Beifall bei den Kommunisten. – Andauernde große Bewegung im Haufe. – Reichskanzler von Papen legt auf den Präsidententisch ein Schriftstück nieder und verläßt mit den Mitgliedern der Reichsregierung den Saal. – Rufe von den Kommunisten: Nieder! – Glocke des Präsidenten.) Meine Damen und Herren! Wir müssen die Abstimmung durchführen. Wir waren bereits in der Abstimmung. Ich muss zuerst die Abstimmung durchführen, bevor ich andere Maßnahmen treffen kann. (Große Unruhe und Zurufe.) […] Meine Damen und Herren! Ich verkünde das Ergebnis der namentlichen Abstimmung. Es wurde abgestimmt […] dem Gesamtkabinett von Papen das Mißtrauen auszusprechen. Abgegeben worden sind 550 Karten. Davon haben sich 5 Abgeordnete der Stimme enthalten. 32 Abgeordnete haben mit Nein, 513 Abgeordnete mit Ja gestimmt. (Stürmischer Beifall und Händeklatschen. […]) Meine Damen und Herren! Nachdem bereits die Abstimmung begonnen hatte, hat der Herr Reichskanzler um das Wort ersucht. Nach der Abstimmung hätte ich gemäß der Verfassung dem Herrn Reichskanzler das Wort erteilen müssen und ihm auch erteilt; während derselben ist es mir nicht möglich. (Abgeordneter [und stellvertretender Reichstagspräsident] Graef […]: Er kann es jederzeit nehmen! – Unruhe.) – Jetzt spreche ich! Ich bitte erneut um Ruhe. Während der Abstimmung hat der Herr Reichskanzler mir ein Schreiben überreicht, das gegengezeichnet ist von ei-
95 Eine anschauliche Beschreibung der Ereignisse zwischen dem Antrag der KPD, von dem die NSDAP überrascht wurde, und deshalb eine halbstündige Sitzungsunterbrechung zur Besprechung mit Hitler nutzte, und dem physischen Verhalten von Papens und Görings, das im Protokoll nicht vorkommt, bietet Baldur von Schirach in seinen Memoiren. Hierbei ist unter anderem auch deutlich beschrieben, wie Göring von Papen nicht einfach „nur“ ignorierte, sondern ihm deutlich seinen (großen) Rücken zuwandte, von Papen zweimal seinen Staatssekretär zu Göring hinauf schickte, und schließlich persönlich „Göring die rote Mappe hinknallte“, die das Auflösungsdekret beinhielt. Vgl. Von Schirach, Baldur: Ich glaubte an Hitler, Hamburg 1967, S. 147– 151. Zu Schirachs Werdegang vgl. Wortmann, Michael: Baldur von Schirach, Hitlers Jugendführer, Köln 1982.
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nem Reichskanzler und einem Reichsinnenminister, die durch das Mißtrauensvotum der Volksvertretung als gestürzt zu gelten haben. Hiermit ist das Schreiben hinfällig geworden. (Erneuter lauter Beifall der Nationalsozialisten.)“ 96
Das zitierte Beispiel der Plenarsitzung ist nicht nur für die Haltung der NSDAP charakteristisch (ebenso wie es ständig zwischengerufene Beleidigungen und Drohungen waren) 97. Denn Kaufmann persönlich hatte an genau dieser Szene nicht unerheblichen Anteil. Görings Verhalten als Reichstagspräsident zog eine Untersuchung des Reichstagsausschusses „zur Wahrung der Rechte der Volksvertretung“ nach sich, welcher zumeist als „Überwachungsausschuß“ bezeichnet wurde. Kaufmann wurde in diesem nach seiner Wahrnehmung der kritischen Szene befragt, da er kein „gewöhnlicher“ Abgeordneter der NSDAP, sondern einer der zwölf Schriftführer des Reichstagsvorstands war. Auf diesen Umstand wird nachfolgend noch zurückzukommen sein. Kaufmann traf unter anderem folgende Aussage: „Ich habe an dem fraglichen Tage oben auf dem Sitz am weitesten links gesessen. Reichstagspräsident Göring kam herein, eröffnete die Sitzung und ging dann auch gleich zu der Erklärung über, daß der Antrag Torgler nunmehr zur Abstimmung stehe. Er hat dann auch sogleich durch einen Satz – des Satzes entsinne ich mich nicht mehr genau – die Abstimmung gleich eröffnet. Ich halte es für die Pflicht eines Abgeordneten oder auch eines Mitgliedes der Regierung, wenn er im Reichstag zu Wort kommen will, sich in einer Art und Weise zum Wort zu melden, die es dem Präsidium ermöglicht, zu erkennen, daß der Betreffende das Wort wünscht. Vorher, vor Eröffnung der Abstimmung, war von oben, vom Präsidium aus, überhaupt nicht ersichtlich, daß der Reichskanzler das Wort wünschte. Man hat oben nichts gehört und hat auch oben nichts gesehen. Im Verlauf dieser Vernehmungen [im Ausschuss] ist gesagt worden, der Reichstagspräsident Göring habe eine abwehrende Handbewegung gemacht. Diese abwehrende Handbewegung habe ich festgestellt. Reichstagspräsident Göring hat sie in dem Augenblick gemacht, als die Abstimmung schon fast beendet war und der
96 Verhandlungen des Reichstags. VI. Wahlperiode, Bd. 454. Stenographische Berichte. Anlagen zu den Stenographischen Berichten. Sach- und Sprechregister, Berlin 1932, S. 15. Hervorhebungen im Original. Die Unterschiede im zuerst verkündeten Abstimmungsergebnis und dem tatsächlich zutreffenden Endergebnis (512–42–5) erklärt sich daraus, dass Göring nur das vorläufige Endergebnis erhielt, es aber nicht als solches bezeichnete. Auch im Protokoll ist dies entsprechend vermerkt, es handelt es sich also nicht um einen Fehler oder eine Manipulation. Vgl. ebd., S. 21. Bei dem „Abgeordneten Graef“, dessen Zwischenruf Göring so vehement zurückwies, handelte es sich um den DNVP-Politiker Walther Graef, der zeitweilig sogar Vizepräsident des Reichstages war. Zu dessen Lebensweg zu dahin vgl. Reichstags-Handbuch, VI. Wahlperiode 1932, S. 84. 97 Vgl. zum politischen Umgangston im Reichstag (nicht nur, aber vor allem seitens der NSDAP) grundlegend das Werk von Mergel, Thomas: Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, 3. Aufl., Düsseldorf 2012.
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Schriftführer Laverrenz das Dokument des Reichskanzlers dem Reichstagspräsidenten zuschob. Das hat der Reichstagspräsident abgelehnt, weil er nach meiner Auffassung den Rechtsstandpunkt vertrat, daß man sich in einer bereits begonnenen Handlung befand, einer Handlung, die bereits begonnen hatte, bevor dem Präsidium ersichtlich war, daß der Reichskanzler das Wort wünschte und noch vor Abschluß dieser Abstimmungshandlung wohl hatte zu Wort kommen wollen.“ 98
Ob Kaufmann hierbei die Wahrheit sagte, ist nicht mehr zu ermitteln. Ob er mit seiner Passivität in der Reichstagssitzung einfach dabei half, von Papen vorzuführen oder ob er tatsächlich nichts von dessen aufgeregtem Schwenken mit dem Blatt Papier bemerkte: Die Plenarsitzung ist ein anschauliches Beispiel für die Nutzung des Reichstags als Bühne durch die NSDAP. Neben der Bühne, die der Reichstag für die NSDAP bis zur „Machtergreifung“ darstellte, war dieser für sie auch eine große Annehmlichkeit. Sinnfällig und dabei die Institution des Reichstags verächtlich machend hat Goebbels dies in einem Artikel zum Ausdruck gebracht. In diesem hieß es verspottend unter anderem: „Im gewöhnlichen Leben nennt man das: MdR. = Mitglied des Reichstages. […] Ich bin kein Mitglied des Reichstages. Ich bin ein IdI. Ein IdF. Ein Inhaber der Immunität, ein Inhaber der Freifahrtkarte. Was geht uns der Reichstag an? Wir haben nichts mit dem Parlament zu tun.“ 99
Goebbels ist für genau diese Immunität der Abgeordneten ein hervorragendes Beispiel. Immer wenn der Reichstag aufgelöst wurde, und es bis zur Neuwahl einige Wochen dauerte, versuchte die Justiz ihn für diverse Handlungen zu belangen. Meistens gingen diese Versuche für Goebbels positiv aus, etwa im Zeitfenster zwischen der Auflösung des Reichstags am 18. Juli 1930 und dessen Neuwahl am 14. September, in dem er sich unter anderem wegen Beleidigung des preußischen Ministerpräsidenten vor Gericht verantworten musste, jedoch freigesprochen und von SA-Angehörigen in bester Laune auf ihren Schultern aus dem Gericht hinaus getragen wurde 100. Individuell für Goebbels ein voller Erfolg. Der Reichstag in der Weimarer Republik war für die NSDAP aber nicht ausschließlich nur Bühne und Annehmlichkeit. Denn mit den steigenden Erfolgen bei den Reichstagswahlen verloren andere Parteien logischerweise Stimmen sowie Abgeordnete und damit Einfluss im Parlament. Zwar hatte die „Weimarer Koalition“ der Nationalversammlung von 1919 auf Reichsebene schon ab der ersten Reichstagswahl keine Mehrheit 98 Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Das Kabinett von Papen. 1. Juni bis 3. Dezember 1932, Bd. 2. September bis Dezember 1932. Dokumente Nr. 130–240, Boppard am Rhein 1989. Herausgegeben von Karl Dietrich Erdmann und Wolfgang Mommsen, S. 703–705. 99 Goebbels, Joseph: „IdI.“, DA, 2 (1928), H. 48. 100 Vgl. Reuth: Goebbels, S. 167.
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mehr 101. Dafür verblieb aber die Zusammenarbeit mit den „halb-demokratischen“ Parteien 102. Durch den zunehmenden Erfolg von NSDAP und KPD als erklärten Feinden der Republik wurden die Koalitionsmöglichkeiten und die innenpolitischen Spielräume jedoch immer kleiner. Wahlerfolge für die NSDAP oder KPD (und in Teilen der DNVP) bedeuteten also automatisch zunehmende Bedrängnis der demokratischen Parteien. Während die NSDAP zwischen 1924 und 1928 Ergebnisse zwischen 2,6 und 6,5 Prozent erzielte, holte sie 1930 18,3, 1932 zuerst 37,3 und dann 33,1 Prozent. Zugleich errang die KPD zwischen 1920 und 1932 stets zwischen 2,1 und 16,9 Prozent. Ab der Wahl vom Juli 1932 konnte gegen die beiden Parteien keine Mehrheitskoalition mehr gebildet werden 103. Die parallele Aushöhlung der Demokratie durch von Hindenburgs Präsidialkabinette ab 1930 verstärkten den Machtverfall der demokratischen Parteien des Reichstags noch mehr 104. Der Legalitätskurs der NSDAP hatte also dahingehend Erfolg, als da er über die erfolgreiche Beteiligung an Wahlen dazu führte, dass eine Mehrheit ohne die
101 Die „Weimarer Koalition“ aus SPD, Zentrumspartei und DDP verfügte in der Nationalversammlung von 1919 noch über rund 78 Prozent, im ersten Reichstag von 1920 jedoch nur noch über rund 44 Prozent. Vgl. zum stetigen Rückgang Kolb/Schumann: Republik, S. 43. 102 Gemeint sind hiermit weniger einzelne Splitterparteien, die zumeist über einige wenige Abgeordnete verfügten, sondern die DNVP und die DVP. Während die DNVP zu Beginn der Weimarer Republik offen antidemokratisch auftrat, beteiligte sie sich in den „Goldenen Zwanzigern“ an mehreren Landes- und Reichsregierungen. Dies ist vor allem auf ein zeitweises innerparteiliches Durchsetzen des konservativen gegenüber des radikalen Parteiflügels zurückzuführen. Infolge der herben Wahlniederlage bei der Reichstagswahl von 1928 setzten sich unter Alfred Hugenberg die radikaleren nationalistischen Kräfte durch, wodurch die Partei fortan einen strikt destruktiven Kurs verfolgte. 1933 agierte sie als (schnell ausgepielter) Koalitionspartner der NSDAP in der Reichsregierung. Zur Entwicklung der Partei in der Weimarer Republik vgl. Mergel, Thomas: Das Scheitern des deutschen Tory-Konservatismus. Die Umformung der DNVP zu einer rechtsradikalen Partei 1928–1932, in: HZ, 276/2003, S. 323–368, hier S. 329–366. Zum Aufstieg Hugenbergs in der DNVP und der damit verbundenen Wende der Partei vgl. Holzbach, Heidrun: Das „System Hugenberg“. Die Organisation bürgerlicher Sammlungspolitik vor dem Aufstieg der NSDAP, Stuttgart 1981, S. 192–252. Anders als die Entwicklung der DNVP verlief diese bei der DVP. Die rechtsliberale Partei bekannte sich zwar zur Monarchie und lehnte dementsprechend die Demokratie ab. Allerdings arbeitete sie in zahlreichen Landes- und Reichsregierungen als „Vernunft-Republikaner“ mit, da eine Rückkehr zur Monarchie als (noch) nicht umsetzbar galt. Dahingehend galt die DVP als eine Art „Scharnier“ zwischen den Parteien, die sich restlos zur Demokratie bekannten, und den rechtsgerichteten Parteien, die diese ablehnten. Mit den Verwerfungen der Parteienlandschaft ab 1929 wurde auch die DVP zwischen den größeren Parteien immer mehr zerrieben, bis sie nur noch einige wenige Abgeordnete im Reichstag vertreten hatte. Zu diesen Wegscheiden der DVP vgl. Richter, Ludwig: Die Deutsche Volkspartei 1918–1933, Düsseldorf 2002, S. 31–45 und S. 662–674. 103 Zu den Wahlergebnissen und der Sitzverteilung der Reichstagswahlen in der Weimarer Republik vgl. Jahrbuch 1932, S. 539. 104 Zur Machteinbuße im Zuge der Entwicklung der Präsidialkabinette ist in ihren Grundaussagen bis heute allgemein gültig das Standardwerk von Bracher, Karl Dietrich: Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, 5. Aufl., Villingen 1971, S. 334–351.
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NSDAP oder die von den demokratischen Parteien ebenfalls gemiedene KPD nicht mehr zu bilden war. Das parlamentarische System war damit blockiert, und ein Regieren ohne NSDAP oder KPD nur noch über den Reichspräsidenten ohne parlamentarische Mehrheit möglich. Diese „Blockade“ hielt bis zu Hitlers Ernennung zum Reichskanzler an. Mit der „Machtergreifung“ 1933 änderte sich die Funktion des Reichstags für die NSDAP wesentlich. Während er bis dahin Mittel zum Zweck war, also die Möglichkeit auf legalem Wege in die Reichsregierung zu gelangen, und von dort ausgehend die eigenen Vorstellungen umzusetzen, wurde das Parlament als Legislative sehr schnell ausgeschaltet. Das Kabinett Hitler aus NSDAP und DNVP stützte sich wie die Vorgängerregierungen auf die Verordnungen des Reichspräsidenten 105, bis das „Ermächtigungsgesetz“ der Reichsregierung die Handhabe gab, gänzlich ohne Parlament und vor allem Parlamentsmehrheit auszukommen 106. Der Reichstag hatte damit auch die letzten beschränkten Möglichkeiten, über die er angesichts der Präsidialkabinette noch verfügte, verworfen. Bis zum Ende des Jahres wurde das Parteienwesen im Reich von Grund auf umstrukturiert. Nach Verboten einzelner Parteien, wie der schon vor dem „Ermächtigungsgesetz“ ausgeschalteten KPD 107, folgten (teils erzwungen-)„freiwillige“ Selbstauflösungen, für welche die der Zentrumspartei fast schon als repräsentativ gelten kann 108. Der ursprüngliche Koalitionspartner DNVP kam noch sehr glimpflich davon, indem der Partei der Weg in die NSDAP mehr oder minder relativ offen stand, bevor auch die DNVP selbst ein Ende fand 109. Mit dem Verbot der Gründung neuer Parteien und dem Erklären der NSDAP zur einzig legalen Partei im Reich 110 wurde das deutsche Parteienwesen, welches sich über etliche Jahrzehnte hinweg entwickelt hatte 111, innerhalb einiger Monate zugunsten einer Einparteienherrschaft beseitigt.
105 Zur Bildung der neuen Reichsregierung, die mangels Mehrheit als Präsidialkabinett eingesetzt wurde, und diese erst mit der „halb-freien Wahl“ vom 5. März 1933 errang, vgl. Will, Martin: Die Kabinettsbildung vom 30. Januar 1933 vor dem Hintergrund des Verfassungswandels in der Spätphase der Weimarer Republik, in: STAAT, 43/2004, S. 121–143, hier S. 123–131. 106 Zur Einordnung des „Ermächtigungsgesetzes“, welches den offiziellen Namen „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ trug, und am 24. März 1933 von allen, auch den noch verbliebenen demokratischen Parteien mit Ausnahme der SPD verabschiedet wurde, und nicht nur aus diesem Grunde als „Kapitulation des Reichstags“ charakterisiert worden ist, vgl. Bracher: Stufen, S. 222–236. 107 Zur Position der KPD vgl. Broszat: Staat, S. 117f. 108 Zu den allgemeinen Umständen der Parteienlandschaft und der Selbstauflösung der Zentrumspartei vgl. nach wie vor Morsey, Rudolf: Der Untergang des politischen Katholizismus. Die Zentrumspartei zwischen christlichem Selbstverständnis und „nationaler Erhebung“ 1932/33, Stuttgart/Zürich 1977, S. 183–208. 109 Vgl. Broszat: Staat, S. 121–123. 110 RGBl. 1933/I, S. 479. 111 Ab wann von „Parteien“ im deutschen Raum gesprochen werden kann, ist nicht eindeutig geklärt. Frühe politische Gruppenbildungen, die als eine Art Vorstufe der späteren Parteien verstanden werden können, entstanden jedoch Anfang des 19. Jahrhunderts. Damit wurde 1933 ein Parteiensystem beseitigt, das sich über etwa 130 Jahre hinweg entwickelt hatte. Zur frühen
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Fortan diente der Reichstag Zwecken der Akklamation sowie der Bindung und Belohnung der eigenen Anhänger, welche die verwaisten Sitze der verbotenen Parteien rasch auffüllten. Mit der Wahl vom 12. November 1933 entstand der erste von Beginn an rein nationalsozialistische Reichstag 112. Es folgten die Wahl vom 29. März 1936, sowie die Wahl vom 10. April 1938. Wegen des Krieges wurde die nächste Wahl für 1943 auf 1947 verschoben 113. Inhaltlich erbrachten die nach dem „Ermächtigungsgesetz“ insgesamt nur noch 19 Plenarsitzungen bis zur letzten von 1942 114 lediglich die öffentlichkeitswirksame Zustimmung zu einigen speziellen propagandistischen Vorhaben. Hierzu zählen insbesondere Erklärungen und Reden Hitlers 115 und insgesamt sieben beschlossene Gesetze wie etwa die „Nürnberger Gesetze“ 116 (gegenüber 986 durch das „Ermächtigungsgesetz“ von der Regierung erlassenen Gesetze 117). Mehr verblieb dem Reichstag nicht. Auch die Ausschusssitzungen, die den Reichstag zumindest bis zu den Präsidialkabinetten 1930 als Arbeitsparlament gekennzeichnet hatten, entfielen bis auf wenige Ausnahmen 118. Für die Reichstagsabgeordneten zwischen 1933 und 1945 blieben vor
Bildung von politischen Gruppen im deutschen Raum vgl. Fenske, Hans: Deutsche Parteiengeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Paderborn/ München/Wien/Zürich 1994, S. 32– 36. 112 Der neue Reichstag hatte 661 Abgeordnete, von denen 639 zur NSDAP gehörten. Weitere 22 parteilose als „Gäste“ bezeichnete Abgeordnete zogen zwar in den Reichstag ein, standen aber unter der Ägide der Partei, die sie auf ihre Listen gesetzt, und damit für ihre Wahl gesorgt hatte. Sie waren lediglich nur (noch) keine förmlichen NSDAP-Mitglieder. Zur Auflistung der Abgeordneten inklusive der „Gäste“ vgl. Reichstags-Handbuch, IX. Wahlperiode 1933, S. 107–112. Ein Beispiel für die „Gäste“ war Paul Bang, der für die DNVP Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium des Kabinetts Hitler war. Mit der Auflösung der DNVP blieb er Reichstagsabgeordneter, zuerst als „Gast“, später dann als reguläres NSDAP-Mitglied. Vgl. Lilla: Statisten, S. 19. 113 Zu Ursachen und Folgen dieser Verschiebung der Wahl und damit enormen Verlängerung der Legislaturperiode vgl. Hubert: Reichstag, S. 188–207. 114 Vgl. ebd., S. 197. Mit dieser letzten Sitzung wurde die „Beiseitedrängung“ des Reichstags als oberer Institution faktisch vollendet. Dies nicht nur, weil es die absolut letzte Sitzung dieses Organs war, sondern vor allem, weil Hitler den Reichstag proklamieren ließ, dass er, Hitler, sich mit seinen „Führerbefehlen“ jederzeit über alle Rechtsvorschriften und institutionelle Verfahren hinweg setzen könne. Die Selbstausschaltung des Reichstags als Organ des Reiches hatte damit seinen Höhepunkt erreicht. Vgl. hierzu Ruck: Zentralismus, S. 101. 115 Vgl. Hubert: Reichstag, S. 215–233. 116 Diese sieben vom Reichstag beschlossenen Gesetze waren in chronologischer Reihenfolge das „Gesetz zum Neuaufbau des Reiches“ (RGBl. 1934/I, S. 75), das „Reichsflaggengesetz“ (RGBl. 1935/I, S. 1145f.), das „Reichsbürgergesetz“ (RGBl. 1935/I, S. 1146), das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ (RGBl. 1935/I, S. 1146f.), das erste „Gesetz zur Verlängerung des Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich“ (RGBl. 1937/I, S. 105), das zweite „Gesetz zu Verlängerung des Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich“ (RGBl. 1939/I, S. 95) sowie das „Gesetz über die Wiedervereinigung der Freien Stadt Danzig mit dem Deutschen Reich“ (RGBl. 1939/I, S. 1547f.). 117 Vgl. Hubert: Reichstag, S. 215. 118 Bis zum Ende aller Ausschusstätigkeiten im Herbst 1933 hatten nur noch einige wenige Ausschüsse gearbeitet, die jedoch vor allem propagandistischen Zwecken dienten, vgl. hierzu ebd.,
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allem die prestigeträchtige Bezeichnung „Mitglied des Reichstages“, die Freifahrtkarte 119, die im „Dritten Reich“ ohnehin ausgehebelte Immunität 120, sowie die Abgeordnetendiät. Diese war für die Abgeordneten zwar attraktiv, aber für die Partei noch viel reizvoller. Denn Gehälter, die von der Partei an ihre hauptamtlichen Mitarbeiter wie etwa die meisten Gauleiter ausgezahlt wurden, wurden in der Regel um die Höhe der Diät gemindert. Dass Kaufmann als Hamburger Gauleiter kein Gehalt bezog war eher die Ausnahme. Hätte er kein Parlamentsmandat gehabt, wäre dies wahrscheinlich anders gewesen, denn irgendwoher mussten die Führungskräfte schließlich ihre Finanzierung erhalten. Jedenfalls war der Abzug der Diäten bei den Parteigehältern der Standard. Hierdurch musste die Partei den betreffenden Betrag nicht selbst zahlen, und konnte ihn auf die staatlichen Institutionen abwälzen 121. Dies ist ein sehr sinnfälliges Beispiel für die Position, die die Partei im Staat ab 1933 eingenommen hatte. Kaufmann selbst jedenfalls erhielt „nur“ die noch im Dezember 1930 auf 600 RM im Monat erhöhte Abgeordnetendiät. An und für sich eine zeitgenössisch große Summe (allerdings waren hiervon auch die Aufenthaltskosten in Berlin zu tilgen, da dafür kein Geld bereit gestellt wurde) 122. Bei den wenigen Sitzungen in Berlin nach der „Machtergreifung“ fiel das aber nicht weiter ins Gewicht. Kaufmann ist in der Hierarchie der Fraktion als nachgeordneter Teil der Spitze zu verorten. Zwar beteiligte sich die NSDAP vergleichsweise wenig am parlamentarischen Betrieb, was Anträge, Diskussionen und ähnliches betraf. Aber dennoch gibt es einige Eckpunkte, an denen Kaufmanns Position innerhalb der streng hierarchischen NSDAP erS. 46–48. Das bekannteste Beispiel hierfür ist der Untersuchungsausschuss für das Bankenwesen. Dieser sollte über eine Reform des Bankenwesens beraten. Die Bankenkrise von 1931 war den Zeitgenossen von 1933 noch äußerst gut im Gedächtnis. Zu einem Ergebnis im Sinne eines Reformvorschlages gelangte der Untersuchungsausschuss jedoch nicht. Zum Untersuchungsausschuss vgl. James, Harold: Die Deutsche Bank und die Diktatur. 1933–1945, in: Gall, Lothar/ Feldman, Gerald D./James, Harold/Holtfrerich, Carl-Ludwig/Büschgen, Hans E. (Hrsg.): Die Deutsche Bank. 1870–1995, München 1995, S. 315–409, hier S. 323–325. 119 Vgl. Hubert: Reichstag, S. 314–316. 120 Vgl. ebd., S. 305–311. Da die Abgeordneten einerseits sowieso Führungsämter innerhalb der Hierarchie der Partei ausübten, und sich ihrer Position durchaus bewusst waren, waren sie faktisch auch ohne Abgeordnetenimmunität vor Strafverfolgungen geschützt. Andererseits bot auch die Abgeordnetenimmunität keinen Schutz, wenn es darum ging, missliebige Personen auszuschalten. Die Ausschaltung der SA 1934 ist hierfür ein eindrückliches Beispiel, da zu den Ermordeten auch mehrere Abgeordnete zählten. Vgl. hierzu die Liste der Ermordeten bei Gritschneder, Otto: „Der Führer hat Sie zum Tode verurteit…“. Hitlers „Röhm-Putsch“-Morde vor Gericht, München 1993, S. 59–63. 121 Vgl. Hubert: Reichstag, S. 372. Diese Regelung wurde jedoch nicht immer strikt eingehalten. Dadurch konnten die wenigen Betreffenden, so beispielsweise Göring, je nach „Ämterhäufung“ enorme Einnahmen aufweisen, was unter denjenigen, bei denen die Abzüge durchgeführt wurden, zu Unmut führte. Geändert im Sinne von „vereinheitlicht“ wurde diese Praxis jedoch nie. Vgl. ebd., S. 313. 122 RGBl. 1930/II, S. 1275–1276, hier S. 1275.
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kannt werden kann. Dies beginnt bereits mit der Sitzordnung. Es mag vermeintlich nachrangig sein, welcher Abgeordneter wo seinen Stammplatz innehatte. Aber schon die Form des Sitzungssaales ist auf die Mitte des Raumes hin zentriert angelegt, sodass nur wenige Abgeordnete vorne und mit jeder weiteren Reihe nach hinten immer mehr Abgeordnete sitzen konnten. Bereits aus Gründen der Sichtbarkeit, Präsenz und Repräsentativität waren die vorderen Plätze also prominenteren Persönlichkeiten vorbehalten. Die NSDAP-Fraktion nahm im Plenarsaal des Reichstags der V. Wahlperiode ab 1930 in der vorderen ersten Reihe drei Sitze ein und erstreckte sich bei einer Breite von bis zu elf Plätzen nebeneinander bis auf die letzte sechzehnte Reihe mit fünf Sitzplätzen. Als Kaufmann 1930 als einer von 107 nationalsozialistischen Abgeordneten in den Reichstag einzog, erhielt er fraktionsintern den Plenarsitzplatz mit der Nummer 118 123. Der entsprechende Sitzplatz lag in der fünften Reihe. Neben sich hatte Kaufmann sechs andere Fraktionsmitglieder und vor sich lediglich 16 124. Bei diesen 16 Abgeordneten handelte es sich ausschließlich um hochgradige Parteiprominenz der NSDAP des Jahres 1930: Frick, Franz Stöhr, Gregor Strasser, Feder, Franz Ritter von Epp, Göring, Goebbels, Walter Buch, Josef Wagner, Wilhelm Dreher, Graf zu Reventlow, Konstantin Hierl, Bernhard Rust, Mutschmann, Alfred Rosenberg sowie Werner Willikens 125. Die sechs Personen neben ihm waren niemand anderes als Hans Frank, Anton Franzen, Wilhelm Friedrich Loeper, Jakob Sprenger, Ley sowie der etwas weniger bekannte Jürgen von dem Knesebeck 126. Auf diesem Platz saß Kaufmann jedoch nur dann, wenn er nicht als Schriftführer beim Reichstagspräsidenten saß.
123 Vgl. Reichstags-Handbuch, V. Wahlperiode 1930, S. 638. 124 Vgl. ebd., S. 648. 125 Vgl. ebd., S. 627. 126 Vgl. ebd., S. 628.
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Abb. 5: Kaufmanns Porträt im Handbuch des 1930 neugewählten Reichstags 127. Die Frisur behielt Kaufmann (soweit sich Fotos erhalten haben) stets bei, lediglich die Kopfseiten waren nicht immer so viel kürzer als der Rest der Frisur. Dies ist keine „kleine Anekdote“, sondern tatsächlich eines der äußerlichen Kontinuitäten in Kaufmanns Leben gewesen. Die wenigsten Menschen behalten über Jahrzehnte hinweg die gleiche Haarfrisur bei. Gleiches gilt für Kaufmanns Unterschrift. Auch diese veränderte sich auf allen erhaltenen Dokumenten von Anfang der 1920er bis zu seinem Tod 1969 nie. Auch in den darauffolgenden Legislaturperioden erhielt Kaufmann relativ prominente Sitzplätze als Stammplatz im Plenarsaal. Für den VI. Reichstag kann dies nicht behauptet werden, da hierfür das Sitzplatzverzeichnis nicht erhalten ist. Im VII. Reichstag erhielt er jedoch den Sitzplatz 172 128, womit er sich in der siebten Reihe befand 129. Dies könnte irritieren. Allerdings muss hierbei erwähnt werden, dass die Fraktion erheblich angewachsen war (von 107 im V. auf 230 Abgeordnete im VII. Reichstag), und dass sich die
127 Vgl. ebd., S. 557. 128 Reichstags-Handbuch, VII. Wahlperiode 1932, S. 576. 129 Ebd., S. 595.
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„breite“ NSDAP-Fraktion nunmehr auf drei Sitzungsblöcke statt auf zwei verteilen musste. Angesichts dessen bedeutete die siebte Reihe keine Zurücksetzung. Eine „Beförderung“ bedeutete sie aber ebenso wenig, sondern eher eine Stagnation. Für die Legislaturperioden des VIII. und des IX. Reichstages sind keine Sitzungsordnungen erhalten. Da Kaufmann inzwischen aber Reichsstatthalter geworden war, und damit selbst unter den Gauleitern zu einer herausragenden Gesellschaft gehörte, kann von einem prominenteren Platz im Sitzungssaal ausgegangen werden. Nachdem bereits für die Plenarsitzungen des IX. Reichstages wegen der Zerstörung des Gebäudes durch den Reichstagsbrand 130 mehrfach auf alternative Sitzungsorte zurückgegriffen werden musste, setzte sich dies in den darauffolgenden Plenarsitzungen fort. Zwar waren diese Sitzungen nicht mehr von Debatten, Anträgen und Abstimmungen geprägt, sondern im Wesentlichen durch Verlautbarungen Hitlers. Aber eine hohe symbolische Bedeutung kam dem Zusammentritt des Reichstages auch im „Dritten Reich“ noch zu. Ein alternativer Sitzungsort war die Berliner Krolloper, in der zugleich die meisten Sitzungen während der Zeit des „Dritten Reiches“ stattfanden. Kaufmann erhielt hier in der Legislaturperiode ab 1936 (die Zählung im „Dritten Reich“ wurde ab 1936 auf die erste Wahl nach der „Machtergreifung“ zurückdatiert, sodass hier von der III. Wahlperiode gesprochen werden müsste) den Sitzplatz mit der Nummer 26 131. Im Sitzungssaal entsprach das dem ersten Platz in der ersten Reihe vom Präsidium aus betrachtet rechts. Kaufmann befand sich also von allen Abgeordneten am nächsten an der Reichsregierung und zugleich auf dem rechtesten Platz, den es gab 132, also dort, wo die NSDAP in der Weimarer Republik nach dem Durchbruch 1930 als größte Rechtspartei für gewöhnlich gesessen hatte. Die Symbolkraft hiervon darf keinesfalls unterschätzt werden, zumal der Reichstag zu diesem Zeitpunkt nur noch repräsentative, also symbolische Funktionen besaß. Auch hier erscheint wieder der Vergleich mit den Sitzplätzen anderer Abgeordneter lohnend. In der ersten Reihe saß von links außen bis zu Kaufmanns Platz rechts außen hochgradige Prominenz des „Dritten Reiches“: Bormann, Bürckel, Ley, Frank, Esser, Kerrl, Alfred Meyer, von Papen, Franz Seldte, Viktor Lutze, Goebbels, Göring, Frick, Rudolf Hess, Hitler, Ritter von Epp, Dietrich Klagges, Mutschmann, Walther Darré, Wilhelm Murr, Hildebrandt, Robert Wagner, Röver, Sauckel und Sprenger 133. Andere Führungspersönlichkeiten des „Dritten Reiches“ mussten sich mit nachrangigen Plätzen zufrieden geben. Kube beispielsweise saß in der zweiten Reihe, Koch in der dritten, Grohé in der vierten, Terboven gar nur in der fünften von insgesamt 21 Reihen 134. In der Legislaturperiode ab 1938, welche die letzte des „Dritten Reiches“ darstellte, erhielt Kaufmann in 130 Zum Geschehen, seinen Auswirkungen und Folgen für das beginnende „Dritte Reich“ sowie die höchst kontroverse Rezeptionsgeschichte vgl. das Werk von Hett, Benjamin Carter: Der Reichstagsbrand. Wiederaufnahme eines Verfahrens, Reinbek 2016. 131 Reichstag 1936, S. 454. 132 Ebd., S. 453. 133 Ebd., S. 457. 134 Ebd., S. 456f.
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der Krolloper den Sitzplatz mit der Nummer 59 135. Dies entsprach nur noch der zweiten Reihe. Da die Sitze der Krolloper aber zwischenzeitlich umgebaut wurden, sodass die einzelnen Blöcke nunmehr kompakter und enger aneinander lagen, darf diese „Umschichtung“ nicht überbewertet werden. Für Kaufmann persönlich wird es angesichts der vielen erstrangigen Ämter, die er 1938 ausfüllte, aber eine Zurücksetzung bedeutet haben, zumal damit einige Persönlichkeiten in der ersten Reihe saßen, die über wesentlich weniger Einfluss und Ansehen besaßen, darunter etwa Adolf Hühnlein oder Karl Weinrich 136. Womit dies im zusammenhing, ist mangels Quellen nicht mehr klärbar. Ebenfalls für eine herausragende Stellung innerhalb der Fraktion spricht der Umstand, dass Kaufmann bereits 1930 Schriftführer des Reichstagsvorstands wurde. Aufgabe der in der Regel zwölf Schriftführer war es, den Reichstagspräsidenten beziehungsweise denjenigen Reichstagsvizepräsidenten, der die betreffende Sitzung leitete, hierin zu unterstützen. Es handelte sich nicht um eine repräsentative Funktion, da die Schriftführer tatsächlich an der Sitzungsleitung (und allgemein der administrativen Leitung des Parlamentes) mitwirkten, indem sie beispielsweise Meldungen zur Erteilung des Wortes beobachten und diese dem Sitzungsleiter mitzuteilen hatten. Hierbei waren sie zur Neutralität verpflichtet. Wenn also ein Abgeordneter der KPD um das Wort bat, und dieser im Sichtfeld Kaufmanns als Schriftführer lag, musste er den Reichstagspräsidenten ungestört auf diese Wortmeldung aufmerksam machen 137. Es handelte sich also um eine Tätigkeit, die neben der Präsenz und Aktivität des Reichstagspräsidenten relativ wenig auffiel, aber dennoch aktive, aufmerksame und vor allem neutrale Teilnahme erforderte. Die Wahl der Schriftführer erfolgte in der konstituierenden Sitzung eines neuen Reichstags, nachdem der Reichstagspräsident und seine Stellvertreter gewählt worden waren. Die Fraktionen unterbreiteten verschiedene Wahlvorschläge, das Plenum stimmte ab, und hiernach galten als gewählt die zwölf Kandidaten mit den meisten Stimmen 138. Für die NSDAP traten 1930 mehrere Kandidaten an, von denen Kaufmann und Karl Linder 139 gewählt wurden. Nicht gewählt wurde Ley, obwohl (oder vielleicht gerade weil) dieser wesentlich bekannter war als Linder. Kaufmann erhielt 259 von 503 gültigen Stimmen (Linder 255) und befand sich damit auf Rang elf 140. Die NSDAP stellte
135 Ebd., S. 562. 136 Ebd., S. 566f. 137 § 20 der Geschäftsordnung für den Reichstag bestimmte als Aufgaben: „Die Schriftführer unterstützen den Präsidenten; besonders haben sie die Schriftstücke vorzulesen, die Verhandlungen zu beurkunden, die Rednerliste zu führen, die Namen aufzurufen, die Stimmen zu sammeln und zu zählen, die Berichtigung der stenographischen Sitzungsberichte zu überwachen und die äußeren Angelegenheiten des Reichstags nach Weisung des Präsidenten zu besorgen. Der Präsident verteilt die Geschäfte unter sie.“ RGBl. 1923/ II, S. 101–113, hier S. 103. 138 Soweit bestimmte es § 17. Vgl. RGBl. 1923/II, S. 101–113, hier S. 102. 139 Zu Linder vgl. Schwarz: M.d.R., S. 705. 140 Verhandlungen des Reichstags. V. Wahlperiode 1930. Band 444. Stenographische Berichte (von der 1. Sitzung am 13. Oktober 1930 bis zur 26. Sitzung am 14. Februar 1931), Berlin 1931 [o. H.], S. 15.
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jedoch nur 107 Abgeordnete. Und selbst mit den 41 Stimmen der DNVP liegt die Summe lediglich bei 148. Werden hierzu noch die Stimmen der kleineren rechtskonservativen Parteien (CNBL, CSVD, KVP, LB) addiert, beträgt die Summe 188. Es müssen also noch einige weitere Stimmen (71 beziehungsweise 67) sowohl für Kaufmann (als auch für Linder) aus der katholischen politischen Mitte von Zentrum und BVP gekommen sein (SPD und KPD können trotz parlamentarischer Gepflogenheiten wegen der 1930 völlig zerrütteten politischen Kultur ausgeschlossen werden). Das Motiv wird deutlich, wenn die Kandidaten betrachtet werden, die hinter Linder als zwölften und damit letzten gewählten Kandidaten gelandet waren. Dort befanden sich nämlich unter anderem die Kandidaten der KPD, von denen kein einziger Schriftführer wurde. Den Fraktionen der Mitte war es bei den Wahlen darum gegangen, einen Schriftführer der KPD zu verhindern, auch wenn damit einer der NSDAP ermöglicht wurde. Nachdem Kaufmann einige Monate als Schriftführer im Reichstagsvorstand aktiv gewesen war, endete diese Tätigkeit sehr abrupt. Infolge einer Beratung über den YoungPlan im Plenum reichte Franz Stöhr als NSDAP-Reichstagsvizepräsident während der abschließenden Rede des Reichsaußenministers schriftlich seinen sowie in Vertretung den Kaufmanns und Linders Rücktritt ein 141. Nach dem Zusammentritt des VI. Reichstags im September 1932 wurde Kaufmann abermals zum Schriftführer gewählt. Hierbei gelangte er nicht nur auf Platz sechs, sondern erzielte mit 338 von 566 gültigen Stimmen ein äußerst gutes Ergebnis, schließlich verfügte die NSDAP nur über 230, die DNVP über 37 und die kleineren rechtsstehenden Abgeordneten zusammen über sieben Stimmen. Es mussten also wieder sehr viele Abgeordnete der politischen Mitte für Kaufmann gestimmt haben. Durch das sehr gute Abschneiden der NSDAP bei den vorangegangenen Reichstagswahlen blieb er dieses Mal als Schriftführer mit NSDAP-Mitgliedschaft keine Ausnahmeerscheinung. Linder wurde ebenfalls wiedergewählt, und von den zwölf Schriftführern gehörten nicht weniger als acht den Nationalsozialisten an, unter denen Kaufmann „nur“ das fünftbeste Ergebnis erreichte. Abermals wurde kein Kommunist gewählt und erstmals auch kein Sozialdemokrat 142. Lang hielt jedoch auch diese Tätigkeit nicht an, da der Reichstag schnellstens aufgelöst wurde. Auch im nächsten Reichstag wurde Kaufmann wieder zum Schriftführer gewählt. Sein Ergebnis war allerdings auf 210 Stimmen gesunken 143 (die Anzahl der gültigen Gesamtstimmen sind im Protokoll nicht festgehalten. Der Reichstag besaß zu diesem Zeitpunkt 585 Abgeordnete, von denen bei der Wahl aber mindestens sieben abwesend waren 144), obwohl die NSDAP über 196 und die DNVP über 52 Abgeordnete verfügte. Auch an den Wahlen zum neuen Vorstand ist aber wieder deutlich die Tendenz der bürgerlichen Parteien erkennbar, die rechtsgerichteten Parteien der KPD und teilweise auch der SPD vor141 Verhandlungen 1930, Band 444, S. 884. 142 Verhandlungen 1932, Band 455, S. 13. 143 Verhandlungen des Reichstags. VII. Wahlperiode 1932. Band 455. Stenographische Berichte. Anlagen Nr. 1 bis 230 zu den Stenographischen Berichten, Berlin 1933 [o. H.], S. 19. 144 Vgl. ebd., S. 2–4.
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zuziehen. Reichstagspräsident wurde Göring, also ein Nationalsozialist. Dessen drei Vizepräsidenten stammten von der DNVP, dem Zentrum sowie der BVP. Acht der zwölf Schriftführer waren NSDAP-Abgeordnete, einer stammt von der DNVP und drei vom Zentrum 145. Auch dieser Reichstag, und damit Kaufmanns Schriftführertätigkeit, blieben nicht lange bestehen. Infolge der im Vorlauf der „Machtergreifung“ im Januar 1933 verhandelten erneuten Reichstagsauflösung durch den Reichspräsidenten wurde der Wahltermin auf den 5. März 1933 gelegt. Kaufmanns Schriftführerschaft im VII. Reichstag dauerte damit wieder nur wenige Plenarsitzungen 146. Im neuen Reichstag wurde Kaufmann erneut zum Schriftführer gewählt. Da Göring als Reichstagspräsident nicht per Wahlzettel abstimmen ließ, sondern durch Erheben der Abgeordneten von ihren Sitzplätzen, ist keine Anzahl der Stimmen für Kaufmann zu ermitteln, sondern lediglich, dass es die Mehrheit war 147. Im ersten Reichstag des „Dritten Reiches“ setzte sich der Trend allerdings fort, wonach Kaufmann als Schriftführer mangels größerer Aktivität des Parlamentes viel zu erledigen gehabt hätte. Die letzte Plenarsitzung fand im Mai 1933 statt 148. Der im November 1933 neugewählte, erstmals „rein“ nationalsozialistische Reichstag trat im Dezember zusammen. Damit lag die letzte Plenarsitzung wieder sieben Monate zurück. Kaufmann wurde zur Wahl der neuen Schriftführer von der Fraktion nun aber nicht mehr als Kandidat vorgeschlagen 149. Auch in der konstituierenden Sitzung des darauffolgenden Reichstags vom Januar 1937 wurde Kaufmann nicht als Kandidat aufgestellt. Die betreffende Sitzung ist zudem ein gutes Beispiel für den sich wandelnden Umgang mit dem Reichstag: Wie anhand von Kaufmanns Wahlen zum Schriftführer erwähnt, 145 Vgl. Reichstags-Handbuch, VII. Wahlperiode 1932, S. 5. 146 Die dritte und letzte Plenarsitzung fand am 9. Dezember 1932 statt. Vgl. Verhandlungen 1932, Band 455, S. 57–111. Zu diesem Zeitpunkt waren die Ereignisse vom darauffolgenden Januar und Februar noch nicht absehbar. Durch die Weihnachtspause und der anschließenden Auflösung lag zwischen den regulären Plenarsitzungen des VII. und des VIII. Reichstages also mehr als vier Monate. In der Zwischenzeit arbeiteten auch keine Ausschüsse (außer jenem „zur Wahrung der Volksrechte“), sodass im Parlament wie bereits seit der Auflösung des V. Reichstages im Juni 1932 faktisch kein parlamentarisches Leben mehr existierte. Zwar wurde die Weimarer Republik auch schon seit 1930 mit den Notverordnungen des Reichspräsidenten innerlich „ausgehöhlt“. Allerdings existierte in dieser Zeit noch ein mehr oder minder funktionierendes Parlament mit Plenar- und Ausschusssitzungen, Debatten, Rechenschaftspflichten der Regierungsmitglieder und Verabschiedungen von Gesetzen. Mit der mehrfachen Auflösung des jeweils erst kürzlich zusammengetretenen neugewählten Parlamentes wurde dies immer neu unterbunden. 147 Wenngleich die Schriftführerwahlen Personenwahlen waren, ließ die Geschäftsordnung dieses Vorgehen Görings abweichend von den §§ 16f. nach § 18 zu. Vgl. RGBl. 1923/II, S. 101–113, hier S. 102. 148 Vgl. Verhandlungen des Reichstags. VIII. Wahlperiode 1933. Band 457. Stenographische Berichte. Anlagen zu den Stenographischen Berichten. Sach- und Sprechregister, Berlin 1934 [o. H.], S. 47–54. 149 Vgl. Verhandlungen des Reichstags. IX. Wahlperiode 1933. Band 458. Stenographische Berichte. Anlagen zu den Stenographischen Berichten, Berlin 1936 [o. H.], S. 1.
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wurde bereits bei der ersten Wahl nach der „Machtergreifung“ auf die Stimmzettel verzichtet und per Akklamation gewählt. Bei der nächsten Wahl wurde dieses Vorgehen wiederholt. Die danach folgende Wahl vom Januar 1937 verzichte sogar auf diese Abstimmung, indem Göring als Reichstagspräsident in der konstituierenden Sitzung verkündete, er bestelle einvernehmlich „mit dem Führer der Fraktion [Frick] […] folgende Abgeordnete zu Schriftführern“ 150. Warum Kaufmann nicht wieder aufgestellt wurde oder aufgestellt werden wollte, ist nicht eindeutig klärbar. Da er aber an Rang und Ansehen sämtlich der neuen beziehungsweise wiedergewählten Schriftführer inzwischen nicht nur „ein gutes Stück“, sondern weit überragte, wird der Grund hierin zu finden sein. Kaufmann war einer von rund 40 Gauleitern und einer von elf Reichsstatthaltern. Es wäre unangemessen erschienen, wenn jemand mit seinem Status in der strengen Hierarchie des Nationalsozialismus gleichrangig neben Unterführern von Parteigliederungen, Landräten oder Polizeidirektoren die Schriftführertätigkeit weiter ausgeübt hätte. In seiner ersten Legislaturperiode als Reichstagsabgeordneter ab 1930 geriet Kaufmann primär durch zeitweilige Aufhebungen seiner Immunität in den Fokus des Parlaments. Grundsätzlich verfügten die Abgeordneten gegenüber den Strafverfolgungsbehörden über die übliche Immunität. Allerdings konnte der Reichstag auf Antrag von Strafverfolgungsbehörden die Immunität mit einfacher Mehrheit aufheben. Im Falle Kaufmanns geschah dies mehrfach. Im Dezember 1930 wurde ein solcher Antrag zur Durchführung eines Vorführungs- und Haftbefehls in zwei Fällen gestellt. Das Plenum reichte dies als Arbeitsparlament routinemäßig an den zuständigen Geschäftsordnungsausschusses weiter 151, auf Antrag eines Abgeordneten der BVP 152 wurden jedoch mehrere miteinander nicht zusammenhängende Immunitätsangelegenheiten statt im Ausschuss in einer Plenarsitzung behandelt 153. Im März 1931 wurde Kaufmanns Immunität erneut aufgehoben. Dieses Mal ging es um ein Privatklageverfahren wegen Beleidigung 154. Ansonsten blieb er als Abgeordneter des Reichstags bis zu dessen Ende sehr unauffällig. Er hielt keine einzige Plenarrede und stellte auch keine Zwischenfragen. Dies ließe sich allerdings für die meisten NSDAP-Abgeordneten feststellen, da bis auf wenige Ausnahmen vorrangig Göring und Frick und ab 1933 Hitler im Plenum sprachen. Aber auch hinsichtlich anderer Auffälligkeiten, wie etwa den erwähnten Aufhebungen seiner Immunität bis 1933, blieb Kaufmann eher ein repräsentativer Teil der großen Masse der NSDAP-Abgeordneten. Ihre Namen fielen höchstens bei Immunitätsangelegenheiten, Reden hielten sie nicht. In seiner Funktion als Schriftführer statt als reiner Abgeordneter 150 Ebd. Hervorhebungen im Original. 151 Verhandlungen 1930, Band 444, S. 220. 152 Verhandlungen des Reichstags. V. Wahlperiode 1930. Band 449. Anlagen Nr. 401 bis 750 zu den Stenographischen Berichten, Berlin 1932 [o. H.], Anlage Nr. 730. 153 Dies hatte offenbar taktische Gründe, da von den Immunitätsangelegenheiten Abgeordnete mehrerer Parteien statt lediglich der vergleichsweise kleinen BVP-Fraktion betroffen waren. Es ging hierbei um nicht weniger als 65 Anträge zur Aufhebung der Immunität. Zur sehr erregten Debatte und der Aufhebung der Immunitäten vgl. Verhandlungen 1930, Band 444, S. 828–855. 154 Vgl. Verhandlungen 1930, Band 445, S. 1893–1898.
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„sprach“ Kaufmann zwar mehrmals. Allerdings beschränkte sich dies auf das Vorlesen von Dokumenten, wobei er sich ausgesprochen neutral verhielt 155. Eine besondere Gestaltungs- oder Wirkungsmöglichkeit hatte Kaufmann im Reichstag also nicht, beziehungsweise nahm er sie nicht wahr.
Abb. 6: Kaufmanns Porträt im Handbuch des ersten ausschließlich nationalsozialistischen Reichstags im Herbst 1933 156. Inzwischen war also seine Ernennung zum Reichsstatthalter erfolgt, was ihn selbst unter den Gauleitern zum einflussreichsten Kern dazugehören ließ. Nun gilt es zu betrachten, wie Kaufmanns weiteres Wirken als Reichstagsabgeordneter aussah. Denn die eigentliche Sacharbeit wurde schließlich nicht im Plenum geleistet, da der Reichstag ursprünglich als Arbeitsparlament konzipiert gewesen war. Diese Sacharbeit erfolgte in den verschiedenen Ausschüssen, in denen selbst die KPD aktiv mitarbeitete 157. Kaufmann aber wurde erst Reichstagsabgeordneter, als die Zeit der Präsidialkabinette angebrochen war. Der Reichstag als Parlament und als eigentliches Zentrum der
155 Exemplarisch: Verhandlungen 1932, Band 455, S. 4. 156 Reichstags-Handbuch, XI. Wahlperiode 1933, S. 424. 157 Vgl. Austermann, Philipp: Der Weimarer Reichstag. Die schleichende Ausschaltung, Entmachtung und Zerstörung eines Parlaments, Köln 2020, S. 59.
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Weimarer Demokratie wurde damit zuerst an die Seite gedrängt und schließlich weitgehend ausgeschaltet 158. In der Zeit, in der Kaufmann dem Weimarer Reichstag zwischen 1930 und 1933 angehörte, war das Plenum fast durchgehend vertagt. In der Frühphase des ersten Kabinetts von Heinrich Brüning gab dieser dem Reichstag die Möglichkeit an seiner Politik unterstützend mitzuwirken (nicht aber sie aktiv mitzugestalten), sodass das Plenum als solches erhalten blieb. Als Brünings Politik des Einspannens (nicht Zusammengehens) gescheitert war, zeigte sich die aktiv antiparlamentarische Politik der Regierung und die halbdemokratische Zusammensetzung des Reichstags auch im Zusammenschrumpfen der Plenarsitzungen. Ab April 1931 vertagte er sich ein halbes Jahr lang bis zum Oktober. Danach trat er bis zum Juni 1932 nur zwölf Mal zusammen. Nach von Papens Regierungsübernahme und der Reichstagswahl vom Juli 1932 gab es nur zwei Sitzungen, im neugewählten Parlament bis zu Hitlers Ernennung zum Reichskanzler ebenfalls nur drei 159. Parallel arbeiteten die Ausschüsse nur innerhalb der Legislaturperioden, nicht aber in den parlamentslosen Zeitabschnitten zwischen Auflösung und Neuwahl weiter. Durch den Wegfall des Plenums mit der Einsetzung von Ausschüssen, Überweisung von Anträgen und Regierungsaussprachen war aber selbst die Arbeit der Ausschüsse zugleich beschränkt. Selbst wenn Kaufmann gewollt hätte, wäre eine Ausschusstätigkeit also nur in sehr engen Grenzen möglich gewesen. Tatsächlich aber war die NSDAP zu sachlicher Arbeit in den Ausschüssen auch gar nicht erst bereit und leistete diese entsprechend auch nicht 160. An einer regulären Abgeordnetentätigkeit (immerhin eine Aufgabe von bis zu zwölf Stunden am Tag, wenn sie ernst genommen wurde 161) hatte die erstarkte NSDAP kein Interesse. Kaufmanns Abgeordnetentätigkeit im Reichstag steht nun im Vergleich zu der im preußischen Landtag völlig entgegengesetzt da. Zu seiner Zeit hatte die NSDAP im Landtag keinerlei Aussicht auf Regierungsbeteiligung oder anderweitige indirekte Einflussnahme. Ihre wenigen Abgeordneten wurden für ein stabiles Regierungsbündnis weder gebraucht, noch waren sie als solche erwünscht. Ihre Anzahl erreichte nicht einmal Fraktionsstärke. Somit blieben ihr auch Parlamentsämter und Sitze in Gremien wie den Ausschüssen verwehrt. Trotzdem war Kaufmann aktiv, hielt Plenarreden, machte konkrete Vorschläge, brachte Ideen ein und zeigte Offenheit für gemeinsame Abstimmungen mit allen Seiten. Dies hätte er nicht machen müssen. Er wollte es aber, und zeigte damit NSDAP-Präsenz und individuellen Willen zur aktiven Mitarbeit. Gänzlich anders war das Bild im Reichstag. Die NSDAP war die zweitgrößte Fraktion, errang Parlamentsämter, konnte mit ihrem Stimmgewicht im Einzelfall ausschlaggebend sein und damit enormen Einfluss nehmen. Doch das Interesse daran war kaum vorhanden. Die Plenardebatten wurden gestört mit massenhaften Beleidigungen, Einschüchterungen, Geschrei und teilweise gar Handgreiflichkeiten, die Ausschussarbeit 158 Trotz Präsidialkabinetten mit diktatorischen Vollmachten kann dies durchaus noch als „Semiparlamentarismus“ charakterisiert werden. Vgl. ebd., S. 98. 159 Vgl. ebd., S. 210. 160 Ebd., S. 187. 161 Ebd., S.51f.
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wurde kaum wahrgenommen, eine konstruktive Arbeit mit anderen Fraktionen nur in begründeten Einzelfällen, nicht aber im eigentlichen Sinne der Parlamentsarbeit betrieben. Die Partei war im Aufwind und ging davon aus, den seit 1925 verfolgten Kurs der „Machtergreifung“ über den Stimmzettel bald erreichen zu können. Die Machtoptionen waren andere als in den Jahren als Splitterpartei. Es musste keine umfassende Abgeordnetentätigkeit geben. Der Sieg sollte durch die Arbeit und Propaganda draußen im Lande erreicht werden, nicht durch die parlamentarische Beteiligung und damit einer indirekt für die Republik lebensverlängernden Tätigkeit. Entweder beugte sich Kaufmann dabei dem allgemeinen Mehrheitskurs der Partei oder er sah das individuell genauso. Der Unterschied seiner beiden Abgeordnetentätigkeiten ist jedenfalls eklatant.
4. „Machtergreifung“, Machtausbau, Machtsicherung und Machterhalt
4.1. Reichsstatthalter für Hamburg (1933–1938/1945) 4.1.1. Berlins Beauftragte in den Ländern als Institution
„In den deutschen Ländern […] ernennt der Reichspräsident auf Vorschlag des Reichskanzlers Reichsstatthalter. Der Reichsstatthalter hat die Aufgabe, für die Beobachtung der vom Reichskanzler aufgestellten Richtlinien der Politik zu sorgen. Ihm stehen folgende Befugnisse der Landesgewalt zu: 1. Ernennung und Entlassung des Vorsitzenden der Landesregierung […]; 2. Auflösung des Landtags und Anordnung der Neuwahl […]; 3. Ausfertigung und Verkündung der Landesgesetze […]. Der Reichsstatthalter kann in den Sitzungen der Landesregierung den Vorsitz übernehmen.“ 1
Das zitierte „Zweite Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“ wurde am 7. April 1933 erlassen. Im Prozess der Abwicklung der „Machtergreifung“ bildet es hinsichtlich der künftigen Struktur des „Dritten Reiches“ einen Meilenstein. Hitler konnte nunmehr in seiner Eigenschaft als Reichskanzler für die Ernennung von Reichsstatthaltern für die Länder sorgen, die dort auf Landesebene die Politik der Reichsregierung hinsichtlich der Landespolitik zu beaufsichtigen und notfalls mithilfe ihrer umfassenden Kompetenzen selbst umzusetzen hatten. Diese Kompetenzen bildeten Schlüsselpunkte, um die Landespolitik im Sinne der Reichsregierung, also der Regierung Hitlers, zu lenken. Sollte die Landesregierung widerspenstig werden, konnte der Reichsstatthalter sie 1 RGBl. 1933/I, S. 173, hier ebd.
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entlassen. Sollte der Landtag widerspenstig werden, konnte er ihn auflösen. Selbst wenn er keine willige Landesregierung oder willigen Landtag erhalten sollte, konnte er auch einfach selbst Landesgesetze erlassen. Die Landespolitik war mit diesem Gesetz den jeweiligen Reichsstatthaltern, und damit indirekt Hitler, vollkommen ausgeliefert. Die Reichsstatthalter boten für Hitler und die Reichsregierung allgemein also die Möglichkeit, auf kürzestem Wege entscheidend in die Landespolitik eines jeden Landes einzugreifen. Sie stellten somit eine Art „direkten Draht“ zwischen dem Reich und jedem Land dar. Dies ist umso bemerkenswerter, wenn bedacht wird, dass die „Gleichschaltung“ der Länder schon vor der Schaffung des Amts der Reichsstatthalter eingeläutet worden war. Lediglich acht Tage vor dem zitierten Gesetz, am 31. März, wurde nämlich das „Vorläufige Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“ verabschiedet. Wesentlicher Inhalt dieses Gesetzes war, dass die Landesparlamente gemäß der Sitzverteilung des Reichstags neu zusammengesetzt wurden, und dass die neuen Landesregierungen, die dadurch alle aus einer NSDAP-DNVP-Mehrheit bestanden, per „Ermächtigungsgesetz“ diktatorische Vollmachten erhielten 2. Obwohl also in allen Ländern hochrangige Nationalsozialisten die Landespolitik fortan dominieren konnten, war Hitler daran gelegen, über die Reichsstatthalter jederzeit eingreifen zu können. Egal welche Vorgänge also in einem der Landesparlamente oder Landesregierungen geschahen, hatte Hitler mit den Reichsstatthaltern eine Art Trumpf in der Hinterhand. Goebbels erwies sich auch hinsichtlich der „Gleichschaltungen“ vom April 1933 mal wieder als aufmerksamer und hellsichtiger politischer Beobachter. Am 7. April schrieb er in seinem Tagebuch folgendes: „Man kann sagen, dass heute in Deutschland wieder Geschichte gemacht wird. Unser Ziel ist eine absolute Vereinheitlichung des Reichs. Schritt für Schritt kommen wir diesem Ziel näher.“ 3
Stand April 1933 war seine Einschätzung korrekt. Hinsichtlich der Machtstruktur und konstruktion des „Dritten Reiches“ ist es aber auch von grundlegender Bedeutung, dass sich die Reichsstatthalter in gewisser Weise den Vorgaben aus den Berliner Regierungskreisen entziehen konnten, solange diese nicht persönlich von Hitler selbst stammten. Denn die Reichsstatthalter wurden bis auf zwei Ausnahmen alle aus dem Korps der Gauleiter rekrutiert 4. Wenn die Reichsregierung auf die gesetzmäßigen Vorrechte gegen-
2 RGBl. 1933/I, S. 153–154., hier S. 153. 3 Goebbels: Tagebücher, Bd. 2, S. 791f. 4 Diese Ausnahmen bildeten Preußen und Bayern. Preußens Reichsstatthalterschaft stand nach dem „Gesetz zur Änderung des Reichsstatthaltergesetzes“ vom 25. April 1933 (RGBl. 1933/I, S. 225) dem Reichskanzler zu. Hitler übertrug diese jedoch umgehend auf Göring. Bayerns Reichsstatthalterschaft wurde ebenfalls nicht an einen Gauleiter übergeben, sondern an Ritter von Epp. In beiden Fällen dürfte die territoriale Problematik der Nichtübereinstimmung mit den Gauen ausschlaggebend gewesen sein. In Preußen und Bayern bestanden 1933 nicht weniger als 28 Gaue. Ein „Aufschrei“ nie gekannten Ausmaßes (größer als der um die Reichsverteidigungskommissare 1939) wäre wohl die Folge gewesen, wenn in Preußen oder Bayern ein
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über einem Reichsstatthalter pochte, konnte sich dieser, abgesichert über seine „Hausmacht“ als Gauleiter, einfach auf direktem Wege an den „Führer“ wenden, der im Zweifelsfall eher den Parteikräften als den Staatskräften nachgab 5. Faktisch bestand für die Reichsstatthalter keine Unterordnung unter die Reichsminister, sondern wie in ihrer Eigenschaft als Gauleiter lediglich eine Unterordnung unter Hitler als „Führer“ und Reichskanzler. In Hitlers Person liefen am Ende alle Kompetenzen zusammen 6. Und angesichts der Entscheidungsfreiheit und Autonomie, die Hitler seinen „Führern der Provinz“ überließ, bedeutete dies eine fast uneingeschränkte Herrschaft über das Land, das ihnen als Reichsstatthalter anvertraut wurde. In den zwölf Jahren der Existenz des „Dritten Reiches“ wurden zwar immer wieder Vorschläge zur Vereinfachung und Straffung gemacht und Reformen angestoßen. Doch die von Hitler angekündigte umfassende Reichsreform „für nach dem Krieg“ wurde nie umgesetzt. Wenn tiefgreifende Reformen stattfanden, dann „nur“ in einzelnen, bestimmten Territorien außerhalb des „Altreichs“, in denen keine große Rücksicht auf überkommene Privilegien genommen werden musste. Einzige Ausnahmen waren in gewisser Weise das wieder eingegliederte Saarland und fast vollumfänglich Hamburg. Somit blieben die tatsächlich umgesetzten Teile des „Neuaufbaus“ und der „Neugliederung“ des Gauleiter Reichsstatthalter geworden wäre. Denn die anderen 26 Gauleiter hätten sich stark zurückgesetzt gefühlt. Ritter von Epp war mit den Gauleitern in Bayern jedenfalls vollkommen überfordert. Vgl. hierzu Wächter, Katja-Maria: Die Macht der Ohnmacht. Leben und Politik des Franz Xaver Ritter von Epp (1868–1946), Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1999, S. 173–197. Im Falle Preußens muss zudem darauf hingewiesen werden, dass dort zwar Hitler beziehungsweise Göring die Reichsstatthalterschaft inne hatten, auf der nächst niedrigeren Verwaltungsebene aber eine Art Pendant zu den Kompetenzen der Reichsstatthalter in den wesentlich kleineren Ländern des Reiches bestand. Hierbei handelte es sich um das Amt des preußischen Oberpräsidenten, dessen Kompetenzen sich auf die einzelnen preußischen Provinzen erstreckte, welche in ihrer territorialen Größe in etwa den meisten anderen Ländern des Reiches entsprachen. Auf gesetzlichem Wege wurden die Befugnisse der preußischen Oberpräsidenten, mit deren Ämtern anfangs zur Hälfte, später fast immer Gauleiter betraut wurden, zwar erheblich ausgeweitet, sodass sie den Reichsstatthaltern in ihren Kompetenzen etwas näher kamen als zuvor. Dennoch blieb ihre Stellung hinter der der Reichsstatthalter zurück. Vgl. zum Verhältnis der Reichsstatthalter und preußischen Oberpräsidenten Hüttenberger: Wandel, S. 76–80. Auf die Oberpräsidenten selbst wird noch an geeigneterer Stelle detaillierter zurückzukommen sein 5 Vgl. hierzu eindrücklich Wendt, Bernd Jürgen: Deutschland 1933–1945. Das Dritte Reich. Handbuch zur Geschichte, Hannover 1995, S. 93f. 6 Von grundlegender Bedeutung ist hinsichtlich der Untersuchung dieser in der Schlüsselposition Hitler zusammenlaufenden Verflechtungen nach wie vor Bracher, Karl Dietrich: Stufen totalitärer Gleichschaltung: Die Befestigung der nationalsozialistischen Herrschaft 1933/34, in: VfZ, 4/1956, S. 30–42, hier S. 42. Vollkommen zutreffend und den zitierten Beitrag ergänzend ist hierbei die Feststellung, dass die Verwaltungsstruktur des „Dritten Reiches“ ohne die Autorität Hitlers, auf die sich alle Kompetenzen im „Ämterchaos“ direkt oder indirekt beriefen, gar nicht hätte funktionieren können. Vgl. hierzu Kershaw: Macht, S. 229–231.
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Reiches stets Episoden 7. Deshalb blieb das wilde „Durcheinander“ von sich überlagernden und gegenseitig die Kompetenzen streitig machenden Ämtern von Beginn bis zum Ende des „Dritten Reiches“ prägend. Auch bei den Reichsstatthaltern war nicht nur enormer Widerstand gegen Eingriffe in ihre Amtsführung geradezu „normal“ 8. Ebenso „normal“ war auch ein immer mehr wuchernder „Kompetenzdschungel“. Es folgten den bereits erläuterten Gesetzen vom März und April 1933 noch einige weitere, die die Stellung der Reichsstatthalter erheblich verbesserten. Den Anfang bildete das „Gesetz über den Neuaufbau des Reiches“ vom 30. Januar 1934. Durch dieses wurden die Landesparlamente ersatzlos aufgehoben, die Hoheitsrechte der Länder an das Reich übertragen, die Landesregierungen der Reichsregierung direkt unterstellt, und die Reichsstatthalter, an deren „Schwebezustand“ über der Landespolitik nicht gerüttelt wurde, formal dem Reichsminister des Innern untergeordnet 9. Wesentliche Folgen dieses Gesetzes waren einerseits die Auflösung der Landesparlamente, die aufgrund der Kompetenzen der Landesregierungen und der Reichsstatthalter ohnehin nur noch ein Schattendasein geführt hatten. Andererseits wurden die Reichsstatthalter zwar dem Reichsminister des Innern formal unterstellt. Dieser gab sich auch alle Mühe, diese formale Kompetenz zu nutzen. Er wurde dabei aber von den Reichsstatthaltern in ihrer Eigenschaft als Gauleiter mit direktem Zugang zum „Machtzentrum Hitler“ regelmäßig gekonnt ausgespielt 10. Die formale Unterstellung blieb formal. Den letzten Markstein grundlegender Bedeutung für die Verortung der Reichsstatthalter in der Hierarchie des „Dritten Reiches“ legte wiederum ein Gesetz. Das sogenannte „Reichstatthaltergesetz“ 11, vom 30. Januar 1935 machte aus den 1933 lediglich kommissarisch eingesetzten Reichsstatthaltern staatsrechtlich betrachtet „ständige Vertreter der Reichsregierung“, womit sie formal in die Reichsverwaltung eingegliedert und zu amtlichen Mittelinstanzen des Reiches wurden. Faktisch war dies nur eine Verrechtlichung und Institutionalisierung dessen, was bereits gelebte Praxis war. Eine bedeutende Änderung, die mit dem Gesetz einherging, war aber, dass den Landesinstitutionen noch mehr Raum entzogen wurde. Denn nunmehr durfte der jeweilige Reichsstatthalter durch Beauftragung Hitlers auch selbst die Landesregierung übernehmen 12. Bis 7 Zur ersten systematischen Darstellung dieses Komplexes, welche nach wie vor in ihren elementaren Grundzügen Gültigkeit besitzt vgl. Baum, Walter: Die „Reichsreform“ im Dritten Reich, in: VfZ, 3/1955, S. 36–56, hier S. 36f. Kaufmann schilderte in seinen Memoirenentwürfen, dass er Hitler mehrfach auf die Reichsreform angesprochen habe. Zur Antwort habe er immer wieder zu hören bekommen, er könne die Reichsreform nicht umsetzen, „‘[…] solange eine aussenpolitische Gefährdung besteht. In dem Zustand einer Aenderung der gesamten Verhältnisse, kann ich das Reich nicht überraschen lassen. Dazu müsste erst eine gewisse Stabilität eingetreten sein.‘“ Vgl. PNKK Ordner Nr. 5, Entwurf Manuskript [S. 13]. 8 Vgl. Wendt: Deutschland, S. 92f. 9 RGBl. 1934/I, S. 75. 10 Ein sehr anschauliches und repräsentatives Beispiel bei Wendt: Deutschland, S. 92–94. 11 RGBl. 1935/I, S. 65f., hier S. 65. 12 Ebd.
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dahin war ihnen dieser letzte Schritt verwehrt gewesen. Allein schon die drohende Möglichkeit hierzu bedeutete seitens der Landesregierungen eine engere Bindung der Landesgeschäfte an die Reichsstatthalter und damit Hitler. Es bedeutete zudem einen weiteren Ausbau der persönlichen Einflussbasis der Reichsstatthalter, nicht nur aufgrund der „kürzeren Wege“ im Verwaltungsablauf, sondern auch wegen diverser Befugnisse, wie etwa Beförderungen oder Entlassungen, die durch das Gesetz nun selbst vorgenommen werden konnten. Aus alledem darf jedoch nicht geschlossen werden, dass Hitler oder die Reichsregierung (insbesondere der Reichsinnenminister) großspurig über die Reichsstatthalter in die Landesebene eingriffen. Diese Möglichkeit war rechtlich gegeben. Hitler hielt sich damit aber offenbar nur alle Optionen offen. Bei den Konflikten zwischen Reichsinnenministerium und Reichsstatthaltern stand er immer letzteren bei 13. Wie den Gauleitern innerhalb der Partei wollte er nunmehr den Reichsstatthaltern innerhalb der einzelnen Länder freie Hand lassen. Bei einem seiner „Tischgespräche“ begründete er das folgendermaßen: „Die Erfahrungen, die er [Hitler] bei der Organisation der Partei in der Kampfzeit gemacht habe, werte er heute bei der Organisation des Reichs aus. Wenn er seinerzeit die Gauleiter gleichsam zu Gau-Königen gemacht habe, die nur die ganz großen Weisungen von oben erhalten, so gebe er heute den einzelnen Reichsstatthaltern weitgehende Freiheit – auch wenn er hierbei auf den Widerstand des Reichsinnenministeriums stoße. Nur wenn man Gauleitern und Reichsstatthaltern hinreichende eigene Wirkungsmöglichkeiten gebe, lerne man Talente kennen. Andernfalls entwickle sich lediglich eine stupide Bürokratie. Denn nur wenn man dem regionalen Führerkorps Verantwortung gebe, erhalte man verantwortungsfreudige Menschen und damit ein hinreichendes Reservoir fähiger Köpfe für Gesamt-Führungsaufgaben. Den großen Freiheiten entsprechend, die er den Gauleitern und Reichsstatthaltern eingeräumt habe, habe er von ihnen grundsätzlich unbedingte Disziplin gegenüber den Befehlen der obersten Führung verlangt. Er habe dabei als selbstverständlich vorausgesetzt, daß die oberste Führung sich mit ihrem Befehl nicht in die sogenannte Kleinarbeit einzumischen suche, da die örtlichen Voraussetzungen für diese überall andersartig seien.“ 14
Was also die Gauleiter für die Partei waren, sollten die Reichsstatthalter für die Länder sein. Zu betonen ist zudem die Bedeutung der Reichsstatthalter und preußischen Oberpräsidenten für die Ausdifferenzierung des Korps der Gauleiter. Wie bereits im Kontext zur Stellung der Gauleiter innerhalb des Nationalsozialismus ausgeführt, tat sich mit der Ernennung der Reichsstatthalter und preußischen Oberpräsidenten hinsichtlich Macht 13 Vgl. Broszat: Staat, S. 152–154. 14 Tischgespräche, S. 387f.
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und Prestige ein Gefälle innerhalb der Gruppe der Gauleiter auf zwischen „reinen“ Gauleitern, Gauleitern mit dem Amt des preußischen Oberpräsidenten sowie Gauleitern mit der Reichsstatthalterschaft. Dieses Gefälle sollte in den Folgejahren jedoch noch viel stärker werden. Es bleibt aber die Frage bestehen, warum speziell die Ämter der Reichsstatthalter geschaffen wurden, statt einfach überall nationalsozialistische Ministerpräsidenten einzusetzen. Die Antwort ist vielfältig und ergibt sich aus dem zuvor Erläuterten. Einerseits war der Zugriff auf die Länder im April und Mai 1933 noch nicht so stark gesichert, dass eine „Garantie“ zur Gefolgschaft bestand, wie sie dann mit der Gauleiter-/Reichsstatthalterlösung geschaffen wurde. Wenngleich die Landesparlamente inzwischen alle nach den Mehrheitsverhältnissen des Reichstags geordnet waren, konnte theoretisch immer noch ein Landesparlament durch eine widerspenstige NSDAP-Fraktion oder auch blanke Zufälle wie mangelnde Anwesenheit von NSDAP-Abgeordneten bei hoher Anwesenheit der Opposition einen anderen Ministerpräsidenten wählen. Dieser hätte zwar schnell wieder ersetzt werden können, aber im „Dritten Reich“ waren solche Widerspenstigkeiten nicht vorgesehen und sollten präventiv bekämpft werden. Andererseits fehlte ein direkter Zugriff auf die Ministerpräsidenten. Hitler konnte als Reichskanzler 1933 noch keinen Ministerpräsidenten absetzen oder ernennen. Wenn die von den juristischen Zeitgenossen anerkannte spätere rechtsschöpferische Kraft des „Willens des Führers“ außer Acht gelassen wird, besaß Hitler erst ab 1935 die staatsrechtliche Befugnis, einen Ministerpräsidenten zu ersetzen, und auch das nur in Form des Reichsstatthalters. Mit den Reichsstatthaltern wurde aber 1933 eine Möglichkeit gefunden, faktisch das jeweilige Land zu leiten, den faktischen Leiter des Landes direkt von Hitler abhängig zu machen und sich parallel der (potentiellen) Fachkenntnis dazu geeigneter NSDAP-Ministerpräsidenten zu bedienen und das „Tagesgeschäft“ abzuwälzen. Und dies alles ohne das Risiko eingehen zu müssen, einen mangelhaft arbeitenden und fachlich ungeeigneten Gauleiter-Ministerpräsidenten vor sich zu haben, der im Ernstfall gesichtswahrend aus dem Amt entfernt werden müsste. In diesem Sinne waren die Reichsstatthalter eine komplizierte, aber machtpolitisch höchst geeignete Einrichtung.
4.1.2. Der Reichsstatthalter Kaufmann und das allgegenwärtige „Schweben“ über der Polykratie „Der Führer aber baut das Reich. Sein Hamburger Gauleiter, Karl Kaufmann, wird am 15. Mai 1933 Reichsstatthalter und Hamburg unlösbarer Teil des einen, großen Reiches. Die Entschlüsse seiner Regierung müssen vom Reichsstatthalter gegengezeichnet werden. Der Senat wird von ihm ernannt und entlassen.“ 15 15 Saß, Johannes/Okraß, Hermann: Hamburg. Eine Chronik der Hansestadt, Hamburg 1941, S. 77.
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Eine zeitgenössische Publikation über Hamburgs Geschichte leitete damit in Kaufmanns Reichsstatthalterschaft ein. Wie im Unterkapitel zu Kaufmann als Gauleiter des Gaues Hamburg erläutert, soll die „Machtergreifung“ im Unterkapitel zu Kaufmann als Reichsstatthalter dargestellt werden. Dies hat zwei Gründe: Erstens wird soweit eher eine Chronologie gewahrt, als wenn die „Machtergreifung“ unvermittelt im Gauleiter-Unterkapitel stehen würde, da Kaufmann immerhin noch zwölf weitere Jahre nach ihr Gauleiter blieb, und danach ohnehin noch einmal auf das Thema zurückzukommen wäre. Zweitens hing die „Machtergreifung“ in Hamburg nicht zuletzt mit der Frage nach einem Reichsstatthalter zusammen, und kann erst nach dessen Ernennung und ersten Maßnahmen als abgeschlossen betrachtet werden. Die „Machtergreifung“ in Hamburg ist also nur vollumfänglich verständlich, wenn das Amt des Reichsstatthalters und gerade die Reichsstatthalterschaft in Hamburg in einem Atemzuge genannt werden. Nur der Gauleiteraspekt reicht dazu nicht aus. Auf Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 wurde auch in Hamburg von den verschiedenen Parteien ähnlich reagiert, wie in vielen anderen Teilen des Reiches: Von der zum Aufstand aufrufenden KPD bis zur jubelnden NSDAP. Der bedeutende Unterschied zu den meisten anderen Ländern lag darin, dass in Hamburg die Landesregierung immer noch in den Händen von Sozialdemokraten und Liberalen lag. Anders als etwa in Preußen, wo die NSDAP direkten wie indirekten Zugriff auf Polizei- und Sicherheitskräfte hatte, konnte in Hamburg also noch keine entsprechende Gewalt, Verfolgung und „Abrechnung“ stattfinden. Der Senat hatte sich aber bereits zur Zeit von Papens als Reichskanzler bemüht, möglichst jede Konfrontation zu vermeiden, um nicht das Schicksal der abgesetzten preußischen Landesregierung teilen zu müssen (zumal deren Absetzung mit dem „Altonaer Blutsonntag“ vordergründig begründet worden war, also den Ereignissen unmittelbar neben Hamburg auf preußischem Territorium 16). Dieser Druck wurde unter Hitler als Reichskanzler noch stärker. Nicht zuletzt die im Hamburg der späten Weimarer Republik überdurchschnittlich häufigen gegenseitigen Überfälle von Nationalsozialisten und Kommunisten, die zwangsläufig auch mit „Reichsbanner“, „Eiserner Front“ und Polizei zusammenstießen, bot theoretisch bereits genügend Handhabe für die Reichsregierung in Berlin 17. Noch allerdings blieb es bei unterschwelligen Drohungen. Trotz allem vorauseilenden Gehorsam und Entgegenkommen konnte sich der hamburgische Senat nicht auf Dauer dem Druck entziehen. Das Vorgehen gegen die SPD in Preußen wurde von der hamburgischen SPD beispielsweise aufmerksam registriert (zumal Hamburg territorial vollkommen von Preußen umgeben war, in dem Göring als 16 Vgl. zur Vorgeschichte und der vordergründigen Begründung des sogenannten „Preußenschlags“, für den im Juli 1932 seitens der Reichsregierung nur noch nach einem Vorwand gesucht wurde, um die Landesregierung aus SPD, Zentrum, DStP und DVP in Preußen absetzen zu können, Thomas Trumpp: Franz von Papen, der preußisch-deutsche Dualismus und die NSDAP in Preußen. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des 20. Juli 1932, Tübingen 1964. 17 Zur unsicheren Situation des noch mehrheitlich republikanisch gesinnten Senats vgl. Paschen: Hamburg, S. 221–242.
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kommissarischer Innenminister SA und SS als „Hilfspolizisten“ einsetzte 18). Um die Reichsregierung gütig zu stimmen, stoppte etwa die Parteizeitung der SPD in Hamburg ihre Auslieferungen an Abonnenten im preußischen Umland. Als jedoch die Aufforderung aus Berlin eintraf, der Senat möge die Zeitung aus Anlass eines kritischen Artikels auch in Hamburg für zwei Wochen verbieten, sahen die sozialdemokratischen Senatoren die Grenze des ihrer Auffassung nach Vertretbaren überschritten, und erklärten in der Senatssitzung vom 3. März ihren Rücktritt (hätten sie gewusst, was danach geschah, hätten sie wahrscheinlich noch einmal nachgegeben). Ihre Ämter wurden daraufhin kommissarisch von den verbliebenen liberalen Senatoren übernommen, die aber parlamentarisch über nur acht Prozent der Stimmen verfügten 19. Ein Weiterwirken als Minderheitsregierung wäre angesichts der vorherigen Erfahrungen als solche nicht nur äußerst schwierig, sondern angesichts des äußeren Drucks der NSDAP beinahe unmöglich gewesen. Selbst wenn die Entwicklungen auf Reichsebene nicht existiert hätten, wäre nur noch die Alternativen geblieben von (erstens) Neuwahlen mit wahrscheinlich ähnlichem Ergebnis, oder aber (zweitens) einer Duldung durch die NSDAP oder jedoch (drittens) einer Übernahme der Senatsführung und -mehrheit durch die NSDAP. Darauf hatten die Nationalsozialisten offenbar nur gewartet. Gerüchte über eine Senatsumbildung waren bereits wenige Tage nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler im Umlauf. Noch am 3. März beschwerte sich Kaufmann beim Senat über „unhaltbare Zustände“ und forderte unter Verweis auf seinen guten Draht zum Reichsinnenminister Frick ein Vorgehen dagegen. Am Wahltag der letzten „halb-freien“ Reichstagswahl vom 5. März erneuerte er seine Forderung, was der Senat erneut ablehnte (nicht zuletzt weil das „Reichsbanner“ in einem solchen Fall mit Aufbegehren drohte). Kaufmann hatte inzwischen aber seine Drohung wahrgemacht. Denn am Abend traf die Anweisung Fricks in Hamburg ein, den nationalsozialistischen Bürgerschaftsabgeordneten Alfred Richter zum Reichskommissar für die Polizei in Hamburg einzusetzen. Kaufmann verlieh dieser Anweisung im Rathaus nochmals lautstark Nachdruck, woraufhin die Senatoren nachgaben und Richter kommissarisch einsetzten. Gleichzeitig wurde auf dem Rathaus die Hakenkreuzfahne gehisst. Spätabends, als die ersten Ergebnisse der Wahl deutlich wurden, feierten SA und Stahlhelm auf dem Rathausplatz, während die Reste des Senats, dem durch schriftlichen Rücktritt inzwischen auch der Bürgermeister Carl Wilhelm Petersen nicht mehr angehörte, durch einen Seitenausgang das Rathaus verließen und sich nach Hause begaben 20. Damit endete auch in Hamburg die Weimarer Republik.
18 Vgl. zum dortigen Vorgehen der Nationalsozialisten, dass sich aufgrund der besonderen Zersplitterung des hamburgischen Territoriums faktisch auch gerade vor den Augen der Hamburger Landespolitiker abspielte: Plum, Günther: Übernahme und Sicherung der Macht 1933/34, in: Broszat, Martin/Frei, Norbert (Hrsg.): Das Dritte Reich im Überblick. Chronik, Ereignisse, Zusammenhänge, 8. Aufl., München 2007, S. 34–47, hier S. 36–39. 19 Vgl. ebd., S. 232f. 20 Zum Zustandekommen des NSDAP-dominierten Koalitionssenats vgl. Büttner, Ursula: Das Ende der Weimarer Republik und der Aufstieg des Nationalsozialismus in Hamburg, in: Büttner, Ursula/Jochmann, Werner (Hrsg.): Hamburg auf dem Weg ins Dritte Reich. Entwicklungsjahre 1931–1933, 2. Aufl., Hamburg 1983, S. 7–37, hier S. 33–37.
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Deutlich betont werden muss hier folgendes: Der neue Senat war kein irregulär zustande gekommener Senat. Der äußere Druck aus Berlin war zwar überdeutlich. Aber der Zerfall des seit eineinhalb Jahren nur noch geschäftsführenden Minderheitskabinetts und der anschließende neue Koalitionssenat mit eigener parlamentarischer Mehrheit inklusive regelkonformer Wahlen durch die Bürgerschaft ließen die neue Regierung „auf den ersten Blick“ wie eine „Rückkehr zur politischen Normalität“ erscheinen 21. Erst die Ereignisse der darauffolgenden Wochen und Monate ließen tiefer blicken. Diese hier in Kürze wiedergegebenen dramatischen Ereignisse des Zeitraums Ende Januar bis Anfang März lassen im Hinblick auf Kaufmanns Biografie vor allem zwei Punkte deutlich werden. Erstens wurde Hamburg nicht von Innen heraus „erobert“. Der Senat zerfiel einerseits durch den Druck von Außen, also durch die latent unsichere Situation, wie das Reich mit dem Land Hamburg umgehen werde, wenn Hamburg sich verweigere, die neue Reichsregierung in der hamburgischen Innenpolitik zu berücksichtigen. Andererseits stand der Senat auch im Inneren unter Druck, weil dort die erwähnte parlamentarische „Hängepartie“ keinen Rückhalt, sondern eine weitere Bedrohung darstellte. Ab einem bestimmten Punkt war die Grenze dessen erreicht, was zumindest die SPD zuzumuten bereit war. Der Senat zerbrach und das Vakuum wurde innerhalb weniger Tage von der NSDAP aufgefüllt, die sich inklusive Bürgermeistersuche schon seit Anfang Februar darauf vorbereitet hatte. Zweitens zeigen diese Ereignisse mit Blick auf Kaufmanns Biografie, dass seine Person nicht ausschlaggebend bei der „Machtergreifung“ in Hamburg war. Wenn er mit seinem Erscheinen im Rathaus den „Umsturz“ (der rechtlich betrachtet noch weniger ein „Umsturz“ war, als Hitlers Ernennung auf Reichsebene am 30. Januar) nicht beschleunigt hätte, wären die verbliebenen Senatoren ohnehin bald gezwungen gewesen, auf die NSDAP zuzugehen. Sei es, um den nächsten Schlägen aus Berlin zu entgehen oder sei es, um endlich die von der DVP ohnehin angestrebte Ersetzung der SPD durch die NSDAP herbeizuführen. Angesichts dessen hätte Kaufmann am späten Abend des 5. März auch einfach seinen stellvertretenden Gauleiter oder gar einen SA-Führer schicken können. Das Ergebnis wäre das gleiche gewesen. Die Herrschaft des Nationalsozialismus wurde in Hamburg also nicht selbst errungen. Die NSDAP war in diesem Moment aber zumindest parlamentarisch betrachtet die einzig übrig gebliebene Alternative für ein Mehrheitskabinett. Trotzdem oder gerade deshalb handelt es sich also nicht um eine illegale „Machtergreifung“. Formal lag eine reguläre Kabinettsumbildung vor. Diese war zwar nicht frei aus sich heraus erfolgt wie im Falle der Regierungsbeteiligungen der NSDAP in mehreren Ländern während der Weimarer Republik 22, da äußerer Druck bestand. Aber sie folgte parlamentarischen Regeln 21 Vgl. ebd., S. 7. 22 Selbst wenn die Landesregierungen nicht mitgezählt werden, in die die NSDAP erst nach dem 30. Januar 1933 und damit noch innerhalb des laufenden „Machtergreifungsprozesses“ eintrat (wie etwa Lippe am 7. Februar), war die NSDAP bis zur „Machtergreifung“ immerhin in nicht weniger als sechs Ländern auf regulärem parlamentarischem Wege in die jeweilige Landesregierung gelangt: Erstmals im Januar 1930 mit dem Kabinett Baum in Thüringen, danach im Oktober 1930 mit dem Kabinett Küchenthal in Braunschweig, hiernach im April 1932 mit dem
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und der gültigen Rechtslage der Weimarer Zeit. Zugleich zeigt sich hier, dass die einzelnen „Machtergreifungen“ auf regionaler und lokaler Ebene trotz allem Vorschubs der Reichsebene während des gestreckten „Machtergreifungsprozesses“ auch immer eine individuelle Erscheinung waren 23. Hamburg ist hierfür ein anschauliches Beispiel. Wie erwähnt war die parlamentarische Mehrheit für eine Koalition von Linksliberalen bis Nationalsozialisten in Hamburg schon nach der vorherigen Bürgerschaftswahl von 1932 gegeben, aber nicht umgesetzt worden. Die DVP strebte jedoch aus der alten Landesregierung hinaus und wollte die SPD durch die NSDAP ersetzen. Am Montag nach der „halb-freien“ Reichstagswahl, also dem 6. März, gab es die letzten Vorbereitungen zur Senatsumbildung, am 7. März waren die Namen in der Presse zu lesen, und am 8. März fand die Bürgerschaftssitzung statt, in der die KPD abwesend und ihre Abgeordneten mit Haftbefehl gesucht wurden, die SPD nach verbalem Protest gegen die Ereignisse der zurückliegenden Woche den Saal verließ, und die restlichen Fraktionen den neuen Senat unter Krogmann wählten 24. Nach den zurückliegenden Wochen der Unklarheit und Unsicherheit, in welche Richtung die Politik in Hamburg pendeln würde, waren die Tage vom 3. bis zum 8. März von äußerster Schnelligkeit. Krogmann wurde also Bürgermeister. Sein Stellvertreter kam von der DVP und war bereits seit 1925 Senator. Zuständig war dieser für das Wirtschaftsressort. Ein DStPKabinett Michael in Mecklenburg-Strelitz, darauf im Mai 1932 gar unter Stellung des Ministerpräsidenten mit dem Kabinett Freyberg in Anhalt, hiernach im Juni 1932 ebenfalls unter Stellung des Ministerpräsidenten mit dem Kabinett Röver in Oldenburg, dann noch im Juli 1932 nochmals unter Stellung des Ministerpräsidenten mit dem Kabinett Granzow in MecklenburgSchwerin und zuletzt im August 1932 unter Stellung des Ministerpräsidenten mit dem Kabinett Sauckel in Thüringen.Vgl. in entsprechender Reihenfolge Esche, Alexandra: Hitlers „völkische Vorkämpfer“. Die Entwicklung nationalsozialistischer Kultur- und Rassenpolitik in der BaumFrick-Regierung 1930–1931, Frankfurt am Main 2017, S. 70–77; Roloff, Ernst August: Bürgertum und Nationalsozialismus 1930–1933. Braunschweigs Weg ins Dritte Reich, Hannover 1961, S. 50–52; Rehmer, Hans-Joachim/Strasen, Gustav-Adolf: Mecklenburg-Strelitz 1918–1945. Ein Land im Umbruch, Neustrelitz 2011, S. 164–168; Tullner, Mathias: Geschichte Sachsen-Anhalts, München 2008, S. 80f.; Eckhardt, Albrecht: Vom Großherzogtum zum niedersächsischen Verwaltungsbezirk. Das Land Oldenburg 1918–1946, in: Henneberg, Jörg Michael/Lucke, HorstGünter (Hrsg.): Geschichte des Oldenburger Landes. Herzogtum, Großherzogtum, Freistaat, Münster 2014, S. 189–251, hier S. 198–200.; Madaus, Christian: Aufstieg und Untergang des Nationalsozialismus in Mecklenburg von 1924 bis 1945, 2. Aufl., Schwerin 2003, S. 60–63; Post, Bernhard: Die Machtübernahme im Land Thüringen 1932, in: Boblenz, Frank/Post, Bernhard (Hrsg.): Die Machtübernahme in Thüringen 1932/33, Erfurt 2013, S. 5–53, hier S. 27–34. 23 Zur Vielfältigkeit des regionalen Aspekts im Nationalsozialismus und der darauf resultierenden Schwierigkeit für die Forschung vgl. Szejnmann, Claus-Christian W.: Theoretisch-methodische Chancen und Probleme regionalgeschichtlicher Forschungen zur NS-Zeit, in: Ruck, Michael/Pohl, Karl Heinrich (Hrsg.): Regionen im Nationalsozialismus, Bielefeld 2003, S. 43–57, hier S. 43–46. 24 Vgl. Büttner, Ursula: Der Aufstieg der NSDAP, in: Schmid, Josef (Hrsg.): Hamburg im „Dritten Reich“, Göttingen 2005, S. 27–67, hier S. 56–64.
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Senator aus der Weimarer Republik war bereits seit 1921 im Amt und nunmehr zuständig für Finanzen. Jeweils zwei weitere Senatoren kamen vom Stahlhelm sowie der DNVP. Die anderen fünf der insgesamt zwölf Senatoren stammten von der NSDAP. Noch im Laufe des Jahres wechselten alle zur NSDAP oder wurden ersetzt. Wenige Jahre später waren nur noch „originäre“ Nationalsozialisten übrig. Die beiden liberalen Senatoren erhielten bei ihrer (Wieder-)Wahl am 8. März 1933 100 Prozent der Stimmen, also 84 von 84, während alle anderen „nur“ 74 von 84 erhielten. Die Koalition verfügte jedoch über 81 Stimmen 25. Später standen die Führungspersönlichkeiten des nunmehr nationalsozialistisch geführten Hamburg auf dem Balkon des Rathauses und sprachen einige Worte zu der Menge. Kaufmann betonte dabei, „[w]ir und die Kameraden vom Stahlhelm haben jetzt die Macht ergriffen, und werden sie zu halten und zu verteidigen wissen. Wir geloben: Wir sind den Weg bewußt gegangen und werden ihn weiter gehen, der zum Aufbau des Vaterlandes führt. Wir kennen nur einen Stolz und eine Ehre: Das Vaterland. Nichts liegt uns an Ämtern und Würden.“ 26
Kaufmann selbst ließ sich nicht zum Senator wählen. Es gibt keine Quellen zu der Frage, warum er diesen Weg nicht ging. Aber es können mehrere Vermutungen aufgestellt werden, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zutrafen. Beispielsweise lagen die parlamentarischen Verhältnisse in Hamburg ganz eindeutig bei der NSDAP. Ein Senat von Linksliberalen bis Nationalsozialisten hätte bereits 1932 eine komfortable Mehrheit in der Bürgerschaft gehabt. Durch die Verfolgung der KPD, die ihre Mandate nicht wahrnehmen konnte (und wegen ihres Aufstandskurses auch nicht wollte), würde diese Mehrheit noch weiter anwachsen. Kaufmann hätte als Gauleiter der NSDAP also auch ohne Senatorenamt die Senatsarbeit entscheidend beeinflussen können. Zudem stand nach wie vor die Frage im Raum, ob auch für Hamburg eine Lösung wie in Preußen passabel wäre, also einen Reichskommissar über der Landesregierung einzusetzen. Für diesen hätte sich der Gauleiter am ehesten angeboten. Zudem war mit einem langsamen Kurs der Machteroberung in Hamburg eine Möglichkeit verbunden, die vielerorts im Reich bereits zu Anfang der „Machtergreifung“ durch rabiates Vorgehen der örtlichen Nationalsozialisten erschwert wurde. Denn wenn die bürgerlichen Parteien in die Herrschaft miteinbezogen würden, könnten die Nationalsozialisten hiervon profitieren, nicht zuletzt im Hinblick auf Hamburgs Charakter als Handelsstadt. Die Partner von morgen sollten nicht zu sehr verschreckt werden. Etwas weiteres kam hinzu. Trotz aller Erfolge bei Wahlen und Parteiwachstum besaß die NSDAP nicht genug eigene Fachleute, um die hochkomplexe Verwaltung und Wirtschaft einer Weltstadt wie Hamburg problemlos zu übernehmen. Fachleute wurden in jedem Umschwung der staatlichen Verhältnisse vom neuen System benötigt. Aus dem 25 Eine Übersicht zur personellen Entwicklung des Senats und seiner Mitglieder bieten Grabitz, Helge/Johe, Werner: Die unFreie Stadt. Hamburg 1933–1945, 2. Aufl., Hamburg 1995, S. 8. 26 „Gauleiter Karl Kaufmann.“, HN, 84 (1933), H. 118.
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zeitlichen Horizont des Jahres 1933 hatten die Beteiligten dies erst 1918/1919 und später dann 1945 wieder erlebt. Wie Kaufmann aber selbst in einem seiner Entwürfe für seine Memoiren festhielt, ging es ihm offenbar ohnehin darum, eine Art „gesunde Mischung“ herbeizuführen: „In Hamburg war es seit 1933 mein Bestreben, […] das revolutionäre Strandgut […] auszuschalten. Bei meinen Bemühungen, fachlich geeign[ete] Männer[,] die in vielen Fällen nich[-]t einmal Parteigenossen waren, zur Aufbauarbei[t] heranzuziehen, stellten sich die angesprochenen Personen fast ausnahmslos bereitwilligst zur Verfügung.“ 27
Wie schon im Unterkapitel zu Kaufmanns Gauleiteramt in Hamburg angeschnitten, wurden die Planungen für die Senatsumbildung im Wesentlichen von Kaufmann, Georg Ahrens und der Gauleitung durchgeführt. Dies passte im Übrigen zur Behandlung des anvisierten Bürgermeisters Carl Vincent Krogmanns durch Kaufmann, der mit ihm politischerseits sehr nachlässig umging, und ihn oftmals ohne Absprache vor vollendete Tatsachen stellte 28. Krogmann selbst schilderte seine Konfrontation mit Kaufmanns Senatsplänen durch die Gauleitung am 3. Februar in seinen „Erinnerungen“ wie folgt: „Kurz darauf erschien der Gauleiter Kaufmann und Ahrens, die von einer Besprechung mit dem Reichsinnenminister Frick aus Berlin zurückkehrten. Ohne jede weitere Erklärung fragte mich Kaufmann: ‚Sind Sie bereit, das Amt eines Regierenden Bürgermeisters zu übernehmen?‘ Ich war zunächst sprachlos, sagte dann aber, es sei für mich ein sehr schwerer Entschluß, ich müsse mir die Frage reiflich überlegen, und bat um eine Bedenkzeit. Der Gauleiter setzte mir jedoch die Pistole auf die Brust und verlangte, ich müßte mich bis 10 Uhr am nächsten Morgen entscheiden, weil er dem Reichsinnenminister eine als Bürgermeister geeignete Persönlichkeit Hamburgs nennen müsse. […] Kaufmann und Ahrens waren auf mich aufmerksam geworden, weil ich mehrfach, ohne Mitglied der Partei zu sein, öffentlich für Hitler eingetreten war.“ 29
27 PNKK Ordner Nr. 1, Entwurf Manuskript [S. 140]. 28 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen in den Unterkapiteln 4.1. und 4.2. Die Behandlung Krogmanns durch Kaufmann sagt aber nichts über das persönliche Verhältnis der beiden aus, welches sich mit ihrem Kennenlernen 1933 zu einer lebenslangen Freundschaft entwickelte. Auch noch Jahre über Kaufmanns Tod hinaus blieben seine Frau sowie das Ehepaar Krogmann eng verbunden. Private Briefe beispielsweise geben hiervon einen anschaulichen Eindruck. Vgl. die Schreiben in PNKK Ordner Nr. 21. 29 Krogmann, Carl Vincent: Hamburg unterm Hakenkreuz. Regierender Bürgermeister im Dritten Reich, Kiel 2010, S. 38f. Es handelt sich bei dem Werk um eine Neuauflage von Krogmann, Carl V.: Es ging um Deutschlands Zukunft. 1932–1939. Erlebtes diktiert von dem früheren Regierenden Bürgermeister von Hamburg, 2. Aufl., Leoni am Starnberger See 1977, S. 43.
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Die Frage, warum die Wahl Kaufmanns ausgerechnet auf Krogmann fiel, verrät einiges über Kaufmanns geplanten Kurs, der durch seine Politik der folgenden Jahre im Wesentlichen bestätigt wurde. Krogmann hatte mit seiner Bemerkung, dass sein Eintreten für Hitler vor 1933 ihm Aufmerksamkeit verschafft hätte, nicht ganz Unrecht. Krogmann stammte aus einer alteingessenen Hamburger Kaufmannsfamilie, war entsprechend gut in der Wirtschaft (und zwar nicht „nur“ unter den hamburgischen Kaufleuten, sondern bis weit in Industrie und Teilen der Landwirtschaft hinein) vernetzt. Die ökonomisch durch die Weltwirtschaftskrise ganz besonders stark gebeutelte Hafen- und Handelsmetropole Hamburg benötigte 1933 dringend einen wirtschaftlichen Impuls und Aufschwung. Und tatsächlich lag Krogmanns Betätigungsfeld als Bürgermeister (bis auf Ausnahmen) schwerpunktmäßig im Bereich der Wirtschaft (inklusive des Großteils der damit einhergehenden Aufrichtsrats- und Vorstandsfunktionen), während andere Themen tendenziell eher von Ahrens bearbeitet wurden 30. Dies wird einer der Gründe für Krogmann gewesen sein. Doch wie stets kann die Entscheidung für ihn statt für einen „Alten Kämpfer“ nicht monokausal erklärt werden. Der „Alte Kämpfer“ Kaufmann verfiel also auf Krogmann, statt auf einen anderen in Wirtschaftsfragen erfahrenen „Parteigenossen“. Die Motive hierfür müssen näher betrachtet werden. Klar ist, dass Krogmann schon vor 1933 für die NSDAP öffentlich wie nicht-öffentlich eintrat, obwohl er erst im Mai 1933 Parteimitglied wurde. Es war beispielsweise niemand anderes als Krogmann, der sich um die Hamburger Unterstützer der Denkschrift kümmerte, die von Hindenburg Ende 1932 übergeben wurde, und ihm Hitler als Reichskanzler eines Präsidialkabinetts empfahl. Seine persönlichen Überzeugungen von Nation, Volk, Staat und Gesellschaft glichen kei30 Die hamburgische Wirtschaft war durch ihren ausgeprägten Charakter als Handelsmetropole und als zentraler Umschlagplatz von Export wie Import von der Weltwirtschaftskrise ab 1929 besonders hart getroffen worden. Der Wirtschaftsaufschwung im „Dritten Reich“ hatte für Hamburg nur zeitversetzte Wirkungen, da dieser Aufschwung vor allem auf der Binnenkonjunktur wie etwa der Rüstungswirtschaft beruhte. Eine außenhandelsorientierte Hafenstadt wie Hamburg gewann also nicht so rasch Anschluss wie andere Regionen des Reiches, wenngleich es als die entscheidende U-Boot-Schmiede des Reiches gelten kann. Die Vorkriegspolitik im Wirtschaftsbereich wurde eingehend untersucht von Wulff, Birgit: Arbeitslosigkeit und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Hamburg 1933–1939. Eine Untersuchung zur nationalsozilistischen Wirtschafts- und Sozialpolitik, Frankfurt am Main/Bern/New York/Paris 1987. Die Rütungspolitik sorgte dann aber doch noch ab Mitte der 1930er für einen Durchbruch der Hamburger Wirtschaft, bei dem ab spätestens 1940 ein enormer Arbeitskräftemangel herrschte, der nur noch durch Zwangsarbeit halbwegs gedeckt werden konnte. Während des Krieges selbst richtete Hamburg sein Augenmerkt wie bereits erwähnt mangels Alternativen nach Ost- und Südosteuropa, also auf eine kontinentale Wirtschaftspolitik statt auf eine überseeische. Zur Rolle der Rüstungswirtschaft vor Kriegsbeginn und vor allem hiernach vgl. Weinhauer, Klaus: Handelskrise und Rüstungsboom. Die Wirtschaft, in: Schmid, Josef (Hrsg.): Hamburg im „Dritten Reich“, Göttingen 2005, S. 191–223. Zur Bedeutung der Zwangsarbeit für Hamburgs Wirtschaft ab 1939 sowie deren Umstände vgl. Littmann, Friederike: Zwangsarbeiter in der Kriegswirtschaft, in: Schmid, Josef (Hrsg.): Hamburg im „Dritten Reich“, Göttingen 2005, S. 225–245.
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ner anderen Partei mehr, als jenen der NSDAP. Nur in Fragen der Wirtschaft wäre Krogmann eher bei DVP und DNVP einzuordnen gewesen. Beides jedenfalls bot ihn als geeignete Brücke zwischen Hamburger Bürgertum und Nationalsozialisten an. Eine solche erschien Kaufmann offenbar notwendig, da in Hamburg das Bürgertum jeglicher politischen Herkunft die Wirtschaft dominierte. Auf dieses waren die Nationalsozialisten in Hamburg also eher angewiesen, als in anderen Teilen des Reiches, wo es rasch und radikal zur Seite gedrängt, ersetzt oder „bekehrt“ werden konnte, ohne größere Nachteile für Staat und Gesellschaft fürchten zu müs-sen 31. Hierzu passt auch die gesamte Konstellation des Senats mit einer starken nationalsozialistischen Komponente, aber mit liberalen und rechtskonservativen Anteilen ausgestattet war, die durch Persönlichkeiten repräsentiert wurden, die in der Hamburger Gesellschaft als altehrwürdige Namensträger, erfolgreiche Geschäftsmänner und gewichtige Persönlichkeiten erschienen 32. Oder wie Rosenberg es rückblickend ausdrückte: „[Kaufmann] mag über dies und jenes gestolpert sein, aber alles, was ich später über ihn hörte, war, daß ‚Karl‘ sogar den Hamburger Patriziern Respekt abgerungen hatte und die Interessen dieser Hansestadt zu Hause und in Berlin gut zu vertreten verstand.“ 33
Zusammen mit der formal legalen Senatsumbildung erschien dies umso mehr wie die Schaffung geordneter Verhältnisse, nachdem Hamburg seit 1929 eine elementare und durchgehende Staats- und Wirtschaftskrise erlebt hatte. Nicht zuletzt spielte auch Ahrens eine gewichtige Rolle in der Frage nach Krogmanns Kandidatur 34. Neben Kaufmann gab es in Hamburg niemanden, der so mächtig werden
31 Noch im Jahre 1933 wurde der Senat durch mehrere Umbildungen von einer Koalitionsregierung zu einer Ein-Parteien-Regierung umgeformt. Diese benötigte durch die diversen Gleichschaltungen auf Länderebene, die diktatorischen Vollmachten, der Abschaffung des Parlaments sowie der Auflösung aller Parteien außer der NSDAP keine anderen Koalitionspartner mehr im Senat. Dem fielen die zwei Senatoren der DNVP, und DStP, sowie ein zur NSDAP übergetretener Senator der DVP, der DNVP, zwei des Stahlhelms und nicht zuletzt zwei originäre Senatoren der NSDAP zum Opfer. Vor allem letzteres zeigt auf, dass es nicht „nur“ um die Ausschaltung von Senatoren mit anderen politischen Hintergrundgeschichten ging, sondern auch um die Sparsamkeitserwägungen der gleichzeitig durchgeführten Verwaltungsreformen. Hierfür spricht ebenfalls, dass die Geschäftsbereiche der ausgeschiedenen Senatoren nicht neu besetzt wurden, sondern auf die verbliebenen Senatoren verteilt wurden. Inzwischen hatten die nicht-NSDAPSenatoren ihre Funktion erfüllt, denn der Nationalsozialismus hatte sich durchgesetzt. 32 Vgl. Johe, Werner: Institutionelle Gleichschaltung in Hamburg 1933: Revolutionäre Umgestaltung oder Wiederherstellung traditioneller Ordnungen?, in: Büttner, Ursula/Jochmann, Werner (Hrsg.): Zwischen Demokratie und Diktatur. Nationalsozialistische Machtaneignung in Hamburg – Tendenzen und Reaktionen in Europa, Hamburg 1984, S. 66–90, hier S. 74. 33 Rosenberg: Aufzeichnungen, S. 153. 34 Krogmann selbst ging davon aus, dass der entscheidende Moment im Zusammentreffen mit Ahrens in einem Diskussionsabend in der Zeit der Weimarer Republik gelegen habe, bei dem mehrere Persönlichkeiten der hamburgischen Wirtschaft anwesend waren. Ahrens hielt einen
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sollte wie Ahrens. Das anfängliche Gleichgewicht zwischen Ahrens und Krogmann entwickelte sich langfristig zugunsten von Ahrens. Auch Krogmann erwähnte in seinen „Erinnerungen“ mehrfach, dass Ahrens ihn zur Seite gedrängt habe. Eine eindrückliche Beschreibung soll dies illustrieren: „Als er [Kaufmann] von Ahrens beeinflußt Anfang Februar 1933 mich fragte, ob ich bereit sei, das Amt eines 1. Bürgermeisters zu übernehmen, verstand ich weder etwas von der Politik noch von der Verwaltung. Aber ich glaubte als Kaufmann und nach 2jähriger Tätigkeit in der Hamburger Handelskammer, das 2. Jahr als Vorsitzender einer der wichtigsten Sektionen, ein wenig von Wirtschaft und Finanzen zu verstehen, auch hatte ich in Zeitschriften und Zeitungen einiges über Finanzen und Wirtschaft veröffentlicht. Mein Entschluß aber wurde vor allem dadurch erleichtert, daß meine Vaterstadt mit einer gewaltigen Überschuldung kurz vor dem Zusammenbrechen war. […] Kaufmann besaß keine gute Menschenkenntnis, im Gegensatz zu Ahrens, dem ich wohl in erster Linie meine Ernennung verdankte. […] Der Gescheiteste von allen [der „Parteigenossen“ vor 1933] war Ahrens. Leider hatte er einen krankhaften Ehrgeiz. Er hatte geglaubt, mich als Sprungbrett benutzen zu können. Als es ihm nicht gelang, [1933] 2. Bürgermeister zu werden, versuchte er [1938] durch das Groß-Hamburg-Gesetz sich an meine Stelle zu setzen.“ 35
Kaufmann verhinderte dies, laut Krogmann weil er (inzwischen) auch Ahrens’ „krankhaften Ehrgeiz“ erkannt habe 36. Dennoch füllte Ahrens immer mehr die Rolle des zweiten Mannes nach Kaufmann aus. Erst das Ende 1945 sollte die Machtfolge KaufmannAhrens-Krogmann durch Kaufmanns und Ahrens’ Verhaftung beenden, wobei wenige Tage später auch Krogmann abgeführt wurde. Für das Verständnis der nachfolgenden Kapitel, die sich mit den Jahren bis 1945 beschäftigen, ist diese 1933 hergestellte Machtfolge deshalb von grundlegender Bedeutung. Doch zurück zum konkreten chronologischen Ablauf der „Machtergreifung“ in Hamburg. Bis zur Senatsumbildung hat das Motto des nationalsozialistischen „Hamburger Tageblatts“ hervorragend funktioniert: „Den Staat zerstört man nicht, man erobert ihn!“ Aber diese „Machteroberung“ konnte schon aus Gründen der Erhaltung des Neuen nicht einfach stehen bleiben. Die Macht musste auch abgesichert werden, wenn sie nicht prekär bleiben, und beispielsweise von der Zusammenarbeit mit den stark geschwächten, aber immer noch einen Machtfaktor darstellenden bürgerlichen Parteien abhängen sollte. In diese Machtabsicherung schaltete sich Kaufmann erheblich stärker ein, als in die bis dahin erfolgte „Machtergreifung“ selbst. Vortrag über Wirtschaftsfragen, die Krogmann zustimmend ergänzt habe, wobei er sich vor den Zuhörern offenbar sehr für Hitler als einzig möglichen Retter des Reiches stark machte. Vgl. Krogmann: Hakenkreuz, S. 306. 35 Ebd., S. 326f. 36 Ebd., S. 326.
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Die Ausschaltung von Kommunisten und Sozialdemokraten war bereits Ende April erfolgreich vollzogen 37. Kaufmann kam hierbei keine persönliche Rolle zu, wenn von der Tatsache abgesehen wird, dass er als Gauleiter naheliegenderweise einen gewissen Impuls gab und parallel um deren Anhänger warb 38. Vor allem Polizei und ähnlich wie in Preußen auch SA und SS verfolgten und unterdrückten aber SPD wie KPD in einem äußerst rasanten Tempo schon aus Eigenantrieb, ganz unabhängig von den Intentionen des Gauleiters. An verantwortlicher Position waren bei Polizei (der erwähnte Richter, nunmehr als Senator statt Kommissar 39), SA und SS überzeugte Nationalsozialisten. Solche brauchten keine spezifischen Befehle aus der Gauleitung. Sie wussten, was sie zu tun hatten und was sie selbst tun wollten, selbst wenn es parallel direkte Anordnungen vom Gauleiter gegeben hätte. Die enorme Geschwindigkeit in der Zerschlagung von SPD und KPD in Hamburg kann jedenfalls auf zwei Gründe zurückgeführt werden. Erstens war Hamburg bis zum „Groß-Hamburg-Gesetz“ 1937 und bis zu den kriegsbedingten Umzügen und Evakuierungen politisch vergleichsweise überschaubar strukturiert. Es war durch die jahrelange Erfahrung bekannt, wo die „roten“ Viertel und Hochburgen lagen, zumal dies in der einstigen „roten Festung“ des Reiches nicht sonderlich schwierig zu verfehlen war. 37 Vgl. hierzu näher Jochmann, Werner: Die Errichtung der nationalsozialistischen Herrschaft in Hamburg, in: Büttner, Ursula/Jochmann, Werner (Hrsg.): Hamburg auf dem Weg ins Dritte Reich. Entwicklungsjahre 1931–1933, 2. Aufl., Hamburg 1983, S. 39–73, hier S. 54–59. 38 In Sinne der ihm besonders wichtigen Sozialpolitik und der nationalsozialistischen Sozialismuskonzeption versuchte er der Hauptanhängerschaft der SPD und KPD von Beginn an deutlich zu machen, dass die NSDAP einen „richtigeren“ Sozialismus verfolgte, und mit sozialpolitischem Handeln bereits bei den eigenen Funktionären beginne. In seiner ersten Rundfunkrede nach der Senatsumbildung sagte er beispielsweise unmissverständlich, „Die nationalsozialistischen Senatoren sind, wie die hamburgische Bevölkerung weiß, in diesem Aufbauwerk mit einer entscheidenden Tat vorangegangen, indem sie zugunsten von Wohlfahrtseinrichtungen auf die den Betrag von jährlich 12 000 Reichsmark übersteigenden Bezüge freiwillig verzichtet haben. Ich stelle an die Hamburger Arbeiterschaft, vor allem an die Mitglieder der SPD. die Frage: ‚War die Not der schaffenden, arbeitenden Massen, das Elend der Erwerbslosen in den vergangenen Jahren nicht groß genug, als daß die sozialdemokratischen Senatoren Veranlassung gehabt hätten, freiwillig ein gleiches zu tun?‘“ „Gegen die Hetz-Kampagne. Rundfunkrede Karl Kaufmanns.“, HFB, 68 (1933), H. 89. Hervorhebungen im Original. 39 Dies stellt zugleich auch eine Besonderheit der „Machtergreifung“ in Hamburg dar. Resultierend aus Hamburgs Charakter als Stadt, Land und zugleich Gau ergab sich, dass SA und SS 1933 und 1934 vergleichsweise wenig Gefangene vorzuweisen hatten, während die meisten Verhafteten dem staatlichen Strafvollzug unterstellt wurden. Zum Zeitpunkt der Bildung des neuen Senats unter Krogmann im März 1933 wiesen die Hamburger Strafanstalten rund 2300 Personen auf. Im Zeitraum bis zum August 1934 („Röhm-Putsch“ und damit definitives Ende des „Machtergreifungsprozesses“) sank diese Zahl nie unter 3000, zumeist lag sie gar wesentlich höher. Ihren Höhepunkt erreichte sie noch im Juli 1934 mit rund 3400 Insassen. Gleichzeitig saßen im Konzentrationslager Fuhlsbüttel, welches der SS unterstellt war, während der „Machtergreifung“ nie mehr als rund 800 Personen ein. Vgl. hierzu die Aufstellung in: Gleichschaltung, S. 266.
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Doch gab es auch hier diverse direkte Einwirkungen Kaufmanns. Sie wären wie erläutert nicht notwendig gewesen, aber es war Kaufmann offenbar ein besonderes Anliegen, sich selbst in die Machtabsicherung einzuschalten. Besonders bekannt ist hierfür das sogenannte „Kommando zur besonderen Verwendung“ geworden. Diesem wurde vom Senat (auf den Kaufmann immer direkt wie indirekt einwirken konnte 40) aufgegeben, die „neuen“ Gegner (unter den speziellen Hamburger Verhältnissen mit inzwischen stark rechts orientierten bürgerlichen Parteien betraf dies naturgemäß vor allem SPD und KPD) aufzuspüren, unter Umständen zu verhaften und die dahinter stehenden Gruppierungen einzuschüchtern. Bis hierin war das grundsätzlich nichts ungewöhnliches für die erste Monate des „Dritten Reiches“. Ungewöhnlich war an der hamburgischen Umsetzung der „Machtergreifung“ nur deren radikaler Zugriff. Kaufmann war damit offenbar höchst zufrieden. Persönlich schrieb er dem Führer des Kommandos: „Mit besonderer Befriedigung habe ich den Bericht über die letzte erfolgreiche Arbeit […] zur Kenntnis genommen. Der […] gestellten schwierigen Aufgabe haben Sie sich sogleich nach der Auftragserteilung mit der größten Umsicht und in der aufopferndsten Weise gewidmet, so daß es wesentlich Ihrer Tatkraft und Entschlossenheit zu danken ist, wenn die bisherige Arbeit des Kommandos zu einer entscheidenden Niederringung des Marxismus in Hamburg beigetragen hat. Ich nehme deshalb gern Veranlassung, Ihnen für Ihre in größer Pflichttreue geleistete wertvolle Arbeit im Dienste des hamburgischen Staates meinen besonderen Dank und meine Anerkennung auszusprechen. Ich bitte Sie, meinen Dank und meine Anerkennung auch jedem einzelnen Beamten Ihres Kommandos zu übermitteln.“ 41
Die Ausschaltung von KPD und SPD muss für Kaufmann einen besonderen persönlichen Triumph dargestellt haben. Gegen beide Parteien und ihre ideologische Ausrichtung hatte er nicht einfach „nur“ als Nationalsozialist einiges einzuwenden. Als bekennenden Sozialisten waren ihm beide Parteien stets ein Dorn im Auge. Für einen durch Hamburg geprägten Politiker musste dies noch mehr gelten, da Kommunisten wie Sozialdemokraten in der Hansestadt zusammen einen Anhang von rund der Hälfte der Wähler besaßen. Für Kaufmann war deren Vorstellung von Sozialismus einfach falsch. Beide Parteien nun endlich ausgeschaltet zu sehen, egal wie, musste ihm entgegenkommen. Dennoch fehlte immer noch das zentrale Element der Machtabsicherung, das die Herrschaft der NSDAP in der Region bis 1945 zementieren sollte. Die Frage nach einer Reichsstatthalterschaft wurde in Hamburg akut, als die ersten Reichsstatthalter im Reich ernannt wurden. Erster Reichsstatthalter (wenn von der speziellen Rolle Preußens unter von Papen, dann Hitler, dann Göring mit Reichsstatthalterschaft und preußischen Oberpräsidenten abgesehen wird), wurde am 10. April Ritter von Epp in Bayern. Im Mai folgten alle weiteren Reichsstatthalter, die meisten zu Anfang des Monats, Kaufmann hingegen erst am 15. Mai. Kaufmann selbst bezog dies darauf, dass er zu jener Zeit 40 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen in den (Unter-)Kapiteln 4.2. und 4.3. 41 StaHH 131-4, 1933 A 94, Schreiben vom 21. Juli 1933.
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nicht gut mit Hitler gestanden hätte, nicht zuletzt, weil er dem Strasser-Flügel der Partei angehört hatte. Auch andere Zeitgenossen interpretierten dies so. Tatsächlich aber bestand das Problem in einer rein technischen Frage. Reichsstatthalter, bei denen ähnliche technische Schwierigkeiten zu lösen waren, wurden ebenfalls erst Mitte/Ende Mai ernannt 42, Kaufmann war also (entgegen der häufig und immer weiter tradierten Annahme) nicht der zuletzt ernannte Reichsstatthalter gewesen, und vor allem war er es nicht, weil Hitler eine Abneigung gegen ihn besessen hätte. Dies muss allerdings nicht automatisch das Gegenteil dessen bedeuten, was Kaufmann in seine vermeintlich späte Ernennung zum Reichsstatthalter hineininterpretierte. Die Stimmung zwischen Kaufmann und Hitler war zumindest von Seiten des letzteren gereizt, wie mehrere Quellen nahelegen. Als einer unter vielen erwähnte Krogmann, „Kaufmann hatte [1933] kein besonders gutes Verhältnis zu Hitler. Das erzählte mir Göring. Kaufmann hatte dem Strasserflügel angehört. 43“ Daraus eine Abneigung zu interpretieren, durch die absichtlich ein bis zwei Wochen länger mit der Ernennung zum Reichsstatthalter gewartet wurde, würde angesichts des Ernstes der Lage im April/Mai zu weit gehen. Die Hansestädte Hamburg, Bremen und Lübeck hatten hinsichtlich der Frage eines Reichsstatthalters Gespräche miteinander geführt. Sie waren schließlich einig geworden in der Auffassung, dass ein gemeinsamer Reichsstatthalter eine ideale Lösung für sie darstellen würde. Dadurch könne auf die spezifischen Interessen und Schwierigkeiten der Hafenstädte besser eingegangen werden. Und auch ein höheres Stimmgewicht innerhalb des Reiches wäre vielleicht die Folge gewesen. Verkompliziert wurde die Sachlage grundsätzlich auch nicht durch die räumliche Trennung voneinander, da sowohl Hamburg als auch Bremen ohnehin mit territorialer Zersplitterung ihrer eigenen Gebiete lebten. Problematisch wurde erst die Frage nach den Gauleitern. Bremen gehörte zum Gau Weser-Ems, Lübeck zum Gau Mecklenburg. Hitlers Entscheidung war also ein Balanceakt. Hinzu kamen noch rechtliche Detailfragen, da die drei Stadtstaaten im Reichsverband zugleich Kommune und Land waren, das Reichsstatthaltergesetz in seiner kurzen Vorbereitugszeit während der „Machtergreifung“ aber ursprünglich auf die Verwaltungen von Ländereinheiten gemünzt war. Zudem machte sich ab dem Moment des Vorschlags des Hamburger Gauleiters Kaufmann als gemeinsamer Reichsstatthalter der alte Gegensatz von Hamburg und Bremen bemerkbar 44. Die Gespräche der Hansestädte waren zudem noch an die parallel aufgekommene Frage eines gemeinsamen 42 Konkret betraf dies folgende Reichsstatthalter: Alfred Meyer konnte erst am 16. Mai für die Länder Lippe und Schaumburg-Lippe ernannt werden, Hildebrandt für beide Mecklenburg sowie Lübeck gar erst am 26. Mai. Vgl. Höffkes: Generale, S. 146 und 236. 43 Krogmann: Hakenkreuz, S. 327. 44 Der bremische Senatspräsident war von der Möglichkeit, dass ein Hamburger Reichsstatthalter für die Hansestädte werden könnte, höchst alarmiert, und schrieb an Hess in München unter anderem, dass die Idee „in Bremen eine allgemeine Bestürzung hervor[rief]“. Vgl. BA B R 43II/1384, Schreiben vom 23. April 1933.
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Kommissars für die Schifffahrt der Hafenstädte gekoppelt, was sich teilweise überlagerte. Krogmann berichtete in seinen „Erinnerungen“ recht deutlich über den letztendlichen Entwicklungsgang: „Am 12. April fuhr ich mit dem Lübecker Bürgermeiser Dr. Völtzer und Staatsrat Ahrens nach Bremen, um eine Einigung der drei Hansestädte herbeizuführen. Mir schwebte vor, für diese einen gemeinsamen Reichsstatthalter, den Gauleiter Kaufmann, ernennen zu lassen. Bremen machte den Gegenvorschlag, die Hansestädte unmittelbar dem Reichskanzler oder dem Innenminister zu unterstellen. Es bestand aber die Gefahr, daß in diesem Falle die Angelegenheiten der Hansestädte einem Ministerialdirektor übertragen würden, der wahrscheinlich nicht das genügende Interesse für die Belange Hamburgs haben konnte. Lübeck schloß sich dem Hamburger Vorschlag an. […] In einer Besprechung zwischen dem Gauleiter Kaufmann, Bürgermeister Dr. Völtzer, Staatsrat Ahrens und mir wurden wir uns darüber einig, daß eine so günstige Gelegenheit, die Interessen der drei Hansestädte zusammenzufassen, nicht wiederkehren werde. […] Bei der Überreichung der Denkschrift für die Seeschifffahrt am 24. April war das Gespräch mit Hitler auch auf die Reichsstatthalterfrage gekommen. […] Hitler [umriss] seine Ansicht […] wie folgt: ‚Es müssen seiner Ansicht nach zwei grundsätzliche Erwägungen gegeneinander abgewogen werden. Die eine: der Statthalter habe nur dann einen Sinn, wenn er einen großen Teil der Bevölkerung hinter sich habe, dann kämen nur die Gauleiter in Frage. Die NSDAP wäre die Trägerin des Ganzen, und man müsse deshalb die Organisation auch in den Staatsdienst einbauen. Die zweite Erwägung wäre: die historische Linie, das Wiederaufleben der alten Hansa, und dieses würde eine starke Bedeutung erhalten, wenn später einmal Danzig und vielleicht auch Memel zum Reich zurückkehren würden.‘ […] Von anderer Seite wurde mir dann auch als Meinung Hitlers noch Wien genannt. Hitler schloß damit, es sei weder von ihm, noch vom Reichspräsidenten ein Entschluß gefaßt, und er würde, bevor dieses geschehe, den drei Bürgermeistern Gelegenheit geben, sich zu äußern. […] Am 27. April fand dann die Aussprache der drei Bürgermeister bei Hitler in Gegenwart des Reichsministers Frick statt. […] Hitler hat später erzählt, ich hätte dagesessen, als wollte ich im nächsten Augenblick Bremen verschlingen. Am 9. Mai erhielt ich auf Anfrage von Staatssekretär Lammers (Reichskanzlei) die Antwort, ein gemeinsamer Statthalter mit Schleswig-Holstein käme nicht in Frage, es bliebe vielmehr bei der Absicht Hamburg/Lübeck. Die gleiche Antwort erhielt Staatssekretär Ahrens vom Reichsminister Frick. Trotzdem teilte man mir am 16. Mai aus Berlin mit, Gauleiter Kaufmann sei nur für Hamburg zum Reichsstatthalter ernannt worden.“ 45
45 Krogmann: Hakenkreuz, S. 66f. Krogmann irrte aber hinsichtlich der Personalie Friedrich Völtzer. Tatsächlich war dieser nicht Bürgermeister, sondern Reichskommissar. Vgl. Sinner, KarlErnst: Tradition und Fortschritt. Senat und Bürgermeister der Hansestadt Lübeck 1918–2007, Lübeck 2008, S. 244f.
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Angesichts dieser komplizierten und nicht leicht zu entzerrenden Einzelfragen wurde Kaufmann tatsächlich nicht spät ernannt. Vielmehr wurde er vergleichsweise schnell ernannt, da bei den anderen Reichsstatthaltern, die in der Regel nur einem Land zugeordnet werden mussten, weniger Detailfragen vorab zu klären waren, als bei ihm. Rein vom äußeren Aspekt her war die Ernennung Kaufmanns zum Reichsstatthalter am 16. Mai 46, während der er sich in Berlin, nicht in Hamburg befand, ein viel festlicheres und demonstrativeres Element der „Machtergreifung“ in Hamburg, als etwa die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar, die Senatsumbildung am 8. März oder die Feier zum „Tag der Arbeit“ am 1. Mai. Überall wurde die Hakenkreuzfahne gehisst, Ehrenbereitschaften von Polizei, Infanterie und Marine setzten sich zur Parade in Bewegung, Aufmärsche der Partei und der SA, sowie Menschenaufläufe auf den öffentlichen Plätzen prägten die Stadt, als Kaufmann als frisch ernannter Reichsstatthalter aus Berlin zurückkehrte. Im Rathaus trafen sich anschließend Politik und Wirtschaft der Stadt zum Festakt, wie auch außerhalb der reinen Parteipresse anerkennend kommentiert wurde 47. Hieran wird nicht zuletzt die bereits stark gefestigte Macht der Nationalsozialisten deutlich. Wäre Kaufmann kurz nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler schon Reichsstatthalter geworden, wäre die Reaktion verhaltener gewesen (wenn sie aufgrund der im Reich einmaligen Position von SPD und KPD in Hamburg nicht sogar aggressiv gewesen wäre). Da die Entscheidung für Kaufmann als Reichsstatthalter an sich nicht unerwartet, von ihrem letztlichen Zeitpunkt her dann aber doch sehr plötzlich und unangekündigt ausfiel, war nicht nur Krogmann verblüfft 48. Kaufmann selbst reagierte mit einem sofortigen Telegramm an Hitler persönlich. Da Telegramme besonders kurz und bündig ausfallen mussten, erhielt das jeweils gewählte Wort umso mehr Bedeutung, zumal wenn es sich bei dem Inhalt um ausformulierte Sätze handelte, statt um Abkürzungen oder Stichworte. Kaufmanns Telegramm jedenfalls sagte dahingehend viel aus über seine Ernennung zum Reichsstatthalter: „MEIN FUEHRER ICH WERDE DAS IN MICH GESETZTE VERTRAUEN RECHTFERTIGEN UND ARBEITEN WIE BISHER ERGEBENST KARL KAUFMANN“ 49.
Kaufmann wusste offenbar um die Bedeutung dieser Ernennung und bedankte sich deshalb sofort mit einem ungewöhnlich langen Telegramm. Die Bedeutung im machtpolitischen Sinne dürfte er erkannt haben, nachdem Preußen und Bayern sowie kurz vor
46 BA B R 43-II/1386, Beglaubigte Abschrift vom 16. Mai 1933. Das Original ging an Kaufmann persönlich. 47 Exemplarisch: „Der feierliche Empfang des Statthalters“, HC, 203 (1933), H. 234. Noch war die Presse nicht vollends „gleichgeschaltet“, um nur durch dadurch einen solch herausragenden Jubel zu veranstalten. 48 Krogmann: Hakenkreuz, S. 67. 49 BA B R 43-II/1386, Telegramm.
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Hamburg auch noch andere Länder ihre Reichsstatthalter erhielten. Aber auch die personalpolitische Komponente wird ihm klar gewesen sein. Nachdem er 1928 tief gefallen war und 1929 mit dem Gau Hamburg einen Parteiverband übernehmen durfte, der noch zerstrittener war als der, an dem er zuvor resigniert hatte, gelang es ihm, sich zu bewähren. Entgegen Goebbels’ Befürchtung vom 18. April 1929 gelang es ihm also tatsächlich, den Gau „auszumisten“ 50. Dass es nun für die Hansestädte keinen gemeinsamen Reichsstatthalter gab, dass Hamburg keinem anderen Amtsbezirk der Reichsstatthalter zugeordnet wurde, und schließlich, dass Hamburg als Reichsstatthalter den heimischen Hamburger Gauleiter Kaufmann erhielt, mag überwiegend sachliche Gründe gehabt haben. Aber für Kaufmanns Werdegang war es zugleich die endgültige und unmissverständliche Rehabilitierung und Anerkennung seines Wirkens als Gauleiter in Hamburg. Eine entsprechende Danksagung hielt er offenbar für angebracht. Schon bald wurde die Bürgerschaft wie alle Landesparlamente im Reich nicht nur zugunsten der Regierung entmachtet, sondern auch als Institution abgeschafft. Anders als in den meisten Ländern wurde aber in Hamburg eine Art Ersatzgremium geschaffen, welches sich nicht als Parlament zu verstehen hatte, sondern diverse Kräfte in die Herrschaft einbinden sollte, ohne neue Senatoren dafür zu ernennen 51. Die Idee wurde offenbar von Ahrens entwickelt 52. Damit wurde der Staatsrat eingeführt. Dessen Mitglieder erhielten teilweise Geschäftsbereiche wie die regulären Senatoren. Wie auch auf Reichsebene war es in Hamburg weniger eine Frage des Ranges, was ein Amtsinhaber umsetzen konnte, sondern vor allem eine Frage des Individuums. Vor allem dem sehr ehrgeizigen Ahrens gelang es deshalb, den Senat zusammen mit Krogmann zu dominieren, obwohl er nominell „nur“ Staatsrat war, und erst Ende 1934 einen ausgeschiedenen Senator beerbte. Dazu nachfolgend näheres. Die Staatsräte wurden vom Senat ernannt. Schon die Zusammensetzung des Staatsrats zeigt deutlich, wer mit dem Senat verknüpft werden sollte. Die insgesamt 26 Mitglieder zwischen 1933 und 1945 lassen sich in drei Gruppen einteilen: Zwölf waren ranghohe Funktionäre der Hamburger NSDAP und ihrer Gliederungen, vom SS-Obersturmbannführer bis hin zum stellvertretenden Gauleiter. Zehn waren führende Männer aus der Hamburger Wirtschaft, vom Aufsichtsratsvorsitzenden der Hamburg-Amerika-Linie bis hin zum Leiter der Werft „Blohm & Voss“. Vier waren einzelne Persönlichkeiten aus dem hamburgischen öffentlichen Leben, vom Landesbischof bis zum Direktor des Schauspielhauses 53. Wenngleich die meisten der Staatsräte schon vor 1933 mit der NSDAP liebäugelten, ist doch unverkennbar, dass Kaufmann in der Zusammensetzung auf eine Einbeziehung und Heranziehung einflussreicher Personen Hamburgs in die nationalsozialistische Herrschaft achtete. Die nationalsozialistische Herrschaft in Hamburg war
50 Goebbels: Tagebücher, Bd. 1, S. 369. 51 Vgl. Jochmann: Errichtung, S. 41f. 52 Soweit unter anderem Krogmann: Hakenkreuz, S. 165. 53 Vgl. die Zusammenstellung der Mitglieder des Staatsrats in: Dokumente zur Gleichschaltung des Landes Hamburg 1933, Frankfurt am Main 1967. Herausgegeben von Henning Timpke, S. 142–144.
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durchaus von einer Zusammenarbeit mit der Hamburger Wirtschaft geprägt, wenngleich dies weder für die oft vertretene „Mustergau“-These 54, noch für eine politische Diktatur über die Wirtschaft ausreicht. Die ersten Monate Kaufmanns als Reichsstatthalter waren von der weiteren Absicherung der „Machtergreifung“ geprägt. Diese waren in Hamburg nicht sehr viel anders als in anderen Teilen des Reiches. Ein besonderes Problem stellte hierbei die SA dar. Die jahrelang auf Aktivismus abgestimmte SA hatte trotz aller Gewalt, die die ersten Monate nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler geprägt hatten, keine Befriedigung ihrer revolutionären Ansätze erfahren. Der verfassungsgemäß abgesicherte Sprung der NSDAP in die Reichsregierung war den unruhigen SA-Männern nicht revolutionär genug gewesen. Hinzu kam das Gefühl, nunmehr auf der herrschenden Seite zu stehen, und sich deshalb wesentlich rücksichtsloser benehmen zu können, als noch vor der „Machtergreifung“. Der Reichsinnenminister Frick verschickte im Oktober 1933 ein Rundschreiben unter anderem an die Reichsstatthalter, damit diese in ihrem Territorium die Probleme übergriffiger SA-Männer beendeten, indem dagegen „mit aller Schärfe eingeschritten“ werden sollte 55. Dass diese in strengem Ton gehaltene Aufforderung an die Reichsstatthalter und nicht an die Gauleiter gerichtet war, bedeutet, dass mit den staatlichen Mitteln, also auch den (noch nicht überall der SS überlassenen) Landespolizeien, gegen die SA vorgegangen werden sollte. Auch in allen anderen Bereichen lief die „Machtergreifung“ in Hamburg innerhalb der Bahnen, die sich schon zuvor und parallel anderenorts herauskristallisierten. Kaufmann selbst konnte sich hierbei als der entscheidende Nationalsozialist vor Ort allerdings vergleichsweise zurückhalten, und anderen die Arbeit überlassen. Dies betrifft vor allem die bereits beschriebene Erringung der Macht im Senat, zu deren Zeitpunkt Kaufmann noch nicht Reichsstatthalter, sondern „nur“ Gauleiter gewesen war. Im weiteren Verlauf der Machtabsicherung hatte er als Reichsstatthalter zwar eine erweiterte Möglichkeit, in die Arbeit des Senats einzugreifen, und mit noch mehr Nachdruck alles in die von ihm gewünschte Richtung zu lenken. Aber dies war kaum notwendig. Der neue Senat inklusive der Machtkonstellation von Krogmann und Ahrens sicherte bereits alles Notwendige ab. Nur gelegentlich musste Kaufmann persönlich einschreiten. Hierbei ging er jedoch subtil vor. Statt den Senat, mit dem er immerhin zusammenarbeiten wollte und dessen Position er zu nutzen gedachte, vor vollendete Tatsachen zu stellen, äußerte er 54 Die Charakterisierung eines Gaues als „Mustergau“ ist ohnehin schwierig. Denn die für gewöhnlich vorgeschlagenen Kriterien sind hierfür viel zu schwammig. Mal wird von Hitlers Blick auf den Gau ausgegangen, mal vom Standpunkt des Gauleiters, dann wieder vom Blick der nationalsozialistischen Ideologie oder zumindest eines Teiles von ihr. Dies alles führte dazu, dass im Laufe der Zeit wahlweise Hamburg, München-Oberbayern, Saar-Pfalz, Sachsen, Schleswig-Holstein, der Sudetengau, Thüringen, Tirol-Vorarlberg oder auch der Warthegau als „Mustergau“ bezeichnet wurden. Wenn eines der erwähnten Kriterien zugrunde gelegt wird, ist das durchweg zutreffend. Aber eine einheitliche Definition lässt sich damit noch nicht erstellen. 55 StaHH 113-2, A II, 1, Schreiben vom 6. Oktober 1933.
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beispielsweise einfach „Wünsche“. Dass ein „Wunsch“ des Gauleiters und Reichsstatthalters ab 1933 nicht einfach übergangen werden konnte, muss nicht groß erläutert werden. Aber es ist immerhin eine andere, freundlichere Herangehensweise, als etwas autoritär zu befehlen oder einfach anzuordnen. Ein Beispiel soll dies illustrieren. Im Juli 1933, also zu einem Zeitpunkt, an dem Hamburg relativ fest in der Hand der NSDAP lag, und es vor allem auf die langfristige Absicherung dieser Macht ging, wurde in einer der wöchentlichen Senatssitzungen über den Posten des Präsidenten des hamburgischen Strafvollzugsamts gesprochen. Die Angelegenheit war zu brisant, als dass sie im regulären Protokoll auftaucht, weshalb sie nur im Geheimprotokoll der entsprechenden Sitzung niedergelegt wurde: „Herr Bürgermeister Krogmann trägt vor, der Präsident des hamburgischen Strafvollzugsamts sei, nachdem der frühere Präsident […] in den Ruhestand getreten sei, neu zu ernennen. Kommissarisch sei seit ungefähr 3 Monaten Herr Lahts als solcher tätig. Es sei Wunsch des Herrn Reichsstatthalters, daß dieser zum Präsidenten endgültig ernannt werde. Auch der [fachlich zuständige] Herr Referent persönlich schlage dies vor. Herr Senator Rothenberger als Chef der Landesjustizverwaltung und Strafvollzugsbehörde und als Vorsitzender des Länderausschusses habe zwar sachliche Bedenken dagegen, daß ein im Strafvollzugswesen nicht vorgebildeter Mann an die Spitze der Strafvollzugsgemeinschaft trete. Er [Krogmann] selbst halte es aber für wünschenswert, daß gerade ein Mann aus den unteren Volkskreisen in eine exponierte Stellung trete.“ 56
Curt Rothenberger hatte deshalb im Vorlauf dieser Sitzung Kaufmann bereits seinen Rücktritt erklärt, sah sich aber dazu gezwungen, dem „Befehl des Herrn Reichsstatthalters, Chef der Landesjustizverwaltung und Strafvollzugsbehörde zu bleiben, Folge leisten [zu] müssen“, wie es das Protokoll formulierte 57. Inwiefern zeigt dieses Beispiel nun das persönliche Vorgehen Kaufmanns, also eine persönliche Komponente? Einerseits ist für die Jahre bis 1935 das vorgestellte Muster recht repräsentativ. Wenn Kaufmann selbst etwas in den Senat einbringen wollte, so geschah dies auf diesem vergleichsweise sanften Weg. Grundsätzlich überließ der neue Reichsstatthalter das „Tagesgeschäft“ aber dem Senat. Mit Krogmann und Ahrens hatte er zwei ihm persönlich ergebene und von ihm abhängige Persönlichkeiten mit Führungscharakter im Senat, die voll hinter dem Natinalsozialismus standen. Mit beiden pflegte er intensiven Kontakt, hielt sie sehr bildlich gesprochen einerseits programmatisch an der kurzen Leine, ließ diese Leine aber andererseits locker genug, damit die beiden sich eigenverantwortlich um ihre Geschäftsbereiche kümmern konnten. Selbst während der üblichen Maßnahmen, die allerorts 1933 zur Erringung und nachhaltigen Festigung der Macht getroffen wurden, von Versetzungen in den Ruhestand bis hin zu kurzfristigen Umbenennungen von Straßennamen, konnte sich Kaufmann auf die 56 StaHH A2c1933, Geheimprotokoll zum Protokoll der Plenarsitzung vom 14. Juli 1933. 57 Ebd.
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Arbeit Krogmanns und Ahrens' im Senat verlassen. Dies funktionierte in Kaufmanns Augen offenbar so gut, dass er kaum während der wöchentlichen Sitzungen anwesend war. Krogmann und Ahrens wussten seine Anliegen schon vorzubringen, ob nun selbst oder mit Berufung auf Kaufmann. Der zitierte Fall des Präsidenten des Strafvollzugsamts ist hierbei ein Beispiel unter vielen. Meistens war noch nicht einmal die Berufung auf Kaufmann notwendig. Der Senat handelte, wie es im Sinne Kaufmanns war. Die Zeitenwende war im allgemeinen Bewusstsein des Senats angekommen. In der ersten Sitzung nach seiner Ernennung zum Reichsstatthalter trat Kaufmann als Vorsitzender auf, was ihm rechtlich betrachtet zustand. Inhaltlich griff er aber nicht in die Debatte ein 58. 1933 übernahm er nur noch einmal den Vorsitz 59. Anwesend war er sonst nicht, auch nicht in den drei „Abteilungen“, also Fachausschüssen des Senats. Mit den Debatten über tagespolitische Themen wie staatlichen Geldlotterien oder Umwandlungen von Einzel- in Großwohnräume beschäftigte er sich zu diesem Zeitpunkt also nicht 60. Sondern nur mit den Vorgesprächen mit Krogmann und Ahrens sowie dem Ergebnis der Debatten. Das Wort „Debatte“ könnte hierbei „auf den ersten Blick“ verwundern. Aber tatsächlich handelte es sich bis zu Kaufmanns eigener Regierungsübernahme 1936 um Debatten, wenngleich Krogmann und Ahrens über ein leichtes Übergewicht gegenüber den „normalen“ Senatoren verfügten. Die Protokolle spiegeln dies deutlich wider. Diese Erhaltung der Debattenkultur erklärt sich aus der ungewöhnlichen Konstellation des Senats. Der hamburgische Senat Krogmann war 1933 als ein relativ regulärer Koalitionssenat gebildet worden, der sogar über eine parlamentarische Mehrheit in der Bürgerschaft verfügte. Dieser Senat war aus verschiedenen strategischen Gründen vorerst beibehalten worden. Einerseits wurde so Rücksicht auf die bürgerlichen und wirtschaftsnahen Partner genommen, die in Hamburg starke Einflussmöglichkeiten besaßen. Andererseits funktionierte dieses System unter nationalsozialistischer Dominanz effektiv und ohne Probleme zu bereiten. Ein zu früher Austausch der nicht-NSDAP-Senatoren hätte bei Wirtschaft und Bürgertum für Verstimmung gesorgt, ohne damit ganz sicher eine Steigerung der Effizienz oder Loyalität zu erreichen. Auch nachdem im Herbst 1933 die entsprechenden Senatoren ausschieden, wurde die Debattenkultur einfach beibehalten. Dahingehend war der Senat bis 1936 tatsächlich eine Art regulärer Senat wie aus der Weimarer Republik. Er war dies aber nicht mehr hinsichtlich der Tatsache, dass er eine diktatorische Regierung darstellte und der Reichsstatthalter mit seinen „Wünschen“ den Senat in eine gewisse Richtung lenken konnte. 1934 nahm Kaufmann immerhin noch sechsmal an den Plenarsitzungen des Senats teil. Diese fanden zwar weiterhin wöchentlich statt, besaßen aber immer weniger Inhalt, da immer mehr Angelegenheiten verwaltungsintern (durch das „Führerprinzip“ in den einzelnen Geschäftsbereichen) oder durch andere Stellen wie jener der Partei geregelt 58 StaHH A2a1933, Bd. 4, 38. Plenarsitzung des Senats. Freitag, den 19. Mai 1933. 59 Ebd., 38. Plenarsitzung des Senats. Freitag, den 4. August 1933. 60 Exemplarisch: StaHH A2a1933, Bd. 5, Verfügungen.
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wurden. Allein die Protokolle für 1934 hatten nur noch die Hälfte des Umfangs derjenigen von 1933, welche immerhin noch fast 1000 Seiten umfassten. Nur teilweise griff Kaufmann hierbei in Debatten ein, teilweise hingegen war er offenbar nur für Vereidigungen, die er als Reichsstatthalter selbst vornehmen musste, anwesend, und verabschiedete sich danach von den Sitzungsteilnehmern 61. Die wenigen Fälle, in denen er sich in die Sachfragen einbrachte, lassen sich aber nicht einer gemeinsamen Kategorie zuordnen. Am ehesten ließe sich hier noch erkennen, dass Kaufmann eine Art weltanschaulichen Anstoß zu neuen Themen oder zum Wiederaufgreifen alter Themen leisten wollte, was ihm auch stets gelang. Angesichts seiner Machtposition und der daraus erwachsenden Autorität ist dies wenig verwunderlich. Auffällig ist jedoch, dass die „Wünsche“ des Reichsstatthalters zunehmend „Forderungen“ wischen. Dies könnte an einer zunehmenden Autorität Kaufmanns oder auch der inzwischen abgesicherten Machtstellung gelegen haben. Wahrscheinlich lag es an beidem. Ein Beispiel jedenfalls, bei dem er initiativ das Wort ergriff und etwas Neues in den Senat einbrachte, war die Frage, wie der hamburgische Staat seiner Auffassung nach bei der „Behandlung von Geisteskranken“ vorzugehen habe. In seinen Ausführungen unterschied er zwischen „heilbaren Kranken“, die „unter größtmöglichem Einsatz“ zu behandeln waren, und „unheilbaren Kranken“, die „in Bewahrung genommen werden“ sollten. Der Senat nahm dies zur Kenntnis, der zuständige Senator sprach sich hierzu kurz aus, und das Thema sollte in der zuständigen Behörde weiter beraten werden 62. Auch diese ganze Praxis sollte aber nicht von allzu langer Dauer sein, so wie vieles in Kaufmanns Leben nur eine Dauer von wenigen Jahren aufwies, um anschließend grundlegend modifiziert zu werden. Einen Einschnitt in der Praxis des Umgangs mit dem Senat bildete das Jahr 1935. Kaufmann selbst war nur drei Mal bei Sitzungen anwesend. Gleichzeitig wurden immer mehr Senatsbeschlüsse im Umlaufverfahren gefasst, worunter die einst regulären Sitzungstermine inklusive Debatte litten. Warum dieser Einschnitt sich ereignete, ist nicht vollends klärbar. Dies lag zwar mehr oder weniger im Trend der Landesregierungen des „Dritten Reiches“, Hamburg aber bildete hierbei mit dem Jahr 1935 doch einen frühen und relativ sanften Fall, zumal in einigen Ländern bis 1936 erhebliche Misstimmungen und lähmende Konflikte zwischen Reichsstatthalter und Landesregierung vorlagen 63. Klar ist für Hamburg, dass die Möglichkeiten des Senats durch den autoritären Machtzuwachs dazu neigten, vieles ohne große Debatten untereinander zu erledigen. Ein erheblicher Teil des täglichen Verwaltungsgeschäfts konnte somit abgearbeitet werden. 61 Exemplarisch: StaHH A2a1934, Bd. 1, 17. Sitzung des Senats. Mittwoch, den 25. April 1934. 62 Ebd., 31. Sitzung des Senats. Mittwoch, der 17. Oktober 1934. 63 Das anschaulichste Beispiel dürfte Sachsen sein, wo sich der Machtkampf zwischen Mutschmann als Gauleiter und Reichsstatthalter sowie von Killinger als Ministerpräsident zwar immer weiter zugunsten Mutschmanns verschob, aber trotzdem erst mit von Killingers Absetzung 1934 und Mutschmanns Übernahme der Landesregierung 1935 zu einem Ende gelangte. Vgl. im Einzelnen Wagner, Andreas: „Machtergreifung“ in Sachsen. NSDAP und staatliche Verwaltung 1930–1935, Köln 2004, S. 317–378.
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Machtabsicherungen, die infolge der Ereignisse des ersten Halbjahres 1933 notwendig geworden waren, waren ebenfalls bis spätestens Mitte 1934 vollzogen. Es wäre aber verfehlt, festzustellen, dass der Senat als Regierung keine Debatten mehr zu seiner Arbeit benötigte, denn weder Krogmann noch Ahrens waren als „Erste unter Gleichen“ stark genug, das Regierungshandeln alleine zu steuern. Kollegiale Bestandteile blieben dadurch zwangsläufig eher erhalten, als in einer klassischen Landesregierung mit einem vorsitzenden Ministerpräsidenten. Dennoch bestand kein ausreichender Zwang mehr zu Kabinettssitzungen, sodass diese immer mehr entfielen. Kaufmann selbst mischte sich auch 1935 wieder nur geringfügig in die inhaltliche Senatsdebatte ein. Wenn dies der Fall war, dann auf ähnlicher Grundlage wie bereits im Vorjahr 1934. Hierunter können beispielsweise die zu Kaufmanns sozialpolitischen Interesen zählenden Themen einer Mietpreisfestsetzung in einem staatseigenen Wohnhaus oder auch die Antreibung des Senats zur schnelleren Errichtung von bereits geplanten Altersheimen genannt werden. Bezeichnenderweise handelte es sich hierbei nicht mehr um „Wünsche“, sondern um unmissverständlich vorgebrachte Forderungen („fordere, daß“) 64. Parallel zu seinen sozialpolitischen Vorstellungen behielt Kaufmann aber auch hier wieder realpolitisch und pragmatisch den Haushalt im Blick 65. Besonders anschaulich macht das die Sitzung, in der die soeben erwähnten Forderungen ergingen. Denn nur wenige Minuten zuvor hatte er gegenüber dem Senator für Finanzen moniert, dass bei Kostenvoranschlägen für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Hafen nicht eingeplante Überschreitungen vorgekommen waren. In Zukunft solle dies nicht mehr vorkommen 66. Innerhalb von nur zweieinhalb Jahren war aus dem ehemals sehr kollegial geführten Senat, der vor 1933 in seiner Arbeit demokratischere Züge aufwies als die meisten Länderregierungen des Reiches, schleichend ein anderes Organ geworden. Am ehesten könnte er als ein Verwaltungsorgan zur Ausführung der Politik charakterisiert werden. Politischer Input, wie es in der Politikwissenschaft bezeichnet wird, kam entweder direkt von Kaufmann oder meistens von dessen „verlängerten Armen“ Krogmann oder Ahrens. Da eine Bürgerschaft als Parlament seit 1933 fehlte, konnte von einer legislativen Seite ebenfalls kein politscher Input mehr kommen. Wie dargestellt hatte Kaufmann im Laufe der vorangegangenen Jahre bereits einiges an Verwaltungserfahrung sammeln können. Der Auf- und Ausbau der NSDAP im Rhein64 StaHH A2a1935, Bd. 1, Sitzung des Senats. Dienstag, der 11. Dezember 1935, S. 237–243, hier S. 247. 65 Dies wird nicht ausschließlich auf Eigenschaften Kaufmanns zurückzuführen sein, sondern auch erheblich auf Hamburgs institutionelle Struktur. Gerade die Vermischung von Landes- und Kommunalpolitik zwang durch die damit verbundenen Probleme zu einem gewissen Grad an Pragmatismus. Denn Kaufmann musste hierbei nicht nur zwei politische Ebenen zugleich im Blick behalten, sondern sah „seine“ Politik wegen der flächenmäßig geringen Größe Hamburgs eher und konkreter mit eigenen Augen im Alltag verwirklicht als die Reichsstatthalter der großen Flächenländer wie Bayern oder Sachsen. 66 StaHH A2a1935, Bd. 1, Sitzung des Senats. Dienstag, der 11. Dezember 1935, S. 237–243, S. 245.
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land beziehungsweise im Ruhrgebiet, sowie nicht zuletzt die Arbeit, die er mit der anfangs völlig desolaten Lage des Gaues Hamburg geleistet hatte, erbrachten ihm jahrelange Erfahrungen, auf die er als Reichsstatthalter zurückgreifen konnte. Allerdings ist es administrativ betrachtet ein großer Unterschied, eine Parteiorganisation mit fünfstelligen Mitgliederzahlen oder eine Millionenstadt wie Hamburg zu leiten. Nicht zuletzt die deutsche Amtssprache, die zwar schon seit ihrem Entstehen störrisch wirken konnte, aber stets notwendig war, um alle rechtlichen Bereiche, die Verwaltungsvorgänge berührten, ausreichend zu würdigen, schien den Gauleitern, die 1933 in hohe staatliche Ämter gelangten, eine gewisse Schwierigkeit zu bereiten. In einem Rundschreiben des Reichsinnenministers Frick an die Reichsstatthalter und Ministerpräsidenten vom September 1933 hieß es beispielsweise, die von ihnen auf Landesebene erlassenen „Gesetze [hätten] in einer klaren, dem Laien verständlichen Form und in einer vorbildlich guten deutschen Sprache abgefaßt“ zu sein, wozu er nachdrücklich auf diverse „Richtlinien für die Pflege einer guten deutschen Amtssprache“ verwies 67. Soweit ersichtlich, bewährte sich Kaufmann aber als Reichsstatthalter, obwohl er über keine einschlägige Berufserfahrung oder gar eine entsprechende Ausbildung verfügte. Da die Institution des Reichsstatthalters keine „einfache“ Repräsentativfunktion, sondern mit tatsächlichen und weitgehenden Kompetenzen ausgestattet war, war dementsprechend auch das Aufgabengebiet äußerst heterogen. Durch die Umwandlungsprozesse, denen die Exekutive in Hamburg ab 1933 unterworfen war, „erbte“ der Reichsstatthalter sämtliche Verwaltungszweige in Hamburg, welche zudem auch noch durch zusätzliche Kompetenzen ergänzt wurden. Dies bedeutete, dass alle Behörden in der einen oder anderen Form der Institution des Reichsstatthalters untergeordnet waren (bis zur Etablierung des Reichsgaues 1938) oder ihr selbst angehörten (nach der Etablierung des Reichsgaues 1938). Naheliegenderweise konnte Kaufmann persönlich nicht von allen noch so kleinen Vorgängen in einer solch großen Verwaltung gewusst oder sie gar selbst geprüft oder durchgeführt haben (erst mit seinem bis 1938 ausgestalteten Herrschaftssystem erhielt er durchgehenden Einblick in die gesamte obere und mittlere Instanz 68). Dies gilt umso mehr, wenn bedacht wird, dass Kaufmann noch viele weitere verwaltungsintensive Ämter ausübte, die teilweise auch noch verschiedene Dienstorte besaßen. Dennoch beschäftigte er sich als Reichsstatthalter nicht „nur“ mit den vermeintlich großen Themen und Anliegen, sondern auch mit alltäglichen Verwaltungsvorgängen. Da sich das politische System in Hamburg aber auch nach der Etablierung des Reichsgaues noch gelegentlich in einem steten Wandel befand, änderten sich auch diese Verwaltungsvorgänge. Ein Beispiel soll dies nachfolgend illustrieren. Die Institution des Reichsstatthalters in Hamburg verfügte über einen Fonds für Sonderfürsorgemaßnahmen für aktuelle und ehemalige Bedienstete sowie deren Hinterbliebene. Hieraus konnte in begründeten Einzelfällen individuelle einmalige wie laufende Zahlungen an Einzelpersonen oder Familien getätigt werden. 1938 wandte sich eine Witwe, deren verstorbener Ehemann bei der staatlichen Wasserstraßendirektion 67 StaHH 113-2, A II, 1, Schreiben vom 30. September 1933. 68 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen im Unterkapitel 4.2.
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beschäftigt gewesen war, an den ehemaligen Arbeitgeber ihres Mannes. Dort stellte sie ein Unterstützungsgesuch. In diesem führte sie folgendes aus: „Am 27. März 1938 wird meine Tochter […] konfirmiert. Da ich z.Zt. nur eine Pension von monatlich R.M. 138.75 (netto) beziehe, ist es für mich sehr schwer und fast unmöglich, für meine Tochter die notwendigste Kleidung zur Konfirmation zu beschaffen. Da die Kleidungsstücke meiner Tochter vollkommen aufgebraucht sind und sie auch aus den Sachen herausgewachsen ist, benötige ich zur Beschaffung der einfachsten und billigsten Kleidungsstücke (Kleid, Mantel, Schminke, Unterwäsche, Strümpfe u.s.f.) eine für mich unerschwingliche Summe von ca[.] R.M. 120.– Ich bitte daher um eine wohlwollende Unterstützung.“ 69
Die Wasserstraßendirektion „verspricht sich jedoch von einer Weitergabe Ihres Gesuchs keinen Erfolg“ und lehnte ab. Sie bot ihr aber an, einen Vorschuss auf das Gehalt der Tochter zu zahlen, da diese nach ihrer Konfirmation ins Arbeitsleben treten würde 70. Daraufhin wandte sich die Witwe einfach direkt an den Reichsstatthalter Kaufmann, schickte ihm ihr ursprüngliches Gesuch und die Antwort der Wasserstraßendirektion gleich mit, und erklärte ihm unter anderem folgendes: „Da ich mich nun aber in einer tatsächlichen Notlage befinde[,] richte ich an den Herrn Reichsstatthalter nochmals die Bitte[,] mein Gesuch zu prüfen und wohlwollend zu befürworten, denn mit einem Vorschuss ist mir nicht geholfen, vielmehr würde dieser meine Notlage durch die Rückzahlungen noch mehr verschlimern.“ 71
Verwaltungsintern fand hierüber ein Austausch mit der Wasserstraßendirektion statt, welche zwar nunmehr der Dame zustimmte, sich dabei aber die Anmerkung erlaubte, „daß ihre Lage [im Falle eines Vorschusses] nicht schwerer sein würde als diejenige von Arbeitern bei der Wasserstraßendirektion 72“. Ob es sich nun um eine „tatsächliche Notlage“ handelte, könnte zwar bestritten werden. Kaufmann ließ durch einen seiner Mitarbeiter das Gesuch aber zumindest teilweise positiv beantworten, indem der Witwe aus den Mitteln der Wasserstraßendirektion eine einmalige Zahlung von 50 RM gewährt wurde 73. Kaufmann beschäftigte sich also selbst in seiner arbeits- und zeitintensiven Fülle an Ämtern noch 1938 mit solch vermeintlich einfachen Angelegenheiten wie dem dargestellten Gesuch um 120 RM. In anderen Fällen ist allerdings nicht immer klar, ob Kaufmann selbst über solche Verwaltungsvorgänge entschied, oder ob er diese nicht (zunehmend) anderen überließ. Soweit aus den erhaltenen Quellen ersichtlich, war auch nicht eindeutig geklärt, welche 69 StaHH 113-2, B II, 19b, Schreiben vom 5. Juli 1938. Hervorhebungen im Original. 70 Ebd., [weiteres] Schreiben vom 5. Juli 1938. 71 Ebd., [weiteres] Schreiben vom 5. Juli 1938. Hervorhebungen im Original. 72 Ebd., [weiteres] Schreiben vom 5. Juli 1938. 73 Ebd., [weiteres] Schreiben vom 5. Juli 1938.
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Abteilung für die Vorarbeit, also die Sichtung von Gesuchen, ihre Ablehnung oder eventuelle Weiterleitung an den Reichsstatthalter, zuständig war. Während im dargestellten Fall der Witwe, die sich persönlich an den Reichsstatthalter wandte, neben der Wasserstraßendirektion noch der Präsident der Staatsverwaltung, also Kaufmanns Stellvertreter, und der Reichsstatthalter selbst involviert waren, konnten die Entscheidungsinstanzen in anders gelagerten Fällen wieder andere sein. Ob dies letztlich mit Umstrukturierungen der Verwaltung oder mit unklaren Regularien der bewusst für Einzelfälle offen und flexibel gehaltenen Sonderfürsorgemaßnahmen zusammenhing, ist aber nicht mehr zu ermitteln. Auch dies soll nachfolgend ein Beispiel darstellen. Ein Fall, der definitiv nicht vor Kaufmann persönlich getragen wurde, sondern den untere Instanzen entschieden, ereignete sich Anfang 1940. Mit einem Unterstützungsgesuch wandte sich eine junge Frau, deren Ehemann als Verwaltungsassistent in der Wasserstraßendirektion beschäftigt war, zu diesem Zeitpunkt aber in der Wehrmacht diente, an den Arbeitgeber ihres Mannes: „Anlässlich der Geburt meines 4. Kindes sind uns Ausgaben entstanden, die von dem Gehalt meines Mannes (Diäten) nicht bestritten werden können. Da die Ausgaben für eine Hilfe im Haushalt (Mutter meines Mannes) nicht beihilfefähig sind, bitte ich die Wasserstraßendirektion, für diese notwendigen Mehrausgaben im Haushalt (Verpflegung, Licht und Feuerung) eine einmalige Unterstützung erwirken zu wollen.“ 74
Im Gegensatz zum dargestellten Fall der Witwe wurde dieses Gesuch aber nicht auf höchster Ebene bearbeitet, sondern von der Wasserstraßendirektion und der dem Reichsstatthalter unterstehenden „Allgemeinen Abteilung“. Der besagte Ehemann erklärte postalisch, es seien bei zwei RM täglich im Zeitraum vom 25. Oktober 1939 bis zum 20. Januar 1940 176 RM Kosten entstanden 75, gewährt wurden der Familie schließlich 150 RM 76. Obwohl es also um einen höheren Betrag als im Falle der Witwe ging, wurde die Angelegenheit Kaufmann überhaupt nicht vorlegt. Der Fall der Witwe ist vielleicht nur deshalb bis zu ihm durchgedrungen, weil sie sich über die Verwaltung hinweg an ihn wandte. Da von den entsprechenden Gesuchen und ihrer Beantwortung nur ein Bruchteil vorhanden ist, lässt sich nicht quantifizieren, wie oft Kaufmann selbst solche Vorgänge zu Gesicht bekam, und wie oft verschiedene Abteilungen diese eigenhändig bearbeiteten. Das Beispiel der Unterstützungsgesuche zeigt aber unabhängig davon auf, dass Kaufmann auch gelegentlich mit solch vermeintlich kleinen Verwaltungsvorgängen befasst war. Nach welchen konkreten Belangen Kaufmann in dieser ersten Reichsstatthalterphase bis 1936/1938 entschied, ob er selbst Verwaltungsvorgänge bearbeitete oder sich zu74 Ebd., Schreiben vom 26. September 1940. 75 Ebd., Anhang Nr. 2. 76 Ebd.
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mindest über sie informierte oder informieren ließ, ist nicht ersichtlich. Ein exaktes System scheint er dabei noch nicht gehabt zu haben. Besonders wichtig erscheinende Sachverhalte scheinen ihm jedenfalls bekannt gewesen zu sein. Hierunter können Vorgänge wie die exemplarisch dargestellten Unterstüzungsgesuche gefasst werden, in denen der Reichsstatthalter als Repräsentant von Reichsregierung und NSDAP auf einem relativ direktem Wege bei Gesuchsstellern „glänzen konnte“. Auch ließ er sich über Ernennungen und Versetzungen der mittleren und untereren Hierarchieebenen (als Reichsstatthalter führte er selbst nur die der oberen durch) gelegentlich unterrichten und sich Übersichten hierzu vorlegen 77. Die Hamburger Personalpolitik aller Verwaltungszweige bekam er also zumindest zu Gesicht, ohne selbst dafür direkt zuständig zu sein. Das entsprach seinem Vorgehen als Gauleiter. Zudem wäre es verfehlt anzunehmen, dass Kaufmann sich als Reichsstatthalter nur gelegentlich einzelne Verwaltungsvorgänge vorlegen ließ, und sich sonst anderen Angelegenheiten, wie der Gauleitung oder seinem Privatleben widmete. Er konnte durchaus aus Eigeninitiative streng durchgreifen. Ein Ereignis aus dem Winter 1933 mag dies veranschaulichen. Kaufmann äußerte in einem Brief an eine niedrigere Verwaltungsinstanz seinen Unmut: „Das Staatsamt übersendet mir heute ein Schreiben des Senators für die innere Verwaltung […]. In diesem Schreiben reklamiert Herr Senator Richter eine Besprechung über die Allgemeine Ortskrankenkasse, zu der er als zuständiger Senator nicht hinzugezogen worden ist. Zunächst stelle ich grundsätzlich fest, daß ich mir als Reichsstatthalter vorbehalten muß, Präsidenten von Mittelbehörden zur direkten Besprechung und Berichterstattung aufzufordern. Außerdem habe ich in meiner Eigenschaft als Gauleiter sehr oft Veranlassung, mich um Personalfragen, wie in diesem Falle […], zu kümmern. Im übrigen muß es mir überlassen bleiben, zu welchen von mir direkt veranlaßten Besprechungen der zuständige Senator hinzugezogen wird. Es kann als selbstverständlich vorausgesetzt werden, daß ich zu allen Besprechungen von Bedeutung, bei dem die Anwesenheit des zuständigen Senators erforderlich ist, diesen von vornherein dazu auffordern werde.“ 78
Bemerksenswert und als Beispiel sehr anschaulich ist dieses Schreiben in vielerlei Hinsicht. Einerseits könnte eigentlich vorausgesetzt werden, dass ein Senator, also ein Regierungsmitglied, selbstständig solche verwaltungsinternen Unstimmigkeiten klären könnte. Offenbar ist Richter auch nicht selbst mit der Angelegenheit an Kaufmann herangetreten, sondern Kaufmann hatte durch einen Mitarbeiter der Staatsverwaltung hiervon erfahren. Statt sich mit dem Senator auszutauschen, schrieb der Reichsstatthalter einfach selbst einen Brief, griff also quer durch die Instanzen und Kompetenzen hindurch. Hierzu war er schließlich auch befugt. Zugleich stellte Kaufmann mit diesem Schreiben im konkreten Einzelfall klar, dass er ein solches eigenständiges Handeln niedrigerer Instanzen keinesfalls hinzunehmen bereit war: Der Kaufmann unterstehende Senator hatte bei thematisch einschlägigen Besprechungen dabei zu sein, ob die anderen 77 Exemplarisch: StaHH 113-2, A II, 3, Schreiben vom 17. Juni 1935. 78 Ebd., Schreiben vom 21. Dezember 1933.
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Besprechungsteilnehmer dies nun für notwendig erachteten oder nicht. Und wenn Kaufmann selbst solche Besprechungen in die Wege leitete, war er selbst involviert, ein Senator war dann nicht mehr unbedingt notwendig. Es könnte „auf den ersten Blick“ trivial erscheinen, aber was mit diesem hier exemplarisch dargestellten Vorgang deutlich wird ist, dass Kaufmann sich um nicht weniger als eine Umsetzung des „Führerprinzips“ in der Verwaltung bemühte. Dies ist umso bedeutungsvoller, wenn die spätere Umformung Hamburgs in einen Reichsgau bedacht wird. Für Kaufmanns Tätigkeit als Reichsstatthalter im Zeitraum bis 1936/1938 sind aber noch viele weitere Punkte hervorzuheben. Der Umstand, dass hierbei mitunter zwischen dem Zeitraum als Reichsstatthalter nach der Rechtslage von 1933 und nach der Rechtslage von 1938 und noch dazu der Phase als Bürgermeister zwischen 1936 und 1938 unterschieden werden muss, macht eine Zuordnung zum jeweiligen Unterkapitel vereinzelt schwierig. Das Amt war nicht mehr das gleiche wie zuvor, trotz identischer Namensbezeichnung. Insofern hatten Kaufmanns persönliche Handlungen als Reichsstatthalter nach 1938 jedenfalls einen anderen implizierten Charakter als zuvor. Einer dieser Punkte, die hierbei aufgrund ihrer Datierung in beide Amtsphasen fallen, ist der der „Hamburger Stiftung von 1937“. Als Kaufmann die Stiftung als Reichsstatthalter gründete, war er noch „nur“ Reichsstatthalter im Sinne der Rechtslage von 1933, wenngleich er bereits 1936 zusätzlich selbst die Führung der Landesregierung übernommen hatte. All dies wird noch genauer auszuführen sein 79. Hier ist nun vor allem wichtig, dass er die Stiftung in der Übergangsphase zur neuen Rechtslage des Reichsstatthalters von 1938 gründete, nach der der Amtsinhaber automatisch der Landesregierung vorstehen sollte. Auf die Arbeit der Stiftung hatte diese Reform keine Auswirkungen. Da sie zudem vor dem Stichtag des Inkrafttretens der neuen Rechtslage gegründet und auch danach weiterhin so behandelt wurde, soll sie im vorliegenden Unterkapitel behandelt werden. Die „Hamburger Stiftung von 1937“ wurde zum 17. April 1937 von Kaufmann in seiner Eigenschaft als Reichsstatthalter, nicht als Bürgermeister gegründet. Die Stiftung selbst wurde oftmals als ein „System der Protektion“ charakterisiert, bei dem sich Kaufmann durch monetäre und sonstige materielle Anreize eine Art Günstlingswirtschaft geschaffen habe, die außerhalb des regulären Staatshaushalts stand, und damit eigentlich nur von ihm kontrollierbar war. 80. Diese Interpretation ist sicherlich nicht ganz falsch. Aber den „Kern“ der Stiftung trifft sie wie auch bei Kaufmanns Gauleiterstiftung nicht ganz. Einerseits wird hierbei die Struktur unterschätzt, die Kaufmann ihr gab. Der Reichsstatthalter bestimmte faktisch allein über sie. Für die Frage nach der Interpretation der Stiftung bedeutet dies aber, dass es irrelevant ist, ob sie außerhalb des regulären Haushalts Hamburgs stand. Hätte Hitler Kaufmann abgesetzt und jemand anderen zum Gauleiter 79 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen im Unterkapitel 4.2. 80 Soweit etwa Bajohr, Frank: Parvenüs und Profiteure. Korruption in der NS-Zeit, Frankfurt am Main 2001, S. 276.
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und Reichsstatthalter ernannt, hätte dieser also genauso über die Stiftung agieren können, wie Kaufmann selbst, da diese nicht auf ihn als Person, sondern als Amtsinhaber ausgerichtet war. Das stärkste Argument gegen diese Interpretation ist aber, dass sie Kaufmanns politische Einstellung nicht berücksichtigt. Zwar war er ein Machtmensch und auch ein Machtpolitiker. Soziale Protektion kann für einen solchen sehr günstig sein. Aber Kaufmann gehörte dem sozialistischen Parteiflügel der NSDAP an. Für ihn wird die Stiftung nicht ausschließlich machtpolitische oder machtstrategische Motive besessen haben, sondern auch sozial- und wohlfahrtspolitische (zumal es stets Fälle gab, die aus verschiedensten Gründen aus den sozialpolitischen Maßnahmen des Staats herausfielen). Macht- und sozialpolitische Beweggründe schließen sich nicht gegenseitig aus. Aber die Differenzierung verschiebt die Dimension. Insofern gilt für die „Hamburger Stiftung von 1937“ das gleiche, was vorliegend bereits zur gaueigenen „Karl-Kaufmann-Stiftung“ erläutert wurde. Kaufmann wird sich mit ihnen beiden beliebt gemacht haben. Dies kann ein kleines Stück weit auch als Herrschaftsinstrument interpretiert werden 81. Aber aufgrund seiner politischen Überzeugung (für die er immerhin schon seit Anfang der 1920 er einstand und im wahrsten Sinne des Wortes auch „kämpfte“) muss der sozialpolitische Faktor beider Stiftungen höher gewichtet werden. Aufbau und Entwicklung der „Hamburger Stiftung von 1937“ verliefen nicht linear. Hinsichtlich ihrer Struktur erfuhr sie mehrere Änderungen. In ihrer ersten Satzung vom April 1937 stand unter anderem folgendes zu lesen: „Der Stiftung fließen die bisher dem Hamburger Staat von Dritten überwiesenen Beträge zur Förderung Vaterländischer Einrichtungen und Behebung von Notständen zu. Ferner erhält die Stiftung die im Staatshaushaltsplan des Jahres 1936 […] ([zur] Förderung Vaterländischer Einrichtungen und Behebung von Notständen) am 31. März 1937 nicht verausgabten Beträge. […] Der Zweck der Stiftung ist, aus den Zuwendungen Dritter vaterländische Einrichtungen (insbesondere Gliederungen der NSDAP.) zu fördern und Notstände zu beheben. […] Der Vorstand der Stiftung wird jeweils vom Reichsstatthalter in Hamburg bestimmt.“ 82
Die Satzung und damit die Struktur der Stiftung wurde im Juni 1939 und im Mai 1942 neu aufgelegt, wobei beide Male zusätzliche Finanzquellen hinzu gelangten (darunter etwa der Reichsstatthalter oder der Polizeipräsident), ohne aber die eigentliche Konstitution zu verändern. Die einzige wesentliche Änderung trat 1940 ein. Durch diese war der Vorstand nicht mehr zu eigenen Finanzanordnungen berechtigt, sondern benötigte die Bestätigung des Reichsstatthalters 83, sodass nunmehr selbst kleinste Anordnungen 81 Exemplarisch: Werner: Stiftungsstadt, S. 424. 82 StaHH 614-2/13, 1, Satzung der Stiftung. 83 Vgl. ebd., Satzung der Stiftung „Hamburger Stiftung von 1937“ sowie ebd., Satzung der Stiftung „Hamburger Stiftung von 1937“. Hervorhebungen im Original.
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von Auszahlungen über Kaufmanns Schreibtisch laufen mussten. Der von den Alliierten 1945 eingesetzte Bürgermeister Rudolf Petersen (nicht zu verwechseln mit seinem schon erwähnten Bruder Carl Wilhelm Petersen, der Krogmanns Vorgänger als Bürgermeister gewesen war) ließ sich vom Stadtkämmerer, welcher zugleich Vorstand der Stiftung gewesen war, schriftlich Auskunft über das Wesen der Stiftung geben. Dieser erläuterte in seinem Brief unter anderem folgendes: „Die Hamburger Stiftung von 1937 ist […] errichtet worden, um aus den Zuwendungen der wirtschaftlichen Unternehmen (Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerke, Hochbahn, Hafen- und Lagerhaus AG., Feuerkasse, den beiden Sparkassen und der Landesbank) vaterländischen Einrichtungen (insbesondere Gliederungen der NSDAP.) zu fördern und Notstände zu beheben. Im Jahre 1939 wurde der Stiftung auch noch die bei den beiden Sparkassen und der Bank der Deutschen Arbeit geführten Konten für soziale Hilfe angegliedert, die von dem Gauwirtschaftsberater Dr. Wolff bewirtschaftet und verwaltet wurden. Zum ersten alleinigen Vorstand wurde Senator Dr. Nieland ernannt, zu dessen Nachfolger ich am 27. April 1940 bestellt wurde. Während Herr Dr. Nieland anordnungsberechtigt war, ist […] die Anordnungsberechtigung [mit Amtsübergabe] für die Ausgaben dem Reichsstatthalter persönlich vorbehalten worden. […] Während des Krieges sind der Stiftung sehr erhebliche Mittel aus Spenden aus Truppenteilen, Firmen und Einzelpersonen zugeflossen, die im wesentlichen für die Betreuung von Verwundeten und Opfern von Luftangriffen verwendet werden sollen. Unter dieser Zweckbestimmung sind noch rund 1 500 000 RM bei einem Gesamtbestande von rd. 3 270 000 RM des von mir verwalteten Teils der Stiftung angesammelt.“ 84
Es haben sich nicht alle Unterlagen der Stiftung erhalten. Aber soweit sie erhalten geblieben sind, kann ihnen genau dies entnommen werden. Die meisten höheren Spenden (über 5000 RM) aus der Hamburger Wirtschaft nahmen in ihrer Überweisung Bezug auf mündliche Absprachen und Zusagen. Hinsichtlich einer etwaigen Freiwilligkeit ist dies entscheidend. Wie und auf welche Art und Weise den betreffenden Unternehmen nahegelegt wurde, dass sie der Stiftung 5000 RM zu sozialen Zwecken spenden mögen, kann also nicht gänzlich geklärt werden. Da es aber Mitarbeiter des Gauleiters und Reichsstatthalters sowie mitunter dieser höchst persönlich waren, die hierzu mit den Unternehmen in Kontakt waren, ließ den einzelnen Unternehmen kaum Spielraum zu einer Verneinung. Schließlich handelte es sich dabei um die mächtigsten Männer Hamburgs. Die Furcht vor eventuellen Sanktionen und vor allem künftiger Zurücksetzung wird seine Wirkung gezeigt haben. Nicht zuletzt mag gelegentlich auch parteipolitische und ideologische Übereinstimmung vorgelegen haben. Insofern ist für die Reichsstatthalterstiftung das gleiche feststellbar wie für die schon besprochene Gauleiterstiftung. 84 StaHH 614-2/13, 2, Schreiben vom 14. Juli 1945.
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Aus den Akten geht aber zumindest klar hervor, dass diese Großspenden fast immer zur freien Verfügung der Stiftung und des Reichsstatthalters deklariert wurden 85. Dies traf nicht auf Einzelspenden kleinerer Gruppen, Unternehmen oder Personen zu. Diese nahmen in ihren Überweisungen zumeist auch nicht Bezug auf mündliche Vorbesprechungen, sondern waren regelmäßig aus Eigeninitiative erfolgt. Zudem waren diese häufig an Verwendungszwecke gebunden, für deren Einhaltung und Erledigung die Stiftung korrespondierte und das Gewünschte auch entsprechend ausführte. Meistens betraf dies Kinder, die durch Fronteinsatz und/oder Luftangriffe einen oder beide Elternteile verloren hatten 86. Während die Großspenden also „blanko“ und wahrscheinlich mindestens gelegentlich mit „erzwungener Freiwilligkeit“ an die Stiftung gingen, besaßen diese Kleinspenden durchgängig karitativen Charakter. Eine spezielle Art der „Spenden“ waren die offiziell als „Arisierungsspenden“ ausgewiesenen Beträge. Diese vermeintlichen „Spenden“ kamen von Personen, die bei „Arisierungen“ und deren Vermittlung lukrative Geschäfte gemacht hatten und deshalb zu einer kleinen „Spende“ „angeregt“ wurden. Bei der Masse an Vermögensgütern, die in einer Handelsstadt wie Hamburg durch die „Arisierungen“ den Eigentümer wechselten, machten diese „Spenden“ aus der Rücksicht des Jahres 1946 schließlich einen Betrag von mindestens rund 900 000 RM aus 87 (wie sich erst später herausstellte, waren es tatsächlich etwa acht Millionen, hierzu nachfolgend mehr). Wie noch an anderer Stelle ausführlich erläutert wird, war Kaufmann über die „Arisierungen“ in Hamburg vollauf im Bilde 88. Dass Gewinne hieraus auch in die Stiftung eingingen war ihm also stets im Detail und von verschiedenen Perspektiven aus bekannt: Als Reichsstatthalter sah er die Gutachten über den Wert von zu „arisierendem“ Vermögen ein, genehmigte die Verkaufsverträge (gelegentlich mit persönlichen Änderungswünschen), konnte die Diskrepanz zwischen Wert und Verkaufspreis schwarz auf weiß sehen, erhielt eine „gespendete“ Summe des betreffenden „Arisierungsgewinners“ an die Stiftung überwiesen, und unterstützte aus der Gesamtsumme der Stiftung oftmals in Not geratene Hamburger, Waisenkinder, „verdiente Parteigenossen“ und mit besonders hohen Summen auch hochrangige und definitiv nicht „in Not geratene“ Parteifunktionäre aus seiner Umgebung. Hier zeigt sich wieder der zweiseitige Charakter der Stiftung, die sozialpolitische Zwecke verfolgte, etwa um Waisenkinder zu unterstützen, aber auch einen machtstrategischen Hintergrund besaß, etwa bei der Versorgung von Parteifunktionären. Auch der Verdacht der Korruption ließe sich dabei einbringen, denn das Kaufangebot durch den potentiellen „Arisierungsgewinner“ musste dem Reichsstatthalter vorgelegt werden, 85 Vgl. zu den erhaltenen Einzelspenden mit größerer Höhe und zur freien Verfügung StaHH 6142/13, 5 und ebd., 9. 86 Vgl. zu den diversen erhaltenen Einzelspenden mit vorgegebenen Verwendungszweck StaHH 614-2/13, 11. 87 Vgl. StaHH 614-2/13, 24, Schreiben vom 8. Februar 1946. 88 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen im Unterkapitel 4.2.
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der mit einer in Aussicht gestellten Spende für seine Stiftung zwangsläufig auch persönliches (sozialpolitisches wie machtstrategisches) Interesse an einem Zustandekommen der vorgelegten Verträge haben musste. Die Zuwendungen aus den unterschiedlichen Großspenden fielen äußerst heterogen aus. Grundsätzlich wurde nach dem zitierten Zweck der Stiftung, „vaterländische Einrichtungen (insbesondere Gliederungen der NSDAP.) zu fördern und Notstände zu beheben“, auch gehandelt. Noch in der Endphase des Krieges 1945 wurden hierzu Auszahlungen veranlasst. Hierzu zählten zumeist zwei- bis dreistellige Summen, welche beispielsweise an die NS-Frauenschaft, das Studentenwerk zur Anschaffung von Büchern, Gebühren für die Lagerversicherung von Stiftungseigentum, ein SA-Führerheim 89, den Gaudozentenbund 90 oder auch zwei Flakhelferinnen 91 gingen. Von dem Geld konnten auch individuelle Geschenke finanziert werden. Beispielsweise sollte der Gauschatzmeister im Auftrag Kaufmanns Verletzte besuchen, die bei Arbeitseinsätzen und Luftangriffen geschädigt worden waren. Kaufmann wollte, dass dieser dabei Grüße von ihm ausrichte und 200 Tafeln Schokolade als „kleine Geschenke […] überreiche“. Finanziert werden sollten diese durch die Stiftung 92. Zumindest die Zuwendungen an Parteigliederungen kann in einem totalitären Parteistaat eigentlich kaum verwundern, genausowenig wie die an Kriegsgeschädigte jeder Art. Es gehörte einerseits zum Wesen des „Dritten Reiches“ dazu, ebenso wie andererseits der Gedanke von „Volksstaat“, Sozialismus und Wohlfahrtsstaat nicht zuletzt bei Kaufmann einen hohen Stellenwert besaß. Durch die erhöhten Ausgaben während des Krieges sank die Finanzstärke der Stiftung rapide ab. Hatte sie zu Hochzeiten noch über rund 10 Millionen RM verfügt, verwaltete sie zu Kriegsende „nur“ noch die vom Stadtkämmerer genannten 3 270 000 RM. Zumindest schien dies in den Unterlagen des Stadtkämmerers so. Wie dieser selbst in seinem Brief an den Nachkriegsbürgermeister ausführte, hatte der Gauwirtschaftsberater Otto Wolff eine ihm unbekannte Summe für die Stiftung verwaltet. Zudem konnte die Stiftung nicht beliebig größere Beträge ausgeben, da der Großteil des Geldbestandes auf Termingeldkonten zu Festzinsen lag. Selbst der Stadtkämmerer musste noch gegen Kriegsende eine Auszahlung im Auftrage Kaufmanns (als Reichskommissar für die Seeschifffahrt) aufschieben und konnte sie schließlich überhaupt nicht ausführen, da sie mit knapp 500 000 RM die aktuell verfügbare Höchstsumme weit überschritt. Diese Termingeldkonten liefen teilweise noch über Jahre hinweg in der Nachkriegszeit 93. Bei der ausgiebigen Prüfung der Vermögensverhältnisse der Stiftung zwischen 1945 und 1950 wurden schließlich immer weitere Details ermittelt. Dazu zählten etwa die Gelder, die nicht vom Stadtkämmerer, sondern von Kaufmanns engem Mitstreiter und Freund Wolff verwaltet wurden. Dies ist wichtig zu erwähnen, da Kaufmann von Wolffs Praxis zwangs89 Vgl. StaHH 614-2/13, 7, Kontenstand der Hamburger Stiftung von 1937 Ende Februar 1945. 90 Vgl. ebd., Kontenstand der Hamburger Stiftung von 1937 Ende März 1945. 91 Vgl. ebd., Kontenstand der Hamburger Stiftung von 1937 Ende April 1945. 92 Vgl. StaHH 614-2/13, 9, Schreiben vom 2. Juli 1940. 93 StaHH 614-2/13, 2, Schreiben vom 14. Juli 1945.
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läufig gewusst haben muss, und ihn entweder einfach handeln ließ, oder aber ein gewichtiges Eigeninteresse an diesem Vorgehen hatte. Korruption, Nepotismus und das „Versickern“ von Geldern mag hierbei eine Rolle gespielt haben, wenngleich diese Summen um einiges geringer ausfielen als die des Stadtkämmerers. Konkret wurden neben den 3 270 000 RM auf stiftungseigenen Konten und in Barbeständen noch rund 2,5 Millionen RM ausfindig gemacht. Diese gehörten der Stiftung und wurden offenbar überwiegend auch in ihrem Sinne verwaltet. Allerdings lagerten sie auf Konten, die Wolff als Privatmann gehörten 94. Dieser Umstand ist bereits paradox, allerdings kam noch hinzu, dass es sich bei diesen Vermögenswerten nicht ausschließlich um Geld handelte. Es lagen auch etliche Summen in Form von Aktien, Staatsanleihen, Unternehmensanteilen und Krediten vor 95. All diese Finanzinstrumente luden in einem totalitären Staat geradezu dazu ein, das Wohlwollen des Gegenübers zu „erkaufen“ oder zu „erzwingen“. Über die Einzelfälle lässt sich dabei aber quellenbedingt keine Aussage treffen. Um soziale Zwecke dürfte es aber weniger gegangen sein. Durch Aufrechnungen, Rückzahlen, und Lasten wie Verbindlichkeiten wies die Schlussbilanz der Stiftung im Juli 1948 schließlich ein Vermögen von rund 4,5 Millionen RM aus 95. Da schätzungsweise acht Millionen RM durch „Arisierungen“ eingenommen wurden, und die Folgen von Restitutionsforderungen noch nicht gänzlich absehbar waren, sowie nicht zuletzt aus dem Grund, da die Hintergründe von zwei Firmen in (Teil-)Besitz der Stiftung über Jahre hinweg nicht geklärt werden konnten, blieb das Vermögen noch einige Zeit gesperrt 96, bis es in den Haushalt des neuen Bundeslandes Hamburg einging. Diese beiden Seiten der Stiftung lassen einen näheren Blick auf die Person Kaufmanns zu. Einerseits leistete die Stiftung karitative Zwecke, ähnlich wie der bereits erläuterte „Sozialfonds des Gauleiters“, nur in einem erheblich größeren Umfang. Dies muss kein „Sozialpopulismus“ sein, wie es mitunter interpretiert worden ist 97, denn Kaufmann war schon viele Jahre bevor er über Millionenbeträge bestimmen konnte von der Wichtigkeit sozialpolitischen Handelns und Helfens in individuellen Notlagen überzeugt. Andererseits wurden Gelder auf fremden Konten untergebracht und in zweckfremden Sachwerten angelegt. Es ist mangels Quellen nicht zu beweisen, aber der einzige sinnvolle Grund hierfür kann in machtpolitischen Gründen gelegen haben. Angesichts des Finanzvolumens war dies nur über die große „Hamburger Stiftung von 1937“, nicht aber über die kleine „Karl-Kaufmann-Stiftung“ möglich, denn wie ausgeführt lag das Vermögen ersterer zeitweise im unteren achtstelligen Bereich, während letztere nie über einen Vermögensbestand im unteren sechsstelligen Wertbereich hinausgelangte. Hinzu kam die häufige freie Verfügbarkeit von hohen Spenden bei ersterer, während bei letzterer nur niedrige Spenden mit häufig fest vorgegebenem Verwendungszweck eingingen. 94 StaHH 614-2/13, 24, Schreiben vom 18. Dezember 1945. 95 Vgl. ebd., Bericht vom 22. Dezember 1945. 95 Ebd., Schlussbilanz auf den 20. Juni 1948. 96 Vgl. dazu die einzelnen Briefe in StaHH 614-2/13, 24. 97 Exemplarisch: Werner: Stiftungsstadt, S. 428–435.
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Das Amt des Reichsstatthalters ab 1933 hatte für Kaufmanns Werdegang noch weitere Bedeutungen. Finanziell betrachtet war das Amt für ihn eine Besserstellung. Zwar besaß er durch seine politischen Funktionen ab 1926 ein akzeptables und ab 1928 überdurchschnittliches Einkommen. Dies ließ ihn finanziell definitiv zur Oberschicht aufsteigen, wenngleich sich das nicht in seinem Lebensstil niederschlug. Das Amt des Reichsstatthalters ab 1933 war aber ebenfalls mit Einnahmen versehen. Und diese sollten sogar noch weit höher ausfallen. Grundsätzlich ist die Entwicklung der Besoldung der Reichsstatthalter ein recht kompliziertes und umfangreiches Thema, aber es muss zumindest kurz hierauf eingegangen werden, um Kaufmann darin verorten zu können. Während der Einrichtung der Reichsstatthalter im April und Mai war die Frage nach der Besoldung vorerst übergangen worden (was unproblematisch war, da alle Reichsstatthalter finanziell anderweitig sehr gut versorgt waren und es primär um das Politische, nämlich die schnellen „Gleichschaltungen“ und die Machtabsicherung ging). Am 1. Juni 1933 wurde schließlich eine eigene „Verordnung über die Amtsbezüge der Reichsstatthalter“ veröffentlicht, die ex tunc ab dem 1. April gelten sollte. Diese bestimmte, dass alle Reichsstatthalter (mit Ausnahme von Preußen und Lippe sowie Schaumburg-Lippe 98) neben Ortszuschlägen und Dienstaufwandsentschädigungen Amtsbezüge erhalten sollten, die in ihrer Höhe dem Amtsgehalt eines Reichsministers entsprach 99. Gemäß dem zu diesem Zeitpunkt geltenden „Reichsministergesetz“ von 1930 lagen demnach alleine die jährlichen Amtsbezüge bei (zu versteuernden) 36 000 RM, monatlich also bei 3000 RM 100. Für das Jahr 1933 waren das enorme Summen, zumal wenn Personen wie Kaufmann sie erhielten, der von 1919 bis 1926 in akuter Geldnot gelebt hatte. Hinzu kamen neben diesen Amtsbezügen noch die erwähnten Ortszuschläge und (steuerfreien) Aufwandsentschädigungen. Als einziger Reichsstatthalter erhielt Kaufmann einen Ortszuschlag. Quellen haben sich dazu nicht erhalten, aber es erscheint am wahrscheinlichsten, dass er seinen Zuschlag wegen der komplizierten politischen und verwaltungstechnischen Struktur Hamburgs erhielt. Die Vermischung von Kommunalund Landesebene im Falle Hamburgs dürfte also den Ausschlag gegeben haben. Die beiden anderen Stadtstaaten Bremen und Lübeck hatten zwar ähnliche Strukturen. Aber selbst beide Städte zusammen besaßen nicht einmal die Hälfte der Einwohneranzahl 98 Für den preußischen Reichsstatthalter wurde eine Besoldungsregelung schon beim Papen’schen Reichskommissar von 1932 nicht für notwendig erachtet. Der Reichsstatthalter von Lippe und Schaumburg-Lippe stand zwei Kleinstaaten vor, deren „Aufwand“ nicht mit Ländern wie Hamburg oder gar Bayern vergleichbar war, weshalb er in der gleichen Verordnung zwar auch Aufwandsentschädigungen zugesprochen erhielt, aber bei den Amtsbezügen nur solche in Höhe eines Staatssekretärs. Vgl. RGBl. 1933/I, S. 330, hier eBd. Erst 1938 wurden mit einer neuen Verordnung auch diese beiden Reichsstatthalter in gleicher Höhe erfasst wie alle anderen im „Altreich“. Vgl. RGBl. 1938/I, S. 707, hier ebd. 99 RGBl. 1933/I, S. 330, hier ebd. 100 RGBl. 1930/I, S. 96–100, hier S. 97.
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Hamburgs 101. Zum Ortszuschlag hinzu traten noch weitere Einzelposten als Dienstaufwandsentschädigungen wie eine Amtswohnung oder auch Reisekosten. Die Mittel stammten aus dem Reichshaushalt und wiesen je nach Amtsinhaber eine gewisse Spannweite auf, deren Größe innerhalb der zuständigen Reichsbehörden mehrfach Diskussionsthema war. Der bayerische Reichsstatthalter erhielt mit Abstand die höchsten Beträge. Neben seine 36 000 RM an jährlichen Amtsbezügen traten noch einmal 36 000 an Aufwandsentschädigungen. Der Reichsstatthalter für Lippe und Schaumburg-Lippe erhielt neben seinen Amtsbezügen „nur“ 4000 RM. Alle anderen Reichsstatthalter bezogen jeweils 12 000 RM 102, sodass Kaufmann alleine für das Reichsstatthalteramt bei monatlich 4000 RM zuzüglich seiner Einkünfte als Reichstagsabgeordneter lag, wobei alles außer seiner steuerfreien Aufwandsentschädigungen der Besteuerung unterlag. Unterlagen zur Besteuerung haben sich allerdings nicht erhalten. Einen Hinweis auf die Nettosumme könnte eine Aufstellung für die Bezüge aller Reichsstatthalter aus dem Jahre 1940 geben, die die Reichskanzlei anfertigen ließ. Hintergrund war, dass die Bezüge der „neuen“ Reichsstatthalter in den Reichsgauen auf österreichischem, tschechischem und polnischem Boden erst sehr spät eine Regelung erfuhren, für die zur Orientierung die Bezüge der Reichsstatthalter im „Altreich“ herangezogen wurden. (Da in den Reichsgauen weniger Verwaltungs- und Kompetenzchaos herrschte, wurde es für angemessen erachtet, dass deren Reichsstatthalter „nur“ 22 000 RM im Jahr an Amtsbezügen erhalten sollten, also so viel wie ein Staatssekretär auf Reichsebene.) Aus dieser Aufstellung jedenfalls gingen sehr individuelle und gebrochene Beträge unterhalb der 36 000 RM-Marke hervor, die auf Nettobeträge schließen lassen könnten. Verkompliziert wird dies dadurch, dass die Summen auf eine geringe Steuerlast hindeuten würden, was trotz Verbeamtung auf Zeit in den hier genannten Einkommenshöhen sehr ungewöhnlich erscheint. Genaueren Aufschluss würden aber wohl erst die individuellen Steuererklärungen der einzelnen Reichsstatthalter bieten können, die aber entweder nicht erhalten oder nicht zugänglich sind. Für Kaufmann jedenfalls findet sich inklusive der steuerfreien Aufwandsentschädigungen der Endbetrag von 34 069,20 RM. Damit lag er etwa im oberen Mittelfeld. Ganz vorne lag der bayerische Reichsstatthalter mit rund 63 000 RM. Etwa 5000 RM vor Kaufmann lagen noch die Reichsstatthalter von Württemberg, Sachsen und Baden. Er selbst lag etwa 2000 RM vor den Reichsstatthaltern von Lippe/Schaumburg-Lippe, Thüringen, Hessen, Mecklenburg, Oldenburg/Bremen und Braunschweig/Anhalt 103. Eine Änderung erfolgte hiernach nicht mehr, sodass anzunehmen ist, dass Kaufmann bis zum Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ die hier dargestellten Summen erhielt. Dies müsste sogar noch den Kapitulationsmonat Mai 1945 betreffen, da zumindest die Zahlungen für 101 Bremen hatte Stand Herbst 1933 rund 366 000, Lübeck rund 136 000 und Hamburg rund 1 200 000 Einwohner. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich. Zweiundfünfzigster Jahrgang 1933, Berlin 1933. Herausgegeben vom Statistischen Reichsamt, S. 5. 102 BA B R 43-II/1310b, Schreiben vom 7. Dezember 1939. 103 Ebd., Schreiben vom 19. Januar 1940.
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die Reichsstatthalter stets einen Monat im Voraus erfolgten. Auch Kaufmanns Rechtsanwälte waren sich mangels eindeutiger Unterlagen nach dem Krieg offenbar unschlüssig darüber, wann er welche Brutto- oder Nettosumme erhielt, und wie diese schwankten. In einem Brief mit anderem Kontext ging einer von ihnen kurz auf die Einkünfte als Reichsstatthalter ein: „Sowohl die ihm als Gauleiter als auch die ihm als Oberbürgermeister zustehenden Einkünfte hat Herr Kaufmann nicht erhoben. […] Nach mir vorliegenden Unterlagen hat Herr Kaufmann ein Bruttogehalt von RM 25.628,40 sowie eine Dienstaufwandsentschädigung von 6 000. –– jährlich erhalten. Ich bin nicht in der Lage zu sagen, ob die Summe seines Bruttogehaltes sich auf das letzte Kalenderjahr vor seiner Amtsenthebung [in Form der Verhaftung] oder auf eins der ihm unmittelbar voraufgegangenen Jahre bezieht. Die sich darauf evtl. ergebenden Differenzen können aber nur geringen Umfangs sein. Der Vollständigkeit halber weise ich noch darauf hin, dass Herr Kaufmann als Reichskommissar für die Seeschiffahrt […] ebenfalls ein Gehalt nicht bezogen hat.“ 104
Für andere Ämter und Funktionen erhielt Kaufmann tatsächlich keine finanziellen Aufwandsentschädigungen 105. Auch durch die Übernahme der Landesregierung in Hamburg 1936, durch Hamburgs Umwandlung in einen Reichsgau 1938, durch seine beiden Reichsverteidigungskommissariate im Krieg und nicht zuletzt durch sein Reichskommissariat für die Seeschifffahrt ergab sich keine Änderung im Einkommen. Von einem „Ehrenamt“ zu sprechen würde aber den umfassenden Verantwortlichkeiten, der Machtfülle und dem Zeitaufwand dieser Funktionen nicht gerecht werden. Dennoch wurde es mit Blick auf das enorme Einkommen vor allem als Reichsstatthalter offenbar nicht für nötig oder angebracht gehalten, weitere Amtsbezüge für die einzelnen Ämter einzuführen 106. Es blieb also bis 1945 bei den genannten Summen. 104 PNKK Ordner Nr. 16, Schreiben vom 18. November 1948. 105 Teile dieser Funktionen, wie die Reichsverteidigungskommissariate und das Reichskommissariat für die Seeschifffahrt, übte er ohne finanzielle Zusatzeinnahmen aus. Zumindest für die Reichsverteidigungskommissariate erhielten die Gauleiter, soweit diese hinsichtlich der zivilen Reichsverteidigung bereits erforscht sind, keine eigenen Aufwandsentschädigungen. Bei den Reichskommissariaten kam es auf den Einzelfall an. Bei seinem Gauleiteramt in Hamburg und in der zweijährigen Zwischenphase der Etablierung des Reichsgaues, in der er auch formal Bürgermeister war, verzichtete er auf eigene Aufwandsentschädigungen oder Gehälter. Dies ist keine bloße Schutzbehauptung nach dem Krieg gewesen, sondern wird durch die einfache Nichtexistenz solcher Unterlagen gestützt, die sich für gewöhnlich parallel erhalten. Einnahmen als Gauleiter etwa konnten nicht einfach verschleiert werden. Selbst wenn das gesamte Gauarchiv vernichtet worden wäre, hätte immer noch der Reichsschatzmeister der Partei in München Aufstellungen beherbergt. Und selbst wenn dessen Akten ebenfalls vernichtet worden wären, hätten die Finanzbehörden, die 1945 Kaufmanns Vermögen sperren mussten, sie durch Kontenaufstellungen gefunden. Einnahmen als Gauleiter von Hamburg fanden sich aber nirgends. 106 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen in den Unterkapiteln 4.3. und 4.4.
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Es kann demnach sehr einfach errechnet werden, was Kaufmann bis zum Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ an Einnahmen erzielte. Zum Zeitpunkt der „Machtergreifung“ besaß er „lediglich“ durch sein Reichstagsmandat Einnahmen. Diese lagen mit 600 RM schon relativ hoch. Mit der Ernennung zum Reichsstatthalter kamen die oben dargestellten Einnahmen hinzu. Eine Verrechnung beider Einkommensquellen erfolgte (im Gegensatz zu den meisten Nationalsozialisten) nicht. Damit lagen Kaufmanns Einkünfte bei monatlich 4600 RM, von denen mindestens 1000 RM als Dienstaufwandsentschädigung steuerfrei waren.
4.2. Leiter der Landesregierung, der Staats- und der Gemeindeverwaltung (1936–1945) 4.2.1. Hamburgs politisches System in der Weimarer Republik und dem „Dritten Reich“ „Der hamburgische Staat ist eine Republik und bildet unter dem Namen ‚Freie und Hansestadt Hamburg‘ ein Land des Deutschen Reiches.“ 107
Das „Spezielle“, „Besondere“ oder auch „Ungewöhnliche“ an Hamburg und seinem politischen System war bis ins „Dritte Reich“ hinein seine Verfasstheit als unabhängiger, später dann selbstständiger und autonomer, sowie territorial vergleichsweise kleiner Stadtstaat. Dementsprechend bildeten sich im Laufe der Zeit diverse Entwicklungen im hamburgischen Staatswesen heraus, die im Vergleich mit den wesentlich bekannteren Institutionen des Reiches oder etwa Preußens mehrere Eigenarten aufweisen. Um Kaufmanns weiteres Wirken in Hamburg ab 1936 richtig einordnen zu können, muss deshalb auch auf diese Eigenarten eingegangen werden, zumal sich (wie immer) nur im Vergleich mit dem Alten etwas Neues erkennen lässt. Zwar war die hamburgische Republik bis zur „Revolution von 1918/1919“ keine vollständig ausgereifte Demokratie, konnte dies aber noch eher für sich beanspruchen, als etwa die Reichsebene 108. Trotz aller demokratischen und liberalen Ansätze der staatlichen Verfasstheit Hamburgs gelangte wie in allen Teilstaaten des Reiches die Demokratie aber erst durch die Folgen der Revolution zur Durchsetzung 109. Nach dem Umsturz
107 HmbVerf 1921, S. 1. 108 Zu den einzelnen Demokratiedefiziten, darunter beispielsweise einem äußerst exklusiven Wahlrecht, vgl. Kleßmann, Eckart: Geschichte der Stadt Hamburg, 7. Aufl., Hamburg 1994, S. 470f. 109 Zum Beginn und der schnellen Ausbreitung der Umstürze im gesamten Reich, in deren Kontext die Entwicklungen in Hamburg eine wichtige Rolle übernahmen vgl. Ullrich, Volker: Die Revolution von 1918/ 19, 2. Aufl., München 2018, S. 28–36.
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der Verhältnisse in Hamburg folgte am 16. März 1919 die Wahl einer verfassungsgebenden Bürgerschaft. Die daraufhin ausgearbeitete hamburgische Verfassung wurde am 7. Januar 1921 verkündet, und trat zwei Tage später, am 9. Januar in Kraft. Die neue Verfassung hatte einen grundlegenden, vollumfänglich demokratischen Charakter 110. Wie zu sehen sein wird, fußten die konkreten Ausformungen der hamburgischen Institutionen nach 1933 auch auf solchen individuellen Ausprägungen des politischen Systems Hamburgs. Die Konstruktion des politischen Systems der Verfassung von 1921 entsprach grundsätzlich der in Demokratien üblichen Gewaltenteilung (beziehungsweise ihrem Pendant der Gewaltenverschränkung). Die Bürgerschaft bildete die Legislative 111. Dieses Parlament wurde alle drei Jahre neu gewählt 112. Wahlberechtigt waren dabei alle in Hamburg wohnhaften Reichsangehörigen, die mindestens zwanzig Jahre alt und nicht unmündig oder inhaftiert waren 113. Der Senat bildete die Exekutive 114. Diese Landesregierung wurde von der Bürgerschaft gewählt 115, wobei ihr Oberhaupt und dessen Stellvertreter, die als „Erster“ und „Zweiter Bürgermeister“ bezeichnet wurden, von den gewählten Senatsmitgliedern für ein Jahr gewählt wurden 116. Der unabhängigen Judikative kam innerhalb der Gewaltenteilung der neuen Verfassung vor allem hinsichtlich der Einrichtung eines mit jeder neugewählten Bürgerschaft personell neu eingerichteten Staatsgerichtshofes eine besondere Bedeutung zu. Dieser war vor allem für Konflikte zwischen Parlament und Regierung zuständig 117. Eine weitere Besonderheit der hamburgischen Verfassung bestand in ihren Regelungen zur kommunalen Struktur. Da Hamburg ein autonomes Land des Reiches war, dessen politischer, sozialer, ökonomischer und nicht zuletzt geografischer „Kern“ die Stadt Hamburg darstellte, kam den Gemeindeverhältnissen eine andere Bedeutung zu, als in großen Flächenstaaten. Die Verfassung bestimmte hierbei einerseits, dass die „Stadt Hamburg […] eine besondere Gemeinde [sei]. Senat und Bürgerschaft sind die Organe zur Leitung ihrer Gemeindeangelegenheiten, soweit nicht das Gesetz etwas anderes bestimmt.“ 118
Die Landesregierung und das Landesparlament waren also zugleich die kommunalen Spitzenorgane der Stadt Hamburg. Diese Einheit von Landes- und Kommunalorganen,
110 Zur juristischen Perspektive in Hinblick auf die Verfassung vgl. Huber, Ernst Rudolf: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 6. Die Weimarer Reichsverfassung, Stuttgart/[West-]Berlin/Köln/Mainz 1981, S. 839–842. 111 Vgl. HmbVerf 1921, S. 1. 112 Vgl. ebd., S. 6. 113 Vgl. ebd., S. 1. 114 Vgl. ebd., 10f. 115 Vgl. ebd., S. 10. 116 Vgl. ebd. 117 Vgl. ebd., S. 11. 118 Ebd., S. 17.
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die nur für die Stadt Hamburg innerhalb des Staats Hamburg galt, bildete 1936 den Dreh- und Angelpunkt für die Umstrukturierungen der staatlichen Kompetenzen unter Kaufmann. Bis dahin galt für alle Kommunen außerhalb der Stadt Hamburg innerhalb des Staats Hamburg folgendes: „Den übrigen zum hamburgischen Staatsgebiete gehörenden Städten sowie den Landgemeinden steht in ihren Angelegenheiten das Recht der Selbstverwaltung zu. Die Aufsicht des Staates beschränkt sich auf die Gesetzmäßigkeit und Lauterkeit der Verwaltung und auf die Grundlagen der Finanzgebahrung. Die sich hieraus für die Verfassungen der Städte und Landgemeinden ergebenden Grundsätze werden durch das Gesetz aufgestellt. Zur Bildung einer neuen Gemeinde ist ein Gesetz erforderlich.“ 119
Auf diese außerhalb des hamburgischen Stadtgebietes liegenden Kommunen hatten die Landesregierung und das Landesparlament also „nur“ über die Landesgesetzgebung direkte Einwirkungsmöglichkeiten. Exekutiv standen sie „lediglich“ der Stadt und dem Gesamtland vor. Die Grundzüge des politischen Systems in Hamburg blieben bis zur „Machtergreifung“ unangetastet. Danach konnte Kaufmann als Gauleiter und Reichsstatthalter bis 1936 ungehemmt in alle Angelegenheiten einwirken. Ohne Kaufmanns „Griff“ nach der eigenen Einsetzung als Landesregierungschef vorzugreifen, sei hier nachfolgend „nur“ die institutionelle Umformung des politischen Systems, die damit einherging, erläutert. Wie ausgeführt, standen die Reichsstatthalter als Beauftragte der Reichsregierung faktisch über den jeweiligen Landesregierungen. Ihre Eingriffsrechte reichten von der Einsetzung eines ihnen genehmen Ministerpräsidenten bis hin zur selbstständigen Verkündung von Landesgesetzen. Sie konnten die jeweilige Landesregierung das Land und seine Verwaltung führen lassen, sie konnten sie dabei aber auch nach Belieben ersetzen oder einfach umgehen. Dennoch wollte Kaufmann in Hamburg aus unterschiedlichsten Gründen auch selbst die Landesregierung übernehmen und fortan führen. Dieses Ansinnen gelang ihm auch. 1936 wurde er in sein Amt eingeführt. In der Amtsführung wollte er sich jedoch nicht
119 Ebd.
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nur auf die bis dahin bereits umfassenden Kompetenzen der Landesregierung beschränken. Nicht nur aus diesem Grunde 120 trat 1937 das „Gesetz über Groß-Hamburg und andere Gebietsbereinigungen“ in Kraft 121. Das Gesetz und seine Durchführungsverordnungen hatten enorme Auswirkungen auf Hamburg, zuerst auf dessen territorial-geografische Gestalt, die lokalen und regionalen Wirtschaftsabläufe und später dann auf dessen innere institutionelle Beschaffenheit. Krogmann hat in seinen „Erinnerungen“ anschaulich seinem Ärger als Bürgermeister und zuvor als Geschäftsmann kundgetan, den er durch die Zersplitterung des hamburgischen Territoriums ständig zu fühlen bekam: „Die letzten Möglichkeiten, den Hamburger Hafen zu erweitern oder den technischen Notwendigkeiten eines modernen Hafens anzupassen, waren erschöpft. Jede kleinste Ecke des Stromspaltungsgebietes innerhalb der Hamburger Grenzen war bereits ausgenutzt, und die Verhandlungen über den Köhlbrand-Vertrag [zwischen Hamburg und Preußen über die Nutzung gemeinsamer Wasserwege] hatten bereits gezeigt, wie sehr Preußen darauf bedacht war, diese Notlage Hamburgs auszunutzen. Für jeden Quadratmeter, den Hamburg für den Ausbau seiner Waltershofer Hafenbecken von Preußen erbat, mußte wertvollstes Hamburger Gebiet an
120 Erste Planungen zu einem entsprechenden Gesetz, das die territorialen Probleme, welche im Zuge der Industrialisierung in der Stadt Hamburg, dem Staat Hamburg und dessen direktem Umland entstanden waren, gehen bis ins Kaiserreich zurück. In der Weimarer Republik wurden umfassendere Maßnahmen hierzu angestoßen, beispielsweise Gespräche mit Preußen über Gebietsabtretungen zugunsten von Hamburg. Auch konkrete Abkommen und Verträge wurden ab 1933 geschlossen, darunter etwa die Ansiedlung von Hamburgern auf preußischem Territorium, die aber finanz- und sozialpolitisch Hamburg zugerechnet wurden. Insofern waren die Vorbereitungen zu diesem Gesetz nicht ausschließlich auf nationalsozialistische Politik durch Kaufmann zurückzuführen. Dennoch kamen ihm die Planungen zeitlich sehr gelegen, da absehbar war, dass „sein“ Hamburg von den administrativen Änderungen zwangsläufig profitieren würde. Kaufmann nutzte die Chance voll aus. Zur wechselvollen Vorgeschichte des Gesetzes, dessen territoriale Bestimmungen nach 1945 beibehalten wurden, vgl. Martens, Holger: Hamburgs Weg zur Metropole. Von der Groß-Hamburg-Frage zum Bezirksverwaltungsgesetz, Hamburg 2004, S. 11–88. Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass Kaufmann nicht einfach einen fertigen Plan „aus einer Schublade gezogen“ hat, und schließlich der glückliche Nutznießer einer jahrzehntelangen Diskussion gewesen sei. Vielmehr liefen die konkreten Vorarbeiten, an denen Kaufmann maßgeblich mitbeteiligt war, schon seit Anfang 1935. Vgl. hierzu detailliert Kausche, Dietrich: Die Entstehung der Einheitsgemeinde Hamburg, in: ZHG, 138/1979, S. 73– 82, hier S. 77–81. Das teilweise Zurückgreifen auf Pläne von vor 1933 war nicht nur im Falle Hamburgs anzutreffen. Vor allem in der relativ dynamischen Phase des „Dritten Reiches“ von 1933 bis 1935 wurden etliche Ansätze aus der Vergangenheit hervorgeholt, wenngleich nur die wenigsten davon schließlich umgesetzt wurden. Vgl. hierzu auch Ruck: Zentralismus, S. 109– 111. Zu den allgemeinen Problemen, die aus der staatsrechtlichen Konstruktion des Reiches rührten, und sich vor allem im jeweiligen territorialen Status der Länder manifestierten, vgl. grundlegend Biewer, Ludwig: Reichsreformbestrebungen in der Weimarer Republik. Fragen zur Funktionalreform und zur Neugliederung im Südwesten des Reiches, Frankfurt am Main/Bern 1980, S. 27–39. 121 RGBl. 1937/I, S. 91–94.
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anderer Stelle geopfert werden. Die […] Versuche, ein Groß-Hamburg zu schaffen, [waren alle] an dem Widerstand der preußischen Behörden gescheitert und die einmalige Gelegenheit während der Revolution 1918/1919, vollendete Tatsachen zu schaffen, von den damaligen Machthabern leider versäumt worden“. 122
Territorial sah die seit Jahrzehnten angestrebte Gebietsbereinigung und damit Vereinfachung der örtlichen Verwaltung 1937 folgendermaßen aus:
122 Krogmann: Hakenkreuz, S. 222f. Umso glücklicher war Krogmann, als das Problem endlich gelöst wurde. Er sagte rückblickend zur Groß-Hamburg-Frage gar, „[z]u ihrer Lösung entscheidend beigetragen zu haben, hat mir die größte Befriedigung meines Lebens gegeben.“ Ebd., S. 222. Zur Frage, ob Groß-Hamburg tatsächlich „nur“ aus ökonomischen Erwägungen in Betracht gezogen wurde, oder ob dort auch politische und eigenstaatliche Motive eine Rolle spielten, vgl. Johe, Werner: Territorialer Expansionsdrang oder wirtschaftliche Notwendigkeit? Die Groß-Hamburg-Frage, in: Hohlbein, Hartmut (Hrsg.): Vom Vier-Städte-Gebiet zur Einheitsgemeinde. Altona, Harburg-Wilhelmsburg, Wandsbek gehen in Groß-Hamburg auf, Hamburg 1988, S. 9–40.
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Abb. 7: Die territoriale Umgestaltung zu Groß-Hamburg 123. Hamburg trat einige seiner Exklaven an Preußen ab. Von Preußen erhielt Hamburg diverse Gebiete, die das bisherige Kernland Hamburgs mit den verbliebenen Exklaven verband. Verwaltungstechnisch machten damit beide Seiten ein „gutes Geschäft“. Für Hamburg als flächenmäßig kleiner Stadtstaat war dieses Geschäft aber noch viel besser, als für den großen Flächenstaat Preußen, da das Land Hamburg nunmehr bis auf eine Exklave über ein geschlossenes Territorium verfügte. Konkret in Zahlen ausgedrückt bedeutete dies alles für das Land Hamburg einen Gebietsgewinn von rund 41 500 Hektar auf rund 74 700 Hektar und eine Bevölkerungszunahme von rund 1,2 auf rund 1,7 Millionen, wobei mehr ländlich als städtisch geprägtes Gebiet dem Stadtstaat zugeführt 123 Aus Hamburgs Verwaltung und Wirtschaft. Monatsschrift des Statistischen Landesamtes, Bd. 14, Hamburg 1937. Herausgegeben vom Hamburgischen Statistischen Landesamt, Anlage S. 6f.
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wurde 124. In einer zeitgenössischen Publikation wurden diese grundlegenden Veränderungen des territorialen „Gesichts“ Hamburgs folgendermaßen geschildert: „Mit freudiger Tatkraft war die Bewegung, waren alle Schaffenden Hamburgs an die Arbeit gegangen. Aber allen Bemühungen mußte so lange der endgültige Erfolg versagt bleiben, als die Kernfrage nicht gelöst war. Wohl war Hamburg die zweitgrößte Stadt des Reiches, wohl war es Deutschlands größter Hafen, aber es fehlte ihm seit langem an Raum, um dem Hafen die nötige Ausweitung, den werktätigen Bewohnern gesunde Wohnstätten und den sich ansiedelnden Industrieunternehmungen Arbeitsplätze zu bieten. Ringsum schnürten die Grenzen der preußischen Provinzen Schleswig-Holstein und Hannover das Hamburger Staatsgebiet ein und schnitten aus dem sich bildenden Wirtschaftskörper […] Sondergebiete heraus. […] Das Groß-Hamburg-Problem hat damit eine Lösung gefunden, so großzügig und einschneidend, wie sie niemals erträumt worden war. […] Nicht hat das ‚alte‘ Hamburg drei große Städte und viele Gemeinden verschlungen, sondern aus vier Städten ist eine lebenskräftige Stadt geworden, die den Namen 'Hansestadt Hamburg' führen wird.“ 125
Und tatsächlich war
„[m]it einem Schlage […] der gordische Knoten des hoheitlichen, verwaltungsmäßigen, verkehrspolitischen, städtebaulichen und wirtschaftlichen Durcheinanders zerschlagen. Der jahrhundertealte Streit um die politische und wirtschaftliche Vormachtstellung im Stromspaltungsgebiet der Unterelbe hatte endlich sein Ende gefunden.“ 126
Auch wenn die reinen Zahlen und die Kartenansicht des neuen Hamburg beeindrucken mögen, lag der für Kaufmann wesentlichere Aspekt des auch „Groß-Hamburg-Gesetz“ genannten Gesetzes vor allem in der damit revidierten institutionellen Verfasstheit des Landes. Denn nach einer zwölfmonatigen Übergangsphase nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zum 1. April 1937 trat die bereits im „Groß-Hamburg-Gesetz“ angekündigte Neuregelung von Verfassung und Verwaltung des Landes Hamburg zum 1. April 1938 in Kraft. Mit dem „Gesetz über die Verfassung und Verwaltung der Hansestadt Hamburg“ 127 wurde das ohnehin bereits komplizierte System zwischen Land/Staat, Stadt, Landkommunen und Reichsunmittelbarkeit durch das Amt des Reichsstatthalters noch-
124 Ebd., Anlage S. 4. 125 Lahaine, Ludwig/Schmidt, Rud.: Hamburg. Das deutsche Tor zur Welt. 1000 Jahre hamburgische Geschichte, 2. Aufl., Hamburg 1940, S. 209–211. 126 Schwalbe: Gau Hamburg – Deutschlands Tor zur Welt, in: Das Buch der deutschen Gaue. Fünf Jahre nationalsozialistische Aufbauleistung, Bayreuth 1938, S. 18–25 [o. H.], hier S. 19. 127 RGBl. 1937/I, S. 1327–1329.
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mals grundlegend verändert. Sämtliche Änderungen liefen schlussendlich auf eine Stärkung Kaufmanns hinaus. Die wesentlichen und wichtigsten Neuregelungen waren folgende. Erstens wurde die Trennung zwischen der Stadt Hamburg und den Landkommunen des Staates Hamburg beendet und eine Einheitsgemeinde geschaffen. Damit war der direkte Zugriff der Landesregierung beziehungsweise des Reichsstatthalters über die Stadt Hamburg hinaus gesichert, ohne den verwaltungs- und zeitintensiven „Umweg“ über die selbstständigen Landkommunen nehmen zu müssen 128. Zweitens wurde die Verwaltung der Einheitsgemeinde zwecks Aufgabenteilung in die Staatsverwaltung und die Gemeindeverwaltung untergliedert 129. Drittens wurde nunmehr offiziell an die „Spitze der Hansestadt Hamburg […] der Reichsstatthalter [gestellt].“ 130 Für das Land Hamburg bedeutete dies eine neue Stufe in der „Gleichschaltung“. Viertens wurde die Wahrnehmung der Staatsverwaltung der Reichsebene übertragen, welche sie durch den Reichsstatthalter führen sollte. Dem Reichsstatthalter wurde dabei ein Vertreter beigegeben, der die Bezeichnung „Präsident“ tragen sollte 131. Bis dahin war diese Bezeichnung die des Oberhaupts des Senats, also der Landesregierung. Fünftens entfiel die Landesgesetzgebung ersatzlos. Recht sollte fortan durch Verordnungen des Reichsstatthalters gesetzt werden 132. Sechstens sollte die Gemeindeverwaltung vom Reichsstatthalter geführt werden. Auch hier wurde ihm ein Vertreter beigegeben. Zu diesem wurde der bisherige Erste Beigeordnete „befördert“, der noch dazu künftig die Bezeichnung „Bürgermeister“ tragen sollte 133. Diese stand bis dahin nur dem Präsidenten des Senats zu. Siebtens wurde auch die „Deutsche Gemeindeordnung“ (DGO) erst 1938 mit diesem Gesetz in Hamburg eingeführt, wobei sie in den meisten Ländern des Reiches bereits seit 1935 galt (in Hamburg war 1933 ersatzhalber ein verwaltungstechnisches Äquivalent in Form einer Verwaltungsreform durchgeführt worden) 134. Von alledem blieben zudem 128 Ebd., S. 1327. 129 Ebd. 130 Ebd. 131 Ebd., S. 1328. 132 Ebd. 133 Ebd. 134 EBd. Zur Verkündung der „Deutschen Gemeindeordnung“ vgl. RGBl. 1935/I, S. 49–64. Die „Deutsche Gemeindeordnung“ war im Wesentlichen durch folgende Punkte gekennzeichnet: Einerseits wurden die Kommunalparlamente als solche abgeschafft und durch machtlose Gremien ersetzt, deren Einflussverlust noch weitgehender war, als der des Reichstags auf Reichsebene. Der Leiter der Kommune konnte sich fortan auf das „Führerprinzip“ berufen. Andererseits wurden diese nicht mehr gewählt, sondern von über ihnen stehenden Instanzen herab ernannt. Da diese nun vor Ort keine demokratischen Formen mehr pflegten, wandelten sich die Kommunen zu Einheiten der reinen Maßnahmen- und Verwaltungspraxis. Vgl. hierzu eingehender Stolleis, Michael: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3. Staats- und Verwaltungswissenschaft in Republik und Diktatur. 1914–1945, München 1999, S. 351–354.
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die früheren Befugnisse des Reichsstatthalters unberührt 135, sodass dieser seine Eingriffsrechte auch weiterhin ohne den ihm über die Landesinstitutionen möglichen Wege verwirklichen konnte. Insgesamt wurde mit dem Gesetz der bis dahin herrschende Status mit teils selbstständigen Kommunen, einer diktatorischen Landesregierung und einem über allem stehenden Reichsstatthalter, der sich mit und nach der „Machtergreifung“ und der „Gleichschaltung“ entwickelt hatte, aufgehoben zugunsten einer „Verschmelzung“ 136 aller bisher in Hamburg tätigen Institutionen des politischen Systems. Der Reichsstatthalter war seitdem nicht mehr eine über den Landesinstitutionen „schwebende“ Einrichtung, sondern war selbst integrativer Teil der Landesinstitutionen geworden. Zugleich blieb er eine Reichsinstitution. Wie bereits zu Kaufmanns Reichsstatthalterschaft ausgeführt, waren die Reichsstatthalter aber sehr eigenmächtig in ihrem Handeln. Um den Reichsinnenminister und seine Vorstellungen für die Länder kümmerten sie sich nicht. Die neue Regelung in Hamburg von 1937/1938 bildete dennoch einen neuen Höhepunkt in den „Gleichschaltungen“ der Länder, die bis auf wenige Ausnahmen fast alle nach 1935 „steckengeblieben“ oder „festgefahren“ waren (die Angliederungen im Krieg bilden hierbei eine Sonderrolle). Die Hintergründe hierfür sind nicht zuletzt darin zu sehen, dass 135 RGBl. 1937/I, S. 1328. 136 Es kann bei einer solch umfassenden und grundlegenden „Verschmelzung“ durchaus die Frage aufgeworfen werden, ob mit dem Reichsgau Hamburg nicht auch eine neue Form der „Staatlichkeit“ gefunden wurde. Zumeist wurde also solche Frage im Hinblick auf die Reichsgaue in Österreich oder allgemein den „Doppelstaat“ des „Dritten Reiches“ gestellt. Dass in gewissen Bereichen durchaus etwas völlig „Neues“ entstand, steht außer Frage. Vgl. hierzu näher Süß: Gesellschaft, S. 193–195. Dass zumindest in einigen, begrenzten Bereichen auch eine umfunktionierte oder weiterentwickelte „Staatlichkeit“ eingeführt wurde (vor allem auf österreichischem und polnischem Boden sowie in den angrenzenden von Gauleitern verwalteten, aber vom Reich nicht offiziell annektierten Gebieten auf französischem, luxemburgischem jugoslawischem sowie italiennischem Boden) ist ebenfalls deutlich. Vgl. hierzu Hachtmann, Rüdiger: „Neue Staatlichkeit“ – Überlegungen zu einer systematischen Theorie des NS-Herrschaftssystems und ihrer Anwendung auf die mittlere Ebene der Gaue, in: John, Jürgen/Möller, Horst/Schaarschmidt, Thomas (Hrsg.): Die NS-Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen „Führerstaat“, München 2007, S. 56–79. Dass „Staat“ in keiner Wissenschaftsdisziplin eine einheitliche „Rundum“-Definition erlangen konnte, macht die Angelegenheit noch schwieriger. Vgl. zu den Problemen einer einheitlichen Definition Benz, Arthur: Der moderne Staat. Grundlagen der politologischen Analyse, 2. Aufl., München 2008, S. 54–96. Auf diese Frage nach der Konstitutionsform im Hinblick auf den Reichsgau Hamburg wird aber ohnehin noch mehrfach zurückzukommen sein. Hier soll jedoch bereits erwähnt werden, dass Hamburg trotz formaler „Gleichschaltung“ „von oben“ durch den Reichsstatthalter seine Landesinstitutionen behielt und mit der Partei vor allem durch Personalunionen und gegenseitige Aufgabenverlagerung zugunsten beider Seiten ein neuartiges Mischwesen darstellte, dass durch die Eigenständigkeit des Gaues innerhalb der Gesamtpartei und des Landes innerhalb des Gesamtreiches sowie des Reichsstatthalters innerhalb der Reichsinstitutionen ein eigenes Gebilde wurde, das in dieser Form grundsätzlich die Anforderungen eines Staats gemäß der meisten Definitionen erfüllte.
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Hitler weitergehende Bemühungen der Reichsebene nur verwässert oder gar nicht zuließ, um die Kompetenz- und damit Machtstreitigkeiten nicht einseitig zugunsten der Reichsebene und damit den Reichsministern zu entscheiden 137. Auch hier zeigte sich wieder Hitlers austarierende Machtpolitik: Den mittleren Instanzen konnte Hitler schon aus machtpolitischen Erwägungen heraus nicht zu viel Macht nehmen, den oberen nicht zu viel zugestehen. Die Veränderung von Landesgrenzen innerhalb des „Altreichs“ war etwas äußerst seltenes. Hamburg war hierbei der bedeutendste Fall. Zugleich wird an Hamburg deutlich, was mit einer (neuen) Reichsreform, die immer wieder „für nach dem Krieg“ angekündigt wurde, gemeint gewesen war. Das Stichwort lautet hierbei „Reichsgau“. Diese Reichsgaue waren eine besondere Art von Verwaltungskörperschaft, die sich fundamental von den regulären Parteigauen unterschieden. Statt eines üblichen Gaues als (zumindest theoretisch) reine Parteigliederung, besaßen die Reichsgaue zugleich Partei- als auch Staatshoheit. Die „Gleichschaltung“ und „Verschmelzung“ von Partei und Staat waren hierbei beinahe vollständig umgesetzt. Im „Altreich“ existierten kaum Reichsgaue, da hierfür zu vielen Instanzen und Gruppen nicht nur die Kompetenzen, sondern gar die Existenzberechtigung entzogen worden wäre. Angesichts der schwierigen Überlagerung von Gauen und Ländern waren diese nach der „Machtergreifung“ zumeist nicht mit identischem Personal bestückt. Bei einer „Reichsgau-Lösung“ wäre also eine beträchtliche Anzahl von Gefolgsleuten plötzlich ohne Amt und Kompetenz gewesen. Anders sah die Entwicklung in den nach 1935 erlangten Gebieten aus. Ganz besonders Österreich wurde hierbei ein Experimentierfeld, dessen Ergebnisse schließlich „Schule machen“ sollten 138. Im „Altreich“ wurde dieses Konzept zuvor jedoch lediglich im Saarland (und dort auch nur teilweise) und in Hamburg verwirklicht 139. In beiden Fällen gab es diverse Gründe, die üblichen Bedenken gegen eine frühere (Teil-)Reichsreform zu überwinden. Hamburg wurde zeitgenössisch in den Rechtsquellen zwar nicht explizit als Reichsgau bezeichnet. Faktisch entsprach die institutionelle Übereinstimmung und „Verschmelzung“ der Kompetenzen in einer Personalunion von Gauleiter, Reichsstatthalter und Ministerpräsident jedoch grundsätzlich der Ausformung der Reichsgaue. Dessen waren sich auch bereits die zeitgenössischen Verwaltungsexperten im Klaren, etwa wenn Ham-
137 Vgl. hierzu auch Broszat: Staat, S. 160f. 138 Zur Einrichtung der Reichsgaue als wahrscheinliche künftige Gestalt der Reichsreform vgl. Hüttenberger: Wandel, S. 142–147. 139 Dieser Aspekt kann kaum genug hervorgehoben werden. Die Reichsreform war überall „steckengeblieben“ oder „abgestoppt“ worden, lediglich im Saarland und Hamburg wurde sie faktisch durchgeführt. Die Erfahrungen aus dem Saarland und vor allem aus Hamburg konnten (teilweise unter direkter Anleitung des saarpfälzischen Gauleiters) schließlich in den nach 1938 eroberten Territorien effizient genutzt werden. Vgl. zur damit einzigartigen Rolle von Saarland und Hamburg, und ihrer Bedeutung für die neuen Gebiete nach 1938 Ruck: Zentralismus, S. 116f.
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burg als der eigentlich erste, aber 1938 als solcher noch „unbenannte Reichsgau“ bezeichnet wurde 140. In der Übergangsphase zwischen April 1937 und April 1938 führte ein Jurist diese einzigartige Ausgestaltung Hamburgs im Vergleich zu anderen Gebietskörperschaften folgendermaßen aus: „Unbeschadet der Tatsache, daß das Reichsstatthaltergesetz – mit Ausnahme seines § 6 […] – weiterhin auf den Reichsstatthalter in Hamburg Anwendung findet, zeigt das HVVG [als Hamburgs neue Verfassung] die Fortentwickliung einer Reichsstatthalterschaft, deren beispielhafte Bedeutung zwar keinesfalls überschätzt, deren Wirksamkeit gleichwohl aber auch nicht verkannt werden soll. Sie liegt nicht in der Führung der Gemeindeverwaltung durch den Reichsstatthalter, die aus Hamburgs Sonderstellung sich ergibt und Parallelen im Neuaufbau nicht zu finden braucht. Sie besteht ebensowenig daraus, daß der derzeitige Reichsstatthalter als Gauleiter auch Beauftragter der NSDAP [für die Kommunalpolitik im Stadtstaat] im Sinne der DGO ist. Sie liegt vielmehr in der Tatsache, daß der Reichsstatthalter Führer der gesamten, aus der Landesverwaltung herrührenden Verwaltung ist und nach der Entscheidung des Gesetzgebers auch Führer von bisherigen Sonderverwaltungen [seines Amtsbezirks] werden kann. Hier erfährt die Reichsstatthalterschaft zur Zeit in Hamburg die vierte Stufe ihrer Entwicklung: Aus dem politischen Kommissar des 2. Gleichschaltungsgesetzes zum Träger einer Gleichschaltungsaufgabe gegenüber der gesamten öffentlichen Verwaltung des Amtsbezirks; vom ihm bei Anwendung des § 4 RsthG zum beauftragten Führer der Landesregierung (und damit auch der Landesverwaltung) und nunmehr der Ausblick auf die Führung auch der Sonderverwaltung innerhalb des Amtsbezirks – eine Entfaltung zur Reichsmittelinstanz […]. Ohne damit die künftige Stellung der Reichsstatthalterschaft bestimmen zu können, zeigt der Vergleich der verschiedenen Reichsstatthaltertypen, daß der Reichsstatthalter in Hamburg potentiell die erkennbaren Ziele des Neuaufbaus des Reichs, insbesondere das der Wiederherstellung der […] Reichsmittelinstanz, am weitesten verwirklicht“ 141.
Wie gezeigt, war diese Charakterisierung durchaus zutreffend. Dieser Umstand darf keinesfalls unterschätzt werden. Gauleiter und Reichsstatthalter waren zwar immer mit einer gewissen Autonomie gegenüber der Reichsebene versehen, aber in keinem einzigen Fall liefen so viele regionale Zuständigkeiten in einer einzigen Person zusammen wie es in Hamburg geschah. Hiermit konnte der Amtsinhaber, hier also Kaufmann, durchaus im regionalen Eigeninteresse handeln, was faktisch auf eine neue und verglichen mit der
140 Vgl. Pfeifer, Helfried: Rechts-Vereinheitlichung und Verwaltungs-Vereinfachung im Großdeutschen Reich, Hamburg 1942, S. 41. 141 Ipsen, Hans Peter: Neuaufbau des Reichs in Hamburg, in: AkZ, 5/1938, S. 82–90, hier S. 89f. Hans Peter Ipsen war bei der Planung und Umsetzung der Reform an entscheidender Stelle für die juristische Ausgestaltung eingesetzt. Über die staatsrechtliche Perspektive publizierte er dabei auch diverse Werke, unter denen die einzige Monografie besonders heraussticht: Ipsen, Hans Peter: Von Groß-Hamburg zur Hansestadt Hamburg, Berlin 1938. Zur Rolle Ipsens in Hamburg bei der staatsrechtlichen Ausgestaltung vgl. Quaritsch, Helmut: Hans Peter Ipsen zum Gedenken, in: AÖR, 123/1998, S. 1–20, hier S. 5f.
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Zeit bis 1933 sogar erweiterte Reichsmittelinstanz hinauslief (wenngleich es wenige Teilbereiche gab, auf die auch Kaufmann nur eingeschränkten Zugriff erhielt 142). Die Voraussetzungen hierfür fanden sich freilich auch nur in Hamburg. Andere Millionenstädte wie Berlin oder München beispielsweise gehörten als Städte und eigenständige Gaue zu den Ländern Preußen und Bayern, die eigenständige Gebietskörperschaft Danzig wurde mit Westpreußen zu einem Reichsgau zusammengelegt, und Lübeck wie Bremen waren zwar eigenständige Gebietskörperschaften, aber keine eigenen Gaue. Am ehesten ist mit Hamburgs Situation noch Wien vergleichbar, wobei Wien als Gebietskörperschaft, Gau und ab 1938 als Reichsgau nur wenig Zeit verblieb, um institutionell sein System auszubauen und zu konsolidieren, zumal dessen Bürgermeister, Gauleiter und Reichsstatthalter rasch wechselten 143. Der Reichsgau Wien „lernte“ hierbei deutlich von den Hamburgern, die gar eigene Verwaltungskräfte zur Hilfe nach Wien schickten, wobei Wiens Umformung bis 1945 immer noch nicht beendet war 144. Kaufmann waren in Hamburg also gänzlich einzigartige Voraussetzungen an die Hand gegeben, um eine ganz persönliche Prägung in Hamburg zu hinterlassen. Die Etablierung des Reichsgaues war hierbei eine wichtige Etappe, die es zwischen 1936 und 1938 zuerst umzusetzen galt. Entscheidender Anstoß und Antrieb zur letztendlichen Umsetzung fielen offenbar in den Sommer und Herbst 1936. Wie erwähnt hatte es zwar etliche Pläne und in den Jahren 1933 bis 1935 auch einige kleinere Etappen auf dem Weg nach Groß-Hamburg gegeben, aber eine gänzliche, allumfassende Lösung der komplizierten Verhältnisse und die Schaffung von Groß-Hamburg selbst wurde erst 1936 möglich. Während für Göring als Beauftragten des Vierjahresplans der ökonomische Aspekt für das Reich und als preußischen Ministerpräsidenten die Verwaltungsproblematik im preußisch-hamburgischen Grenzgebiet sehr wichtig war, sahen Kaufmann und Krogmann die Möglichkeit der Verwirklichung eines langen hamburgischen Traums. Bei einer eher zufälligen Begegnung nutzten die Hamburger die Gelegenheit, das Thema bei Göring voranzutreiben. Dieser war nicht nur aus den erwähnten Gründen, sondern letztlich (wie auch Frick als Reichsinnenminister, der daran mitwirken musste) Feuer und Flamme, da sich so die
142 Als verwaltungstechnisch besonders problematisch erwiesen sich hierbei die diversen Reichsbehörden im Gebiet Hamburgs. Diese wurden in den meisten Fällen nicht automatisch mit dem reichsunmittelbaren Hamburg gleichgeschaltet, sondern waren weiterhin der Reichsregierung unterstellt. Sie bildeten noch bis tief in die Nachkriegszeit hinein eine immer nur in Teilansätzen gelöste Problematik. Vgl. näher Lohalm, Uwe: „Modell Hamburg“. Vom Stadtstaat zum Reichsgau, in: Schmid, Josef (Hrsg.): Hamburg im „Dritten Reich“, Göttingen 2005, S. 122– 153, hier S. 134–139. 143 Ausschlaggebend waren personell wie stets die Gauleiter. Von diesen sah Wien aber zwischen Februar 1938 und August 1940 nicht weniger als fünf. Kritisch war hierbei vor allem das „Anschlussjahr“ 1938, in dem wenige Monate nacheinander drei Gauleiter eingesetzt wurden. Vgl. hierzu Botz, Gerhard: Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/39, 2. Aufl., Wien 2008, S. 540–545. 144 Vgl. Seliger, Maren: NS-Herrschaft in Wien und Niederösterreich, in: Tálos, Emmerich/Hanisch, Ernst/ Neugebauer, Wolfgang/Sieder, Reinhard (Hrsg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, S. 237–259, hier S. 411–413.
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steckengebliebene Reichsreform dadurch doch bereits Mitte der 1930er ein Stück weit voranbringen und vorentscheiden ließe 145. Nach einigen mündlichen Gesprächen jedenfalls schrieb Kaufmann an Göring folgenden zuvor vereinbarten Brief, in dem er ausführte, „bei der Besprechung, die ich am 12. d. Mts. im Hamburger Rathaus über Fragen des Vierjahresplanes mit Ihnen hatte, forderten Sie mich auf, Ihnen schnellstens einen Vorschlag zu machen, durch den eine einheitliche, von Hamburg ausgehende Führung im großhamburgischen Wirtschaftsraum sichergestellt würde. Sie hielten dies für eine Voraussetzung für eine erfolgversprechende Durchführung Ihrer Maßnahmen zum Vierjahresplan in diesem Gebiet und gaben erneut Ihrer Überzeugung dahin Ausdruck, daß nur eine großzügige Bereinigung aller durch die noch bestehende Landesgrenze auftretenden Schwierigkeiten, und somit die Beiseitigung dieser Landesgrenze, das Richtige sein würde. Ich kann dieser Auffassung auf Grund meiner Erfahrungen grundsätzlich nur beipflichten. Wenn ich mich in dem anliegenden Verordnungsentwurf […] darauf beschränke, […] die Führung auf den […] genannten wichtigeren Gebieten zu beantragen, so deshalb, weil Hamburg mit einer solchen Lösung zur Zeit auskommt und diese als erster Schritt zur künftigen Reichsreform im Unterelbegebiet mir besonders zweckmäßig erscheint. Auf Grund der hiernach zu machenden Erfolge wird die im Zuge der Reichsreform anzustrebende endgültige Lösung im Unterelbegebiet leichter und besser gelingen werden können.“ 146
Kaufmann schickte das Schreiben darauf an die Senatoren und seinen von der Stadtspitze verdrängten, nur noch stellvertretenden Bürgermeister Krogmann weiter, und fügte hinzu: „Ich gebe Ihnen von dem Schreiben nebst Anlage hiermit persönlich und streng vertraulich Kenntnis und ersuche Sie, schon jetzt Überlegungen anzustellen und mir Anregungen bezw. Vorschläge zu machen, in welcher Weise diese Verordnung im Falle ihrer Genehmigung […] durchzuführen ist.“ 147
Erst damit war Kaufmanns Aktivität in der „Groß-Hamburg-Frage“ zum Vorschein gekommen. Denn Kaufmann war gezwungen vorsichtig zu agieren und bis dahin langsam zu taktieren. Wie erwähnt war bereits 1933 bei der Frage nach den Personalien der Reichsstatthalter im norddeutschen Raum ein Balanceakt Hitlers notwendig gewesen, da einerseits Bremen und Lübeck im Gegensatz zu Hamburg jeweils keinen hauseigenen Gauleiter besaßen, und zu den Gauen der sie umgebenden preußischen Provinzen gehörten, während andererseits Eigenstaatlichkeit vorlag und Hamburg gemeinsam mit 145 Die Korrespondenz zwischen den beteiligten Stellen auf Reichsebene geben hiervon einen anschaulichen Eindruck. Vgl. BA B R 43-II/1346 und BA B R 43-II/1346a. 146 StaHH 113-2, A I, 4, Schreiben vom 18. November 1936. Hervorhebungen im Original. 147 Ebd., Schreiben vom 15. Dezember 1936. Hervorhebungen im Original.
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Lübeck sowieso und zumindest zeitweise auch Bremen einen gemeinsamen Reichsstatthalter ohne Rücksicht auf die beiden Gauleiter haben wollten. Hitler entschied sich (wie fast immer in solchen Konfliktsituationen) dafür, keinem seiner Gauleiter auf die Füße zu treten und ihre Macht auf Kosten anderer Interessenvertreter zu stärken. Bremen und Lübeck wurden also trotz Eigenstaatlichkeit ihren Gauleitern als Reichsstatthalter unterstellt. Mit der „Groß-Hamburg-Frage“ lag wieder eine ähnliche Situation vor. Denn von allen Plänen und Konzeptionen der Etablierung Groß-Hamburgs wären zwei preußische Provinzen berührt gewesen, die mehr Territorium abzugeben hatten, als sie erhielten. Wirtschaftliche Erwägungen konnten dies nicht wiedergutmachen, da auch Hamburg durch seine Abrundung mehr Vorteile hatte, als Preußen. Die Reichsinteressen mussten für Nicht-Hamburger im Mittelpunkt stehen, während Reichs- und zugleich Hamburger Interessen bei den Hamburgern im Mittelpunkt standen. Die beiden preußischen Oberpräsidenten und zugleich Gauleiter Lohse und Otto Telschow waren also mitzubedenken, wenn es um territoriale Veränderungen Hamburgs ging 148. Vorherige Etappen wie etwa die Ansiedlung von Hamburgern in den preußischen Nachbarorten wurden vor allem von Krogmann und Ahrens vorangetrieben, wobei Kaufmann offenbar hintergründig wirkte. Der entscheidende Schritt ereignete sich Ende 1935. Krogmann berichtete dazu: „Am 6. Dezember 1935 kam Göring mit seiner Frau nach Hamburg. Der Reichsstatthalter hatte sich in der Groß-Hamburg-Frage bisher immer sehr zurückgehalten, um nicht in einen Konflikt mit den Nachbargauleitern Lohse und Telschow zu geraten. Während des Mittagessens fragte Göring, warum Hamburg und [das preußische] Altona noch nicht vereinigt wären. Ich erwiderte, das läge nur bei ihm (als preußischem Ministerpräsidenten). Er meinte aber, es müsse von Hamburg vorangetrieben werden, worauf der Statthalter erwiderte, daß wir es wegen der benachbarten Gaue kaum machen könnten. […] Göring sagte in seiner Dankesrede, daß die Groß-Hamburg-Frage unbedingt gelöst werden müsse und daß er es dem Reichsstatthalter und mir überließe, den Zeitpunkt hierfür zu bestimmen. Nachdem Göring als Ministerpräsident von Preußen selber die Eingemeindung der Nachbarstädte vorgeschlagen hatte, war nur noch die Frage, ob Hitler bereit war, diesen Teil der Reichsreform vorwegzunehmen. Das war zum mindesten zweifelhaft, nachdem mir Staatssekretär Grauert am 24. Januar 1936 gesagt hatte, ’daß die Eingemeindung von Altona und Wandsbek z. Z. noch nicht möglich sei, weil der Führer die Reichsreform nur als Ganzes machen wolle. […]‘ […] Ganz überraschend und unerwartet erfuhren wir Hitlers Ansicht zur Groß-Hamburg-Frage, als wir am 19. Juni 1936 die Modelle der Hochbrücke und der Fahrgastschiff-Landesanlage in der Reichskanzlei vorführten. Seine Worte ‚Altona, das ist ja Unsinn, das dürfen wir heute nicht mehr denken, da genügt ja ein Federstrich‘,
148 Zumindest ersterer war laut Krogmann bereits 1934 bei Anbahnungen der „Groß-HamburgFrage“ „etwas eingeschnappt, […] Altona und Wandsbek einzugemeinden, weil diese beiden Städte die Hauptsteuerquellen Schleswig-Holsteins seien“. Krogmann: Hakenkreuz, S. 230.
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zeigten, daß er der Verwirklichung von Groß-Hamburg keine Schwierigkeiten bereiten würde.“ 149
Weitere vorbereitende Gespräche und Maßnahmen durch Ahrens und den von Seiten Hamburgs hierzu bemühten Rechtswissenschaftler Hans Peter Ipsen, als dessen juristisches Lebenswerk die rechtliche Gebietskonstruktion Hamburgs bis zum Verfassen der vorliegenden Arbeit gilt, schlossen sich an. Das Reichsinnenministerium stellte sich aber noch gegen die hamburgischen Pläne. Erst ein weiteres Gespräch zwischen Kaufmann, Krogmann und Göring am 12. November 1936 führte zu handgreifbaren Ergebnissen, ausdrücklich nicht ausschließlich wegen der ökonomischen Vorteile, die Göring als inzwischen ernannter Leiter der Vierjahresplanbehörde zu berücksichtigen hatte. Kaufmanns Bedenken in Bezug auf die anderen Gauleiter wurden zerstreut, indem vereinbart wurde, dass die Hamburger alles vorbereiten und Göring vorlegen sollten, sodass er die Angelegenheit von sich aus aufnehmen und durchführen könne. Auch habe er Lohse bereits einmal auf das Problem angesprochen 150. Kaufmann und Krogmann waren nicht undankbar für Görings „Auf-sich-nehmen“. Anderenfalls hätte es Groß-Hamburg wohl nie gegeben, da Kaufmann allein nicht gegen Lohse und zugleich Telschow angekommen wäre. Das hatten die Jahre zuvor gezeigt. In seinen Memoirenentwürfen war die Dankbarkeit noch deutlich spürbar, wenn er vermerkte, er müsse „heute wie damals feststellen, dass es entschei[-]dend dem grossen Verständnis und der Hilfe Görings zu verdanken war, dass meine in der Gross-Hamburg-Frage
149 Krogmann: Hakenkreuz, S. 300f. 150 Ebd., S. 302. Anfang 1939 kam Hitler bei einer gemeinsamen Zusammenkunft mit Kaufmann und Krogmann von sich aus auf die beiden Gauleiter, die Territorium an Kaufmann verloren hatten. Leicht amüsiert soll er gesagt haben, „[d]er Gauleiter Lohse sei sehr böse auf uns. Er geistere um die Grenzen Hamburgs.“ Ebd., S. 346. Es kann allerdings durchaus der Fall gewesen sein, dass es Lohse nicht „nur“ um eine Wegnahme wichtigster Teile seines Hoheitsbereichs ging, sondern dass auch eine persönliche Kränkung mit im Spiel war. Denn Lohses NSDAP-Karriere hatte ausgerechnet mit der Gründung der NSDAP-Ortsgruppe in Altona angefangen, wo er auch viele Jahre arbeitete und lebte, während Kaufmanns politische Rehabilitierung mit dem Gau Hamburg ab 1929 durch Lohse erst ermöglicht wurde. Vgl. zu Lohses Karrierebeginn Danker, Uwe: Der schleswig-holsteinische NSDAP-Gauleiter Hinrich Lohse. Überlegungen zu seiner Biografie, in: Ruck, Michael/Pohl, Karl Heinrich (Hrsg.): Regionen im Nationalsozialismus, Bielefeld 2003, S. 91–120, hier S. 91. Seine „alte Heimat“ wurde ihm damit faktisch auf Wunsch Hitlers weggenommen. Andere Beobachter, wie etwa Rosenberg, sprachen rückblickend gar von Lohse als Kaufmanns „später erbitterten Gegner“. Vgl. Rosenberg: Aufzeichnungen, S. 154. Den anderen direkt betroffenen Gauleiter, Telschow, scheint dies weniger stark getroffen zu haben, obwohl auch dessen einstige Heimat Harburg aus seinem Gau ausgegliedert und dem Kaufmanns angegliedert wurde. Mit der Harburger Ortsgruppe hatte Telschow jedoch offenbar mehrfach Konflikte, und hatte zeitweise wohl auch überlegt, diese noch Jahre bevor Groß-Hamburg absehbar war, freiwillig abzustoßen. Vgl. Köhler, Nils: Otto Telschow – Hitlers Gauleiter in Osthannover, in: Ruck, Michael/Pohl, Karl Heinrich (Hrsg.): Regionen im Nationalsozialismus, Bielefeld 2003, S. 121–146, hier S. 129f.
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ergriffene Initiative zu einem Erfolg führte, der die furchtbaren Schläge des Krieges und der Kapitulation überdauerte.“ 151
An Görings Zusage schlossen sich die beiden zitierten Schreiben an, und nach mehrmaligem Nachhaken und -justieren stand (nicht ohne Mitwirkung Fricks, der so wenigstens einen kleinen Teil seiner 1935 gescheiterten Reichsreform verwirklichen wollte 152) Groß-Hamburg. Verwaltungsintern war diese Etablierung des Reichsgaues mit einigen Schwierigkeiten versehen. Diese lagen im Wesentlichen im Bereich der Neugliederung der Staatsverwaltung, während sich bei der Gemeindeverwaltung keine komplexeren Änderungen ergaben 153. Teilweise wurden die einzelnen Abteilungen inklusive ihrer einzelnen Gruppen, Untergruppen und der diesen unterstellten Behörden geschlossen in die neue Verwaltungsstruktur (teilweise inklusive neuer Räumlichkeiten) überführt, darunter etwa die Konsularabteilung. Die Vorteile eines solchen geschlossenen Übergangs wurden intern mit Erleichterung betrachtet. Konkret zur Konsularabteilung findet sich beispielsweise folgende Notiz: „Da die Abteilung geschlossen übergeht, sind irgendwelche besonderen Verhandlungen […] nicht zu führen […]. Die Abteilung wird erst nach Fertigstellung der Umbauarbeiten am [neuen] Hause Harvesthuderweg 12 die ihr endgültig zugewiesenen Räume beziehen können.“ 154
Verwaltungsinterne Diskussionen und Verhandlungen fanden hinsichtlich anderer Abteilungen aber durchaus statt. (Kaufmann selbst war dabei über alles bestens informiert 155.) In einem Entwurf für die künftige Struktur der bereits genannten Konsularabteilung war beispielsweise vorgeschlagen worden, die Gruppe „Nr. 25 Dolmetschwesen“ in eine Gruppe „Nr. 25 Kolonialfragen“ abzuändern 156. Der Großteil der wenigen Änderungen betraf aber lediglich Untergruppen. Es erhielt beispielsweise die Abteilung 7
151 PNKK Ordner Nr. 5, Entwurf Manuskript [S. 143f.]. 152 Vgl. Kasten, Bernd: Gauleiter konsolidieren ihre Machtbereiche – der Zusammenschluss beider Mecklenburg 1933 und das Groß-Hamburg-Gesetz 1937, in: Kretzschmar, Robert/Schindling, Anton/Wolgast, Eike (Hrsg.): Zusammenschlüsse und Neubildungen deutscher Länder im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2013, S. 151–179, hier S. 167–169. und S. 174–176. Tatsächlich gelang Frick im Zuge der Vorbereitungen des „Groß-Hamburg-Gesetzes“ die Beseitigung etlicher Exklaven der Länder Preußen, Mecklenburg, Oldenburg und Lübeck (welches zugleich seine Eigenständigkeit zugunsten Preußens verlor). Auf Seiten der Gauleiter war Hildebrandt aus Mecklenburg „der große Verlierer der kleinen […] Flurbereinigung“. Vgl. ebd., S. 176–178. 153 Zu den wenigen Auswirkungen auf die Gemeindeverwaltung vgl. StaHH 113-5, A I, 2. 154 StaHH 113-5, A II, 3a, Schreiben vom 26. Februar 1938. 155 Schließlich war Kaufmann nicht weniger als der Bürgermeister und zugleich Reichsstatthalter. Zudem leitete er gar die Sitzungen höherer Beamter, in denen es um konkrete Einzelheiten zur Verwaltungsreform ging. Vgl. hierzu StaHH 113-2, A I, 6. 156 StaHH 113-5, A II, 3a, Schreiben vom 7. März 1938.
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(Wasserstraßendirektion) eine zusätzliche Untergruppe für „Jagd- und Fischereirecht“ 157. Grundsätzlich befand sich die gesamte Verwaltung, von den Abteilungen bis hinunter zu den einzelnen Behörden, auf dem Prüfstand. Durch zusätzliche Änderungen, die von außen angestoßen wurden und direkte Auswirkungen auf die Hamburger Verwaltung haben mussten, war diese bis 1943 gelegentlichen mit solchen Fragen der Verwaltungsstruktur beschäftigt. Als Kaufmann etwa 1942 zum Reichskommissar für die Seeschifffahrt ernannt wurde, wurde intern die Frage gestellt, inwiefern nun die Verwaltungsstruktur angepasst werden müsse. Aus der Kanzlei der Staatsverwaltung des Reichsstatthalters hieß es hierzu: „Von Abteilung 7 [Wasserstraßendirektion] sind keine Änderungen und Zusätze zum Gliederungsplan [der Verwaltung] zu machen. Der Wasserstraßenstraßenbevollmächtigte [sic], der Seeschiffshrtsbevollmächtigte [sic] und das Referat Kriegssachschäden in der Schiffahrt haben eigene Aktenführungen, die nach dem Krieg in den Gliederungsplan aufgenommen werden soll[en].“ 158
Solche Erklärungen und Klarstellungen der Strukturen und damit der Arbeitsweise in Hamburg waren in dem „Durcheinander“ offenbar sehr erwünscht. Für die Mitarbeiter der verschiedenen Verwaltungen in Hamburg waren die unklaren Überschneidungen von Sphären, Ämtern und Kompetenzen scheinbar so extrem störend, dass an Kaufmann als Reichsstatthalter folgende Notiz herangetragen wurde: „Das Hauptverwaltungsamt ist beauftragt worden mit der Herstellung eines Verzeichnisses der Behörden und Dienststellen der Verwaltung der Hansestadt Hamburg, in welches sowohl die bestehenden Angaben über die Staatsverwaltung als auch über die Gemeindeverwaltung aufgenommen werden sollen. Ferner werden in einem Anhang die Reichssonderverwaltungen, die Wehrmacht und die Partei aufgeführt. Das Verzeichnis […] [ist] sowohl für den Dienstgebrauch als auch für die Öffentlichkeit dringend notwendig“ 159.
Die daraufhin erstellte, knapp 80 Seiten zählende Broschüre klärte die Überschneidungen von Ämtern zwar nicht auf, hielt aber wenigstens die einzelnen Ämter und ihre aktuellen Inhaber schriftlich fest 160. Und auch wenn die Verwaltungen von Land/Stadt, Gemeinden und Partei in Hamburg unterschiedliches Führungspersonal aufwies, war der ihr jeweils an höchster Stelle Vorsitzende eine Person in Personalunion: Kaufmann. Bei ihm liefen also in Hamburg analog zu Hitler an der Reichsspitze alle Fäden zusammen. Die Verwaltungsstruktur Hamburgs wurde hinsichtlich vieler weiterer Aspekte auch hiernach noch weiter verändert. Sie befand sich zwischen 1933 und 1945 in einem zwar 157 Ebd., [weiteres] Schreiben vom 7. März 1938. 158 Ebd., Schreiben vom 20. Juli 1942. 159 Ebd., Schreiben vom 6. April 1938. 160 Vgl. Aufbau der Verwaltung der Hansestadt Hamburg. 1938, Hamburg 1938 [o. H.].
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nicht durchgängigen, aber dafür häufigen Wandel 161. Nach den vorgestellten Änderungen waren diese für die Bedeutung Kaufmanns aber nur noch von untergeordneter Bedeutung, da seine Einflussmöglichkeiten davon nicht näher tangiert wurden. Eine bleibende Folge hatte dies alles jedoch: Hamburg erhielt so seine Form und Struktur, die nach 1945 nur noch marginal abgeändert wurde, wenn von der starken Machtkonzentration in der Person des Reichsstatthalters abgesehen wird. Die Umformung Hamburgs unter Kaufmanns Riege hinterließ also etwas Dauerhaftes.
4.2.2. „Hamburgs Führer“ und die perfektionierte Personalunion „Kolossal souverän wird eine Stadt wie Hamburg geführt.“ 162
Es ist die einzige Bemerkung, die Hitler in seinen seinen sogenannten „Monologen im Führerhauptquartier“ über Hamburgs Führung Ende 1941 fallen ließ. Zuvor ließ er sich umfassend über den seiner Meinung nach „genialste[n] Bürgermeister“, den Wiener Karl Lueger aus 163. Kein schlechtes Kompliment also für Kaufmanns Amtsführung. Dies gilt umso mehr, wenn bedacht wird, wie nahe er 1928 dem Ende seiner politischen Karriere gekommen und wie angespannt das Verhältnis zu Hitler offenbar bis 1933 geblieben war. Mit der Führung Hamburgs auf Gebieten wie der Partei, des Bauens, der Rüstung oder der Umwandlung in den Reichsgau scheint sich Hitler zufrieden gezeigt zu haben. Kaufmann war schnell und tief gefallen, aber später schnell und hoch aufgestiegen, sogar noch höher als je zuvor. Doch nun zur Frage, wie Kaufmann überhaupt Bürgermeister wurde. 1933 war er als Reichsstatthalter über der Landesregierung installiert worden und konnte darüber jederzeit direkt in die Landes- wie Kommunalpolitik eingreifen. Das bis zur Übernahme des Bürgermeisteramts praktizierte System als Reichsstatthalter funktionierte grundsätzlich einwandfrei: Krogmann stand dem Senat als Landesregierung vor, erledigte in seiner Eigenschaft als Bürgermeister enorm viel des „Tagesgeschäfts“, wurde dabei flankiert von Ahrens als Senator, und war auch sehr zufrieden mit seiner eigenen Tätigkeit. Kaufmann hingegen konnte das „Große Ganze“ wahlweise als Gauleiter oder Reichsstatthalter steuern, dank seines direkten Drahts zu seinen Kreisleitern, zu Krog161 Eine kurze Zusammenfassung des Wandels der Verwaltungsstrukturen von Partei und Staat in Hamburg bietet Lohalm, Uwe: Hamburgs nationalsozialistische Diktatur: Verfassung und Verwaltung 1933 bis 1945, in: Erdmann, Heinrich (Hrsg.): Hamburg im Dritten Reich. Sieben Beiträge, Hamburg 1998, S. 87–117. 162 Hitler, Adolf: Monologe im Führerhauptquartier. 1941–1944. Die Aufzeichnungen Heinrich Heims, München 2000. Herausgegeben von Werner Jochmann, S. 153. 163 Ebd., S. 152f. Zu Lueger vgl. Boyer, John W.: Karl Lueger (1844–1910). Christlichsoziale Politik als Beruf, Wien 2009. Zur Wirkung Luegers Amtsführung auf den in Wien lebenden Hitler vgl. Hamann, Brigitte: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München/Zürich 1996, S. 393–435.
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mann/Ahrens und dem Senat Instruktionen geben oder sich aufklären lassen. Im Ernstfall (zu dem es bezeichnenderweise im Gegensatz zu anderen Gauen nie kam) wäre er „am längeren Hebel“ gewesen, hätte missliebige oder widerspenstige Personen kraft seiner Amtsbefugnisse als Gauleiter oder als Reichsstatthalter jederzeit absetzen und durch ideologisch, sachlich, fachlich oder persönlich geeignetere Kandidaten ersetzen können. Gleichzeitig führte Kaufmann seinen eigenen Geschäftsbereich als Reichsstatthalter, hatte die Zuständigkeit für die Personalfragen inne und koordinierte das Gesamtgeschehen von Partei und Staat im Stadtgau Hamburg. Es stellt sich daher die Frage, warum er also Krogmann als Bürgermeister durch sich selbst ersetzen wollte. Eindeutige Quellen zu dieser Frage gibt es keine. Unzufriedenheit mit Krogmann kann es kaum gewesen sein, zumal er diesen später als Stellvertreter und „verlängerten Arm“ in Senat und „Tagesgeschäft“ beibehielt. Sinnvoll ist nur eine Möglichkeit: Kaufmann wollte selbst noch direkter in das Geschehen involviert sein und selbst darin noch direkter handeln. Deutlich sichtbar wird im Jahr 1936 jedenfalls auch, wie stark innerhalb des Bündnisses von Nationalsozialismus und Bürgertum die bürgerlichen Elemente an die Seite gedrängt wurden, und sich der Nationalsozialismus durchzusetzen vermochte. Kaufmanns Regierungsübernahme kann in diesem Sinne fast schon symbolisch für die Situation im gesamten Reich betrachtet werden. Grundsätzlich verlief der formale Prozess der Übernahme der Landesregierung unkompliziert, zumal wenn die bis dahin gescheiterten Landesregierungsübernahmen anderer Reichsstatthalter zum Maßstab genommen werden. Wann genau von wem die Initiative ausging, ist jedoch unklar. Aber einen besonders deutlichen Hinweis gibt ein Brief an die Reichskanzlei vom Sommer 1936, in dem die Rede ist von einem „Antrag“ Kaufmanns zur Übernahme der Landesregierung. Demnach habe Kaufmann diesen Antrag schriftlich an Berlin gestellt, aber keine Antwort erhalten. Krogmann selbst schloss sich diesem Antrag an, unter der Bedingung, dass (wie auch von Kaufmann beantragt) die Hamburger Staats- und Kommunalverwaltung organisatorisch etwas ausdifferenziert würden 164. Der Antrag war laut München, wo sich Berlin erkundigt hatte und wohin die Angelegenheit weitergeleitet wurde, unbekannt und angeblich verloren gegangen 165. Es ist gut möglich, dass dies eine Ausrede war, um sich mit dem lange Zeit aufgeschobenen Thema der Regierungsübernahme von Reichsstatthaltern nicht weiter auseinandersetzen zu müssen. Wenn dies so gewesen sein sollte, dürfte klar gewesen sein, dass Kaufmann wie schon bei anderen Themen in der Vergangenheit nicht locker lassen und stets einfach höflich weiter nachfragen würde. Entweder war es also ein Aufschieben oder der Antrag ging tatsächlich verloren. An dem Vorgang um Kaufmanns Bemühungen ist eine Vielzahl an Punkten sehr wichtig. Erstens zeigt die Art und Weise des Vorgehens in Form eines Antrags klar und deutlich, wie sehr Kaufmann die Rückkopplung an den Ausgangspunkt seiner Herrschaft als Gauleiter und Reichsstatthalter suchte. Dieser Ausgangspunkt war Hitler. Rechtlich betrachtet durften die Reichsstatthalter erst mit dem neuen „Reichsstatthaltergesetz“ von 164 BA B R 43-II/1346, Schreiben vom 12. Juni 1936. 165 Ebd., [weiteres] Schreiben vom 12. Juni 1936.
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1935 auch in Personalunion an die Spitze der ihnen unterstehenden Landesregierung treten (und gerade deshalb waren 1933 Murr, Röver sowie Sauckel gezwungen waren, ihre Ministerpräsidentschaft zugunsten der Reichsstatthalterschaft abzugeben) 166. Selbst entscheiden durfte Kaufmann dies nicht. In § 4 hieß es, „[d]er Führer und Reichskanzler kann den Reichsstatthalter mit der Führung der Landesregierung beauftragen.“ 167 Ein gesondertes Verfahren war weder vorgegeben noch geplant. Die gesamte Konstruktion zementierte damit am Ende vor allem die Position von Hitler, von dem und an dem alles abhängen sollte, was selbst Macht besaß. Gerade bei Kaufmann ist diese Durchsetzung des absoluten Machtanspruches von Hitler über die Jahre hinweg gut erkennbar. Der Kaufmann von 1925 wurde entgegen Hitlers Instruktionen als Gauleiter von Rheinland-Nord nicht von ihm bestimmt, sondern von den Ortsgruppen gewählt. Die Bestätigung durch Hitler ließ auf sich warten. 1926 ging die Bestätigung als Gauleiter des „Groß-Gaues“ dann besser vonstatten. Und schon 1928 war Hitlers Führungsanspruch soweit anerkannt, dass ihm die Lösung der verfahrenen Lage im Ruhr-Gau angetragen wurde. Seine Entscheidungen wurden akzeptiert, eine Loyalitätsaufkündigung durch Kaufmann gab es nicht, trotz (oder vielleicht auch gerade wegen 168) seines tiefen Falles. Beim Hergang um den Gau Hamburg wurde Kaufmann durch Lohse und Gregor Strasser ins Spiel gebracht, nicht von sich selbst oder gar den Hamburger „Parteigenossen“. Alle akzeptierten also Hitlers letztgültige Entscheidung für oder gegen Kaufmann als Gauleiter. Als Kaufmann auf eine Reichsstatthalterschaft für Hamburg, Bremen und Lübeck schielte, wurde Hitlers Beschränkung auf Hamburg ebenfalls klaglos und trotz „kleinerer“ Lösung mit großen Dank aufgenommen. Und er schließlich 1936 auch noch die Landesregierung anführen wollte, obwohl er als Gauleiter und Reichsstatthalter bereits alle Fäden in der Hand hatte, gab es rechtlich nur die Möglichkeit über Hitler. Diese Möglichkeit sollte durch einen förmlichen Antrag beschritten werden. Eine deutlichere Durchsetzung des absoluten Führungsanspruches konnte es kaum geben, wenn der Antrag nicht gerade durch eine Bittstellung (was dem Charakter der „Politischen Leiter“ widersprochen hätte) ersetzt worden wäre. Zweiter wichtiger Punkt an Kaufmanns Bemühungen um die Übernahme der Führung der Landesregierung war die anvisierte und von Krogmann mitbeantragte verwaltungstechnische Ausdifferenzierung der Hamburger Staats- und Gemeindeverwaltung. Die von beiden gewünschte Trennung deutete schon auf einen neuen Charakter des politischen Systems in Hamburg hin. Krogmann sollte mit der Zuständigkeit für die Gemeindeverwaltung „abgegolten“ werden, wobei er dort förmlich „nur“ Stellvertreter des Reichsstatthalters wurde, aber weiterhin nominell „Bürgermeister“ (im Sinne des Wortes als Oberhaupt einer Kommune, nicht eines Landes) bleiben konnte. Diese organisatorische Trennung bei gleichzeitiger Übernahme der Landesregierung durch den Reichsstatthalter, bei wiederum gleichzeitiger Übereinstimmung von Parteigau und 166 RGBl. 1936/I, S. 65f., hier S. 65. 167 Ebd. 168 Die einzige Hoffnung Kaufmanns zum politischen Wiederaufstieg war schließlich Hitler.
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Staatsgrenze schuf einen erheblichen Anteil der notwendigen Voraussetzungen und zugleich einen weiteren Anreiz für die Vorwegnahme der Reichsreform in Gestalt des Reichsgaues Hamburg. Aus der Perspektive des Jahres 1936 hätten also viele Probleme auf einen Schlag gelöst werden können: Eine neue Stufe der Machtabsicherung, die Vorwegnahme der Reichsreform, ein Experiment der Reichsreform, Beseitigung der Doppelverwaltung, falls Reichsstatthalterei und Bürgermeisteramt trotz Personalunion nebeneinander weiter existiert hätten und die „ehrenvolle Unterbringung“ Krogmanns, dessen Expertise und Ruf weiterhin geschätzt und für nötig erachtet wurde. Dritter und letzter wichtiger Punkt an Kaufmanns Bemühungen um das Bürgermeisteramt ist „auf den ersten Blick“ nur eine kosmetische, „auf den zweiten Blick“ aber machtpolitisch erhebliche Veränderung: Formal betrachtet übernahm der Gauleiter und Reichsstatthalter einfach in Personalunion das Amt des Bürgermeisters. Kaufmann nannte sich aber nicht „Bürgermeister“, sondern „Führer der Landesregierung“. Was wirken könnte wie ein weiterer schmeichelnder Titel für einen von Hitlers „Führern der Provinz“ war weit mehr. Es signalisierte nach innen und außen ein neues Selbstverständnis. Der „Bürgermeister“ oder der „Ministerpräsident“ sollte der Vergangenheit angehören. Auf der Kommunalebene war dies schon 1934 mit den „Führern der Gemeinde“ deutlich geworden. Das „Führerprinzip“ gab es auch schon bei den nationalsozialistisch eingesetzten Ministerpräsidenten. Aber die neue Bezeichnung zeigt auf, wo die Reise langfristig hingehen sollte. Im Falle Kaufmanns jedoch kam dazwischen, dass die Umwandlung Hamburgs in einen Reichsgau zur Ersetzung des „Führers der Landesregierung“/Bürgermeisters durch den Reichsstatthalter führte, sodass wieder die Bezeichnung Reichsstatthalter und (wenngleich schon etwas weniger) Gauleiter dominierte. Auch dies zeigt angesichts der identischen Umsetzung in den später annektierten Gebieten anhand des Hamburger Vorbilds an, wie die Zukunft im „Dritten Reich“ wohl ausgesehen hätte, wenn der Krieg nicht verloren gegangen wäre. Das weitere Prozedere der Regierungsübernahme ging schnell vonstatten. Noch im Juli erhielt Kaufmann seine von Hitler unterschriebene Ernennungsurkunde 169 (auch dies ein Fakt, der kaum noch klarer von der parlamentarischen Wahl der Ministerpräsidenten in der Weimarer Republik nur dreieinhalb Jahre vorher unterschieden werden konnte). Kritische Fragen gab es keine zu besprechen, ernsthafte Hindernisse stellten sich nirgendwo. Gerade dies könnte verwundern, da Kaufmann mit diesem Schritt innerhalb der Gauleiter noch ein Stück weiter hervorragte und er noch dazu ein Protagonist des linken Parteiflügels war. Aber tatsächlich zeigt diese Problemlosigkeit einfach nur deutlich an, wie gefestigt die Macht der Partei inzwischen war. Denn einerseits waren alle wichtigen „Vizekönige“ inzwischen zufriedenstellend versorgt und andererseits hoffte sicherlich der eine oder andere, bei einem Erfolg Kaufmanns sich selbst irgendwann auf die bis dahin geschaffenen Präzedenzfälle Alfred Meyer, Murr, Mutschmann, Sprenger, Robert Wagner und Kaufmann berufen zu können. 169 BA B R 43-II/1346, Beglaubigte Abschrift vom 29. Juli 1936. Das Original ging an Kaufmann persönlich.
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Nachdem Kaufmann im Juli 1936 selbst Bürgermeister geworden war, und damit die Führung der Landesregierung persönlich und direkt übernahm, zeigten sich sogleich wieder alle Merkmale seiner bis dahin geleisteten Arbeit als Gauleiter und Reichsstatthalter. Weiterhin bewahrte er sich ein Eingriffsrecht in allem vor, während er sich vorrangig den wichtigsten Sachverhalten widmete, aber dabei auch den Gesamtüberblick über alles behielt. Ein weiteres Merkmal, das bereits mehrfach genannt wurde, lag in Kaufmanns Art zu delegieren. Wie gezeigt, hatte er dies bereits als Gauleiter und später dann als Reichsstatthalter vermocht. Nunmehr als Bürgermeister führte er diese Praxis fort. Es ist bezeichnend, dass er noch am 30. Juli 1936, also nur Tage nach Hitlers Unterschrift unter die Ernennungsurkunde, ein Schreiben an die anderen Mitglieder der Landesregierung gehen ließ, in dem er ausführte, die „Beschlüsse im Verfügungswege in Angelegenheiten, deren Entscheidung dem Senat [als ganzem] vorbehalten ist, zunächst im bisherigen Umfange zu erlassen. Die Beschlüsse sind zu zeichnen: ‚Der Reichsstatthalter in Hamburg – Landesregierung – Im Auftrage.‘“ 170
Kaufmann ermächtigte die einzelnen Senatoren also nunmehr dazu, künftig eigenständig zu handeln, sofern es sich im bis dahin praktizierten Rahmen hielt. Er ließ ihnen damit relativ viel Spielraum zur eigenen Amtsführung und entledigte sich zugleich der steten Notwendigkeit von regelmäßigen Kabinettssitzungen über Themen, die einzelne Senatoren seiner Auffassung nach auch selbst erledigen konnten, ohne dies groß in der Landesregierung diskutieren zu müssen. Wie gezeigt, war diese Praxis zwischen 1933 und 1935 innerhalb des Senats schrittweise etabliert worden. Vom ursprünglich für die Verhältnisse des „Dritten Reiches“ sehr kollegial geführten Senat, dem Kaufmann als Reichsstatthalter mit „Wünschen“ begegnete, über eine immer weiter zunehmende Verwaltungspraxis, in der der einzelne Senator gemäß dem „Führerprinzip“ seinen Geschäftsbereich führte, womit die Debatten im Senat immer weniger wurden, hin zu einem Verwaltungsorgan, dem Kaufmann mit Forderungen begegnete. Bis dahin war Kaufmann nur in wenigen Fällen persönlich bei den Senatssitzungen anwesend gewesen. Er konnte sich dort auf seine beiden „verlängerten Arme“ Krogmann und Ahrens verlassen 171. Ab der Übernahme der Landesregierung 1936 änderte sich dies. Nunmehr war er fast immer anwesend, überließ aber vorerst trotzdem Krogmann und Ahrens weiterhin die Steuerung der Sitzungen, wenngleich er selbst hierbei immer mehr übernahm. Dies könnte an mangelnder Praxis gelegen haben, die er sich nun schrittweise aneignete. 170 StaHH 113-5, A I, 1, Schreiben vom 1. Juni 1938. 171 Die wahrscheinlich am häufigsten wiederholte Formulierung des Protokollanten dürfte zwischen 1933 und 1945 gewesen sein: „Herr Senator Ahrens gibt im Auftrage des Herrn Reichsstatthalters“. Exemplarisch: StaHH A2c1936, Geheimniederschrift zu der Niederschrift über die Senatsberatung vom 16. Oktober 1936.
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Genau wie im darauffolgenden Jahr 1937 wurden diese Sitzungen aber immer weniger, und die „Berichterstattungen“ (denn als „Debatten“ können diese nicht mehr bezeichnet werden 172) nahmen rein quantitativ betrachtet immer weiter ab. Ihr Charakter änderte sich grundlegend. Von Kollegialität war kaum noch etwas zu spüren. In der Regel erstattete ein Senator oder Fachmann aus der jeweiligen Verwaltung Bericht über einen Sachverhalt, der von allen zur Kenntnis genommen wurde. Daraufhin erfolgte eine Entscheidung von Kaufmann, Krogmann oder Ahrens, wie in der Angelegenheit weiter zu verfahren sei. Dies wurde dann von allen zur Kenntnis genommen. Damit war der Tagesordnungspunkt erledigt. Es handelte sich hierbei also um eine autoritär geführte Verwaltung, deren letztendliche Entscheidungspersönlichkeiten (also Kaufmann, Krogmann oder Ahrens) politisches miteinfließen lassen konnten, wenn sie es thematisch wollten. Hierbei ist aber zu beachten, dass für die Nationalsozialisten (gerade im Reichsgau Hamburg mit der Einheit von Partei und Staat) jede verwaltungstechnische Entscheidung vor einem politischen Hintergrund getroffen wurde und somit zwangsläufig einen politischen Charakter hatte. Und somit verliefen schließlich die weiteren Senatssitzungen ab Kaufmanns Regierungsübernahme 1936 173. Kaufmanns Verwaltungspraxis nahm auf diesem Wege noch mehr zu, als ohnehin schon durch mehr als zehnjährige Praxis in der Führung der Gaue Rheinland-Nord, Ruhr und Hamburg sowie durch die dreijährige Praxis als Reichsstatthalter. Seine Ausführungen klangen waren in diesem Zusammenhang auch immer mehr von der notwendigen verwaltungstechnischen Ausdrucksweise geprägt. Hierzu ein Beispiel aus einem Protokoll von 1938: „Herr Reichsstatthalter Kaufmann spricht an die Frage der Besteuerungssätze für das Haushaltsjahr 1938 in den [neu eingemeindeten] Städten Altona, Harburg-Wilhelmsburg und Wandsbek und kommt insbesondere zu sprechen auf einige ‚Entschließungen‘ der Ratsherren von Harburg-Wilhelmsburg, in denen mit Wirkung vom 1. April 1938 die Vereinheitlichung der Gewerbesteuersätze in der Hansestadt Hamburg gefordert wird. Nach Bekanntgabe des Wortlautes dieser Forderung durch [Finanz-]Senator Nieland stellt der Herr Reichsstatthalter ausdrücklich fest, daß eine Vereinheitlichung der Steuer im Hinblick auf die schwierigen Vorarbeiten und insbesondere auch mit Rücksicht auf die Tatsache, daß die Auswirkung einer Vereinheitlichung auf den Haushaltsplan der Hansestadt Hamburg wegen der bisher getrennten Haushalte der hamburgischen Städte und Gemeinden sich zur Zeit
172 Analog hierzu erhielt beispielsweise Helfferich als Mitglied des Staatsrats nach einem kritischen Zwischenruf während der Rede eines anderen Staatsrats und einer kritischen eigenen Rede zum Thema vom nicht anwesendem Kaufmann später eine mündliche Rüge und die Ankündigung, dass er ihn in der nächsten Sitzung „kapiteln“ werde. Helfferich konnte die Angelegenheit allerdings vorher mit ihm gütlich klären. Vgl. Helfferich: Tatsachen, S. 89f. 173 Vgl. hierzu die Protokolle und Geheimprotokolle in StaHH A2a1936, Bd. 1, StaHH A2a1937, StaHH A2a1938, StaHH A2a1939/1940 und StaHH A2c1936. Passenderweise wurden die Sitzungen auch nicht mehr „Sitzungen“ genannt, sondern nur noch „Beratungen“. Es wurde also nicht mehr in der Gruppe beieinandergesessen und debattiert, sondern der Reichsstatthalter wurde von den Mitgliedern der Gruppe in seiner Entscheidung beraten.
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noch nicht übersehen lasse, zum 1. April d. J. noch nicht durchgeführt werden könne, daß außerdem die früheren preußischen Städte und Gemeinden sich durch die Beibehaltung des bisherigen Zustandes noch für ein weiteres Jahr auch nicht schlechter stände[n] als bisher. Der Herr Reichsstatthalter stellt aber die Frage, ob nicht eine Vereinheitlichung der wichtigsten Tarife bereits zum 1. April d. J. geschehen könne. Nachdem dies von Senator Nieland und Stadtrat Werdermann bejaht wird und auch Stadtrat Martini eine Vereinheitlichung auf dem Gebiete der Fürsorgeleistungen für den 1. April 1938 für durchführbar erklärt, entscheidet der Herr Reichsstatthalter, daß so verfahren wird und seine diesbezügliche Entscheidung in einer amtlichen Verlautbarung durch die Presse mitgeteilt wird. Dabei soll gleichzeitig verkündet werden, daß die Vereinheitlichung der übrigen Tarife sowie der Steuern, Gebühren und Abgaben mit Wirkung vom 1. April 1939 erfolgen werde.“ 174
Während bei anderen durch die Ereignisse von 1933 in Verwaltungspositionen gerückte Nationalsozialisten anfangs erhebliche Probleme bestanden, das Vokabular einer professionellen Verwaltungsführung überhaupt zu übernehmen und anzuwenden, konnte Kaufmann einerseits im Senat über verwaltungsinterne Sachverhalte sprechen und kurz danach draußen an den Hafenanlagen vor Arbeitern, in Industriebetrieben oder Werkstätten sprechen, ohne einen arroganten oder weltfremden Eindruck bei ihnen zu hinterlassen. Diese nicht häufige Eigenschaft wird noch zusätzlich dadurch hervorgehoben, dass er Partei, Staat und Verwaltung, also „seinen“ Reichsgau führte, und sich trotzdem oder gerade deshalb weiterhin für die sozialen Belange anderer sozialer Gruppen, wie eben den Hafenarbeitern, interessierte und sie zu fördern versuchte. Hierauf wird nachfolgend noch zurückzukommen sein. Als Beispiel für seine Gewandtheit und als Kontrast soll hier nur ein kurzes Beispiel einer Weihnachtsfeier vier Monate vor der zitierten Senatsbesprechung dienen: „Der Gauleiter und Reichsstatthalter Karl Kaufmann hatte gestern abend mehrere hundert Opfer der Arbeit – in Dienst zu Schaden gekommene Volksgenossen und solche, die einen Angehörigen unter den Todesopfern von Betriebsunfällen haben – zu einer Weihnachtsfeier und Bescherung in die Zoo-Ausstellungshallen eingeladen. […] Und mitten unter ihnen saß der Gauleiter[…]. ‚Wenn wir euch heute zu dieser Feier gebeten haben‘, so etwa führte der Gauleiter aus, ‚so, um euch das Gefühl zu geben, daß wir an euch gedacht haben. Die kleine Gabe trägt nur ein Weniges zum Fest bei, aber versteht den Sinn: Euer Opfer soll nicht vergessen sein. Diesen Appell richte ich heute an alle, die es vergessen haben. Seit fünf Jahren sage ich den Betriebsführern mit und teilweise auch ohne Erfolg, daß sie sich um die ihnen anvertrauten Menschen zu kümmern haben, um ihre Sorgen, gestern, heute und morgen. Die Dienststellen sorgen, soweit es ihnen möglich ist, daß überall geholfen wird. Diese Zusammenkunft ist symbolisch, und sie soll
174 StaHH A2a1938, 6. Senatsberatung. Mittwoch, den 23. März 1938.
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daran erinnern, daß jeder helfen muß, für jeden das Fest der Freude möglich zu machen.‘ […] Bekamen die Erwachsenen ein Geldgeschenk, so gab es für die Kleinen bei der anschließenden gemütlichen Kaffeetafel große Tüten mit allerlei Naschzeug.“ 175
Den exemplarisch vorgestellten Ereignissen kann entnommen werden, dass Kaufmann sowohl zu Verwaltungsführung als auch Volksnähe befähigt war. Mit Kriegsbeginn trat der Senat in seine vorletzte Periode. Nachdem Kaufmann zwischen 1933 und 1935 überwiegend indirekten Einfluss auf ihn ausübte, und er nach Übernahme der Landesregierung die Arbeitsweise des Senats 1936 bis 1938 faktisch zu einem Ausführungsorgan seiner Vorstellungen der Verwaltung gemacht hatte, setzte mit Kriegsbeginn wieder ein Umschwung ein. In der ersten Sitzung nach Kriegsbeginn erläuterte Krogmann im Senat das vom abwesenden Kaufmann erdachte neue Konzept: „Er habe in Aussicht genommen, regelmäßig am Dienstag und Freitag 16 Uhr Senatsberatungen abzuhalten, in denen lediglich Verordnungen, Erlasse und sonstige Fragen, die von einschneidender Bedeutung für die Hansestadt Hamburg seien, beraten werden sollen. Die Entwürfe seien zwischen den in Frage kommenden Stellen so weit zu klären, daß längere Aussprachen in den Senatsberatungen vermieden würden.“ 176
Grundsätzlich glich dieses geplante neue Verfahren dem Trend, der sich seit 1935 immer weiter verfestigt hatte. Bezeichnenderweise wurde die Erläuterung durch Krogmann auch von niemandem der Anwesenden aufgegriffen, sondern passiv zur Kenntnis genommen 177. Und da die Beratungen seit 1933 ohnehin immer dünner ausfielen, kann es kaum verwundern, dass sich diese weitere Aushöhlung des Senats bis zum Kriegsende weiter fortsetzte 178. Gleichzeitig wurde diese Umwandlung des Senats zu einem autoritär gehandhabten, reinen Verwaltungsorgan auch noch durch weitere Institutionen begünstigt, die Kaufmann eingeführt hatte: Den Ratsherren und den Staatsräten. Die Ratsherren behielten zwischen 1938 und 1945 zwar ihre Rolle ohne größere Abstriche. Aber diese ging nicht über das personifizierte Bündnis von Nationalsozialisten, Bürgertum, Wirtschaft und Verwaltung hinaus. Eine Machtposition erlangte das Rats175 Schm.: „Dank an die Arbeitsopfer. Der Gauleiter gab das Beispiel – Wo blieben die Betriebsführer?“, HT, 8 (1937), H. 345. Hervorhebungen im Original. Dass es sich im gewählten Beispiel zufällig um Parteipresse handelte, ändert nichts an Kaufmanns Bereitschaft zu solchen Zusammenkünften. Die Parteipresse hätte sie lediglich inhaltlich ausschmücken und propagandistisch noch etwas besser präsentieren können, was sie zumindest mit ihrer subjektiven Wortwahl auch versuchte. 176 StaHH A2a1939/1940, 13. Senatsberatung. Dienstag, den 5. September 1939. 177 Vgl. ebd. 178 Vgl. StaHH A2a1941/1943 und StaHH A2a1943/1945.
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herrenkollegium im Gegensatz zum Staatsrat nie. Dies wäre sicherlich auch nicht Kaufmanns Wille gewesen, da er auf die Ratsherren als Individuen weniger direkten Einfluss hatte als auf die Senatoren. Dennoch ist zu fragen, was die Ratsherren für Kaufmanns Herrschaft ab 1935/1936 bedeuteten. Zuerst einmal ist festzustellen, dass sie eine Doppelfunktion hatten. Ihre Einrichtung wäre nicht notwendig gewesen. Die DGO, die die Kommunalparlamente zum 1. Januar 1935 auch formal abschaffte, wurde wegen Hamburgs spezieller Verfasstheit als Land, Staat und Stadt inklusive Staats- wie Gemeindeverwaltung aufgeschoben. Sie wurde erst mit Hamburgs Umwandlung in einen Reichsgau eingeführt. Sie sah jedenfalls als Ersatz für den Wegfall der Kommunalparlamente Ratsherrenversammlungen vor. Diese sollten sich aus verdienten Funktionären der Partei und aus bedeutenden Repräsentanten der Gemeinde zusammensetzen, und dem „Führer der Gemeinde“ beratend zur Seite stehen, sowie seine Maßnahmen innerhalb ihres gesellschaftlichen Bereichs unterstützen. Grundsätzlich bedeutete dies eine weitere rechtliche Verfestigung des Wandels vom kollegialen Kommunalparlament und dem Gemeindeoberhaupt hin zum reinen Verwaltungsstaat mit unverbindlichem Beratungsorgan und „Führer der Gemeinde“. Kaufmann machte dies in der ersten Sitzung am 31. März 1938 deutlich: „Diese Männer aber müssen sich wirklich fühlen als Vertreter der hamburgischen Gesamtheit, nicht als solche von Berufsgruppen, Wirtschaftszweigen oder sozialen Schichten.“ 179 Die eigens ausgearbeitete „Ratsherrenordnung“ vermerkte zur Aufgabe der Ratsherren: „Die Ratsherren haben die Aufgabe, die dauernde Fühlung der Verwaltung der Hansestadt Hamburg mit allen Schichten der Bürgerschaft zu sichern. Sie haben mich [Kaufmann] eigenverantwortlich zu beraten und meinen Maßnahmen in der Bevölkerung Verständnis zu verschaffen.“ 180
Vor allem dieser direkte Draht war es offenbar, der Kaufmann auf die Ratsherreninstitution aufmerksam werden ließ, ohne dass er diese hätte einführen müssen. Denn er hätte sie mit Verweis auf den Staatsrat schon als erledigt bezeichnen können, oder aber notfalls den Staatsrat einfach in eine Ratsherrenversammlung umwandeln können. Jedenfalls sah auch die Zusammensetzung der Ratsherren nicht viel anders aus, als die des Staatsrats, der wie schon dargestellt angefüllt war mit Parteifunktionären und führenden Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Gesellschaft (wobei die Ratsherren aber zumindest die ihnen nach der DGO zustehenden 150 RM Aufwandsentschädigung im Monat erhielten 181). Da Ratsherren und Senat zumeist gegenseitig über ihre Beratungen informiert wurden und sie teilweise deckungsgleich waren, kann es nur „auf den ersten Blick“ verwundern, dass ihre Inhalte oft ähnelten. Alltägliche Themen der Politik wie des 179 StaHH 122-5, 12, Stenographische Berichte über die Öffentlichen Ratsherrenberatungen. 180 Ratsherrenordnung der Hansestadt Hamburg vom 1. März 1938 [o. H.] [o. J.] [o. O.], S. 1. 181 Vgl. StaHH 122-5, 4, Schreiben vom 8. März 1938.
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Pflegewesens 182 in Hamburg blieben dabei nicht aus, ebenso wenig wie teilweise heiklere Fragen, darunter der „Euthanasie“ 183. Dennoch blieben diese Versammlungen der Ratsherren schon hinsichtlich ihrer Häufigkeit und Quantität hinter denen des Senats zurück. Gleiches ließe sich wie im vorherigen Unterkapitel auch für das Verhältnis von Staatsrat und Senat ausführen. Die eigentliche Konkurrenz für den Senat, die ihn faktisch entmachtete und bildlich gesprochen institutionell „beiseite schob“, waren aber wie erwähnt nicht die Ratsherren, sondern die von Kaufmann 1936 eingeführten „Verwaltungsberatungen“. Verwaltungsberatungen selbst waren nichts ungewöhnliches. Das Neue und machtstrategisch äußerst Bedeutungsvolle, das Kaufmann hierbei einbrachte, war aber die Zusammensetzung dieser Beratungen. Denn es handelte sich nicht um interne Beratungen innerhalb eines umgrenzten Zuständigkeitsbereichs einer Teilverwaltung, wie etwa wenn der Senator für Finanzen die Amtsleiter der ihm unterstehenden Finanzbehörde (Behörden waren im Stadtstaat Hamburg gleichbedeutend mit einem Landesministerium) regelmäßig zusammenrief. Denn Kaufmann versammelte in den wöchentlich stattfindenden Verwaltungsberatungen als regelmäßige und dauerhafte Teilnehmer die Senatoren, Stadträte, Leiter der einzelnen Behörden und gar sämtlicher Ämter. Die versammelte Ober- und Mittelinstanz der Verwaltung saß somit einmal in der Woche unter dem Vorsitz Kaufmanns zusammen. Grundsätzlich wurde dort alles besprochen und geregelt, was von den betreffenden Personen als wichtig betrachtet wurde. Faktisch wurde damit das komplette Verwaltungsgeschehen der Ober- und Mittelinstanz zur „Chef-Sache“ gemacht, denn der Ablauf der einzelnen Sitzung entsprach dem innerhalb des Senats: Der fachlich zuständige Amtsinhaber erläuterte eine Angelegenheit und Kaufmann fällte eine Entscheidung, wie dabei weiter vorzugehen sei. Hiermit erhielt Kaufmann einen noch umfassenderen Komplettüberblick über das Verwaltungsgeschehen in Hamburg, von der Frage nach einem Lehrermangel in der Innenstadt, der zu „Unzuträglichkeiten“ geführt habe 184, über die „Müll- und Abfallverwertung […] im Rahmen des Vierjahresplans“ 185 bis hin zur komplizierten Regelung einer einheitlichen Verkehrspolitik im vergrößerten Hafen 186. Auch Themen mit „weltanschaulichem“ Charakter wurden hierbei gelegentlich behandelt, darunter etwa die Frage nach der Möglichkeit, einige jüdische Handelschemiker der IHK Hamburg, die nicht unter die bis dahin geltenden „Arierparagrafen“ fielen 187, ander-
182 Vgl. StaHH 122-5, 20, Niederschrift über die 2. nichtöffentliche Ratsherrenversammlung. 183 Vgl. ebd., Niederschrift über die 5. nichtöffentliche Ratsherrenversammlung. 184 Vgl. StaHH B2a, Bd. 1, 1. Verwaltungsberatung. Freitag, den 16. Oktober 1936. 185 Vgl. StaHH B2a, Bd. 2, 8. Verwaltungsberatung. Mittwoch, den 12. Mai 1937. 186 Vgl. StaHH B2a, Bd. 3, 4. Verwaltungsberatung. Mittwoch, den 16. März 1938. 187 Da die IHK nur eine halb-öffentliche Institution war, galten Regelungen für öffentliche Ämter nicht automatisch für sie.
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weitig zu entfernen. Kaufmann stimmte einer an ihn herangetragenen rechtlichen Prüfung, „ob und was getan werden kann, um diesen Zustand zu beseitigen“, zu 188. Wie sich sein Umgang mit diesen Verwaltungsberatungen weiter entwickelte, ist nicht mehr zu ermitteln. Die Protokolle von 1939 bis einschließlich der „Operation Gomorrha“ vom Sommer 1943 haben sich nicht erhalten. Das erste Protokoll einer Sitzung nach der großflächigen Zerstörung Hamburgs datiert vom 14. August und stellte die neue Regelung auf, dass die Sitzungen nunmehr alle zwei Wochen im Rathaus stattfinden sollten 189. Wie schon erwähnt wurde, gab Kaufmann nach dem Krieg an, er habe nach der Zerstörung Hamburgs nicht mehr an einen Sieg im Krieg geglaubt. Wie noch mehrfach und ausführlich gezeigt wird, war dies keine Schutzbehauptung, sondern lässt sich anhand der Quellen relativ deutlich nachvollziehen. Im Hinblick auf die hier behandelten Verwaltungsberatungen ist dabei aber wichtig zu erwähnen, dass Kaufmann nach dem Sommer 1943 nie wieder an den Verwaltungsberatungen teilnahm 190. Ähnliches wurde hier bereits für sein Wirken als Gauleiter gezeigt, wo bei den Quellen keine solch klaffende Lücke zwischen 1939 und 1943 vorlag. Nach 1936 widmete sich Kaufmann weiterhin auch einzelnen Verwaltungsvorgängen, wobei auch hier wieder Schwierigkeiten bestehen, ein Muster zu erkennen, warum er sich welche konkreten Angelegenheiten vorlegen ließ, für die eigentlich andere Stellen zuständig gewesen wären. Auch hier lässt sich aber vor allem ausmachen, dass es äußerlich prominente Vorgänge waren, mit denen er „glänzen“ konnte, und dass es sich um Schlüsselangelegenheiten handelte, die seinen Einblick und sein Wissen in die groben Vorgänge der gesamten Verwaltung aufrechterhielten und erweiterten. Hierfür können einige Beispiele angeführt werden. Er stellte etwa im Juni 1938 klar, dass er sich die letztendliche Entscheidung über Neu- und Umbenennungen von Straßen selbst vorbehalte (die konkrete Vorarbeit aber wieder anderen überließ) 191. Der Aspekt der Kontrolle kam hierbei auch zum Tragen. Wie bei vielen anderen Fällen war auch hier durch Kaufmanns Klarstellungen und deren Befolgung ein Mechanismus eingesetzt, der die Kontrolle von oben nach unten absicherte. Angesichts der umfassenden Kompetenzfülle, die Kaufmanns Reichsstatthalterschaft nicht zuletzt durch die Umwandlung in den Reichsgau besaß, führte das „Führerprinzip“ hierbei zwangsläufig zu einer starken Kontrolle. Ein vermeintlich unscheinbarer Erlass Kaufmanns kurz nach der Etablierung des Reichgaues verdeutlicht dies sehr gut: „Zwei Durchschläge aller Schreiben auf Kopfbogen ‚Der Reichsstatthalter in Hamburg‘ sind dem Zentralbüro des Reichsstatthalters zuzuleiten, das mich und, soweit erforderlich, die Vertretung in Berlin unterrichtet“ 192.
188 Vgl. StaHH B2c, Geheimniederschrift zu der Niederschrift über die Verwaltungsberatung vom 15. Dezember 1937. 189 Vgl. StaHH B3, Dienstbesprechungen (14.8.1943). 190 Vgl. die Protokolle bis zum Kriegsende in StaHH B3. 191 Vgl. die Akten in StaHH 113-2, A II, 3. 192 StaHH 113-5, A I, 6, Erlass vom 28. April 1938.
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Für die Verwaltung schien dies geradezu geboten, da sie selbst in ihrer schieren Größe den Überblick über die vielen Verwaltungsvorgänge behalten musste. Angesichts von Kaufmanns Hang zu Absicherung und Kontrolle und des allgemeinen nationalsozialistischen „Führerprinzips“ erhält dies aber eine zusätzliche Komponente. Auch wenn Kaufmann also etwas nicht selbst verfasste und/oder unterschrieb, im Verteiler aufgeführt wurde oder etwas zur Kenntnis erhielt, war er (sofern er hiervon Gebrauch machen wollte) über alles in seiner Behörde informiert. Darauf ließe auch sein Zeitplan schließen. Kaufmanns genauer Terminkalender ist zwar nicht erhalten geblieben. Dafür aber eine grobe Einteilung der Woche, an welchen Tagen welche fortlaufenden, standardisierte Aufgaben zu erledigen waren. Sie stammt vom April 1938, wurde also kurz nach Hamburgs Umwandlung in den Reichsgau aufgestellt und galt ausdrücklich für Reichsstatthalter und Gauleiter. Diese sei ausführlich zitiert: „Montags: vormittags und nachmittags: ab 9.30 Uhr Gauhaus Besprechungen mit den Gauamtsleitern Dienstags: vormittags: Besichtigungen nachmittags: ab 15.30 Uhr Harvesthehuderweg 12; Frei für Einzelbesprechungen in Angelegenheiten der Staatsverwaltung und der Gemeindeverwaltung – nach vorheriger Vereinbarung mit dem Zentralbüro – Mittwochs: vormittags: ab 9.30 Uhr Gauhaus, Termine in Gauangelegenheiten – nach vorheriger Vereinbarung mit der Adjutantur des Gauleiters – nachmittags: jeden ersten Mittwoch im Monat: 17 Uhr Ratsherrenberatung jeden zweiten und vierten Mittwoch im Monat: 16 Uhr : Senatsberatung jeden dritten Mittwoch im Monat[:] 16 Uhr: Verwaltungsberatung am fünften Mittwoch (einmal im Vierteljahr)[:] 16 Uhr: Beratung der hamburgischen Verwaltung gemeinsam mit den Leitern der Reichsbehörden in Hamburg Donnerstags: vormittags: freihalten für Besichtigungen nachmittags ab 16 Uhr: Harvesthehuderweg 12 am ersten Donnerstag im Monat: Beratung mit den Abteilungsleitern der Staatsverwaltung, sonst: Einzelbesprechungen in Angelegenheiten der Staatsverwaltung. Freitags: vormittags: freihalten für Besichtigungen nachmittags: ab 15.30 Uhr: Rathaus: frei für Einzelbesprechungen in Angelegenheiten der Gemeindeverwaltung – nach vorheriger Vereinbarung mit dem Zentralbüro des Reichsstatthalters –. Sonnabends: frei zur besonderen Verfügung des Reichsstatthalters.“ 193
Diese grobe Zeiteinteilung bildete ab der Etablierung des Reichsgaues Kaufmanns Tagesrhythmus, wobei sich im Laufe der Jahre einige Veränderungen ergaben, die bereits an anderen Stellen beschrieben wurden, darunter etwa die Senats- oder die Verwal193 StaHH 113-5, A I, 7, Schreiben vom 28. April 1938. Hervorhebungen im Original.
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tungsberatungen. An diesem Dokument sind vielerlei Sachverhalte erstaunlich. Einerseits geht hieraus der „innere Kern“ von Kaufmanns Zeitmanagement hervor. Die Besprechungen mussten schließlich durch die persönliche Beschäftigung mit den dort zu besprechenden Gegenständen vor- und nachbereitet werden. Da hierfür kein Zeitkorridor in dem groben Raster des „Grundgerüsts“ der Wocheneinteilung vorgesehen war, musste diese also in den im Dokument nicht erwähnten Zeiten erfolgen, etwa zwischen Einzelbesprechungen. Alles was nicht explizit im Grundgerüst aufgeführt wurde, musste um dieses herum angelegt werden, was den Zeitplan wegen Kaufmanns vielfältiger Aufgaben enorm anschwellen lassen musste. Ebenfalls erstaunlich ist, dass, obwohl Kaufmann wie dargestellt zwar viele Aufgaben delegierte und sich in vielen Fällen „nur“ die letztgültige Entscheidung vorbehielt, er aber etliche regelmäßige Besprechungen mit untergeordneten Stellen abhielt, die eigentlich nicht notwendig gewesen wären, wenn er sich vollkommen auf diejenigen Personen verlassen hätte, an die er diverse Aufgaben delegierte. Zudem waren mehrere Zeitkorridore für Einzelbesprechungen angelegt, sodass alle kritischeren und/oder größeren Angelegenheiten unter seinem Vorsitz besprochen wurden. Auch ist ein klares Übergewicht der staatlichen Funktionen zu beobachten. Nur montags und mittwochs befand sich Kaufmann im Gauhaus, mittwochs noch dazu nur bis zum Nachmittag, an dem wieder staatliche Aufgaben wahrgenommen wurden. Dienstags, donnerstags und freitags war er jedoch spätestens am Nachmittag nach Besichtigungen wieder im Harvesthehuderweg 12, also der Reichsstatthalterei 194 (zu der noch dazu auch die Post an den Gauleiter auf direktem Wege ging, statt ans Gauhaus 195), wobei zusätzlich noch die
194 Die Adresse „Harvesthehuderweg 12“ der Reichsstatthalterei hat eine eigene, ganz spezielle Geschichte, die hier kurz geschildert werden soll. Das Hamburger Gauhaus befand sich im Harvesthehuderweg 10. Die Villa mit der Hausnummer 12 war 1937 nach dem Tod der jüdischen Vorbesitzerin von der Stadt erworben worden (dies geschah übrigens nicht in der üblichen Form der „Arisierungen“, aber auch nicht regulär). Kaufmann richtete seine Reichsstatthalterei ein und konnte dort ab Januar 1938 regulär arbeiten. Auch andere Ämter wurden dort später angesiedelt, so etwa das Reichsverteidigungskommissariat. Zum Übergang in den Besitz der Stadt, dem Ausbau zur Reichsstatthalterei und der späteren Nutzung von Villa und Grundstück in der Bundesrepublik vgl. Könke, Günter: Das Budge-Palais. Entziehung jüdischer Vermögen und Rückerstattung in Hamburg, in: Herzig, Arno/Rohde, Saskia (Hrsg.): Die Juden in Hamburg 1590 bis 1990. Wissenschaftliche Beiträge der Universität Hamburg zur Ausstellung „Vierhundert Jahre Juden in Hamburg“, Hamburg 1991, S. 657–667. 195 Kaufmann bat als Gauleiter die wichtigsten Korrespondenzpartner wie etwa die Reichsorganisationsleitung nach der Etablierung des Reichsgaues darum, „alle für mich bestimmten Sendungen an diese Anschrift [des Reichsstatthalters] zu richten.“ Vgl. BA B NS 22/713, Schreiben vom 8. April 1938. Sinnbildlicher konnte der Reichsgau kaum dargestellt werden. Ein einfacher Vergleich, wie die Situation zuvor gehandhabt wurde, macht dies nochmals besonders deutlich. Während es nach der Ernennung zum Reichsstatthalter 1933 simpel dabei blieb, dass Parteiangelegenheiten an die Gauadresse und Reichsstatthalterangelegenheiten an die Reichsstatthalteradresse gingen, wurde es mit der zusätzlichen Übernahme der Landesregierung als eigenem Amt kompliziert. In einem Brief an die Parteikanzlei bat er 1936 darum, dass Post an ihn als Reichsstatthalter an die Reichsstatthalterei und als Bürgermeister an das Rathaus gehen sollte.
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Samstage in Funktion des Reichsstatthalters hinzu kommen konnten. Wie bereits dargelegt, vernachlässigte er seine Partei- also zugunsten seiner Verwaltungsarbeit. Zudem ließ Kaufmann relativ viel Raum für Besichtigungen, also repräsentative Funktionen. Insgesamt also ein stattliches Arbeitspensum, zumal diverse Einzeltermine um diese grobe Zeitstruktur herum angelegt werden mussten: Wahrnehmung von weniger hohen Ämtern und Mandaten, öffentliche Auftritte, Tagungen der Gau- und Reichsleiter, politische Termine in Berlin und München, seine Tätigkeit als Parteiredner, die ihn regelmäßig durch das ganze Reich führte oder auch sonstige externe Termine innerhalb Hamburgs. Zudem spiegelt die Übersicht den Zeitpunkt vom April 1938 wider. Spätere Zeiteinteilungen Kaufmanns liegen zwar nicht vor, aber seine Aufgaben verringerten sich keineswegs. Sie nahmen eher noch beträchtlich zu. Jedes dieser Ämter musste ausgefüllt werden. Einige davon konnte er zwar in Hamburg ausüben, wie etwa das Amt des Reichsverteidigungskommissars ab 1939, aber für einige musste er auch regelmäßig nach Berlin reisen, so etwa für die Amtsführung als Reichskommissar für die Seeschifffahrt ab 1942, wobei er als solcher auch noch mehrere Reisen durch Europa unternahm, von Norwegen bis nach Italien. Ob Kaufmann für nach 1938 hinzugekommene Aufgaben Besichtigungen gestrichen und tagsüber länger gearbeitet hat, ist nicht überprüfbar, aber noch am wahrscheinlichsten. In der zitierten Zeitstruktur fehlte jedenfalls bereits Kaufmanns prominente „Sprechstunde“, die jedem Hamburger einmal in der Woche offen stand, und in der persönliche Anliegen vorgebracht werden konnten. Jedenfalls überforderte die enorme Arbeitsbelastung zunehmend Kaufmanns schon seit seinem Flugzeugabsturz 1917 angeschlagene Gesundheit inklusive Spätfolgen. Hierauf wird an der dafür vorgesehenen Stelle noch ausführlich zurückzukommen sein 196. Ab 1943 war er jedenfalls nicht mehr uneingeschränkt tätig. Trotzdem hatte er bis dahin zehn Jahre in dem hier erläuterten Rhythmus gearbeitet. Andere Mitglieder der „NSFührung“ standen vor ähnlichen Organisationsfragen der Zeiteinteilung. Einige schafften es bis zum Ende, mit Geschick und Fleiß eine Organisation aufzubauen, mit derer sie ihrer vielfältigen Aufgaben nachkommen konnten. Als Beispiel hierfür kann Goebbels angesehen werden, der ranghöchste Positionen wie die des Reichspropagandaleiters der Partei, Reichspropagandaministers der Reichsregierung und des Gauleiters von Berlin zugleich ausübte. Andere hingegen konnten trotz des Aufbaues einer entsprechenden Organisation ab einem gewissen Punkt nicht mehr ihren Ämtern und Kompetenzen ausreichend nachkommen. Ein Beispiel hierfür ist Göring, der nicht nur Ministerpräsident von Preußen und Reichsluftfahrtminister (wobei er in beiden Kabinetten zeitweise noch weitere Ministerien leitete), sondern auch noch Leiter der Vierjahresplanbehörde war. Görings Machtverfall ging zwar nicht ausschließlich darauf zurück, dass er seine
Vgl. BA B R 43-II/1386, Schreiben vom 31. August 1936. Parteifragen sollten demnach weiter an das Gauhaus gehen. Es war also eine deutliche Trennung vollzogen worden. Dies war organisatorisch auch wichtig, stellt aber bei Kaufmann einen deutlichen Unterschied zu seinem Verhalten vor der „Machtergreifung“ dar, als er beispielsweise Briefbögen des Landtags für Post an den NSDAP-Reichsorganisationsleiter verwendete. 196 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen in den Unterkapiteln 5.2. und 5.3.
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Funktionen nicht mehr wie von Hitler gewünscht ausüben konnte, aber klar ist, dass er sie etwa ab 1939 auch persönlich nicht mehr auszufüllen vermochte 197. Kaufmann ist also nicht das einzige Mitglied der „NS-Führung“, das unter dem „Ämter- und Kompetenzchaos“ sowie der damit verbundenen Ämterfülle seinen Funktionen ab einem gewissen Punkt nur noch durch delegieren oder gar nicht mehr gerecht werden konnte, wenngleich es solche Personen gab. Kaufmanns Herrschaftssystem war also geprägt von einem Zusammenlaufen aller wesentlichen Informationen und Kompetenzen über verschiedene, voneinander unabhängige Kanäle in Kaufmanns Person selbst. Es ließ sich nur durch das Delegieren großer Teile des „Tagesgeschäfts“ aufrechterhalten, wobei er aber immer alles im Blick behalten, eingreifen und Anstöße geben konnte. Anders ausgedrückt besaß Kaufmanns System drei Prinzipien: Das erste Prinzip bestand darin, das kleinliche „Tagesgeschäft“ zu delegieren, um selbst Zeit zu sparen, und nicht darin unterzugehen. Das zweite Prinzip bestand darin, durch die wöchentlichen Besprechungen mit Senat, Verwaltungs-, Gauamts- und Kreisleitern in allen Sphären vollen Ein- und Überblick zu behalten, die wichtigsten Entscheidungen zu treffen, zentrale Anstöße zu geben und unliebsames abzufedern. Das dritte Prinzip lag darin, durch die Vermeidung von Personalunionen unterhalb seiner eigenen Position sich selbst für alle Sphären unverzichtbar zu machen und keinen potentiellen Nachfolger oder Konkurrenten zuzulassen. Auch Krogmann, Ahrens und die drei aufeinander folgenden stellvertretenden Gauleiter waren immer nur in ihren Bereichen dominant, nie in allen Sphären. Festgehalten wurde dieses System nirgendwo. Es entwickelte sich einfach nach und nach. Da weder zeitgenössische noch retrospektive Quellen sich zu diesem System überhaupt äußern, scheint Kaufmann es eher unbewusst entwickelt zu haben. Weniger sichtbar war die Entwicklung dabei in der Staatssphäre, weil Kaufmann zuerst „nur“ als Gauleiter im Hintergrund wirkte, dann als Reichsstatthalter vor allem über Krogmann und Ahrens delegierte und schließlich mit der eigenen Regierungsübernahme das bis dahin gewachsene System einfach beibehielt, statt es umzuwerfen, und es schließlich weiter ausbaute. In der Parteisphäre war der Wechsel deutlicher, weil Kaufmann trotz allen Delegierens dort vor 1933 doch immer präsent gewesen war, und mit der „Machtergreifung“ in Hamburg dann in der Partei fast völlig auf Delegieren umstellte. Dieses spezifisch Kaufmann’sche Herrschaftssystem in Hamburg ist jedenfalls nur sehr eingeschränkt mit den Herrschaftstechniken anderer Gauleiter vergleichbar. Denn erstens waren nur die wenigsten Gauleiter in der fast schon luxoriösen Situation, dass ihr Gau mit einem Staat übereinstimmte, sodass sie sich nicht mit anderen Gauleitern um Einflussgrenzen streiten mussten. Im „Altreich“ 198 betraf dies neben ihm nur Robert Wagner und Murr im Südosten, Hildebrandt im Nordosten, Alfred Meyer zumindest für
197 Vgl. Overy, R. J.: Goering. The „Iron Man“, London/Boston/Melbourne/Henley 1984, S. 152– 163. 198 Die Reichsgaue der Zeit nach 1938 sind hier wieder nur bedingt vergleichbar, weil dort die Landesinstitutionen zugunsten des Reichsgaues absorbiert und/oder aufgehoben waren, während im „Altreich“ das Nebeneinander nur teilweise eine Ordnung erfuhr.
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Lippe und Schaumburg-Lippe, sowie Mutschmann und Sauckel in Mitteldeutschland. Zweitens aber hatten von diesen sieben Persönlichkeiten zwar alle das entsprechende Reichsstatthalteramt, aber nur Kaufmann, Alfred Meyer, Mutschmann, Murr sowie Robert Wagner verfügten längerfristig zugleich auch über die Regierungskompetenzen. Die „Trias“ von Gauleiter, Reichsstatthalter und Regierungsoberhaupt war also völlig ungewöhnlich und erforderte eine neuartige und in vielerlei Hinsicht improvisierte Herangehensweise. Kaufmann delegierte also den Großteil des „Tagesgeschäfts“ und beaufsichtigte oder überblickte prüfend die Gesamtsituation. Ausnahmen sind die Einzelfälle, die bereits näher erläutert wurden, und sich vor allem auf repräsentative oder publikumswirksame Aspekte beschränkten. Auch hierbei gab es Ausnahme, die in der Regel durch Zufälle entstanden. Eine erwähnenswerte Ausnahme war etwa der Fall eines alten Bekannten aus der Rheinprovinz. Dieser hatte Probleme, den Pachtvertrag seiner Bäckerei zu verlängern und bat Kaufmann um Hilfe. Kaufmann wandte sich an den dortigen Gauleiter Grohé, Grohé beauftragte seinen Kreisleiter, der Kreisleiter den Landrat, der Landrat den Bürgermeister und alles lief unter Beaufsichtigung des Landrats ab. Der Erfolg des Einwirkens der Partei zog sich zwar ungewöhnlich lange hin, aber war zumindestgegeben 199. Das Erstaunliche an diesem gesamten Vorgang ist vor allem die Tatsache, dass sich Kaufmann persönlich und auf direktem Wege für seinen alten Bekannten einsetzte. Er nutzte Stellung und Kontakte und wandte Zeit auf, um ihm zu helfen. Gleichzeitig ließ er in Hamburg das „Tagesgeschäft“ andere verrichten. Der Kontrast ist deutlich. Als „Hamburgs Führer“ hatte er ein Herrschaftssystem entwickelt und immer weiter ausgebaut, welches sich unter anderem darin äußerte, dass er die über dem Tagesgeschehen „schwebende“, prüfende und Impulse gebende Instanz war. Als Privatmann nutzte er aber seine Stellung, um einem Bäcker zu einer neuen Bäckerei zu verhelfen. Aus Kaufmanns Machtvollkommenheit als Reichsstatthalter ergeben sich fast zwangsläufig einige Detailfragen. Es ist beispielsweise bei ranghohen Vertretern des „Dritten Reiches“ die Frage immer sehr prominent gewesen, inwiefern derjenige in antisemitische Aktionen jeglicher Art verwickelt war. Für Kaufmann ist die Antwort auf diese Frage äußerst ambivalent und für seine Amtsführung zugleich beinahe repräsentativ. So stehen etwa solche Verhaltensweisen wie jene in der „Reichspogromnacht“ vom 9. und 10. November 1938 im Raum. Helfferich sah die Ereignisse der eigentlichen Nacht nicht persönlich, da er sich auf einer Fahrt von München nach Berlin befand. Dort am Morgen angekommen, sah er die Folgen der Nacht, die ihn laut eigener Aussage in seinen Memoiren empörten: „Nach Hamburg zurückgekehrt, suchte ich gleich Reichsstatthalter Kaufmann auf. Als ich meiner Entrüstung Ausdruck gab, antwortete er: ‚Wem sagen Sie das? Ich
199 Die gesamte Angelegenheit ist ausführlich dargestellt bei Meis, Daniel: „…glaube, mich in jeder Beziehung für ihn verwenden zu können.“ Persönliche Kontakte zur Einflussnahme im „Dritten Reich“ anhand der Eitorfer Bäckerei des August Broich, in: EH, 43/2021, S. 13–20.
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habe in Hamburg dem Unfug Einhalt geboten. Hier sind nur drei Geschäfte geplündert worden. Weiteres haben meine Männer verhütet.‘“ 200
Ähnlich exkulpierend äußerte sich Krogmann in seinen „Erinnerungen“ über Kaufmanns (Nicht-)Beteiligung: „Ich sah die Folgen erst, als ich am Morgen des 10. November ins Rathaus fuhr und hörte, was in der Nacht geschehen war. Wer für diesen politischen Unsinn verantwortlich ist, wird sich nicht einwandfrei feststellen lassen. Auf jeden Fall hatten die Parteiführung und die Führung der Parteiorganisation nichts damit zu tun. Die Gauleiter, auch Kaufmann, und die obersten Führer der Organisationen waren zur Gedächtnisfeier des 9. November 1923 in München.“ 201
Kaufmann selbst berichtete in Nürnberg als Zeuge unter anderem folgendes:
„Was ich von dieser Aktion erfahren habe aus den anderen Gauen vermittelte mir den Eindruck, daß solche Aktionen zwar stattgefunden hatten, aber keineswegs, daß, von Ausnahmen abgesehen, die Träger der Aktionen Politische Leiter waren. […] Ich selbst habe an der neunten-November-Tagung des Jahres 1938 nicht teilgenommen und bin von München über die beabsichtigte Aktion nicht unterrichtet worden, sondern erfuhr am Abend des 9. November von dem damaligen Leiter der Hamburger Staatspolizei, daß eine solche Aktion bevorstünde. […] Ich selbst erfuhr von dem Leiter der Staatspolizei, daß diese Aktion beabsichtigt sei. Ich habe den Befehl für den Gau Hamburg gegeben – danach wurde ich ja gefragt hier –, daß sofort durch Beamte der Staats- oder Kriminalpolizei die Geschäftsstraßen und Wohnviertel der Juden in Hamburg zu sichern seien. Ausgeführt hat polizeilich diese Maßnahme der Kriminalkommissar Winke, dem ein Gauinspekteur zur Unterstützung von mir beigegeben war. Außerdem habe ich unverzüglich nach der Information durch die Staatspolizei die Kreisleiter angerufen und sie für die Verhinderung dieser Aktion in ihrem Gebiet verantwortlich gemacht. […] In der ersten Nacht, das heißt vom 9. auf 10. November, sind auf Grund meiner Maßnahmen Ausschreitungen nicht vorgekommen. Es haben kleinere Ausschreitungen in unbedeutendem Maße in der Nacht vom 10. auf 11. stattgefunden, und eine Synagoge ist entgegen meinen Maßnahmen – ich nehme an, von auswärtigen Elementen – angezündet worden.“ 202
Es gibt mit Abstand keine einzige Nachkriegsaussage Kaufmanns, in der er die Realität so verzerrt wiedergab. Kaufmann war aber sehr wohl an der Durchführung der „Reichspogromnacht“ in Hamburg beteiligt, Gegenbefehle hat es nicht gegeben, es brannte 200 Helfferich: Tatsachen, S. 100. 201 Krogmann: Hakenkreuz, S. 341. 202 Prozeß Nürnberg, Bd. XX, S. 46–48.
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mindestens eine Synagoge und er selbst wusste von alledem 203. Bei der Untersuchung seiner Beteiligung an der „Reichspogromnacht“ in Hamburg handelt es sich um einen der in der Einleitung beschriebenen drei Aufsätze, die sich bislang mit Kaufmann beschäftigt haben. Die „Reichspogromnacht“ selbst ist bereits ausgiebig untersucht worden 204. Besonders wichtig für die in der vorliegenden Arbeit behandelte politische Biografie Kaufmanns ist hierbei der institutionelle Ausgangspunkt der Pogrome. Es war in persönlicher Abstimmung mit Hitler nämlich Goebbels, der die Aktionen beim jährlichen Gedenktag der „Alten Kämpfer“ in München an den Putschversuch von 1923 spätabends „einleitete“. Die versammelten Gauleiter ließen sich hiernach telefonisch mit ihren Gauen verbinden. SA, Polizei, Feuerwehr und SS (die drei letzteren ohnehin in Personalunion miteinander verbunden) traten erst danach in Aktion 205 (was Himmler offenbar mit Blick auf den Konkurrenten Goebbels störte, aber wegen Hitlers Anweisungen für ihn nicht zu ändern war 206). Die ersten gewalttätigen Aktionen gingen also von der Parteiorganisation aus, genauer gesagt von den führenden Persönlichkeiten der einzelnen Gaue. Für Hamburg hätten die Aktionen also eigentlich von Kaufmann ausgehen müssen. Hier beginnen die Widersprüche für seine Beteiligungsart. Krogmann behauptete wie zitiert, dass Kaufmann nicht in Hamburg war, sondern in München. Krogmann konnte einerseits nicht wissen, dass die Forschung später herausfinden würde, dass die Befehle von den in München weilenden Gauleitern telefonisch durchgegeben wurden. Andererseits drückte er damit aus, dass Kaufmann mangels Anwesenheit nicht verantwortlich sein konnte. Kaufmann hingegen behauptete wie zitiert, er sei nicht in München gewesen. Aus seiner Wortwahl ging hervor, dass er davon ausging (oder wusste), dass die Befehle über München ausgegeben wurden. Er konnte nicht wissen, dass die Forschung erst später herausfinden würde, dass die Befehle aus München telefonisch durchgegeben wurden. 203 Für den Gau Hamburg wurde der institutionelle Ablauf der „Reichspogromnacht“ ausgehend von Kaufmann als obersten Nationalsozialisten bereits untersucht, der auch klar die Verantwortlichkeit von Personen wie Kaufmann oder seinen Kreisleitern ergeben hat. Dabei handelt es sich um einen der drei in der Einleitung beschriebenen Aufsätze, die sich mit Kaufmann auseinandersetzen. Vgl. Sielemann: Fragen. Bis dahin ist aufgrund der dünnen Quellenlage oftmals davon ausgegangen worden, dass Kaufmann zu den wenigen Gauleitern gehört habe, die von den Vorbereitungen und der Ausführung des Pogroms nichts wussten und sich ihm schließlich in den Weg gestellt hätten. Dies beruhte nicht zuletzt darauf, dass alle höherrangigen Persönlichkeiten Hamburgs dies in den Nachkriegsverfahren so zu Protokoll gaben, wenngleich sie hierbei mitunter starke Widersprüche aufwiesen. 204 Vgl. umfassend das Werk von Benz, Wolfgang: Gewalt im November 1938. Die „Reichskristallnacht“. Initial zum Holocaust, Berlin 2018. 205 Die exakte Zeitabfolge hat untersucht Adam, Uwe Dietrich: Wie spontan war der Pogrom?, in: Pehle, Walter H. (Hrsg.): Der Judenpogrom 1938. Von der „Reichskristallnacht“ zum Völkermord, Frankfurt am Main 1987, S. 74–93, hier S. 89. 206 Vgl. zum Zusammenhang Friedländer, Saul: Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 1. Die Jahre der Verfolgung 1933–1939, 3. Aufl., München 2007, S. 294–296.
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Die Klärung der Widersprüche wird dadurch verkompliziert, dass am frühen Nachmittag eine Senatssitzung mit Kaufmann und Krogmann stattfand, nach der Kaufmann theoretisch noch Zeit gehabt hätte nach München zu fliegen. Aber wie zutreffend bemerkt worden ist, hätte Kaufmann auf keinen Fall einen solch wichtigen Erinnerungstag des Nationalsozialismus verstreichen lassen (zumal nicht den 15. Jahrestag), schon gar nicht angesichts des kleinen ausgewählten Kreises, der hierzu zusammenkam, und erst recht nicht hinsichtlich Kaufmanns Position in der „NS-Führung“. Zudem wurde angemerkt, dass Kaufmann bei den entsprechenden Gedenkveranstaltungen in Hamburg am gleichen Tag fehlte 207. Es spricht also einiges dafür, dass Kaufmann in München weilte und wie jeder andere Gauleiter seine Befehle telefonisch ohne Nachweis durchgab. Kurz vor Mitternacht erhielt die Hamburger Gestapo von ihrer Zentrale in Berlin die Information über das Vorgehen. Hierzu zählte auch die Anordnung, dass der jeweilige Gestapochef sich mit dem zuständigen „Politischen Leiter“ zu besprechen habe (notfalls telefonisch), diesem Himmlers Anweisungen an die Polizei erklären sollte und das Vorgehen der politischen Seite an das der polizeilichen angepasst werden musste. Dass Kaufmann vom Hamburger Gestapochef informiert wurde, gab er unumwunden zu („erfuhr von dem Leiter der Staatspolizei, daß diese Aktion beabsichtigt sei“ 208), nur um kurz darauf zu betonen, er habe Gegenbefehle erteilt („daß sofort […] die Geschäftsstraßen und Wohnviertel der Juden […] zu sichern seien“ 209). Was mit der „Sicherung“ im gesamten Reichsgebiet gemäß Himmlers Anweisungen an seine Polizei gemeint war, war stets folgendes: Sicherung von nichtjüdischen Nachbargebäuden, Sicherungen von Synagogenarchiven und Sicherungen vor Plünderungen bei den geplanten Zerstörungen. Kaufmann machte also nichts anderes, als die von der Gestapo (auf die er ohnehin wenig bis gar keinen Einfluss hatte) an ihn herangetragenen Maßnahmen politischerseits zu bestätigen, und sie nach dem Krieg dann einfach als Schutzmaßnahmen für Juden darzustellen. Der sprachliche Interpretationsspielraum ließ dies theoretisch zu. Ähnlich ließen sich im Übrigen die weiteren Behauptungen Kaufmanns zur „Reichspogromnacht“ in Hamburg widerlegen. Weder hatte er seinen Kreisleitern das Einschreiten zugunsten der Juden befohlen, noch waren keine Ausschreitungen oder Zerstörungen von jüdischem Besitz in Hamburg erfolgt. Etliche Geschäfte wurden zertrümmert und eine der Synagogen brannte. Es blieb nicht bei materiellen Schäden, denn wie überall wurden auch in Hamburg männliche Juden verhaftet und ins Konzentrationslager verbracht. Mindestens 873 sind nachweisbar, die Dunkelziffer dürfte etwas höher liegen, auch die Schätzungen liegen mitunter bei knapp 1300. Nachdem zumindest das Vorgehen gegen die Synagogen zentral von Berlin aus gestoppt wurde, handelte einer von Kaufmanns Kreisleitern in Zusammenarbeit mit einem SS-Führer aktiv gegen zwei weitere Synagogen und eine Leichenhalle. Offenbar war der Einstellungsbefehl nicht recht207 Vgl. detailliert Sielemann: Fragen, S. 479f. 208 Prozeß Nürnberg, Bd. XX, S. 47. 209 Ebd.
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zeitig zu ihnen gelangt. Gerade dies zeigt aber, dass vorher oder gleichzeitig keine Gegenbefehle von Kaufmann an seine Kreisleiter ergangen waren 210. Kaufmann wusste über all dies Bescheid, und er ergriff weder Gegenmaßnahmen noch andere Möglichkeiten der Verzögerung oder Abmilderung. Hätte damit jemand entgegen seinen ausdrücklichen Gegenbefehlen gehandelt, wäre das im totalitären „Dritten Reich“ des Jahres 1938 mit seinem „Führerprinzip“ eine Befehlsverweigerung ersten Grades gewesen, die entsprechende Konsequenzen nach sich hätten ziehen müssen, egal ob es sich um einen Kreisleiter oder einen anderen Funktionär gehandelt hätte. Umso mehr musste dies sogar in Hamburg gelten, wo der Einfluss des Gauleiters weit umfassender war als in den meisten anderen Gauen. Doch nichts geschah. Er handelte nicht anders als die anderen Gauleiter. Hiermit reiht er sich nahtlos in die Reihe der anderen Gauleiter ein. Auf der anderen Seite ist mehrfach nachweisbar, dass Kaufmanns Antisemitismus nicht strikt dogmatisch ausgerichtet war. Ein hervorragendes Beispiel bietet ein NSDAPBürgermeister des Hamburger Stadtteils Bergedorf. Der betreffende Bürgermeister war schon seit 1927 Parteimitglied und musste wie alle Beamten seinen „Ariernachweis“ erbringen. Der sogenannte „Arierparagraf“ des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ ermöglichte es den staatlichen Institutionen in seinen verschiedenen Erweiterungen „Nichtarier“, also Juden, Sinti und Roma und politisch „Unerwünschte“ aus ihren Positionen in den Verwaltungen zu entlassen 211. Hierauf fand das Reichsinnenministerium heraus, dass drei seiner vier Großeltern „Volljuden“ waren, er also aus seiner Position zu entfernen war. Kaufmann sperrte sich dagegen und ließ es auf eine Machtprobe ankommen. Die gewann er, wie nicht anders zu erwarten. Der betreffende „Parteigenosse“ wechselte erst ein Jahr später „ehrenvoll“ aus dem Amte in die Wirtschaft. In einem Staatsunternehmen stieg er sogar noch zum Vorstandsvorsitzenden auf und durfte weiterhin die NSDAP-Uniform der „Politischen Leiter“ tragen. Kaufmann und der Senat setzten den „Arierparagraf“ also so um, wie sie es für richtig befanden. Und wenn ein „Alter Kämpfer“ der Hamburger NSDAP darunter fiel, musste er geschützt werden. Genau diesen „Arierparagrafen“ nutzten Kaufmann und Senat aber überdurchschnittlich ausgiebig, um missliebige Beamte aus der Hamburger Verwaltung zu entfer210 Vgl. detailliert ebd., S. 480–500. 211 Wenn der Weg einen missliebigen Beamten zu entfernen nicht über einen „Ariernachweis“ gelang, gab es in dem betreffenden Gesetz noch weitere Möglichkeiten, dies legal und rechtlich einwandfrei zu erreichen. Wer beispielsweise in einer „politisch unzuverlässigen“ Partei aktiv gewesen war, also vor allem in SPD und KPD, je nach Auslegung aber grundsätzlich in beinahe allen Parteien außer NSDAP und DNVP, konnte auch mit Verweis hierauf entlassen werden. Selbst wer darüber nicht zu beseitigen war, konnte notfalls noch mit Verweis auf die Straffung der Verwaltung aus seinem Dienstverhältnis entlassen werden. Das Gesetz jedenfalls „machte Schule“. Durch „Gleichschaltung“ und „Selbstgleichschaltung“ übernahmen etliche Vereine und Organisationen entsprechende Regelungen für ihre Statute. Und auch andere aus „rassischen“ Gründen unerwünschte Gruppen erhielten später ihre eigenen modifizierten „Arierparagrafen“. Vgl. näher Schleunes, Karl A.: The Twisted Road to Auschwitz. Nazi Policy Toward German JewS. 1933–1939, 2. Aufl., Urbana/Chicago 1990, S. 102–106.
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nen, von Juden bis Sozialdemokraten. Da nach der Rechtslage jeder Fall der zu Entlassenden durch den Senat vorgeschlagen und vom Reichsstatthalter durchzuführen war, waren Kaufmann all diese Fälle inklusive ihrer inneren Uneinheitlichkeit bekannt 212. Er wusste von jedem Entlassenen. Zugleich aber zeigte Kaufmann an Einzelfragen beispielsweise der „Arisierungen“ keinerlei näheres Interesse oder Engagement, und überließ die Vorarbeit wie meistens anderen, bevor er die ausgearbeiteten Kaufverträge genehmigte oder zurückwies 213. Er sprach öffentlich über die „Arisierungen“, auch und gerade darüber, dass sie seiner Auffassung nach angebracht und notwendig seien. Dass er über ihren Ablauf Bescheid wusste kann nicht angezweifelt werden. Aber hatte er auch von den mitunter hochdramatischen Ereignissen um die einzelnen „Arisierungen“ Kenntnisse? Wusste er, was sich hinter dem Begriff der „Entjudung“ der Wirtschaft verbarg? Kaufmann muss von den einzelnen „Härten“ der „Arisierungen“ Kenntnis gehabt haben, da er sich wie dargelegt über alle entscheidenden Verwaltungsvorgänge informieren ließ und ständige Besprechungen über tagesaktuelle Angelegenheiten in der Staats-, Gemeinde- sowie der Parteiverwaltung abhielt, bei denen er auch mündliche Anweisungen gab. Aus Sicht der Akten griff er aber nicht aktiv in „Arisierungen“ ein. Innerhalb der Verwaltung oblag die Durchführung in Abstimmung mit den anderen beteiligten Institutionen, wie etwa der Gestapo, dem Leiter des „Führungsstabes Wirtschaft“ innerhalb der Behörde des Reichsstatthalters. Wie erläutert unterstanden die einzelnen Führungsstäbe Kaufmann direkt, sodass er über deren Leiter unmittelbare Kenntnisse über größere Vorgänge hatte. Ob er die konkreten Schriftvorgänge aber zu sehen bekam, ist fraglich. In der Regel liefen sie über den erwähnten Leiter. Sowohl unter den gedruckten wie handschriftlichen Namen der Personen, denen die Schriftstücke zur Kenntnisnahme vorgelegt wurden, tauschte Kaufmann selbst nicht auf. Verdächtig sind hierbei bei einzelnen Dokumenten gelegentlich unaufgelöste Kürzel. In einem Schriftstück beispielsweise, welches sich mit der komplizierten rechtlichen Situation von eingelagertem
212 Vgl. näher Bajohr: Arisierung, S. 84–88. 213 Kaufmanns „Plan“ für die institutionellen Zuständigkeiten bei den „Arisierungen“, die aufgrund der speziellen Rechtsgestalt Hamburgs als Reichsgau mit kommunalem und regionalem Charakter nahezu vollständig bei ihm selbst lagen, sah vor, dass er zwar wie immer eine abschließende Entscheidungsgewalt besaß, das „Tagesgeschäft“ inklusive der einzelnen Entscheidungen aber wie stets andere zu übernehmen hatten. Hierauf wird nachfolgend noch näher eingegangen. Ausnahmen, in die er tatsächlich selbst noch vor der Entscheidung über Genehmigung von Kaufverträgen eingriff, waren hierbei etwa der bereits erwähnte Budge-Palais. Ein sehr berühmter Fall, bei dem Kaufmann selbst steuernd eingriff war der des Bankhauses „M. M. Warburg & Co.“. Als dessen „Arisierung“ Anfang 1938 begann, schaltete sich Kaufmann ein und beeinflusste unmittelbar das Reichswirtschaftsministerium. Ziel war es, die Bank als eigenständige hamburgische Bank zu erhalten, sodass sie erstens nicht von einer anderen Bank oder einem nichthamburgischen Konkurrenten übernommen werden und zweitens als integraler Bestandteil der hamburgischen Außenhandelswirtschaft erhalten bleiben konnte. Vgl. hierzu Bajohr: Arisierung, S. 253–256. Allgemein zur Geschichte der Bank vgl. Kleßmann, Eckart: M. M. Warburg & CO. Die Geschichte eines Bankhauses, Hamburg 1999.
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jüdischen Besitz im Ausland befindlicher Juden mit mehreren Staatsangehörigkeiten beschäftigte, wird in der Kenntnisnahme ein „C.“ 214 genannt. Dies könnte auf Krogmann hinweisen, der zeitgenössisch teilweise mit C und teilweise mit K geschrieben wurde. Auch ein „Herr xx“ tauchte in den Kenntnisnahmen auf 215. Warum hieraus ein solches Geheimnis gemacht wurde ist unklar, zumal Kaufmann mündlich alles erfahren konnte, was er oder ihm jemand zur Kenntnis geben wollte. Hinsichtlich der allgemeinen Organisation von „Arisierungen“ auf Reichsebene lassen sich aber einzelne Dokumente ausmachen, die (auch neben den schon erwähnten unterschriftsreifen Kaufverträgen) an Kaufmann persönlich gingen. Beispielsweise erhielt er ein Rundschreiben des Reichsfinanzministers, welches sich auf die rechtliche Behandlung von jüdischem Vermögen bezog 216. Auch hierbei ist aber nicht klar, ob er diese Informationen einfach zur Erledigung an die zuständigen Stellen innerhalb der ihm unterstehenden Verwaltung weiterreichte, oder ob er sich hierbei selbst einschaltete. Für Kaufmanns Handeln hinsichtlich der Vermögensverwertungen von enteigneten und teilweise deportierten Juden ist also grundsätzlich das gleiche festzuhalten, wie in seiner gesamten Tätigkeit als Reichsstatthalter (was nicht heißt, dass sich Hamburg als Gebietskörperschaft zurückgehalten hätte, und nur das von Reichsinstitutionen wie der SS geforderte durchführte, sondern mit erheblicher Eigeninitiative arbeitete 217). Kaufmann delegierte und ließ andere das „Tagesgeschäft“ erledigen. Durch seine ständigen Besprechungen wurde er aber über alles unterrichtet, was in „seiner“ Verwaltung vor sich ging. Soweit also zur persönlichen Einsichtnahme Kaufmanns innerhalb der Staatssphäre. Quellentechnisch noch schwieriger sieht es hinsichtlich der Parteisphäre aus. Die eigentliche zentrale Koordinationsstelle für die „Arisierungen“ in Hamburg war der Gauwirtschaftsberater, der zudem auch noch recht eigenständig arbeitete. Es haben zwar relativ wenige Akten den Krieg überstanden. Nicht zuletzt deshalb ist es schwierig, hierbei ein direktes Schriftstück oder einen Nachweis zu finden, der eine direkte Verbindung zu Kaufmann herstellt 218. Aber das, was in den vorherigen Absätzen ausführlich zur Staatssphäre erläutert wurde, trifft hier ebenfalls zu: Selbst wenn Kaufmann keine einzige Akte zu „Arisierungen“ aus dem Gauverwaltungsapparat persönlich zu Gesicht bekommen hätte, wäre über die ständigen Besprechungen ohnehin alles zu erfahren gewesen. Und die Genehmigungen für die Kaufverträge inklusive Gutachten und Vertragsentwürfen liefen wie erwähnt ohnehin über seinen Schreibtisch. 214 Vgl. StaHH 113-6, 6, Schreiben vom 14. Dezember 1940. 215 Vgl. ebd., Vermerk vom 25. Januar 1941. 216 StaHH 113-6, 14, Rundschreiben vom 5. September 1942. 217 Vgl. hierzu näher Bajohr, Frank: Die Deportation der Juden: Initiativen und Reaktionen aus Hamburg, in: Meyer, Beate (Hrsg.): Die Verfolgung und Ermordung der Hamburger Juden 1933– 1945. Geschichte, Zeugnis, Erinnerung, Göttingen 2006, S. 33–41. 218 Vgl. grundlegend zur Arbeit des Gauwirtschaftsberaters Wolff und dem institutionellen Ablauf der „Arisierungen“ in Hamburg Bajohr: Arisierung, S. 174–186.
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Noch eine weitere Einzelfrage muss bei Kaufmanns Antisemitismus besprochen werden, nämlich jene nach seinem Wissen um und über die „Shoa“. Es ist beinahe schon eine klassische Frage, die sich bei fast jeder Biografie einer Person des Nationalsozialismus stellt. Klar ist dabei in der Regel, dass Bescheid wusste, wer Bescheid wissen wollte und nicht aktiv Augen und Ohren verschloss. Die Frage ist aber, wie es mit dem einzelnen Mitglied der „NS-Führung“ aussah. Denn auch hier muss wie immer differenziert werden, was jemand grob wissen konnte und was jemand konkret nachweisbar wusste. Kaufmann selbst stritt jedes Wissen darüber ab. Zugleich gibt es aber Zeugnisse, die gerade dieses Wissen über das Geschehen belegen. Es sind nur sehr wenige Quellen, aber ihr Inhalt lässt zumindest darauf schließen, dass er wenigstens die Umrisse des Völkermords erkannte. Ein zentrales Dokument stammt vom 4. September 1942 und war an Göring gerichtet. In diesem Schreiben erklärte Kaufmann nicht nur, dass er schon im September 1941 auf Hitler zugegangen sei, um wegen der Luftangriffe und Zerstörungen von Wohnungen die Hamburger Juden abzutransportieren, damit die freien Wohnungen an „Ausgebombte“ vergeben werden könnten. Hitler habe zugestimmt und das Nötige über Himmler als den Zuständigen unmittelbar in die Wege geleitet. Einen Monat später begannen die Deportationen aus Hamburg in Richtung Osten, darunter Riga, Auschwitz und Minsk 219. Es wurde angemerkt, dass Hitler das gleiche Ansinnen Goebbels' nur einen Monat vor Kaufmann noch abgelehnt hatte 220. Es war innerhalb dieses einen Monats ein Politikwechsel eingetreten. Denn ziemlich genau auf den September 1941 lässt sich der „Wendepunkt“ in der „Shoa“ feststellen. Während im Osten bereits länger Massenerschießungen stattfanden, in den Ghettos und Teilen des Lagersystems Zehntausende verhungerten, sowie im Wahrtegau schon Gaswagen fuhren, blieben die Juden innerhalb des „Altreichs“ noch von der Deportation mit anschließender Vernichtung durch Kugeln, Gas, Hunger oder Arbeit verschont. Dass die Entscheidung schließlich im September dahingehend fiel, dass eben diese Juden schnellstens deportiert werden sollten, hatte mehrere Gründe. Kaufmann war im Zeitraum bis zum Einsetzen der Deportationen nicht der einzige und auch nicht der ranghöchste gewesen, der dies bei Hitler zur Sprache gebracht hatte. Auch andere Faktoren drängten zu einer Neuorganisation. Da war etwa das Kompetenzdurcheinander in den beteiligten Stellen. Es gab die noch bis zum „Steckenbleiben“ des „Unternehmens Barbarossa“ im Herbstschlamm in Sicht genommene Deportation aller europäischen Juden über die künftige deutsche Ostgrenze hinweg nach Sibirien. Es stellte sich die Frage und die Möglichkeit der Koordinierung der unterschiedlichen regionalen Ansätze zum Völkermord. Und nicht zuletzt drängte es Himmler, für die Verwendung einer Mordmethode zu sorgen, die den Völkermord quantitativ verschnellerte und weniger Belastung für „seine“ SS-Männer bedeutete. Viele weitere Gründe ließen sich 219 Vgl. näher Bajohr: Kaufmann, S. 81. Detailliert zu den Deportationen aus Hamburg vgl. Meyer, Beate: Die Deportation der Hamburger Juden 1941–1945, in: Meyer, Beate (Hrsg.): Die Verfolgung und Ermordung der Hamburger Juden 1933–1945. Geschichte, Zeugnis, Erinnerung, Göttingen 2006, S. 42–78. 220 Vgl. Sielemann: Fragen, S. 494.
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anführen 221. Kaufmanns Vorsprechen bei Hitler wird hierbei also nicht ausschlaggebend für den „Wendepunkt“ der „Shoa“ gewesen sein. Aber es bildete einen der vielen Faktoren, die zeitlich damit zusammenfielen. Unabhängig hiervon ist zu fragen, ob Kaufmann wusste, dass „Deportation“ nicht (wie es die Propaganda oftmals vermittelte) hieß, dass die Betreffenden zum „Arbeitseinsatz“ unter humanen Bedingungen kommen würden, sondern dass es in der Regel bis auf beschränkte Ausnahmen wie Theresienstadt entweder sofortige Vernichtung in einem Vernichtungslager oder (mehr oder minder) langsame Vernichtung durch Zwangsarbeit und Unterernährung in einem Konzentrations- oder Arbeitslager bedeutete. Unmittelbare Zeugnisse über Kaufmanns Wissen hierzu gibt es nicht. Es wäre jedoch sehr verwunderlich, wenn er hierüber nichts genaueres gewusst hätte. Nicht „nur“ weil er ein ranghohes Mitglied der „NS-Führung“ war, sondern vor allem weil er in der Hamburger Führung um sich herum Personen hatte, die unmittelbar mit der „Endlösung“ in Kontakt gerieten. Personen wie Hans-Adolf Prützmann oder auch Bruno Streckenbach, die beide groß angelegte Erschießungen im eroberten Osten koordinierten, arbeiteten in Hamburg eng mit Kaufmann zusammen. Prützmann stand von 1937 bis 1941 der Hamburger SS und Polizei vor und war ab Juni 1941 an zentraler Stelle mit der Koordinierung von Erschießungen im eroberten Osten befasst 222. Streckenbach leitete von 1933 bis 1938 die Hamburger Gestapo und war danach bis Kriegsbeginn Inspekteur von SiPo und SD. 1939 leitete er eine der Einsatzgruppen in Polen, deren einziger Zweck in der Erschießung von Juden und polnischer Elite lag. 1940 wurde er RSHA-Amtschef und ging 1943 an die Ostfront 223. Sollte der Antisemit Kaufmann von den Antisemiten Prützmann oder Streckenbach, die den Traum der meisten Antisemiten scheinbar wahr machten, nicht bei Gelegenheit informiert worden sein? Es ist unwahrscheinlich. Auch andere Quellen geben direkte wie indirekte Hinweise auf Kaufmanns Mitwisserschaft. Eine der wichtigsten Quellen hinsichtlich der Frage nach dem Wissen der „NSFührung“ ist die zweite „Posener Rede“ Himmlers vom 6. Oktober 1943. Besonders bekannt ist diese Rede dafür geworden, dass Himmler (zu diesem Zeitpunkt immerhin Reichsführer SS, Chef der Deutschen Polizei, Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums und Reichsinnenminister, also jemand, der von mehreren beteiligten Seiten wusste, worum es in der „Shoa“ ging) auf einer Tagung der Reichs- und Gauleiter
221 Zur vielschichtigen Problematik, die sich dem „Dritten Reich“ hinsichtlich der angestrebten „Endlösung“ im Herbst und Winter 1941 entgegenstellte vgl. Longerich, Peter: Wannseekonferenz. Der Weg zur „Endlösung“, München 2016, S. 32–56. 222 Vgl. Klee: Wer, S. 473. 223 Vgl. Wildt, Michael: Der Hamburger Gestapochef Bruno Streckenbach. Eine nationalsozialistische Karriere, in: Bajohr, Frank/Szodrzynski, Joachim (Hrsg.): Hamburg in der NS-Zeit. Ergebnisse neuerer Forschungen, Hamburg 1995, S. 93–123.
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ungewöhnlich offen über das sprach, was er sonst sprachlich geschickt umging. Kaufmann befand sich laut Speer unter den versammelten Gauleitern 224. Himmler führte unter anderem folgendes in seiner Rede aus: „Ich bitte Sie, das, was ich Ihnen in diesem Kreise sage, wirklich nur zu hören und nie darüber zu sprechen. Es trat an uns die Frage heran: Wie ist es mit den Frauen und Kindern? – Ich habe mich entschlossen, auch hier eine ganz klare Lösung zu finden. Ich hielt mich nämlich nicht für berechtigt, die Männer auszurotten – sprich also, umzubringen oder umbringen zu lassen – und die Rächer in Gestalt der Kinder für unsere Söhne und Enkel groß werden zu lassen. Es musste der schwere Entschluss gefast werden, dieses Volk von der Erde verschwinden zu lassen. […] Ich habe mich für verpflichtet gehalten, zu Ihnen als den obersten Willenstragern, als den obersten Würdentragern der Partei, dieses politischen Ordens, dieses politischen Instruments des Führers, auch über diese Frage einmal ganz offen zu sprechen und zu sagen, wie es gewesen ist. – Die Judenfrage in den von uns besetzten Ländern wird bis Ende dieses Jahres erledigt sein.“ 225
Auch über Einzelheiten sprach Himmler in seiner Rede, er erwähnte gar ganze Leichenhaufen. Nach einem solchen Vortrag ausgerechnet durch Himmler können für Kaufmann Wissen um die Juden kaum noch Zweifel. Wenn Kaufmann nicht schon vorher Bescheid wusste, wovon ausdrücklich nicht auszugehen ist, so war er spätestens ab dem 6. Oktober 1943 informiert. Unabhängig davon, wann Kaufmann nun definitiv näheres über die „Shoa“ wusste, ist auch noch zu fragen, was er hiervon hielt. Nach dem Krieg behauptete Kaufmann immer, er habe vom Antisemitismus nichts gehalten, er sei nur immer davon überzeugt gewesen und habe danach gehandelt, dass Juden nicht mehr Macht besitzen dürften, als ihnen prozentual als Bevölkerungsgruppe zustünde. Selbst wenn eine solche Quotierung Kaufmanns Ziel war, ist er dennoch weit darüber hinausgeschossen. Fraglich ist, ob dies an einer Radikalisierung während des Verfolgens seines Ziels lag. Dies ist möglich, aber eher unwahrscheinlich. Kaufmann griff nie näher in den Antisemitismus ein. Seine Hauptbetätigungsfelder lagen in anderen Programmpunkten des Nationalsozialismus. Dass er Antisemit war, steht wie schon an anderer Stelle erläutert außer Frage. Dabei entsprach er aber eher dem durchschnittlichen Antisemiten der NSDAP. Kaufmann wollte zwar die Hamburger Juden möglichst schnell deportiert wissen, und genau hierfür intervenierte er sogar bei Hitler. Mit dem gelegentlichen Einmischen in „Arisierungen“ zugunsten der Partei oder treuer „Parteigenossen“ hatte er auch kein Problem. Und die enorme Machtfülle, über die er in Hamburg verfügte, nutzte er 224 Vgl. Sereny, Gitta: Das Ringen mit der Wahrheit. Albert Speer und das deutsche Trauma, Frankfurt am Main/Wien 1996, S. 460. 225 Rede vor den Reichs- und Gauleitern in Posen am 6. 10. 1943, in: Himmler, Heinrich: Geheimreden 1933 bis 1945 und andere Ansprachen, Frankfurt am Main/[West-]Berlin/Wien 1974. Herausgegeben von Bradley F. Smith und Agnes F. Peterson, S. 162–183, hier S. 169f.
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nicht, um antisemitische Maßnahmen aus Berlin beziehungsweise München oder der eigenen Hamburger Parteibasis abzuschwächen oder gar abzustoppen (wobei Hamburg hinsichtlich der Judenverfolgung ohnehin ein spezieller Fall war 226). Innerhalb des antisemitischen Kurses des „Dritten Reiches“ kam Kaufmann seiner Funktion nach: Von der Vorbereitung des Aprilboykotts, über das Gewährenlassen mittlerer und unterer Parteiebenen, bis hin zur Genehmigung der „Arisierungen“ und dem Druck des Deportationsbeginns. Entgegen einer inneren Überzeugung handelte er hierbei nicht, sonst hätte er innerhalb seiner Möglichkeiten Gegenmaßnahmen ergreifen können. Er war aber auch keiner der extremen „Scharfmacher“ wie Streicher oder gar Arthur Greiser 227. Weder verbreitete er den Antisemitismus im größeren Stile weiter, noch radikalisierte er sich selbst oder die ihm Unterstehenden. Auch ging er keine eigenen regionalen Wege der „Endlösung“, wie es in anderen Gauen mitunter vorkam. Der Höhepunkt war in Hamburg „schon“ mit Kaufmanns Vorsprache bei Hitler im September 1941 erreicht, statt einem eigenen Vorgehen. Auch die Frage nach dem sogenannten „Kirchenkampf“ der Nationalsozialisten muss bei einer Gauleiterbiografie zumindest kurz angerissen werden. Bei Kirchenfragen hätte Kaufmann besonders umfassende Möglichkeiten gehabt, in seinem Sinne einzugreifen. Da Hamburg als Gebietskörperschaft sich im Wesentlichen auch mit den Körperschaften der Kirchen überschnitt, waren Konkurrenten um Kirchenfragen auf regionaler Ebene nicht zu befürchten. Eine solche territoriale Übereinstimmung von Gau, Staat und Kirche existierte nur in wenigen anderen Regionen des Reiches. Dennoch hielt sich Kaufmann in Kirchenfragen eher zurück und ließ andere ihre jeweils eigenen Bestrebungen verfolgen, ohne dass er sich hierbei zu Wort meldete oder Impulse gab. Warum dies so war, ist wohl am ehesten auf Kaufmanns Religionsauffassung zurückzuführen, die spätestens von Mitte der 1920er bis in die späten 1940er Jahre in etwa gleich blieb. Am 26. März 1925 notierte Goebbels über eine Diskussion zu Religion folgendes: 226 In Hamburg lebten je nach Definition 1933 rund 20 000 Juden, von denen 1940 bereits nur noch etwa 8000 übrig waren. Nach der „Operation Gormorrha“ 1943 waren es gar nur noch knapp 1300, die größtenteils auch den Zusammenbruch noch überlebten. In kaum einer Region des Reiches verringerte sich die Gruppe der von den Nationalsozialisten als Juden definierten Menschen so rasant, wenn von den Gauen mit größeren „Germanisierungsaktionen“ wie dem Warthegau, Danzig-Westpreußen oder auch Baden-Elsaß abgesehen wird. Mindestens die Hälfte der Hamburger Juden waren nach 1933 emigriert. Zu den einzelnen Stufen der Verfolgung der Hamburger Juden vgl. Bajohr, Frank: Von der Ausgrenzung zum Massenmord. Die Verfolgung der Hamburger Juden 1933–1945, in: Schmid, Josef (Hrsg.): Hamburg im „Dritten Reich“, Göttingen 2005, S. 471–518. 227 Greiser war Gauleiter des Warthegaus und trieb regional die „Endlösung“ entscheidend voran, indem die dortige Initiative zu Gaswagen nicht von der SS kam, sondern noch davor von ihm aufgegriffen und gesteuert wurde. Zu Greisers Werdegang vgl. grundlegend das Werk Epstein, Catherine: Model Nazi. Arthur Greiser and the Occupation of Western Poland, Oxford 2010. Speziell auf die gaubezogenen Ansätze zum Völkermord geht ein Alberti, Michael: Die Verfolgung und Vernichtung der Juden im Reichsgau Wartheland 1939–1945, Wiesbaden 2006.
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„Katholizismus und Protestantismus. Wir sind nicht einig geworden. Ich behaupte, Katholizismus ist Musik (Gefühl), Protestantismus Dichtung (Verstand und Selbstverantwortung). Beethoven und Mozart sind nicht zufällig Katholiken, Goethe und Schiller nicht zufällig Protestanten. Ripke und Kaufmann meinten Jesuitismus und sagten Katholizismus. Das ist unbedingt falsch. Wahrer Katholizismus ist dem Jesuitismus so feindlich wie irgendeine andere Macht. Es gibt ein katholisches Gefühl. Auch eine essentia catholica! Jawohl, Axel Ripke! Das hat mit Jesuitismus nicht zu tuen. Aber der Jesuitismus wird immer wieder versuchen, sich die essentia catholica für seine politischen Zwecke zunutze zu machen. Jeder große Deutsche ist Katholik in seinem Fühlen, Protestant in seinem Handeln. Definieren Sie Protestantismus kurz und klar: Luther! Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen!“ 228
Etwa zehn Jahre später war auch Krogmann Kaufmanns Reserviertheit oder auch Eigensinnigkeit aufgefallen. Gerade im Kontext mit den Mitte der 1930er Jahre im protestantischen Hamburg eskalierenden innerkirchlichen Auseinandersetzungen bemerkte er im Rückblick: „Der Reichsstatthalter hielt sich in der Kirchenfrage sehr zurück, da er [vor seinem Austritt] der katholischen Kirche angehört hatte. Er vertrat auch später die Ansicht, daß Religion eine Privatangelegenheit sei, in die er sich nicht einmischen wolle, und er griff nur dann ein, wenn die Interessen des Staates gefährdet erschienen.“ 229
In seinem „Entnazifizierungsfragebogen“ hatte Kaufmann sehr wenig Platz für eine Antwort auf den Stichpunkt, „[f]alls Sie je Ihre Verbindung mit einer Kirche aufgelöst haben, Zeit und Gründe an[zu]geben“. Er antwortete hierauf mit: „1942 wegen unklarer Haltung gegenüber dem Bolschewismus“ 230. 1946 hingegen war er (offenbar nach seinem schweren Unfall) wieder in die katholische Kirche eingetreten 231. Seine eigene Religionspraxis bleibt aber schwammig und unklar. Angesichts von Kaufmanns einzigartigem Herrschaftssystem ist hierbei aber auch zu fragen, ob er damit auch automatisch die „Verantwortung“ für alles, was in Hamburg geschah, zugesprochen bekommen müsste. Grundsätzlich muss angesichts des „Führerprinzips“ und des umfassenden Einblickes Kaufmanns die Antwort auf „Ja“ lauten, dies allerdings mit einigen Einschränkungen versehen. Vieles wirkte (auch von außen) auf Kaufmann und Hamburg ein. Die Massenmobilisierung etwa oder auch die (oft „erzwungene“) „Freiwilligkeit“ in der Bevölkerung konnten für die Handlungsfähigkeit eines einzelnen „Politischen Leiters“ einengend wirken. Auch gab es Bereiche, in denen selbst ein 228 Goebbels: Tagebücher, Bd. 1, S. 168f. 229 Krogmann. Hakenkreuz, S. 261. 230 PNKK Ordner Nr. 16, Fragebogen. 231 Soweit die Aussage in einer seiner Vernehmungen nach dem Krieg, vgl. StaHH 213-11, 7242, Protokoll vom 17. Juni 1950.
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Gauleiter und Reichsstatthalter wenig bis gar nicht hineingreifen konnte. Das Paradebeispiel dürfte die SS sein, die sich unter anderem die Polizei vereinnahmt hatte. Und doch sind auch diese Einschränkungen ebenfalls einzuschränken. Wer an entscheidender und führender Stelle den Nationalsozialismus aufbaute, stützte, aufrechterhielt und ausbaute, arbeitete mit an der Gesamtsituation und half, die Umstände, das Klima und die Atmosphäre des „Dritten Reiches“ zu erschaffen und beizubehalten. Insofern ist Kaufmann in Hamburg zwar nicht für das aufdringliche Spendensammeln von SA-Männern, das Leid eines einzelnen Juden oder die ökonomische Erholung eines individuellen Handwerksbetriebs verantwortlich. Aber er ist zumindest mitverantwortlich für die Gesamtlage, in der sich solche Szenarien dann entwickeln konnten. Hinsichtlich Kaufmanns Zeit als Reichsstatthalter ist es auch wichtig, auf die Entwicklung seiner Sozialismuskonzeptionen einzugehen. Es lassen sich einige feste und konkrete Punkte hieraus entnehmen, die in politisches Handeln hätten umgemünzt werden können. Dies betraf vor allem seine Fixierung auf Sozialpolitik. Unter den Umständen, unter denen Kaufmann verantwortliche Politik zwischen 1933 und 1945 machen konnte, und wie dargestellt auch schon als preußischer Landtagsabgeordneter von 1928 bis 1930 konkrete Vorschläge hierzu vorbrachte, waren jeder Idee von Sozialismus aber enge, wenn nicht gar engste Grenzen gesetzt. Dies betrifft gar nicht erst die Frage, welche Teile seiner Vorstellungen von Sozialismus völlig utopisch waren, und welche sich (wie das Beispiel der Sozialpolitik) durchaus umsetzen ließen. Denn wie erläutert zog sich die Wirtschaftskrise in Hamburg wesentlich länger hin als in den meisten Regionen des Reiches. Erst ab 1935/1936 trat eine gewisse Entspannung ein. Diese fiel aber sogleich in die Zeit der beginnenden Rüstungs- und Autarkiepolitik, die einerseits Hamburg als Produktionsort von Schiffen und U-Booten finanziell zugute kam, und andererseits den Außenhandel weiterhin abschnürte. Der Spielraum blieb also eng, und im Zweiten Weltkrieg war er schließlich kaum noch vorhanden. Institutionell betrachtet blieb hierbei kaum eine Möglichkeit irgendeine größere Komponente eines Sozialismus umzusetzen zu versuchen. Dies muss Kaufmann besonders geschmerzt haben, da es gerade die sozialistische Komponente des Nationalsozialismus war, die ihn persönlich ansprach. Es blieb hierbei nur übrig, sich selbst und auch die Hamburger auf die Zukunft, konkret auf die Zeit „nach dem Krieg“ zu vertrösten. Dass der Krieg für Kaufmann ab 1943 verloren war, musste noch beißender sein. Denn damit waren auf unbestimmte Zeit alle Möglichkeiten für „seinen“ Sozialismus verschoben. Kaufmann blieb also institutionell kaum eine Chance, seine Ideen in die Realität umzusetzen. Hieran wären diese vielleicht zerschellt, vielleicht auch geschärft und ausdifferenziert worden. Aber es kam nie zur Bewährungsprobe. Ihm blieb nur übrig, immer wieder an die Unternehmer zu appellieren (selbstverständlich im strengen Ton), um sie an die seiner Auffassung nach grundlegende soziale Verpflichtung der Arbeitgeber zu erinnern. Kollektive Sanktionsmöglichkeiten hatte er dabei aber nicht. Hätte er hierbei eigensinnig gehandelt, hätte es nur einen Konflikt mit Göring als „starken Mann“ der Wirtschaft oder gar den rüstungsfixierten Hitler gegeben. Für eine Verstaatlichung der Industrie, in Hamburg also nicht zuletzt den rüstungs- und kriegswichtigen Werften, gab
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es unter solchen Voraussetzungen keine Möglichkeiten. Für die Umsetzung landwirtschaftlicher Sozialismuskonzeptionen, wie etwa im von Kaufmann mitentwickelten „Strasser-Programm“ vorgeschlagen, fehlte in Hamburg erstens ausreichend Fläche und zweitens waren auch hier wieder rüstungs- und kriegsbedingt keine Experimente möglich, die die Autarkie- und Aufrüstungspolitik hätten tangieren können. Kaufmanns nationaler Sozialismus blieb damit unerreicht. Angesichts der ausgeführten Probleme muss gefragt werden, ob Kaufmanns politische Karriere aus seiner Sicht heraus trotzdem erfolgreich war. Er selbst hat sich dazu nie geäußert. Sein Hauptziel, die Schaffung eines Reichs des nationalen Sozialismus, hatte er nicht einmal ansatzweise erreicht. Aber es gab naheliegenderweise auch noch andere Ziele, die einen nationalistisch eingestellter junger Idealist Anfang der 1920er zur NSDAP führen konnte. Das Reich war tatsächlich wieder eine Großmacht geworden, wenngleich dies mit der Kriegsniederlage wieder verspielt wurde. Wäre dem nicht so gewesen, hätte sich Kaufmann als Teil der verantwortlichen „NS-Führung“ zumindest bei diesem Ziel als erfolgreich im Sinne der eigenen politischen Ziele bezeichnen können. Schließlich repräsentierte er die Partei in Hamburg und leitete seinen Hoheitsbereich eigenständig im Sinne der Partei, wirkte also an der Realisierung mit. Gemessen am eigenen Großziel war Kaufmanns politische Karriere nicht erfolgreich. Aber gemessen an dem, was Anfang der 1920er realistisch möglich gewesen war und für realistisch befunden wurde, als er sich dem Nationalsozialismus voll und ganz verschrieb, war sie mehr als erfolgreich. Die marxistischen Parteien SPD und KPD waren 1933 beseitigt, ihre Träger verfolgt und unterdrückt worden. Das Reich war bis 1938 wieder eine mehr oder weniger gleichberechtigte Großmacht. Hiernach wurde sie zeitweise gar die dominierende Macht auf dem Kontinent. Die Hamburger Arbeiterschaft konnte ab etwa 1936 Vollbeschäftigung vermelden, und der laut Kaufmann falsche Klassenkampf in Hamburg wurde liquidiert oder zumindest unterdrückt, das Ziel der „Volksgemeinschaft“ schien damit näher zu kommen. Dies waren nicht die Ziele ersten Ranges, die sich Kaufmann gesetzt hatte. Aber sie waren mehr als bloße Nebenziele. Gemessen am eigenen Anspruch war Kaufmanns politische Karriere also durchaus akzeptabel und mehr, als zu ihrem Anfang erwartet werden konnte. Und das ganz ohne Versuche der Durchsetzung eines wie auch immer definierten Sozialismus. Hier sind also Grenzen sichtbar, die sich selbst einem Gauleiter und Reichsstatthalter stellen konnten. Auch andere politische Ziele und Bereiche konnten trotz seiner zentralen Rolle in Hamburg nicht von ihm umgesetzt oder vereinnahmt werden. Ein im „Dritten Reich“ relativ lange Zeit umkämpftes Feld waren beispielsweise die Zuständigkeiten und Ressortzugehörigkeit der einzelnen Polizeiämter in den Ländern. Himmler gelang es nach und nach alle Polizeizuständigkeiten an sich zu ziehen und in einer hybriden Form der Personalunion zu vereinigen. In Hamburg stellte sich für Kaufmann als Bürgermeister ab 1936 und im Reichsgau schließlich als Reichsstatthalter ab 1938 die für einen Stadtstaat besonders komplizierte Frage der Polizeizuständigkeit. Gelöst wurde diese kritische Überschneidung mehrerer Institutionen, die als zuständig hätten betrachtet werden können, auf eine „saubere“ und für die Personalpolitik des „Dritten Reiches“ charakteristische Weise: Auf höchster Ebene einigten sich Kaufmann und Kurt
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Daluege in Vertretung für Himmler darauf, dass der Reichsstatthalter als Leiter der Landesregierung der Landespolizeibehörde (auch und gerade als „Politischer Leiter“) vorstehen sollte, während Kreis- und Ortspolizei dem Polizeipräsidenten unterstehen sollten. Die Vertretung (und darin faktische Amtstätigkeit) von Kaufmann in landespolizeilichen Angelegenheiten sollte Prützmann übernehmen 232. Diese Überschneidungen und Personalunionen hielten bis 1945. Es ist aber fraglich, für welche Seite dieser Kompromiss bessere Auswirkungen gehabt hätte, wenn es zu einem gewalttätigen Konflikt oder gar Bürgerkrieg zwischen Staat, Parteiorganisation und der sich zunehmend zu einem „Staat im Staate“ entwickelnden SS gekommen wäre. Angesichts des speziellen Loyalitätsbegriffes der SS wären deren Interessen wohl vorgegangen. Im Falle Prützmanns kann als Indiz für die Entscheidung zwischen SS-Funktion und Staatsfunktion dessen führende Mitwirkung an der „Shoa“ angeführt werden. Er verließ Hamburg 1941, um im Osten an leitender Stelle die Erschießungen in bestimmten territorialen Abschnitten zu organisieren 233. Zu einer Bewährungsprobe gelangte die Konstruktion in Hamburg jedenfalls nie. Angesichts dieser durchaus komplizierten Konstruktion der Hamburger Polizei ist mitunter angeführt worden, sie habe faktisch unter der Führung des Gauleiter Kaufmann gestanden. Es ist nicht falsch, dass dies formal zutreffend ist. Es ist ebenfalls nicht falsch, Kaufmanns Einfluss gerade im personalpolitischen Bereich ausmachen zu können 234. Die Polizei war zwar wie überall im Reich der SS angegliedert, aber durch die Hamburger Polizeikonstruktion hatte Kaufmann in seinem Amt als Reichsstatthalter Mitsprache- und Ernennungsrechte. Da nur wenige Gebiete im „Dritten Reich“ eine ähnliche territoriale und zugleich politische Übereinstimmung aufwiesen wie Hamburg (darunter etwa Sachsen oder die Reichsgaue ab 1938) konnte sich zugleich auch nur in wenigen Gebieten eine solche Polizeikonstruktion ergeben. Allerdings nutzte Kaufmann diese Möglichkeiten weniger, als es vielleicht erscheinen mag. Denn wie auf allen anderen Gebieten überließ er auch auf dem Feld der Polizei den Zuständigen einen Großteil der Arbeit, indem er sie einfach an Richter und Prützmann delegierte beziehungsweise sie eigenverantwortlich handeln ließ. Das Delegieren gehörte schließlich zu seinem Herrschaftssystem. Speziell bei der Polizei wird aber noch hinzugekommen sein, dass Kaufmann mit der SS auf gar keine Probleme provozieren wollte. Wie schon mehrfach erwähnt, erklärte Kaufmann nach 1945, er habe den Krieg ab dem Sommer 1943 als nicht mehr gewinnbar betrachtet. Dies war keine einfache Schutzbehauptung. Anhand der Quellen lässt sich nachvollziehen, dass Kaufmann nach der Zerstörung Hamburgs infolge der Angriffe der „Operation Gomorrha“ im Sommer 232 StaHH 113-5, A I, 1, Schreiben vom 8. November 1937. 233 Zur Problematik der allgemeinen Stellung von Gauleitern und HSSPF sowie zur Beteiligung letzterer an der „Shoa“ vgl. Birn, Ruth Bettina: Die Höheren SS- und Polizeiführer. Himmlers Vertreter im Reich und in den besetzten Gebieten, Düsseldorf 1986, S. 308–313 und S. 320–330. 234 Zur Polizeikonstruktion in Hamburg im Einzelnen vgl. Eiber, Ludwig: Unter Führung des NSGauleiters. Die Hamburger Staatspolizei (1933–1937), in: Paul, Gerhard/Mallmann, Klaus-Michael (Hrsg.): Die Gestapo – Mythos und Realität, Darmstadt 2003, S. 101–117, hier S. 103–112.
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1943 235 ein nicht unbedingt gänzlich anderes, dafür aber stark verändertes und zurückhaltendes Verhalten an den Tag legte. Gerade weil eine solche Behauptung Kaufmanns aber „auf den ersten Blick“ sehr kontrovers escheinen könnte, sei darauf hingewiesen, dass sämtliche Quellen sein verändertes Verhalten widerspiegeln. Eine nachträglich konstruierte Legende lag nicht vor. Da in den nachfolgenden Unterkapiteln noch mehrfach auf den Wendepunkt des Sommers 1943 an den thematisch dazu passenderen Stellen eingegangen wird, sei hier vorerst nur Kaufmanns Verhalten als Reichsstatthalter erläutert. Dass er als Gauleiter ab dem Sommer 1943 kaum noch wirkte, wurde bereits im entsprechenden Unterkapitel dargestellt. In den anderen Funktionen, die er ausfüllte, und die weniger auf die innenpolitische Lage als auf äußere, also externe Faktoren konzentriert waren, lässt sich dies noch deutlicher veranschaulichen. Dies liegt vor allem daran, dass Kaufmann als Reichsstatthalter fast völlig auf die innerhamburgischen Angelegenheiten konzentriert war, aber als Reichsverteidigungskommissar oder auch als Reichskommissar für die Seeschifffahrt fast völlig auf die von außen einwirkenden Kriegsfolgen inklusive andauernder Zerstörungen und Mangel an allen Ecken der Rüstung und Verteidigung konzentriert war. Ein wesentlicher Punkt, der für Kaufmanns Version spricht, nach der er den Krieg im Sommer 1943 als nicht mehr siegreich zu beenden ansah, wurde bereits an anderer Stelle erwähnt. Er lag in den Senats- und auch in den Verwaltungsberatungen. Erstere waren zugunsten von Verwaltungsberatungen und Entscheidungen im Umlaufverfahren ohnehin fast gegenstandslos geworden, was sich weiterhin verstärkte. Erst damit trat der Senat in seine letzte, vierte Phase ein. An den Verwaltungsberatungen nahm Kaufmann nach der „Operation Gomorrha“ überhaupt nicht mehr teil. Eine Vergleichbarkeit mit dem Verfahren zwischen 1939 und dem Sommer 1943 ist allerdings schwierig, da diese Protokolle den Krieg nicht überstanden haben. Deshalb muss dies mit Vorsicht betrachtet werden, wenngleich Kaufmann wie erläutert bis 1939 fast immer den Vorsitz dort führte. Eine andere, allerdings wesentlich schwierigere Quelle hinsichtlich Kaufmanns Verhaltensänderung liegt in seinen öffentlichen Auftritten und der damit oftmals zusammenhängenden Presseberichterstattung. Kaufmann konnte natürlich nicht offen dafür werben, den Krieg sofort zu beenden. Um nicht aus Rang und Stellung entfernt zu werden, konnte er ein solches Risiko mit unabsehbaren Folgen nicht eingehen. Dennoch ist der Unterschied zwischen seinem öffentlichen Wirken und der darüber berichtenden (Partei-)Presse bei genauerer Analyse erkennbar, zumal hamburgspefizische Berichte erst von ihm oder dem Gaupressewart genehmigt werden mussten. Wie im Verlauf der vorliegenden Arbeit einige Male dargestellt, war Kaufmann sehr volksnah. Er gab sich nicht einfach volksnah oder ließ sich entsprechend inszenieren, sondern saß tatsächlich zu Weihnachten mit Opfern von Betriebsunfällen zusammen, machte unangekündigte Besuche in Hamburger Unternehmen, besuchte Ortsgruppen und Vereine und hielt seine persönliche Sprechstunde ab, in der jeder Hamburger mit 235 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen im Unterkapitel 4.3.
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seinem Anliegen zu ihm kommen konnte. Diese gesamte Unmittelbarkeit, die nur wenige Mitglieder der „NS-Führung“ mit Kaufmann in einer solchen Intensität teilten, fiel nach dem Sommer 1943 fast gänzlich weg. Zwar war Hamburg größtenteils zerstört. Aber es war keine unbewohnte Trümmerwüste, in der keine Betriebe mehr arbeiteten. Wie erwähnt lief die Rüstungswirtschaft schnell wieder an, und auch die Bevölkerung kehrte zu großen Teilen bis Ende des Jahres zurück. Dennoch zog sich Kaufmann von seinen öffentlichen Auftritten stark zurück. Gerade die (Partei-)Presse lässt dies anschaulich machen. Bis zum Sommer 1943 waren kaum Gelegenheiten ausgelassen worden, über Betriebsbesuche oder Ansprachen vor kleinem Kreis zu berichten. Nach der „Operation Gomorrha“ aber ließ diese Berichterstattung quantitativ stark nach. Dazu könnte noch eingewendet werden, dass Kaufmann kriegsbedingt wichtigeres zu erledigen gehabt hätte. Aber auch inhaltlich wurden Kaufmanns Äußerungen und auch die Presseberichterstattung über seine Verlautbarungen schlagartig ausgehöhlt und nichtssagend. Sie klangen nach einer Übernahme der üblichen Parolen, nicht mehr nach dem innerlich überzeugten und andere motivierende Kaufmann. Wie mehrfach zitiert konnte Kaufmann ganze hochmotivierte Reden über Sozialismus, Hamburgs Verwaltung oder den Hafen halten. Mit dem Sommer 1943 beschränkten sich seine immer wenigeren Reden und Auftritte überwiegend auf rhetorisch oftmals schwache Aufrufe zum Durchhalten, die nunmehr so beliebig klangen, dass sie jeder andere Gauleiter, Kreisleiter, Senator oder SA-Führer hätte halten können. Es fehlte das für Kaufmanns Äußerungen Konkrete, sozusagen seine individuelle Note. Drei kurze Beispiele von 1943 und 1944 sollen das illustrieren. Im Oktober 1943 sprach Kaufmann im zufälligerweise nur leicht zerstörten Rathaus zu Führungspersönlichkeiten der Hamburger Partei, des Staats, sowie der Wirtschaft und der Arbeiterschaft. Hierbei ging es um die Probleme, die nach dem Sommer 1943 nunmehr zu lösen waren: „Der kommende Winter, so betonte der Gauleiter, wird mit seinen Problemen der Partei die Aufgaben stellen, die zweifellos für sie eine Bürde, zugleich aber auch eine Auszeichnung sein werden. Bei der entschlossenen Beantwortung der uns gestellten Kardinalfragen dürften die Trümmer niemals einen Grund zur Resignation geben, sondern müssen stets eine Warnung zur Tat sein. Für die Sicherstellung unserer Ernährung […] sind alle Voraussetzungen getroffen, der ausreichenden Wohnraumbeschaffung stehen die bekannten Schwierigkeiten entgegen, denen zu einem gewissen Teil mit Behelfsbauten begegnet werden soll.“ 236
In dem Wortlaut ging es noch um einiges weiter. Dies klang nicht nach dem „alten“ Kaufmann, sondern für seine Verhältnisse nach Worthülsen und „Allgemeinplätzen“. Ein ähnliches Beispiel ließe sich einer kurzen Ansprache vor HJ-Führern genau ein Jahr später, im Oktober 1944, entnehmen. In dieser sprach 236 Es.: „Die Partei – ein Helfer in harter Zeit. Gauleiter Kaufmann sprach auf einem Appell des Gaues Hamburg“, HT, 14 (1943), H. 257.
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„er von der Notwendigkeit der höchsten Kampfentschlossenheit in dieser entscheidenden Phase des Krieges […] und [gab] dem Vertrauen Ausdruck […], daß die Gesamtheit unseres Volkes in Treue und Hingabe auch die gegenwärtig besonders schwierig erscheinende Lage meistern wird.“ 237
Auch hier ließe sich gegen die Nachkriegsversion Kaufmanns, er habe nicht mehr an den „Endsieg“ geglaubt, einiges einwenden. Darunter beispielsweise, dass er überhaupt noch von „Durchhalten“ und „Endsieg“ sprach, wo er doch gerade daran zweifelte, oder auch, dass er „seine“ Hamburger weiterhin an Front, Flak und in Betriebe unter dem alliierten Bombenhagel schickte, obwohl er dies als sinnlos ansah. Kaufmann selbst betonte, er habe keine Chance gehabt, ungefährdet aus seiner Stellung herauszugelangen. Andere betonten ähnliches 238. Richtig ist, dass Kaufmann die unangefochtene Spitze in Hamburg darstellte, und damit tatsächlich „Hamburgs Führer“ war. Aber den Weltkrieg für Hamburg aufzuhalten lag weder in seinem Zuständigkeitsbereich, noch in seiner Macht. Vom Gauleiter und Reichsstatthalter Hamburgs wurde wie von jedem anderen auch aus Berlin und München erwartet, durchzuhalten. Es sollte für den „totalen Krieg“ mobilisiert werden. Jeder sollte seinen Anteil dazu beizutragen, den „Endsieg“ doch noch herbeizuführen. Als Gauleiter und Reichsstatthalter konnte er kaum dahinter zurückgehen. Das einzige, was er hätte tun können, wäre dabei wenig Engagement aufzuweisen. Und vergleichen mit der Zeit bis zum Sommer 1943 zeigte Kaufmann ab dann tatsächlich kaum noch Elan und Engagement, wie gezeigt weder als Gauleiter, noch als Reichsstatthalter. Und in seinen anderen Funktionen sah es genauso aus, wie nachfolgend noch mehrfach dargelegt wird. Selbst hier ließe sich aber trotzdem noch gegenhalten, warum er überhaupt noch etwas Elan zeigte. Fraglich ist, warum er nicht versuchte, sich beurlauben zu lassen, warum er sich nicht widersetzte, und warum er weiterhin eingereiht blieb und Hitler noch Treue bis in den Tod gelobte. Die Antwort hierauf dürfte ähnlich ausfallen, wie auf die stets wiederholte Frage, warum nach 1933 der Großteil der Bevölkerung von Arbeitern bis Großgrundbesitzern „mitgemacht“, neutral oder zurückhaltend daneben gestanden hatte oder zumindest in die „innere Emigration“ gegangen war. Es lag eine teilweise Übereinstimmung in den Zielen vor, es lag ein passives „Geschehenlassen“ vor, es lag eine Liebe zum Vaterland vor, die nicht jeder vom herrschenden Nationalsozialismus gedanklich trennen konnte, und es lag eine fundamentale Loyalität zum „Führer“ vor. Dass Kaufmann als „Führer Hamburgs“ zugleich mehr Verantwortung als der durchschnittliche „Volksgenosse“ trug, dürfte diese Effekte noch verstärkt haben. Und dass er 237 Oa.: „Unsere Losung: ‚Lever dod as Slav!‘ Der Gauleiter sprach zur Führerschaft der HitlerJugend“, HaZe, 1 (1944), H. 27. 238 Ein Beispiel seines Freundes Schwarz van Berk: „Verantwortung war für ihn ein schwerer Stein. Er trug ihn lange, dann wälzte und wälzte er ihn, und sprang nicht einfach darüber hinweg. Er wurde immer stiller und ernster. Was er tat, vermochte er sachlich zu tun.“ Schwarz van Berk: Laudatio, S. 4.
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seine politischen Vorstellungen eher durch sich selbst repräsentiert und gesichert sah, als durch einen potentiellen Nachfolger, wird ebenfalls eine Rolle gespielt haben. In einer Aktennotiz zu den Entwürfen seiner Memoiren betonte er zudem sein Pflichtgefühl wie seine Verantwortung für Hamburg: „Obwohl mir meine zahlreichen Dienstreisen in das Ausland während des Krieges [als Reichskommissar für die Seeschifffahrt] ausreichend Möglichkeiten geboten hätten, Deutschland zu verlassen, habe ich diesen Gedanken stets verworfen. Bestimmend war für mich die Erkenntnis, dass nach Lage der Dinge jede Einwirkungsmöglichkeit auf den Gang der Ereignisse von draussen aussichtslos bleiben mussten. Mein Entschluss unter allen Umständen zu bleiben wurde unterstrichen durch meine Verantwortung[,] die ich auf Grund meiner Verpflichtung für Hamburg empfinden musste. Neben der Sorge um die allgemeine Entwicklung stand natürlich meine Verantwortung für Hamburg.“ 239
Da die Aktennotiz retrospektiv entstand, könnte ihre Aussagekraft hinsichtlich Kaufmanns Intentionen von 1943 bis 1945 angezweifelt werden, wenngleich sein Einwand von Verantwortungsgefühl und staatsmännischer Verpflichtung durchaus seinem Handeln in den Jahrzehnten zuvor entsprach 240. Deshalb sei nochmals darauf hingewiesen, dass es zwar kein letztgültiges Beweisstück in Form eines zeitgenössischen Briefes oder etwas ähnlichem gibt, was Kaufmanns Haltung 1943, 1944 oder 1945 nachweist. Aber alle anderen Quellen und Indizien, von den Senats- und Verwaltungsberatungen, den öffentlichen Auftritten, seinem Wirken und Handeln in allen Funktionen, dem Vorgehen vor und bei der Kapitulation sowie den Nachkriegsaussagen legen diese Interpretation sehr nahe. Es sollte aber auch noch darauf hingewiesen werden, dass bei Kaufmann Mitte 1943 keine „innere Abkehr“ vorlag. Er wandte sich nicht vom Nationalsozialismus ab, sondern nur von der Politik, die der Nationalsozialismus in diesem Moment verfolgte und die das Reich, den Nationalsozialismus sowie Kaufmanns ferne Idee eines nationalen Sozialismus gefährdete. Kaufmann verstand sich weiterhin als Nationalsozialist. Er betonte dies auch nach dem Krieg weiter. Den Mai 1945 sah er nicht als Resultat des Nationalsozialismus, sondern als die Folge einer Überschätzung der eigenen und Unterschätzung der fremden Kräfte. Dies muss ebenfalls mitbedacht werden, wenn gefragt wird, warum Kaufmann Mitte 1943 nicht weitergehende Konsequenzen aus seiner Einstellung zog. „Nur“ weil der Krieg nicht mehr zu gewinnen war, hieß dies nicht, dass Kaufmann nicht weiter Nationalsozialismus und „Drittes Reich“ aufrechterhalten wollte. Insofern handelte es sich im Sommer 1943 nicht um ein „Damaskus-Erlebnis“. Auch den Krieg als solchen verteufelte er deshalb nicht. Er war mit militärischen Denkkategorien aufgewachsen und sozialisiert worden. Krieg war etwas „normales“ oder zumindest 239 PNKK Ordner Nr. 1, Aktennotiz [undatiert, nach 1947]. 240 Ein anschauliches Beispiel bietet die ausführlich erläuterte Tätigkeit als Landtagsabgeordneter in der Weimarer Republik, in der er sich nicht als Fundamentalopposition empfand, sondern aktiv mitzuwirken versuchte.
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notwendiges. Trotzdem ist für Kaufmann selbst in seiner Laufbahn kein extremes und vehementes Bejahen von Krieg feststellbar. Eine kritische und ablehnende Haltung aber ebenso wenig. Zudem muss bedacht werden, dass er stets Innenpolitiker war und in innenpolitischen Kategorien dachte. Auch wenn er sich ideologisch mit der Außenpolitik befasste, hatte er doch stets nur innenpolitische Ämter 241. Eine innen- und zugleich außenpolitische Aspekte bedenkende Betrachtungsweise verfolgte Kaufmann hinsichtlich des Kriegsausgangs offenbar nicht.
4.3. Reichsverteidigungskommissar im Wehrkreis X/für den Gau Hamburg (1939–1945) 4.3.1. Reichsverteidigungskommissare als eine weitere Sondergewalt im Gefüge von Partei und Staat „Zur einheitlichen Steuerung der zivilen Reichsverteidigung wird für jeden Wehrkreis ein Reichsverteidigungskommissar bestellt. […] Den Reichsverteidigungskommissaren liegt die Steuerung der Verwaltung aller zivilen Verwaltungszweige im Bereich des Wehrkreises ob. Ausgenommen sind die Reichspost, die Reichsbahn sowie die Reichsfinanzverwaltung in bezug auf die Geldbewirtschaftung, die bei der Durchführung der Reichsabgabenordnung und des Steueranpassungsgesetzes sich ergebenden Angelegenheiten und der verstärkte Grenzaufsichtsdienst.“ 242
Mit der zitierten „Verordnung über die Bestellung von Reichsverteidigungskommissaren“ vom 1. September 1939 wurde innerhalb der Polykratie des „Dritten Reiches“ durch den Ministerrat für die Reichsverteidigung 243 ein weiteres hochrangiges Amt im 241 Die Einordnung des Reichskommissariats für die Seeschifffahrt war zwar territorial übergreifend, aber grundsätzlich in seinem Sinn und Zweck auf innenpolitische Ziele ausgerichtet. 242 RGBl. 1939/I, S. 1565–1566, hier S. 1565. 243 Zu den strukturellen Grundzügen des Ministerrats vgl. Meinck, Gerhard: Der Reichsverteidigungsrat, in: WWR, 6/1956, S. 411–422. Der Ministerrat stellte innerhalb des „Kompetenzchaos“ zwischen 1933 und 1945 ein sehr anschauliches Beispiel für die Überlagerung und Umverteilung von Kompetenzen dar. Theoretisch konzipiert als eine Art Kriegskabinett, behielt sich Hitler wie immer bei diversen Schlüsselentscheidungen selbst vor, in die Arbeit des Ministerrates einzugreifen. Zudem war das Gremium von Hitler so bestückt worden, dass die Rivalitäten zwischen dessen Angehörigen die Arbeit sehr stark lähmten. Auch konnten diverse Institutionen weiterhin am Ministerrat vorbei agieren. Auch die Reichsverteidigungskommissare, die als untergeordnetes Organ theoretisch dem Ministerrat unterstanden, konnten frei von dessen Einflüssen handeln, sodass weder vom Ministerrat Druck auf die Reichsverteidigungskommissare herrschte, noch dass diese in ihrer Amtsführung von ihm abhängig waren. Vgl. hierzu
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„Dritten Reich“ geschaffen. Hierbei handelte es sich um eine für das „Dritte Reich“ und seine Polykratie typische Sondergewalt. Alle Reichskommissare (genauso wie die vielen Beauftragten, Sonderbevollmächtigten und Generalinspekteure) waren grundsätzlich ein Produkt der „Gleichschaltungen“, durch die reichsunmittelbare Machtinstanzen begründet und in die Hände von Nationalsozialisten gelegt wurden. Diese unterstanden entweder einer Reichsbehörde, die Hitler unterstand, oder aber direkt Hitler selbst. Hierdurch erhielten Nationalsozialisten Eingriffsrechte in unterschiedlichste Bereiche, denen sie damit „vorgeschaltet“ wurden 244. Die konkrete Aufgabe der Reichsverteidigungskommissar lag dabei in der bereits aus dem Zitat hervorgehenden Steuerung des Großteils der Zivilverwaltung, um somit die zivile Reichsverteidigung effizienter zu steuern. Konkret sollten sie dabei die einzelnen Maßnahmen der zivilen Verteidigung, also etwa Evakuierungen oder Barrikadenbau, mit den einzelnen Maßnahmen der militärischen Verteidigung, die die Wehrmacht durchführte, in einen Konsens bringen 245. Die Einrichtung und Bestellung der Reichsverteidigungskommissare sollte also eigentVon Hehl, Ulrich: Nationalsozialistische Herrschaft, 2. Aufl., München 2001, S. 16. Den Ministerrat zur Vereinfachung des Gesetzgebungsverfahrens zu einem regelrechten Kriegskabinett auszubauen wäre aufgrund seiner Konzeption zwar möglich gewesen. Allerdings wurde hiervon nicht zuletzt auch deshalb abgesehen, weil der Krieg anfangs im öffentlichen Bewusstsein nicht zu groß gehalten werden sollte. Zur allgemeinen Einordnung dieser Politik vgl. Herbst, Ludolf: Deutschland im Krieg 1939–1945, in: Broszat, Martin/ Frei, Norbert (Hrsg.): Das Dritte Reich im Überblick. Chronik, Ereignisse, Zusammenhänge, 8. Aufl., München 2007, S. 65–79, hier S. 67–71. Nicht zuletzt muss jedoch auch die Person Görings, der die bestimmende Rolle innerhalb dieses Gremiums inne hatte, für das Scheitern des Ministerrats bedacht werden. Görings „Überfrachtung“ mit hohen Ämtern war nicht von einer gesteigerten Geschäftstätigkeit des „Zweiten Mannes“ im „Dritten Reich“ geprägt, vielmehr vernachlässigte er die ihm überantworteten Aufgaben wie schon erwähnt nach einer aktiven Anfangsphase stets aufs neue. Negative Auswirkungen sind hierbei umstritten, da Göring für die Ausfüllung seiner Ämter einen relativ großen Stab an Mitarbeitern besaß, die nicht „nur“ aus „Parteigenossen“, sondern noch viel mehr aus Fachleuten bestand, selbst wenn sie einst zum politischen Gegner gehörten. Vgl. Kube, Alfred: Pour le mérite und Hakenkreuz. Hermann Göring im Dritten Reich, 2. Aufl., München 1987, S. 56–63. 244 Zur Einsetzung der Reichskommissare im Verlauf der „Machtergreifung“, sowie ihrer direkten Orientierung an den Vorgängen in Preußen 1932 nach wie vor sehr eindrücklich Bracher, Karl Dietrich: Die deutsche Diktatur. Entstehung. Struktur. Folgen des Nationalsozialismus, 6. Aufl., Frankfurt am Main/[West-]Berlin/Wien 1979, S. 222–230. Im weiteren Verlauf des „Dritten Reiches“ wurden noch etliche weitere Reichskommissare berufen. Vgl. Hachtmann, Rüdiger/Süß, Winfried: Editorial. Kommissare im NS-Herrschaftssystem. Probleme und Perspektiven der Forschung, in: Hachtmann, Rüdiger/Süß, Winfried (Hrsg.): Hitlers Kommissare. Sondergewalten in der nationalsozialistischen Diktatur, Göttingen 2006, S. 9–27, hier S. 9–11. Zur juristischen Grundlage während der „Machtergreifung“ vor dem „Ermächtigungsgesetz“, für die vor allem die juristische Perspektive des „Preußenschlags“ Vorbild war, vgl. Huber, Ernst Rudolf: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 7. Ausbau, Schutz und Untergang der Weimarer Republik, Stuttgart/[West-]Berlin/Köln/Mainz 1984, S. 1120–1135. 245 RGBl. 1939/I, S. 1565–1566, hier ebd.
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lich der Reichsverteidigung nützen, indem deren Ausführung im zivilen und militärischen Bereich getrennt, aber miteinander koordiniert ablaufen sollte. Markant ist hieran jedoch, dass mal wieder Vertreter der Partei dazu bestimmt wurden, und nicht Vertreter des Staats. Die neue Kompetenzverteilung ging also zulasten der Wehrmacht und des Staats und zugunsten der Partei. Sämtliche der 1939 bestellten Reichsverteidigungskommissare waren Gauleiter 246. Besonders ist hierbei auch die Auswahl unter ihnen. Denn wie schon mehrfach erläutert, differenzierte sich das Korps der Gauleiter nach der „Machtergreifung“ zunehmend aus. Während einige Gauleiter in Sachen Macht und Prestige lange Zeit „zurückstecken“ mussten, da sie 1933 abgesehen von eher symbolischen Ämtern leer ausgingen, erlangten andere Gauleiter einflussreiche Positionen, wie etwa die des Reichsstatthalters 247. 1939 wurden ausgerechnet diejenigen Gauleiter Reichsverteidigungskommissar, die bereits ein hohes Staatsamt besaßen 248. Mit der Schaffung dieses neuen Amtes wurde das Korps der Gauleiter also faktisch in drei Ränge hinsichtlich Position und Einfluss ausdifferenziert. Während einige Gauleiter weiterhin ohne hohes Staatsamt blieben, waren einige „immerhin“ preußischer Oberpräsident, Reichsstatthalter oder zumindest Landes- oder Reichsminister. Die höchste Gruppe an Ansehen und Prestige bildete nunmehr jedoch jene, die sich zusätzlich auch noch Reichsverteidigungskommissar nennen durften. Dies führte sehr rasch zu einer Verstimmung unter den „abgehängten“ Gauleitern 249. Doch nicht „nur“ die Zurücksetzung einiger Gauleiter zugunsten anderer Gauleiter ließ die Gemüter von Hitlers „Vizekönigen“ erhitzen. Viel schlimmer war nämlich der Umstand, dass die vierzehn Wehrkreise, für die die vierzehn neuen Reichsverteidigungskommissare zuständig waren, weder den Gauen der Partei, noch den Landesgrenzen der Einzelstaaten entsprachen. Die neuen Reichsverteidigungskommissare hätten also im Bedarfsfall in den Hoheitsbereich eines anderen Gauleiters eingreifen können und im Sinne der Erfüllung ihrer Aufgaben sogar müssen. Abgesehen von den sich daraus ergebenden Verwaltungsabläufen, die für den Kriegsfall eher lähmend als produktiv gewirkt hätten, bedeutete dies für diverse Gauleiter eine persönliche Kränkung größten Ausmaßes. 246 Zur Einsetzung der Reichsverteidigungskommissare 1939 vgl. Rebentisch, Dieter: Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsentwicklung und Verwaltungspraxis. 1939–1945, Stuttgart 1989, S. 132–138. 247 Sechs blieben vorerst ohne höhere Staatsämter. Vgl. Hüttenberger: Wandel, S. 80. 248 Vgl. ebd., S. 153. 249 Vgl. hierzu Wendt: Deutschland, S. 94. Symptomatisch war die Bewertung des Amts durch einen der „abgehängten“ Gauleiter, der erst 1942 Reichsverteidigungskommissar wurde. Er schrieb im Nachhinein über das Amt, es sei „ein klingelnder Titel und sonst gar nichtS. Er wurde von Staats wegen […], also nicht von der Partei, verliehen und änderte an den Machtbefugnissen des Gauleiters so gut wie nichts. Dem einen oder anderen mag diese Dienstbezeichnung zu Kopfe gestiegen sein, im Allgemeinen ging es genau so weiter wie vorher.“ Wahl: Herz, S. 365. Damit lag Wahl falsch.
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Ein Beispiel zum Vergleich soll dies verdeutlichen. Kaufmann wurde mit der erläuterten Verordnung am 1. September 1939 Reichsverteidigungskommissar für den Wehrkreis X. Das Reichsgebiet war zu diesem Zeitpunkt in vierzehn, territorial in etwa gleich große Wehrkreise eingeteilt 250. Kaufmanns Kompetenz im Wehrkreis X umfasste dabei ganz oder teilweise die Gaue Weser-Ems, Süd-Hannover-Braunschweig, Ost-Hannover, Hamburg und Schleswig-Holstein 251. Zugleich umfasste der Wehrkreis dabei ebenfalls ganz oder teilweise die Einzelstaaten Preußen (mit zwei Provinzen), Bremen, Hamburg und Oldenburg. Grafisch dargestellt sahen diese Überschneidungen folgendermaßen aus 252:
Abb. 8: Wehrkreis X im Nordwesten des Reiches.
250 Zur Einteilung der Wahlkreise vor dem Beginn des Krieges vgl. Müller-Hillebrand, Burkhart: Das Heer 1933–1945, Bd. 1. Das Heer bis zum Kriegsbeginn, Darmstadt 1954, S. 130f. 251 Vgl. hierzu die Übersicht in: Atlas Zweiter Weltkrieg, Augsburg 1999. Herausgegeben von John Keegan, S. 91. 252 Eigene Darstellungen.
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Abb. 9: Wehrkreis X mit den Grenzen der Gaue.
262
Abb. 10: Wehrkreis X mit den Grenzen der Staaten und Provinzen. Die erste Skizze umreißt den Wehrkreis X. Die zweite Skizze hat innerhalb der Grenzen des Wehrkreises die Grenzen der Gaue eingezeichnet. Die dritte Skizze wiederum zeigt innerhalb der Grenzen des Wehrkreises die Grenzen der Einzelstaaten und preußischen Provinzen. Der vehemente Protest der verbliebenen Gauleiter führte zwar zu verschiedenen Neuansätzen. Aber diese verkomplizierten die gesamte Angelegenheit nur noch mehr, ohne einen Ausgleich für die Zurücksetzungen zu bieten 253. Und so sah sich der Ministerrat beispielsweise bereits am 22. September 1939 dazu genötigt, die verbliebenen Gauleiter ersatzhalber zu „Beauftragten“ des Reichsverteidigungskommissars zu ernennen, in dessen Wehrkreis ihr Gau lag 254. Nur drei Wochen nach der Schaffung des Amts des Reichsverteidigungskommissars musste also bereits korrigierend eingegriffen werden. Dass diese kosmetische Korrektur nichts am Unterstellungsverhältnis änderte, hätte dem Ministerrat klar sein müssen. Aber offenbar verfiel dieser in blinden Aktionismus. Die gesamte Situation der Reichsverteidigungskommissare zwischen 1939 und 1942 stellte eine der wenigen Fälle in der Geschichte des Nationalsozialismus dar, in dem die Unterordnung von Gauleitern unter andere Institutionen und Kompetenzen tatsächlich vollzogen wurde. Dabei ist jedoch zu beachten, dass diese Unterordnung unter andere Gauleiter geschah. 253 Vgl. Hüttenberger: Wandel, S. 154–156. 254 RGBl. 1939/I, S. 1937.
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Die Lösung erbrachte erst die sogenannte „Parteigaulösung“ vom November 1942. Nachdem die für alle Beteiligten (bis auf die Reichsverteidigungskommissare) unbefriedigende Lage seit drei Jahren nur in kleinen Schritten fortkam, sollte eine neue umfassende Verordnung das Problem endgültig aus der Welt schaffen. Mit Wirkung vom 16. November 1942 wurden aus den wenigen großen Wehrkreise, für die jeweils ein Reichsverteidigungskommissar zuständig gewesen war, mehrere Reichsverteidigungsbezirke gebildet, die genau mit den Gaugrenzen übereinstimmten. Mit der Entstehung der nunmehr insgesamt 42 Reichsverteidigungsbezirke war jeder Gauleiter in Personalunion Reichsverteidigungskommissar seines Gaues geworden 255. Das Gefälle zwischen den Gauleitern war damit ein gutes Stück weit ausgeglichen worden. Wie in den Ausführungen über Kaufmanns Amtsführung als Gauleiter des Gaues Hamburg kurz erwähnt wurde, waren die Kompetenzüberschneidungen in der zivilen Reichsverteidigung zwischen den Gauleitern und den Reichsverteidigungskommissaren bis zum Ende des „Dritten Reiches“ existent geblieben. Eine Bereinigung der Lage hat es dahingehend nie gegeben, und wenn, dann wäre es höchstwahrscheinlich äußerst kompliziert und kleinlich ausgefallen. Bis zur Bestellung aller Gauleiter zu Reichsverteidigungskommissaren im November 1942 war die unklare Kompetenzverteilung jedoch weniger problematisch, als es vielleicht erscheinen mag. Ernste Kriegsumstände, die ein umfangreicheres Handeln des zuständigen Reichsverteidigungskommissars im Wehrkreis notwendig gemacht hätten, blieben bis dahin aus. Einzige Ausnahme war der Luftkrieg, dessen Folgen ziemlich genau 1942 einen Wendepunkt erlebten 256, wobei darauf hinzuweisen ist, dass die Reichsverteidigungskommissare „nur“ für die zivile Seite des Luftkrieges zuständig waren 257. Insofern wurde die Neuordnung der Verhältnisse zwischen Gauleitern und Reichsverteidigungskommissaren also zeitlich sehr knapp noch für alle Beteiligten zufriedenstellend geregelt, um auf die unmittelbaren Kämpfe im Gaugebiet vorbereitet zu sein. Denn mit der Neuordnung 1942 waren etwaige Kompetenz255 RGBl. 1942/I, S. 654–656. 256 Der Krieg erhielt im Sommer/Herbst 1942 sowohl für das Reich als auch seine Verbündeten eine entscheidende Wende. Während einerseits zwar die größte territoriale Ausdehnung in Europa, Afrika und Asien erreicht wurde, wurden fortan alle Verbündeten an beinahe allen Fronten durchgehend zurückgedrängt. Zu dieser Wende des Gesamtkriegsverlaufs immer noch äußerst anschaulich und kompakt Dahms, Hellmuth Günther: Der Zweite Weltkrieg, Tübingen 1960, S. 288–301. Zum Scheitern des „Traums vom Nil“ in Afrika vgl. Reuth, Ralf Georg: Entscheidung im Mittelmeer. Die südliche Peripherie Europas in der deutschen Strategie des Zweiten Weltkriegs 1940–1942, Koblenz 1985, S. 204f. Zur Wende im Luftkrieg vgl. Müller: Bombenkrieg, S. 144f. Zur Wende des Kriegsgeschehens im Pazifik vgl. Craig, William: Als Japans Sonne unterging. Das Ende des Krieges im Pazifik, Wien/München/Zürich 1970, S. 11. Zur kritischen Situation an der Ostfront in Europa vgl. Hartmann, Christian: Unternehmen Barbarossa. Der deutsche Krieg im Osten 1941–1945, 2. Aufl., München 2012, S. 44–46. 257 „Die Bekämpfung der Luftangriffe selbst ist Aufgabe der Wehrmacht, der Schutz vor ihren Folgen obliegt dagegen dem Luftschutz.“ Vgl. Stuckart, Wilhelm/Von Rosen-Von Howel, Harry: Die Reichsverteidigung (Wehrrecht), 2. Aufl., Leipzig 1943, S. 68.
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fragen kein kritisches Thema mehr. Die Personalunionen hatten eventuellen Streitigkeiten im Ernstfall den Boden entzogen. Solange bei Ausscheiden eines Gauleiters beide Ämter nur in Personalunion vergeben wurden, hatte dies keine negativen Auswirkungen auf den Verwaltungsablauf.
4.3.2. Fiktive „Amtsinhaberschaft“ gegenüber realer „Amtsführung“ „In vorbildlicher Weise standen Seite an Seite mit der Luftwaffe als beteiligten Organisationen und Verwaltungen – an ihrer Spitze die Partei – bei der Abwehr englischer Luftangriffe und der Behebung entstandener Schäden. Ich sage das mit Dank und Anerkennung und mit Stolz auf unsere Stadt und ihre Menschen.“ 258
Das Zitat stammt aus dem Neujahrsaufruf Kaufmanns vom Dezember 1940. In diesem lobte er unumwunden die an der zivilen Reichsverteidigung Hamburgs beteiligten Stellen. Tatsächlich handelte er selbst als Amtsinhaber vergleichsweise wenig, und überließ das „Tagesgeschäft“ einmal mehr seinen Untergebenen. Auch als Reichsverteidigungskommissar für den Wehrkreis X agierte Kaufmann also wieder auf die gleiche Art und Weise, wie in seinen anderen hohen und höheren Funktionen seit der „Machtergreifung“. Grundsätzlich kann dies „auf den zweiten Blick“ nicht weiter verwundern. Er delegierte nicht einfach aus Bequemlichkeit diverse Aufgaben, deren Kompetenzen ihm mit seinen vielen herausragenden Ämtern zufielen. Kaufmanns Tag war einfach voll. Er musste zwangsläufig einiges an Aufgaben delegieren, nicht zuletzt die vielen Tages- und Routineaufgaben. Anders konnte er den politischen Aufsichtsfunktionen seiner Ämterund Kompetenzvielfalt überhaupt nicht gerecht werden. Für die Übernahme der zivilen Reichsverteidigung im Wehrkreis X stand das gleiche zu erwarten. Dies gilt umso mehr, wenn bedacht wird, dass das Reichsverteidigungskommissariat zwar ein sehr hohes Amt darstellte, aber nicht an die wichtige Reichsstatthalterschaft heranreichte. Die Prioritätenfrage wäre im Ernstfall also nicht zugunsten der zivilen Reichsverteidigung ausgefallen. Auf die Probe gestellt wurde dies jedoch nie. Für Kaufmann ist hinsichtlich des Amtes als Reichsverteidigungskommissar zuerst folgendes festzustellen: Kaufmann gehörte zu den ersten vierzehn Inhabern dieses neuen Amtes. Durch die Einteilung der Wehrkreise und die Ernennung einiger, aber nicht aller Gauleiter zu Reichsverteidigungskommissaren wurde mal wieder ein Ungleichgewicht zwischen den Gauleitern geschaffen. Konkret im Falle Kaufmanns bedeutete seine Berufung zum Reichsverteidigungskommissar 1939, dass er ein kleines Stück über die anderen Gauleiter des Wehrkreises hinausragte. Dies waren die Gauleiter Röver, später Paul Wegener für Weser-Ems, Rust, später Hartmann Lauterbacher für SüdHannover-Braunschweig, Telschow für Ost-Hannover und Lohse für Schleswig-Holstein. Zufälligerweise waren zumindest Röver/Wegener, Rust und Lohse im „Dritten 258 Kaufmann, Karl: „Neujahrs-Aufruf des Gauleiters“, HFB, 78 (1940), H. 360.
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Reich“ recht ranghoch. Insofern muss Kaufmanns Berufung also nicht unbedingt eine schroffe Zurücksetzung anderer Gauleiter bedeutet haben. Die symbolische Wirkung dürfte aber trotzdem allen deutlich gewesen sein. Ansonsten ist Kaufmanns Tätigkeit wieder geprägt gewesen vom Delegieren. Um die diversen einzelnen Angelegenheiten der zivilen Reichverteidigung kümmerte er sich beinahe überhaupt nicht. Dies überließ er wieder untergebenen Mitarbeitern. Dies betrifft einerseits einzelne Verwaltungsvorgänge, wie etwa das erstmalige „Auskämmen“ der Verwaltung nach Mitarbeitern, die als Soldaten herangezogen werden könnten 259. Dies gilt aber andererseits auch für etliche Rundschreiben 260. Kaufmann hatte es sich institutionell als Reichsverteidigungskommissar für den Wehrkreis relativ einfach gemacht. Nominell war er Amtsinhaber, gelegentlich schaltete er sich auch aktiv in die Amtsführung ein. Aber den größten Teil der Arbeit überließ er Ahrens, der seine faktische zweite Position in Hamburg damit noch weiter ausbauen konnte. Ahrens hatte zwar schon sehr viele hohe Funktionen inne. Aber Kaufmann ernannte ihn trotzdem zu seinem „Bevollmächtigten des Reichsstatthalters in RV.-Angelegenheiten der Hansestadt Hamburg“. In der Regel ließ Kaufmann Ahrens hierbei frei und autonom handeln. Was Ahrens nicht selbst erledigen konnte, und wozu die mündlichen Besprechungen, die Kaufmann ausgehend von anderen Funktionen mit Ahrens regelmäßig hatte, nicht ausreichten, wurde einfach von Kaufmann an Ahrens weitergeleitet. Ein Beispiel hierfür ist eine Anordnung Görings an die Reichsstatthalter bezüglich der zivilen Reichsverteidigung (denn die frühen Reichsverteidigungskommissare waren größtenteils identisch mit den Reichsstatthaltern). Kaufmann erhielt diese Anordnung, leitete sie umgehend an Ahrens weiter, und versah sie mit dem Hinweis: „Diese Anordnung ist sofort durch Boten den nachgeordneten Behörden zuzustellen. Ich ersuche auch die in den Verteilerplan p-v aufgeführten Stellen nachrichtlich zu unterrichten. Das Bezirkswirtschaftsamt ist von mir unmittelbar unterrichtet worden.“ 261
Ahrens führte das Gewünschte aus, eine Rückmeldung an Kaufmann gab es hierzu offenbar nicht 262. Ahrens handelte also eigenständig und eigenverantwortlich. Der Ernennung Ahrens’ durch Kaufmann zeigt aber noch etwas wichtiges auf. Kaufmanns Ämtervermischung hatte 1939 inzwischen ein gewaltiges Niveau erreicht. Der Reichsgau Hamburg ist zwar nicht unbedingt ein repräsentatives Beispiel für die Ämterund Kompetenzüberlagerungen im „Dritten Reich“, da das Verhältnis von Partei und Staat in Hamburg viel umfassender und weitreichender zusammengelegt wurde als im Großteil des „Altreiches“. Aber das Selbstverständnis von Kaufmanns Amtsführung war offenbar eng verwoben mit seiner Kompetenzvermischung. Besonders deutlich wird 259 Exemplarisch: StaHH 113-5, H I, 3, Schreiben vom 23. September 1939. 260 Ebd., Rundschreiben vom 18. Dezember 1939. 261 Ebd., Schreiben vom 19. Februar 1940. 262 Ebd., Rundschreiben vom 21. Februar 1940.
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dies im Vergleich mit anderen Gauleitern und Reichsverteidigungskommissaren. Der Gauleiter von Köln-Aachen, Grohé, handelte beispielsweise in den Angelegenheiten der zivilen Reichsverteidigung zumeist ausdrücklich als Reichsverteidigungskommissar. Gelegentlich ergingen solche Anweisungen auch unter dem Briefkopf des Gauleiters, was aber an der nicht immer eindeutigen Kompetenzverteilung lag 263. Anders war es bei Kaufmann. Dieser handelte selbst kaum als Reichsverteidigungskommissar und ernannte stattdessen einen Bevollmächtigten hierfür. Diesen Bevollmächtigten bezeichnete er aber nicht als „Bevollmächtigten des Reichsverteidigungskommissars“, auch nicht als „Bevollmächtigten des Gauleiters“, sondern als „Bevollmächtigten des Reichsstatthalters“. Kaufmann ordnete die neue Funktion des Reichsverteidigungskommissars also einfach in seine Ämtervermischung ein (oder auch „unter“), in der die Reichsstatthalterschaft die meist genutzte darstellte. Kaufmann trennte in seinem Selbstverständnis also kaum noch nach seinen hohen Ämtern, sondern ordnete sie einfach in „sein“ Gesamtgefüge ein. Dies entsprach seinem Handeln in allen Funktionen seit Etablierung des Reichsgaues 1938. Kaufmanns eigene Arbeit als Reichsverteidigungskommissar blieb also sehr spärlich. Während andere Amtsinhaber, wie etwa der bereits als Vergleich angeführte Grohé, sich persönlich mit Evakuierungsplänen, Straßenreparaturen und Panzersperren beschäftigten 264, überließ Kaufmann solcherlei Angelegenheiten der Verwaltung. Im Wesentlichen erledigte Ahrens diese Aufgaben und bediente sich dabei der Hamburger Staatsverwaltung. Innerhalb dieser waren hierbei verschiedene Dienststellen mit Themenbereichen der zivilen Reichsverteidigung befasst. Dies hing nicht zuletzt mit Hamburgs Charakter als eng bebauten Stadtstaat zusammen. Dadurch waren für unterschiedliche Kriegsschäden, wie etwa Gebäudeschäden, Straßenschäden oder staatliche Eigentümer jeweils andere Dienststellen zuständig. Offenbar führte gerade diese umfangreiche Bürokratiesierung dazu, dass Kaufmann sich gelegentlich einschaltete. Denn eine Straffung und Neuordnung der zuständigen Stellen war allem Anschein nach notwendig, um im allgemeinen Bombenhagel noch einigermaßen einen Überblick behalten zu können. Noch im März 1945 ordnete Kaufmann persönlich (also nicht über Ahrens oder andere Dienststellen, da es hierbei um eine grundsätzliche Entscheidung ging) einen Umbau der mit den Kriegsschäden befassten Stellen an. Ziel dieser Neuausrichtung war eine Vereinfachung und damit Effizienzsteigerung. Nunmehr sollten nicht mehr einzelne untergeordnete Dienststellen der Staatsverwaltung für die zivile Reichsverteidigung zuständig sein. Alle bislang zuständigen Ämter sollten in Kaufmanns Zentralbüro zentralisiert werden. Die einzelnen Organisationen und Behörden sollten also nicht mehr untereinander handeln, sondern mit dem Fixpunkt Kaufmanns als Reichsverteidigungskommissar arbeiten 265. Es handelte sich folglich um ein nicht unerhebliches Verfahren. 263 Meis: Grohé, S. 50f. 264 EBd. und S. 63. 265 Zum gesamten Vorgang vgl. die Akten in StaHH 311-3, I, 442-40, K-2/4.
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Die Verfügung wurde zwar noch zur Kenntnisnahme an die jeweiligen Behörden weitergeleitet. Dies erfolgte aber erst nach neun Tagen 266. Dies zeigt das kriegsbedingte Chaos sehr anschaulich an. Zur Ausführung gelangte das Vorhaben, soweit aus den erhaltenen Akten ersichtlich, jedoch nicht mehr. Für Kaufmanns Persönlichkeit ist an dieser kurzen Episode aber dennoch eine gewisse Wichtigkeit erkennbar. Nachdem er fünfeinhalb Jahre lang Ahrens und ihm untergeordneten Verwaltungsstellen faktisch die Arbeit des Reichsverteidigungskommissars erledigen ließ, und nur wichtigste Entscheidungen dazu selbst traf, wollte er (oder sah sich dazu gezwungen) im März 1945 die Kompetenzen und schnellere Verwaltungswege näher an sich ziehen. Wenn aber Kaufmann ab 1943 nicht mehr von einem siegreichen Kriegsausgang überzeugt war, wieso dann noch wenige Wochen vor der kampflosen Übergabe diese erneute Verwaltungsverschiebung der zivilen Reichsverteidigung in Hamburg? Es könnte sich hierbei durchaus um guten Willen Kaufmanns gehandelt haben. Eine kurzfristige Vereinfachung der Verwaltungsverfahren wäre in seinen konkreten Folgen und Auswirkungen zwangsläufig der Hamburger Bevölkerung (und damit auch der Herrschaft von Partei und Staat) zugute gekommen. Dies könnte einer der Beweggründe gewesen sein. Der einzige oder gar ausschlaggebende war er aber keineswegs. Denn es sprachen erhebliche Zwangslagen für eine Neuordnung der zivilen Reichverteidigung. Zu diesem Zeitpunkt im März 1945 ging es hinsichtlich der zivilen Reichsverteidigung fast ausschließlich nur noch um die Feststellung von Kriegsschäden. Denn eine effektive zivile Reichsverteidigung im Sinne von Panzerdeckungslöchern, Straßensperren, Ausbesserungen von zerstörten Straßen und anderem war nicht mehr durchführbar. Ein Überblick über diese Kriegsschäden war aber wegen des rasant fortschreitenden Kriegsverlaufs kaum möglich. Denn die Verwaltung war durch immer neue „Auskämmungen“ nur noch sehr dünn besetzt. Die genannten Komplexe, die an einer korrekten oder zumindest halbwegs verlässlichen Feststellung hingen, waren vielfältig. Klagen hierüber, ob aus der Bevölkerung, der Verwaltung selbst oder auch einfach nur ein Bewusstsein Kaufmanns über die unerträgliche Situation bauten also Druck auf, die Feststellungen und damit ihre Folgen erheblich zu verbessern. Zu diesen Komplexen gehörten unter anderem Entschädigungszahlungen 267, Ausgaben für Wiederaufbauten 268, Bilanzierungen von Einnahmeausfällen Hamburgs mangels Steuern (was die durch die „allgemeinen“ Kriegsausgaben ohnehin schon verzerrten Haushaltsplanungen noch weiter erschwerte) 269 und vieles weiteres. Während des Krieges selbst konnten diese Feststellungen immer nur als „vorläufige Schätzungen“ bezeichnet werden, und selbst diese waren meistens lückenhaft und schon nach dem nächsten Bombenangriff wieder überholt 270. Kaufmann musste also handeln, und wer sonst als der Reichsverteidigungskommissar und Reichsstatthalter persönlich hätte so etwas anordnen können? 266 Im Einzelnen ebd. 267 Exemplarisch: StaHH 311-3, I, 442-40, K-5/6. 268 Exemplarisch: StaHH 311-3, I, 442-40, K-5/3. 269 Exemplarisch: StaHH 311-3, I, 442-40, K-5/2. 270 Exemplarisch: Ebd., Schreiben vom 26. Juli 1944.
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Hierzu muss allerdings noch etwas angemerkt werden. Die Feststellungen der Kriegsschäden waren nicht an einem simplen „Zuviel“ an Bürokratie gescheitert. Selbst das Hamburg der Nachkriegszeit benötigte Jahre um einen Überblick zu erhalten. Dieser musste, soweit die Kriegsschäden rekonstruierbar waren, im Laufe der Jahre immer weiter nach oben korrigiert werden, da sie sich als immer verheerender herausstellten, als ursprünglich bilanziert 271. Kaufmann handelte mit dem Versuch der Zentralisierung im März 1945 also nicht (nur) aus Gründen des eigenen Machterhalts, sondern weil es realpolitisch geboten schien. Auch wenn Kaufmann also selbst kaum als Reichsverteidigungskommissar für den Wehrkreis X agierte, müssen dennoch einige Punkte noch im Zusammenhang mit seiner Amtsführung genannt werden. Einer hiervon betrifft die persönlichen Ausgaben des Amtsinhabers. Auch wenn Kaufmann sein Amt kaum ausfüllte, unterhielt er dennoch selbst eine eigene Befehlsstelle in einem der drei Hamburger Hochbunker 272. Allein die Möbel hierfür kosteten im Jahre 1944 2206,60 RM. Die Gesamtausgaben („Ausgaben für den Reichsverteidigungskommissar […], bei denen es sich um Kriegsausgaben handelt“) für 1944 lagen bei mehr als 100 000 RM, darunter auch Unterkunftskosten für das Hotel „Vier Jahreszeiten“ 273. Ob damit das „Vier Jahreszeiten“ in München gemeint war, welches von auswärtigen Nationalsozialisten dort gerne aufgesucht wurde, oder das gleichnamige Hotel in Hamburg war, geht aus den Akten nicht hervor. Da das Hamburger Hotel, welches im Übrigen in keiner Verbindung mit seinem bayerischen Namensvetter stand, mit dem Kriegsverlauf aber auch zunehmend „ausgebombte“ Unternehmen und Behörden aufnahm, ist wohl auf eben jenes zu schließen. Die Kosten des Reichsverteidigungskommissars betrugen dort 1944 5685,46 RM 274, womit dieser Posten einen der größten der Hoteleinnahmen darstellte 275. Die Koordinierung der zivilen Reichsverteidigung war also mit einigem finanziellen Aufwand verbunden, auch wenn sich das Reich kriegsbedingt in einer durchgängigen finanziellen Schieflage befand. Ebenfalls ein weiterer Punkt, der hinsichtlich Kaufmanns Wirken als Reichsverteidigungskommissar betrachtet werden muss, liegt im Zeitmanagement. Auch wenn Kauf271 Exemplarisch: Ebd., Schreiben vom 14. Juli 1948. 272 Hamburg ist im Allgemeinen die deutsche Stadt gewesen, in der die meisten Bunker gebaut worden waren. Vgl. hierzu näher Rossig, Ronald: Hamburgs Bunker. Dunkle Welten der Hansestadt, Berlin 2014. Bei Fliegeralarmen fand Kaufmann als Reichsverteidigungskommissar aber Unterkunft in einem eigens gebauten Bunker auf dem Gelände der Reichsstatthalterei. Einen weiten Weg hatte er bei Fliegeralarmen also zumindest zu Tage in der Regel nicht. Vgl. zu diesem Bunker Wlekinski, Oliver: Die Befehlsstelle des Reichsverteidigungskommissars im Wehrkreis X (Hamburg), in: IBA, 18/1991, S. 3–14. 273 StaHH 113-5, H I, 2, Schreiben vom 8. Februar 1945. Für die Jahre 1939 bis einschließlich 1943 sowie für 1945 haben sich keine Kostenaufstellungen erhalten. 274 Ebd. 275 Die Geschichte des Hamburger „Vier Jahreszeiten“ ist inklusive der Zeit des „Drittes Reiches“ bereits erforscht worden. Vgl. Ebelseder, Sepp/Seufert, Michael: Vier Jahreszeiten. Hinter den Kulissen eines Luxushotels, Hamburg 2002.
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mann das „Tagesgeschäft“ der zivilen Reichsverteidigung fast völlig an Ahrens delegierte, heißt dies nicht, dass es keinen zeitlichen (Mehr-)Aufwand für den ohnehin bereits vollen Terminkalender von Hamburgs „Führer“ bedeutet hätte. In Hamburg war im Rahmen des Planspiels zur erwarteten „Großkatastrophe“ (vor dessen Schutz alle Vorbereitungen im Juni 1943, also einen Monat vor der „Operation Gomorrha“ abgeschlossen waren, und die zwar sehr viele Eventualitäten bedachte und vorbereitete, aber so weit hinter der erwarteten Realität der Zerstörung zurückblieb, dass sie gar „nur“ mit einigen Hundert Toten rechnete) ein Organisationsplan für Luftangriffe aufgestellt worden, über den für und von jedem führenden Funktionsträger der oberen und mittleren Instanzen sowie deren Stellvertretern für Notfälle (Privat-)Anschriften und (Privat-) Fernsprechnummern niedergelegt waren. Kaufmann hingegen war dort mit dem Gefechtsstand der dritten Flakdivision an der Rothenbaumchausse oder alternativ mit der (regulären) Befehlsstelle des Reichsverteidigungskommissars in der Magdalenenstraße 50 verzeichnet 276. Mangels Quellen lässt sich nicht mehr überprüfen, ob Kaufmann tatsächlich immer oder zumindest meistens einen der beiden Orte aufsuchte. (Bei Tagesangriffen wird er sich wahrscheinlich eher in den bereits erwähnten Bunker im Garten der Reichsstatthalterei begeben haben, der näher und damit sicherer war. Bei nächtlichen Angriffen wären aber die beiden Orte wohl sicherer gewesen, zumindest solange die Vorlaufzeit der Fliegerwarnungen ausreichte.) Da aber während der Alarme auch wichtige Fragen für den Gauleiter oder Reichsstatthalter auftreten konnten, ist davon auszugehen. Doch ob Kaufmann nun bei jedem der immerhin 213 (meistens nachts) erfolgten Luftangriffe 277 immer an einem der beiden Orte zu finden war oder nicht, sind sie für Kaufmann von großer Wichtigkeit. Denn erstens war der Luftkrieg gegen das Reich gerade in solch für die Alliierten äußerst günstig gelegenen Großstädten und Rüstungszentren wie Hamburg für die Bevölkerung nervenzehrend. Dies betraf Nationalsozialisten wie Nichtnationalsozialisten. Zweitens würde Kaufmanns Anwesenheit in Gefechtsstand, Befehlsstelle oder Reichsstatthalterbunker bei seiner Verantwortung und seinen Aufgaben durchgearbeitete Nächte bedeuten, sei es auch „nur“ Anwesenheit und/oder Koordinierung während Ahrens alles drum herum erledigte. Drittens traf dieser zusätzliche Stresspegel bei Kaufmann nicht auf günstige Bedingungen. Spätestens ab 1943 hatte er enorme und immer weiter zunehmende gesundheitliche Probleme. Hierauf wird noch 276 Die entsprechenden Unterlagen des ersten Halbjahres 1943 zur Vorbereitung auf die „Großkatastrophe“ finden sich in StaHH 113-5, H I, 3. Im Übrigen scheint Kaufmann aber auch außerhalb der regulären Wege von Partei und Staat beispielsweise der Hamburger Feuerwehr gelegentlich über persönliche Kontakte mit zusätzlichem, nicht vorgesehenen und daher auch nicht zugeteilten Material geholfen zu haben, was nicht gänzlich legal verlaufen sein soll. Soweit zumindest mit Berufung auf eigene, nicht nachprüfbare Erfahrungen von Brunswig, Hans: Feuersturm über Hamburg. Die Luftangriffe auf Hamburg im 2. Weltkrieg, Stuttgart 2003, S. 138f. 277 Eine genaue Aufschlüsselung der Luftangriffe nach Dauer, Bombenlast, Toten und weiteren statistischen Angaben findet sich ebd., S. 450–456.
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ausführlich zurückzukommen sein 278. Hier genügt der Hinweis, dass Kaufmann körperlich 1943 bereits nicht mehr mit voller Kraft wirken konnte, dies aber versuchte. Bombenangriffe auf Hamburg, noch dazu nächtliche, verschlechterten dies eher, als Kaufmanns Körper Ruhe zu geben. Ein weiterer Punkt, der im Zusammenhang mit Kaufmanns Amtsführung, oder besser „Amtsinhaberschaft“, besprochen werden muss, ist der der umfassenden Zerstörung Hamburgs durch die alliierten Bombenangriffe. Wenngleich die meisten großen, mittleren und gar kleinen Städte spätestens 1945 in Trümmern lagen, wurde Hamburg hierbei besonders stark zerstört. Dies lag nicht zuletzt an Hamburgs geografischer Lage, welche für die alliierten Bomber relativ günstig lag, sondern auch an Hamburgs ökonomischer Bedeutung für den Schiffsverkehr und das Hinterland. Zwar wurde Hamburg im Laufe des Zweiten Weltkrieges etliche Male bombardiert. Aber eine herausragende Bedeutung für Hamburgs Zerstörung und für die Erinnerungskultur wurde die „Operation Gomorrha“ vom Juli und August 1943. Die Angriffe begannen am 25. Juli und endeten nach vier Angriffen bei Nacht sowie zwei bei Tage am 3. August. Das Ergebnis war verheerender als alle bis dahin erfolgten Luftangriffe und können durchaus in einer Reihe mit den späten Angriffen auf Dresden, Berlin sowie dem ersten „1 000-Bomber-Angriff“ auf Köln verstanden werden. Die Arbeit der an der zivilen Reichsverteidigung in Hamburg beteiligten Behörden verlegte sich hiernach fast ausschließlich nur noch auf die „bloße“ Feststellung von Kriegsschäden 279. Der Stadtkern wurde fast völlig ausgelöscht, und was nicht gesprengt wurde, verbrannte in der Regel. Knapp 35 000 Menschen starben, 125 000 wurden verletzt, fast 280 000, also 44 Prozent der Wohnungen wurden zerstört, etwa 900 000 Menschen wurden obdachlos und verließen zum größten Teil per Evakuierung die Stadt 280. Wie reagierte Kaufmann auf diese Zerstörung „seiner“ Stadt, „seines“ Gaues und „seines“ Herrschaftsgebietes, die selbst für die Verhältnisse des Luftkriegs auf einen Schlag außerordentlich war 281? Goebbels notierte am 29. Juli folgendes in sein Tagebuch: 278 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen in den Unterkapiteln 5.2. und 5.3. 279 Vgl. zum Thema detailliert Meis, Daniel: Die Entwicklung der Feststellungen der Kriegsschäden in Hamburg zwischen 1940 und 1948, in: BDLG, 157/2021, S. 191–198. 280 Eine vergleichsweise nüchterne und sachliche Abhandlung des Luftkrieges auf Hamburg bietet das bereits erwähnte Werk von Brunswig: Feuersturm. 281 Die fast völlige Zerstörung Hamburgs, die im Gegensatz zu allen früheren alliierten Angriffen auf deutsche und verbündete Ziele das erklärte Ziel gewesen war, dürfte im Übrigen der Grund gewesen sein, warum Kaufmann nie dazu gekommen war, die Büros seiner verschiedenen Hauptämter zusammenzulegen. Die „kleineren“ Ämter konnte er parallel ausführen, aber Gauleitung, Reichsstatthalterei und Reichskommissariat für die Seeschifffahrt hatten jeweils eigene Amtssitze. Wenige Monate vor der „Operation Gomorrha“ hatte Kaufmann dem Senat erläutert, dass er „[i]m Zuge der [geplanten] Verwaltungsreform [zur Effizienzsteigerung und Vereinfachung des Reichsgaues] beabsichtige, […] die räumliche, sachliche und organisatorische Zusammenarbeit seiner persönlichen Büros als Gauleiter, als Reichsstatthalter und als Reichskommissar für die Seeschiffahrt sicherzustellen.“ StaHH A2a 1941/1943, 5. Senatsberatung. Mittwoch, den 31. März 1943. Die Tatsache, dass die Stadt im Trümmern lag und eine Wiederaufrichtung
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„Unserer Luftverteidigung gelangen nur wenige Abschüsse, so daß man hier von einer nennenswerten Einbuße des Angreifers nicht sprechen kann. Kaufmann gibt mir einen ersten Bericht über die Wirkungen des britischen Luftangriffs. Er spricht von einer Katastrophe von vorläufig unvorstellbaren Ausmaßen. Wir haben hier die Zerstörung einer Millionenstadt festzustellen, die bisher in der Geschichte wohl kein Beispiel findet. Es tauchen damit Probleme auf, die fast nicht zu bewältigen sind. Man muß nun die Millionenbevölkerung dieser Stadt verpflegen, ihr eine Unterkunft verschaffen, sie nach Möglichkeit evakuieren, muß ihnen Kleider und Wäsche geben, kurz und gut, man hat ihr Aufgaben zu bewältigen, von denen wir uns vor einigen Wochen noch gar keine Vorstellung machen konnten. Kaufmann vertritt den Standpunkt, daß die Stadt bis auf kleine Reste evakuiert werden muß. Er spricht von rund 800 000 Obdachlosen, die auf der Straße herumirren und nicht aus noch ein wissen. Ich glaube, daß Kaufmann angesichts der zweifellos außerordentlichen Lage etwas die Nerven verloren hat. Er ist wohl für eine so große Katastrophe ein wenig zu lyrisch und romantisch veranlagt.“ 282
Goebbels und Kaufmann hatten sich im Laufe der Jahre stark entfremdet 283. Der zitierte Tagebucheintrag ist überhaupt der letzte, der den einstigen Freund Kaufmann erwähnt. Hitlers Strategie, Goebbels an sich zu ziehen, und damit dem sozialistischen Parteiflügel zu entfremden, funktionierte also bei Kaufmann sehr gut. Es ist ein grundlegender Unterschied, wenn Goebbels’ frühere Äußerungen mit denen von 1943 verglichen werden. Zwar war Goebbels auch knapp zwanzig Jahre vor dem zitierten Tagebucheintrag nie unkritisch gegenüber Kaufmann gewesen (30. Januar 1926: „Kaufmann lässt sich zuviel mit der Dekadenz ein. Er kompromisselt. Er ist zum Führen zu weich!“ 284), aber der mitleidlose und fast schon lakonische Tagebucheintrag nach Hamburgs Zerstörung stand in keinem Zusammenhang zur früher besungenen Männerfreundschaft (14. April 1925: „Kaufmann fühlt und leidet mit mir. Daß er da ist, macht, daß ich nicht ganz allein stehe.“ 285). Entscheidend ist für Kaufmanns Reaktion auf die Bombenangriffe aber Goebbels’ Feststellung, der ranghöchste Nationalsozialist Hamburgs habe „etwas die Nerven verloren“. Speer befand sich während der Tage der Angriffswelle auf Hamburg unmittelbar in Hitlers Nähe. In seinen „Erinnerungen“ bemerkte er folgendes: von Industrie und Wohnverhältnissen als Priorität angegangen wurde, erklärt also die weitere physische Trennung der Amtssitze. 282 Goebbels: Tagebücher, Bd. 5, S. 1945f. 283 Dies galt offenbar während der gesamten Hamburger Zeit Kaufmanns, also spätestens ab 1929. Rosenberg etwa erwähnte in seinen „Erinnerungen“, dass bei seinen mehrfachen Besuchen Kaufmanns „[a]m Abend, im engen Kreis seiner Mitarbeiter, […] oft der Zustand der Partei beredet [wurde], wobei eine Person im Zentrum allgemeiner Kritik stand – Dr. Goebbels.“ Rosenberg: Aufzeichnungen, S. 154. Hervorhebungen im Original. 284 Goebbels: Tagebücher, Bd. 1, S. 224. 285 Ebd., S. 175.
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„Gauleiter Kaufmann bat Hitler fernmündlich wieder und wieder, die Stadt zu besuchen. Als das erfolglos blieb, schlug er vor, daß Hitler wenigstens eine Abordnung einiger besonders verdienter Rettungsmannschaften empfangen müsse. Aber auch das lehnte Hitler ab.“ 286
Laut Speer bemühte sich Kaufmann also nachdrücklich darum, dass Hitler sich in Hamburg zeige und sich die Situation selbst vor Augen führe. Hitler lehnte aber bis zum Kriegsende immer wieder ab, zerstörte Städte zu besuchen. Hamburg stellte hierbei keine Ausnahme, sondern die Regel dar. Kaufmann scheint jedenfalls überzeugt davon gewesen zu sein, dass Hitlers Besuch schon aus moralischen Gründen notwendig sei, und dass der Oberbefehlshaber der Wehrmacht aus der Anschauung für den Kriegsverlauf Informationen gewinnen könne. Anderenfalls hätte er es nicht „wieder und wieder“ bei Hitler versucht, sondern spätestens nach dem zweiten „Nein“ seinem „Führer“ Folge geleistet. Dies war immer Kaufmanns Politikstil gewesen: Dranbleiben und immer wieder nachhaken. Die „Operation Gomorrha“ bedeutete jedenfalls einen Einschnitt an der „Heimatfront“, nicht zuletzt durch die sich verbreitenden Nachrichten und die Evakuierungen von fast einer Million Menschen auf das halbe Reich. Verstärkt wurde dies dadurch, dass die Sommermonate Juli bis September 1943 im gesamten deutschen Machtbereich einen Umschwung erbracht hatten: Von der Ostfront, Italien, Nordafrika oder eben radikalen Angriffen auf Städte im Reich wie vor allem Hamburg deutlich zeigt. Dass bei vielen „Volksgenossen“ nach den ohnehin schon schmerzlichen Ereignissen um Stalingrad im Winter und Frühjahr nunmehr im Sommer die „Nerven blank lagen“, machen unter anderem die internen SD-Berichte deutlich. Hinsichtlich der Auswirkungen der Hamburger Angriffswelle auf die Stimmung im gesamten Volk vermerkte ein Bericht unter anderem folgendes: „Im ganzen Reich sind auch Gerüchte über angebliche Unruhen in Hamburg verbreitet, zu deren Niederwerfung angeblich Polizei und SA oder Wehrmacht eingesetzt hätte werden müssen. Diese jeder Grundlage entbehrenden Gerüchte haben aber schon dazu geführt, daß im Reiche von einer Art ’Novemberstimmung’ gesprochen wird, da das deutsche Volk auf die Dauer diese Angriffe nicht ertragen könne und sich dagegen auflehne. Von einsichtigen Volksgenossen wird gewünscht, daß man der durch die Angriffe auf Hamburg neuerdings in verstärktem Maße verbreiteten Unsicherheit und Unruhe in der Bevölkerung entgegentreten möge. Das wirksamste Mittel wird nach wie vor in der baldigen Vergeltung gesehen, da damit allein der englische Luftterror abgestoppt werden könne. Vielfach ist die Bevölkerung im gesamten Reichsgebiet sehr besorgt und stellt die Frage, ob wir überhaupt noch in der Lage seien, die angekündigte Vergeltung zu üben. Schließlich habe es keinen Sinn mehr, wenn bereits alle wesentlichen Städte des Reiches zerstört und dabei auch die Rüstungsindustrie eine empfindliche Einbuße erlitten habe.
286 Speer: Erinnerungen, S. 296.
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Trotzdem haben die meisten Volksgenossen noch die feste Hoffnung, daß Deutschland letzten Endes doch noch die Kräfte aufzubringen in der Lage sei, den Krieg siegreich zu beenden. Dabei blicken sie vertrauensvoll auf den Führer“ 287.
Wie in seinem Handeln als Gauleiter und vor allem als Reichsstatthalter war jedoch auch in seinem Wirken als Reichsverteidigungskommissar sichtbar, dass Kaufmann nach der „Operation Gomorrha“ ein verändertes Verhalten zeigte. Besonders spricht hierfür, dass die Vorbereitungen für den Fall der erwarteten „Großkatastrophe“ nicht einmal in Ansätzen ausreichten, um das Chaos halbwegs wieder ordnen zu können. Egal was Kaufmann erwartete hatte: Die „Operation Gomorrha“ überstieg es bei weitem. Sein danach erfolgter „Rückzug“ aus dem „Tagesgeschäft“ als Gauleiter und Reichsstatthalter wurden hierbei bereits ausführlich erläutert. Da er seine Funktionen als Reichsverteidigungskommissar aber weitgehend Ahrens überließ, ist sein dortiger Rückzug weniger deutlich. Aber selbst untergeordneten Mitarbeitern fiel Kaufmanns Veränderung offenbar auf. Der schon anderweitig zitierte Hans Brunswig beispielsweise, der als Leiter der Abteilung „Technischer Dienst“ im Stab des Feuerwehrpolizeikommandeurs im Krieg mehrfach Kaufmann dienstlich begegnete, beschrieb ihn für 1944 als schweigend und eher passiv 288. Mit dem „alten“ Kaufmann war das jedenfalls nicht mehr vergleichbar. Kaufmann handelte insgesamt also als Reichsverteidigungskommissar passiver als in den wichtigsten seiner Ämter 289. Er delegierte Aufgaben und das „Tagesgeschäft“ noch 287 Meldungen aus dem Reich. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS 1938– 1945, Bd. 14, Herrsching 1984. Herausgegeben von Heinz Boberach, S. 5563. Die allgemeine Stimmung in Hamburg selbst hatte bei den Zurückgebliebenen und den Zurückgekehrten mit der „Operation Gomorrha“ ebenfalls einen erheblichen Kipppunkt erreicht und stand äußerst schlecht. Bis zum Kriegsende sollte sich dies nicht mehr bessern, trotz der umfangreichen Betreuungs- und Hilfsmaßnahmen von Partei und Staat für die Zivilbevölkerung. Vgl. näher zur Stimmung in Hamburg Johe, Werner: Juli 1943. Das Ende der „Volksgemeinschaft“?, in: Bajohr, Frank (Hrsg.): Improvisierter Neubeginn. Hamburg 1943–1953, Hamburg 1989, S. 28–34, hier S. 31–33. 288 Vgl. Brunswig: Feuersturm, S. 333. 289 Gemeint sind damit ausdrücklich die wichtigen und tatsächlich machterfüllten Ämter. Nur diese werden in der vorliegenden Arbeit detailliert betrachtet. Wie aber fast alle Mitglieder der „NS-Führung“ hatte auch Kaufmann noch eine Vielzahl an kleineren Funktionen inne, die teilweise wenig inhaltsreich und teilweise nur Ehrenbezeugungen waren. Ein Beispiel ist Kaufmanns SS-Mitgliedschaft. Er gab in den wichtigen Personalbögen der Partei zwar immer an, schon im Jahr seines NSDAP-Beitritts 1921 SA-Mitglied geworden zu sein (exemplarisch: BA B R 9361-III/534743, SS-Stammrollenauszug des [Karl Kaufmann]). Aber tatsächliche Aktivität als solches lässt sich nicht nachweisen. SS-Mitglied wurde er gar erst, als er nach der „Machtergreifung“ im November 1933 als „Ehrenführer“ zum SS-Oberführer ernannt wurde. Im Januar 1934 stieg er (weiterhin als Ehrenführer) zum Gruppenführer auf. Erst im April 1936 wurde er (offenbar anlässlich der Übernahme der Landesregierung in Hamburg) vom Ehrenführer zum Führer in Himmlers „Persönlichem Stab“ erhoben. Auch dies hatte aber keine tatsächlichen Auswirkungen und diente eher dem Netzwerken innerhalb des „Dritten Reiches“ (insbesondere die
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umfassender an andere, überließ diesen dabei gewisse Spielräume, schaltete sich aber von Zeit zu Zeit auch persönlich ein. In vielerlei Hinsicht ähnelte dies wieder Hitlers Führungsstil. Festzuhalten ist für Kaufmanns Amtsführung zugleich aber auch, dass er einer der ersten Reichsverteidigungskommissare überhaupt war. Hierdurch wurde er nach 1933 (Reichsstatthalterschaft) und 1936 (Übernahme der Landesregierung) schon wieder und ein weiteres Mal gegenüber anderen Gauleitern hervorgehoben. Wenngleich Kaufmanns Beziehung zu Hitler nie ganz einfach gewesen sein mag, muss er hiermit zu den ranghöchsten Nationalsozialisten gezählt werden. Und wenige Jahre später sollten noch weitere Funktionen hinzutreten, die seinen Machtbereich weit über Hamburg hinaus vergrößern sollten. Bis dahin waren sie auf Hamburg konzentriert. Festgehalten werden muss hierbei aber noch etwas. Kaufmann handelte als Reichsverteidigungskommissar weniger deutlich in Personalunion, wie es andere handhabten. Vielmehr „reihte“ er wie dargestellt die Zuständigkeiten des Reichsverteidigungskommissars in seine Kompetenzvielfalt ein, sodass sich die in Hamburg sehr weit fortgeschrittene „Ämtervermischung“ noch weiter verstärkte. Entsprechend wurden die vermischten Funktionen oft auch nach außen hin erlebt. Besonders anschaulich macht das ausgerechnet eine Aussage Hitlers über Kaufmanns Kriegsmanagement: „Ich wußte ganz genau: die guten Gaue waren die guten Gauleiter. Heute ist es noch genauso. Ich habe neulich einen Mißerfolg erlebt in Kassel. Das kann man ruhig aussprechen. Der Mann wird natürlich abgesetzt, er wird abgesetzt und beseitigt. Der war seiner Aufgabe nicht gewachsen. Man darf nicht sagen: Ja, Sie haben es in Berlin und Hamburg leicht gehabt. Im Gegenteil, in Hamburg ist es noch schwieriger. Aber dort ist ein eisenharter Bursche, der durch gar nichts gebrochen werden kann, während der Mann in Kassel einfach zusammengebrochen ist. Der war dieser Sache nicht gewachsen.“ 290
Dies bemerkte Hitler während einer seiner Monologe in der militärischen Lagebesprechung der Nacht vom 27. auf den 28. Dezember 1943. In Kassel war der dortige Gauleiter Weinrich nach einem völlig verheerenden Bombenangriff auf seine „Gauhauptstadt“ Kassel aus der Umgebung, in der er unterwegs war, erst am nächsten Tag dorthin geeilt. Nicht aber um Verteidigungs- respektive Hilfsmaßnahmen zu koordinieren, wie es seine Aufgabe gewesen wäre, sondern um seine privaten Möbel zu retten291. Die Konsequenz war deutlich: Weinrich wurde einer der wenigen Gauleiter, die Hitler im „Dritten Reich“ österreichischen Gauleiter profitierten davon). Die letzte Rangerhöhung stammte vom Januar 1942. Durch diese wurde er Obergruppenführer. Vgl. ebd., Personalnachweis. 290 Hitlers Lagebesprechungen. Die Protokollfragmente seiner militärischen Konferenzen 1942– 1945, Stuttgart 1962. Herausgegeben von Helmut Heiber, S. 479. 291 Der besagte Luftangriff auf Kassel zerstörte die Stadt fast vollständig. Zur Gegenüberstellung von Kassel und Hamburg, deren verheerendste Bombardierungen sich in vielerlei Hinsicht glichen vgl. Aders, Gebhard: Bombenkrieg. Strategien der Zerstörung 1939–1945, Bergisch Gladbach 2004, S. 78–80.
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absetzte. Er lebte hiernach mitsamt Familie auf einem Bauernhof292. Im Vergleich dazu erwähnte Hitler Kaufmann. Hamburg war Mitte/Ende 1943 eine der wohl mit Abstand zerstörtesten Großstädte des Reiches. Dass Hitler ihn im gleichen Atemzug mit dem seiner „Aufgabe nicht gewachsen[en]“ Weinrich kontrastierend als „eisenharten Burschen, der durch gar nichts gebrochen werden kann“ gegenüberstellte, und damit seine Fähigkeiten hochlobte, hätte Kaufmann wohl erfreut, wenn er es denn erfahren hätte. Ebenfalls festgehalten werden muss noch die kurzzeitige enorme Ausweitung von Kaufmanns Reichsverteidigungskompetenzen im Herbst 1944, wenngleich sie fast gänzlich ohne Konsequenzen blieb. Es gab einige wenige Reichsverteidigungskommissare, die trotz der kleinteiligen Zerlegung der Wehrbezirke 1942 irgendwann im Laufe der folgenden Jahre wieder auf andere Wehrbezirke übergriffen. Dies waren Koch im erweiterten Ostpreußen und Kaufmann an der Nordseeküste sowie (mit starken Einschränkungen, weil zu diesem Zeitpunkt schon alles in Trümmern lag und die Kommunikationswege erheblich gestört waren) Wegener als Oberreichsverteidigungskommissar zur Gesamtkoordination in den letzten Kriegstagen. Wie war es im Falle Kaufmanns dazu gekommen? In seinen Memoirenentwürfen hielt er fest, dass „[w]enn ich mich persönlich um die Erweiterung meiner Zuständigkeit als Reichsverteidigungskommissar bemüht habe und bestrebt war, meine Verantwortung auf das Gebiet der gesamten Deutschen Bucht, d. h. also von der dänischen bis zur holländischen Grenze [inklusive der angrenzenden drei Gaue] auszudehen, so muß diese Absicht im Rahmen meines Gesamtplanes betrachtet werden. Je mehr Zuständigkeiten und Verantwortung ich in meine Hand bekam, je größer das Gebiet für diese Zuständigkeit wurde, umso besser mußten die Aussichten für die Durchsetzung meiner Absichten sein.“ 293
Mit diesen Absichten war die erhoffte Verhütung von Kämpfen um Hamburg gemeint 294. Faktisch hatte Kaufmann damit „nur“ den alten territorialen Umfang seines Reichsverteidigungsbezirks von 1939 bis 1942 wiederhergestellt, wenngleich er durch erweiterte Kompetenzen nunmehr auch die zivile Reichsverteidigung an der Küste für den Fall einer alliierten Landungsoperation wie in Italien, Griechenland oder Frankreich zu übernehmen hatte. Es ist zu untersuchen, ob diese Episode als Reichsverteidigungskommissar für die Nordseeküste reale Auswirkungen hatte, abgesehen davon, dass Kaufmann die drei umliegenden Gauleiter erzürnt haben dürfte. Tatsächlich nicht. Denn einerseits verblieb die nicht-küstengebundene zivile Reichsverteidigung bei den anderen Gauleitern um Ham292 Vgl. Höffkes: Generale, S. 384f. 293 PNKK Ordner Nr. 1, Entwurf Manuskript [S. 149]. 294 Dies bedeutet nicht, dass damit ein schon lange verfolgter Plan zur späteren friedlichen Übergabe Hamburgs einhergegangen sei. Kaufmann wollte einfach nur alle Möglichkeiten nutzen, um Hamburg möglichst wenig mit Kämpfen in Berührung kommen zu lassen, wozu er als überregionaler Reichsverteidigungskommissar besser Chancen gehabt hätte.
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burg herum. Und andererseits gab es wider Erwarten keine Invasion an der Nordseeküste, wodurch außer dem Stellungsbau dort nicht viel geschah, die Kompetenzen eines Reichsverteidigungskommissars also nicht zum Tragen kamen. Und selbst dieser Stellungsbau war, verglichen mit dem schnellstens improvisierten Stellungsbau im Süden und Westen des Reiches im Sommer 1944 erst sehr spät begonnen worden 295. Es war also tatsächlich eine kurze Episode. Und doch hat sie eine solche Bedeutung, dass sie hier eigens erwähnt wird. Einerseits zeigt sie ein weiteres Mal deutlich auf, dass Kaufmann kein Gauleiter der dritten Reihe der „NS-Führung“ war, sondern dass er definitiv in der zweiten Reihe stand. Dort stand er zusammen mit einer Handvoll Gauleitern, die anderen „Führern der Provinz“ nicht nur protokollarisch einen Rang voraus waren, sondern über tatsächliche Möglichkeiten besaßen, die andere nicht erlangten. Andererseits macht Kaufmanns kurzzeitige Rangerhöhung deutlich, dass er im Falle einer Invasion an der Nordseeküste mit zu den entscheidenden Persönlichkeiten gehört hätte. Welche grundlegende Bedeutung der nordwestdeutschen Region des Reiches im Verteidigungskampf des Reiches zukam, wird im Kapitel zur kampflosen Übergabe Hamburgs noch genau erläutert. Hier sei vorab nur bereits erwähnt, dass sie zentral für das Halten der Ostfront, und damit für das Denken der Wehrmachtsführung war. Mit der geostrategischen Besonderheit der Nordseeküste begründete Kaufmann rückblickend in seinen Memoirenentwürfen auch sein Bestreben, einen Reichsverteidigungskommissar, nämlich in Form seiner selbst, für das Gebiet zu ernennen. Ihm sei es nicht um persönlichen Ehrgeiz gegangen, sondern um eine möglichst gute Ausgangsstellung für „sein“ Hamburg, wenn es auf das Kriegsende zuging 296. Und so wenig glaubhaft dies bei vielen anderen Gauleitern klingen würde, erscheint es doch gerade bei Kaufmann passend zu sein. Wie gezeigt glaubte Kaufmann ab Mitte 1943 nicht mehr an den „Endsieg“. Angesichts des parallel immer radikaler werdenden Fanatismus des Großteils der Gauleiter schien Kaufmann also tatsächlich gut beraten zu sein, Vorkehrungen zu treffen, um nicht am Ende selbst Spielball der Politik benachbarter Gaue zu werden. Es ist allerdings argumentiert worden, dass Kaufmann „faktisch nie Reichsverteidigungskommissar für das Operationsgebiet Nordseeküste gewesen“ sei 297. Diese These, die aus einem der drei Aufsätze über Kaufmann stammt, fußt im Wesentlichen auf der schwierigen rechtlichen Einordnung von Kaufmanns Amtsausweitung. Da viele staatsrechtliche Einzelfragen in den verschiedenen Machtsphären des „Dritten Reiches“ zeitgenössisch nie geklärt wurden und immer in der Schwebe blieben, handelt es sich hierbei um eine Interpretationsfrage. Diese ist umso schwieriger zu beantworten, als da Kaufmann wie hier gezeigt mangels Invasion für das Gebiet der Nordseeküste kaum aktiv werden konnte. Klar ist (und dies legt der Aufsatz zutreffend dar), dass Kaufmann 295 Die Brutalität des Umgangs der dabei von den üblichen Organisationen eingesetzten Zwangsarbeiter war dennoch mindestens die gleiche. Vgl. zum Stellungsbau an der Küste Keller, Sven: Volksgemeinschaft am Ende. Gesellschaft und Gewalt 1944/45, München 2013, S. 146. 296 PNKK Ordner Nr. 2, Entwurf Manuskript [S. 164]. 297 Vgl. Asendorf: Kaufmann, S. 21.
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erstens am 24. August 1944 „nur“ für den Fall ernannt wurde, dass das betreffende Gebiet militärisches „Operationsgebiet“ werden sollte (was es mangels Invasion nie wurde, und wodurch am 7. April 1945, als keine Invasion mehr erwartet werden konnte, die Funktion für die Nordseeküste durch einen Wehrmachtsbefehl entfiel). Trotzdem und zweitens wurde Kaufmann bereits mit der Vorbereitung dieses „Falles“ betraut, indem der Stellungsbau vorangetrieben werden sollte 298. Davon zu sprechen, Kaufmann sei nie wirklich für die Nordseeküste zuständig gewesen, ist also weder formal ganz richtig, noch trifft es den komplizierten Mischcharakter des „Dritten Reiches“ mit seinen Sonderaufträgen.
4.4. Reichskommissar für die Seeschifffahrt: Wettlauf gegen das Material (1942–1945) „Zum Reichskommissar für die Seeschifffahrt bestimme ich [Adolf Hitler] den Reichsstatthalter und Gauleiter Karl Kaufmann.“ 299
Mit Hitlers Erlass vom 30. Mai 1942 schuf er eine weitere Sondergewalt im Stile der Reichskommissare. Während die meisten Reichskommissargewalten aber mehrere Amtsinhaber gleichen Ranges verliehen wurden, wie es etwa bei den Reichsverteidigungskommissaren der Fall war, existierte der 1942 geschaffene Reichskommissar für die Seeschifffahrt nur in einer Person. Wie grundsätzlich fast alle Reichskommissare unterstand auch er nur und ausschließlich Hitler selbst. Die Aufgabe dieses neuen Reichskommissars wurden folgendermaßen festgelegt: „Der Reichskommissar hat die Aufgabe, mit dem Reichsmarschall als Beauftragten für den Vierjahresplan, mit dem Oberkommando der Wehrmacht, und mit den zuständigen Reichsministern die einheitliche Planung der Seetransporte sicherzustellen. Er hat den gesamten Transportraum, soweit er nicht ständig für Zwecke der Seekriegsführung oder für Truppentransporte benötigt wird, in seiner Hand zusammenzufassen und die Seetransporte durchzuführen. Er hat für die laufende Ergänzung und Erneuerung des zur Verfügung stehenden Schiffsraums, für seine Ausrüstung und seine Bemannung und für die Erhöhung der Kapazität zu sorgen.“ 300
298 Vgl. ebd. 299 „Erlaß des Führers über die Einsetzung eines Reichskommissars für die Seeschiffahrt.“, in: „Führer-Erlasse“ 1939–1945. Edition sämtlicher überlieferter, nicht im Reichsgesetzblatt abgedruckter, von Hitler während des Zweiten Weltkrieges schriftlich erteilter Direktiven aus den Bereichen Staat, Partei, Wirtschaft, Besatzungspolitik und Militärverwaltung, Stuttgart 1997. Herausgegeben von Martin Moll, S. 253f., hier S. 253. 300 Ebd.
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Für die Bewältigung dieser Aufgabe sollten ihm alle Hafenorgane, zivile wie militärische, unterstehen. Zudem wurden ihm mehrere Dienststellen einzelner Ministerien zur Verfügung gestellt 301. Schon hieraus wird ersichtlich, dass dieses neue Amt quer in fremde Kompetenzen eingreifen durfte und zur Erfüllung der ihm gestellten Aufgaben auch musste. Insofern ist die Einrichtung des Reichskommissars für die Seeschifffahrt ein weiteres sinnfälliges Beispiel für die im „Dritten Reich“ immer weiter „wuchernde“ Ämtervielfalt mit sich überlagernden Kompetenzen. Dennoch schien die Schaffung dieses Amtes 1942 nicht nur angebracht, sondern geradezu notwendig gewesen zu sein, um die Angelegenheiten der Seeschifffahrt in einem Amt zu konzentrieren. Dies schien eine höhere Effizienz zu versprechen, vor allem hinsichtlich der bis dahin getrennt arbeitenden und sich höchstens miteinander abstimmenden, nicht jedoch einheitlich gelenkten Dienststellen des zuständigen Amts des Reichsverkehrsministeriums, der jeweiligen Hafenbehörden und der nochmals in zivile und militärische Bereiche getrennten Stellen. Alles sollte nunmehr in einer Hand liegen und entsprechend geordnet laufen 302. Es handelte sich also um eine Verstärkung des „Kompetenzchaos“ zur Erhöhung der Effizienz. In diesem Falle nur „auf den ersten Blick“ ein Widerspruch in sich. „Er übernahm das Reichskommissariat Schiffahrt und hatte den Auftrag, die Truppe, die Wirtschaft und die Bevölkerung auf dem Wasserwege zu versorgen. Er hat für dieses Amt seine ganze Kraft geopfert, aber als er sah, wie die Mittel sich erschöpften, die Rüstung zerschlagen wurde, ist er nach Ostpreußen in die Wolfsschanze gefahren und hat in einem langen nächtlichen Gespräch den wahnwitzigen Mann zu bewegen versucht, den Krieg zu beenden, weil er nicht mehr zu gewinnen war.“ 303
Dies beschrieb Schwarz van Berk in seiner Laudatio für den verstorbenen Kaufmann. Angesichts des Zeitpunkts, zu dem Kaufmann das Reichskommissariat übernahm, ist die Version, Kaufmann habe an den „Endsieg“ nicht mehr geglaubt, nicht unwahrscheinlich. Wie schon mehrfach im Verlauf der vorliegenden Arbeit erläutert, waren es nicht nur seine eigenen Aussagen nach 1945, die darauf hindeuteten, dass er den Krieg im Sommer 1943 als nicht mehr siegreich zu beenden ansah. Die Akten, sein Verhalten, seine Amtshandlungen und nicht zuletzt die Aussagen anderer Zeitgenossen lassen darauf schließen, dass er nach der „Operation Gomorrha“ den Punkt erreicht sah, an dem der „Endsieg“ unmöglich geworden war. Dazu später mehr. Es sei hier aber zum besseren Verständnis erwähnt. Das Amt als Reichskommissar für die Seeschifffahrt sticht unter den zahlreichen wichtigen Funktionen Kaufmanns hervor. Nicht so sehr wegen der Bedeutung für sein Leben, 301 Ebd. 302 Vgl. Bohn, Robert: Reichskommissariat Norwegen. „Nationalsozialistische Neuordnung“ und Kriegswirtschaft, München 2000, S. 171f. 303 Schwarz van Berk: Laudatio, S. 2f.
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also für seine Biografie. Auch nicht so sehr, weil es verglichen mit anderen Funktionen besonders wichtig gewesen wäre. Der Grund liegt vielmehr darin, dass es Kaufmanns einziges überregionales Amt war. Egal ob als Gauleiter, Reichsstatthalter, Bürgermeister oder Reichsverteidigungskommissar: Kaufmanns lebensprägende Funktionen konzentrierten sich immer auf eine Region. Mal war es eine große Region, wie beim „GroßGau“ Ruhr oder dem Reichsverteidigungskommissariat für die Nordseeküste. Mal war es eine kleine Region wie der Gau Hamburg in seinen alten Grenzen oder das Amt als Reichsstatthalter mit dem Land Hamburg inklusive des Staatseigentums auf preußischem Territorium. Das Reichskommissariat für die Seeschifffahrt hingegen ging von völlig anderen Grundlagen aus. Dort galt es nicht nur maritim zu denken (was Kaufmann als Neu-Hamburger gut gelernt hatte), sondern vor allem in den Räumen des gesamten deutschen Machtbereiches. Je nachdem wie der Krieg verlaufen wäre, wäre irgendwann sogar ein globales Denken notwendig geworden.
Abb. 11: Kaufmann als Reichskommissar auf „Nordlandfahrt“. Neben ihm Terboven als Reichskommissar für Norwegen. Wenige Fotografien von Kaufmann versinnbildlichen die Rolle der Gauleiter als Personalreservoir für spezielle Aufgaben besser, handelte es sich doch um die Gauleiter von Hamburg und Essen 304.
304 Fotoalbum Reichskommissar. Das Bild ist unter den unnummerierten Seiten die 62. Fotografie.
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Für die Gauleiter waren solche Funktionen eher ungewöhnlich. Dies muss nichts über eine eventuelle „Strategie“ Hitlers aussagen, die Gauleiter in regionalen Herrschaftskategorien denken und herrschen, sie aber nicht überregional handeln zu lassen. Hierbei dürfte es eher eine Rolle gespielt haben, dass die Gauherrschaft für das gesamte nationalsozialistische Herrschaftssystem viel zu wichtig war, als dass deren Träger nach Belieben in andere, nichtregionale Kontexte versetzt werden konnten. Für regionale Kontexte gab es keine besseren Personalien als die der Gauleiter. Dies kann bei Hitlers ständigem Rückgriff auf die Gauleiter für Landesregierungen, Reichsstatthalter, preußische Oberpräsidenten, Reichsverteidigungskommissare und Zivilverwaltungsführungen bei grenznahen (förmlichen wie faktischen) Annexionen gesehen werden. Überregionale Funktionen hatten unter den zeitweise bis zu 45 Gauleitern aber nur wenige 305. Und offenbar war Kaufmann zuvor für eine andere überregionale Position im Gespräch gewesen. Es ist aber mangels genauerer Quellen unklar, um was genau es sich handelte. Rosenberg erwähnte in seinem Tagebuch unter dem 14. Mai 1941 (in einem völlig anderen Kontext) eine Unterhaltung mit Hess: „Ich sprach zuerst alleine mit ihm, sagte ihm, dass für den Eventualfall sowjetruss. Aggression der Führer mich mit der zentralen Bearbeitung der Ostfragen beauftragt habe usw. Nannte ihm die Namen der ev. Kommissare u. erbat seine Unterstützung bei späterer Benennung von Kreisleitern als Mitarbeiter. – Kandidatur Kaufmann als Vertreter einer so gefährdeten Stadt wie Hamburg wurde beiderseits abgelehnt, Sauckel sehr begrüsst. Hess bedauerte, dass die Besten wegmüssten, sagte aber für diese Aufgaben müssten eben auch die Besten ausgesucht werden. – Als ich nun noch einige andre Fragen anscheiden wollte, sagte Hess, er bäte mich, doch nur das Wichtigste zu behandeln, ein Gedanke beschäftige ihn derartig, dass er von der Erörterung minder notwendiger Dinge absehen müsse.“ 306
Da Rosenberg von „Kommissaren“ und der in seiner Hand liegenden „zentralen Bearbeitung der Ostfragen“ sprach, wird es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um das Ostministerium gehandelt haben, welches Rosenberg übernehmen sollte. Diesem waren die Reichskommissariate im besetzten Osteuropa zwar formell unterstellt, aber praktisch waren diese wie die Gaue ein Herrschaftsbereich für sich selbst. 305 Insgesamt neben Kaufmann nur acht: Koch (Reichkommissar für die Ukraine), Goebbels (Reichspropagandaleiter und -minister), Grohé (Reichskommissar für Belgien und Nordfrankreich), Lohse (Reichskommissar für das Ostland), Sauckel (Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz), Gustav Adolf Scheel (Reichsstudenten- und -dozentenführer), Terboven (Reichskommissar für Norwegen) und von Schirach (Reichsjugendführer). Mit der neuen Reichsregierung unter Karl Dönitz kamen weitere hinzu: Paul Giesler (Reichsinnenminister), Karl Hanke (Reichsführer SS) und Wegener (Oberreichsverteidigungskommissar und Staatssekretär im Reichskabinett). 306 Rosenberg, Alfred: Die Tagebücher von 1934 bis 1944, Frankfurt am Main 2015. Herausgegeben von Jürgen Matthäus und Frank Bajohr, S. 385.
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Faktisch handelte es sich um Grenzkolonien. Die Reichskommissare leiteten in den betreffenden Gebieten die deutsche Zivilverwaltung und sollten das ihnen anvertraute Territorium für den mittel- bis langfristigen Anschluss an das Reich „vorbereiten“. Je nach Gebiet bedeutete dies etwas anderes. In Belgien, den Niederlanden und Norwegen galt die Bevölkerung gemäß der nationalsozialistischen Rassenideologie als sehr eng verwandt, weshalb dort „sanfter“ (soweit im Kontext von Besatzung und Annexion von „Sanftmut“ gesprochen werden kann) vorgegangen werden konnte als in den Reichskommissariaten Ukraine und Ostland, in denen gemäß dieser Rassenideologie ein Großteil der Bevölkerung zu vernichten war. Für die fünf tatsächlich errichteten Reichskommissariate wurden vier Gauleiter berufen, für vier weitere geplante jedoch nicht. Die beiden in Osteuropa errichteten Reichskommissariate waren jene für die Ukraine und das Ostland. Kurzzeitig befanden sich intern also auch Kaufmann und Sauckel im Gespräch, es aber schließlich Koch und Lohse wurden. Dies zeigt nicht nur auf, dass Kaufmann intern zu den wenigen für überregionale Aufgaben angedachten Personen zählte, sondern auch, dass man ihm die zu erwartenden Aufgaben in Osteuropa zutraute. Aus Sicht des Jahres 1941 bedeutete dies vor allem: Jahrzehntelange Leitung der Zivilverwaltung im eroberten Gebiet, millionenfacher Mord durch Verhungernlassen der nicht „germanisierungsfähigen“ Bevölkerung und Ansiedlung von Deutschen. Ihm wurde zugetraut, die Kolonisierung einer der zu errichtenden Grenzkolonien erfolgreich durchzuführen, bis sie eines Tages ein regulärer Teil des Reiches werden könnte. Kaufmann galt zwar unter einigen Mitgliedern der „NS-Führung“ als klassischer „harter Bursche“, wie es etwa Hitler hinsichtlich der „Operation Gormorrha“ bezeichnet hatte, was Kaufmann auch gelegentlich mit seinem Handeln bestätigte. Auch galt er wie aus Hess' Aussage hervorgeht als einer der „Besten“. Aber die geplanten Kolonisierungen wären, so wie Koch und Lohse sie dann auch tatsächlich begannen, nochmals eine Spur brutaler gewesen, nicht „nur“ in ihrer Qualität, sondern auch in ihrer schieren Quanität. Eines bleibt hierbei aber unklar. Rosenberg sprach von einer „Kandidatur“. Wenn sich Kaufmann persönlich für eine solche Aufgabe gemeldet haben sollte, haben sich sonst keine Quellen dazu erhalten. In Rosenbergs „Erinnerungen“ geht er ebenfalls auf diese Episode kurz ein, die aber konkret zur Frage, wer wann warum die Initiative ergriff, mehrdeutig war: „Gern wäre Kaufmann 1941 Reichskommissar in den Ostgebieten geworden. Ich hatte nicht an ihn gedacht, da Hamburgs Gesicht eindeutig nach dem Westen gerichtet war und schon damals von feindlichen Bombern angegriffen wurde. Er ließ deutlich bei mir anfragen, aber die Entscheidungen waren mittlerweile gefallen. Er verfolgte später die Ereignisse voller Empörung gegen Koch und sagte mir einmal: ‚Hätte man mich dahin geschickt, Parteigenosse Rosenberg, dann hätten wir im Osten zusammen etwas Anständiges aufgebaut.‘“ 307
307 Rosenberg: Aufzeichnungen, S. 154.
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Auch wenn Kaufmann demnach bei Rosenberg „deutlich“ anfragte, muss dies nichts darüber aussagen, ob es dahingehend nicht schon unverbindliche Vorgespräche gegeben hat, wie etwa im Falle „Groß-Hamburg“ mit Göring und Hitler. So oder so hieße dies, dass Kaufmann schon im Voraus gewusst hätte, was in Osteuropa angedacht war und später dann auch teilweise umgesetzt wurde. Auch hieße dies, dass er hierfür bereit gewesen wäre und sich vielleicht sogar freiwillig dafür meldete. Wenngleich die sozialistische Seite in Kaufmanns nationalsozialistischer Brust die nationalistische überwog ist dies nicht unwahrscheinlich. Auch Koch war schließlich auf dem linken Parteiflügel zu verorten. Trotzdem ist es angesichts von Kaufmanns sonstigem Handeln äußerst ungewöhnlich. Er war zwar ein Nationalist, aber er kann im Vergleich mit anderen Gauleitern nicht gerade als einer der extremen Nationalisten unter ihnen gelten. Möglich ist aber auch, dass Rosenberg das Wort „Kandidatur“ im Sinne einer potentiellen Besetzungsidee nutzte, und nicht als offene Bewerbung Kaufmanns, auch wenn es unverbindliche Vorgespräche gegeben hätte. Dies hieße umso deutlicher, dass Rosenberg von sich aus auf Kaufmann als potentiell „gute Wahl“ für die anstehende Kolonisierung gekommen wäre. Möglich ist auch, dass Kaufmann in einem der Reichskommissariate des Ostens vielleicht mehr Entfaltungsfreiheiten zur Umsetzung seiner Sozialismuskonzeptionen vermutete, als innerhalb der Grenzen des Reiches. Angesichts der Quellenlage zu dieser Frage und Kaufmanns (verglichen mit den meisten Gauleitern) unterdurchschnittlichem Nationalismus sind all diese Vermutungen gut möglich. Kaufmann wurde die Angelegenheit auf jeden Fall zugetraut. Und auch wenn er kein überregionaler Reichskommissar für die Ukraine oder das Ostland wurde, wurde er nur ein Jahr später Reichskommissar für die Seeschifffahrt. Die zentralen Probleme, die zur Idee der Schaffung eines eigenen Beauftragten für die Seeschifffahrt führten, wurden auf einer Konferenz von Hitler mit Speer als Rüstungsminister am 13. Mai 1942 besprochen. Eine Personalie wurde noch nicht näher in den Blick genommen 308. Konkret Kaufmann als Personalvorschlag brachte Speer schließlich bei der darauffolgenden Konferenz vom 18. Mai ein. Hitler war einverstanden, zumal auch die Wehrmachtsspitze dies war 309. Wegen Hamburgs Rolle im Schiffsbau und Kaufmanns Rolle in Hamburg lag dessen Personalie zwar nahe. Selbstverständlich war sie aber nicht. Nicht nur Hitlers Problematik, mangels machtpolitischer Alternativen seine regionalen „Paladine“ ständig mit zusätzlichen Aufgaben auszustatten, sprach dagegen. Auch hätten andere Gauleiter wohl eher die Zeit für eine solche Aufgabe bereitstellen 308 Protokoll vom 15. Mai 1942, in: Deutschlands Rüstung im Zweiten Weltkrieg. Hitlers Konferenzen mit Albert Speer 1942–1945, Frankfurt am Main 1969. Herausgegeben von Willi A. Boelcke, S. 114–121, hier S. 118f. Dennoch nahm Kaufmann an der Konferenz teil, offenbar aber aus dem gleichen Grund, warum einer der wichtigsten Reeder des Reiches teilnahm: Hamburg war im Zweiten Weltkrieg die meiste Zeit über sprichwörtlich die zentrale Schiffswerft Europas. 309 Vgl. Konferenzen, S. 121–124, hier S. 123. Das Problem der Schifffahrt war naheliegenderweise immer wieder aufgeworfen worden. Nur weil Speer im Mai 1942 Kaufmann durchsetzen konnte, heißt das nicht, dass nicht schon früher von vielen Seiten eine Lösung dieses Problems angemahnt wurde.
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können (auch wenn sie aus sich heraus keine ganztägige Aufgabe war), als Kaufmann, der ohnehin spätestens mit der Übernahme der Landesregierung 1936 ein enorm hohes Arbeitspensum in Hamburg zu bewältigen hatte. Die institutionelle Ausgestaltung schließlich ist ein anschauliches Beispiel für Hitlers Sonderkommissare. Kaufmann selbst beschrieb diese Ausgestaltung in seinen Memoirenentwürfen folgendermaßen: „Ich bekam entsprechende Weisungs- und Verfügungsrechte, allerdings blieb das Seeschiffahrtsamt im Reichsverkehrsministeriums [sic] vollauf ausserhalb meines Bereichs. […] Unter keinen Umständen wollte ich eine neue Bürokratie ins Leben rufen. Ich bediente mich des Seeschiffahrtsamtes für die laufenden Angelegenheiten […] und daneben eines kleinen Stabes bester Experten aus Schiffahrt und Schiffbau.“ 310
Bei Durchsicht der Akten ergibt sich dabei ein bereits bekanntes Bild dahingehend, als dass er das „Tagesgeschäft“ wieder an geeignete und an ihn gebundene Mitarbeiter delegierte. Die zentrale Verwaltungsarbeit übernahm ein dazu ernannter Referent im Rang eines Ministerialrats. In den einzelnen europäischen Ländern, in denen wichtige Seeschifffahrtsfragen zu klären waren, standen ebenfalls jeweils eigene Gesandtschaften und viele Beauftragte Kaufmanns bereit 311. Kaufmann selbst kümmerte sich primär um die übergeordnete Koordination auf höchster Ebene, etwa zwischen Rüstungsministerium, Wehrmacht und seinem Referenten, während er mit der praktischen Ausführung in der Verwaltung nicht befasst war 312. Dies ist neben der überregionalen Perspektive ein Hauptunterschied zu seinen bis dahin ausgeübten Funktionen, in denen er stets tief in die Verwaltungsvorgänge mittlerer und teilweise gar unterer Instanzen hineinzublicken und nötigendenfalls auch einzugreifen vermochte. Im Übrigen zeigt schon die Tatsache, dass zusätzlicher ziviler Schiffsraum zusammengezogen werden sollte, die kritische Lage des Reiches an. Denn nur weil der stetig zunehmende Rüstungsausstoß nicht mehr ausreichte, um den Kriegsbedarf zu decken, sollte sich der Reichskommissar um eine effizientere Schiffsversorgung kümmern. Dass
310 PNKK Ordner Nr. 1, Entwurf Manuskript [S. 199]. 311 Besonders die schwedische Zweigstelle sollte späterhin für Kaufmann eine besondere Wichtigkeit erhalten, weil er über diese durch das neutrale Schweden Kapitulationsmöglichkeiten für Hamburg auslotete. 312 Über den zeitlichen Aufwand sagt das aber nicht unbedingt etwas aus. Kaufmann musste die Übersicht behalten, sich mit seinem Referenten besprechen, die Koordination mit den anderen betroffenen Stellen leiten (was vorrangig in beziehungsweise über Berlin lief) und hatte dann auch noch etliche Dienstreisen quer durch ganz Europa mit mehreren Tagen, in mindestens zwei Fällen mehreren Wochen. In seinem Fragebogen zur „Entnazifizierung“ musste er beispielsweise alle Auslandsaufenthalte der vorangegangenen Jahre angeben, wobei im Zeitraum als Reichskommissar Dienstreisen anfielen nach „Schweden, Finnland, Norwegen, Dänemark, Belgien, Holland, Frankreich, Italien, Nordafrika, Griechenland, Rumänien, Ungarn, Bulgarien, Russland“. Vgl. PNKK Ordner Nr. 16, Fragebogen.
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Kaufmann dies zugetraut wurde, sagt viel darüber aus, wie sehr er in den Augen Hitlers mittlerweile eine Rehabilitierung erfahren hatte. Vom tiefen Fall 1928 hatte sich Kaufmann bis 1933 wieder bewährt, durfte 1936 gar die Landesregierung übernehmen und wurde nunmehr für richtig und passend befunden, der neuen Aufgabe gerecht zu werden. Wie genau sah nun aber die Arbeit aus, die durch das Seeschifffahrtskommissariat geleistet wurde? Die Reparaturen sollten beschleunigt werden, wozu gerade die Verantwortlichen „alleiniges Vollzugsorgan in den Häfen bleiben“ sollten. Dies erfolgte auf Hitlers Wunsch bei Erarbeitung des Erlasses, mit dem Kaufmann zum Reichskommissar ernannt wurde 313. Damit war das Reichskommissariat selbst also kaum noch näher befasst. Die Beauftragten in den einzelnen Häfen arbeiteten (soweit aus den erhaltenen Akten ersichtlich) vergleichsweise autonom. Dies war offenbar auch notwendig und angebracht, um der Lage irgendwie Herr zu werden 314. Der Nachschub aber an zusätzlichem zivilem Schiffsraum wurde schließlich zur Hauptaufgabe. Aus allen möglichen Quellen wurde Schiffsraum herbeigezogen, um dem Bedarf gerecht zu werden. Viele Möglichkeiten gab es dazu aber nicht. Denn die Erhöhung des Neubaus lag nach wie vor in den Händen des Rüstungsministeriums, und bei Kaufmanns Reichskommissariat ging es strikt abgegrenzt um zusätzlichen zivilen Schiffsraum. Eine breit genutzte Möglichkeit lag im „Chartering“ (der Anglizismus wurde teilweise bereits im „Dritten Reich“ genutzt, was wohl auf den internationalen Charakter der Seeschifffahrt zurückzuführen sein dürfte). Dadurch wurden viele Schiffe jeder Größe von verschiedenen Eigentümern angemietet, wobei insgesamt Summen in Millionenhöhe flossen 315. Eigentümer waren beispielsweise deutsche Schiffseigner, die teilweise ganze Schiffsbesatzungen mit dem Schiff zur Verfügung stellten. Bürokratische Probleme lagen hierbei darin, dass dies mit etlichen rechtlichen Einzelfragen verbunden war, denn schließlich handelte es sich nicht um eine Beschlagnahme, sondern um reguläre Rechtsgeschäfte im Sinne des Zivilrechts. Zu klären waren Fragen nach dem Zeitraum, der Nutzung, der Übergabe und vielen weiteren. Hinzu kamen die Schwierigkeiten bei der Regelung der Finanzen, also ob die von den Schiffseignern geforderten Preise noch regulär und angemessen waren, wie das mit dem Preisstopp vom Kriegsbeginn zu vereinbaren
313 Vgl. Konferenzen, S. 121–124, hier S. 123. 314 In seinen Memoirenentwürfen lobte Kaufmann rückblickend die Arbeit dieser Beauftragten herausragend: „Als mich die Engländer nach meiner Verhaftung über das Wunder der deutschen Seetransportleistung befragten, war es mir nicht möglich, es ihnen letztlich zu erklären. Ausgerechnet diese alten Seefahrer hatten die Bedeutung unserer maritimen Verbindungen unter[-]schätzt. Sie schüttelten immer wieder den Kopf und dann musste ich an diese alten, manchmal siebzigjährigen Handelsschiffkapitäne denken, die als meine Beauftragten irgendwo in einem norwegischen oder Mittelmeerhafen sitzend, das unmögliche möglich machten.“ PNKK Ordner Nr. 2, Entwurf Manuskript [S. 202]. 315 Vgl. die Akten in BA B R 147/136.
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war und diversen weiteren 316. Und so kompliziert dies im Einzelfall auch war, funktionierte es doch in der Regel. Das Reich erhielt den benötigten Schiffsraum, die Eigner (nicht wenig) Geld. Eine andere Möglichkeit im Bereich des Charterings war das Anmieten von Schiffsraum bei Eignern im verbündeten Ausland. Als „verbündet“ wurden dabei auch Staaten verstanden, die sich faktisch in einem Abhängigkeits- und/oder Satellitenverhältnis zum Reich befanden, aber nicht regulär besetzt waren. Hier stellten sich schon mehrere Probleme zugleich: Erstens galten grundsätzlich die gleichen Rechtsprobleme wie bei deutschem Privateigentum. Zweitens schmolzen die europäischen Verbündeten, die auch über eigene Schiffe verfügten, nach Kaufmanns Amtsübernahme im Mai 1942 nach nur zwei Jahren rasch dahin: 1944 fielen Bulgarien, Finnland und Rumänien aus, 1945 schließlich Kroatien, sodass nur noch das schon zur Hälfte verloren gegangene Italien übrig blieb. Drittens benötigten die betreffenden Staaten in der Regel selbst alles an Schiffsraum, was sie erhalten konnten. Mitunter war ein enormer Druck notwendig, um zum Vertragsabschluss zu gelangen. Dies konnte je nach Einzelfall schon Grenzen überschreiten, die selbst unter ungleichen Verbündeten unangebracht wirken konnten. Ein Beispiel soll das verdeutlichen. Im August 1943 sperrten sich die fraglichen rumänischen Stellen gegen den Vertragsabschluss über zwei größere Schiffe. Aus der dortigen deutschen Gesandschaft für die Seeschifffahrt hieß es hierzu in einem Schreiben: „Nach wiederholten Interventionen der Deutschen Gesandschaft in Bukarest und einem persönlichen Schritt des Herrn Ministers Ing. Neubacher beim Staatsführer Marschall Antonescu, ist es gelungen, den Vertrag für ‚Balcic‘ und ‚Alba Julia‘ zur Unterzeichnung zu bringen. Wir konnten nicht alle Ihre Wünsche, die uns durch Herrn Hirdes überbracht wurden, durchsetzen, kamen aber nach wiederholten Rücksprachen und Meinungsaustausch mit Herrn Hecking zur Überzeugung, dass nichts anderes übrig bleibe, als den Vertrag in seiner vorliegenden Form zu unterzeichnen, umso mehr auch die Gesandschaft darauf drängte, ihn unterschrieben zu sehen. Sollten Ihnen die Vertragsbedingungen nicht gut passen, so haben Sie dann immer [noch] die Möglichkeit, [von diesem] zurückzutreten.“ 317
Auch hier wird wieder ersichtlich, wie kritisch die Lage für das Reich war, sodass im wahrsten Sinne genommen werden musste, was nur irgend möglich erschien. Eine weitere Möglichkeit neben dem Chartering von deutschen und verbündeten Schiffen war der Rückgriff auf die besetzten Länder. Hierbei musste weder eine besondere Rücksicht auf Vertragsverhandlungen genommen werden, noch auf eine KostenNutzen-Relation. Damit wurde aber zugleich genauso gehandelt, wie es andere in den besetzten Gebieten operierende Organisationen des Reiches von Zivilverwaltungen über SS bis Wehrmacht schon seit Kriegsbeginn wenig zimperlich vollführten, nämlich 316 Zum Chartering sogenannter „fremder“ Schiffe, mit denen nicht staatseigene und nicht ausländische, also deutsches Privateigentum gemeint war, vgl. die Akten in BA B R 147/137. 317 BA B R 147/114, Schreiben vom 24. August 1943.
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die Kriegsführung aufrechtzuerhalten auf Kosten der besetzten Länder und ihrer Bevölkerung. Der Mangel an Schiffsraum zwang hierzu. Und so konnte es beispielsweise dazu kommen, dass sich ein entschädigungslos beschlagnahmter Dampfer aus dem Eigentum der Stadt Amsterdam zur Verwendung der „Organisation Todt“ in Belgrad wiederfand 318. Langfristig wären aber auch hierbei die Grenzen aller Bestände erreicht worden, zumal sich alle entsprechenden Organisationen in den besetzten Gebieten bedienten. Klar ist bei all diesen Nachschubproblemen an Schiffen, dass es ein Wettlauf gegen das Material war. Dessen waren sich alle Beteiligten bewusst. In einer der Konferenzen von Hitler und Speer vom 3. April 1943 beispielsweise war Kaufmann zwecks Besprechung der Schiffsversorgung anwesend. Alle Anwesenden sahen die klaren Zahlen der Produktion und des Verlusts: „Dies entspricht der ungefähren Versenkungsziffer. Erhöhung kann im Hinblick auf Truppenbedarf nicht erfolgen.“ Also wurde wieder improvisiert, kreative Lösungen versucht einzubringen: Die Möglichkeit eines Sonderprogramms für zusätzliche Neubauten, sofortiger Umbau stillliegender Motorschiffe auf Dampfbetrieb, Abgabe „alle[r] nicht unbedingt im Nachschub oder in operativer Kriegsführung eingesetzte[r] Handelstonnage“ der Wehrmacht an Kaufmann und vieles weitere 319. Der gesamte Wettlauf gegen das Material wurde noch dadurch verkompliziert, dass ständig von etlichen Seiten Bitten an Kaufmann herangetragen wurde, Schiffsraum zur Verfügung zu stellen. Noch am 8. März 1945 bat Himmler, zur Evakuierung der Danziger und der in Danzig Gestrandeten allen Schiffsraum zur Verfügung zu stellen, den er hatte 320. Die Dimensionen konnten nicht größer sein, als den kompletten zivilen Schiffsraum anzufordern. Die Schiffsproblematik schlug auch in Hamburg vor Kaufmanns Augen gegen Ende des Krieges immer deutlicher zu. Er konnte dies in mehreren Funktionen erkennen. Wie sah beispielsweise der Zerstörungsgrad im Hamburger Hafen aus? Dieser war immerhin einer der mit Abstand wichtigsten Häfen im deutschen Machtbereich und zugleich der Hafen, zu dem Kaufmann als Politiker ein mehrfaches Verhältnis hatte: Als „Hamburgs Führer“ einerseits, dem dies der wichtigste Hafen war, als Reichskommissar andererseits, dem dies einer unter vielen war. Zerstört waren größtenteils die Kaischuppen (85,5 Prozent), die Kräne (72 Prozent), die Speicher- (71,6 Prozent) sowie die Gleisanlagen (67,8 Prozent). Erheblich zerstört waren die Landeanlagen (54,5 Prozent) und die Straßenbrücken (45 Prozent), während die Kaimauern nur gering beschädigt waren (9,5 Prozent) 321. Inzwischen waren solche Umstände bei den meisten Hafenstädten anzutreffen. Die Rüstungseinblicke beschränkten sich aber bald nicht mehr darauf, was er „nur“ innerhalb des Amtes zu sehen bekam. In seinen Memoirenentwürfen hielt er folgendes fest: 318 BA B R 147/227, Norwegen OT Einsatzgruppe Wiking. 319 Konferenzen, S. 244f., hier S. 244. 320 Vgl. BA B NS 19, 20606, Schreiben vom 8. März 1945. 321 Vgl. Aus Hamburgs Verwaltung und Wirtschaft. Der Hamburger Hafen, Sonderband 3, Hamburg 1947. Herausgegeben vom Statistischen Landesamt der Hansestadt Hamburg, S. 2.
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„Im Gegensatz zu gefärbten Berichten und zweckbestimmten Schilderungen und Statistiken im Führerhauptquartier, sah ich hier[,] wenn es ums Verladen ging, wo keine Tonne weg- oder dazudiskutiert werden konnte, die harte und so bald erbarmungslos werdende Wirklichkeit. Gemeinsame Arbeit und gemeinsame Sorgen liessen aus der anfangs sachlichen Beziehung zwischen Reichsminister Speer und mir bald eine immer enger werdende Freundschaft wachsen. Speer vermittelte mir tiefe Einblicke in unsere tatsächliche Rohstoff- und Rüstungslage, die über meine eigenen Beobachtungen und Kombinationen beträchtlich hinaus gingen.“ 322
Insofern sah er deutlich, wie es um Rüstung und Logistik bestellt war. Seine Einblicke waren bis zur Ernennung zum Reichskommissar auf Hamburg gemünzt und konnten durch diese regionale Fokussierung nur in Ausnahmefällen wie persönlichem Austausch mit überregional agierenden Personen erweitert und auf die Gesamtlage des Reiches abgestellt werden. Etwas mehr als ein Jahr lang glaubte er weiterhin an einen glimpflichen bis siegreichen Kriegsausgang für das Reich, aber nach der „Operation Gomorrha“ kam alles zusammen: Er sah die Zerstörungen in Hamburg, die Situation unter den Hamburgern, die „von-der-Hand-in-den-Mund-Rüstung“, die den Krieg nicht mehr wenden konnte.
322 PNKK Ordner Nr. 2, Entwurf Manuskript [S. 203].
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Abb. 12: Kaufmann mit einigen Mitarbeitern in der Nähe des norwegischen Tromsø jenseits des Polarkreises im Sommer 323.
323 Fotoalbum Reichskommissar. Das Bild ist unter den unnummerierten Seiten die 191. Fotografie.
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Ein neues Leben inklusive alter Kontinuitäten
Abb. 13: Die Begrüßung der ankommenden britischen durch die deutschen Militärs vor dem Hamburger Rathaus. Kaufmann wartete in diesem Moment im repräsentativen Kaisersaal im Inneren des Rathauses, um die Stadt an die Briten offiziell zu übergeben. Es sind mehrere Beteiligte an der Kapitulation zu sehen, auf die nachfolgend noch eingegangen wird, darunter links mit Krawatte Wilhelm Bourchard-Motz, salutierend Armin Wolz und in der Mitte auf ihn zuschreitend Douglas Spurling 1.
1 Ullstein Bild MN 01726953.
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5. Kriegsende und frühe Nachkriegszeit
5.1. Kampflose Übergabe Hamburgs (1945)
„Der Weg, den mir Herz und Gewissen vorschreiben, ist klar. Soll ich ihn mit Erfolg zu Eurem Wohle bis zu Ende gehen, brauche ich Euer Vertrauen und absolute Gefolgschaft und Disziplin. Wer diese Disziplin nicht hält, ist ein Verbrecher am Wohle der Gemeinschaft und unserer Stadt. Bleibt der Arbeit nicht fern! Geht Eurer Arbeit nach und tut Eure Pflicht! Behaltet Ruhe und Würde und verlaßt Euch auf mich.“ 1
In einem „normalen“ Kontext zu einem anderen Zeitpunkt in der Geschichte des „Dritten Reiches“ wäre eine Kaufmann-Rede wie die zitierte wohl als Werben um die Bevölkerung und allgemeiner Aufruf zu Ordnung und Disziplin verstanden worden. Im Kontext des 29. April 1945 aber mussten die Hamburger, die sie über Rundfunk vernahmen, anderes denken. Der Krieg war faktisch verloren, Partei und Staat befanden sich in allgemeiner Auflösung, von der Ostfront drangen Schreckensmeldungen nach Westen, der „Führer“ war in Berlin eingekesselt, die Briten standen kurz vor Hamburg und die Wehrmacht bereitete sich auf die Verteidigung der zur „Festung“ erklärten Hansestadt vor.
1 StaHH 731-6, III 9, Redemanuskript vom 29. April 1945.
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Nachfolgend wird es nicht darum gehen, wie die Kapitulation und die kampflose Übergabe Hamburgs im Einzelnen abgelaufen ist, was bereits Gegenstand etlicher wissenschaftlicher 2 und vor allem populärkultureller Publikationen 3 gewesen ist. Es soll vielmehr darum gehen, wie sich Kaufmanns Verhalten und Wirken in diesem für die Hamburger Geschichte besonders dramatischen Moment im Rahmen seiner Gesamtbiografie versteht. Alle bisherigen Untersuchungen zur Kapitulation Hamburgs sehen im Verhalten Kaufmanns eine Art „Wandlung“ im März oder spätestens Anfang April 1945, nach der er weiteres Leid und weitere Zerstörungen beenden wollte. Durch die vorliegende 2 In diesem Kontext müssen zwei Publikationen genannt werden, die beide gleichermaßen wichtig sind für die wissenschaftliche Beschäftigung mit der komplizierten Kapitulation. Beide sind zu nennen, da sie auf grundsätzlich verschiedenen Quellengrundlagen beruhen. Erstens ist zu verweisen auf die grundlegende Studie von Möller, Kurt Detlev: Das letzte Kapitel. Geschichte der Kapitulation Hamburgs. Von der Hamburger Katastrophe des Jahres 1943 bis zur Übergabe der Stadt am 3. Mai 1945, Hamburg 1947. Möller konnte noch nicht auf breiteres Archivmatierial zugreifen. Seine Quellengrundlage beruhte im Wesentlichen auf Zeitzeugeninterviews und Dokumenten, die beteiligte Zeitzeugen in ihrem Privatbesitz hatten und ihm zugänglich machten. Deshalb ist zweitens hinzuweisen auf (die sprachlich jedoch nicht ganz unproblematische Arbeit von) Heitmann, Jan: Das Ende des Zweiten Weltkrieges in Hamburg. Die kampflose Übergabe der Stadt an die britischen Truppen und ihre Vorgeschichte, Frankfurt am Main/Bern/New York/Paris 1990. Heitmann konnte nicht in einem solch starken Umfang wie Möller Zeitzeugen befragen, obwohl die Forschung bis dahin viele neue Erkenntisse zu Tage gefördert hatte, deren Berücksichtigung in solchen Befragungen sehr gewinnbringend gewesen wären. Dafür konnte er aber inzwischen auf breites Archivmatieral zugreifen, das von den Alliierten zurückgegeben worden war. Hinsichtlich Möllers Studie ist zudem noch darauf hinzuweisen, dass sie wissenschaftlich zwar sehr gehaltvoll ist, aber bereits 1946/1947 teilweise sehr stark kritisiert wurde. Im Wesentlichen ist dies auf politische Gründe zurückzuführen, da (vor allem) SPD und KPD ihm vorwarfen, Kaufmanns Rolle bei der Kapitulation verklärend dargestellt zu haben, und ihn „reinwaschen“ zu wollen. Wissenschaftlich betrachtet waren solche Vorwürfe gegen das Werk von Möller nicht haltbar, was spätere Studien, wie etwa die von Heitmann und vielen anderen immer wieder bestätigten. Zudem war die Fragestellung Möllers nicht, wie der Nationalsozialismus in Hamburg zustande kam, sondern wie die Kapitulation sich ereignete. Dadurch geriet Kaufmann aus Sicht der Zeitgenossen automatisch in positiveres Licht, als wenn sein individuelles Agieren 1933 inklusive aller Gewalt noch miterfasst worden wäre. Die Fragestellung war Möller aber vorgegeben worden, sodass von einer Einseitigkeit Möllers in der thematischen Ausrichtung eigentlich keine Rede sein kann. Zugleich zeigen diese ganzen Verwicklungen (die so weit gingen, dass Möller zeitweise als Direktor des Hamburger Staatsarchivs entlassen worden war und wieder eingestellt werden musste), dass die öffentliche Meinung im Hamburg der Nachkriegszeit Schwierigkeiten hatte, Kaufmanns Rolle neutral zu gewichten. Die Hintergründe zu Möllers Werk, dessen Inhalt und Rezeption wurden untersucht von Grolle, Joist: Schwierigkeiten mit der Vergangenheit. Anfänge der zeitgeschichtlichen Forschung im Hamburg der Nachkriegszeit, in: ZHG, 151/1992, S. 1–65, hier S. 2–50. Auch Kaufmanns überaus positive Rezeption nach 1945 hing mit diesen Schwierigkeiten zumindest teilweise zusammen. Darauf wird im entsprechenden Kapitel noch ausführlich eingegangen. 3 Ein frühes Beispiel ist eine Veröffentlichung, die auf einer Artikelserie im „Hamburger Abendblatt“ basierte: Verg, Erik: Hamburg 1945. 20 Tage zwischen Tod und Leben, Hamburg 1975.
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Biografie Kaufmanns kann nun aber ein differenzierteres Bild von Kaufmanns Persönlichkeit und Selbstverständnis sowie seiner Einstellung zum Kriegsausgang gezeichnet werden. Denn wie aufgezeigt ging er bereits nach der „Operation Gomorrha“ Mitte 1943 nicht mehr vom propagierten „Endsieg“ aus. Mitte 1943 fand also bereits eine „Wandlung“ statt, und nicht erst, als britische Soldaten Anfang 1945 kurz vor der Stadt standen. Kaufmanns eigene Rolle in der Kapitulation ist bereits untersucht worden (einer der lediglich drei Aufsätze, die bislang zu einem halbwegs biografischen Ansatz Kaufmanns vorliegen) 4, aber zum Verständnis seines Handelns, also zur Einordnung seiner Rolle ist eine umfassende, hier vorliegend erfolgende Biografie unumgänglich. Denn erst damit wird deutlich, dass Kaufmann eine bewusste Entscheidung traf, die er auch als Chance für Hamburg ansah, und nicht ausschließlich für sein eigenes Überleben (welches durch seinen Friedenskurs im April und Mai 1945 ohnehin zusätzlich von Personen wie Himmler offen bedroht wurde). Dies ist auch die größte Schwäche des entsprechenden Aufsatzes, was aber nichts über die insgesamt äußerst lobenswerte Forschungsarbeit des Autors aussagt. Der Aufsatz jedenfalls erfasst Kaufmann als das, wofür er „auf den ersten Blick“ als oberster Nationalsozialist Hamburgs gehalten werden könnte: Einen klassischen karriere- und machtorietierten NS-Führer, der im Nachhinein versuchte, seine wahre Rolle „sauber zu waschen“. Auch wenn es zutreffend es ist, Kaufmann als karriere- und machtorientiert zu verstehen, ist es doch verkürzend, seine Rolle bei der Kapitulation nur aus diesen Attributen heraus ausmachen zu wollen. Dies ist einer der Gründe weshalb Biografien so unerlässlich für das Verständnis von Geschichte sind. Das einzelne Individuum konnte und kann immer einen Unterschied machen. Wenn in Hamburg ein „klassischer“ Nationalsozialist Gauleiter und Reichsstatthalter gewesen wäre, hätte er sich wohl anders verhalten als Kaufmann. Der Vergleich des Verhaltens der Gauleiter 5 zeigt dies deutlich auf. Wenn der Zeitpunkt des Endes der jeweiligen regionalen Herrschaft bei Besetzung oder Kapitulation betrachtet wird, ergibt sich rein quantitativ folgendes Bild: Von 1945 41 im Amt befindlichen Gauleitern 6 wurden acht verhaftet oder gefangen genommen 7, 21 flohen (und
4 Vgl. Asendorf: Kaufmann. 5 Diese waren als Reichsverteidigungskommissare und Parteimacht während der Kapitulation wichtiger als die oft gauübergreifenden Reichsstatthalter und die Staatsmacht, inklusive der Verantwortung für den jeweiligen gauweiten „Volkssturm“. 6 Ohne Auslandsorganisation, die beiden nur de jure bestehenden Gaue in Belgien sowie einen geschäftsführend von einem anderen Gauleiter geführten Gau. 7 Florian, Konrad Henlein, Franz Hofer, Albert Hoffmann, Murr, Ludwig Ruckdeschel, Sauckel, Wegener.
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wurden später verhaftet, stellten sich oder tauchten langfristig unter) 8 und neun starben oder begingen bei der Besetzung Selbstmord 9. Bei allen Kategorisierungsschwierigkeiten ist das Schicksal von einem weiteren Gauleiter unklar 10. Neben Kaufmann gab es insgesamt nur einen einzigen Gauleiter, der ebenfalls kapitulierte und sich dann in die Hände der Siegermächte begab: Wahl aus Schwaben ließ im April die kampflose Übergabe an die US-amerikanischen Truppen passiv zu, floh nicht, tauchte nicht unter, und ließ sich im Mai schließlich widerstandslos verhaften 11. Wahl wie Kaufmann waren also absolute Ausnahmen. In jedem dieser 41 Fälle lagen die Gründe für das individuelle Verhalten etwas anders. Deshalb ist es gerade bei Kaufmann als einem eher ungewöhnlichen Fall wichtig, die gesamte Biografie zu verstehen. Erst dadurch kann auch sein Ansatz bei der Kapitulation verstanden werden. Dass dies bei dem betreffenden Aufsatz über Kaufmanns Beteiligung an der Kapitulation nicht erfolgt ist, muss also nicht auf mangelnde Forschungsarbeit des Autors zurückgehen. Vielmehr existierte zum Zeitpunkt des Verfassens seines Aufsatzes einfach noch keine umfassende Biografie über Kaufmann. Die schon in der Einleitung der vorliegenden Arbeit erwähnten Kurzbiografien konnten dies nicht ersetzen, und auch die Ergebnisse des insgesamt lobenswerten Pionieraufsatzes über Kaufmanns Werdegang 12, der kurz davor erstmals die Eckpunkte von Kaufmanns Leben versuchte darzustellen, waren für die gesamte Erforschung des Nationalsozialismus in Hamburg ein wichtiger Meilenstein, fanden aber in dem Aufsatz über Kaufmanns Rolle in der Kapitulation keine nähere Berücksichtigung, da dessen Erkenntnisse als falsch aufgefasst wurden 13. Wie die vorliegende Arbeit zeigt, ist dies in erheblichen Teilen unzutreffend. Hier greift nochmals die Bedeutung von Biografien zum historischen Gesamtverständnis. Wäre Kaufmann etwa einer der Gauleiter gewesen, die im letzten Moment flohen, oder gar einer derjenigen, die bis zur eigenen Gefangennahme weiterkämpften, wäre 8 August Eigruber, Forster, Greiser, Grohé, Hanke, Otto Hellmuth, Hildebrandt, Jordan, Koch, Lauterbacher, Lohse, Mutschmann, Friedrich Rainer, Scheel, Franz Schwede, Simon, Willi Stöhr, Telschow, Siegfried Uiberreither, von Schirach, Robert Wagner. 9 Joachim Albrecht Eggeling, Karl Gerland, Giesler, Goebbels, Karl Holz, Hugo Jury, Alfred Meyer, Sprenger, Terboven. 10 Emil Stürtz. 11 Zum gesamten Geschehen vgl. Keller, Sven: „jedes Dorf eine Festung“ oder ein „sanftes“ Kriegsende in Schwaben? Volkssturm, Durchhalteterror und die Rolle Gauleiter Wahls in der Kriegsendphase 1945, in: Fassl, Peter (Hrsg.): Das Kriegsende in Bayerisch-Schwaben. Wissenschaftliche Tagung der Heimatpflege des Bezirks Schwaben in Zusammenarbeit mit der Schwabenakademie Irsee am 8./9. April 2005, Augsburg 2006, S. 23–54, hier S. 47–54. 12 Bajohr: Kaufmann. 13 Der Aufsatz von Bajohr wurde von Asendorf gar erst in der 53. von 59 Fußnoten erwähnt, und auch dort fand keine inhaltliche Auseinandersetzung statt, sondern es findet sich unter anderem der Kommentar, „[d]ie Kaufmann[-]/Möller-Version jetzt noch bei Frank Bajohr“. Vgl. Asendorf: Kaufmann, S. 23.
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Hamburgs Geschichte im „Dritten Reich“ völlig anders ausgegangen. Während der Kapitulationsverhandlungen wurde von britischer Seite auch offen angedroht, Hamburg mit der nur Minuten entfernt stationierten Bomberflotte restlos zu zerstören. Unmissverständlich hieß es von britischer Seite an den hamburgischen Kampfkommandanten gerichtet, „[d]ie Bevölkerung von Hamburg kann ihren ersten Grossangriff von über 1000 schweren Bombenflugzeugen nicht leicht vergessen haben: wir verfügen jetzt über einen fünf- bis zehnmal stärkeren Bomberverband, der von nahen Flugplätzen her einfliegt.“ 14
Dies wäre zwar im Sinne der „Verbrannten-Erde-Politik“ und des „Bis-zum-letztenMann-Kämpfens“ gewesen. Aber das Ergebnis dürfte noch verheerender als 1943 geworden sein. Es war jedoch Kaufmann, der 1945 Gauleiter von Hamburg war. Und wie die vorliegende biografische Arbeit bereits ausführlich gezeigt hat, war Kaufmann schon 1943 nicht mehr von einem siegreichen Kriegsausgang überzeugt. Dass eine solche Person schließlich bei der unmittelbar erneut drohenden und vielleicht sogar endgültigen Zerstörung Hamburgs anders handelte, als die meisten anderen der auf „Endkampf“ und „Endsieg“ fixierten Gauleiter, kann also nicht weiter verwundern. Trotzdem ist zur kampflosen Übergabe Hamburgs die Frage zu klären, warum Kaufmann überhaupt so handelte. Es hätte weitere Möglichkeiten gegeben. Verschiedene Gauleiter hatten in den Wochen und Monaten zuvor etliche dieser Möglichkeiten vorexerziert. Kaufmann hätte etwa fliehen und sich verstecken können, wie es Grohé oder Mutschmann versuchten. Er hätte den Befehlen und dem Willen Hitlers Folge leisten und selbst bis zum Ende kämpfen können, wie es bei Gerland oder Holz der Fall war. Er hätte mit dem Zusammenbruch des Reiches, welches erobert wurde und Bestrafung seiner Träger fürchten musste, sich auch selbst töten können, wie es Goebbels oder Sprenger machten. Kaufmann hat diese Frage niemals selbst geklärt. Er war sich schon Wochen im Voraus darüber im Klaren, dass er sich verhaften lassen würde, egal wie die Folgen der Verhaftung für ihn selbst seien. Vorausgesetzt natürlich, dass er bis dahin nicht abgesetzt oder gar hingerichtet werden würde (wofür es mit Fritz Wächtler auch einen Präzedenzfall gab, dazu nachfolgend mehr). Es ist anzunehmen, dass Kaufmann aus Verantwortungsgefühl handelte. Er hatte sich nach 1933 immer für Hamburg verantwortlich gefühlt und dies auch immer wieder deutlich ausgesprochen. Kaufmann wusste, wie es um den Krieg und um Hamburg im Speziellen stand. In Hamburg besaß er vollen Einblick in alle Züge der Verwaltung. Er übte seine Verwaltung politisch aus, aber der Sinn für das Vorhandensein und die Praktikabilität wurde davon nicht verdrängt. Sein Sinn für das praktisch Mögliche wurde eher geschärft. Und über das Reichskommissariat für die Seeschifffahrt und Speer waren ihm auch die Rüstungsprobleme außerhalb der Hamburger Werften bekannt. 14 StaHH 731-6, III 9, Schreiben vom 29. April 1945.
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Er glaubte seit 1943 nicht mehr an den Sieg, höchstens noch an einen glimpflichen Waffenstillstand. Die Niederlage oder höchstens der Waffenstillstand musste irgendwann zwangsläufig kommen. Er sah die realistische Lage, und er sah sie nicht gefärbt. Es lag keine ideologiegetriebene Betrachtungsweise vor. Sonst hätte sich Kaufmann wohl nicht in das Risiko einer Absetzung mit allen Konsequenzen begeben, hätte bis zum Ende gekämpft oder sich erschossen. Auch eine Flucht ging er nicht an. Er wollte Hamburg schadlos übergeben, ohne Rücksicht auf die eigene Person. Es hätten sich genügend Situationen angeboten, zu flüchten und Hamburg sich selbst, seinem Stellvertreter oder etwa seinem Kampfkommandanten Armin Wolz zu überlassen. Er nutzte sie nicht, sondern empfing am 3. Mai die Briten im Rathaus, um ihnen möglichst geordnet die Verwaltung mit allen Einzelfragen zu übergeben, sodass keine Komplikationen für Hamburg entstünden. Einen persönlichen Vorteil bei den Briten wird er sich nicht davon erhofft haben. Denn es war für alle deutlich zu sehen, dass in den Wochen zuvor in eroberten Reichsteilen die Führung von Partei und Staat reihenweise inhaftiert wurden, ebenso wie bekannt war, dass es unterschiedslos Tribunale gegen sie geben sollte. Es ging ihm also tatsächlich um Hamburg. Wie also sah Kaufmanns Rolle bei der Kapitulation nun aus? Insgesamt sind die Umstände der Kapitulation Hamburgs sehr kompliziert. Es muss zuerst einmal darauf hingewiesen werden, dass stets mehrere Kanäle bestanden, über die verschiedene Parteien versuchten eine Kapitulation, Teilkapitulation oder einen Waffenstillstand herbeizuführen. Dies muss hier wie bereits erwähnt nicht im Einzelnen dargestellt werden. Wichtig ist für die vorliegende Arbeit, wo genau Kaufmann zu lokalisieren ist. Die wichtigste Person neben Kaufmann war in den entscheidenden Wochen der kampflosen Übergabe der Hamburger Stadtkommandant Wolz. Wolz stammte ursprünglich aus der Luftwaffe und war im Mai 1944 zur Führung einer in Hamburg stationierten Flakdivision in die Hansestadt gekommen. Als für den zu erwartenden Landangriff gegen Hamburg und die strategisch wichtige Elbelinie im April 1945 ein Kampfkommandant für alle Verteidigungsmaßnahmen vom Oberkommando der Wehrmacht ernannt werden sollte, intervenierte Kaufmann zugunsten Wolz’. Kaufmann glaubte, dass Wolz ähnlich wie er eine militärische Verteidigung Hamburgs vermeiden wollen würde. Das OKW war mit Wolz nicht einverstanden und wollte einen ortsfremden Kommandanten, der weniger Rücksicht auf örtliche Verbundenheiten legen würde. Doch Kaufmann setzte sich durch. Kaufmann und Wolz unterhielten sich danach miteinander über ihre Ansichten zur Verteidigung Hamburgs, bei der laut Wolz ab der zweiten oder dritten Besprechung unter vier Augen offen gesprochen wurde und kein Dissens bestand. Soweit sind sich die Untersuchungen der Monografie von 1947 und des besagten Aufsatzes über Kaufmanns Beteiligung einig 15. Dies kann mit Blick auf die Quellen hier auch nochmals bestätigt werden 16. Kaufmann streckte also spätestens ab April die Fühler aus in Richtung Verbündete für eine potentielle Kapitulation. 15 Vgl. Möller: Kapitel, S. 46f. und Asendorf: Kaufmann, S. 21. 16 Vgl. hierzu exemplarisch die Ausführungen von Wolz in StaHH 731-6, III 9, Schreiben vom 10. Juni 1945.
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Ebenfalls einig sind sich beide Studien darin, dass angesichts der Quellen kein Zweifel daran bestehen kann, dass Kaufmann Anfang April 1945 bereits über sein Amt als Reichskommissar für die Seeschifffahrt mit den schwedischen Bankiers Jacob und Marcus Wallenberg in Kontakt war, um den Westalliierten eine Übergabe des nordwestdeutschen Einflussbereiches inklusive Dänemark und Norwegen anzubieten. Voraussetzung sei, dass diese das Reich im Osten weiterkämpfen ließen, bis sich die Westalliierten selbst der Roten Armee entgegenstellen könnten. Das Vorgehen über Schweden hatte Kaufmann zuvor mit den drei nordwestdeutschen Gauleitern sowie dem deutschen Reichsbevollmächtigten für Dänemark abgestimmt 17. Auch hieran ist mit Blick auf die Quellen nichts auszusetzen 18. Kaufmann versuchte also nicht nur auf Hamburg zu verweisen, sondern behielt auch die Gesamtperspektive im Blick. Einigkeit besteht ebenfalls darüber, dass Kaufmann bis zum 1. Mai äußerlich oftmals vorgab, Hamburg gemäß „Führerbefehl“ verteidigen zu wollen (inklusive Ausführung von Verteidigungsmaßnahmen), und er erst dann (bis auf Ausnahmen wie am 16. April) vor seiner versammelten Führungsriege unmissverständlich klar machte, dass der Krieg und damit die nationalsozialistische Herrschaft verloren sei 19. Und auch dies kann mit Blick auf die Quellen hier nochmals bestätigt werden 20. Er versuchte also gegenüber den „Hardlinern“ im Reich sein Vorgehen abzuschirmen. Bis dahin war Kaufmann oft zweigleisig vorgegangen. Wenn er sich nicht sicher war offen reden zu können, wie er es etwa bei Wolz konnte, schwieg er oder spielte die von ihm erwartete Rolle weiter. Auch in dieser Phase sind aber immer wieder Indizien für sein wahres Verhalten und seine Einstellung vorhanden. Hierzu nachfolgend mehr. Es könnte sich schnell die Frage stellen, warum Kaufmann nicht früher versuchte, für Hamburg oder aus seiner Position heraus gar für den gesamten nordwestdeutschen Raum einen Waffenstillstand oder eine (Teil-)Kapitulation herauszuhandeln. Einerseits ist hierbei auf Ereignisse zu verweisen, die laut Kaufmann selbst zu seiner Absetzung als Reichsverteidigungskommissar der Nordseeküste und als Reichskommissar für die Seeschifffahrt führten. Denn gerade sein stetes Verweisen auf die Konsequenzen der verfolgten Politik waren demnach dafür verantwortlich, dass er aus diesen Positionen 17 Vgl. Möller: Kapitel, S. 63f. und Asendorf: Kaufmann, eBd. Die genannten Bankiers sind kein Zufallskontakt gewesen. In Untersuchungen zu „Friedensfühlern“ und allgemein oppositionellem Kontakt aus dem Reich über das neutrale Schweden tauchen sie immer wieder auf. Besonders bekannt dürften sie in diesem Zusammenhang wegen ihrer Kontaktfunktion zwischen Himmler und dem Präsidenten des Schwedischen Roten Kreuzes, Folke Graf Bernadotte, sowie aufgrund ihrer Vermittlungsfunktion zwischen Carl Friedrich Goerdeler, dem „Boschkreis“ und britischen Gesandten in Stockholm sein. 18 Vgl. hierzu exemplarisch die aneinander adressierten Briefe von Kaufmanns Seeschifffahrtsgesadten Heinrich Riensberg und Jacob Wallenberg aus dem Jahre 1968 über das Geschehen in StaHH 731-6, III 9. 19 Vgl. Möller: Kapitel, S. 133 und Asendorf: Kaufmann, S. 21f. 20 Vgl. hierzu exemplarisch die Ausführungen von Constantin Bock von Wülfingen in StaHH 7316, III 9, Schreiben vom 20. Mai 1945.
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durch Hitler entfernt wurde (auf die Problematik des Wahrheitsgehalts wird nachfolgend eingegangen). Kaufmann konnte sich also gewiss sein, dass er sich damit bereits einiges erlaubt hatte. Sich noch mehr zu erlauben, etwa durch das Beharren auf einer Kapitulation für Hamburg, wäre wahrscheinlich weniger glimpflich ausgegangen. Kaufmann selbst vermerkte sowohl in seiner Niederschrift über die Kapitulation, die er im Sommer 1945 in Neuengamme verfasste, als auch wesentlich umfangreicher in seinen Memoirenentwürfen, er sei nach einer hitzigen Auseinandersetzung mit Hitler am 3. April 1945 als Reichskommissar und als Reichsverteidigungskommissar für die Nordseeküste abgesetzt worden. Dies zu überprüfen ist sehr schwierig, vielfach sind gar nur Einschätzungen möglich. Es ist aber wichtig dies zu diskutieren, weil Kaufmann in dem Aufsatz über seine Rolle in der Kapitulation vorgeworfen worden ist, dass seine gesamte Version über den 3. April, seine Auseinandersetzung mit Hitler an dem Tag und seine Absetzungen erfunden waren, um sich im Kontext der Kapitulation Hamburgs zum „Retter“ zu stilisieren 21. In seinen Memoirenentwürfen (die dem Autor des Aufsatzes unbekannt waren, aber ausführlicher sind als der kurze Bericht aus Neuengamme, auf den er zugreifen konnte) schilderte Kaufmann unter anderem folgendes (wozu ein längeres Zitat angebracht erscheint): „Bormann stand hinter Hitler. Wir wurden nicht aufgefordert, Platz zu nehmen und Hitler fragte mich: ‚Nun, Kaufmann, was wollen Sie?‘ ‚Mein Führer, ich habe bitten lassen, das[s] Feldmarschall Busch und ich Sie allein sprechen können‘. ‚Das hat gar keinen Zweck, die Herren vom OKW sollen dabei sein‘. Ich beachtete den Einwand nicht und wollte stehend mit meinen Ausführungen beginnen. Nach wenigen Sätzen unterbrach mich Hitler: ‚Das hat keinen Zweck‘. ‚Bormann, bitten Sie die Herren vom OKW‘. Nach wenigen Minuten, die Herren mußten also wohl zu diesem Zweck von Hitler bereits befohlen gewesen sein, erschienen Generalfeldmarschall Keitel, Generaloberst Jodl, Großadmiral Dönitz, Reichsführer SS Himmler und General Buhle vom Heereswaffenamt. Dann nahmen wir Platz um einen großen runden Tisch […]. Nun bat ich Hitler, ob Generalfeldmarschall Busch mit seinem Vortrag über die militärische Lage beginnen könne. […] Nach wenigen Sätzen schon unterbrach er den Feldmarschall und geriet in äusserste Erregung. […] Busch kam dann nicht mehr zu Wort. Ich mußte befürchten, daß in der Erregung Hitlers die Unterhaltung zu Ende gehen würde, ohne dass ich selbst meine Auffassung vorgetragen hatte. Jetzt schaltete ich mich ein. Ich betonte, daß Hamburg zur Festung erklärt sei und der Verteidigungsbefehl an den Kampfkommandanten von Hamburg ergangen sei. Ich wagte die Feststellung, daß nach meinem Eindruck, nach meinen Reisen an die fraglichen Frontabschnitte, die dem Feldmarschall zur Verfügung stehenden Kräfte den gegnerischen hoffnungslos unterlegen seien. Ich warf die Frage auf, obwohl ich
21 Vgl. Asendorf: Kaufmann, S. 20f.
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wußte, daß keinerlei Reserven zur Verfügung standen, ob mit zusätzlichen Verstärkungen an Truppen, Flugzeugen und Material zu rechnen sei. Die Erregung Hitlers steigerte sich. ‚Alles für General Wen[c]k‘, rief Hitler zu Keitel gewandt. […] Dann wies ich darauf hin, daß die Marine mit starken Kräften, die zwar äusserst schlecht und mangelhaft bewaffnet seien, immer noch auf Befehl von Dönitz mit dem Gesicht seewärts stünden, und ob diese nicht dem Feldmarschall zur Verfügung gestellt werden könnten. Dönitz schaltete sich ein und verneinte, unter mir nicht einleuchtender Begründung, diese Möglichkeit.[...] Dann wies ich darauf hin, daß nach meinen Informationen hunderte Waggons […] hoffnungslos blockiert und für Frontabschnitte bestimmt, die längst vom Feind besetzt seien, auf dem Verschiebebahnhof bei Buchholz stünden. Nun schaltete sich Hitler erneut ein und befahl, zu General Buhle gewandt: ‚Nichts für den Norden, der muß sich selber helfen, alles Material für General Wen[c]k‘. Dann wandte sich Hitler mit erhobener Stimme an mich und rief erregt: ‚Kaufmann, ich weiß, wer diese Waggons dorthin verschoben hat‘. Nun wurde die Situation für mich kritisch. Eine solche Unterstellung hatte ich bei allem Verständnis für die Grösse der auf Hitler lastenden Sorge[n] doch nicht erwartet. ‚Mein Führer, ich darf als alter Nationalsozialist wohl erwarten, daß man mir in der traurigsten Situation des Reiches nicht solche schmutzigen Motive zutraut‘. Noch einmal lenkte Hitler ein. ‚Das war nicht so gemeint. Ich weiß, daß Sie Idealist sind, aber ich habe auch Nerven‘. Nach diesem Zwischenfall sprach ich über die zu erwartende Situation bei einem Kampf um Hamburg. Mit 680 000 Frauen und Kindern in Hamburg könnte ich mir, ganz abgesehen von der hoffnungslosen militärischen Unterlegenheit, eine erfolgreiche Verteidigung der 'Festung' Hamburg nicht vorstellen. […] ‚Mein Führer, aufgrund der von Feldmarschall Busch festgestellten militärischen Lage, und dem erteilten Kampfbefehl für Hamburg, muß ich damit rechnen, daß es zu einem nach meiner Meinung aussichtslosen Kampf um Hamburg kommen wird. Im Hinblick auf Leben und Gesundheit der Zivilbevölkerung, kann ich eine Verteidigung Hamburgs nicht verantworten‘. […] ‚Hamburg ist zur Festung erklärt und wird verteidigt. Wissen Sie nicht, daß schon einmal in der Geschichte Hamburgs unter dem Marschal Davoust Hamburger ihre Stadt verlassen mußten?‘ ‚Das ist mir bekannt, doch ich vermag diesen Vergleich für die heutige Situation nicht anzuerkennen‘. Hitler überhört meine Antwort und wendet sich nun an Busch. ‚Herr Feldmarschall, vom heutigen Tage ab wünsche ich nicht mehr, daß ein Gauleiter als Reichsverteidigungskommissar über andere Gauleiter gesetzt ist. Nehmen Sie das zur Kenntnis. Kaufmann bleibt als Reichsverteidigungskommissar ab sofort auf Hamburg beschränkt. Die anderen Gauleiter sollen schnellstens einen Verbindungsmann zu ihnen [sic] abstellen‘.
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Grußlos steht Hitler auf und ruft beim Hinausgehen Bormann zu: ‚Bormann, veranlassen Sie das Notwendige‘.“ 22
Ein zentrales Problem an dieser Version stellt die Datierung dar. Der Aufsatz über Kaufmanns Rolle in der Kapitulation bemerkte, dass sich Kaufmanns Anwesenheit in der Reichskanzlei am 3. April nicht zweifelsfrei nachweisen ließe 23. Dies ist korrekt. Der Autor des Aufsatzes stützte sich zur Entkräftigung von Kaufmanns Angaben in dessen Bericht aus Neuengamme auf Bormanns Aufzeichnungen, wonach Kaufmann und Ernst Busch erst für den 8. April angesagt waren 24. Andere zeitgenössische Quellen, die hierüber Aufschluss geben könnten, wie etwa der akribisch geführte Terminkalender Himmlers, in dem meistens auch die einzelnen Teilnehmer von Konferenzen namentlich aufgeführt wurden, enden kurz vor dem Datum (was auf den chaotischen Zusammenbruch des Reiches im April und Mai zurückzuführen ist). Es könnte also durchaus argumentiert werden, dass die zeitgenössische Angabe Bormanns (sofern keine Terminänderung nach dem Zeitpunkt des Verfassens seiner Notiz eintrat), näher an der Realität lag, als eine rückschauende Schilderung Kaufmanns. Sehr gut möglich ist aber auch ein blanker Zufall. Einer von beiden, Bormann oder Kaufmann, könnte sich schlicht in der Ziffer 3 oder 8 geirrt haben. Eine bewusste Lüge Kaufmanns ist jedenfalls so gut wie ausgeschlossen. Denn für seine Version der Ereignisse führte er in seinem Memoirenentwürfen zahlreiche Zeugen an. Als Kaufmann sein Manuskript entwarf, waren Hitler, Keitel, Jodl, Busch und Himmler zwar bereits tot und Bormann galt zu dieser Zeit noch als verschollen beziehungsweise untergetaucht. Aber Dönitz und Walter Buhle lebten noch, Dönitz verfasste gar seine Memoiren. Wenn Kaufmann sein Buch wie geplant im Laufe des Jahres 1953 oder 1954 veröffentlicht hätte, hätte er bei diesen beiden öffentlichen Widerspruch erfahren können. Wenn sie eine so einschneidende Auseinandersetzung wie von Kaufmann für den 3. April geschildert erlebt hätten, wäre sie ihnen höchstwahrscheinlich im Gedächtnis geblieben. Doch selbst wenn sie sich nicht von sich aus dazu geäußert hätten (etwa Dönitz in seinen erst danach erschienenen Memoiren), hätte sich Kaufmann dem Risiko des Widerspruchs sehenden Auges ausgesetzt. Es kann also zumindest vermutet werden, dass er im gutem Glauben von seiner Datierung des 3. April ausging, unabhängig davon, ob es nun wirklich der 3., der 8. oder ein anderer Apriltag war. All dies ließe sich gleichfalls für die inhaltliche Problematik von Kaufmanns Version anführen. Dass kein schriftlicher Erlass über Kaufmanns Abberufung existiert kann zugleich mehrere Gründe haben. Wollte Hitler dies gesichtswahrend gestaltet haben? Also dass Kaufmanns Zuständigkeit für die Operationszone der Nordseeküste durch den bereits erwähnten Wehrmachtsbefehl vom 7. April beendet wurde? Oder ging das von Hitler Geforderte im anschließenden Chaos der letzten Wochen des Reiches schlicht unter, wie so vieles andere auch? Beides ist unklar und wird es wohl auch bleiben. Es kann 22 PNKK Ordner Nr. 3, Entwurf Manuskript [S. 7–11]. 23 Vgl. Asendorf: Kaufmann, S. 21. 24 Vgl. ebd., S. 23.
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lediglich spekuliert werden, dass Kaufmanns Version stimmt (oder er sich höchstens im Datum irrte), denn warum hätte er bewusst beim Datum lügen sollen, wenn er alle relevanten Daten in Form von fremden Memoiren und der Forschungsliteratur vor sich liegen hatte? Unabhängig hiervon war Kaufmann wie dargestellt ohnehin bereits weit gegangen. Es war auch gerade Kaufmanns Befürchtung, er würde verhaftet werden, welche bis zum 22. April zu Kaufmanns Lavieren, Hinauszögern und Zurückweisen der Aufforderungen des neuen OKW unter Dönitz führten, sich bei ihm wegen allgemeiner Verteidigungsplanungen einzufinden 25 (insgesamt nicht weniger als drei Mal 26). Kaufmann fürchtete, dass sein Taktieren inzwischen aufgefallen sein könnte. Das Spannungsfeld, in dem sich das OKW unter Dönitz’ neuer strategischer Ausrichtung befand, darf hierbei nicht unterschätzt werden. Dönitz gesamte Strategie lief grundsätzlich darauf hinaus, an der Ostfront so lange wie möglich zu kämpfen, um möglichst vielen Deutschen die Flucht vor der Roten Armee zu ermöglichen 27. Da die Westalliierten im April 1945 aber bereits an Elbe und Rhein standen, musste dort möglichst lange hinhaltender Widerstand geleistet werden, um „den Rücken“ an der Ostfront frei zu haben. Wäre Hamburg frühzeitig aufgegeben worden, wäre damit die wichtigste strategische Position in Nordwestdeutschland aufgegeben worden. Damit hätten die Westalliierten mangels natürlicher Hindernisse innerhalb weniger Tage zur Ostfront aufschließen können. Dönitz ging es also um zivile Menschenleben im Osten. Kaufmann hingegen hatte andere, eher regional geprägte Sorgen, wenngleich er auch das Reich im Blick behielt 28 und er gleichzeitig als Reichskommissar für die Seeschifffahrt die Rettung deutscher Flüchtlinge vor der Roten Armee versuchte zu unterstützen 29. Zugleich ging es ihm um die Rettung möglichst vieler ziviler Menschenleben in Hamburg. Aus ihrer beider Amtsverantwortlichkeit heraus handelten sie also im Sinne ihrer Ämter, Pflichten und Ziele. 25 Vgl. Steinert, Marlis G.: Die 23 Tage der Regierung Dönitz, Düsseldorf/Wien 1967, S. 77f. 26 Vgl. Möller: Kapitel, S. 121. 27 Vgl. Steinert: Dönitz, S. 77f. 28 Gegenüber Wolz führte Kaufmann beispielsweise ähnliches zur Verteidigung Hamburgs aus, wie gegenüber Dönitz, wonach er „sie davon abhängig [mache], daß eine weitgehende Evakuierung aus dem zu verteidigenden Teil Hamburgs, in dem etwa 600 000 Menschen wohnten, durchgeführt würde. Ein derartiges Unternehmen war jedoch unter den gegebenen Verhältnissen in keiner Weise durchführbar, was dem Gauleiter noch besser bekannt sein mußte als mir. In einer weiteren Besprechung unter vier Augen wurden wir uns beide nun völlig einig, daß wir im gegebenen Fall Hamburg auch gegen Befehl der oberen Führung kampflos übergeben würden.“ StaHH 731-6, III 9, Schreiben vom 10. Juni 1945. 29 In seinen Memoirenentwürfen fasste Kaufmann dieses Dilemma mit deutlichen Worten zusammen: „Ich wäre der Letzte gewesen, dem das Schicksal der ostdeutschen Flüchtlinge und der gegen die andrängenden sowjetischen Armeen kämpfenden Soldaten nicht am Herzen gelegen hätte. […] [S]o tat ich doch alles, was in meinen Kräften stand, um […] die Seetransportmöglichkeiten zu verstärken und meine Maßnahmen zur Rettung Hamburgs mit denen des Großadmirals [Dönitz] im Interesse der aus dem Osten kommenden Menschenmassen zu koordinieren. In diesem Ziel stimmten wir im Kern überein. In Verbindung damit gingen unsere Ansichten
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Dönitz, der offenbar inzwischen ahnte, was sich hinter der Verzögerungstaktik Kaufmanns verbarg, entsendete schließlich einen neuen Kampfkommandanten nach Hamburg. Wolz gelang es aber, diesen mit der Übergabe der Amtsgeschäfte so lange hinzuhalten, bis Hamburgs kampflose Übergabe nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte 30. Auch Versuche seitens des OKW, Wolz’ an seine Dienstpflichten, also an die Ausführung erteilter Befehle zu erinnern, konnten schadlos überstanden werden 31. Gleichzeitig traf Kaufmann diverse Vorbereitungen, die ab einem gewissen Punkt seine Intentionen kaum mehr verbergen konnten. Ein äußerst berühmtes Beispiel hierfür, welches sogar bis zum Verfassen der vorliegenden Arbeit gegen Kaufmann immer wieder anklagend aufgegriffen wird, ist das Ansammeln von Lebensmittelvorräten in seinem Amtssitz und Wohnhaus. Tatsache ist aber, dass die Hamburger Führung beschloss, für alle Fälle vorzusorgen, und die regulären Bezugsscheine für beinahe alle Waren faktisch aussetzte. Es wurden die angesammelten Notvorräte, die es sonst nur über die Rationierungen gab, von der Bevölkerung zum eigenen Vorrat genutzt. Kaufmann war hierbei kein egoistischer Parteiführer, der eigenmächtig einen Vorteil ausnutzte. Ebenfalls ein anschauliches Beispiel ist Kaufmanns stets wiederholter Aufruf an die Hamburger, ihm zu vertrauen. Noch bevor ein Erfolg der verschiedenen Kapitulationskanälen sich abzuzeichnen begann, sprach Kaufmann immer deutlicher von dem, was er vorhatte, etwa der bereits zitierten Rundfunkansprache vom 29. April oder auch vom 1. Mai 32. Er wollte die Bevölkerung beruhigen,
ebenso im Kernproblem, nämlich der Frage Hamburgverteidigung oder nicht, auseinander. Es war logisch, dass Dönitz[’] Aufmerksamkeit sich von dem Augenblick auf Hamburg konzentrieren mußte, als er um den 10. April zum Befehlshaber Nord ernannt wurde.“ PNKK Ordner Nr. 5, Entwurf Manuskript [S. 165]. Dieses Dilemma war Kaufmann offenbar so wichtig zu erläutern, dass er noch mehrfach und umfangreich darauf einging. Im Kern ging es ihm darum klarzustellen, dass aus dem Osten laufend evakuiert und geflüchtet und zugleich vor Hamburg hinhaltender Widerstand geleistet wurde. Vgl. exemplarisch: Ebd. [S. 175] Es war faktisch ein Entgegenkommen an beide Seiten in Kaufmanns Dilemma, zumindest bis zu dem Punkt, an dem sich in Hamburg nichts mehr hinauszögern ließ und die Gelegenheit zur kampflosen Übergabe genutzt wurde. 30 Vgl. Möller: Kapitel, S. 138f. 31 Vgl. Bahnsen, Uwe/Von Stürmer, Kerstin: Die Stadt, die leben wollte. Hamburg und die Stunde Null, Hamburg 2004, S. 62–65. Ein solches Verhalten musste geradezu eine gewisse Aufmerksamkeit wecken. Kaufmann selbst hat in einer seiner Notizen zu den Entwürfen seiner Memoiren niedergeschrieben, dass sogar schon 1944 seitens der Gestapo an ihn herangetreten worden war, um seine Schifffahrtssachverständigen in Kopenhagen und in Stockholm abzusetzen. Diese standen schon 1944 unter dem Verdacht, „f. d. Feind“ zu arbeiten. Vgl. PNKK Ordner Nr. 1, Ergänzung zum Kapitulationsbericht [undatiert]. Kaufmann kam dem nicht nach, offenbar gelang es der Gestapo auch nicht, Kaufmann dazu zu drängen oder auf anderem Wege die Betreffenden ins Reich zurückzuführen. Gerade diese beiden Kanäle nach Dänemark und Schweden sollte Kaufmann im April 1945 vor der Kapitulation versuchen zu nutzen. Vgl. genauer zu den Kanälen zwischen Hamburg und Stockholm Leifland, Leif: Hamburgs Kapitulation im Mai 1945: Querverbindungen nach Schweden, in: ZHG, 78/1992, S. 235–252. 32 StaHH 731-6, III 9, Redemanuskript vom 1. Mai 1945.
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konnte aber noch nicht offen reden ohne einerseits das eigene Leben und damit andererseits automatisch die geplante kampflose Übergabe zu gefährden. Ein anderes Beispiel liegt in Kaufmanns striktem Entgegenstellen bei Zerstörungen. Es gelang ihm zwar nicht immer, was unter anderem an den komplizierten Strukturen und unklaren Befehlsverhältnissen in den letzten Kriegswochen lag. Aber oftmals war es das Einschreiten Kaufmanns, welches weitergehende Lähmungen oder Zerstörungen strategischen Materials verhinderte. Da die Wehrmacht inzwischen in Hamburg eigene Vorbereitungen traf, auf deren unmittelbares Operieren Kaufmann nur noch eingeschränkten Einfluss hatte, arbeitete er hierbei oftmals mit anderen Personen zusammen. Insbesondere Speer, der inzwischen faktisch bei Kaufmann in Hamburg lebte („etwa vier Wochen vor der Kapitulation Wohnsitz in meine[r] Dienststelle nahm“ 33) und dort mit Kaufmann einen ähnlich Gesinnten gefunden hatte, war mit seiner Machtfülle als Rüstungsminister eine Hilfe erster Güte. Wie schon erwähnt, waren die beiden seit Kaufmanns Ernennung zum Reichskommissar für die Seeschifffahrt oft in Kontakt, der „ab 1944 auch zu einem engen persönlichen Kontakt geführt hat“ 34. Kaufmann jedenfalls hatte es laut Speer in den letzten Wochen des Krieges bereits geschafft, dass „[i]n einer Sitzung, an der die wichtigsten Vertreter von Industrie, Werften, Hafenverwaltung und Marine teilnahmen, […] dank der Energie des Gauleiters der Beschluß gefasst [wurde], nicht zu zerstören.“ 35
Die Wehrmacht war aber gegen diese Entscheidung. Und so berichtete Speer bei anderer Gelegenheit gegenüber seinem Biografen über die Zuwiderhandlungen gegen die angeordneten Zerstörungen gegen Ende des Krieges in Hamburg folgendes: „Es gab eine große Unvernunft, mit der selbst höchste Offiziere sich in den Tagen des Untergangs auf ihre Gehorsamspflicht hinauszureden versuchten. Nie sei ihm [Speer] das so klar geworden wie Ende April 1945, als er nach seinem Abschiedsbesuch in der Reichskanzlei von Hamburg aus das nahegelegene Hauptquartier des Generalfeldmarschalls Ernst Busch aufsuchte, um ihm die sinnlosen Sprengvorhaben an Docks und Hafenanlagen auszureden. Busch sei nur empört darüber gewesen, daß er [Speer], zusammen mit dem Gauleiter Kaufmann, die ergangenen Befehle aufgehoben habe, ohne Busch darüber zu unterrichten. ‚Wo sind wir hingekommen!‘ habe Busch geklagt und bekümmert den Kopf geschüttelt. Dann habe Manstein […] gefragt, ob man dieses Vorhaben ‚bewußt entgegen dem Befehl des
33 Ebd., Bericht vom Juni 1946. 34 PNKK Ordner Nr. 2, Entwurf Manuskript [S. 112]. Die beiden halfen sich auch gegenseitig in Bereichen, wo sie isoliert keine Einblicke gehabt hätten. Speer vermittelte Kaufmann zum Beispiel Einsichten in die gesamtdeutsche Rüstung, während Kaufmann ihm im politischen Kompetenzgerangel versuchte zu helfen, indem er ihm etwa über die Meinungen der Gauleiter gegenüber den Rüstungsambitionen Speers informierte. 35 Speer: Erinnerungen, S. 473.
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Führers‘ in Angriff genommen hätte, und als Speer bejahte, habe Busch eingeworfen, ganz, als habe er Mühe, eine solche Ungeheuerlichkeit zu begreifen: ‚Wirklich? Ist das so?‘ Als er […] dabei geblieben sei und auf die Leiden der Bevölkerung hingewiesen habe, auf die Katastrophe für die Hunderttausende bei Vollzug der Sprengungen, und schließlich von unmittelbar bevorstehenden Ende der Kämpfe sprach, wiederholten die beiden wie im Chor: ‚Tatsächlich?! Entgegen dem Befehl des Führers?!‘“ 36
Speer war aber nicht nur für Kaufmann ein äußerst wichtiger Verbündeter, sondern andersherum auch Kaufmann für Speer. Auch hierbei lassen sich Beispiele finden, die Kaufmanns Bestrebungen nach und nach für immer größere Kreise offenkundig werden ließen. Nach Speers Besuch zu Hitlers letztem Geburtstag in Berlin am 20. April begab er sich wieder zurück nach Hamburg: „Wie ich fand er [Kaufmann] es unbegreiflich, daß in dieser Situation der Kampf um jeden Preis weitergeführt werde. Dadurch ermutigt, gab ich ihm den Entwurf der Rede [die am 3. Mai verbreitete Rede zum Verbot von Zerstörungen und nötigendenfalls bewaffneten Widerstand gegen solche] zu lesen, die ich vor einer Woche […] geschrieben hatte; ich war unsicher, wie er sie aufnehmen werde. ‚Die Rede sollten Sie halten. Warum haben Sie es noch nicht getan?‘ Nachdem ich ihm von meinen Schwierigkeiten erzählt hatte, fuhr er fort: ‚Wollen Sie nicht über unseren Hamburger Sender sprechen? Für den technischen Leiter unseres Rundfunks kann ich gradestehen. Zumindest können Sie die Rede im Funkhaus auf Platte schneiden lassen.‘ Noch in der gleichen Nacht führte mich Kaufmann in den Bunker, in dem die technische Leitung des Hamburger Senders untergebracht war. Durch menschenleere Räume kamen wir in ein kleineres Aufnahmestudio, wo er mir zwei Techniker vorstellte, die über meine Absichten offensichtlich bereits unterrichtet waren.“ 37
Speer übergab Kaufmann die Schallplatten zur Verwahrung und nannte ihm Bedingungen, unter denen er sie eigenmächtig abspielen lassen könnte. Diese Bedingungen sind ähnlichen Charakters wie diejenigen, die Kaufmann einigen seiner engsten Mitstreiter für eine eigene, ebenfalls bereits aufgezeichnete Rede sowie einen von ihm unterzeichneten Aufruf getroffen hatte: Sollte er sterben, beseitigt oder inhaftiert werden, waren sie unverzüglich zu veröffentlichen 38. Dies waren Vorbereitungen für den Notfall, die bereits einiges an Gefahr bargen. Dies nicht nur, weil an den Vorbereitungen selbst immer auch andere Menschen beteiligt werden mussten, sondern auch weil es immer die Gefahr gab, dass eine dieser Vorbereitungen frühzeitig bekannt würde, ohne dass einer der Beteiligten sie verriet. 36 Fest: Fragen, S. 202f. 37 Speer: Erinnerungen, S. 478. 38 Vgl. Möller: Kapitel, S. 114.
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Genau so etwas geschah im Falle Kaufmanns, womit ein letztes Beispiel für seine Vorbereitungen genannt werden soll, die sein Bestreben immer deutlicher erkennbar werden ließen. Er hatte einen Aufruf in Form einer „Extra-Ausgabe“ der „Hamburger Zeitung“ für den Fall der erfolgreichen Kapitulation vorbereitet und schon unterschrieben. Dieser war auch bereits vervielfältigt und eingelagert worden. Noch vor der förmlichen Übereinkunft zur Kapitulation war in der Nacht zum 2. Mai eben dieser Aufruf öffentlich ausgehangen worden. Kaufmann hatte dies erst für den 3. Mai um 11 Uhr geplant, sodass die Bevölkerung und zugleich die auf die Fortsetzung des Kampfes drängenden Kräfte in Partei und Wehrmacht kaum mehr Zeit hätten, auf den für den Nachmittag anvisierten Einmarsch der Briten verzögernd zu reagieren. Warum der Aufruf früher aushing, konnte nie geklärt werden. Einer der Eingeweihten oder Beteiligten könnte alle friedensbereiten Führungskräfte zur Entscheidung gedrängt haben wollen. Vielleicht war es aber auch einer der Kampfbereiten oder gar ein intimer Feind Kaufmanns, der ihn hiermit in Schwierigkeiten bringen wollte. Wie das enden konnte, war kurz zuvor bei Göring und Himmler zu beobachten gewesen. Im Aufruf hieß es beispielsweise völlig unmissverständlich: „Nach heldenhaftem Kampf, nach unermüdlicher Arbeit für den deutschen Sieg und unter grenzenlosen Opfern ist unser Volk dem an Zahl und Material überlegenen Feind ehrenvoll unterlegen. […] Der Feind schickt sich an, Hamburg auf der Erde und aus der Luft mit seiner ungeheuren Uebermacht anzugreifen. Für die Stadt und ihre Menschen, für Hundertausende von Frauen und Kindern bedeutet dies Tod und Zerstörung der letzten Existenzmöglichkeiten. Das Schicksal des Krieges kann nicht mehr gewendet werden; der Kampf aber in der Stadt bedeutet ihre sinnlose restlose Vernichtung. Wem soldatische Ehre gebietet, weiterzukämpfen, hat hierzu Gelegenheit außerhalb der Stadt. Mir aber gebietet Herz und Gewissen, in klarer Erkenntnis der Verhältnisse und im Bewußtsein meiner Verantwortung unser Hamburg, seine Frauen und Kinder vor sinn- und verantwortungsloser Vernichtung zu bewahren. Ich weiß, was ich hiermit auf mich nehme. Das Urteil über meinen Entschluß überlasse ich getrost der Geschichte und Euch. Hamburger! Meine ganze Arbeit und Sorge haben stets nur Euch und der Stadt und damit unserm Volke gehört. Das wird so bleiben, bis mich das Schicksal abruft. Dieser Krieg ist eine nationale Katastrophe für uns und ein Unglück für Europa. Mögen dies alle erkennen, die Verantwortung tragen.“ 39
Nicht nur unter den Hamburgern sorgte dieser Aufruf für Erstaunen. Wie Speer berichtete, hatte auch Himmler am Tag zuvor (offenbar über seinen Geheimdienst) Nachricht erhalten,
39 Kaufmann, Karl: „Hamburger!“, HaZe, 2 (1945), Extra-Ausgabe.
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„daß Gauleiter Kaufmann die Absicht habe, Hamburg kampflos zu übergeben, ein Flugblatt an die Bevölkerung würde gedruckt, das auf den bevorstehenden Einmarsch der britischen Truppen vorbereiten solle. Dönitz war aufgebracht: Wenn jeder auf eigene Faust verhandle, dann hätte sein Auftrag keinen Zweck mehr. Ich bot an, zu Kaufmann zu fahren. Auch Kaufmann, in seinem Gauhaus von seiner aus Studenten zusammengesetzten Wehr gut bewacht, war nicht weniger erregt als Dönitz: Der Stadtkommandant habe Befehl, um Hamburg zu kämpfen, die Engländer hätten ein Ultimatum gestellt, daß sie, falls Hamburg nicht übergeben würde, mit ihrer Luftwaffe den bisher schwersten Angriff auf diese Stadt fliegen würden. ‚Soll ich‘, fuhr Kaufmann fort, ‚es so machen wie der Gauleiter von Bremen, der einen Aufruf an die Bevölkerung erließ, sich bis zum Letzten zu verteidigen, sich danach aus dem Staube machte, während die Stadt durch einen schweren Fliegerangriff furchtbar zerstört würde?‘ Er sei entschlossen, einen Kampf um Hamburg zu verhindern, notfalls die Massen zu mobilisieren und gegen eine Verteidigung der Stadt aktiv Widerstand zu leisten. In einem Telefongespräch unterrichtete ich Dönitz über die in Hamburg drohende Entwicklung zu einem offenen Aufstand; Dönitz erbat Bedenkzeit. Nach etwa einer Stunde erteilte er dem Stadtkommandanten den Befehl, die Stadt kampflos zu übergeben. Kaufmann hatte am 21. April, als im Hamburger Funkhaus meine Rede aufgenommen wurde, den Vorschlag gemacht, wir sollten uns zusammen gefangennehmen lassen. Nun erneuerte er dieses Angebot.“ 40
Kaufmann und Wolz fanden zu allen auf Kampf drängenden Seiten hin noch Ausreden 41. Dönitz aber ließ unterdessen Hamburg von der Festung zur Offenen Stadt erklären und trug zugleich Wolz auf, Parlamentäre zu den Briten zu entsenden. Hierbei kam einer der anderen Friedensfühler aus Hamburg zum Tragen. Denn bereits am 29. April hatten drei Parlamentäre (ohne Wissen der Hamburger Führung) für Verhandlungen mit den örtlichen britischen Truppen die Linien überschritten, um eine Einigung für den Nichtbeschuss einer lokalen Fabrik herbeizuführen, in der zugleich ein Lazarett untergebracht war. Diese also eigentlich völlig andersgelagerte „Mission in eigener Sache“ war von den Briten aber immer wieder daraufhin befragt worden, ob sie nicht für ganz Hamburg verhandeln könnte, und wie sie die Einstellung der Hamburger Führung einschätzte. Einer von ihnen wurde am 30. April schließlich zurückgeschickt, um mit einer Botschaft zu Wolz zu gelangen. Dieser Parlamentär wurde danach am Nachmittag zu Kaufmann geschickt, der ihm seinen ehemaligen Zweiten Bürgermeister Wilhelm Bourchard-Motz mitgab, der bis 1933 der DVP angehört hatte und aus einer angesehenen Hamburger Familie stammte. Wolz ging als militärischer Bevollmächtigter am späten Abend des 2. Mai mit ihnen über die Linien, um die letzten Formalia zu klären. Erst in diesem Moment traf Dönitz’ Anweisung ein 42. Kaufmann und Wolz waren also dabei, auch ohne 40 Speer: Erinnerungen, S. 495f. 41 Vgl. Möller: Kapitel, S. 141. 42 Vgl. detailliert zur Chronologie ebd., S. 116–149.
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diese Anweisung zu handeln. Dass Dönitz zugleich seinerseits eine entsprechende Anweisung herausgab, musste den Druck durch die Kampfwilligen lindern. Nunmehr ging es tatsächlich nur noch um Formalia. Wie ging nun Kaufmanns Herrschaft mit der Kapitulation zuende? Wie Aussagen etwa gegenüber Speer zeigen, war Kaufmann auf eine Verhaftung innerlich vorbereitet. Eine Flucht lehnte er ab, einen Selbstmord ebenso, einen Kampf an anderer Stelle ohnehin. Zuerst einmal kam er mit der Hamburger Führung den Anforderungen der Briten nach, die Amtsgeschäfte geordnet zu übergeben. Mehrere der an dem Kapitulationsvorhaben Beteiligten der vorangegangenen Tage und Wochen waren bei der Übergabe zugegen. Den Empfang der Hamburger Führung für die Briten im Rathaus, angeführt von ihrem Kommandanten Douglas Spurling, wurde beispielsweise von Wolz schriftlich festgehalten: „Um 18 00 Uhr erfolgte dann planmäßig der Einmarsch, bei dem die Bevölkerung Hamburgs eine hervorragende Disziplin zeigte. Kein Mensch befand sich auf der Straße, keine weiße oder sonst eine Flagge war zu sehen. An allen wichtigen Punkten wie Brücken, Straßenkreuzungen usw. stand die Schutzpolizei. Am Eingang des Rathauses erwartete ich Gen[e]ral Sperling [sic] und übergab ihm die Stadt. Darauf führte ich ihn nach oben zum Reichsstatthalter, wo nach kurzer Vorstellung zu einer ersten Besprechung im Kaisersaal Platzgenommen wurde. Hierbei wurden dem Gauleiter Kaufmann die Verordnungen und Befehle übergeben, nach denen er die Verwaltung der Stadt weiterführen sollte.“ 43
Kaufmann selbst ging in den Entwürfen zu seinen Memoiren ausführlich auf genau den Moment ein, in dem er die Stadt übergab: „Ich erwartete den britischen General im Kaisersaal. Allein stand ich in der Mitte des Raumes. Bürgermeister Krogmann, Staatssekretär Ahrens und Polizeipräsident Kehrl befanden sich wenige Meter hinter mir und in einiger Entferung von diesen, im Hintergrund des Saales noch einige weitere Personen. Der Vorhang zum letzten Akt des dramatischen Geschehens um Hamburg war aufgezogen. Wie anders war dieses Bild als vor 12 Jahren […]. Meine Mission würde in wenigen Minuten erfüllt sein. Man liest oft in Büchern, dass ein Mann an einem solchen Wendepunkt die Vergangenheit vor seinem geistigen Auge noch einmal ablaufen lässt. Ich muss gestehen, dass mich nicht grosse Ueberlegungen und der kaleidoskopartige Wechsel von Bildern und Erinnerungen erfüllten. Es war nur ein im Einzelnen nicht zu schilderndes Gefühl von Erschöpfung. Ich hatte mein Ziel erreicht. […] General Spurling betritt mit seinem Stab den Saal. Er kommt auf mich zu, begrüsst mich und gibt mir die Hand.“ 44
43 StaHH 731-6, III 9, Schreiben vom 10. Juni 1945. 44 PNKK Ordner Nr. 4, Entwurf Manuskript [S. 229f.].
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Bourchard-Motz berichtete über die anschließenden Besprechungen folgendes, wonach er nach Ankunft Spurlings und Begrüßung durch Wolz am Treppenabsatz „den General oben an der Treppe [empfing], um ihn dann [mit Wolz] zu Kaufmann zu führen, der ihn mit einem Dolmetscher im Saale, wo das große Senatsbild hängt, erwartete. Wir saßen etwa 20 Minuten um einen Tisch in der rechten hinteren Ecke. Der General war liebenswürdig, gab die Hand und erklärte Kaufmann, daß er ihm in seinem Bestreben, Ordnung und Ruhe in der Stadt aufrecht zu erhalten, in jeder Weise unterstützen werde. Kaufmann begründete die Übergabe der Stadt mit der Schonung der Hundertausenden von Frauen und Kindern in der Stadt. Die Unterhaltung erstreckte sich auf verschiedene allgemeine hamburgische Fragen […]. Dann begaben wir uns in den Kaisersaal. Dort waren mit Krogmann und Ahrens die Leiter der Ortsämter […] versammelt. [Ein] […] Verwaltungsoffizier führte die Verhandlungen über verschiedene verwaltungstechnische Einzelheiten, in denen auf unserer Seite im wesentlichen Krogmann das Wort führte.“ 45
Der restliche Nachmittag des 3. Mai war mit Besprechungen zwischen Besatzern und Hamburger Führung für die geordnete Übergabe der Verwaltung gefüllt. Am späten Abend sprachen unter anderem Kaufmann und Spurling im Hotel „Vier Jahreszeiten“ nochmals miteinander, wobei letzterer ihm gegenüber „seine Befriedigung über den reibungslosen Ablauf der Besetzung Hamburgs und die Hoffnung [äußerte], dass es so bleiben würde. Die Verwaltung hatte in vollem Dienst zu bleiben. Vielsagend sagte er zu mir: ‚Wir sind eine kämpfende Truppe und ich kann Ihnen nicht sagen, was mit Ihnen persönlich geschehen wird, wenn die Etappe nachkommt.‘ Ich gab mich keinen Illusionen hin und quit[t]ierte diesen freundlichen Hinweis mit einem Kopfnicken. […] Anschliessend verhandelten wir mit dem britischen Kommodore über Schiffahrts- und Hafenfragen. […] Beim Abschied bat mich General Spurling, am nächsten Morgen 9 00 Uhr am gleichen Ort mit dem Polizeipräsidenten zu erscheinen.“ 46
Kaufmann überstand also unerwarteterweise die Kapitulation am 3. Mai ohne Verhaftung. Ob ihn das überraschte ist mangels Quellen unklar. Da er aber wochenlang fest davon ausgegangen war, verhaftet zu werden, ist dies nur allzu wahrscheinlich. Er wurde am 3. Mai genauso wie Krogmann und Wolz als Partner behandelt, nicht als Unterlegender. Der darauffolgende Vormittag am 4. Mai sah nicht anders aus. Dann jedoch wendete sich die Angelegenheit. Constantin Bock von Wülfingen erläuterte das Geschehen, wie es sich aus seiner Sicht als anwesender Militär darstellte. Nachdem Kaufmann 45 StaHH 731-6, III 9, Schreiben vom 26. Oktober 1946. 46 PNKK Ordner Nr. 4, Entwurf Manuskript [S. 231].
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„von seiner Besprechung mit dem britischen General etwa um 13 00 Uhr zurückgekehrt [war], [wurde er] in seinem Dienstraum in Schutzhaft genommen. 2 britische Soldaten mit Gewehr und Maschinenpistole zogen vor dem Zimmer auf. Niemand durfte das Zimmer betreten, abgesehen von dem Adjutanten […], der neben ihm wohnte und von einem Beamten, der ihm Essen und Trinken hereinbrachte.“ 47
Ein Senatssyndikus bemerkte, „[d]er Reichsstatthalter wurde in einer Art Gentlemanhaft in seinem Dienstgebäude gehalten und ein paar Tage später abtransportiert.“ 48 Zum Ablauf von Verhaftung und Abführung schrieb Kaufmann in einem Erinnerungsbericht folgendes: „Auf dem Weg zum Besprechungszimmer hielt mich im Voyer des Hotels ein britischer Major an, fragte nach meinem Namen, und ersuchte mich im Anschluss an die Besprechung zur Beantwortung von Fragen meine Dienststelle [als Reichsstatthalter], Harvesthuderweg 12, aufzusuchen. […] Ich musste [dort] feststellen, dass diese inzwischen von zahlreichem britischem Militär besetzt worden war. In meinem Amtszimmer durchschnitt der Major, der mich im Hotel angesprochen hatte[,] sämtliche Telefonleitungen und erklärte mir in Gegenwart eines Kapitäns, dass ich nunmehr verhaftet sei, dass [sic] Haus nicht verlassen dürfe und mit der Aussenwelt keinerlei Verbindung aufnehmen dürfe. Ein Adjutant sowie ein Amtsgehilfe und zwei Frauen, die die Küche besorgten, wurden mir belassen. Vor meinem Dienstzimmer, das mir als Aufenthaltsraum angewiesen worden war, war inzwischen ein Doppelposten aufgezogen. Abgesehen von dem einmaligen Besuch, des sich damals noch im Amt befindlichen Bürgermeisters [Krogmann], hatte ich von diesem Zeitpunkt an keinerlei Verbindung mit der Aussenwelt. In der Nacht wurde ich mehrmals und für die Dauer meines Aufenthalts in […] meiner Dienststelle, von britischen Militärpersonen mit Taschenlampen angestrahlt, offenbar, um meine Anwesenheit festzustellen. In der Zeit meines Aufenthalts in der Dienststelle wurde ich zwei oder drei Mal von dem bereits erwähnten Kapitän vernommen. Dieser Zustand dauerte etwa 5–7 Tage, bis mich unter persönlichen Bedauern ein Offizier der britischen Armee abholte und in das Untersuchungsgefängniss [sic] in Hamburg verbrachte.“ 49
Damit endete Kaufmanns Tätigkeit als Gauleiter, Reichsstatthalter und Reichsverteidigungskommissar. Dass der 4. Mai der letzte Tag in Freiheit sein könnte: Darauf hatte sich Kaufmann innerlich vorbereiten können. Er kam zwar später wieder in Freiheit. Absehbar war dies an jenem Tage aber nicht. Schockierend muss auf jeden Fall gewesen sein, dass er am 3. Mai und der ersten Hälfte des 4. Mai wie ein Partner behandelt wurde, und nunmehr doch noch verhaftet wurde. Umso irritierender muss es für ihn gewesen sein, dass Krogmann noch viel später, nämlich erst am 11. Mai verhaftet wurde. Der 47 StaHH 331-1, II, 1317, Schreiben vom 20. Mai 1945. 48 StaHH 731-6, III 9, Schreiben vom 7. August 1945. 49 PNKK Ordner Nr. 4, Bericht [nach Mai 1948].
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letzte Senator des Kabinetts Kaufmann wurde gar erst im Juni inhaftiert. Zu diesem Zeitpunkt saß Kaufmann schon in Neuengamme. Er hatte jedoch sein Ziel erreicht, Hamburg friedlich zu übergeben. Noch dazu hatte er es überlebt, ohne von Himmler oder Dönitz beseitigt zu werden. Wie realistisch dies war, zeigen die bereits erwähnten insgesamt drei Aufforderungen an Kaufmann, sich bei Dönitz und Himmler im Hauptquartier einzufinden, nachdem seine öffentlichen und internen Reden mittlerweise „zwischen den Zeilen“ seine Position durchscheinen ließen. Der Gauleiter Bayreuths Wächtler scheiterte genau daran, lange genug zu lavieren, um die Kapitulation durchführen zu können. Er wurde am 19. April erschossen. Dass sich weder die Militärstrategen der Reichsebene noch die „Hardliner“ der Partei gegenüber Kaufmann durchsetzten, wäre aber ohne andere Helfer wie vor allem Wolz nicht möglich gewesen. Und wie die beiden die Kapitulation durchführen wollten, war bis zu dem Zeitpunkt unklar, als die Parlamentäre eines lokalen Lazaretts „in eigener Mission“ mit ausschließlich lokalem Fokus von britischer Seite dazu gedrängt wurden, Kontakt mit Kaufmann und Wolz aufzunehmen. Alle anderen Kapitulationskanäle, etwa jener über Schweden, erbrachte keine erfolgversprechenden Resultate. Als sich die Möglichkeit dann dank der Lazarettparlamentäre ergab, nutzten Kaufmann und Wolz sie ohne zu zögern und ohne Rücksicht auf Dönitz und Himmler. Dass genau in dem Moment Dönitz’ Anordnung kam, Hamburg doch nicht zu verteidigen, sanktionierte das KaufmannWolz-Programm augenblicklich. Kaufmann war also insgesamt betrachtet durchaus mitverantwortlich für die kampflose Übergabe. Ähnlich mitverantwortlich war auch Wolz. Es war aber ein Zusammenlaufen verschiedenster Ereignisse, die die Kapitulation erst ermöglichten. Kaufmann und Wolz nutzten sie aus Willen zur kampflosen Übergabe ohne Rücksicht auf die eigene Person. Für beide endete es glimpflich. Sie wurden nicht standrechtlich erschossen, sondern von den Briten interniert.
5.2. Zeit der Internierung und Zeit des körperlichen Verfalls (1945–1948)
„Die Folgeerscheinungen der am 16. 6. 1946 durch den Autounfall erlittenen organischen Hirnschädigung bestehen unverändert fort. Die außerdem vorliegende […] [Herzkrankheit] hat bis in die letzte Zeit hinein immer wieder auch schwerere, stenocardische Anfälle gesetzt. Danach ist eine zeitliche begrenzte, von Fall zu Fall festzustellende Vernehmungsfähigkeit im Krankenhaus […] gegeben. Eine Verhandlungsfähigkeit vor Gericht ist dagegen z.Zt. noch nicht möglich.“ 50
Kaufmanns Internierungszeit ist insgesamt geprägt von Krankheit. Wie noch zu seinen Ermittlungs- und Gerichtsverfahren zu sehen sein wird, blockierte sein gesundheitlicher 50 BA K Z 42-IV/7172, Protokoll vom 9. Dezember 1947.
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Zustand eine nachhaltige Arbeit der Ermittlungsbehörden. Wie ausgeführt, endete die kampflose Übergabe Hamburgs nicht nur mit der Besetzung der Hansestadt, sondern auch mit der Verhaftung Kaufmanns am 4. Mai 1945. Danach verbrachte er gemäß dem „Automatischen Arrest“ 51 seine Internierung im Internierungslager Staumühle, also dem früheren Hamburger Untersuchungsgefängnis 52. Die persönlichen Umstände für ihn dort sind jedoch mangels Quellen unklar, abgesehen von dem Umstand, dass sein Gepäck offenbar von deutschem (nicht britischem) Gefängnispersonal entwendet wurde 53. Rund eine Woche verbrachte er anschließend im Altonaer Gefängnis („[i]n einer äusserst unsauberen Zelle […] ohne jede Vernehmung“) 54. Danach ging es in ein Vernehmungslager, das die Unterbringungsmöglichkeiten eines Reichsarbeitsdienstlagers nutzte 55. Das gesamte Lager wurde im Mai oder Juni verlegt und in das Vernehmungslager Schäferhof bei Nienburg umgewandelt. Dort wurde Kaufmann im Juni und Juli 1945 vernommen. Wie viele Internierte erfuhr er durch das britische Personal (im Gegensatz zu den Gauleitern in den französisch und sowjetisch besetzten Gebieten) eine neutrale Behandlung 56. Es folgte eine längere Unterbringung in Neumünster, bei der er zwar ein Mal Gebrauchsgegenstände aus seinem Haus erhalten durfte, aber sonst eher schlechte Bedingungen vorfand, sodass er ab dem Herbst wegen einer Nieren- und Blasenentzündung bis ins Frühjahr 1946 hinein fast die gesamte Zeit im (mit „ausserordentlich beschränkten sanitären Verhältnis[sen]“ ausgestatteten) Lagerhospital verbrachte 57. Weiter ging es im Vernehmungslager Minden im Februar 1946, im Untersuchugsgefängnis Altona im März 1946 („Holzpritsche ohne Strohsack, zwei Decken und [mit] einem Wassereimer“ 58), im April oder Mai 1946 in Neuengamme („modernst eingerichtet“ 59) und im Mai oder Juni wieder in Neumünster. Zwischen den einzelnen Internierungslagern befand sich Kaufmann jeweils für wenige Tage zwecks Überführung auch in anderen 51 Zu Funktion und Hintergrund des „Automatischen Arrestes“, wonach verdächtige Personengruppen sofort zu verhaften und bis zu ihrem Urteil durch die Spruchgerichts/Spruchkammern zu internieren seien vgl. Kleßmann, Christoph: Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955, Bonn 1982, S. 86–89. 52 BA K Z 42-IV/7172, Schreiben vom 16. Februar 1948. 53 PNKK Ordner Nr. 4, Bericht [nach Mai 1948]. 54 Ebd. 55 Ebd. 56 Im Spruchgerichtsverfahren war nur die Rede von Juli, vgl. BA K Z 42-IV/7172, Protokoll vom 26. April 1947. In einem Erinnerungsbericht sprach er auch von Juni, vgl. PNKK Ordner Nr. 4, Bericht [nach Mai 1948]. Da er bei den Vernehmungen des Spruchgerichtsverfahrens gesundheitlich immer nur wenige Stunden am Tag, größtenteils aber überhaupt nicht vernehmungsfähig war, und die Internierungsstätten in den ersten Wochen mehrfach wechselten, wird dieser Widerspruch darauf zurückzuführen sein. 57 Ebd. 58 Ebd. 59 Ebd.
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Haftstätten. In fast allen Lagern wurde er vernommen, teilweise sogar täglich 60, ohne jedoch, dass sich hiervon Akten erhalten hätten. Für die Internierungszeit insgesamt und Kaufmanns Gesundheitszustand während dieser, ist aber ein Vorfall des Jahres 1946 zentral. Mit dem Wagen wurde Kaufmann am 16. Juni 1946 als regulärer Internierter nach Nürnberg überführt, wo er im „Nürnberger Prozess“ bereits einmal ausgesagt hatte. Nun stand die nächste Aussage an. Auf dem Weg verunglückte der Wagen jedoch schwer. Eine sofortige medizinische Hilfe blieb aber aus. Zuerst wurde ein neuer Wagen beschafft und die Fahrt fortgesetzt. Selbst am Ankunftsort wurde er zuerst in Einzelhaft gebracht und erst am darauffolgenden späten Morgen von einem Arzt untersucht, sodass rund eineinhalb Tage zwischen Unfall und erster ärztlicher Betreuung lagen 61. Nach etwa sieben Wochen wurde er nach Neumünster verlegt, kurz danach nach Eselsheide. Bei dem Unfall erlitt Kaufmann laut Berichten der Ärzte für die Ermittler einen „Schädelbruch und eine Blutung im Gehirn. […] Die Hirnverletzung hinterließ durch Narbenbildung eine epilepsieartige Krampfbereitschaft, die kombiniert mit der angina pectoris zu so lebensbedrohenden Anfällen führte“ 62.
Das zitierte Dokument ist zeitlich betrachtet die erste erhaltene Quelle, aus der hervorgeht, dass Kaufmann bereits offenbar „seit Jahren“ an Herzproblemen litt 63. Diese seien
60 Dazwischen war er 1945 mehrere Tage in Altona und Kolkhagen. Vgl. StaHH 213-11, 72425, Anklageschrift vom 1. März 1957. Die genaue Monatsdatierung für 1946 ist nur ungefähr möglich, da die Angaben hierzu weder bei den verschiedenen staatlichen noch bei den persönlichen Unterlagen meistens kein Datum wiedergeben. Zumeist handelt es sich um ungefähre Wochenangaben, die auch um ein bis zwei Wochen schwanken konnten, sodass ab Februar 1946 nur noch ungefähre Weiterrechnungen möglich sind. Erst mit dem Unfall vom 16. Juni (nicht Mai, wie es an der einen oder anderen Stelle oftmals heißt), ist wieder eine klarere Datierung möglich. 61 Kaufmann selbst hat knapp ein Jahr später im Krankenhaus seine Erinnerungen hieran niedergeschrieben. Vgl. PNKK Ordner Nr. 29, Bericht vom 5. April 1947. Später sprach er in einem neuerlichen Bericht aus der Zeit nach dem Mai 1948 von vier „Berufsverbrechern“, zu denen er in die Zelle eingewiesen wurde, aber hier wird ihm der Rückblick aus einem weiteren Jahr Entfernung eine falsche Wahrnehmung eingegeben haben. Dass er die gesamte Internierungszeit negativ erlebte, wird dies mit beeinflusst haben. Möglich ist auch eine bewusste Übertreibung, um sich als ungerecht behandelt darzustellen. Wie schon mehrfach im Verlauf vorliegender Arbeit erwähnt, ist aber der Großteil an seinen Angaben, die sich durch andere Quellen überprüfen lassen, verifizierbar, sodass er sich bis auf Ausnahmen wie seiner Rolle in der „Reichspogromnacht“ 1938 für gewöhnlich wahrheitsgemäß äußerte. Eine falsche Erinnerung aus der Rückschau ist also eher wahrscheinlich als eine bewusste Lüge, aber möglich ist beides. PNKK Ordner Nr. 4, Bericht [nach Mai 1948]. 62 BA K Z 42-IV/7172, Bescheinigung vom 20. April 1947. 63 Angina Pectoris wird definiert als „ein anfallsweise auftretendes Druck- oder Schmerzgefühl hinter dem Brustbein mit Ausstrahlung in den linken (selten rechten) Arm und in den Hals; wird verursacht durch Verengung der Herzkranzarterien und/oder durch Fehlregulation der Weite
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durch die Internierungszeit zwischen Mai 1945 und dem Verkehrsunfall im Juni 1946 noch weiter verstärkt worden 64. Die wiederholten, lebensgefährlichen Anfälle, denen Kaufmann auf der Krankenstation des Lagers ausgesetzt war, führten schließlich dazu, dass er „auf Befehl des engl. Arztes [für] lagerunfähig erklärt[,] [sic] und am 11.12.46 nach Bethel in ein Krankenhaus der Bodelschwingschen Anstalten [verlegt werden musste].“ 65 Aus den erhaltenen Akten ist nicht ersichtlich, warum Kaufmann von Eselsheide ausgerechnet nach Bielefeld-Bethel in eine der Bodelschwinghschen Anstalten verlegt wurde. In einem selbst verfassten Bericht gab er an, der Chefarzt des Lagerhospitals habe dies veranlasst 66. Es könnten dabei medizinische Fachgründe eine Rolle gespielt haben. Allerdings ist für die Betheler Anstalten bereits der Hinweis angebracht worden, dass sie nach dem Tod ihres Leiters 1946 (ein aktiver „Euthanasie“-Gegner) auch einige Nationalsozialisten und deren Angehörigen Unterschlupf boten, und ihnen in unterschiedlichster Form halfen 67. Hierzu passt auch, dass die Behörden Kaufmann mehrfach in Militärhospitale verlegen wollten, die Anstalt Bethesda, in der Kaufmann in Bielefeld-Bethel untergebracht war, aber immer versuchte, ihn bei sich zu behalten beziehungsweise zurückzuholen. Dabei wurde sogar das Argument vorgebracht, es würden keinerlei Kosten für die Behörden erhoben werden, wenn er bei ihnen untergebracht würde 68. Ob dies aber letztlich auf andere Gründe zurückzuführen ist, etwa auf Geldmittel oder auf eine unzureichende Gesundheitsversorgung in den jeweiligen Militärhospitälern, bleibt aber mangels Quellen ungeklärt. Im Februar 1948 setzten sich die Behörden schließlich über den Willen der Ärzte in Bielefeld hinweg, und ließen Kaufmann wieder in das Internierungslager Staumühle verlegen. Zwar war er auch dort auf der Krankenstation untergebracht, aber offenbar reichten die dortigen medizinischen Ressourcen nicht aus, um seinem äußerst schlechten Gesundheitszustand gerecht zu werden. Den als letzte Entscheidungsinstanz zu wertenden Generalinspekteur für die Spruchgerichte erreichten Briefe mehrerer Kaufmann behandelnder Ärzte, wonach dieser dringend eine für seine Gesundheit angemessene Behandlung benötige. In einem von ihnen, der noch im gleichen Februar den Generalinspekteur erreichte, wurde etwa folgendes vorgebracht: „In der Spruchsache gegen Kaufmann […] ist der Beschuldigte […] vor einiger Zeit wieder auf Befehl in das Lager Staumühle überführt worden. Die Überführung ist erfolgt, trotzdem der behandelnde Arzt […] ernste Bedenken dahin geäussert hat, dass der Patient transportfähig und im Lager eine für seinen Krankheitszustand erforderliche Behandlung möglich sei.
der Herzkranzgefäße.“ Art. „Herzkrankheiten“, in: Duden. Das Neue Lexikon in zehn Bänden, Bd. 4: Gebi–Indi, 3. Aufl., Mannheim 1996, S. 1490–1492, hier S. 1491. 64 BA K Z 42-IV/7172, Bescheinigung vom 20. April 1947. 65 Ebd. 66 PNKK Ordner Nr. 4, Bericht [nach Mai 1948]. 67 Vgl. Schröm, Oliver/Röpke, Andrea: Stille Hilfe für braune Kameraden. Das geheime Netzwerk der Alt- und Neonazis, Berlin 2006, S. 106f. 68 Vgl. hierzu die einzelnen Briefe in BA K Z 42-IV/7172.
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Der Zustand Kaufmanns hat sich im Lager verschlechtert.“ 69
Zu einem Handeln führte dieser Protest jedoch nicht. Bereits wenige Wochen später folgte ein weiterer Brief: „Ich halte mich für verpflichtet, darauf hinzuweisen, dass der Zustand des Beschuldigten immer bedenklicher wird[,] und dass […] eine gehörige ärztliche Betreuung des Beschuldigten nicht mehr möglich ist. Wie ich festgestellt habe, steigert sich der Krankheitszustand des Beschuldigten gerade in den letzten Wochen ständig. Es ist ein sichtbarer Körperverfall zu bemerken.“ 70
Die Behörde des Generalinspekteurs ließ sich jedoch nicht beirren. In einer internen Feststellung wurde unmissverständlich klargestellt, es sei „dringend erwünscht, dass das Verfahren gegen Kaufmann bald abgeschlossen wird. Ich bitte deshalb, weitere Verzögerungen des Verfahrens nach Möglichkeit zu verhindern.“ 71 Diese „Verzögerungen“ bezogen sich darauf, dass Kaufmann aufgrund seines Krankheitszustandes nicht vernommen werden konnte. Zwar wurde das Spruchgerichtsverfahren gegen ihn in Form von Zeugenaussagen und ähnlichem weiter vorangetrieben, aber der Beschuldigte konnte selbst im März 1948, von dem die interne Anordnung datierte, immer noch nicht vernommen werden. Immerhin sah sich die Behörde des Generalinspekteurs durch das stete Drängen von Kaufmanns Ärzten dazu genötigt, dessen Gesundheit genauer zu überprüfen, denn es schien der Verdacht nahe, dass die Ärzte wenn nicht logen, so doch vielleicht die Tatsachen zu sehr übertrieben. Hierzu erging folgende Anweisung: „Sofern das Gutachten des Lagerarztes nicht binnen einer Woche eingehen sollte, bitte ich, den Beschuldigten von einem Gerichtsarzt auf seine Verhandlungsfähigkeit untersuchen zu lassen. Ebenso bitte ich, falls das Gutachten des Lagerarztes die Verhandlungsfähigkeit des Beschuldigten verneinen sollte, den Gerichtsarzt zur Nachprüfung dieses Gutachtens auf Grund seiner eigenen Untersuchung des Beschuldigten zu veranlassen.“ 72
Im verlangten Gutachten des englischen Lagerarztes erhielt der Generalinspekteur schließlich die in leicht holprigen Deutsch formulierte Feststellung, Kaufmann „wird vermutlich seinen Prozess erst durchstehen können nach seiner endgültigen Erholung. Man muss ihm erlauben, während der ganzen Verhandlungen im Bett
69 Ebd., Schreiben vom 16. Februar 1948. 70 Ebd., Schreiben vom 11. März 1948. 71 BA K Z 42-I/263, Schreiben vom 26. Februar 1948. 72 Ebd., [weiteres] Schreiben vom 26. Februar 1948.
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bleiben zu dürfen. Die Möglichkeit ist ferner in Erwägung zu ziehen, dass er Anfälle von Herzschwäche bekommt.“ 73
Damit war eine baldige Vernehmung kaum noch denkbar. Dennoch holte die Behörde immer weitere Fachmeinungen ein. Diese zeichneten aber ein noch schlechteres Bild seines Gesundheitszustands. Ein repräsentatives Beispiel aus dem April 1948 führte folgendes aus: „Eine beschleunigte Ausheilung des Beschuldigten kann weder durch ein Heilverfahren noch durch andere Behandlungsmethoden (Spezialanstalt), wie sie bisher weitgehend stattgefunden haben und noch stattfinden, erzielt werden. Eine Besserung des schweren Krankheitsbildes ist an Vermeidung jeglicher körperlicher Anstrengung sowie seelischer Belastung gekoppelt. Die Prognose hinsichtlich der Lebensdauer ist sehr unsicher: Die Möglichkeit eines plötzlichen Ablebens im Angina pectoris-Anfall ist zu jeder Zeit gegeben.“ 74
Die anhaltend negativen Berichte über Kaufmanns Gesundheitszustand zeigten schließlich Erfolg. Denn im Mai 1948 wurde die Verlegung Kaufmanns von der Krankenstation im Lager Staumühle in das Militärhospital Rotenburg bei Bremen durchgeführt 75. Warum er ausgerechnet dorthin verbracht wurde, ist aus den erhaltenen Quellen nicht ersichtlich. Es könnte jedoch auch auf den Einfluss seiner Ehefrau zurückgehen, die ihn näher an der Heimat Hamburg haben wollte. Zumindest ist nachweisbar, dass sich seine Frau auch in die Angelegenheit um seinen Krankheitszustand mit Nachdruck und Engagement eingebracht hat. In einem an den Generalinspekteur versendeten Brief schrieb sie beispielsweise in anklagendem Ton: „Vor einigen Tagen besuchte ich meinen Mann und war erschüttert über die Verschlechterung, die ich in seinem Gesundheitszustand feststellen musste. Als Frau mache ich Sie auf diesen gefährlichen Zustand aufmerksam und frage, ob Sie die Verantwortung für dieses Leben übernehmen wollen.“ 76
Der Leser, ob Generalinspekteur oder Sachbearbeiter, unterstrich für interne Zwecke den letzten Satz. Im Juni 1948 besuchte ein Mitarbeiter der Behörde des Generalinspekteurs Kaufmann im Krankenhaus. Danach verfasste er einen längeren internen Bericht über seinen Eindruck vor Ort und aus den dortigen Gesprächen. Hieraus lohnt ein längeres Zitat: 73 Ebd., Schreiben vom 12. April 1948. 74 Ebd., Gutachten vom 28. April 1948. 75 Ebd. 76 BA K Z 42-I/263, Schreiben vom 16. Juni 1948.
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„Der Chefarzt […] wie auch der behandelnde Arzt erklärten übereinstimmend, dass der Zustand Kaufmanns ernst sei. Sie glauben nicht, dass mit einer Verhandlungsfähigkeit vor Ablauf von mindestens 1 Jahr gerechnet werden könne. […] Die Internierung beeinflusse zweifellos auch den Krankheitszustand, und es könne gesagt werden, dass die Aussichten einer Heilung und zumindest vollen Verhandlungsfähigkeit wesentlich beschleunigt würden, wenn der Internierte sich in Freiheit befände. Er habe gute und schlechte Tage. Erst gestern habe er wieder einen schweren kolikartigen Anfall gehabt, und es habe sehr ernst um ihn ausgesehen. Heute dagegen befinde der Patient sich wieder wesentlich besser. […] Zwar würde er [soweit Kaufmann selbst] in Krankenhauspflege zunächst noch verbleiben müssen. Psychisch würde aber das Gefühl völliger Freiheit den Heilungsprozess sicher wesentlich fördern. […] Mein Besuch war unangemeldet erfolgt. […] Im übrigen schien die Unterhaltung, die etwa 20 Minuten dauerte, den Patienten, der sich offensichtlich konzentrierte und jede Antwort genau überlegte, anzustrengen. Er legte sich wiederholt zurück und schloss vorübergehend die Augen, ehe er eine an ihn gerichtete Frage beantwortete. Es war jedoch durchaus möglich, sachlich mit ihm zu verhandeln.“ 77
Der Mitarbeiter erhielt zudem die Information, dass Kaufmann die meiste Zeit im Bett blieb. Wenn, dann ging er höchstens für wenige Stunden aus dem Krankenzimmer hinaus 78. Sein Alltag war sein Krankenbett. Trotz der Beobachtungen des Mitarbeiters war die Behörde immer noch vorsichtig. Schließlich hätte es durchaus sein können, dass Kaufmann und die Ärzte ein Schauspiel für die Ermittlungsbehörden veranstalteten. Gleichzeitig übte dessen Frau weiter Druck aus. Ein Mitarbeiter berichtete intern über ein Gespräch mit ihr: „Erst gestern habe sie ihren Mann wieder besucht und ihn erneut unter ungünstigsten Gesundheitsverhältnissen angetroffen. Er habe gerade wieder eine schwere Nierenkolik gehabt, so dass sie ihn nur ganz kurze Zeit habe sehen können.“ 79
Kaufmann verlor rasch an Körpergewicht 80. Die Ermittler bestanden allerdings weiterhin darauf, ihn möglichst schnell zu vernehmen. Kurz nach seiner Verlegung nach Bremen gelang ihnen dies auch an zwei Tagen, an denen sowohl die Ärzte einverstanden waren, als auch Kaufmann sich nicht zu schlecht hierfür fühlte. Die Gespräche fanden jeweils im Krankenhaus statt. Sie scheinen jedoch nicht allzu lange gedauert zu haben, denn die Protokolle umfassen zumeist nur rund drei Seiten 81. In den wenigen vernehmungsfähigen Zeitkorridoren war Kaufmann zudem in den Spruchsachen anderer Be77 Ebd., Bericht vom 22. Juni 1948. 78 Ebd. 79 Ebd., Vermerk vom 2. Juli 1948. 80 Vgl. ebd., Gutachten vom 28. Juli 1948. 81 Vgl. im Einzelnen die Protokolle in BA K Z 42-IV/7172 und BA K Z 42-I/263.
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schuldigter vernommen worden, was jedoch ebenfalls nur sehr wenig Material erbrachte 82. Diese wenigen Vernehmungen blieben für seine eigene Spruchsache seine einzigen. Kurz darauf lag das bezüglich Kaufmanns Gesundheitszustand und seiner Vernehmungsfähigkeit umfangreichste Gutachten vor. Dieses griff neben eigenen Untersuchungen auch auf die bis dahin erbrachten Gutachten zurück, und bezog zusätzlich die lange Krankengeschichte Kaufmanns mit ein, also ausdrücklich auch die Zeit vor dem Autounfall im Juni 1946. Aus diesem umfangreichen Gutachten ging erstmals hervor, dass Kaufmann schon seit Jahren an unterschiedlichsten Krankheitsproblemen litt. Die meisten entwickelten sich mit der sehr hohen Arbeitsbelastung ab den 1930er Jahren, aber einige reichten auch länger zurück. Es ist in dem Gutachten beispielsweise von dem schon erwähnten Flugzeugabsturz 1918 die Rede, bei der er eine Gehirnerschütterung erlitt. 83. Warum diese Verletzung in der „Kampfzeit“ und im „Dritten Reich“ nie propagandistisch als „Kriegsverletzung“ ausgenutzt wurde, mutet sehr seltsam an. Vielleicht wollte Kaufmann dieses persönliche Erlebnis für sich behalten, statt zu viel von seinem Privatleben in der Öffentlichkeit präsentiert zu sehen. Vielleicht hätte es aber auch zu zu vielen Rückfragen hinsichtlich seiner Stationierung geführt, bei der schnell herausgekommen wäre, dass er nie im Kampfeinsatz war. Vor allem ab den 1930er Jahren setzten viele körperliche Beschwerden ein. Er klagte über Kieferprobleme, litt bei körperlicher Anstrengung unter Atemnot, erkrankte an der Ruhr, seine Nieren arbeiteten mangelhaft, sein Bluthochdruck war zu hoch, zeitweise war er halbseitig gelähmt und litt immer wieder unter Herzbeschwerden. Viele weitere körperliche Beschwerden ließen sich anführen. Vorrangig ab Anfang der 1940er Jahre spitzten sich die gesundheitlichen Beschwerden immer mehr zu 84, sodass unklar ist, ob Kaufmann seine Funktionen überhaupt noch mittel- oder langfristig hätte ausüben können, wenn nicht der Zusammenbruch des Reiches erfolgt wäre. Es darf zudem bei all diesen physischen Krankheiten nicht vergessen werden, dass Kaufmann mindestens Mitte der 1920er schwere psychische Probleme hatte. Angesichts von seinem durchgehend negativ begutachteten Gesundheitszustand stellte sich ab einem gewissen Zeitpunkt die Frage, ob er bleibende Schäden haben würde. Ein Arzt kam hierbei zu dem Schluss,
82 Beispielsweise wurde er im Dezember 1946 in Bethel in der Spruchsache gegen seinen ehemaligen Harburger Kreisleiter Wilhelm Drescher vernommen. Vgl. hierzu BA K Z 42-IV/7172, Protokoll vom 26. April 1947. 83 BA K Z 42-I/263, Gutachten vom 28. Juli 1948. 84 Vgl. eBd. Weitere Ärzte, die nicht nur seinen aktuellen Gesundheitszustand auf die Frage hin begutachten sollten, ob er vernehmungs- und verhandlungs- sowie haftfähig sei, sondern die auch weitergehende Analysen treffen sollten oder dies eigenständig vollführten, kamen noch zu diversen weiteren körperlichen Problemen, die zumeist miteinander zusammenhingen und aufeinander beruhten.
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„[e]ine eigentliche Heilung kann bei dem 48jährigen K. nicht erwartet werden. Der erhöhte Blutdruck, und die davon abhängigen Folgeerscheinungen werden voraussichtlich dauernd bleiben.“ 85
Im September 1948 konnte Kaufmann in seinem Krankenbett zweimal kurz bezüglich des gegen ihn laufenden Hamburger Ermittlungsverfahrens vernommen werden. Auch diese beiden kurzen Aussagen waren wie schon die Aussagen für die Ermittler des Spruchgerichts äußerst kurz. Ihre Protokolle umfassten nur wenige Seiten 86. Mehr war wegen des Gesundheitszustands nicht möglich. Im Oktober 1948 wurde Kaufmann von Rotenburg aus wieder zurück nach Bethel verlegt. Der Grund hierfür ist nicht zu identifizieren, aber am naheliegendsten sind fachärztliche Argumente seiner behandelnden Ärzte 87. Im November 1948 wurde er aus der Internierung offiziell entlassen, um seine Verhandlungsfähigkeit möglichst schnell herzustellen 88. Die Erwartungen der Ermittler und Teilen der Ärzte erfüllten sich jedoch nicht, denn Kaufmann erholte sich kaum und nur äußerst langsam. Das Spruchgerichtsverfahren wurde im Dezember 1948 vorläufig eingestellt, bis Kaufmann verhandlungsfähig sei 89. Es verblieb vorerst eine Residenzpflicht. Im März 1949 wurde ihm gestattet, zurück nach Hamburg zu ziehen, was er auch umgehend umsetzte 90. Vom Generalinspekteur erging die Anweisung, die „Anklagebehörde [habe] lediglich von Zeit zu Zeit zu überprüfen […], ob Verhandlungsfähigkeit vorliegt.“ 91 Dem kam die Anklagebehörde des Spruchgerichts auch nach, ohne aber jemals etwas positives vermelden zu können 92. In diesem Status verblieb die Internierung Kaufmanns. Beide Verfahren waren noch nicht vorüber, aber inhaftiert war er seit dem November 1948 nicht mehr. Einige Wochen verblieb er noch als freier Patient in der Einrichtung, bevor er sich in häusliche Pflege begab 93. Insgesamt lagen im November 1948 43 Monate, also mehr als dreieinhalb Jahre Internierung hinter ihm, von der er den Großteil, nämlich 30 Monate beziehungsweise zweieinhalb Jahre, in Militärhospitälern und Krankenstationen von Internierungslagern verbrachte. In dieser Zeit war er in der gegen ihn laufenden Bielefelder Spruchsache und in dem gegen ihn laufenden Hamburger Verfahren keine zehn Mal vernommen worden. Die Internierungszeit stellte für ihn also vor allem eine Zeit der Krankheit dar. In vielerlei Hinsicht setzte sich damit fort, was bereits zuvor an Krankheiten bei ihm vorlag, allerdings auf einem höheren Niveau. Aber bedingt durch die Internierung und vor allem durch den schweren Autounfall, blieb Kaufmann für Jahre ans Krankenbett gebunden. Auch die Aufhebungen seines Haftbefehls zeitigten kaum Wirkung. Einem Brief seiner 85 Ebd., Anklageschrift vom 20. Juli 1948. 86 StaHH 213-11, 72422, Protokoll vom 15. September 1948. 87 BA K Z 42-I/263, Schreiben vom 19. Oktober 1948. 88 Ebd., Schreiben vom 30. Oktober 1948 89 Ebd., Beschluss vom 8. Dezember 1949. 90 Ebd., Schreiben vom 12. April 1949. 91 Ebd., Notiz vom 6. April 1949. 92 Exemplarisch: Ebd., Schreiben vom 7. Dezember 1949. 93 Vgl. StaHH 213-11, 7242, S. 720.
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Frau nach, den sie im Kontext des später noch zu besprechenden „Naumann-Kreises“ an den britischen „Hohen Kommissar“ nach Kaufmanns Verhaftung schrieb, war es ihm „erst im Laufe des Jahres 1952“, also nach sechs Jahren wieder möglich, „das Bett zu verlassen und kleine Gartenarbeiten zu verrichten.“ 94 Tatsächlich erholte er sich bis zu seinem vergleichsweise frühen Tod 1969 nicht mehr vollständig und blieb lebenslang mit Langzeitschäden konfrontiert.
5.3. Ermittlungs- und Gerichtsverfahren
5.3.1. Spruchgerichts- und „Entnazifizierungsverfahren“ in Bielefeld (1947–1951) „Das politische Führerkorps in Hamburg ist insofern zur Begehung von verbrecherischen Handlungen benutzt worden, als daß es unter Führung von Kaufmann in seiner Eigenschaft als Reichsstatthalter und Gauleiter stand und für […] [diverse] Taten und Anordnungen mit verantwortlich ist.“ 95
Gegen Kaufmann ermittelt wurde als „Mitglied des Führungskorps der NSDAP“ sowie als Mitglied der SS im Zeitraum ab Kriegsbeginn am 1. September 1939. Da die Spruchgerichte jedoch eine sehr spezielle Art von Gerichten darstellten, muss ihre Funktion kurz erläutert werden. In allen Besatzungszonen war von den Alliierten nach Kriegsende eine juristische Neuheit geschaffen worden. Diese sogenannten „Spruchkammern“, die in der britischen Zone „Spruchgerichte“ hießen, hatten eine besondere politische und juristische Konstruktion. Eingerichtet wurden sie von den Alliierten, geführt werden sollten sie von den Deutschen an der letzten Wirkungsstätte des Beschuldigten. Die Bevölkerung sollte sich damit selbst vom Nationalsozialismus und seinen Vertretern „säubern“. Darin bestand die politische Besonderheit der Spruchgerichte/Spruchkammern 96. Die juristische Besonderheit bestand darin, dass auf die Unschuldsvermutung der Angeklagten verzichtet wurde. Wer also wegen seiner Amtseigenschaft angeklagt wurde, musste seine Unschuld aktiv vorbringen und beweisen können, anderenfalls wurde er verurteilt. Es ging bei dem gesamten Konstrukt also nicht um die Schuld eines einzelnen Ortsgruppenleiters, sondern vielmehr um die kollektive Verurteilung aller 94 PNKK Ordner Nr. 7, Schreiben vom 24. Januar 1953. 95 BA K Z 42-IV/7172, Bericht vom 27. Januar 1948. 96 Der wesentliche Unterschied der britischen Spruchgerichte im Vergleich zu den Spruchkammern der anderen Besatzungszonen lag darin, dass das „Entnazifizierungsverfahren“ im Falle der Spruchgerichte ein eigenes Verfahren bildete, und nicht im Rahmen der Spruchsache durchgeführt wurde. Vgl. Wember, Heiner: Umerziehung im Lager. Internierung und Bestrafung von Nationalsozialisten in der britischen Besatzungszone, 3. Aufl., Essen 2007, S. 22–24.
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Nationalsozialisten, wobei für den Einzelnen immer die Chance bestand nachzuweisen, dass er anders agiert hatte als die Mehrheit und der „Normalfall“. Diese „Entnazifizierung“ sollte Deutschland vom Nationalsozialismus „reinigen“ 97. Dabei kam es zu großen Schwierigkeiten. Hierbei war bereits die Einteilung der potentiellen Straftäter, unter die einfach sämtliche Mitglieder der NSDAP und der ihr angeschlossenen Organisationen subsumiert wurden, anhand von Meldebögen in die Gruppen von „Hauptschuldigen“, „Belasteten“, „Minderbelasteten“, „Mitläufern“ und „Entlasteten“ weit entfernt von der Realität. Denn im totalitären „Dritten Reich“ mit der Einheits- und Massenpartei NSDAP bedeutete eine Parteimitgliedschaft nicht automatisch Überzeugung von oder Engagement für den Nationalsozialismus. Millionen von Fragebögen lagen bei den Besatzungsbehörden vor. Sie alle schnell auszuwerten, war rein physisch überhaupt nicht möglich. Die Internierungen behinderten zudem Verwaltung, Wirtschaft und Wiederaufbau, da etliche potentielle Arbeitskräfte in den Internierungslagern einsaßen, und zum Teil Jahre auf ihre Verfahren warten mussten 98. Die gesamte Prozedur war jedoch auch deshalb in der Bevölkerung so diskreditiert, weil „von unten nach oben gearbeitet wurde“, da also die unteren Chargen zuerst verhandelt, und die ursprünglich streng geführten Verfahren immer „sanfter“ und weniger stringent wurden. Ein Blockwart konnte mitunter auf härtere Verfahren und Strafen zurücksehen, als ein Kreisleiter. Gerade der nach dem autoritären „Führerprinzip“ gestaffelten Hierarchie des „Dritten Reiches“ war dies aber keineswegs angemessen. Zumindest empfand es der Großteil der Bevölkerung als zweifelhaft 99. Nicht unbedingt geeignete Voraussetzungen also, um die Bevölkerung zu einer Distanzierung zu ihrer Vergangenheit zu bewegen. Konkret angeklagt wurden jedenfalls die Personen, die einer der im „Nürnberger Prozess“ als „verbrecherisch“ definierten Organisationen angehörten, und deshalb von vornherein als „belastet“ galten 100, sofern nicht individuell das Gegenteil nachgewiesen 97 Vgl. zum Komplex der Spruchgerichte/Spruchkammern, ihrer Einrichtung, ihrer Funktion und ihrem Ablauf, sowie der „Entnazifizierung“ als solcher grundlegend Broszat, Martin: Siegerjustiz oder strafrechtliche „Selbstreinigung“. Aspekte der Vergangenheitsbewältigung der deutschen Justiz während der Besatzungszeit 1945–1949, in: VfZ, 29/1981, S. 477–544, hier S. 482– 485. 98 Vgl. Friedrich, Jörg: Die kalte Amnestie. NS-Täter in der Bundesrepublik, Frankfurt 1984, S. 132–134. 99 Zur allgemeinen Diskreditierung von Spruchgerichten/Spruchkammern und „Entnazifizierung“ vgl. Benz, Wolfgang: Zwischen Adenauer und Hitler. Studien zur deutschen Nachkriegsgesellschaft, Frankfurt am Main 1991, S. 120–122. Zum Scheitern dieser als pädagogisch deklarierten Praxis in allen drei Nachfolgestaaten des Reiches vgl. Judt, Tony: Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg, Bonn 2006, S. 71–82. 100 Gerade der Begriff der „Belastung“ regte Unmut in der Bevölkerung an. Ähnliches ist für die Begriffe „Schuld“ und „Gerechtigkeit“ zu bemerken. Die Problematik lag vor allem darin begründet, dass innerhalb der Bevölkerung ausgesprochen divergierende Definitionen der „Belastung“ vorlagen, also wer wann wie und warum „belastet“ sein sollte. Die juristischen Vorgaben der
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werden konnte. Bei Kaufmann waren die einschlägigen Organisationen das „Politische Führerkorps der NSDAP“ und die SS 101. Diese Praxis von Spruchgerichten/Spruchkammern und „Entnazifizierung“ sorgte für allgemeinen Unmut in der Bevölkerung. Besonders die Weglassung der Unschuldsvermutung eines Beschuldigten war angesichts der Außerachtlassung des Rückwirkungsverbots ein Streitpunkt. Dieses stellte eines der elementaren Bestandteile des deutschen Strafrechts dar. Demnach waren jegliche Handlungen nur dann strafbar, wenn diese bereits als strafbar galten, während sie ausgeführt wurden 102. Da gerade dies aber im „Dritten Reich“, wo vieles „auf Befehl“ oder auf einer juristisch betrachtet legalen oder zumindest scheinbar legalen Handlung beruhte, hatten die (deutschen) Juristen einige Probleme bei der Durchführung der Verfahren 103. Alle Gründe der Diskreditierung liefen ab 1947 schließlich mit dem beginnenden „Kalten Krieg“ zusammen, sodass die gesamte Praxis schnellstens abgeschlossen werden sollte. Zudem wurde nunmehr die Bestrafung immer mehr zugunsten der Rehabilitierung verdrängt 104. Ab 1948 wurden nur noch prominentere Nationalsozialisten mit einer gewissen Strenge belangt, wenn denn überhaupt noch Verfahren stattfanden 105. Das Ende der „Entnazifizierung“ verlief dahingehend relativ ruhig. Die Spruchgerichte befassten sich erst sehr spät mit Kaufmann. Warum dies trotz seiner Internierung gemäß des „Automatischen Arrestes“ der Fall war, geht aus den erhaltenen Quellen nicht hervor. Eventuell lag dies an seinen dauernden Verlegungen zwecks seiner Gesundheitsversorgung. Genau genommen befassten sich die Spruchgerichte überhaupt erst mit ihm, da sich mehrere der ihm in Hamburg unterstellten Parteifunktionäre in ihren Verfahren zur Entlastung auf ihn beriefen. In einer der ersten Kaufmann betreffenden Akten der Spruchgerichte, welche vom 21. April 1947 datiert, lautet es unter anderem: Alliierten und der von ihnen initiierten „Entnazifizierung“ boten hierfür jedenfalls keine Möglichkeit, da deren Vorstellungen dieses Begriffs vollkommen von denen der Bevölkerungen abwichen. Die zeitgenössische Diskussion befand sich darüber hinaus in einem steten Wandel, sodass auch die Gesellschaft selbst nie über einen Grundkonsens hinsichtlich der Begriffsbestimmung verfügte. Vgl. hierzu ausführlicher Bösch, Frank/Wirsching, Andreas: Einleitung, in: Bösch, Frank/Wirsching, Andreas (Hrsg.): Hüter der Ordnung. Die Innenministerien in Bonn und Ost-Berlin nach dem Nationalsozialismus, Göttingen 2018, S. 13–26, hier S. 20. 101 Zum „Politischen Führerkorps der NSDAP“ als einer der insgesamt fünf für „verbrecherisch“ erklärten Organisationen vgl. Römer, Sebastian: Mitglieder verbrecherischer Organisationen nach 1945. Die Ahndung des Organisationsverbrechens in der britischen Zone durch die Spruchgerichte, Frankfurt am Main/Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Oxford/Wien 2005, S. 29–31. 102 Zum Rückwirkungsverbot vgl. Rengier, Rudolf: Strafrecht Allgemeiner Teil, 13. Aufl., München 2021, S. 17–19. 103 Vgl. hierzu Friedrich: Amnestie, S. 149f. 104 Vgl. ebd., S. 144–159. 105 Vgl. ebd., S. 144f.
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„Die Politischen Leiter des früheren Gaues Hamburg haben sich sämtlich auf das Zeugnis des ehemaligen Gauleiters Karl Kaufmann als Entlastungszeugen bezogen. Wie ich jetzt erfahre, ist der Gesundheitszustand Kaufmanns sehr ernst […]. Ich bitte daher um schnellstmöglichste verantwortliche Vernehmung Kaufmanns im Krankenhaus Bethel/Bielefeld.“ 106
Die Behörden agierten im Falle Kaufmanns nicht aktiv aus Eigenantrieb, sondern reagierten auf externe Anstöße hierzu. Dies mag „auf den ersten Blick“ überraschen, war aber für die spätestens ab 1947 immer mehr erlahmenden Spruchgerichtsverfahren keine Seltenheit, sondern in vielerlei Hinsicht beinahe repräsentativ 107. Jedenfalls begann mit dem zitierten Dokument die bereits im Unterkapitel über Kaufmanns Internierung dargestellte Debatte über dessen Gesundheitszustand und Vernehmungsfähigkeit. Kurz nachdem die Ermittler der Spruchgerichte auf ihn aufmerksam geworden sind, oder eher durch andere Verfahren auf ihn aufmerksam gemacht wurden, fand auch die erste Vernehmung Kaufmanns statt. In dieser nahm er vor allem zu konkreten Einzelfragen Stellung 108. Ab welchem exakten Punkt aber die Behörden zuvor beschlossen, nun auch gegen Kaufmann selbst zu ermitteln, ist mangels detaillierterer Quellen nicht erkennbar. Mit dem Bekanntwerden der Ermittlungen gegen Kaufmann erhielten die zuständigen Stellen unaufgeforderte Eingaben, die sich ungefragt positiv wie negativ über Kaufmann äußerten. Zumeist handelte es sich dabei um die Schilderung einzelner Geschehnisse. In einem Brief vom 27. Juli 1947 berichtete beispielsweise eine Frau über Kaufmanns Hilfe: „Wenn ich Ihnen heute in Sachen Kaufmann schreibe, so tue ich dieses aus einem gewissen Gerechtigkeitsgefühl und Dankbarkeit gegen Herr[n] Kaufmann. Meine Familie hat nicht das geringste Interesse irgendwelchen schuldigen Nationalsozialisten das Wort zu reden, mein Mann ist im Gegenteil stark durch die nationals. Ärztekammer geschädigt und stand in dauernden Konflikt mit der Gestapo.
106 BA K Z 42-IV/7172, Schreiben vom 21. April 1947. Hervorhebungen im Original. In einer gemeinsamen Erklärung ließen diese zudem folgendes verlautbaren: „Wir Hamburger Politischen Leiter nehmen für uns in Anspruch, daß die Persönlichkeit unseres Gauleiters uns davor bewahrt hat, Handlungen zu begehen, bzw. Kenntnis von solchen Taten und Plänen zu erlangen, die im Nürnberger Urteil dem Führerkorps als verbrecherisch zur Last gelegt werden.“ BA K Z 42-IV/7172, Verteidigungsschrift der ehemaligen Politischen Leiter, Gau Hamburg. Hervorhebungen im Original. 107 Vgl. Weinke, Annette: „Alliierter Angriff auf die nationale Souveränität“? Die Strafverfolgung von Kriegs- und NS-Verbrechen in der Bundesrepublik, der DDR und Österreich, in: Frei, Norbert (Hrsg.): Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006, S. 37–93, hier S. 48f. 108 BA K Z 42-IV/7172, Protokoll vom 26. April 1947.
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Im Jahre 1939 wurde ein Onkel von mir, […] kathol. Geistlicher, nach Fuhlsbüttel ins KZ gebracht, wegen angebl. staatsfeindlicher Äußerungen. […] Da sich der Dechant von Hamburg sowie verschiedene andere Persönlichkeiten um den Fall bemühten, ohne einen Erfolg zu erzielen, wandte ich mich direkt an Herr[n] Kaufmann[,] mit der Bitte sich der Sache anzunehmen, da […] [er] schwer krank sei. Innerhalb […] von acht Tagen war […] [er] frei.“ 109
Sehr viel kürzer und einfacher verfasst war ein Schreiben, welches von Kaufmann als „unser[em] ehemalige[n] Gauleiter“ sprach: „Nach den schweren Kriegsangriffen im Juli 1943 hat Kaufmann alle[, die] in den Krankenhäuser[n] lagen, mit Brandwunden und sonstige[n] Verletzungen[,] besucht. Fehler macht jeder.“ 110
Sehr negativ hingegen äußerte sich ein Mann, der sich 1933 trotz seiner Parteimitgliedschaft dazu gezwungen sah, aus der Hansestadt zu fliehen. Kurz zuvor hatte er einen Hinweis von einem Polizisten erhalten, sodass er noch rechtzeitig entkommen konnte. Seinem Brief ist die im Jahre 1947 immer noch vorhandene Wut deutlich zu entnehmen, weshalb ein längeres Zitat lohnt. Der Absender entrüstete sich darüber, dass das Verfahren in Bielefeld statt Hamburg stattfinden sollte: „Ich protestiere dagegen, daß vor der dortigen Spruchkammer [in Bielefeld] Gauleiter zur Verhandlung kommen, die im dortigen Bereich nicht tätig waren. Es ist ein Unding, diese Verbrecher, die tausende von Häftlingen, Schwerstmißhandelte usw. auf dem Gewissen haben, vor einer Spruchkammer bzw. vor einem Spruchgericht zur Verantwortung zu ziehen, wo ihre unzähligen Missetaten überhaupt nicht bekannt sind und die Herbeischaffung des […] Materials[,] evtl. Zeugenvernehmen usw. eine absolute Verschleppung und Erschwerung des Verfahrens verursachen würde. Dieser feige Erzlügner hat aus den eigenen Reihen selbst vo [sic] viele Verhaftungen durchführen lassen, daß ein damaliger Stahlhelm-Hilfspolizist die bezeichnende Äußerung getan hat: ‚Dieser verrückt gewordene größenwahnsinnige kleine Gernegroß muß schleunigst neue Gefängnisse bauen, damit er überhaupt die eigenen Pg. alle unterbringen kann.‘ […] Es darf m. E. gar keine Rolle spielen, daß diese Verbrecher in der dortigen Gegend interniert sind. Es sind Häftlinge über halbe Kontinente transportiert worden, da wird man die größten Schwerverbrecher, die heute vor deutschen Gerichten noch zur Verantwortung gezogen werden müssen […], wohl auch solch eine kurze Strecke transportieren zu können, um sie dem gerechten Richterspruch zuzuführen.“ 111
109 Ebd., Vermerk vom 1. August 1947. 110 Ebd., Schreiben vom 27. Juli 1947. 111 BA K Z 42-IV/7172, Schreiben vom 24. Juli 1947.
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Der Hinweis auf ein effizienteres Verfahren in Hamburg war zwar zutreffend. Aber oft wurde von dem Grundsatz, dass die Beschuldigten ihre Verfahren am Ort ihrer letzten Wirkungsstätte haben sollten, aus praktischen Erwägungen abgewichen. Es fand beispielsweise das Spruchgerichtsverfahren von Grohé nicht in dessen „Gauhauptstadt“ Köln, sondern ebenfalls in Bielefeld statt, da bei seiner Auslieferung von Belgien in die Bundesrepublik im Jahre 1949 nur noch das Bielefelder Spruchgericht arbeitete 112. Eine solche praktische Erwägung galt 1947 auch für Kaufmann, da er in Bielefeld interniert und mangels Gesundheit nur für die Gesundheitsversorgung transportfähig war. Während die Behörden weiterhin mit verschiedenen Ärzten hinsichtlich der Vernehmungs- und Verhandlungsfähigkeit korrespondierten, wurden Zeugenaussagen gesammelt, die vor allem der Klärung des Wissens und der Verantwortung Kaufmanns dienen sollten. Dabei berichtete unter anderem eine ehemalige Büroangestellte, die in seinem Vorzimmer eingesetzt war, dass „Erlasse, bzw. Befehle von Sauckel und Bormann […] bei dem Gaustabsamt ein[gingen], […] dort geöffnet und je nach Wichtigkeit dem Reichsstatthalter vorgelegt [wurden]. Ich kann nicht mit Bestimmtheit angeben, ob er alle Befehle erhalten, bzw. eingesehen hat. Doch möchte ich dieses unbedingt annehmen.“ 113
Dennoch bestand für die Behörden gewisse Schwierigkeiten bei der Polykratie des „Dritten Reiches“ Kaufmanns Handeln exakt einzuordnen. Dies kann angesichts seines hier ausführlich analysierten Herrschaftssystems kaum verwundern, war es doch für das Reich einzigartig. Das Problem wurde relativ einfach gelöst, indem folgendes festgelegt wurde: „Da eine Trennung im Falle Kaufmann in bezug [sic] auf seine Stellung als Reichsstatthalter und Gauleiter nicht möglich ist, kann im Einzelnen nicht darauf eingegangen werden. Beides muß somit als eine Einheit gerechnet werden.“ 114
Auch wenn Kaufmann selbst mangels Gesundheit nicht nachhaltig venommen werden konnte, arbeitete die Behörde des Generalinspekteurs also einfach weiter, zumindest insoweit es ihr möglich war. Auf Basis der kurzen Vernehmungen von Kaufmann und der gesammelten Zeugenaussagen und Beweismittel bereitete diese sogar eine reguläre 112 Vgl. Meis: Grohé, S. 98f. 113 BA K Z 42-IV/7172, Vermerk vom 19. Dezember 1947. Die von der Zeugin gemachten Angaben sind zudem ein anschauliches Beispiel für die Polykratie des „Dritten Reiches“: Anordnungen von Sauckel (mit Partei- und Staatsfunktionen) und von Bormann (Parteifunktionen, aber auch als „Sprachrohr“ Hitlers in dessen Funktion als Reichskanzler) gingen bei der Gaugeschäftsstelle (Parteistelle) ein, wurden dort geprüft und trotz Adressierung an den Reichsstatthalter (Staatsamt) und Gauleiter (Parteiamt) Kaufmann teilweise nicht vorgelegt. 114 BA K Z 42-IV/7172, Bericht vom 27. Januar 1948.
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Anklageschrift vor. Der erste Entwurf, der nur noch in einem Satz geringfügig abgeändert wurde, war am 20. Juli 1948 fertiggestellt, und bezog sich zu nicht unwesentlichen Teilen auf Kaufmanns erste Vernehmung, deren Inhalt für glaubwürdig erachtet und/oder anderweitig bestätigt wurde. Die Anklage sah vor, Kaufmann für seine Mitgliedschaft im „Politischen Führerkorps der NSDAP“ und der Mitgliedschaft in der SS als Obergruppenführer anzuklagen 115. Zur Anklageerhebung kam es jedoch nicht mehr. Nach der geschilderten Entlassung Kaufmanns aus der Internierung gingen wenig später auch immer mehr juristische Zuständigkeiten von den Alliierten auf die Institutionen des neuen westdeutschen Staates über. Darunter befand sich ab September 1951 auch die Aufsicht für die Spruchgerichtsverfahren. Sofern die jeweiligen Beschuldigten nicht sowieso von einem der vielen Amnestie- und Rehabilitationsgesetze profitierten 116, wurden die Verfahren meistens eingestellt 117. Mit dem simplen Hinweis auf diese Entwicklungen endete auch Kaufmanns Verfahren zum Ende des Jahres 1951 118, nachdem es 1948 bereits vorläufig eingestellt worden war. In der Spruchsache hatte er also nichts mehr zu befürchten. Kaufmanns „Entnazifizierung“ muss neben seinem Spruchgerichtsverfahren noch kurz betrachtet werden. Wie erwähnt galt grundsätzlich für alle Besatzungszonen, dass die Spruchkammern immer mit einem „Entnazifizierungsverfahren“ einhergehen sollten. In deren Folge sollte auch festgestellt werde, in was für eine Kategorie der Schwere der individuellen „Belastung“ jemand eingeteilt werden müsste. Dies konnte ganz konkrete Auswirkungen auf den Alltag haben, beispielsweise ein Wiedereinstellungsstop oder die Einbehaltung des beschlagnahmten Vermögens. In der britischen Zone hingegen, in der also auch Kaufmann zu „entnazifizieren“ war, wurden diese Verfahren von den Spruchgerichten formal abgetrennt und eigenständig nach Beendigung des Spruchgerichtsverfahrens durchgeführt. Hierdurch konnte auch auf Erkenntnisse aus diesen zurückgegriffen werden 119. Für eine davon betroffene Person wie Kaufmann bedeutete das aber zugleich, dass es eine weitere Hürde zu nehmen galt, während diese in den anderen drei Besatzungszonen durch ihre Verbindung mit dem Spruchgerichtsverfahren weniger deutlich war. Das „Entnazifizierungsverfahren“ Kaufmanns verlief jedoch reichlich ungewöhnlich. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass sein Spruchgerichtsverfahren jahrelang
115 Die Anklageschrift umfasst zwanzig Seiten, vgl. ebd., Anklageschrift vom 5. Februar 1948. 116 Zu den einzelnen Maßnahmen in dieser Richtung vgl. Frei, Norbert: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 2012, S. 29–129. Auf die konkreten Maßnahmen, die hierbei eine größere Wirkung für Kaufmanns Leben entfalteten, wird im weiteren Verlauf noch detailliert eingegangen. Der gleiche Autor kennzeichnet übrigens in einer anderen Veröffentlichung all diese umfassenden Maßnahmen deutlich als „Amnestiepolitik“, die den Beginn des westdeutschen Staats entscheidend mitprägten. Vgl. zum Begriff Frei, Norbert: Amnestiepolitik in den Bonner Anfangsjahren. Die Westdeutschen und die NSVergangenheit, in: KJ, 29/1996, S. 484–494, hier S. 484. 117 Vgl. hierzu inklusive Zahlenmaterial Broszat: Siegerjustiz, S. 540f. 118 Vgl. BA K Z 42-I/263, Schreiben vom 26. Juli 1950. 119 Vgl. Wember: Umerziehung, S. 22–24.
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in der Schwebe blieb, und dabei zeitweise überhaupt keine Fortschritte zeitigte, außer immer neue medizinische Gutachten von weiteren Ärzten über Kaufmanns Vernehmungsfähigkeit zu sammeln. Als Kaufmann schließlich im Dezember 1948 aus der Internierung entlassen wurde, wurde das Spruchgerichtsverfahren „nur“ vorläufig eingestellt, bis er verhandlungsfähig sei. Da sich aber die Hoffnung der Ermittlungsbehörden und der Ärzte, dass Kaufmann außerhalb von Lagern, Gefängnissen und Krankenflügeln daheim vielleicht schneller gesunden könne, nicht erfüllte, vergingen weitere Monate und Jahre. In dieser Zeit erreichte die Rehabilitierungspolitik von Alliierten wie Deutschen völlig neue Höhen. Hinsichtlich seiner „Entnazifizierung“, von der immerhin auch die Freigabe seines beschlagnahmten Vermögens abhing, wird es nun äußerst kompliziert. Da in der britischen Besatzungszone zuerst das Spruchgerichtsverfahren und erst dann das „Entnazifizierungsverfahren“ kommen sollte, standen alle Beteiligten bei Kaufmann vor der Frage, wie vorzugehen sei. In den anderen Besatzungszonen hätte zumindest die „Entnazifizierung“ gleichzeitig durchgeführt werden können, sodass diese erledigt wäre, und Kaufmann für den fernen Fall seiner Genesung „nur“ noch eine etwaige Strafe des Spruchgerichts zu erwarten gehabt hätte. Die Angelegenheit blieb jedenfalls genauso wie das Spruchgerichtsverfahren nach Kaufmanns Entlassung 1948 in der Schwebe. 1949 und 1950 griffen aber die verschiedenen Instrumente der westdeutschen Rehabilitierungspolitik. Nicht nur wurden die Spruchgerichte von den Alliierten in deutsche Hände gelegt, sondern auch formal auf Landes- wie Bundesebene die Einleitung des Abschlusses aller „Entnazifizierungsbemühungen“ begonnen, wobei die verbliebenen Fälle teilweise schnell und relativ milde durchgeführt wurden und ab 1952 ganz wegfielen. Ein reguläres „Entnazifizierungsverfahren“ für Kaufmann ließ unter solchen Umständen aber auf unbestimmte Zeit auf sich warten. Deshalb hatten die britischen Behörden Kaufmann bereits „vorsorglich“ und „vorübergehend“ in eine der fünf „Gruppen der Verantwortlichen“ eingereiht. Diese umfassten gemäß der Kontrollratsdirektive der Alliierten einheitlich in allen Besatzungszonen die schon erwähnten Kategorien „Hauptschuldige“, „Belastete“, „Minderbelastete“, „Mitläufer“ und „Entlastete“ 120. Die beiden ersten Kategorien hatten sehr strenge Folgen, die beiden nachfolgenden schon „nur“ noch in Einzelfällen, während die letzte keine besaß. Angesichts der juristischen Definitionen der beiden Höchstgruppen wäre zu vermuten gewesen, dass Kaufmann in eine dieser einzureihen wäre. Er hätte beispielsweise als „Hauptschuldiger“ kategorisiert werden können, da er
er
„sich in einer führenden Stellung in der NSDAP, in einer ihrer Gliederungen oder angeschlossenen Verbände oder in irgendeiner anderen nationalsozialistischen oder militaristischen Organisation betätigt hat“ 121,
120 Vgl. KRD 39, S. 184–188, hier S. 184. 121 Ebd., S. 185.
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„sich in der Regierung des Reiches, der Länder oder in der Verwaltung der früher besetzten Gebiete in einer führenden Stellung, die nur von führenden Nationalsozialisten oder bedeutenden Anhängern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bekleidet werden konnte, betätigt hat“ 122,
oder auch, weil er
„der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft außerordendiche politische, wirtschaftliche, propagandistische oder sonstige Unterstützung gewährt hat oder [...] aus dieser Zusammenarbeit für sich oder andere erheblichen Nutzen gezogen hat.“ 123
All dies wäre bei Kaufmann mit sehr wenig Aufwand nachweisbar gewesen. Die Konsequenzen wären unter anderem Vermögens- und Pensionsverlust, Freiheitsstrafen von bis zu 15 Jahren oder gar die Todesstrafe gewesen 124. Auch die zweithöchste Kategorie, die der „Belasteten“, wäre problemlos für Kaufmann anwendbar gewesen. Es wäre für die Behörden sehr leicht gewesen nachzuweisen, dass er als Gauleiter und Reichsstatthalter „durch seine Stellung oder Tätigkeit die nationalsozialistische Gewaltherrschaft wesentlich gefördert hat; […] seine Stellung, seinen Einfluß und seine Beziehungen zur Ausübung von Zwang, Drohung, Gewalttätigkeiten, Unterdrückung oder sonst ungerechten Maßnahmen ausgenutzt hat; […] sich als überzeugter Anhänger der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, insbesondere ihrer Rassenlehre, offen bekannt hat. […] [Oder] durch Wort oder Tat, insbesondere öffentlich durch Reden oder Schriften oder freiwillige Zuwendungen aus eigenem oder fremden Vermögen oder durch Einsetzen seines persönlichen Ansehens oder seiner Machtstellung im politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Leben wesentlich zur Begründung, Stärkung und Erhaltung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft beigetragen hat“ 125.
Schon ein Blick in Kaufmanns Reden, Presseartikel oder Senatsberatungen hätten keinen Zweifel daran aufkommen lassen können, dass er das „Dritte Reich“ in seinem Bestand gefördert hat oder auch seine Ämter zur Durchführung von Hamburger „Arisierungen“, „Euthanasie“ und weiteren nach 1945 von den Gerichten belangte Handlungen nutzte. Die Konsequenzen wären unter anderem Vermögens- und Pensionsentzug sowie bis zu zehn Jahre Zwangsarbeit gewesen 126. Doch Kaufmann wurde von den britischen 122 Ebd. 123 Ebd. 124 Ebd., S. 186. 125 Ebd., S. 186. 126 Ebd., S. 187.
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Behörden vorläufig weder als „Hauptbeschuldigter“, noch als „Belasteter“ eingestuft, sondern als „Minderbelasteter“, also als Person der dritten Kategorie, inklusive der Erklärung, ein neues Verfahren zur Einordnung in die erste oder zweite Kategorie sei nicht beabsichtigt 127. In diese dritte Kategorie der „Minderbelasteten“ sollten nach Definition eigentlich tendenziell „nominelle Parteigänger“ einsortiert werden, die beispielsweise „lediglich Mitgliedsbeiträge bezahlt, an Versammlungen, deren Besuch obligatorisch war, teilgenommen oder unbedeutende oder laufende Obliegenheiten, wie sie allen Mitglieden vorgeschrieben waren, wahrgenommen [haben]“ 128.
Die „Sühnemaßnahmen“, wie es das entsprechende Gesetz nannte, bestanden unter anderem in einer Bewährungszeit von zwei bis drei Jahren, in denen öffentliche Ämter nicht bekleidet und Unternehmen nicht geführt werden durften, während zugleich Vermögenswerte nur dann eingezogen werden durften, wenn sie auf die „Ausnutzung politischer Beziehungen oder besonderer nationalsozialistischer Maßnahmen“ zurückführbar waren. Dazu zählten beispielsweise die „Arisierungen“ 129. Ansonsten war das gesperrte Vermögen freizugeben. Kaufmann nutzte die Chance schließlich auch, um die Entsperrung seines Vermögens zu erreichen. Es sollte ein langes „hin und her“ folgen, das einerseits offenbar auf eine langsame Kommunikation und umständliche Formalia (die Entkoppelung von Spruchgericht und „Entnazifizierung“) der dafür zuständigen Hamburger Finanzbehörde zurückzuführen war. Andererseits rührte es vom Beharren eben jener Behörde auf Vermögenswerten Kaufmanns her. Da er sich durch Maßnahmen des „Dritten Reiches“ selbst nicht bereichert hatte, wurde vom Vermögen nichts eingezogen. Dazu später mehr. Fraglich ist aber, warum die britischen Behörden Kaufmann überhaupt in die dritte Kategorie der „Minderbelasteten“ einordneten. Dass irgendeine vorläufige Entscheidung zu fällen war, steht außer Frage. Denn an der „Entnazifizierung“ hingen wichtige Alltagsfragen wie jene nach der Vermögensfreigabe oder der Berufsausübung. Da das Spruchgerichtsverfahren weiter in der Schwebe war, ohne dass ein kurzfristiges Ende abzusehen gewesen wäre, war es nur konsequent, zumindest eine „vorsorgliche“ Eingruppierung vorzunehmen. Das Spruchgericht hätte diese im Nachhinein dann übernehmen oder modifizieren können. Dass es dabei dann theoretisch doch noch zehn Jahre Zwangsarbeit oder Vermögensverlust bewirken könnte, wäre „auf den ersten Blick“ seltsam gewesen. Aber die Alternative zum vorläufigen Eingruppieren mit allen Konsequenzen wäre nur ein noch seltsameres Abwarten für einen körperlich kranken Einzelfall gewesen, dessen Entscheidung noch Jahre hätte dauern können. 127 Vgl. StaHH 311-3 I, Abl. 1989-305-2-1/354, Bd. 1, Vermerk vom 10. Januar 1951. 128 KRD 39, S. 184–188, hier S. 187. 129 Ebd., S. 187.
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Auch wenn keine Quellen zu den Hintergründen der letztlichen Entscheidung der britischen Behörden für die dritte Kategorie vorliegen, dürfte es auf zwei Gründe zurückzuführen sein. Erstens wollten die Behörden sicherlich nicht „zu“ hart urteilen, falls das Spruchgericht schließlich doch noch eine niedrigere Kategorie für Kaufmann angemessen halten sollte. Eventuell spielte auch die kampflose Übergabe Hamburgs und Kaufmanns anschließendes kooperatives Verhalten bei der Überleitung der Verwaltung in britische Hände eine Rolle. Zweitens war diese milde Eingruppierung für ihren Zeitpunkt relativ „normal“. Wie ausgeführt fielen die Strafen und Eingruppierungen mit der Zeit immer milder aus. Wer im Dezember 1948 das Urteil des Spruchgerichts zu erwarten hatte, konnte davon ausgehen, nicht zu streng belangt zu werden. Insofern lag die Entscheidung der britischen Behörden im Durchschnitt ihres Zeithorizonts. Dennoch sollte die „vorläufige“ Eingruppierung nicht für langanhaltende Ruhe sorgen, da es um den Rechtscharakter des „Vorläufigen“ während der Vermögensfreigabe erhebliche Differenzen gab. Dies wird im Unterkapitel zum Nachkriegsvermögen erläutert. Soweit die einzelnen Nachkriegsverfahren der Gauleiter bereits erforscht sind, war Kaufmann mit seiner Konstellation des „vorläufig“ Eingruppierten einzigartig. Von den bei Kriegsende 41 im Amt befindlichen Gauleitern 130 erlebten nur sechs ein „Entnazifizierungsverfahren“ 131. Die Vergleichbarkeit ist hierbei allerdings nur sehr eingeschränkt gegeben. Denn viele der nicht „Entnazifizierten“ wurden durch andere Verfahren langfristig interniert oder gar hingerichtet, ohne dass parallel ein „Entnazifizierungsverfahren“ stattfand. Ebenfalls in eine solch niedrige oder noch niedrigere Kategorie eingruppiert wurden (soweit erforscht) von den sechs Gauleitern lediglich zwei 132. Kaufmanns „Entnazifizierung“ war also ein sehr ungewöhnlicher Fall.
5.3.2. Ermittlungsverfahren in Hamburg (1948–1957) „Bei diesem Grosskampftag handelt es sich um eine von der Gestapo im Stadthaus eigens veranstaltete Prügelscene vor Gästen.“ 133
Das Ermittlungsverfahren gegen Kaufmann im Hamburg wurde nicht durch Anzeigen von Opfern der nationalsozialistischen Herrschaft oder anderen eröffnet. Vielmehr wurde in einem anderen Verfahren gegen ehemalige Angehörige der Hamburger Gestapo Kaufmann mehrfach im Zusammenhang mit dem zitierten „Großkampftag“ genannt. Aus diesem Grunde ging die Staatsanwaltschaft Hamburg der Sache nach und 130 Auch hier wieder ohne Auslandsorganisation, die beiden nur de jure bestehenden Gaue in Belgien sowie einen geschäftsführend von einem anderen Gauleiter geführten Gau. 131 Florian, Jordan, Lohse, Scheel, Schwede und Wegener. 132 Lohse und Wegener. 133 StaHH 213-11, 72422, Verfügung.
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stellte in der Folgezeit umfassende Ermittlungen gegen Kaufmann an. Konkreter Ermittlungsanlass waren drei Aussagen in diesem Gestapo-Verfahren, wonach der damalige Gauleiter und Reichsstatthalter anwesend gewesen sein soll 134. Förmlich eröffnet wurde das Ermittlungsverfahren gegen Kaufmann wegen des Verdachts auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit am 11. Februar 1948 135. Zu diesem Zeitpunkt lief das bereits dargestellte Spruchgerichtsverfahren schon seit knapp einem Jahr. Der erwähnte „Großkampftag“ fand im Juni 1933, also noch in der Phase der „Machtergreifung“ und der langsamen Konsolidierung der Macht statt. Die Hamburger Gestapo hatte mehrere Gegner und vermeintliche Gegner der NSDAP in einem Saal vor Publikum vorgeführt und misshandelt. Die Geschehnisse wurden von etlichen Zeugen unabhängig voneinander übereinstimmend wiedergegeben. Teils standen sie dabei auch unter Eid. Aus den vielen Aussagen, die zum größten Teil von damaligen Opfern stammen, sei nachfolgend eine zitiert. Sie kann als repräsentativ angesehen werden, da die Aussagen trotz eines Abstands von 15 Jahren zwischen Ereignis und Vernehmung in ihren Kernen bis auf wenige Ausnahmen nicht voneinander abwichen: „Der Schlägersaal war bei unserer Ankunft vorbereitet. In der Mitte des Saales waren hohe Stehpulte zusammengestellt. Über den Stehpulten lag ein Transparent mit der Aufschrift: Völker aller Länder vereinigt Euch. Vor dem Betreten dieses Raumes waren […] [wir] bereits vernommen worden. […] Als wir im Schlägersaal waren, erschien der Reichsstatthalter Kaufmann, […] die Gestapopolizisten und die berühmten Schläger [des „Kommandos zur besonderen Verwendung“]. Dabei waren vollständig versammelt die an unseren Verne-mungen [sic] beteiligten Beamten. Wir standen an der Wand. Nach kurzer Zeit hiess es: Er [A.] kommt. […] Die Fesseln wurden A. abgenommen und sofort fielen Beamte über ihn her und schlugen ihn zu Boden. Am Boden wurden ihm durch Auftreten auf die Hände die Finger gebrochen. […] Den [inzwischen] Bewusstlosen warf man nun auf die Pulte. Vier mit Peitschen bewaffnete Gestapobeamte stiegen auf die Pulte und schlugen mit den Peitschen auf den entblössten Körper ein. Der Kopf des Opfers war ins Transparent gewickelt worden. Später wurde der Bewusstlose mit Wasser begossen. Dieser Vorgang vollzog sich in Anwesenheit der […] [Genannten]. Durch den Adjutanten von Kaufmann waren wir vorher nach seinen Angaben für die Polizei fotografiert worden.“ 136
134 Ebd., Schreiben vom 9. März 1948. 135 Ebd., Verfügung. 136 StaHH 213-11, 72422, Protokoll vom 11. August 1948. Bei A. handelte es sich um niemand anderen als um Etkar André. André war einer der führenden Kommunisten in Hamburg und erlitt nach seiner Verhaftung während der „Machtergreifung“ jahrelange Misshandlungen, bis er 1936 zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Vgl. zu seinem Werdegang Seeger, Andreas: André, Etkar, in: Kopitzsch, Franklin/ Brietzke, Dirk (Hrsg.): Hamburgische Biografie, Bd. 1, S. 24–25.
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Die Brutalität des „Großkampftags“ im Stadthaus war für die im ganzen Reich anzutreffenden Ereignisse während der „Machtergreifung“ keine Seltenheit. Sie verlief in Hamburg hinsichtlich der politischen Verfolgungen nicht anders. Konkret die in der zitierten Zeugenaussage „berühmten Schläger“, womit das während der „Machtergreifung“ in Hamburg ausgiebig zur Verfolgung von SPD und KPD genutzte „Kommando zur besonderen Verwendung“ gemeint war, zeichnete sich durch eine Grobheit und Rücksichtslosigkeit aus, welche die der „normalen“ Gestapo noch übertraf 137. Trotz einer zweistelligen Anzahl an Zeugen, die aussagten, dass Kaufmann Gast und Zuschauer des „Großkampftags“ gewesen sei, leugnete dieser seine Anwesenheit. Lapidar bemerkte er in einer seiner Vernehmungen hierzu: „Von einem sogenannten Grosskämpfertag [sic] höre ich heute zum ersten Mal.“ 138 Auch fernab des Begriffs „Großkampftag“ könne er zu den einzelnen Misshandlungen nichts aussagen. Die Aussagen über Kaufmanns angebliche Anwesenheit bildeten den Auftakt zu immer umfassenderen Ermittlungen. Die Staatsanwaltschaft weitete ihre Arbeit bald über das besagte Ereignis des Juni 1933 aus, und holte auch Zeugenaussagen von weiteren Personen ein, die über eventuelle Gewalttaten durch Kaufmann persönlich oder dessen Anwesenheit hierbei berichteten. Vor allem 1948 und 1949 wurden Hunderte Seiten an Zeugenaussagen protokolliert, die fast alle nicht für, sondern gegen Kaufmann sprachen 139. Dahingehend sahen die Aussichten auf den Urteilsspruch für Kaufmann nicht gut aus. Während die Staatsanwaltschaft immer weitere Zeugenaussagen sammelte, bemühte sie sich um eine Einsicht der Ermittlungsunterlagen des Spruchgerichts. Da dieses bereits ein knappes Jahr länger als das Verfahren in Hamburg lief, erhofften sich die Hamburger Ermittler nützliche Informationen aus dem Vorsprung der Bielefelder Kollegen. Die Bitte um eine kurzzeitige Überführung der Akten für eine Auswertung im Hinblick auf eventuelle Anhaltspunkte für das eigene Verfahren wurde jedoch mehrfach ausgeschlagen. Dabei wurde jedes Mal das gleiche Argument vorgebracht: „Auf das obige Schreiben wird mitgeteilt, dass die Akten hier nicht entbehrlich sind.“ 140 Die Bielefelder Kollegen waren dahingehend relativ unkooperativ. In den Nachkriegsverfahren gegen andere Angehörige der „NS-Führung“ waren die Staatsanwaltschaften teilweise beweglicher und hilfsbereiter 141. Die Hamburger erhielten die Akten aus Bielefeld aber erst nach der Fertigstellung der Hamburger Anklageschrift vom März 1951 142, die dabei vollständig auf den eigenen Ermittlungen basierte. Das Spruchgerichtsverfahren war aber wie erwähnt bereits im Dezember 1948, also fast eineinhalb Jahre zuvor vorläufig eingestellt worden. Es wird aus den Quellen beider Ermittlungsbehörden nicht ersichtlich, 137 Vgl. Wildt: Streckenbach, S. 101. 138 StaHH 213-11, 72422, Protokoll vom 15. September 1948. 139 Die rund 400 Seiten an Protokollen der Zeugenaussagen befinden sich überwiegend in StaHH 213-11, 72422 und 72423. 140 StaHH 213-11, 72422, Protokoll vom 17. Januar 1949. 141 Exemplarisch kann hierbei der Gauleiter Grohé genannt werden. Vgl. Meis: Grohé, S. 102. 142 StaHH 213-11, 72425, Schreiben vom 18. April 1952.
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warum die Akten trotz vorläufiger Einstellung des Spruchgerichtsverfahrens nicht nach Hamburg übersandt wurden. Da die Ermittler des Spruchgerichts aber mehrfach überprüften, ob Kaufmann wieder verhandlungsfähig sei, ist es möglich, dass die Behörde die Unterlagen für den Fall einer baldigen Wiederaufnahme im Hause behalten wollte. Jedenfalls erbrachte die Überprüfung der 1951 nach Einstellung des Spruchgerichtsverfahrens endlich übersandten Akten keine neuen Erkenntnisse. Die Hamburger Anklageschrift wurde deshalb auch nicht mehr abgeändert. Hinsichtlich des Kontakts zwischen den beiden Ermittlungsbehörden ist ein Briefwechsel vom März 1948 noch von Bedeutung. Aus Hamburg kam die Anfrage, ob in der Spruchsache von einer längeren Haftstrafe auszugehen sei. Der Hintergrund bestand darin, dass die Staatsanwaltschaft Hamburg offenbar in Erwägung zog, das eigene Verfahren einzustellen. Warum sie dies vorhatte, ist aus den Quellen nicht ersichtlich. Der Zeitpunkt des Briefwechsels könnte aber Aufschluss geben. Das Verfahren in Hamburg wurde im Februar 1948 eröffnet. Kaufmann war aber weder vernehmungs- noch verhandlungsfähig, und wann er dies wieder sein würde, war keinesfalls absehbar. Wenn aus Bielefeld nun die Antwort eingegangen wäre, dass Kaufmann definitiv zu einer harten Strafe verurteilt werden würde, hätte die Behörde in Hamburg vielleicht auf ein eigenes Verfahren verzichten können. Die Rückmeldung aus Bielefeld war aber pessimistisch: „Zweifellos ist eine längere Freiheitsstrafe zu erwarten, falls der Gesundheitszustand Kaufmann’s [sic] sich so bessert, daß die Verhandlung gegen ihn durchgeführt werden kann. Die höchste Freiheitsstrafe, die im Spruchverfahren gegen ihn verhängt werden kann, beträgt 10 Jahre. Ob diese Höchststrafe aber zur Anwendung kommt, lässt sich noch nicht absehen, da Kaufmann voraussichtlich wesentliche Umstände zu seiner Entlastung vorbringen kann.“ 143
Somit blieb der Staatsanwaltschaft in Hamburg gar nicht anderes übrig, als vorläufig weiter zu ermitteln. Genauere Interna der Staatsanwaltschaft sind für den Zeitraum des Briefwechsels jedoch nicht erhalten, sodass keine konkreten Umstände oder Beweggründe zu einer eventuellen Einstellung des Verfahren nach nur einem Monat Laufzeit nicht untersucht werden können 144. Vielleicht ist aber gerade der Inhalt der ihm zur Last
143 BA K Z 42-I/263, Schreiben vom 19. März 1948. 144 Der Staatsanwaltschaft Hamburg ist offenbar noch während des Ermittlungsverfahrens eine komplette Handakte aus dem fraglichen Zeitraum abhandengekommen, in der sich am ehesten Informationen zur angedachten Einstellung des Verfahrens gefunden hätten. Was mit der Akte passiert ist, konnte sich die Staatsanwaltschaft selbst nicht erklären, sodass sie einfach eine neue anlegte. Sie verwies jedoch auf die Möglichkeit, dass sie versehentlich aussortiert worden sei. Der Aktenvermerk über das Verschwinden findet sich in StaHH 213-11, 72427, Vermerk vom 27. Juni 1986. Eine andere Kuriosität lag darin begründet, dass Kaufmanns Strafregister keine Einträge aufwies. Das Strafregister wurde zu Beginn des Verfahrens überprüft. Die vermeintlich „weiße Weste“ Kaufmanns ist erstaunlich, da er selbst angab, er sei in der Weimarer Republik zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Zum Vorstrafenregister vgl. StaHH 213-11,
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gelegten Taten ausschlaggebend gewesen. Stichhaltige Beweise über sein Wissen zu diversen Gewalttaten gab es lediglich hinsichtlich seiner Amtsverantwortung. Dass er persönlich entsprechend agierte oder bei Anwesenheit nicht einschritt, beruhte vor allem auf Zeugenaussagen, gegen die andere Aussagen wie seine eigene sprachen. Darauf einen unanfechtbaren Urteilsspruch herbeizuführen wäre schwierig, wenngleich nicht unmöglich gewesen. Im September 1948 ließ Kaufmanns Gesundheitszustand zwei kurze Vernehmungen zu. Die wenigen Seiten an Protokollen zeigen jedoch, dass die Ermittler dabei nicht über eine grobe Skizze seines Lebensweges hinweg gelangten 145. Kurz darauf war Kaufmann gesundheitlich wieder so stark beeinträchtigt, dass weitere Vernehmungen vorerst nicht möglich waren. Hier stellte sich das gleiche Problem ein, das auch beim Spruchgerichtsverfahren in Bielefeld vorlag. Genau wie in Bielefeld führten die Behörden in Hamburg ihre Ermittlungen aber auch ohne weitere Aussagen Kaufmanns so weit wie möglich durch. In der Folgezeit wurden viele der bereits erwähnten Zeugenaussagen gesammelt. Im Juni 1950 konnte Kaufmann schließlich an mehreren Tagen von der Staatsanwaltschaft vernommen werden. Allerdings waren die Aussagen aufgrund seines Gesundheitszustands nie besonders lang. Die Protokolle der Vernehmungen lagen meist bei drei bis vier Seiten. Die Vernehmungen fanden am 12., 14., 17., 19., 21. und 23. des Monats in Kaufmanns Wohnung in Hamburg statt, wohin er vier Monate nach seiner Entlassung im November 1948 wieder zu seiner Frau ziehen durfte. Inhaltlich befassten sich die Vernehmungen anfangs noch mit Kaufmanns Werdegang, später aber gezielt mit den ihm zur Last gelegten Fälle, bei denen die Ermittler von seiner Schuld ausgingen, sowie mit Einzelfragen wie zur Justiz oder zu Ortsgruppenleitern 146. Mit den wenigen Aussagen Kaufmanns verfügte die Staatsanwaltschaft bereits zu diesem Zeitpunkt über mehr Äußerungen Kaufmanns, als ihre Kollegen in Bielefeld. Einen Einschnitt bezüglich der langsam aber stetig voranschreitenden Aussagen Kaufmanns bildete jedoch der 26. Juli 1950. Wie die Ermittlungsbehörden in Bielefeld holte auch die Staatsanwaltschaft Hamburg unentwegt medizinische Gutachten über seinen Gesundheitszustand ein 147. Als das erste Gutachten vorlag, welches ihm die Haft- und Verhandlungsfähigkeit attestierte, wurde sofort ein Haftbefehl wegen Verdunkelungsund Fluchtgefahr erlassen und am 3. August vollstreckt. Im Haftbericht berichtete ein an der Vollstreckung beteiligter Polizist, „[n]ach Eröffnung des Haftbefehls erklärte Kaufmann, daß er in Zukunft jegliche Aussage sowie die Nahrungsmittelaufnahme verweige72422, Vorstrafen. Zu Kaufmanns Aussage über seine Geldstrafe vgl. StaHH 213-11, 72425, Anklageschrift vom 1. März 1951. Durch viele weitere Quellen sind gelegentliche Vergehen Kaufmanns aus der Zeit bis 1933 nachvollziehbar, so etwa der „Ordensschwindel“. Sein Vorstrafenregister ist also vor 1948, wahrscheinlich in der Zeit des „Dritten Reiches“ gelöscht worden. 145 StaHH 213-11, 72422, Protokoll vom 15. September 1948. 146 Vgl. im Einzelnen die Aussagen in StaHH 213-11, 72424. 147 Exemplarisch: Ebd., Gutachten vom 8. August 1946.
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re.“ 148 Tatsächlich verweigerte er in der unmittelbaren Folgezeit seine Mahlzeiten 149. Nach der Festnahme in seiner Wohnung wurde er in die Untersuchungshaftanstalt Hamburg-Stadt überführt 150. Damit befand er sich ausgerechnet in der Haftanstalt, die bis zum Ende des „Dritten Reiches“ eine der zehn regulären zentralen Hinrichtungsstätten darstellte, und dabei für ein weit größeres Gebiet als „nur“ Hamburg zuständig war 151. Ob Kaufmann sich dessen bewusst war, und falls ja, was dies für ihn persönlich in seinem Denken bedeutete, ist nicht überliefert. Unabhängig davon ist nichts für den Umbruch in Kaufmanns Leben durch den Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ so anschaulich wie die Überführung des einstigen Gauleiters und Reichsstatthalters in ausgerechnet diese Haftanstalt. An Symbolik wird sie höchstens noch von seiner überraschenden Verhaftung am Tage nach der kampflosen Übergabe Hamburgs 1945 übertroffen. Kaufmanns Rechtsanwälte reagierten unverzüglich. Innerhalb kürzester Zeit reichten sie eine Haftbeschwerde ein, nach deren Argumentation von einer Verdunkelungsgefahr keine Rede sein könne, da die Ermittlungen bereits fast vollständig abgeschlossen waren. Auch die Fluchtgefahr sei nicht gegeben, da Kaufmann ein nachweislich schwer kranker Mann sei 152. Die Haftbeschwerde wurde jedoch verworfen 153. Tatsächlich waren die Ermittlungen beinahe an ihrem Ende angekommen. Allerdings wurden nach wie vor einige wenige Zeugen vernommen, und die Anklageschrift war zu diesem Zeitpunkt Mitte 1950 noch nicht erarbeitet. Auch konnten die Akten des Spruchgerichts von den Hamburger Ermittlern immer noch nicht eingesehen werden, und Kaufmanns Vernehmungen waren ebenfalls noch nicht weit gekommen. Über das Argument der bereits fast vollständig abgeschlossenen Ermittlungen ließe sich also im Einzelfall noch streiten. Dass Kaufmann aber nach wie vor krank war, war überdeutlich. Zwar hatte das Gutachten vom Juli 1950 festgestellt, dass er haftfähig sei. Hierbei ist jedoch anzumerken, dass es sich dabei um das erste positive Gutachten seit Kaufmanns schwerem Unfall 1946 handelte. Zudem war sein Zustand in der Untersuchungshaftanstalt Hamburg-Stadt offenbar keineswegs gut, denn schon nach wenigen Tagen wurde er in das dortige Lazarett überführt 154. Auch die zweite Haftbeschwerde hatte keinen Erfolg 155, ebenso wenig die dritte 156. Erst im vierten Anlauf auf juristischem Wege gelang es den Rechtsanwälten, die sich inzwischen an das Oberlandesgericht gewandt hatten, mit ihren Argumenten Erfolg zu haben. Dort wurden ihre Argumente des Ermittlungsfortschritts und des Gesundheitszustands beide als korrekt erachtet, was am 17. November zur Aufhebung des 148 StaHH 213-11, 72424, Haftbericht. Hervorhebungen im Original. 149 Ebd., Schreiben vom 8. August 1950. 150 Ebd., Aufnahmeformular. 151 Vgl. hierzu näher Seeger, Andreas: Hinrichtungen in Hamburg und Altona 1933 und 1945, in: Ebbinghaus, Angelika/Linne, Karsten (Hrsg.): Kein abgeschlossenes Kapitel: Hamburg im „Dritten Reich“, Hamburg 1997, S. 319–349, hier S. 334. 152 Vgl. StaHH 213-11, 72424, Schreiben vom 8. August 1950. 153 Ebd., Beschluss vom 8. August 1950. 154 Ebd., Zustellungsurkunde vom 5. August 1950. 155 Ebd., Beschluss vom 14. August 1950. 156 Ebd., Verfügung.
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Haftbefehls führte 157. Die Staatsanwaltschaft Hamburg ging hiergegen zwar juristisch vor, wurde aber vom Oberlandesgericht abgewiesen 158. Indessen konnte Kaufmann aber nicht in seine Wohnung zurückkehren. Aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands verblieb er im Lazarett 159. Diese Ereignisse zwischen dem 26. Juli und dem 17. November boten also mehrere Besonderheiten. Nachdem über Jahre hinweg etliche medizinische Gutachten der Ermittlungsbehörden in Bielefeld und Hamburg negativ ausgefallen waren, lag Ende Juli ein positives vor. Die Staatsanwaltschaft handelte umgehend. Doch alle Mühen waren umsonst, da Kaufmann nach knapp zweieinhalb Monaten wieder in Freiheit war. Trotz dieses Rückschlags für die Ermittler lag hiermit keine unbedeutende Episode für Kaufmann persönlich vor. Wie erwähnt existieren keine Quellen darüber, ob er sich bewusst war, wo er inhaftiert gewesen ist. Da er aber Hamburg sehr gut kannte, kann es ihm nicht verborgen gewesen sein. Zudem zeigt das Geschehen, dass die Staatsanwaltschaft am Verfahren dranblieb. Ab Ende August ließ sich Kaufmann wieder vernehmen. Seine Aussagen boten das gleiche Bild wie bereits im Juni. Sie waren äußerst kurz und behandelten oberflächlich seinen Werdegang sowie Einzelfragen zu bestimmten Tathandlungen, derer er verdächtigt wurde. Zwischen Ende August und Anfang Oktober fanden insgesamt 21 (stets kurze) Vernehmungen statt 160. In der Folgezeit war die Staatsanwaltschaft in der Sache Kaufmann unter anderem mit der Anklageschrift befasst. Diese umfasste 73 Seiten und beschuldigte ihn des Verbrechens gegen die Menschlichkeit in konkret zweistellig nachweisbaren Fällen, die sich von seiner Anwesenheit und des Nichthandels bis hin zum aktiven Schlagen von Häftlingen erstreckten 161. Weitere ärztliche Gutachten, die der Verhandlungsfähigkeit nachgehen sollten, gelangten jedoch ausnahmslos alle zu dem Schluss, dass diese nach wie vor nicht gegeben war. Eines der ersten Gutachten nach der Fertigstellung der Anklageschrift ging beispielsweise sogar davon aus, dass Kaufmanns Krankheitszustand definitiv ein „Dauerzustand“ sei 162. Davon waren auch in der Internierungszeit bereits viele Gutachten ausgegangen. Diese Einschätzungen verstummten also nicht. Dennoch sammelte die Staatsanwaltschaft weiterhin Gutachten 163. Gelegentlich tauchte auch noch ein weiterer potentieller Zeuge auf, der vernommen wurde, freilich ohne dass dessen Aussagen neue Erkenntnisse für die Anklage erbrachten 164. Parallel zu dem Fortgang der Ermittlungen konnte Kaufmann aus dem Lazarett nach Hause zurückkehren 165, begab sich allerdings im März 1951 schon wieder in stationäre Behandlung 157 Ebd., Gutachten vom 17. November 1950. 158 Vgl. ebd., Bescheinigung vom 18. November 1950. 159 Dies ist ersichtlich an den Ortsangaben der späteren Vernehmungen, vgl. diese in ebd. 160 Vgl. im Einzelnen die Protokolle in ebd. 161 Vgl. StaHH 213-11, 72425, Anklageschrift vom 1. März 1951. 162 Ebd., Schreiben vom 9. April 1952. 163 Exemplarisch: ebd., Gutachten vom 10. Mai 1952. 164 Exemplarisch: ebd., Protokoll vom 16. April 1951. 165 Vgl. ebd., Post-Zustellungsurkunde.
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nach Bielefeld 166. Im April 1953 erhielt die Behörde schließlich die Information, dass Kaufmann am 27. März schon wieder einen Schlaganfall erlitten hatte 167. Ein Abschluss des gesamten Verfahrens blieb also nach wie vor in weiter Ferne. 1953 ließ die Staatsanwaltschaft ein umfangreiches internes Rechtsgutachten anfertigen, um die Frage zu klären, ob Kaufmann als Gauleiter und Reichsstatthalter für viele der ihn zur Last gelegten Verbrechen überhaupt belangbar wäre. Es ist aus den Akten nicht erkenntlich, warum der Staatsanwaltschaft plötzlich Zweifel aufkamen. Es kann aber vermutet werden, dass das Ende des Spruchgerichtsverfahrens, die Amnestiepolitik der Bundesregierung und nicht zuletzt die immer weitere Hinauszögerung des Verfahrens wegen Kaufmanns mangelnder Gesundheit zu Verunsicherung geführt hat, ob eine Anklage überhaupt noch Sinn ergebe, und ihren Aufwand rechtfertige. Immerhin hatte die Behörde bereits im März 1948 eine Einstellung des Verfahrens erwogen. Das angeforderte juristische Gutachten gelangte jedenfalls zu dem Schluss, dass Kaufmann definitiv belangbar sei. Also blieb Kaufmanns Verfahren weiterhin in der Schwebe, ohne dass in der Folgezeit irgendwelche Fortschritte erzielt wurden. Begünstigt durch die allgemeine Amnestiepolitik und deren (teilweise ungewollte) immer weitere Ausbreitung auf zusätzliche Gruppen 168 wurde schließlich auch dem Ermittlungsverfahren gegen Kaufmann die juristische Grundlage entzogen. Das Ermittlungsverfahren wurde am 12. Juni 1957 eingestellt, die Eröffnung eines Hauptverfahrens abgelehnt und die Kosten für das gesamte Verfahren, die nicht nur wegen der Länge von mehreren Jahren, sondern auch wegen der vielen medizinischen Gutachten äußerst hoch gewesen sein dürften, waren von der Staatsanwaltschaft zu tragen 169. Wie dargelegt, waren solche Einstellungen nichts ungewöhnliches, sondern wegen der Beweisproblematik und der Amnestiepolitik eher „normal“. Kaufmann lag hierbei also im Trend der 1950er Jahre. Eine Episode des Ermittlungsverfahrens in Hamburg muss jedoch noch geschildert werden. Aus den Akten geht hervor, dass Kaufmann und einige seiner Kontaktpersonen im Jahre 1950 zeitweise unter Beobachtung standen. Der Grund hierfür ist in den Akten nicht zu finden. Es ist möglich, dass die Staatsanwaltschaft um einen eventuellen Fluchtversuch besorgt war, denn Mitte 1950 nutzte sie wie erläutert die Gelegenheit eines po166 Vgl. ebd., Schreiben vom 7. November 1951. 167 Vgl. ebd., Schreiben vom 9. Mai 1957. Die Originalauskunft ist nicht mehr vorhanden, aber im zitierten Brief wird hierauf Bezug genommen. 168 Die Amnestiepolitik der Bundesregierung war ursprünglich nicht für Nationalsozialisten konzipiert gewesen. Durch Gesetzeserweiterungen und eine extensive Auslegung der Rechtsgrundlagen durch die Justiz wurden von dieser Vergangenheitspolitik aber nach und nach beinahe alle Personengruppen erfasst. Im Wesentlichen fußte diese Politik auf den Straffreiheitsgesetzen von 1949 und 1954, die eigentlich nur geringe Strafen im Blick hatten, um die ärgsten Ungleichbehandlungen ausgleichen, die durch die ungleichmäßige Praxis der Spruchkammern und Spruchgerichte entstanden war. Zur Amnestiepolitik, ihrer Entstehung, ihren Hintergründen und der Auswirkungen vgl. Frei: Vergangenheitspolitik, S. 25–128. 169 StaHH 213-11, 72425, Beschluss vom 12. Juni 1957. Eine Kostenaufstellung oder sämtliche Rechnungen haben sich nicht erhalten, aber die Summe dürfte nicht unerheblich gewesen sein.
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sitiven medizinischen Gutachten, um Kaufmann unverzüglich verhaften zu lassen. Hierfür spricht auch, dass die Beobachtungen abrupt endeten. Möglich ist auch, dass den Gutachten nicht getraut wurde, was wegen ihrer deutschen und alliierten Provenienz und der umfassenden Quantität aber auf ein erhebliches Misstrauen der Ermittler deuten würde. Teilweise wurde Kaufmanns Alltag minutiös festgehalten und die Staatsanwaltschaft in regelmäßigen Berichten informiert. Ein repräsentativer Auszug aus einem dieser Berichte soll dies verdeutlichen: „10.40 bis 12.37 Uhr befand sich eine unbekannte männliche Person in der Wohnung von Kaufmann, der mit PKW Marke Opel-Olympia BH 30-4838 eintraf und fortfuhr. Von 18 04–19.34 Uhr Prof. Dr. med. Kunstmann [einer der vielen Gutachter] mit einer unbekannten männlichen Person in den Räumen des K. In der Zeit von 16.23–19 04 Uhr erledigte Frau Else Kaufmann per Fahrrad einen Gang in Richtung Duvenstedt und führte hierbei ein Päckchen mit.“ 170
Die Beschattungen blieben aber offenbar nicht unbemerkt. Mehrfach wurde in den Berichten darauf hingewiesen, dass sich Kaufmann und einige seiner Kontaktpersonen der Beobachtung bewusst waren und deshalb teilweise auch ein verändertes Verhalten zeigten 171. Sollte der Zweck der Beobachtungen also darin gelegen haben, eventuelle Fluchtvorbereitungen frühzeitig erkennen zu können, so waren sie durch ihre Entdeckung obsolet. Denn damit wäre Kaufmann vorgewarnt gewesen und hätte seine Fluchtvorbereitungen besser tarnen können oder wäre vielleicht sogar ganz von solchen Plänen abgerückt. Jedenfalls flüchtete er nicht.
6. Politisches „Nachbeben“: „Bruderschaft“ und „Naumann-Kreis“ (1945–1953) „His activity was considerably reduced by ill-health, but he maintained contacts with the leaders of the BHE and FDP (HANNOVER) on behalf of the NAUMANN Circle.“ 1
170 StaHH 213-11, 72427, Bericht vom 16. Juli 1950. 171 Exemplarisch: Ebd., Bericht vom 4. August 1950. 1 NARA FO 371/109564, Bericht vom 14. April 1954. Mit „HANNOVER“ war der Landesverband der FDP in Niedersachsen gemeint. Einer der Autoren des Berichts (der Inhalt des Berichts lässt in Ton und Ausdrucksweise auf mehrere schließen) hatte offenbar die Bezeichnungen für das deutsche Königreich Hannover aus dem 19. Jahrhundert, welches sich zeitweise in Personalunion mit Großbritannien befand, und des fast deckungsgleichen Bundeslandes Niedersachsen miteinander verwechselt.
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Der zitierte Satz stammt aus dem Abschlussbericht des britischen Geheimdienstes zum „Naumann-Kreis“ und seinen Vorläufern und charakterisierte Kaufmanns Wirken dort äußerst zutreffend. Hinsichtlich des politischen „Nachbebens“, welches Kaufmann bis 1953 erlebte, ist von vornherein festzustellen, dass es für Kaufmann nur eine sehr untergeordnete Rolle besaß. Für andere Persönlichkeiten des Nationalsozialismus, die nach dem Untergang des „Dritten Reiches“ wieder versuchten politisch Fuß zu fassen, sah dies anders aus. Während aber Gauleiter wie Florian, Grohé oder Gustav Adolf Scheel oder hochrangige SS-Persönlichkeiten wie Werner Best oder Alfred Six beispielweise im „Naumann-Kreis“ oder zumindest dessen Umfeld aktiv wurden, wurde Kaufmann darin immer wieder von seiner Gesundheitslage „ausgebremst“. Eine tatsächliche Tätigkeit im Umkreis der „Verschwörer“ blieb ihm jedenfalls stets versagt. Deshalb besitzt sein politisches „Nachbeben“ für seinen Werdegang eine sehr viel geringere Bedeutung, als für diejenigen Nationalsozialisten, deren Gesundheit intakt war, und die somit auch Zeit und Aufwand aufbringen konnten, politisch wieder tätig zu werden. Klar ist dennoch, dass Kaufmann politisch wieder wirken wollte, und sich (soweit möglich) darum auch bemühte. Die „Bruderschaft“ war ein kleines, eher loses Netzwerk aus einstigen Nationalsozialisten 2. Schon kurz nach der Kapitulation fanden sich in mehreren Internierungslagern einige Unterstützer und Funktionsträger aus der Zeit des soeben untergegangenen Reiches zusammen. Die „Grundidee“ hinter der „Bruderschaft“ bestand bereits 1945 darin, dass nur ein Zusammengehen der ehemaligen Elite des Nationalsozialismus eine positive Zukunft für das zerstörte Deutschland bilden könne. Ein tatsächliches Programm,
2 Die „Bruderschaft“ wurde bislang stets nur im Zusammenhang mit dem „Naumann-Kreis“ oder allgemein rechtsradikalen und nationalistischen Aktivitäten in Deutschland nach 1945 untersucht. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass die „Bruderschaft“ nur eine kleine, lose Verbindung von Persönlichkeiten war, die aus sich heraus kaum eine funktionsfähige Organisation gründen konnte. Sie war grundsätzlich „nur“ eine von vielen Gruppierungen, die sich aus verschiedenen Gründen der untergegangenen Ordnung verschrieben hatten, aber nie zu wirkungsmächtigen Aktionen voranschritten. Einzelne „aufsehenerregende“ Punkte mögen dagegen sprechen. Diese sind jedoch „auf den zweiten Blick“ weniger extrem. Beispielsweise kann der Umstand, dass aus ehemaligen Waffen-SS-Divisionen insgeheim genügend Mannschaften zusammengebracht wurden, um sich für zwei Bundeswehrdivisionen bereitzustellen, angesichts der Masse an ehemaligen Soldaten des „Dritten Reiches“ und der schieren Größe der Veteranenverbände kaum verwundern. Besonders herausragende Bedeutung hinsichtlich der Untersuchung der „Bruderschaft“ haben jedenfalls die zwei parallel entstandenen, und sich deshalb nicht auf die Ergebnisse des jeweils anderen beziehenden Werke von Trittel, Günter J.: „Man kann ein Ideal nicht verraten...“. Werner Naumann – NS-Ideologie und politische Praxis in der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2013 und Baldow, Beate: Episode oder Gefahr? Die Naumann-Affäre, Berlin 2012. Einen Überblick zu den politischen Entwicklungen rechter Parteien und Gruppierungen Ende der 1940er/Anfang der 1950er Jahre bietet Buschke, Heiko: Deutsche Presse, Rechtsextremismus und nationalsozialistische Vergangenheit in der Ära Adenauer, Frankfurt am Main 2003, S. 59–64, die unterschiedlich erfolgreiche Teilnahme an regulären Wahlen erläutert Pfahl-Traughber, Armin: Rechtsextremismus in der Bundesrepublik, 4. Aufl., München 2006, S. 21–24.
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einen nachhaltigen Plan oder aber zumindest eine ungefähre Marschrichtung wurde hierbei aber nie aufgestellt 3. Alles blieb vage und lose. Kaufmann kam bei der gesamten Verbindung auch keine Initiativfunktion zu (genausowenig wie bei dem Hamburger „Herrenclub“ ehemaliger Hamburger Nationalsozialisten, deren Anhänger weitestgehend deckungsgleich waren, und die sich zu gemeinsamen Diskussionsabenden trafen 4). Erst 1949, nach der Entlassung einiger „Mitglieder“ (von einer Mitgliedschaft zu sprechen ist bei der losen Verbindung nur sehr eingeschränkt möglich) aus der Internierung, fand eine konstituierende Sitzung statt. Bei dieser wurde die „Bruderschaft“ erst wirklich „gegründet“. Zur Leitung der losen Verbindung, die sich aber immerhin einiges vorgenommen hatte, wurde ein sechsköpfiger „Bruderrat“ gewählt. Kaufmann leitete nicht nur die konstituierende Sitzung, sondern übernahm als so bezeichneten „Hochmeister“ auch den Vorsitz des Rats, 5, wenngleich er später gegenüber den Briten behauptete, nicht eifrig engagiert gewesen zu sein 6. Theorie, Konzeption und politische Planung wurden tatsächlich nicht von Kaufmann repräsentiert, sondern von dem als „Kanzler“ fungierenden Alfred Franke-Gricksch 7. FrankeGricksch ist bislang noch nicht ausgiebig erforscht worden, aber bereits die Eckdaten seines Werdegangs zeigen auf, dass er eine recht ungewöhnliche Personalie war. Ursprünglich gehörte er den linken NSDAP-Flügel an und emigrierte 1933 sogar zeitweilig. 1934 kehrte er zurück, wurde schließlich SS-Offizier, ließ sich nach dem Krieg im Internierungslager vom britischen Geheimdienst anwerben, initiierte die „Bruderschaft“ und wurde 1951 während eines Aufenthalts in Ost-Berlin verhaftet und ein Jahr später in Moskau verurteilt sowie hingerichtet 8. Kaufmann kam neben ihm und anderen führenden Köpfen keine wirkliche Funktion zu, wobei es ohnehin schwierig ist, bei einer solch unorganisierten Zusammenstellung einiger Personen von einem richtigen Zusammenschluss zu sprechen. Über die Monate und Jahre hinweg gab es zwar mehrere Treffen im kleineren Kreis und auch unter den Protagonisten einige Besprechungen 9, aber eine Wirkmächtigkeit entfaltete dies alles nicht. Das „Programm“ des „Kanzlers“ Franke-Gricksch zielte unter anderem auf die Infiltration von Parteien und Staat und langfristig auf ein neutrales Deutschland in einem geeinten Europa, welches als dritter Block zwischen Ost und West fungieren sollte, in dem Deutschland die Führungsrolle zuzukommen habe. Bereits 1951 spaltete sich aber die „Bruderschaft“, fand rund ein halbes Jahr später wieder zusammen, war inzwischen durch zahlreiche Presseberichte der Öffentlichkeit oberflächlich bekannt und begann 3 Vgl. Baldow: Episode, S. 34–36. 4 Vgl. ebd., S. 87f. 5 Vgl. ebd. 6 Vgl. NARA FO 371/103904, Bericht vom 12. Februar 1953. 7 Vgl. NARA FO 371/109564, Bericht vom 14. April 1954. 8 Vgl. Alfred Franke-Gricksch, in: Roginskij, Arsenij/Drauschke, Frank/Kaminsky, Anna (Hrsg.): „Erschossen in Moskau…“. Die deutschen Opfer des Stalinismus auf dem Moskauer Friedhof Donskoje 1950–1953, 4. Aufl., Berlin 2020, S. 197–198 [o. A.], hier ebd. 9 Vgl. Baldow: Epidose, S. 34–39.
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durch die Abwendung diverser Persönlichkeiten von ihr auseinanderzufallen 10. Ihre letzten Ausläufer fanden sich im parallel entstehenden „Naumann-Kreis“ wieder, in dem gleichzeitig von seinem Namensgeber noch einige weitere Splittergruppen gesammelt wurden. Wie erwähnt war Kaufmann bei alledem kaum aktiv. Dies lag offenbar an zwei Umständen. Erstens kam die „Bruderschaft“ kaum über das hinaus, was sie von Beginn an war: Eine Splittergruppierung wie viele weitere auch. Eine rege Aktivität entfalteten höchstens einige ihrer Protagonisten. Nicht jedoch Kaufmann, der zwar gelegentlich in solche Aktivitäten involviert (werden sollte), aber größtenteils mit ihnen nichts zu schaffen hatte. Im Wesentlichen beschränkten sie sich auf Anwesenheit und „Dabeisein“. Das „Netzwerken“ zu den politischen Organisationen wie dem BHE, der SRP oder der FDP übernahmen andere. Zweitens, und dies wird zugleich die grundlegende Erklärung für ersteres sein, war Kaufmann sehr krank. Meistens war er bettlägrig oder höchstens für einige Stunden aktiv. In diesem Zustand konnte er gar keine größere Aktivität entfalten. Dies sollte ihm später beim „Naumann-Kreis“ mehrfach im Wege stehen. Der „Naumann-Kreis“, auch als „Düsseldorfer Kreis“ oder „Gauleiter-Kreis“ 11 bezeichnet, war politisch um einiges bedeutungsvoller als solch kleine und mehr lose als feste Organisationen wie die „Bruderschaft“. Dies lag nicht zuletzt an seinem quantitativen Umfang, seiner Zusammensetzung sowie den konkreten Zeitumständen. Der „NaumannKreis“ war um einiges größer und weitverzweigter und hatte sowohl eigene Angehörige als auch Sympathisanten in allen wichtigen konservativen bis rechtsextremen Parteien der frühen Bundesrepublik. Er stand hinsichtlich ehemals führender Nationalsozialisten auf einer viel breiteren personellen Grundlage, und konnte in der Zeit seines hauptsäch-
10 Vgl. NARA FO 371/109564, Bericht vom 14. April 1954. 11 Der Kreis, der auch „Gauleiterverschwörung“ genannt worden ist, kann eigentlich nicht als solcher bezeichnet werden. Denn tatsächlich zählte dieser nur fünf Gauleiter. Vgl. Friedrich: Amnestie, S. 305. Hiervon waren vier nur sehr lose und sporadisch mit Werner Naumann in Verbindung (Florian, Grohé, Kaufmann und Wegener) und lediglich einer trotz persönlicher Animositäten zwischen ihm und Naumann offenbar ein recht aktiver Netzwerker für den Kreis (Scheel). Vgl. Trittel: Ideal, S. 145–147. Die Briten gingen nach der Zerschlagung des Kreises in ihrem internen Abschlussbericht zwar nicht gesondert auf die Gauleiter des Kreises ein. Aber die Einschätzung dieser fünf Personen im Rahmen des Kreises verdeutlicht nochmals, wie unpassend die Bezeichnung „Gauleiterverschwörung“ oder „Gauleiter-Kreis“ ist. Florian, Grohé und Wegener wurden demnach von Naumann nicht animiert mitzuwirken, weil er offenbar um seine Autorität im Kreis besorgt war, wenn diese ranghohen Mitglieder der „NS-Führung“ und „Alten Kämpfer“ neben ihm stünden. Scheel hingegen war offenbar mit besonderem Eifer involviert, weil er einerseits viel Eigeninteresse mitbrachte und andererseits so umfassend vernetzt war, dass er kaum umgangen werden konnte. Kaufmann war ebenfalls sehr gut vernetzt, gleichzeitig aber viel zu krank, um eine ernsthafte Gefahr für Naumanns Führungsanspruch zu werden. Vgl. NARA FO 371/109564, undatierter Bericht.
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lichen Wirkens zwischen 1950 und 1953 bereits enorm von der rehabilitierungsorientierten Vergangenheitspolitik der ersten Bundesregierung profitieren 12. Trotz aller günstigeren Ansätze als noch wenige Jahre zuvor wurde wie schon bei der „Bruderschaft“ und anderen ähnlichen Vereinigungen wurde aber auch aus dem Vorhaben Werner Naumann 13 nichts. Naumann hatte (ähnlich wie die „Bruderschaft“) versucht, rechtskonservative Parteien mit einstigen Führungskräften des Nationalsozialismus zu unterwandern. Im Fokus stand dabei die FDP 14. Als es dem britischen Geheimdienst langsam aber sicher zu sehr in eine potentiell gefährliche Richtung ging, schritten die zu diesem Zeitpunkt noch über einige alliierte Vorbehaltsrechte gegenüber der Bundesrepublik verfügenden Briten ein. Die vermeintlich wichtigsten Köpfe des „Naumann-Kreises“ wurden verhaftet und verhört, Unterlagen und Beweismittel beschlagnahmt, die „Organisation“ damit gesprengt. Gegen die sieben Hauptbeschuldigten um Naumann herum (Kaufmann galt nicht als solcher 15) wurde vor dem Bundesgerichtshof ein Verfahren angestrengt, das aber noch im Sommer 1953 eingestellt wurde 16. Kaufmann war 12 Grundsätzlich zum „Naumann-Kreis“ vgl. die beiden bereits genannten Werke von Trittel: Ideal und Baldow: Episode. Die personelle Konstruktion ist dargestellt bei Tauber, Kurt P.: Beyond Eagle and Swastika. German Nationalism Since 1945, Vol. 2, Middletown 1967, S. 132–146. Hinsichtlich der Vergangenheitspolitik der ersten Bundesregierung, die nicht vollauf identisch war mit der Amnestiepolitik, vgl. allgemein Frei: Vergangenheitspolitik, S. 27–99. 13 Naumanns Werdegang bis zum Kriegsende beleuchtet Walters, Guy: Naumann’s War: The Life of Werner Naumann from 1909 to 1945, 2016 [o. O.]. Die Zeit nach seinem Wiedererscheinen in der Öffentlichkeit 1949 mit Fokus auf die Verschwörung und die ersten Jahre danach bearbeitet das bereits zitierte Werk von Trittel: Ideal. 14 Die FDP war zu diesem Zeitpunkt die aussichtsreichste rechtskonservative Partei, vor allem in Nordrhein-Westfalen, dessen Gewicht als Bundesland in der frühen Bundesrepublik allenfalls mit dem Bayerns vergleichbar war. Zur Rolle der nordrhein-westfälischen FDP in der Integration rechtskonservativer Kräfte während der Zeit der frühen Bundesrepublik vgl. Buchna, Kristian: Nationale Sammlung an Rhein und Ruhr. Friedrich Middlehauve und die nordrhein-westfälische FDP 1945–1953, München 2010, S. 35–195. 15 Mit der eigenen Aufarbeitung war er trotzdem noch Jahre befasst. Während der Verhaftung der anderen Mitglieder des Kreises waren Polizisten auch in Kaufmanns Wohnung eingedrungen und hatten unter anderem Hunderte, wenn nicht gar Tausende Seiten an Unterlagen mitgenommen. Hierunter befand sich auch die offenbar fast fertige Version seiner Memoiren, Korrespondenz mit Nationalsozialisten vor und nach 1945, Oppositionellen vor und nach 1945 und diverse Geschäftspapiere hinsichtlich seines geplanten beruflichen Neuanfangs von 1953. Wegen dieses wirtschaftlichen Schadens, zu dem noch fünfstellige Kosten für Ärzte, Reisen und weiteres während und nach seiner Verhaftung infolge des strafrechtlichen Vorwurfs der Verschwörung kamen, verlangte Kaufmann einen finanziellen Ausgleich. Sein Rechtsanwalt subsumierte die entstandenen finanziellen Aufwendungen und entgangenen finanziellen Einnahmen dabei unter Besatzungsschäden. Die juristische Auseinandersetzung zog sich bis zum Mai 1958, wo sie beim Hamburgischen Oberverwaltungsgericht ihr für Kaufmann negatives Ende fand. Die Unterlagen finden sich in PNKK Ordner Nr. 8. 16 Einen deskriptiven Überblick über den Ablauf der immer wieder als „Verschwörerkreis“ bezeichneten Gruppierung um Naumann gibt Frei: Vergangenheitspolitik, S. 361–395.
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also verhaftet worden, stand dann aber nicht als Beschuldigter vor Gericht. Seine Verortung in dem gesamten Geschehen muss also näher betrachtet werden. Im Wesentlichen waren Kaufmanns Funktionen für den und innerhalb des „NaumannKreises“ auf das „Netzwerken“ beschränkt. Dies ist nicht ungewöhnlich, denn schließlich beruhte das gesamte Konzept Naumanns auf langfristiger Unterwanderung und Infiltration. Dazu bedurfte es auch des Ausbaues von Kontakten jeder Art 17. Kaufmann nahm deshalb an einigen Gesprächen und Treffen teil, die das Netzwerk des „Naumann-Kreises“ langsam, aber stetig anwachsen ließen. Der Nachkriegskontakt zwischen Kaufmann und Naumann ist aus Naumanns Aussagen heraus für den Zeitraum zwischen 1951 und 1953 aber nur auf mindestens drei, eventuell auch vier Begegnungen bezifferbar 18. Zustande kam der Kontakt laut Naumann über Artur Axmann, der schon zuvor ohne politische Ambitionen in Kontakt mit Kaufmann gewesen war 19. Die wenigen Kontaktvermittlungen waren ebenfalls im einstelligen Bereich, wobei durchaus eine Dunkelziffer im niedrigen zweistelligen Bereich möglich erscheint. Hierbei war er beispielsweise 1952 an einer Zusammenkunft in einem Hotel zwischen mehreren FDP-Politikern und einigen ehemaligen Funktionären des „Dritten Reiches“ zugegen, bei dem eine Ablehnung der rechtsextremen SRP deutlich wurde 20. Ein anderes Beispiel aus dem gleichen Jahr ist ein Treffen Kaufmanns mit dem ihm persönlich bekannten BHE-Vorsitzenden Waldemar Kraft, der zu diesem Zeitpunkt stellvertretender Ministerpräsident von Schleswig-Holstein war, und den er an Naumann vermitteln konnte, wie dieser selbst berichtete 21. Auch hier aber ist Kaufmann nicht zweifelsfrei als
17 Der britische Geheimdienst konnte in den konfiszierten Unterlagen von Naumann immerhin mehr als 1000 Personen ausmachen. Vgl. NARA FO 371/103904, Bericht vom 12. Februar 1953. Durch die je nach Kontakt mal festere, mal losere Verbindung zwischen den einzelnen Personen ist eine solche Zahl aber mit Vorsicht zu sehen. Wie viele davon tatsächlich enger oder auch nur bewusst mit dem Kreis verbunden waren und wie viele nicht mit Namen in den Unterlagen auftauchen, ist völlig unklar. Alleine durch die festeren Strukturen wie den Treffen, Korrespondenzen, Infiltrationen und ähnlichem sind diese 1000 Personen aber wesentlich aussagekräftiger als bei der ebenfalls 1000 Personen zählenden, aber nur lose zusammenhängenden „Bruderschaft“. 18 Vgl. BA K B 362, 5768, Vernehmung vom 21. März 1953. 19 Vgl. NARA FO 371/109564, Bericht vom 14. April 1954. Zu Axmann vgl. Schaar, Torsten: Artur Axmann – vom Hitlerjungen zum Reichsjugendführer. Eine nationalsozialistische Karriere, 2 Bde., Rostock 1998. 20 Vgl. BA K B 362, 5768, Vernehmung vom 21. März 1953. 21 Vgl. ebd., Vernehmung vom 17. Juli 1953. Zum Treffen vgl. NARA, FO 371/109564, Bericht vom 14. April 1954. Kraft wurde noch nicht näher untersucht. Er findet bislang höchstens Erwähnung im Zusammenhang mit der Entwicklung seiner Partei. Vgl. etwa Virchow, Martin: Der GB/BHE – ein neuer Parteityp?, in: Lange, Max G.: (Hrsg.): Parteien in der Bundesrepublik. Studien zur Entwicklung der deutschen Parteien bis zur Bundestagswahl 1953, Stuttgart/Düsseldorf 1955, S. 450–467, hier S. 457.
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der treibende Faktor identifizierbar, denn es soll Kraft gewesen sein, der zwecks Kontaktvermittlung auf Kaufmann zugegangen ist 22. Etliche weitere Treffen mit Kraft wurden aber immer wieder abgesagt, da Kaufmanns Gesundheit sie zum jeweiligen Zeitpunkt nicht zuließen 23. Deshalb wurden auch andere Treffen abgesagt, wie mehrere später Vernommene bestätigten 24. Dies zeigt zweierlei Punkte auf: Erstens war Kaufmann wie ausführlich erläutert zwar 1943 von der Kriegsniederlage, vielleicht sogar vom Ende des „Dritten Reiches“ überzeugt gewesen. Sein unmittelbares Mitwirken im Nationalsozialismus war damit stark zurückgegangen. Die Kriegsniederlage verminderte aber nicht seine Haltung zum Nationalsozialismus selbst. Kaufmann hatte sich 1943 von der aktuellen Politik, die den Krieg nicht gewinnen ließ, distanziert, nicht aber von der Ideologie. Zu dieser hielt er auch nach Zusammenbruch des von ihr getragenen Systems des „Dritten Reiches“. Zweitens hieß dies einmal mehr, dass Kaufmann tatsächlich schwer krank war. Es ist zwar ohnehin unwahrscheinlich, dass er es über 13 Jahre hinweg geschafft haben soll, Hunderte Ärzte aller Seiten zu hintergehen, und seinen schlechten Gesundheitszustand nur vorgespielt zu haben. Sein mangelndes Engagement für den „Naumann-Kreis“, wo das Potential seiner weitgespannten Kontakte aus der Zeit vor 1945 offenbar erkannt wurde und genutzt werden sollte, wurde aber immer wieder von seinem Zustand behindert. Dort hätte er keinen Grund gehabt, sich nur krank zu stellen, sodass sich die Einschätzung der Ärzte durch die (Nicht-)Aktivität im „Naumann-Kreis“ abermals verifizieren lässt. Wozu dann überhaupt mit dem „Naumann-Kreis“ weiterhin in Kontakt bleiben? Kaufmann hatte offenbar politische Gründe. Die politische Situation der frühen Nachkriegszeit und auch noch Anfang der 1950er Jahre war in vielerlei Hinsicht offen. Würde vielleicht doch noch ein Krieg der Westalliierten gegen die Sowjetunion ausbrechen, bei dem Deutschland rehabilitiert würde, und mit seiner Kampf- und Wirtschaftskraft ein gern gesehener Verbündeter wäre? Sollte sich die zweite deutsche Demokratie überhaupt lange halten können, wo doch links- wie rechtsradikale Strömungen nicht von vornherein verboten wurden? Erschien ein neutralisiertes Deutschland (ob mit oder ohne Ostdeutschland und Österreich), in dem die Demokraten die Unterstützung der
22 Dies könnte allerdings auch eine Schutzbehauptung gewesen sein, da diese Angabe von Kaufmanns Rechtsanwalt stammt. Vgl. BA K B 362, 5777, Schreiben vom 31. August 1954. Andererseits war Kraft gerade als Dreh- und Angelpunkt rechtsgerichteter Netzwerke bekannt, zudem wurde von seiner Seite aus nicht widersprochen. 23 Darunter beispielsweise ein geplantes Treffen zwischen dem niedersächsischen FPD-Landesvorsitzenden Artur Stegner, Scheel und Kaufmann selbst. Zu den Umständen vgl. Baldow: Episode, S. 141f. Stegner war schon 1931 NSDAP-Mitglied geworden und trat nach dem Krieg noch 1945 der FDP bei. Er wirkte in der Kommunalpolitik und wurde später auch Bundestagsabgeordneter sowie zeitweise Landtagsabgeordneter. Stegner fungierte zudem als Landesvorsitzender der Partei im besonders rechtslastigen Niedersachsen und wechselte 1957 zum GB/BHE. Vgl. Simon, Barbara: Abgeordnete in Niedersachsen 1946–1994. Biographisches Handbuch, Hannover 1996, 366. 24 Exemplarisch: NARA FO 371/109564, Bericht vom 14. April 1954.
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Westalliierten „von oben“ verloren hätten, nicht als ideales Betätigungsfeld für die einstigen Herrscher des „Dritten Reiches“, beziehungsweise für deren Ideologie? Aus solchen Perspektiven gedacht, waren die Ambitionen des „Naumann-Kreises“ nicht von Beginn an unrealistisch, zumindest nicht bis 1953. Kaufmann beteiligte sich also gelegentlich an der Vermittlung von Kontakten zwischen parteipolitisch noch nicht „untergebrachten“ Nationalsozialisten und Politikern der konservativen bis rechtsextremen Parteien in der frühen Bundesrepublik. Ließe sich hierbei eine Präferenz erkennen? Grundsätzlich nur dahingehend, dass er die gleiche Einstellung wie alle anderen vertrat. Demnach sollte etwa der BHE „unterstützt“, also infiltriert und mit ihm zusammengearbeitet werden. Klar abgelehnt wurde die SRP, die von der Forschung oftmals als eine, wenn nicht gar als die entscheidende Nachfolgepartei der NSDAP charakterisiert wurde 25. Der „Naumann-Kreis“ hatte inhaltlich wenig an ihr auszusetzen. Seine Ablehnung war lediglich in der mitunter offen nationalsozialistischen Haltung der SRP 26 begründet, mit der eine staatliche Reaktion geradezu herausgefordert werden musste. Dies konnte nur zu einer Zerschlagung der Organisation führen, so die verbreitete Einschätzung im „Naumann-Kreis“, der eher subtiler und vorsichtiger vorgehen wollte 27. Die FDP war hierbei das „Paradestück“ des Kreises, welches zwar schließlich auch scheiterte, aber zumindest bei den beiden großen Landesverbänden in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen große Fortschritte errungen hatte. Für Gespräche von Angehörigen des Kreises mit FDP-Politikern gab es auch Teilnahmen seitens Kaufmann 28. Die Protagonisten wussten jedenfalls aus ihrer „Kampfzeit“ in der 25 Das zentrale Werk zur SRP bietet Hansen, Henning: Die Sozialistische Reichspartei (SRP). Aufstieg und Scheitern einer rechtsextremen Partei, Düsseldorf 2007. 26 Dazu kam es 1952 schließlich auch. Vgl. hierzu detailliert Will, Martin: Ephorale Verfassung. Das Parteiverbot der rechtsextremen SRP von 1952. Thomas Dehlers Rosenburg und die Konstituierung der Bundesrepublik, Tübingen 2017, S. 347–356. Der „Naumann-Kreis“ scheiterte zwar ebenfalls. Aber dessen Strategie funktionierte immerhin ein Jahr länger, als die der SRP. Mit der Einschätzung des hohen Risikos, welches die SRP mit ihrem offenen Kurs einging, lagen die Mitglieder des „Naumann-Kreises“ also richtig. 27 Vgl. exemplarisch: Baldow: Episode, S. 144. 28 Exemplarisch die Angaben Naumanns über ein Treffen vom Mai 1952 zwischen den FDP-Politikern Friedrich-Georg Brinkmann (NSDAP-Eintritt 1930, höchste Position NSFK-Obergruppenführer), Herbert Freiberger (höchste Position HJ-Gebietsführer in Schlesien) und Horst Huisgen (NSDAP-Eintritt 1931, höchste Position Leiter des oberschlesischen Landesjugend- und sportamtes), an dem neben Kaufmann Axmann, Scheel und der zeitweilige DRP- und DFP-Vorsitzende Kunstmann teilnahmen, in BA K B 362, 5768, Vernehmung vom 29. April 1953. Zu Brinkmann vgl. Glienke, Stefan A.: Die NS-Vergangenheit späterer niedersächsischer Landtagsabgeordneter. Abschlussbericht zu einem Projekt der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen im Auftrag des Niedersächsischen Landtages, 2. Aufl., Hannover 2012, S. 147f.; zu Freiberger vgl. Trittel: Ideal, S. 316; zu Huisgen vgl. Glienke: NS-Vergangenheit, S. 164f.; Kunstmann und Kaufmann waren offenbar ebenfalls bereits im „Dritten Reich“ miteinander bekannt. Kaufmann versuchte im „Dritten Reich“ für Kunstmann einen Lehrstuhl an der Universität einzurichten, was jedoch nicht gelang. Kunstmann ging trotzdem nach Hamburg und übernahm
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Weimarer Republik und der eigenhändigen Unterdrückung politischer Gegner im „Dritten Reich“ genau, wo Vorsicht angebracht war. Mehr als die Aufrechterhaltung und Aktivierung von Kontakten leistete Kaufmann aber nicht für den Kreis 29. Den Grund, warum er nicht selbst in die „erste Reihe“ wollte, also auch konkret selbst einer Partei beitrat und sich in ihr engagierte, war grundsätzlich der gleiche Grund wie bei allen anderen prominenteren Angehörigen des Kreises. Er selbst erläuterte dies im deutschen Gerichtsverfahren gegen den „Naumann-Kreis“. Demnach waren „Kraft und ich uns auch darüber einig, dass bei einer Mitarbeit früherer Anhänger der NSDAP deren erste und zweite Garnitur ausgeschaltet bleiben müsste. Diese dürften nur Leute, die sich um Rat und Auskunft an sie wendeten, entsprechend beraten, aber selbst keine führende Rolle spielen“ 30.
Kaufmanns eigene politische Wirkungsmacht sollte also für den Fall eines Gelingens des Vorhabens des „Naumann-Kreises“ die eines Art Mentors, Beraters oder „Seniors“ sein. Er selbst würde nicht mehr aktiv werden. Wie erwähnt galt dies für alle Persönlichkeiten des Kreises, die im „Dritten Reich“ zur zweiten und dritten, vielleicht gar zur vierten Reihe gehört hatten. Selbst wenn es anders geplant gewesen wäre, dass also zumindest einige der früheren Mitglieder der „NS-Führung“ in einem „Vierten Reich“ wieder aktiv geworden wären, wäre Kaufmann sicherlich keiner von ihnen gewesen. Eine zeit- und nervenaufreibende Tätigkeit ließ seine Gesundheit nicht mehr zu. Wenn also Kaufmann nach Aussagen anderer und seiner selbst kein vollständiges Mitglied des Kreises war, stellt sich die Frage, warum er zu den wenigen Personen des Kreises gehörte, die zu Anfang seiner Enttarnung verhaftet wurden. Es war offenbar weniger die bis zur Verhaftung vorliegenden Informationen, die dazu führten, dass Kaufmann mit auf die Liste der nur sieben zu verhaftenden Personen geriet. Ein interner Bericht des britischen Geheimdienstes über die Vorbereitungen und den Ablauf der Verhaftungen vermerkte zu dem Kreis der Verhafteten folgendes:
eine Klinikleitung. In der Bundesrepublik war er bei der DRP engagiert, zeitweilig gar Bundesvorsitzender und hatte diese Position in ihrer Abspaltung DFP ebenfalls inne. Vgl. zu Kunstmann Grüttner, Michael: Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, Heidelberg 2004, S. 105. Zur kurzlebigen DFP vgl. Stöss, Richard: Die Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher, in: Stöss, Richard (Hrsg.): Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945–1980, Bd. 1. AUD bis CDU, Opladen 1986, S. 310–335, hier S. 311– 314. 29 Selbst im internen Abschlussbericht des britischen Geheimdienstes wurde Kaufmann auf insgesamt (ohne Anhänge) 48 Seiten nur auf fünf überhaupt erwähnt. Vgl. NARA FO 371/109564, undatierter Bericht. 30 BA K B 362, 5667, Vernehmung vom 12. Oktober 1953.
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„The persons concerned were political personalities of some local standing and presented a far more complicated problem than the more routine work of communist research or low level espionage which the Intelligence Organisation were accustomes to handle from the point of view of arrest or interrogation.” 31
Dass Kaufmann in Hamburg einen gewissen lokalen Rang besaß und zugleich durch seine weitreichenden Kontakte dies noch einmal verstärkt wurde, ist klar. Dass er sich dessen allem Anschein nach bewusst war und dementsprechend vorsichtig handelte, also schwieriger zu beobachten war als etwa Kommunisten, ebenfalls. Die in dem Bericht angeführten Gründe können demnach als zutreffend gelten, womit die Motive für Kaufmanns Verhaftung benannt sind. Dass er jedoch die von den anderen an ihn gesteckten Erwartungen mangels ausreichender Gesundheit nicht erfüllen konnte und somit seine Rolle innerhalb des Kreises eher eine untergeordnete war, wurde den Ermittlern aber wie in den vorherigen Absätzen ausgeführt schnell klar. Die Verhaftung selbst lief folgendermaßen ab. Sechs der sieben Personen konnten planmäßig während ihrer Beschattung verhaftet werden, nur bei Kaufmann gab es zeitweilige Probleme. Eigentlich sollte er auf dem Weg von Hamburg nach Düsseldorf zu einem Treffen mit anderen Angehörigen des „Naumann-Kreises“ festgenommen werden, wobei er aber während der Reise nicht beobachtet wurde oder werden konnte. Der Geheimdienst hielt fest, dass „KAUFMANN remained at large. He was now known to have left HAMBURG on 13 Jan for Hannover and was believed to be going to DÜSSELDORF on the 14th. All trains were wachted at DÜSSELDORF during the night of the 14th in case KAUFMANN turned up from the north […]. From the early morning of the 14th Mr. Smith, of the HAMBURG Communications detachements took personal charge of the monitoring of KAUFMANN’s telephone. He remained at his post with Mr. HILL until shortly after 1700 next day, 15th, at which time KAUFMANN, when telephoning his daughter, at last gave a guarded indication of his wherabouts. By 1715 this information had been passed to DÜSSELDORF […] and by 1755 KAUFMANN had been arrested.” 32
Wo das Problem lag, dass Kaufmann seinen Beobachtern bis dahin nicht geradewegs in die Arme lief, ist mangels Quellen unklar. Dass er auf irgendeinem Wege über die gleichzeitigen Festnahmen der anderen sechs Personen und der Konfiszierung des Privatarchivs von Naumann durch jemanden gewarnt wurde, ist unwahrscheinlich. Dafür waren die Kommunikationswege in einem Nachtzug durch das noch im Wiederaufbau befindliche Westdeutschland nicht ausreichend genug. Am wahrscheinlichsten erscheint, dass er den Mitarbeitern des Geheimdienstes nicht auffiel und so unerkannt aus dem Düsseldorfer Hauptbahnhof gehen konnte. Spätestens als er sich mit den anderen Personen wie verabredet treffen wollte, muss er aber gemerkt haben, dass etwas nicht stimmte, 31 NARA FO 371/103904, Bericht vom 10. Februar 1953. 32 Ebd.
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oder aber inzwischen über die Verhaftungen telefonisch informiert worden sein. Es ist aber auch festzuhalten, dass auch wenn Kaufmann seinen Aufenthaltsort durch den Anruf bei seiner Tochter nicht verraten hätte, er sich als schwer kranker Mann ohnehin nicht lange hätte verstecken können. Die Verhaftung selbst erfolgte schließlich „im Hause der Firma ‚Esta-Blech‘ in Düsseldorf […]. Herr Kaufmann stand seit langem mit dieser Firma in Verhandlungen“ 33. Für Kaufmann war die betreffende Firma 1953 eine Chance, in die freie Wirtschaft einzusteigen und damit den beruflichen Neustart zu schaffen. Hierauf wird noch zurückzukommen sein 34. Jedenfalls sollten ihn die Verhaftung und der öffentliche Vorwurf der Verschwörung die Möglichkeit des beruflichen Neubeginns mit ihr kosten. Mit Auseinanderfallen des Kreises, die schon vor der Verhaftung seiner prominentesten Angehörigen (die also nicht deckungsgleich mit seinen Protagonisten waren) einsetzte (Kaufmann konnte nach seiner Verhaftung am 15. Januar 1953 wie in seinen eigenen Ermittlungsverfahren wieder nur in Ansätzen verhört werden, da sein Gesundheitszustand mehr nicht zuließ 35), waren keine größeren Überschneidungen der parteipolitischen Präferenzen innerhalb des Kreises mehr gegeben. Denn Kaufmann soll zwar bis zuletzt für den BHE votiert und unter ehemaligen Nationalsozialisten in seiner Umgebung für ihn geworben haben 36. Da der BHE später als GB/BHE zu den Parteien gehörte, die der Integrationspolitik der Unionsparteien erlagen 37, ist unklar, wohin Kaufmann danach parteipolitisch tendierte. Er selbst trat zwar nach dem Ende des „Naumann-Kreises“ nicht mehr politisch in Entscheidung. Aber dass er als ausdrücklich linker Nationalsozialist, der sich noch im BHE zurechtfinden konnte, seine Interessen in der konservativen CDU Konrad Adenauers gewahrt sah, ist zu bezweifeln. Die FDP rückte zugleich zunehmend von rechts in die politische Mitte. Aber für Kaufmann eventuell ansprechende Splitterparteien gab es weiterhin, deshalb wird er zu den Wahlen wohl am ehesten jeweils zu einer dieser tendiert haben. Hierbei bleibt aber nicht ausgeschlossen, dass sich Kaufmanns Perspektiven auf Wirtschafts- und Sozialpolitik durch seine eigene Tätigkeit als Geschäftsmann ab 1959 verändert haben könnten. Die Episode „Naumann-Kreis“ endete für ihn sehr rasch nach der Verhaftung. Kurz nach seiner Verhaftung erlitt er wieder einen Herzanfall und wurde noch im April entlassen 38. Wegen seines nur geringfügigen Engagements im Kreis, das nunmehr auch die
33 Soweit der Wortlaut in einem Brief seines Rechtsanwalts in einer anderen Angelegenheit. Vgl. PNKK, Ordner Nr. 7, Schreiben vom 20. August 1957. 34 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen im Unterkapitel 7.2. 35 Die „Ausbeute“ der Vernehmungen war für die Briten offenbar enttäuschend, wie aus der Bemerkung im Abschlussbericht über den „Naumann-Kreis“ hervorgeht: „KAUFMANN was removed to hospital before his interrogations could achieve much“. Vgl. NARA, FO 371/109564, Bericht vom 14. April 1954. 36 Vgl. ebd. 37 Zur Sammlung und Einbindung fast aller bürgerlichen Parteien durch die Unionsparteien in den 1950er und 1960er Jahren vgl. Bösch, Frank: Die Adenauer-CDU. Gründung, Aufstieg und Krise einer Erfolgspartei. 1945–1969, Stuttgart/München 2001, S. 139–147 und S. 174–190. 38 Vgl. NARA, FO 371/109564, Bericht vom 14. April 1954.
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Ermittler erkannten, wurde er schließlich außer Verfolgung gesetzt. Nach Abgabe der Angelegenheit von den Briten an die Deutschen gehörte er deshalb auch nicht zu den Angeklagten, sondern wurde lediglich als Zeuge vernommen. Die Ermittler sahen keinen Tatverdacht mehr 39. Wie gezeigt, kann das als zutreffend gelten.
7. Berufliche und finanzielle Situation nach 1945
7.1. Vermögen und Versorgungsansprüche nach dem Zweiten Weltkrieg „Sonstige Vermögenswerte habe ich nicht.“ 1
Soweit Kaufmanns Aussage in einer Vernehmung, nachdem er die wenigen konkreten Eigentümer aufgezählt hatte, die ihm verblieben waren. Viele waren es nicht. Sie sollen hier genauer betrachtet werden. Kaufmann konnte nach der Freigabe des Familienvermögens auf Werte zurückgreifen, die aus unterschiedlichsten Quellen und über die Jahre hinweg zusammengeflossen waren. Dies betraf nicht „nur“ die Reste der erheblichen Summen, die er für seine Amtstätigkeiten erhielt. Ähnlich wie beinahe alle Gauleiter und allgemein die „NS-Führung“ hatte sich auch Kaufmann während des „Dritten Reiches“ teilweise in finanziellen Bereichen bewegt, die scharf an der Grenze zur Illegalität oder Korruption lagen. Bei Kaufmann selbst nahm dies zwar nicht solch exzentrische Ausmaße an, wie es etwa bei Göring mit dem Gut Carinhall voller Kunstschätze der Fall war, bei Goebbels, der sich mehrere Villen unentgeltlich zur privaten Verfügung stellen ließ oder auch bei Ley, der sich von Hitler eine Dotation von einer Million RM erbat und erhielt. Aber auch Kaufmann muss in solchen Zusammenhängen mit aufgezählt werden. Dennoch kam auch der hamburgische Untersuchungsausschuss der Nachkriegszeit, der auf Antrag der SPD nationalsozialistische Korruptionsfälle im Hamburg des „Dritten Reiches“ in den Blick nahm, nicht umhin, Kaufmann „nur“ geringe materielle Bereicherungen bescheinigen zu können. Die für die erste, zweite, dritte und teilweise gar vierte Reihe der „NS-Führung“ bis hin zu den Kreisleitern „klassischen“ Spesen, Reisen, Essen und vor allem umfangreiche alkoholgetränkte Feiern auf Staatskosten wurden teilweise auch bei Kaufmann festgestellt. Mehr jedoch nicht. Dennoch kam der Untersuchungsausschuss zu dem Schluss, „[d]ie schwersten Vorwürfe sind Karl Kaufmann zu machen, 39 Exemplarisch: BA K B 362, 5667, Vernehmung vom 12. Oktober 1953. 1 StaHH 213-11,72424, Protokoll vom 17. Juni 1950.
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denn er ist es schliesslich gewesen, der für die Sauberkeit der hiesigen Verwaltung verantwortlich war.“ 2 Institutionell betrachtet war dies zutreffend, zumindest hinsichtlich der Ober- und Mittelinstanz. Dank seines Herrschaftssytems hatte Kaufmann in diese definitiv vollen Einblick, sodass ihm kaum die Korruptions- und Bereicherungsfälle hätten entgehen können. Das wohl bekannteste, herausragendste und beste Beispiel hierfür dürften die Geschehnisse um den Duvenstedter Brook sein. Kaufmann war zeitweise ein begeisterter Jäger. Als Neu-Hamburger hatte er aber mit einer zentralen Schwierigkeit zu kämpfen: Die eng bebaute Hafen- und Hansestadt war topografisch nicht unbedingt das beste Jagdrevier. Erst die Etablierung von Groß-Hamburg schuf nachhaltige Abhilfe. Unter den ehemals preußischen Gebieten, die nunmehr hamburgisch wurden, waren auch einige sehr ländlich geprägt. Darunter befand sich eine große Waldfläche namens Duvenstedter Brook. Kurzerhand ließ Kaufmann das Gebiet zu einem Naturschutzgebiet umwandeln, hinderte die Bevölkerung durch eine staatlich finanzierte Umzäunung am Betreten und ließ Wild ansiedeln. Anschließend ließ er sich das Naturschutzgebiet zu einem für ihn guten Preis selbst verpachten 3. Zwar verlief dieses Geschäft insgesamt rechtlich betrachtet formal „sauber“ ab, aber die Tatsache, dass Kaufmann als mächtigste Person Hamburgs es vorbereitete, dabei auch noch eine niedrige Pacht zahlte und sich nicht zuletzt als „Mann aus dem Volk mit sozialem Gewissen“ inszenierte und auch als solcher fühlte, kann schnell einen scheinheiligen Eindruck hinterlassen. Dass dieser tatsächlich nur ein Eindruck ist, also nicht die volle Wahrheit widerspiegelt, sollte nach den in der vorliegenden Arbeit bislang aufgezeigten Positionen und Handlungen Kaufmanns deutlich sein. Dennoch zeigt diese Episode, die sich durch einige weitere ergänzen ließe, dass Kaufmann genauso wie beinahe alle Mitglieder der „NS-Führung“ auch eigene Vorteile im Blick behielt und mit seiner Machtposition herbeiführte. Hinsichtlich der Frage nach Kaufmanns Vermögensverhältnissen nach 1945 ist diese Episode aber besonders wichtig, da der Duvenstedter Brook sich nach wie vor in seinen Händen befand. Hamburg versuchte trotz Freigabe des Vermögens um das Pachtgrundstück zu prozessieren. Dies kann nicht weiter verwundern. Erstens ging es um ein Gebiet, dass sich teilweise schon seit 1925, teilweise seit 1939 in Staatsbesitz befand. Zweitens hätte es anderweitig genutzt oder höher verpachtet werden können. Und drittens könnte es ausgerechnet vom früheren Gauleiter und Reichsstatthalter weiter genutzt werden, wenn die Rechtsgeschäfte aus dem „Dritten Reich“ vor Gericht für gültig erklärt werden sollten, was zumindest in erster Instanz auch der Fall war. Gebracht hat das alles der Familie Kaufmann kaum etwas. Wie bei allen ranghohen NSDAP-Politikern griff auch bei ihm nach der Besetzung des Reiches die automatische Sperrung des Vermögens. Für Kaufmann selbst könnte bemerkt werden, dass dies (noch) unproblematisch war, da er sich ohnehin in Internierung befand. Allerdings hatte 2 StaHH 121-3, II, 394, 1. Bericht des von der Bürgerschaft am 6.3.1946 eingesetzten Ausschusses zur Prüfung des Antrages der sozialdemokratischen Fraktion, betreffend Untersuchung nationalsozialistischer Korruptionsfälle. Hervorhebungen im Original. 3 Vgl. Bajohr: Parvenüs, S. 72f.
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er auch noch seine Frau und zwei Töchter. Genau für einen solchen Fall hatte er offenbar vorgesorgt, was ein weiteres Mal darauf hindeutet, dass er den Kriegsausgang schon weit vor 1945 durchaus realistisch einschätzte. Auf Kaufmanns eigenen Bankkonten lagen nämlich nur vergleichsweise geringe Summen. Die größten Summen befanden sich verteilt auf Bankkonten seiner Frau sowie die beider minderjähriger Töchter. Ob es sich tatsächlich um planvolles Agieren handelte, ist aber schwierig festzustellen. In einer eidesstattlichen Erklärung für ihre eigene „Entnazifizierung“ gab Kaufmanns Frau an, dass die Summen auf ihren Konten unter anderem von monatlichen Haushaltsgeldern ihres Mannes (in Höhe von 500 RM), dem Vermögen ihrer Mutter und weiteren Einzelquellen stammten 4. Einen Tag später erklärte sie in einer schriftlichen Ergänzung, dass ihr Mann auch noch für seine Mutter sorgte (inklusive monatlich 500 RM), die Geschwister unterstützte und die Vormundschaft für die drei Kinder einer Schwester übernommen hatte 5. Dies kann alles durchaus zutreffen, wäre aber nur über individuelle Unterlagen der Finanzen von ihr und ihrer Mutter verifizierbar. Wenn es so gewesen sein sollte, steht aber die Frage im Raum, für was die Familie Kaufmann in zwölf Jahren mehr als rund 4600 RM an Einkommen im Monat ausgab, zumal seine Mutter auch noch 1939 verstorben war, also ihre finanzielle Unterstützung bereits sechs Jahre vor der Kontensperrung wegfiel 6. Dass 1947 von Kaufmanns enormen Einnahmen bis 1945 auf seinen eigenen Konten kaum noch etwas existierte, während die Konten seiner Frau noch bei fast sechsstelligen Summen lagen, obwohl seine Konten bereits 1945 gesperrt wurden, lässt Zweifel aufkommen. Die Version von Kaufmanns Frau könnte aber stimmen, wenn jede der Personen, die Kaufmann finanziell unterstützte, einen ähnlich hohen Betrag erhielt wie seine Mutter (Frau, zwei Töchter, eigene Mutter, Schwiegermutter, drei Nichten/Neffen, zwei Brüder, eine Schwester). Das wäre für die 1930er und 1940er ein ungewöhnlicher Luxus gewesen, hätte aber in Sinne des sozialen Hilfe-Gedankens zu den gesellschaftspolitischen Anschauungen Kaufmanns gepasst. Der Hamburger Finanzbehörde jedenfalls, die organisatorisch für die Vermögenssperren innerhalb Hamburgs zuständig war, reagierte hier erst sehr spät. Wahrscheinlich hielt sie es für rechtlich nicht gedeckt, das gesamte Familienvermögen zu sperren, sah Kaufmanns Frau rechtlich nicht als sogenannte „Nutznießerin des Nationalsozialismus“ an und/oder ihr fiel das Gefälle der Betragshöhe zwischen den Konten erst spät auf. Das Vermögen von Kaufmanns Frau wurde jedenfalls erst 1947, zwei Jahre nach der Kapitulation gesperrt 7. Von dem Geld, welches sich auf ihren Konten befand, konnte sie mit den Töchtern bis dahin offenbar akzeptabel leben. Zum Zeitpunkt der Sperrung befanden 4 PNKK Ordner Nr. 16, Eidesstattliche Versicherung vom 15. November 1948. 5 Ebd., Schreiben vom 16. November 1948. 6 BA K Z 42-IV/7172, Protokoll vom 19. März 1948. 7 StaHH 311-3, I, Abl. 1989-305-2-1/354, Band 1, Schreiben vom 22. Juli 1948. Seine Frau erhielt im April von der Bank die entsprechende Mitteilung, vgl. PNKK Ordner Nr. 6, Schreiben vom 11. April 1947.
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sich auf diesen immerhin noch rund 81 000 RM 8. Für die Verhältnisse nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ waren solche Beträge nicht nur enorm, sondern konnten das eigene Überleben inmitten von zerstörten Städten, zu versorgenden Vertriebenen, Rekordwintern, Demontagen, Schwarzmarkt und mangelnden Arbeitskräften entscheidend absichern. Zum Vergleich der persönlichen Finanzsituation sollen auch hier wieder zeitgenössische Summen dienen. Kurz vor der Währungsreform im Juni 1948 verdiente ein männlicher Facharbeiter in der Hamburger Industrie durchschnittlich 49 RM in der Woche. Eine weibliche Hilfsarbeiterin lag im gleichen Zeitraum am gleichen Ort bei durchschnittlich 23,24 RM in der Woche 9, beides zwar brutto, aber bei diesen Größenordnungen musste ohnehin wenig bis gar keine Einkommenssteuer gezahlt werden. Konten mit hohen fünfstelligen Summen bildeten also einen Luxus der sozialen Sicherheit, der dem Großteil der Bevölkerung verwehrt war. Mit der Vermögenssperre war diese Absicherung für Kaufmanns Familie entfallen (bis dahin hatte eine eventuelle „Vorsorge“ also zumindest funktioniert). Für Personen, die der Vermögenssperre unterlagen, bestand jedoch die Möglichkeit, einen anhand der (Kern-)Familienmitglieder 10 zu ermittelnden Betrag monatlich aus dem eigenen gesperrten Vermögen zu erhalten. Bei der Familie Kaufmann waren dies 500 RM. (Selbst die „Soforthilfeabgabe“ der Nachkriegszeit musste aus dem Vermögen des Hofes, konkret in Form des Verkaufs von Tieren, bestritten werden 11.) Der von der Finanzbehörde eingesetzte Treuhänder schrieb hierzu an die Behörde zu seiner Rechtfertigung folgendes: „Die Familie Karl Kaufmann hat nach Massgabe der Bestimmungen des Gesetzes Nr. 52 einen Anspruch auf Unterhaltung ihres Lebensunterhaltes aus ihrem Vermögen bis zur Höhe von 500. – – pro Monat. (Zwei Eheleute und zwei Kinder sowie eine Mutter) Aus Mangel an verfügbaren Mitteln hat zumindest seit der Währungsreform keine laufende Auszahlung an die Eheleute Kaufmann stattgefunden. Es sind nach meinen bisherigen Feststellungen lediglich einige Arzt-Rechnungen einschl. Bethel, die
8 StaHH 311-3, I, Abl. 1989-305-2-1/354, Band 1, Schreiben vom 26. Juni 1947. 9 Zu den entsprechenden Statistiken vgl. Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1952, Stuttgart/Köln 1952. Herausgegeben vom Statistischen Bundesamt, S. 413. 10 Also ohne die Geschwister und Nichten/Neffen, die Kaufmann zusätzlich bis 1945 versorgt haben soll. 11 Die „Sofortabgabehilfe“ war eine direkte Vorläuferin des langfristig angelegten „Lastenausgleichsgesetzes“ von 1952. Hierdurch sollten die finanziellen Verluste von stärker durch den Krieg Betroffenen wie Vertriebene oder „Ausgebombte“ durch weniger stark Betroffene mit größeren Vermögen schrittweise ausgeglichen werden. Das Gesetz wurde und wird immer wieder angepasst und hat bis zum Verfassen vorliegender Arbeit nach wie vor Gültigkeit. Zum Entstehen des „Lastenausgleichsgesetz“ vgl. die Untersuchung von Wenzel, Rüdiger: Die große Verschiebung? Das Ringen um den Lastenausgleich im Nachkriegsdeutschland von den ersten Vorarbeiten bis zur Verabschiedung des Gesetzes 1952, Stuttgart 2008.
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Krankenkassenbeiträge und eine Barauszahlung von DM 150. – – für die Familie Kaufmann geleistet worden. Die Eheleute Kaufmann sind nun in letzter Zeit mit allem Nachdruck dahin bei mir vorstellig geworden, daß sie keine Möglichkeit mehr haben, ihren Lebensunterhalt in der bisherigen Weise ohne Inanspruchnahme ihres Vermögens zu bestreiten und sie infolgedessen darauf bestehen müssten, aus ihrem Vermögen einen laufenden, wenn auch kleinen Zuschuss zu erhalten. Demzufolge habe ich zunächst aus den restlichen Sparkontenguthaben auf Wunsch von Frau Kaufmann DM 500. – – als Auszahlung nach Massgabe des Gesetzes 52 freigestellt. Danach sind die verbliebenen Sparguthaben in Deutscher Mark bis auf […] ca. 600. – – aufgebraucht. […] Um nun den im Gesetz 52 begründeten Unterhaltsanspruch aus dem gesperrten Vermögen […] zu befriedigen, bin ich gewillt, mich damit einverstanden zu erklären, dass der Haushalt Kaufmann […] aus der Wirtschaft des Hofes Duvenstedter Brook gewisse Naturalien, soweit nichts zwangsbewirtschaftet, erhält.“ 12
Wovon Kaufmanns Frau und Töchter bis dahin gelebt hatten, ist unklar. Es muss sich um Bargeldreserven gehandelt haben, aber auch diese waren nach der Währungsreform entweder wertlos oder nur sehr eingeschränkt konvertierbar, da eine größere Bargeldumstellung bei Kaufmanns Frau aufgefallen wäre. (Möglicherweise halfen Freunde und Bekannte beim Umwandeln kleinerer Summen über ihren eigenen Namen.) Zwischen Währungsreform und der zitierten Freigabe der Naturalien im Oktober 1949 lagen aber auf den Tag genau 16 Monate. Am ehesten möglich wäre noch der Rückgriff auf das Geld, welches für die Töchter auf eigenen Konten gespart wurde. Auch der Verkauf von kleineren Eigentumsgegenständen wie Möbeln wird nur eingeschränkt möglich gewesen sein, weil alles größere offiziell gesperrt war und ein „Verschwinden“ (etwa durch den Verkauf) aufgefallen wäre. Mangels näherer Quellen ist diese Frage also nicht bis ins Detail klärbar. Klar ist aber, dass nunmehr wenigstens das unmittelbare Überleben gesichert war. Die Naturalien speisten sich aus Kartoffeln, Milch, Eiern, Geflügel, Wolle, Heu für Kaninchen zur Eigenaufzucht und -schlachtung sowie gar „evtl. auch Fleisch […], sobald hierfür keine Zwangsbewirtschaftung Platz greift.“ 13 Diese Umstände waren für 1949 noch durchaus ungewöhnlich. Sie waren keineswegs mehr luxuriös, aber verglichen mit den Lebensumständen der meisten Hamburger in der Nachkriegszeit definitiv annehmbar 14. Geld zur freien Verfügung blieb jedoch weiterhin aus. 1948 setzte dann auch in den Vermögensverhältnissen Kaufmanns und seiner Familie nach der Sperrung aller übrigen Konten 1947 ein weiterer Höhepunkt ein. Durch die Güterproduktion der „Kommandowirtschaft“ des „Dritten Reiches“ bei gleichzeitiger 12 StaHH 311-3, I, Abl. 1989-305-2-1/354, Band 1, Schreiben vom 21. Oktober 1949. 13 Ebd. 14 Vgl. hierzu detaillierter Wildt, Michael: Hunger, Schwarzmarkt und Rationen – der heimliche Lehrplan der Nachkriegszeit, in: Bajohr, Frank (Hrsg.): Improvisierter Neubeginn. Hamburg 1943–1953, Hamburg 1989, S. 46–55.
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Preisfestschreibung hatte sich langsam aber stetig ein großer Geldüberhang gebildet, der durch die Festschreibungen (noch) nicht in eine Hyperinflation ausarten konnte. Eine Währungsreform war also im Sinne der Wirtschaftsliberalisierung unbedingt notwendig. Mit der Umstellung von Reichsmark auf Deutsche Mark in der Nacht zum 21. Juni 1948 wurde bei Bank- wie Sparguthaben von Privatpersonen nach einem Pauschalabzug von 540 RM zuerst im Verhältnis 100 zu 10 umgestellt, wobei wenig später von den verbliebenen 10 noch 3,5 teils gestrichen, teils umgestellt, teils durch Spar- und Anlagezwang langfristig gesperrt 15. Nominal hieß für die Familie Kaufmann folgendes: Kaufmanns eigene Konten lagen zur Währungsumstellung bei rund 1200 RM, von denen etwas mehr als 120 DM verblieben, bei seiner Frau wurde aus insgesamt rund 60 000 RM knapp 6000 DM und bei beiden Töchtern jeweils der Betrag von knapp 12 500 RM, der auf knapp 1250 DM umgestellt wurde. Da Aktien 1 zu 1 umgestellt werden sollten, blieb das Wertpapierdepot von Kaufmanns Frau in Höhe von 26 500 RM nominell bei 26 500 DM 16. Prozentual betrachtet verloren Sparer und Vermögende also durch die 3,5 Prozent Streichung und Anlagezwang gleich viel, aber in Summen ausgedrückt war dies bei besonders hohen Kontoständen ein in diesem Moment höherer Betrag. Kaufmanns Familie traf dies gleich dreifach, denn während durch die Währungsreform das Vermögen berührt wurde, konnte es wegen der Sperrung zugleich nicht wertsteigernd oder erhaltend angelegt werden. Zudem kam mangels Einkünften nichts neues hinzu. Wie sah es nun mit anderen Vermögenswerten der Familie aus? Kaufmann selbst war nach wie vor interniert 17, seine Familie konnte von Naturalien leben, aber Geld floss dennoch keines. Es gab noch den Duvenstedter Brook inklusive seines Bauernhofes. Dieser war als Vermögen zwar ebenfalls gesperrt und unterstand einem Treuhänder, ließ aber bei rund 20 Hektar Ackerland und rund 51 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche 18 sowie jährlichen Ernteeinnahmen im Wer von rund 6300 DM (Stand 1949) 19 wenigstens für künftige, vielleicht sogar baldige Zeiten hoffen. Sein Zustand war aber offenbar katastrophal. Hierbei bestanden jedoch große Unterschiede. Zur landwirtschaftlich nutzbaren Fläche wurde von einem Gutachter Mitte 1947 unter anderem folgendes vermerkt: 15 Vgl. Sudrow, Anne: Kleine Ereignisgeschichte der Währungsreform, in: APuZ, 68/2018, H. 27, S. 11–16, hier S. 14. Ausführlich zu den Hintergründen vgl. Buchheim, Christoph: Die Währungsreform 1948 in Westdeutschland, in: VfZ, 36/1988, S. 189–231, hier S. 191–222. 16 Vgl. StaHH 311-3 I, Abl. 1989-305-2-1/354, Band 1, Schreiben vom 15. Oktober 1949. 17 Da er während der Internierung selbst nur eingeschränkt gegenüber dem Treuhänder in Erscheinung treten konnte, bevollmächtigte er unter der Hinzuziehung eines offenbar für wichtig erachteten Rechtsbeistandes seine Frau zur Interessenwahrnehmung. Vgl. PNKK Ordner Nr. 6, Abschrift Vollmacht vom 28. August 1946. 18 StaHH 311-3 I, Abl. 1989-305-2-1/354, Band 1, Provisorischer Jahresabschluss für das Wirtschaftsjahr 1948/49. Hervorhebungen im Original. 19 Ebd., Schreiben vom 2. Oktober 1949.
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„Die Wiesen und Weiden sind sowohl im Sommer 1946 wie im Frühjahr 1947 – wenn überhaupt – nur sehr ungenügend gepflegt worden. Die Räumung der Gräben ist mangelhaft und gab seitens der Anlieger […] Grund zur Beschwerde. Seit 2 Jahren sind die Gräben überhaupt nicht geräumt worden. Arbeitskräfte sind genügend vorhanden. Die Umfriedung der Weiden ist nur zu einem geringen Teil durchgeführt worden. […] Die Moorwieden konnten im Frühjahr 1947 nicht gewalzt werden […]. Es fehlt also allgemein an der Pflege der Wiesen und Weiden, wodurch Versauerung und Verschlechterung eintritt. […] Von den 20,4 ha Ackerland sind 15 […] in einem unvorstellbar verque[c]kten Zustand. […] Unzweifelhaft bestehen hier auch Schäden im Drainagesystem […]. Die Verunkrautung […], die 75 % […] beträgt, ist so [ungewöhnlich] gross“ 20. Anders sah es hingegen bei den Gebäuden aus, zu denen Ende 1949 vom Treuhänder gegenüber der Finanzbehörde vermerkt wurde: „Gebäude und bauliche Anlagen sind in befriedigendem Zustand und den Wirtschaftshaushalt entsprechend angepasst. – Dachreparaturen sind im Jahre 1948 aus Mitteln der Wirtschaftskasse ausgeführt [worden]. – Der Anstrich der Holzteile ist allgemein nachzuholen. – Die Verglasung und Verkittung der Fenster erfolgt noch vor dem Winter“ 21.
Warum der Zustand so ambivalent ausfiel, ist unklar. Es könnte aber spekuliert werden, dass die Mitarbeiter des Hofes angesichts des langen Rechtsstreits, der Internierung Kaufmanns, den sie immerhin persönlich kannten, und der Treuhänderschaft durch staatlich bestellte Wirtschaftsprüfer (die unter Umständen nur wenig Berührungspunkte mit der Landwirtschaft besaßen) weniger effizient arbeiteten. Wie hoch war nun der Wert des Hofes, um den sich das Land Hamburg und Kaufmann noch jahrelang stritten? Eine eigens beauftragte Sachverständigenkommission begutachtete den Hof unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten und fertigte eine Liste an, deren „Werte […] nach den gegebenen Richtlinien dem heutigen Verkehrs- und Gebrauchswert [entsprechen]. (Heutiger Einkaufspreis abzüglich Abschreibung bezw. Abnutzung)“ 22. Schon der Tierbestand machte acht Ponys, mehrere Pferde, sowie diverse Schafe, Hühner, Kühe, Schweine und rund 20 Rotwilde verschiedener Arten aus. Hinzu kam das Anlagevermögen in Form von Geschirren, Werkzeugen, einem (offenbar großen) Stall, einem Schlachtraum, mehreren Schuppen, einer Scheune, einem Speicher und diversen Vorräten wie Heu. Alleine das Gesamtinventar wurde auf rund 50 000 DM geschätzt. Kurz danach brannte aus ungeklärten Gründen allerdings ein Teil des Hofes ab, wobei das Inventar, nicht aber die Gebäude versichert waren 23. Der Brand könnte aber Zufall gewesen sein, denn einen Profiteur gab es hierbei nicht. Der Pachtvertrag war zum Oktober hinausgelaufen, von einem Versicherungsbetrug hätte also Kaufmann nichts 20 Ebd., Gutachten vom 16. Mai 1947. 21 Ebd., Schreiben vom 7. Oktober 1949. 22 Ebd., Schreiben vom 8. Dezember 1949. 23 Ebd., Gutachten vom 10. November 1949.
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gehabt. Hamburg selbst hätte ebenfalls nichts dadurch gewonnen, da die Hansestadt den Hof weiterzuführen gedachte, wenn der Pachtvertrag endet. Nachdem nunmehr also auch der Hof begutachtet worden war und Hamburg weiterhin darauf pochte, dass die Kauf- wie Pachtverträge aus dem „Dritten Reich“ ungültig seien, Kaufmann aber trotz Vermögenssperre nach wie vor auf dem Gegenteil beharrte, machte der Treuhänder zuletzt noch kurz vor Weihnachten des Jahres 1949 einen Vergleichsvorschlag. Denn mit einer „vergleichsweisen Verständigung der Parteien [würde] dem Gesamtinteresse aller Beteiligten am besten gedient“ werden 24. Es ging um nicht geringe Summen. Wenn die Pachtverträge, die Hamburg mit Kaufmann geschlossen hatte, im Ernstfall für ex tunc ungültig erklärt worden wären, hätte Hamburg Schadensersatz verlangen können. Wie hoch dieser ausgefallen wäre, lässt sich nur grob und annäherungsweise schätzen. Insgesamt zahlte Kaufmann ab dem Wirtschaftsjahr 1941 jährlich 1000 RM an Pacht, zwischen dem Halbjahr 1944/1945 und dem Auslaufen des Pachtvertrags zum Halbjahr 1949/1950 betrug sie jährlich 3970 DM 25 (denn in der Währungsreform wurden auch Mieten und Pachten 1 zu 1 umgestellt). Die Ernteeinnahmen lagen wegen des durchwachsenen Zustands des Hofes im schlechten Wirtschaftsjahr 1949 „nur“ bei den erwähnten rund 6300 DM. Eine effizientere Hofhaltung hätte höhere Einnahmen zur Folge gehabt. Eine höhere Pacht wäre also je nach Entscheidung des Gerichts angemessen gewesen. Diese hätte Hamburg dann von Kaufmann verlangen können. Selbst wenn dies „nur“ 1000 DM pro Pachtjahr gewesen wären, hätte die zurückzuzahlende Summe bei neun Jahren Pacht 9000 DM betragen. Deshalb kam die außergerichtliche Verständigung mit dem simplen Auslaufenlassen des Pachtverhältnisses für alle gerade recht: Das leidige Thema war erledigt und die finanziellen Risiken beider Seiten sowie das Prozessieren beseitigt. Im ambivalenten Zustand des Hofes war er jedoch ein schwieriges Thema für das Land Hamburg. Der Senat hatte Einsicht in die Finanzlage des inzwischen überschuldeten Hofes, dessen Lage intern mit einer schlechten Führung erklärt wurde 26. Gerade die Treuhänder waren aber hochgradig zermürbt von der Dauerauseinandersetzung, der sie von zwei Seiten ausgesetzt waren. Sie sollten einerseits für den Eigentümer (Hamburg) und den Pächter (Kaufmann) eine möglichst effiziente Hofführung gewährleisten (was ihnen neben ihren eigentlichen Aufgaben ohnehin schwer genug fallen musste), während sie andererseits ständige Auseinandersetzungen mit Kaufmanns Frau hatten. In der gesamten Zeit von 1945 bis 1950, in der für Kaufmanns Vermögen die Sperre bestand, waren für den Hof nicht weniger als drei Verwalter und für die Kassenverwaltung sogar acht Treuhänder verwendet worden. Einer von ihnen klagte einmal der Finanzbehörde sein Leid, indem er einen Brief von Kaufmanns Frau und seine eigene Antwort hierauf zur Kenntnis weitergab: 24 Ebd., Schreiben vom 13. Dezember 1949. 25 Ebd., Schreiben vom 19. Dezember 1950. 26 Vgl. StaHH 311-3 I, Abl. 1989-305-2-1/354, Band 2, Drucksache vom 27. Februar 1950.
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„Jedoch […] kann auch ich beim besten Willen nicht mehr geben, als ich habe, und es erübrigt sich daher meines Erachtens, laufend Forderungen an mich zu stellen, die ich nach Massgabe, wie Sie genau wissen, einfach nicht erfüllen kann.“ 27
Nachdem der Pachtvertrag zum 1. Oktober 1949 ausgelaufen war, blieb die Angelegenheit für den Senat „politisch heikel“. Der Senat war sich darüber im Klaren, dass es sich hierbei um ein formal vielleicht gültiges, aber für die Zeitgenossen trotzdem irritierendes Geschäft handelte 28. Auf der anderen Seite war der Hof offenbar spätestens 1950 finanziell in eine völlige Schieflage geraten, sodass er ein Zuschussgeschäft wurde: Der „Hof ist illiquide. Zur Weiterführung [stehen] […] keinerlei eigene Mittel zur Verfügung.“ 29 Dies könnte durchaus mit dem Brand von Ende 1949 zusammenhängen, wobei dies aus den erhaltenen Quellen nicht ersichtlich ist. Am Wegfall der Pachteinnahmen lag es jedenfalls nicht, denn trotz kritischer Hofführung nach 1945 hatte dieser stets Gewinne abgeworfen. Für Kaufmann hatte sich jedenfalls auch der Hof im Duvenstedter Brook damit endgültig erledigt. Einige Jahre später tauchte noch ein bis dahin unbekanntes Konto des Hofes auf, welches offenbar sämtliche Verwalter und Treuhänder bis dahin übersehen hatten. In der Finanzbehörde wurde kurzum entschieden, es Kaufmanns auszuzahlen, da es noch aus der Pachtphase stammte. Die Höhe ist unbekannt 30, aber mit diesem Nachspiel endete Kaufmanns letzter Ausflug in die Landwirtschaft, nachdem er als junger Mann schon in dieser aktiv gewesen war. Die Finanzbehörde stand hinsichtlich weiterer Vermögenswerte vor der einen oder anderen Einzelfrage. Beispielsweise waren ihre Mitarbeiter auf Kaufmanns Dienstsitz als Reichsstatthalter aufmerksam geworden, dessen Inventar wegen des Bombenkrieges evakuiert worden war. Dieser Spur gingen sie nach und kamen zu einem für sie äußerst unbefriedigenden Ergebnis: „Kaufmann lagerte während des Krieges einen Teil der Sachen, die in seinem bezw. im Eigentum seiner Ehefrau standen, nach dem Stadtgut Alt-Erfrade aus. Ausserdem lagerte er im Reichseigentum stehende Sachen, sich sich in einem Dienstsitz in Hamburg […] befunden hatten, dorthin aus. Diese Sachsen müssen als endgültig verloren betrachtet werden. Die angestellten Ermittlungen haben zu widersprechenden Auskünften von Bekannten und Angestellten der Liegenschaftsverwaltung geführt […]. Angeblich sollen die Sachen teils von einer britischen Dienststelle in Segeberg, teils von einem deutschen Polizeikommando abgeholt worden sein. Nach einer anderen Darstellung sollen sie an Bedürftige verteilt worden sein, soweit sie nicht von Polen
27 StaHH 311-3 I, Abl. 1989-305-2-1/354, Band 1, Schreiben vom 26. September 1949. 28 Vgl. StaHH 311-3 I, Abl. 1989-305-2-1/354, Band 2, Drucksache vom 27. Februar 1950. 29 Vgl. ebd., Vermerk vom 15. Juni 1950. 30 Vgl. ebd., Schreiben vom 22. Januar 1954.
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entwendet worden sind, wobei es sich vermutlich aber um nur um kleinere Sachen handeln dürfte.“ 31
Es könnte durchaus sein, dass das betreffende Inventar (auf dem Schwarzmarkt) verkauft wurde oder aber es sich tatsächlich auf die vielen Auskünfte verteilte, wobei letzteres sehr unwahrscheinlich ist. Im letzterem Fall wären Vermögenswerte der Familie und des Staats zugunsten verschiedener Gruppen abhanden gekommen, im ersteren Fall hätte Kaufmanns Frau bis zur Währungsreform über zusätzliches Bargeld verfügt. Korrespondenz aus Kaufmanns Nachlass nach zu urteilen, handelte es sich aber tatsächlich um ein völliges Abhandenkommen des Inventars, ohne dass die Familie hiervon noch etwas hätte an sich nehmen können. Eine interne Aktennotiz eines von Kaufmanns Frau herbeigezogenen Wirtschaftsberaters, also eine nicht für die Öffentlichkeit bestimmte und vergleichsweise verlässliche Quelle, führte unter anderem folgendes aus: „Am 3. September 1947 war ich zusammen mit Frau Kaufmann auf dem Hof der Stadt Hamburg, Gut Erfrade, um uns nach dem Verbleib der s.Zt. Von Frau Kaufmann dort eingelagerten Möbel zu erkundigen. Der Gutsverwalter […] erklärte, dass keine Möbel mehr vorhanden seien. Wir setzten uns daraufhin mit dem Wachmeister […] der Polizei in Blunk/Holstein in Verbindung, der uns mitteilte, dass die Möbel im Jahre 1946 bezw. 1947 durch die Engländer fortgeschafft worden seien. Der Wachmeister ist bei der Entnahme zugegen gewesen. Die Fortschaffung der Sachen erfolgte auf Veranlassung des Capt. Basclow von der engl. Sicherheitspolizei in Verbindung mit dem Dolmetscher eines Franzosen Chrialle. Der Rest der Möbel von Frau Kaufmann ist im Januar 1947 angeblich durch die Stadt Hamburg lt. einer Frau Kaufmann [bekannt] gewordenen Mitteilung verteilt worden. […] Es fragt sich, ob nicht die Stadt Hamburg bezw. der verantwortliche Beamte hierfür regresspflichtig gemacht werden kann, da die Stadt die Möbel, die mit ihrem Wissen dort eingelagert waren, nicht herausgeben durfte, wenigstens nicht ohne Quittung.“ 32
Das Inventar war also definitiv fort, ohne dass es unter die Vermögenssperre fallen und damit wiederbeschafft oder zumindest in Form von Schadensersatzansprüchen hätte geschätzt und ersetzt werden können. Gab es noch andere Vermögenswerte? Wie dargestellt war Kaufmann ab 1943 von einem Waffenstillstand oder einer Kriegsniederlage überzeugt. Zeit hätte er also theoretisch genug gehabt, um Vermögenswerte unauffällig „für die Zeit danach“ zu verschieben und zu tarnen. Zumindest bei den Bankkonten hatte er dies wie erläutert eventuell betrieben, was zumindest bis zur Sperrung der Vermögenswerte seiner Frau 1947 über 31 StaHH 311-3 I, Abl. 1989-305-2-1/354, Band 1, Schreiben vom 31. Januar 1949. 32 PNKK Ordner Nr. 6, Abschrift Aktennotiz vom 16. September 1947.
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zwei Jahre hinweg funktioniert hatte. Tatsächlich aber hatte Kaufmann anderweitig wenig bis gar nicht vorgesorgt. Es gab einigen Privatbesitz, wie etwa zwei „KdF-Wagen“ (was für die 1940er schon ein gewisser Luxus war) und das übliche Wohnungsmobiliar. Insgesamt aber gab es keine größeren Vermögenswerte. Kaufmann hatte weder Immobilien angehäuft, noch Unternehmen aufgekauft oder sich privat im größeren Stile an den „Arisierungen“ bereichert. Die Finanzbehörde, die immerhin ganz genau hinsah, fand nichts dergleichen 33. Andere Quellen legen nichts gegenteiliges nahe. Dies könnte „auf den ersten Blick“ erstaunen, zumal die Zielsetzung der Alliierten (Ausschaltung des Nationalsozialismus und Unschädlichmachung seiner Träger) vor der Kapitulation gut bekannt war. Allerdings würde ein solches, in der Verwendung von Finanzen eher zurückhaltendes Verhalten durchaus zu Kaufmanns politischen Anschauungen passen. Das Vorurteil des „Goldfasans“ mochte auf die meisten Gauleiter zutreffen, aber auf einige eben auch nicht. Kaufmann war mit einer vergleichsweise schlichten Lebensweise nicht der einzige. Forster als Gauleiter Danzig-Westpreußens beispielsweise verfügte über ungewöhnlich hohe Einkommenssummen, die im Gegensatz zu den verschiedenen Einkommensquellen der meisten anderen Mitglieder der „NS-Führung“ nicht miteinander verrechnet wurden. Er besaß eine relativ kleine „Villa“, einen „standesgemäßen“ Sommersitz (angeblich von Hitler persönlich entworfen und als Geschenk vermacht) sowie ein gehobeneres Wohnhaus. Aber Prunk- oder Geltungssucht lag in seinem eigenen alltäglichen Verhalten trotzdem nicht vor, vielmehr galt es als eher bescheiden 34. Einer dieser Gauleiter war also auch Kaufmann. Es könnte vermutet werden, dass Kaufmann vergleichsweise vorsichtig bei persönlichen Bereicherungen vorging. Ihm dürfte noch deutlich vor Augen gestanden haben, dass seine politische Karriere 1928 auf dem Kipppunkt stand. Hitler hatte gegen Kaufmanns persönliche Bereicherungen im Gau Ruhr selbst zwar nicht eingegriffen. Aber sie bildeten den Ausgangspunkt zu Hitlers Handeln, als die persönlichen Intrigen der dortigen „Politischen Leiter“ (also nicht nur Kaufmanns, sondern auch und gerade Kochs und Josef Wagners) den Gau zu sprengen drohten. Hitler immer erst dann gegen seine Gauleiter ein, wenn deren Handeln seinem eigenen zu sehr schadeten. Die Absetzung von Streicher in Franken 1940 ist das vielleicht anschaulichste Beispiel. Streicher wurde erst abgesetzt, als seine Korruption die Rüstungspolitik zu stark behinderte 35. Ansonsten ließ Hitler seinen „Führern der Provinz“ freie Hand, auch wenn er nicht immer erfreut über das Gebaren so mancher „Gaufürsten“ war. Es ist jedenfalls auffallend, dass Kaufmann auf ein Gauleitergehalt in Hamburg verzichtete und „nur“ von seinen Abgeordnetendiäten lebte. Später kamen die Reichsstatthalterbezüge hinzu, aber die Bezüge als Bürgermeister lehnte er ab. Wie gezeigt blieb es bei Reichsstatthalter- und Abgeordnetenbezügen, und selbst der Duvenstedter Brook war eine ungewöhnliche und nicht repräsentative Ausnahme für Kaufmanns Verhalten in Finanzfragen. 33 Vgl. StaHH 311-3 I, Abl. 1989-305-2-1/354, Band 1, Schreiben vom 31. Januar 1949. 34 Vgl. Schenk, Dieter: Hitlers Mann in Danzig. Albert Forster und die NS-Verbrechen in DanzigWestpreußen, Bonn 2000, S. 189f. 35 Vgl. Hüttenberger: Wandel, S. 200f.
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Vielleicht aber sah Kaufmann auch einfach keine Möglichkeit mehr nach 1943 noch unauffällige und formal „saubere“ Vermögensverschiebungen im größeren Stil zugunsten der eigenen Person durchzuführen. Denn es ist durchaus auffällig, dass andere Mitglieder der „NS-Führung“, die sich ebenfalls ab einem gewissen Zeitpunkt über den Kriegsausgang im Klaren waren, ebenfalls keine Gelder oder Immobilien mehr organisierten. Für den Kölner Gauleiter Grohé beispielsweise kann festgestellt werden, dass er wohl spätestens ab September 1944 von einem baldigen Einfall ins Reich durch die Alliierten ausging 36. Trotzdem lebte seine Familie nach 1945 von Erspartem, bis es 1949 aufgebraucht war. Von „Vorsorge“ also keine Spur. Am anderen Ende des Reiches sah es kaum anders aus. Ostpreußens Gauleiter Koch beispielsweise hatte bis zum Ende den „Endkampf“ propagiert und persönlich zwischen Überzeugung vom „Endsieg“ und Untergangsstimmung gependelt. Als er schließlich in Richtung Westen floh, hatte aber auch er nichts für den Notfall einer Kriegsniederlage vorbereitet, und das obwohl er mit seiner „Erich-Koch-Stiftung“ durchaus als einer der finanzkräftigsten Gauleiter gelten kann 37. Für eine quantitative Auswertung fehlen noch zu viele Untersuchungen über die Nachkriegsfinanzen der Gauleiter, aber Einzelfälle wie Kaufmann, Grohé oder Koch scheinen zumindest unter den überlebenden Gauleitern eine Richtung anzudeuten. Im Rahmen der Behandlung von Kaufmanns „Entnazifizierung“ wurde bereits erläutert, dass er bei seiner offiziellen Internierungsentlassung 1948 (die wie dargestellt faktisch nur ein Wechsel ins Krankenhaus bedeutete) vorsorglich in die dritte Belastungskategorie der „Minderbelasteten“ eingeordnet worden war. Als im Rahmen der Vergangenheitspolitik der ersten Bundesregierung die „Entnazifizierung“ bis auf die erste und zweite Kategorie der „Hauptschuldigen“ und der „Belasteten“ ersatzlos gestrichen worden war, konnte sich Kaufmann hierauf berufen und die Freigabe seines gesperrten Vermögens verlangen. Nur zwei Wochen nachdem der Bundestag das Gesetz beschlossen hatte, beantragte einer von Kaufmanns Rechtsanwälten die entsprechende Aufhebung der Treuhänderschaft und die Freigabe des Vermögens 38. Die staatlichen Stellen widersprachen dem aber mit dem Argument, dass Kaufmann noch nicht „entnazifiziert“ sei im Sinne des Gesetzes, da er noch nicht endgültig, sondern nur vorläufig kategorisiert worden war, wie Kaufmanns Rechtsanwalt ihm zur Kenntnis gab 39. Selbst bis dahin waren aber bereits zwei weitere Monate vergangen.
36 Vgl. Meis: Grohé, S. 69. 37 Vgl. Meindl: Koch, S. 466. Zu Kochs Stifung, die von allen Gauleiter-Stiftungen wohl die mit Abstand vermögendste war vgl. Rohrer, Christian: Vom Wachstum der Erich-Koch-Stiftung. Ein nationalsozialistischer Mischkonzern und die „Arisierung“ der „Ersten Ostpreußischen Bettfedernfabrik“, in: Peltzing, Christian: Vorposten des Reichs. Ostpreußen 1933–1945, München 2006, S. 77–112. 38 PNKK Ordner Nr. 6, Schreiben vom 24. Mai 1950. 39 Vgl. ebd., Schreiben vom 24. Juli 1950.
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Ein anderer Rechtsanwalt in Diensten Kaufmanns versuchte es im Winter 40 mit einem neuen Anlauf, indem er der Rechtsauffassung der betreffenden staatlichen Stellen entschieden widersprach, unter anderem mit dem Argument, „[d]ass ein Entnazifizierungsverfahren […] noch nicht durchgeführt ist, steht dem [Freigeben des Vermögens] nicht entgegen. Auch bei einer im ungünstigsten Falle erfolgenden Einstufung in Kategorie III könnte eine Vermögenssperre nicht mehr angeordnet und daher auch keine Treuhandschaft eingerichtet bezw. beibehalten werden. Die Aufhebung der Treuhandschaft über das Vermögen Frau Kaufmann’s ist einmal eine notwendige Folge der Aufhebung der Treuhandschaft über das Vermögen von Herrn Kaufmann; zum anderen ist sie geboten im Hinblick darauf[,] dass Frau Kaufmann als von den Entnazifizierungsmassnahmen [von den zuständigen Stellen] nicht betroffen erklärt worden ist.“ 41
Dass Kaufmann nachträglich doch noch höher eingestuft werden würde, zumal in den amnestiegeprägten frühen 1950er Jahren, ist tatsächlich höchst unwahrscheinlich. Dies umso mehr, als dass die alliierten Stellen 1948 bei Kaufmanns Einstufung ausdrücklich erklärt hatten, ein Aufrollen des „Entnazifizierungsverfahrens“ sei ihrerseits nicht in Aussicht genommen. Wenige Tage nach dem Jahreswechsel konnte Kaufmanns Rechtsanwalt vermelden, dass ihm mündlich mitgeteilt wurde, eine Aufhebung der Sperre sei unmittelbar bevorstehend 42. Die Treuhänderschaft wurde zum 3. Februar 1951 offiziell aufgehoben 43, für die nachfolgende Aufhebung der Vermögenssperre sind keine Unterlagen erhalten geblieben, aber da es sich nur noch um Formalia (wenngleich um einige solcher) handelte, dürfte diese nicht lange danach erfolgt sein. Ein Kuriosum sei hierbei noch erwähnt: Kaufmanns „vorläufige“ Kategorisierung von 1948 war mit dem Abschluss seines „Entnazifizierungsverfahrens“ von keiner praktischen Bedeutung mehr. Der zuständige Staatskommissar für die „Entnazifizierung“ wies in seinem Brief an Kaufmann vom Januar 1951, in dem er ihm offiziell die Beantragung der Entsperrung seines Vermögens mitteilte, noch darauf hin, dass die „Entnazifizierung“ mit dem entsprechenden Gesetz vom Mai 1950 beendet worden sei. Somit sei „die provisorische Einstufung in Kategorie III endgültig geworden.“ 44 Aus Gründen der 40 Sein vorheriger Rechtsanwalt war zwischenzeitlich hauptberuflich in den Staatsdienst gewechselt, sodass sich die monatelange Verzögerung höchstwahrscheinlich daraus erklären wird. Zum angekündigten Wechsel vgl. ebd. 41 Ebd., Schreiben vom 19. Dezember 1950. 42 Ebd., Schreiben vom 29. Dezember 1950. 43 Ebd., Schreiben vom 7. Februar 1951. 44 PNKK Ordner Nr. 16, Schreiben vom 17. Januar 1951. Die bereits erläuterten Folgen einer Einstufung in die Kategorie III wurden Kaufmann dann auch formal mitgeteilt, allerdings erst nach einem (wahrscheinlich verwaltungstechnischen) Vorlauf von 15 weiteren Monaten. Vgl. ebd.,
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Rechtssicherheit hielt es der Staatskommissar beziehungsweise seine Mitarbeiter offenbar für angebracht, hierauf hinzuweisen, zumal selbst nach dem offiziellen Ende der „Entnazifizierung“ in Mai 1950 noch mehr als ein halbes Jahr um Kaufmanns Kategorisierung korrespondiert worden war. Am Ergebnis änderte dies zwar nichts mehr. Aber Kaufmann ist hierbei eines von vielen individuellen Beispielen, wie chaotisch die „Entnazifizierungen“ ablaufen konnten, von der zugleich gesellschaftliche, politische und ökonomische Teilhabe am Zeitgeschehen abhingen. Eine Frage stellt sich im Rahmen von Kaufmanns Nachkriegsfinanzen aber noch. Wie sah es mit finanziellen Ansprüchen gegenüber der Bundesrepublik aus? Wie darlegt waren die Jahre ab 1947 immer stärker von einer amnestieorientierten Vergangenheitspolitik bestimmt. Dies betraf nicht zuletzt auch Ansprüche von Personen, die wegen der „Entnazifizierung“ ihre Anstellung ohne finanziellen Ausgleich verloren hatten. Zugleich kann anhand der finanziellen Dimensionen der einzelnen Berufsstationen die Frage geklärt werden, ob und wenn ja, welche Renten- und Pensionsansprüche Kaufmann bis zu seinem Einstieg in die freie Wirtschaft 1959 erworben hatte. Die bereits geschilderten Bemühungen, Schadensersatz für Haft, Beschlagnahmungen und entgangene Gewinne vom Senat zu erhalten, fallen nicht hierunter. Denn diese waren einerseits gescheitert und andererseits nur als Einmalzahlungen und/oder befristete Schadensersatzsummen in Form außergerichtlicher Vergleiche angestrebt worden. Erstens also nachfolgend zu finanziellen Ausgleichsleistungen gegenüber dem Staat. Eine zentrale Rolle hatte hierbei das vom Bundestag (erst) 1951 beschlossene Ausführungsgesetz zum Artikel 131 des Grundgesetzes von 1949. Ursprünglich sollte es Personen erfassen, die vor der Kapitulation des „Dritten Reiches“ am 8. Mai 1945 im Beamtenverhältnis standen und danach entlassen wurden sowie Personen, die wegen ihrer Tätigkeit im „Dritten Reich“ keine (staatliche) Einstellung mehr erhielten. Solche Personen mussten nach erfolgtem Antrag in ihre alte Position aufgenommen werden oder, wenn dies aus sachlichen Gründen nicht möglich war, lebenslange Versorgungsansprüche gewährt werden, bis sie wiederverwendet werden könnten 45. Die Gerichte weiteten Schreiben vom 15. April 1952. Tatsächlich aber zog sich die „Entnazifizierungsfrage“ noch etwas weiter hin, ohne allerdings Folgen für Kaufmann zu zeitigen. Offenbar seitens des Senats wurde erörtert, ob Kaufmann noch über die Kategorisierung hinaus belangt werden könne, etwa durch ein Wiederaufrollen des Verfahrens, da die Kategorie III nicht angemessen sei. Kaufmanns Rechtsanwalt war mit dieser Angelegenheit noch Jahre befasst, bis die getätigten Entscheidungen bestätigt und der Rechtsweg erschöpft war. Vgl. hierzu die diversen Unterlagen in PNKK Ordner Nr. 16. Das Ansinnen war grundsätzlich von Beginn an wenig aussichtsreich, da juristisch betrachtet die „Entnazifizierung“ allgemein beendet worden war, Kaufmann eine endgültige Kategorisierung erfahren hatte, und die Rechtsgrundlagen der gesamten „Entnazifizierung“ keine nachträglichen Änderungen (oder im Falle Kaufmanns Verschärfungen) ermöglichten. Es ging offenbar vor allem um politisch motivierte Aversionen des Nachkriegssenats. 45 Schon an der ungewöhnlichen Länge des Gesetzestextes lässt sich die hohe Komplexität der vielen Einzelfragen der Thematik erkennen, zumal das Ausführungsgesetz noch über mehr als vierzig Jahre hinweg mehrfach abgeändert wurde, etliche Durchführungsverordnungen und
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die konkreten Personengruppen mit der Zeit aber immer weiter aus, sodass bald ein erheblicher Großteil an Entlassenen in den Anwendungsbereich des Gesetzes fielen, darunter auch hochrangige Nationalsozialisten, wenn sie nicht gerade in den Kategorien I oder II „entnazifiziert“ worden waren 46. Da Kaufmann als Reichsstatthalter und zeitweiser Bürgermeister zwischen 1933 und 1945 sowohl im beamtenrechtlichen Staatsdienst gestanden hatte, als auch „nur“ in der Kategorie III „entnazifiziert“ worden war, stand ihm die Möglichkeit eines Antrags auf Versorgung durch Wiedereinstellung (was schon theoretisch wegen des Wegfalls der Reichsstatthalter und der demokratischen Vergabe der Bürgermeisterposition nicht möglich war) oder alternativ durch eine ab April 1951 zahlbare Rente offen. Wie aber schon deutlich wurde, waren gerade die hamburgische Finanzverwaltung sowie der hamburgische Senat nach 1945 äußerst kritisch im Umgang mit Kaufmann, sodass sich die Klärung verschiedener Rechtsunsicherheiten wie dem Duvenstedter Brook über Jahre hinzogen. Offenbar war Kaufmann deshalb nicht daran gelegen, bei beiden Institutionen für weiteres Aufsehen zu sorgen. Es liegen zwar keine Dokumente vor, aus denen zweifelsfrei hervorginge, dass er die finanziellen Versorgungsansprüche nicht genutzt hat und nicht nutzen wollte. Aber es ist tatsächlich davon auszugehen, dass Kaufmann die enormen Summen, die er im Falle seines Antrags erhalten hätte (er erhielt als Reichsstatthalter schließlich 3000 RM im Monat), nicht beanspruchte. Das eine oder andere zeitgenössische Dokument legt dies ebenfalls nahe. Ein Beispiel unter mehreren ist ein Brief seines Rechtsanwalts aus dem Jahre 1956. In diesem schreibt er mit Bezug auf eines der laufenden Verfahren zwischen Kaufmann und Hamburg um Schadensersatz an die Gerichtskasse Hamburg gerichtet, er bitte, „die meinem Klienten aufgegebenen Kosten in Höhe von 812,70 DM bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts in der gleichen Sache zu stunden. Mein Klient ist nicht in der Lage, diesen Betrag zu zahlen. Er wird gegen das [vorherige] Urteil des Landesverwaltungsgerichts Hamburg umgehend Berufung einlegen.“ 47
Hätte Kaufmann die Versorgungsansprüche genutzt, die ihm juristisch zustanden, hätte sein Rechtsanwalt wohl eher nicht um eine Stundung von rund 800 DM bitten müssen. Selbst wenn es taktische Gründe welcher Art auch immer gegeben hätte, die Kosten vorerst zu stunden, auch wenn sie im geforderten Moment zahlbar gewesen wären, wäre die Gerichtskasse spätestens nach einer Überprüfung der finanziellen Situation der Sache auf die Spur gekommen. Es hätte also keinen Sinn gehabt, sich eigens Aufwand mit Vollzugserlasse erfuhr und wie erwähnt von Gerichten verschiedenster Instanzen immer weitgehender ausgelegt wurde. Vgl. BGBl. 1951/I, S. 307–322. Allgemeines zum zeitgenössisch nicht unumstrittenen Hintergrund des Artikels 131 liefert Friedrich: Amnestie, S. 272–281. 46 Vgl. Frei: Vergangenheitspolitik, S. 93–100. 47 PNKK Ordner Nr. 7, Schreiben vom 2. November 1956.
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einer Bitte um Stundung über seinen Rechtsanwalt zu machen, wenn dafür nicht irgendein äußerst ausgefallener Grund vorlag. Zweitens ist zu Kaufmanns Finanzfragen zwischen 1945 und 1959 noch nach den „regulären“ Renten- und Pensionsansprüchen zu fragen. Auf solche hätte er (nach Abschlägen wegen seines Alters, die eventuell mit seiner Krankheitssituation hätten ausgeglichen werden können) unter Umständen auch zugreifen können. Als Soldat und Freikorpsangehöriger standen Kaufmann Pensionen zu, auch wenn es sich „nur“ um die Jahre 1917 bis 1919 sowie zwei kurze Einsätze in den 1920ern handelte. Für seinen Flugzeugunfall hätte Kaufmann zudem eventuell zusätzliche Ansprüche geltend machen können 48. Von 1920 bis 1926 hatte er wie dargestellt nur gelegentliche Einkünfte, etwa als Arbeiter in Oberbayern. Über die Höhe lässt sich zwar nichts herausfinden, aber bei den zeitgenössischen Löhnen für ungelernte Arbeiter dürfte auch nur wenig an Rentenansprüchen zusammengekommen sein. Das als Gauleiter des Gaues Ruhr von 1926 bis 1928 verdiente Geld befand sich ebenfalls in einer Höhe, die nicht zu größeren Rentenansprüchen führte, zumal es sich nur um wenige Jahre handelte. Für das Land- und Reichstagsmandat erhielten die zeitgenössischen Abgeordneten noch keine Altersversorgungsansprüche 49. Kaufmanns weitere Funktionen waren nicht mit zusätzlichen Einnahmen und auch nicht mit weiteren Renten- oder Pensionsansprüchen versehen. Isoliert betrachtet erwarb Kaufmann also stückweise immer mal wieder Rentenansprüche, die einzeln betrachtet keine hohe Summe ausmachen konnten, aber immerhin mehr als nichts waren. Vor allem Ansprüche aus der Verletzung während seiner Ausbildungszeit für den Kampfeinsatz im Ersten Weltkrieg hätten je nach Schwere durchaus eine dreistellige Summe ausmachen können. Aber auch diese nutzte er offenbar nicht. Die hamburgische Finanzverwaltung, die bei ihm immerhin ganz genau hinsah, führte auch dahingehend keine entsprechenden Einkünfte auf.
7.2. Kaufmann wird Geschäftsmann (1959–1969) „Senior unserer Firma“ 49.
Wie so viele andere Gauleiter, die den Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ und nachfolgende Gerichtsverfahren überlebten und/oder irgendwann wieder in Freiheit leben konnten, versuchte auch Kaufmann den Einstieg in die freie Wirtschaft. Dies war nicht
48 Dies durch das „Reichs-“ (RGBl. 1920, S. 989–1020) und in Nachfolge dessen dem „Bundesversorgungsgesetz“ (BGBl. 1950, S. 791–806). 49 Auf bundesdeutscher Ebene wurden diese erst 1968 eingeführt, und das auch nur ex nunc, vgl. BGBl. 1968/I, S. 334–338. Preußen existierte nicht mehr, und für eventuelle Versorgungsansprüche von Mandatsträgern gegenüber dem preußischen Staat hatten seine Rechtsnachfolger keine Regelung geschaffen. 49 Dies war die Beschreibung Kaufmanns in einer seiner späteren Todesanzeigen. Vgl. die Todesanzeigen in HA, 22 (1969), H. 284.
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„nur“ ein neuer Berufsabschnitt für Kaufmann, sondern zugleich auch eine gänzliche Umstellung. Denn sein früheres Berufsleben war geprägt gewesen von den begonnenen Ausbildungen, den Unterbrechungen durch den Ersten Weltkrieg und die Freikorps sowie die Gelegenheitsarbeiten danach. Kontinuität bot beruflich betrachtet erst die Zeit ab 1925, in der er hauptamtlich für die Partei tätig wurde. Im Rahmen des Wirkens für die Partei übte er dabei zahlreiche weitere Tätigkeiten aus, die vom Gauleiter bis hin zum Reichskommissar für die Seeschifffahrt reichte. Und so viel Verantwortung diese Tätigkeiten bedeuteten, und so viel Arbeit sie beinhalteten, und so viel er darin auch wirkte: Sie waren grundlegend anderer Natur als eine wirtschaftliche Berufsausübung. Sie waren geprägt von Verwaltung und Organisation, auch wenn hierbei die Frage der Finanzen nie untergeordnet war. Für die Partei musste Kaufmann die Finanzen im Blick behalten, Impulse geben, stritt sich im Ernstfall auch mit der Reichsleitung in München über die (Nicht-)Abführung von Mitgliedsbeiträgen, musste die Einnahmen durch Veranstaltungen, Spenden und Verkäufe den Ausgaben durch Propagandamaterial, Redner, Mieten und Personal halbwegs gleichhalten. Da es aber um das Politische ging, also das Erreichen politischer Vorstellungen, war nie ein Gewinnstreben vorhanden. Das gleiche lässt sich für seine staatlichen Funktionen ab 1933 feststellen. Wie erwähnt behielt Kaufmann den hamburgischen Haushalt im Blick, versuchte Arbeitnehmer wie Arbeitgeber im Sinne seiner Sozialismuskonzeption einander anzunähern und nicht zuletzt Sozialpolitik zu betreiben, ohne dabei aber das finanziell Mögliche aus den Augen zu verlieren. Auch hier ging es aber nicht um Gewinnstreben, sondern die Verwirklichung politischer Ideen durch das Handeln des eroberten Staats. Gänzlich anders musste ein Blick auf eine Tätigkeit in der freien Wirtschaft aussehen. Gewinnstreben um des (Über-)Lebens willen, also mehr Einnahmen als bloße Ausgaben, waren damit gefragt. Wirtschaftlich aktiv wurde Kaufmann schließlich ab 1959 in zwei Bereichen, die äußerlich getrennt, tatsächlich aber zusammenhängend waren. Der bereits mehrfach erwähnte Wolff, der als Gauwirtschaftsberater die zentrale Rolle bei den „Arisierungen“ in Hamburg inne hatte, und 1948 aus der Internierungshaft entlassen wurde, gründete 1955 in Hamburg eine Versicherungsagentur, die seinen Namen trug (ein solch offenes Vorgehen in der Nachkriegsöffentlichkeit für die ehemals führenden Nationalsozialisten war eher eine Ausnahme). Jedenfalls wurde Kaufmann 1959 Teilhaber eben dieser Versicherungsagentur namens „Dr. Otto Wolff Versicherungen KG“. Wie viel Kaufmann hierbei tatsächlich am „Tagesgeschäft“ teilnahm, ist mangels Quellen nicht klärbar, aber schon krankheitsbedingt wird es sich in gewissen Grenzen gehalten haben. Zumindest Wolff soll jedenfalls nur aus dem Hintergrund heraus gewirkt, wenig
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Expertise vom Versicherungswesen, und eben dieses „Tagesgeschäft“ den fachlich geeigneten Mitarbeitern (drei: einer Sekretärin und einem Ehepaar 50) überlassen haben 51. Für Kaufmann dürfte also ähnliches angenommen werden, sodass grundsätzlich von einer stillen Teilhaberschaft auszugehen ist. Wie aber kam es zu Kaufmanns Engagement? Die Versicherung wurde 1955 ins Leben gerufen, und bereits für das gleiche Jahr ist ein Interesse Kaufmanns an einem Eintritt in das Unternehmen seines einstigen Weggefährten nachweisbar. Problematisch war dabei aber Kaufmanns Kategorisierung als „Minderbelasteter“, wegen der er in einer bis zu drei Jahre dauernden Bewährungszeit keine leitende Position in der Privatwirtschaft übernehmen durfte. Das Ende von Kaufmanns „Entnazifizierung“ ist mit dem Januar 1951 datierbar, aber offenbar ging Kaufmann sicherheitshalber vom letztgültigen Endbescheid vom Sommer 1954 aus, als er von einem Rechtsanwalt juristisch prüfen ließ, ob ein Eintritt in die Versicherung als Partner gegen seine Auflagen verstoßen würde. Bei einer Bewährungszeit von bis zu drei Jahren hätte er erst Mitte 1957 wieder eine leitende Position einnehmen dürfen. Die Antwort auf die Prüfung fiel aber positiv aus, da, so die Einschätzung des Rechtsanwalts, die Versicherung kein Großunternehmen darstellte, von dessen leitender Position aus ein ehemaliger Nationalsozialist solcherlei Einfluss hätte, dass er unter die Bestimmungen der „Entnazifizierungsgesetze“ fiele 52. Auch schon vor dem Herbst 1955 hatte Kaufmann beruflich einen Einstieg in die freie Wirtschaft versucht, wie aus einer Klage von seinem Rechtsanwalt in Angelegenheiten um Schadensersatz und andere Fragen rund um den „Naumann-Kreis“ hervorgeht. Hierin wurde betont, dass „[d]urch die Inhaftierung […] die ihm zugesagte und bereits vereinbarte Generalvertretung von Erzeugnissen der Firma Establech, Düsseldorf, für den gesamten norddeutschen Raum“ verloren gegangen war 53. Gründe wurden hierfür keine weiteren angeführt, aber die 50 Soweit die dankenswerte Auskunft von Herrn Horst Röstel gegenüber dem Verfasser. Dieser war bis 1997 der erste Leiter der nach der Übernahme durch die „Götte Gruppe“ zu einer Zweigniederlassung umfunktionierten Versicherung Wolffs. 51 Soweit die dankenswerte Auskunft von Herrn Claus Marcus Götte gegenüber dem Verfasser. Die „Götte Gruppe“ übernahm über eine Bank 1976 schließlich die in Konkurs geratene Versicherung. Kaufmann lebte zu dieser Zeit nicht mehr, und Wolff hielt sich bei der Übernahme offenbar zurück und kam mit den neuen Eigentümern nicht mehr in Kontakt. Über Wolffs Vergangenheit war sich zu diesem Zeitpunkt keiner im Klaren. Dies ist nicht auf das Unternehmen zurückzuführen, sondern schlicht auf den Umstand, dass Wolffs Wirken und Handeln als Hauptverantwortlicher der hamburgischen „Arisierungen“ im „Dritten Reich“ erst durch Forschungen in den 1990er und den 2000er Jahren der Öffentlichkeit bekannt wurde. Erst hiernach wurde Wolffs Vergangenheit im „Dritten Reich“ deutlich. Vgl. zu Wolff Bajohr: Arisierung, S. 177. Dass Wolff im nationalsozialistischen Hamburg eine wie auch immer definierte Rolle spielte, wurde intern erst nach der Übernahme 1976 durch Geschäftspartner anderer hamburgischer Versicherungen bekannt. Auch hierbei war aber genaueres nicht klar. Soweit die dankenswerte Auskunft von Herrn Horst Röstel gegenüber dem Verfasser. Welche Rolle genau Wolff gehabt hatte, war also zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal der Forschung klar. 52 PNKK Ordner Nr. 16, Schreiben vom 24. September 1955. 53 PNKK Ordner Nr. 8, Klage.
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Rufschädigung scheint ausschlaggebend gewesen zu sein. Denn bei der auf Stahl spezialisierten „Establech“ handelte es sich um eine Tochter des „Flick-Konzerns“, dessen Gründer und jahrzehntelanger Leiter im Rahmen des nach ihm benannten „Flick-Prozesses“ wegen der Verstrickungen des Unternehmens im „Dritten Reich“ bereits einiges an negativer Erfahrung in dem Bereich mitbrachte 54. Kaufmanns erster beruflicher Anker nach dem Krieg war also erst die Versicherung seines einstigen Weggefährten Wolff. Das Geschäftsfeld der Versicherung bestand in der Absicherung der Bauvorhaben eines Bauunternehmens. Hier wird es kompliziert. Denn dieses Bauunternehmen war die in Hamburg aktive „Geffah mbh & Co., Hamburg“, die eine Tochtergesellschaft der „Unternehmensgruppe Dr. Koppe“ darstellte. Die Unternehmensgruppe verfügte über zeitweise sieben Tochtergesellschaften mit bis zu 403 Mitarbeitern (Stand 1964). Sie war in der Bau- und Immobilienbranche aktiv, und baute im Zuge des Wiederaufbaus nach dem Krieg Wohnraum. Die Hamburger „Geffah“ (es gab noch eine Mainzer und Holsteiner gleichen Namens) wies laut Eigenangabe der Unternehmensgruppe 1965 einen Wert von knapp 300 000 DM auf 55. Ausgerechnet Kaufmann war es, der diese Tochtergesellschaft seit 1959 von Beginn an aufbaute und bis zu seinem plötzlichen Tod Ende 1969 führte. Als Gesellschafter war er dabei (als Kommanditist) an der Unternehmensgruppe neben insgesamt fünf weiteren Gesellschafter mit 15 000 DM beteiligt, wobei alleine 210 000 des mit 300 000 DM ausgewiesenen Kommanditkapitals in den Händen zweier Koppes lag. Das Eigenkapital soll sich in der Bilanz zum 31. Dezember 1964 auf knapp 7,2 Millionen DM belaufen haben 56. All die genannten Angaben sind mangels erhaltener Unterlagen nicht mehr verifizierbar, sollten aber allesamt zutreffend sein. Denn die Zeitgenossen (insbesondere aus Wirtschaft und Presse) hätten die verschiedenen Angaben der zitierten Publikation von 1965 über das Handelsregister oder auch die solchen Summe zwingend öffentlichen Jahresabschlüsse überprüfen können. Dadurch wären Fehler bekannt geworden und hätten angesichts der Zusammenarbeit von privater Wohnungsbaugesellschaft und öffentlichen Auftragsgebern bei vielen Projekten für ein größeres Echo gesorgt. Dies wäre ein enormes Risiko für das Geschäft gewesen. Dazu ist aber nichts auffindbar. Solch eine Rufschädigung durch übertriebene Zahlen zu riskieren, wäre sehr gefährlich gewesen. 54 Vgl. zur „Establech“ als Tochterunternehmen Frei, Norbert/Ahrens, Rüdiger/Osterloh, Jörg/ Schanetzky, Tim: Flick. Der Konzern. Die Familie. Die Macht, München 2010, S. 561–563. 55 Vgl. hierzu die Eigenangabe in einer Publikation anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Unternehmensgruppe Die Entwicklung der Unternehmensgruppe, in: Zur Wohnungswirtschaft in unserer Zeit. Ein Bericht anläßlich des 10jährigen Bestehens der Unternehmensgruppe Dr. Koppe und Co. KG, Mainz, S. 135–157 [o. A.] [o. H.] [o. O.], hier S. 135 und S. 141. Auf die Frage nach der Wahrhaftigkeit dieser Angaben wird noch eingegangen. 56 Vgl. eBd. Die Bilanz ist in stark gekürzter und zusammenfassender Form dort ebenfalls abgedruckt, vgl. Erläuterungen zum konsolidierten Jahresabschluß 1964, in: Zur Wohnungswirtschaft in unserer Zeit. Ein Bericht anläßlich des 10jährigen Bestehens der Unternehmensgruppe Dr. Koppe und Co. KG, Mainz, S. 149–155 [o. A.] [o. H.] [o. O.], hier S. 152–155.
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Die bereits zitierte Jubiläumspublikation der Unternehmensgruppe machte auch Angaben zu den einzelnen Tochtergesellschaften, darunter auch der „Geffah“ Kaufmanns. Die „Geffah“ für Schleswig-Holstein soll zudem die gleiche Struktur besessen haben inklusive der gleichen Gesellschafter, nur dass sie einen Tag früher gegründet wurde und ihren Sitz in Kiel hatte. Die Hamburger „Geffah“ wurde demnach am 9. Januar 1960 gegründet und wies anfangs ein Kommanditkapital von 200 000 DM auf 57. „Der Gesellschaftervertrag des Unternehmens erlaubt alle Geschäfte eines freien Wohnungsunternehmens. Die Tätigkeit der Gesellschaft erstreckt sich zunächst hauptsächlich auf die Erstellung von Kaufeigenheimen und die Betreuung fremder Bauherren. Ihr Geschäftsbereich umfaßt das Gebiet der freien und Hansestadt und das Land Niedersachsen.“ 58
Das haftende Kapital lag 1964 bei 300 000 DM, wobei die Kommanditisten sich auf sechs verteilten. 195 000 DM hielt die Unternehmensgruppe selbst, womit sie über eine Zweidrittelmehrheit des Kapitals verfügte und auf die Personalie der Geschäftsführung einwirken konnte. Neben zwei kleineren Einlagen von je 7500 gab es neben Kaufmann zwei weitere Personen, die mit 30 000 DM beteiligt waren 59. Hochpolitisch war dabei einer der beiden. Dieser kam aus Hamburg und hieß Wilhelm Tegeler 60. Wilhelm Tegeler hieß auch einer von Kaufmanns Kreisleitern in Hamburg, der ebenfalls in der Bundesrepublik als Unternehmer tätig wurde 61. Es lässt sich kein Identitätsnachweis erbringen, aber ein Zufall dürfte äußerst unwahrscheinlich sein. Wer dabei von wem profitierte ist mangels genauerer Quellen aber unklar. Die zeitgenössische Publikation vermerkt folgende weitere Details zur Unternehmensgruppe und ihrer Struktur: „Das Gesamtbauvolumen erreichte Ende 1964 den stattlichen Betrag von 424 Mill. DM, davon rd. 317 Millionen DM (75 %) Eigenheimmaßnahmen. Das sind die Herstellungskosten für die Errichtung von 9769 Wohneinheiten. Allein das Geschäftsjahr 1964 schloß mit einer Bausumme in Höhe von 81 Millionen DM ab, das laufende (also im Bau befindliche) Programm des Jahres 1965 umfaßt 1 700 Wohneinheiten mit Herstellungskosten von rd. 135 Millionen DM. Zum Stichtag des Abschlusses 1965 wird die Halbmilliardengrenze also mit Sicherheit überschritten. Die Entwicklung war etwas unterschiedlich. Am Anfang überwog eindeutig der Mietwohnungsbau, während schon seit 1961 der Bau von Eigenheimen dominiert.
57 Unternehmensgruppe, S. 141. 58 Ebd., S. 141. 59 Ebd. 60 Vgl. ebd., S. 135. 61 Vgl. Lohalm, Uwe: „…anständig und aufopferungsbereit“. Öffentlicher Dienst und Nationalsozialismus in Hamburg 1933 bis 1945, Hamburg 2001, S. 31.
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[…] Im ersten Geschäftsbericht 1958 wurde eine Bilanzsumme von 103 Millionen DM ausgewiesen, 1964 sind es bereits 247 Millionen DM.“ 62
Kaufmann war also in zwei beziehungsweise drei Unternehmen involviert. Einerseits in die Hamburger sowie Schleswig-Holsteiner „Geffah“, andererseits in die „Dr. Otto Wolff“. Der Versicherungsbestand der „Dr. Otto Wolff“ bezog sich fast ausschließlich auf Gebäudeversicherungen, die von der „Geffah“ gebaut wurden. Dies waren Eigentumswohnungen sowie Einfamilienhäuser, aber teilweise auch ganze Straßenzüge mit Wohnhäusern 63. Als Geschäftsprinzip diente folgendes komplizierte, aber ökonomisch durchdachtes Vorgehen: Die Unternehmensgruppe investierte Geld (das offenbar zumindest teilweise extern geliehen wurde) in den Bau von Wohnungen, für die es in der Zeit des Wiederaufbaus in den 1950er und 1960er Jahren eine solch enorme Nachfrage gab, dass der Verkauf meistens noch vor Bauabnahme erfolgen konnte. Bei dem Verkauf der Immobilien durch die „Geffah“ musste von den Käufern die jeweils von „Geffah“ und Versicherung abgeschlossene Gebäudeversicherung mit einer Mindestlaufzeit von zehn Jahren mitübernommen werden. Die Versicherung von Wolff hatte hierbei beinahe keinen Aufwand, da der gesamte Bauprozess (Grundstücke, Bauanträge, Bau sowie Abnahme) von der Unternehmensgruppe und mit ihr zusammenarbeitenden Firmen übernommen wurde. Wenn ein Verkauf stattfinden sollte, wurden die benötigten Unterlagen einfach von der „Geffah“ unterschriftsreif an die Versicherung weitergeleitet. Selbst wurden keine Geschäfte akquiriert. Wolffs Versicherung hatte also keine höheren Eigeneinlagen und Vorinvestitionen zu tätigen, und lebte von den Prämien der vermittelten Versicherungen 64. Auf zehn Jahre waren damit vertraglich Einnahmen gesichert, und so lange der „Bauboom“ anhielt, war eine Stagnation unwahrscheinlich. Selbst über die ersten
62 Unternehmensgruppe, S. 141f. 63 Zwar liegen keine umfassenderen Unterlagen mehr der Unternehmensgruppe vor. Aber die bereits zitierte Publikation zur Feier des zehnjährigen Bestehens präsentierte 1965 einige der Großprojekte sowie diverse Einzelprojekte mittlerer Größe. Die schiere Masse an Projekten der erst zehn Jahre zählenden Unternehmensgruppe lässt trotz des Fehlens konkreter Zahlen die finanzielle Größe erkennen, darunter Großbauvorhaben der Bundesregierung, die von der Unternehmensgruppe durchgeführt wurden. Die insgesamt acht Tochtergesellschaften waren jeweils auf einen geografischen Bereich konzentriert, sodass sie sich keine Konkurrenz machten. Großprojekte wurden laut der genannten Publikation unter anderem durchgeführt in Form von großflächigen Siedlungen in Eutin (Schleswig-Holstein), Köln (Nordrhein-Westfalen), Marbach (Baden-Württemberg), Stift Altenholz (Schleswig-Holstein) und Wuppertal (Nordrhein-Westfalen). Das wohl bekannteste Großprojekt dürfte eine Siedlung in Bergisch-Gladbach (Nordrhein-Westfalen) sein, die zeitgenössisch besonders populär wurde, da in ihrem Rahmen die sechsmillionste Neubauwohnung im westdeutschen Nachfolgestaat nach dem Krieg zwischen 1959 und 1962 erbaut wurde. Beim Richtfest fehlte es auch nicht am Beisein des Bundeskanzlers, da das Großprojekt im Rahmen des „Demonstrativprogramms“ von Bund und NordrheinWestfalen zum Wiederaufbau von Wohneinheiten finanziert worden war. Vgl. zur Siedlung Schulte, Andree: Bergisch Gladbach. Stadtgeschichte in Straßennamen, Bergisch Gladbach 1995, S. 270f. 64 Soweit die dankenswerte Auskunft von Herrn Horst Röstel gegenüber dem Verfasser.
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zehn Jahre hinweg konnten immer noch Anschlussverträge abgeschlossen werden, sodass auch der Altbestand an Verträgen nicht automatisch auslaufen musste. Später dehnte sich die Zusammenarbeit von Unternehmensgruppe und Versicherung auch ins Rheinland aus, wobei dort nicht die von Kaufmann geführte „Geffah“, sondern die „Westaufbau GmbH“ wirkte. Mindestens eine der Gesellschaften der Unternehmensgruppe verlor bei einem größeren Bauvorhaben jedoch ihr finanzielles Standbein, was schließlich die gesamte Unternehmensgruppe und durch die geschäftlichen Verbindungen auch die Versicherung in den 1970er Jahren in den Konkurs führte 65. Ein Kölner Bankhaus, von dessen Seite noch Forderungen gegen die Unternehmensgruppe bestand, erhielt darüber Zugriff auf die Versicherung, führte sie wenige Jahre im Konkursverfahren weiter, und verkaufte sie schließlich 1976 an die „Götte Gruppe“, die sie neu ausrichtete 66. Kaufmann war zu diesem Zeitpunkt bereits 1969 verstorben. Doch der Umstand, dass sich nicht zumindest die Versicherung beim Niedergang der Unternehmensgruppe wirtschaftlich autark halten konnte, zeig, dass hierin tatsächlich das Hauptbetätigungsfeld, wenn nicht gar das einzige Geschäftsfeld der Versicherung lag. Da aber aus den Altbeständen der Verträge keine älteren Akten mehr aufbewahrt wurden, ist dies nicht quantifizierbar. Fraglich ist Kaufmanns Verortung mit seiner Berufsbetätigung in den 1950er und 1960er Jahren innerhalb der ehemaligen „NS-Führung“. Ein nicht geringer Teil dieser starb in den letzten Kriegstagen durch den Kampf oder die eigene Hand. Viele weitere wurden vor allem bis 1947 zum Tode oder jahrzehntelangen Haftstrafen verurteilt. Nur wenigen gelang es, langfristig unterzutauchen. Wer durch alle diese Raster fiel, hatte dabei meistens vom Zufall profitiert. Bei Kaufmann selbst lag dies nicht zuletzt daran, dass er erstens den Briten in die Hände fiel, die verglichen mit Franzosen und Sowjets noch mild mit ihren Gefangenen umgingen, und dass er zweitens durch seinen Unfall und die dadurch bedingte Zerstörung seiner Gesundheit von Gerichtsverfahren und Verurteilungen verschont blieb. Als die Phase der Amnestiepolitik begann, profitierten noch viele weitere ehemals führende Träger des Nationalsozialismus. Dies ging so weit, dass sie im Laufe der 1950er und spätestens in den 1960er Jahren nicht geringe Teile der „Elite“ (nicht aber in Spitzenpositionen) in Staat und Gesellschaft stellten, ohne allerdings zu einer politischen Rückkehr des Nationalsozialismus beitragen zu können und/oder zu wollen 67. Auch Kaufmann kann also grob zu dieser Gruppe gezählt werden. Genaueres ist zwar unklar, weil keine Zahlen für seinen persönlichen finanziellen Ertrag der Unternehmensbeteiligungen vorliegen. Aber alleine schon mit Blick auf den geografischen Raum (der Norden der Bundesrepublik) und den ökonomischen Umständen der 65 Soweit die dankenswerte Auskunft von Herrn Claus Marcus Götte gegenüber dem Verfasser. 66 Soweit die dankenswerte Auskunft von Herrn Horst Röstel gegenüber dem Verfasser. 67 Zur Rückkehr ehemals führender Repräsentanten des Nationalsozialismus in die Führungsschichten von Staat und Gesellschaft vgl. Herbert, Ulrich: Rückkehr in die Bürgerlichkeit? NSEliten in der Bundesrepublik, in: Weisbrod, Bernd (Hrsg.): Rechtsradikalismus in der politischen Kultur der Nachkriegszeit. Die verzögerte Normalisierung in Niedersachsen, Hannover 1995, S. 157–173, hier S. 168–172.
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Zeit („Bauboom“ der 1950er und 1960er Jahre) kann von einer komfortablen Finanzlage ausgegangen werden. Auch zeitlich betrachtet scheint die Tätigkeit Kaufmanns seit 1946 dauerhaft geschädigte Gesundheit nicht zu sehr tangiert zu haben. Wie erwähnt war im Rahmen der „Dr. Otto Wolff“ kaum „Tagesgeschäft“ für Kaufmann vorhanden, bei der „Geffah“ ist dies nicht nachweisbar, aber zu vermuten. Denn erstens bot sich dies wahrscheinlich an, da die gesamte Unternehmensgruppe etliche Partnerfirmen hatte, die stets mit ihr zusammenarbeiteten, und zweitens eine Koordinierung zwischen Unternehmensgruppe und Tochtergesellschaft eine Verteilung des „Tagesgeschäfts“ auf mehrere Köpfe nahelegt. Als schließlich Ende der 1960er Jahre wieder ein Politikwechsel eintrat, der zu umfangreichen und äußerst breit rezipierten NS-Prozessen führte (als Initial kann hierbei der „Auschwitz-Prozess“ gesehen werden), und infolgedessen selbst bis zum Verfassen vorliegender Arbeit immer noch einzelne kleinere Prozesse stattfinden 68, gerieten auch die bis dahin durch Zufall Verschonten nochmals in den Fokus der Ermittlungsbehörden 69. Kaufmann hingegen betraf dies nicht. Denn er starb unerwartet im Dezember 1969.
8. Tod und Legendenbildung. Die Rezeption von Hamburgs „Führer“ nach 1945/1969 „Mir erscheint es wie eine Fügung, daß ich noch zwei Tage vor seinem Tode mit ihm zusammenkam. So sehe ich ihn vor mir: frischer und ruhiger als zuvor, in einer besseren Verfassung. […] Es unterlief ihm, zu erwähnen, daß er schon zweimal in der letzten Zeit das Bewußtsein verloren habe, aber wieder aufgewacht sei. Wäre er nicht zurückgekehrt, so meinte er, müßte er den Tod für einen freundlichen Herrn halten. Beim dritten Besuch ist der Tod gnädig mit ihm verfahren. Ganz unversehens hat er ihn angerührt, als er in seiner Wohnung von einem Buch aufstand und durch das Zimmer ging. Buch, Wort, Gedanke, Geist – sie gingen mit ihm in die Ewigkeit.
68 Mit besonderer Medienaufmerksamkeit wurde beispielsweise in Jahr 2021 ein Gerichtsverfahren in Neuruppin gegen einen 100 Jahre alten Wachmann des Konzentrationslagers Sachsenhausen begonnen sowie eines in Itzehoe gegen eine 96 Jahre alte Sekretärin des Konzentrationslagers Stutthof. 69 Bis auf einige besonders prominente Prozesse größeren Ausmaßes endeten aber die meisten Prozesse (zumindest in der Bundesrepublik) mit Einstellungen der Verfahren mangels ausreichendem Beweismaterials, wegen Verjährung oder aber im Falle von Verurteilungen mit sehr geringen Strafen. Eine grobe Übersicht bis 2015, die allerdings nicht chronologisch, sondern nach Sachthemen gegliedert ist, und sich bei den kleineren Individualprozessen auf ausgewählte Einzelfälle beschränkt, bietet Keldungs, Karl-Heinz: NS-Prozesse 1945–2015. Eine Bilanz aus juristischer Sicht, 2. Aufl., Düsseldorf 2020, S. 79–308 und S. 383–406 sowie S. 450– 454.
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Aber wir wissen, daß er lange Zeit in den letzten beiden Jahrzehnten mit dem Tod auf Du und Du gestanden hat. Er war immer ein gewissenhafter Mensch und hat sich im langen Abschiednehmen vor seinem Gewissen verantwortet.“ 1
Keine zwei Monate nach seinem 69. Geburtstag ereilte Kaufmann also der Tod. In den 23 Jahren seit seinem schweren Autounfall auf dem Weg nach Nürnberg hatte er teilweise Jahre mit erheblichen Einschränkungen geistiger und körperlicher Natur erlebt, und teilweise Jahre mit weniger starken Einschränkungen. Mit den Folgen hatte er aber bis zum Ende immer zu kämpfen. Sein offenbar unerwarteter und plötzlicher Tod fand seinen Widerhall in ungewöhnlich vielen und sehr großen Todesanzeigen in der Lokalpresse. Im „Hamburger Abendblatt“ machten in der Wochenendausgabe vom 6. und 7. Dezember seine Todesanzeigen ein Sechstel des Platzes der Todesanzeigen aus. Sie stammten von seiner Familie, Wolff „[i]m Namen seiner Freunde“, der Unternehmensgruppe und nicht zuletzt den Mitarbeitern der gemeinsamen Firma mit Wolff 2. Hätte Kaufmann einen schlechten Ruf in Hamburg besessen, wäre dies wohl nicht ohne weiteres möglich gewesen. Es hätte für den einen oder anderen gar als Provokation erscheinen können. Faktisch begann die Legendenbildung 3 bereits mit der kampflosen Übergabe Hamburgs, die Kaufmann persönlich noch über Jahrzehnte positiv zugerechnet wurde. Selbst in einer der Kurzmeldungen über seinen Tod, die in der Lokalpresse erschienen, wurde hierauf Bezug genommen. Als Beispiel soll eine solche Kurzmeldung einer Tageszeitung dienen, die auf der zweiten Seite kurz die Eckdaten von Kaufmanns Leben nannte. Zur Würdigung des Gesamteindrucks soll ihr Textteil ganz zitiert werden: „Der ehemalige nationalsozialistische Reichsstatthalter und Gauleiter von Hamburg, Karl Kaufmann, ist in Hamburg im Alter von 69 Jahren an einem Herzschlag gestorben. Kaufmann war Teilhaber einer Versicherungsgesellschaft und bis vor kurzem Geschäftsführer einer Gesellschaft für Absatzfinanzierung. Karl Kaufmann war 1922 Gauleiter des Rheinlandes, 1929 Gauleiter in Hamburg und 1933 Reichsstatthalter in der Hansestadt geworden. Im April 1945 hatte er durch Geheimverhandlungen mit den Alliierten die ’totale Vernichtung der Festung Hamburg’ verhindert. Nach dem Krieg hatten die Alliierten ihn als Kronzeugen im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß vorgesehen. Auf der Fahrt in die fränkische Stadt war er verunglückt.“ 4
1 Schwarz van Berk: Laudatio, S. 1. 2 Vgl. die Todesanzeigen in HA, 22 (1969), H. 284. 3 Einen allgemeinen Einstieg in die Rezeptionsgeschichte des Nationalsozialismus in Hamburg bietet Reichel, Peter: Das Gedächtnis der Stadt. Hamburg im Umgang mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit. Zur Einführung, in: Reichel, Peter (Hrsg.): Das Gedächtnis der Stadt. Hamburg im Umgang mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit, Hamburg 1997, S. 7–28. 4 „Karl Kaufmann gestorben“, HA, 22 (1969), H. 284.
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Was zeigt diese Kurzmeldung? Die kampflose Übergabe wurde als eine der vier Eckpunkte seines öffentlichen Wirkens dargestellt: Gauleiter (vermeintlich schon) 1922, Gauleiter 1929, Reichsstatthalter 1933, kampflose Übergabe Hamburgs 1945. Kaufmanns guter Ruf weit über 1945 und seinen Tod 1969 hinaus ist nicht mit der meistens üblichen positiven Sicht auf die jeweiligen Gauleiter in deren Gauen nach 1945 zu erklären. Einige wurden negativ gesehen, andere positiv. Besonders positiv betrachtet wurde beispielsweise Scheel, der vor seiner Flucht die kampflose Übergabe Salzburgs an die US-amerikanischen Truppen angeordnet hatte, und selbst in den 1970ern noch Glückwünsche und Danksagungen aus Politik und Gesellschaft erhielt 5. Kaufmann ragte aber unter allen positiv betrachteten Gauleitern besonders deutlich heraus. Woran lag dies? Einerseits bot sich Hamburgs Vergangenheit und Ruf als liberale, weltoffene, vermeintlich nicht korrumpierbare Stadt dazu an, dies aus der Rückschau der Zeitgenossen auch auf die Jahre 1933 bis 1945 zu übertragen. Andererseits bot gerade Kaufmanns Werdegang und Person eine retrospektive Idealisierung an, während eine Dämonisierung es sehr viel schwerer haben musste als bei anderen Gauleitern. Nur an der Propaganda bis 1945 kann die positive Rezeption jedenfalls nicht gelegen haben. Schließlich gab es diese Propaganda in allen Gauen. Es waren folgende zehn Punkte an Kaufmann, seinem Leben und Wirken, die hierbei den Ausschlag gaben: Erstens der in Hamburg mehr oder weniger erzielte Ausgleich oder zumindest die Einbindung von Wirtschaft und Bürgertum in die Herrschaft nach 1933, inklusive der Tatsache, dass der erste hamburgische Senat im „Dritten Reich“ eine reguläre kollegiale Koalitionsregierung aus bürgerlichen und nationalsozialistischer Partei darstellte, also vermeintlich keinen abrupten Umschwung, sondern einen relativ „normalen“ Regierungswechsel darstellte. Zweitens die ab 1935 sehr gute konjunkturelle Entwicklung Hamburgs. Drittens die nicht einfach wie anderswo nur inszenierte, sondern tatsächlich praktizierte Volksnähe bei Feiern, häufigen Ansprachen, persönlicher Sprechstunde in der Reichsstatthalterei und unangekündigten Besuchen in den Betrieben. Viertens der starke Fokus auf bei den Hamburger Arbeitern und Angestellten beliebte sozialpolitische Forderungen und auch einzelne Maßnahmen. Fünftens das effiziente Krisenmanagement nach Hamburgs fast völliger Zerstörung durch die „Operation Gomorrha“ 1943. Sechstens die ihm zugeschriebene Verantwortung für die kampflose Übergabe Hamburgs 1945, und die demzufolge, siebtens, auch als irritierend wahrnehmbare Verhaftung im Rathaus. Hinzu kamen achtens der Unfall 1946, durch den er nicht nur dauerhafte Einschränkungen erleiden musste, sondern der ihm neuntens auch noch die Durchführung der drohenden Gerichtsverfahren ersparte, die auch seine gewalttätigen und rassistischen Facetten der Bevölkerung näher bekannt gemacht hätten. Als zehnter und letzter Punkt ist noch der Umstand zu nennen, dass sich Kaufmann mit 5 Vgl. Arnold, Birgit: „Deutscher Student, es ist nicht nötig, daß Du lebst, wohl aber, daß Du Deine Pflicht gegenüber Deinem Volk erfüllst“. Gustav Adolf Scheel, Reichsstudentenführer und Gauleiter von Salzburg, in: Kißener, Michael/Scholtyseck, Joachim (Hrsg.): Die Führer der Provinz. NS-Biographien aus Baden und Württemberg, 3. Aufl., Konstanz/München 2016, S. 567–594, hier S. 592f.
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seiner Arbeit als Unternehmer in Hamburg in den 1950er und 1960er Jahren den Ruf eines Geschäftsmannes erwerben konnte. Beides zusammen, also die sich als liberal verstehende Stadt und der als sozial, fleißig, vom Schicksal schwer geschlagene und als „guter Mensch“ wahrgenommene Kaufmann forderten eine positive Rezeption des einstigen Gauleiters und Reichsstatthalters geradezu heraus. Anhand einer der aufgezählten zehn Punkte, der Kaufmann allein zugeschriebenen kampflosen Übergabe Hamburgs, soll die Entwicklung und die Umstände dieser positiven Rezeption näher erläutert werden. Denn nicht zuletzt diese kam seinem Ruf sehr zugute, und wurde von anderen Umständen begünstigt und potenziert. Schwarz van Berk bemerkte in seiner Laudatio 1969 zur kampflosen Übergabe folgendes: „Es wäre unnatürlich, nicht daran zu denken, welche Rolle er einmal in dieser Stadt gespielt hat, was er in der höchsten Gefahr für sie gewagt hat. Als sie schon verwüstet dalag, hat er sie vor der letzten Vernichtung bewahrt. Es gehörte Mut dazu, gegen den allerhöchsten Befehl den Tod vor den Mauern Hamburgs aufzuhalten und Hundertausende von Frauen und Kindern zu retten, die zwischen den Trümmern umhergeisterten. Es hat andere in seinem Rang gegeben, die wohl den Widerstand befahlen, aber dann selbst verschwanden. Diesen Zynismus hätte Karl Kaufmann nicht aufgebracht.“ 6
Es ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass Kaufmann die Legende, er persönlich sei verantwortlich gewesen für das Abwenden eines „Endkampfes“ um Hamburg, selbst ventiliert und gepflegt habe. Dies trifft nicht zu. Wie dargestellt, war Kaufmann an der kampflosen Übergabe zwar beteiligt, aber nicht der einzige, der hieran mitgewirkt hatte. Die „Lorbeeren“ hierfür fielen ihm einfach aus dem Grund zu, weil er den kriegsmüden Hamburgern die für sie erlösende Nachricht bekannt geben und vermitteln konnte, und öffentlich als „Hamburgs Führer“ einfach präsenter war als andere Personen. Dass andere Persönlichkeiten neben Kaufmann mit der Kapitulation ebenfalls ihr Leben riskierten, trat dadurch in den Hintergrund. Der öffentliche Eindruck zum Zeitpunkt der vermeintlichen „Stunde Null“ in Hamburg war also den allgemeinen Umständen geschuldet, statt eines raffinierten oder gar geplanten Vorgehens Kaufmanns. Weitere Elemente begünstigten diese Legende einer alleinigen Verantwortung Kaufmanns immer mehr. Ein deutliches Beispiel hierfür ist die Antrittsrede des ersten Nachkriegsbürgermeisters 7, die er bereits am 15. Mai 1945, also noch frisch unter dem Eindruck des vielen wie ein Wunder vorkommenden friedlichen Übergangs in Hamburg gehalten wurde:
6 Schwarz van Berk: Laudatio, S. 2. 7 Hierbei lässt sich in Form des Amts des Nachkriegsbürgermeisters und Hamburgs Staatlichkeit eine ungewöhnliche Konstellation erkennen. Sie hat auch Bedeutung für Kaufmanns politische Biografie, da der von ihm mitgeschaffene Reichsgau so in mancher Hinsicht das Reich überlebte. Der Nachkriegsbürgermeister hatte aufgrund der noch nicht eindeutig geordneten Staatsverhältnisse in Hamburg faktisch die Kompetenzen des Reichsstatthalteramtes bei gleichzeitigem
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„[i]ch meine, es ist eine Anstandspflicht, […] daß wir dem früheren Inhaber der hamburgischen Regierungsgewalt bei aller grundsätzlichen Ablehnung der politischen Doktrin die Anerkennung dafür nicht versagen, daß er, wenn auch erst im letzten Augenblick, den Mut gefunden hat, unsere Stadt vor den Schrecken eines letztlich sinnlos gewordenen Kampfes zu bewahren, um damit nicht nur das Blut und Gut unserer Mitbürger, sondern auch dem Gegner Blut und Opfer zu ersparen.“ 8
Wenn also der neue Bürgermeister Rudolf Petersen, immerhin Bruder des letzten Bürgermeisters vor Krogmann/Kaufmann, Carl Wilhelm Petersen, Kaufmann faktisch für seine letztendlichen Verdienste öffentlich ehrte, konnte aus dem eingeschränkten Horizont der Zeitgenossen des Mai 1945 wenig Zweifel daran bestehen, dass „ihr“ Gauleiter Vorbehaltsrecht der Briten inne. Dies hing damit zusammen, dass die Briten einerseits in das Verfassungsgefüge Hamburgs eingriffen (vor allem indem Staats- und Gemeindeverwaltung wieder getrennt wurden), andererseits das Reich als Staat verfassungsrechtlich mit der Übernahme der Aufsicht über die Gebiete des Reiches durch die Alliierten unterging, und zugleich für das zuvor formal reichsunmittelbare Hamburg nicht auf eine ältere Verfassung zurückgegriffen wurde, sondern erst 1946 eine ausdrücklich vorläufige Verfassung in Kraft trat, die das Land Hamburg konstituierte. Dieser „verfassungslose“ Zustand war aber ohne staatsrechtliche Problematiken, da die Briten als Besatzer die oberste Regierungsgewalt ausüben konnten und bei Bedarf auch entsprechend handelten. Im „Gesetz über die Verfassung und Verwaltung der Hansestadt Hamburg“ von 1937, die trotz Eingriffen der Briten formal weiterbestand, hieß es zu Hamburgs Konstitution deutlich: „Die Hansestadt Hamburg bildet einen staatlichen Verwaltungsbezirk und eine Selbstverwaltungskörperschaft. Diese ist eine Einheitsgemeinde und hat auch die Aufgaben der Gemeindeverbände höherer Ordnung“ (RGBl. 1937/I, S. 1327–1329, hier S. 1327). In der „Vorläufigen Verfassung der Hansestadt Hamburg von 1946 hieß es hingegen: „Die Hansestadt Hamburg ist ein deutsches Land und gleichzeitig eine Gemeinde. Sie hat auch die Aufgaben der Gemeindeverbände höherer Ordnung.“ (HmbGVBl. 1946/I, S. 51, hier ebd.). Der Unterschied war nicht nur nomineller Natur, sondern ganz konkret auf die hamburgische Staatskonstitution gemünzt. Etwa wurde die Staats- von der Gemeindeverwaltung getrennt, weil erstere als reichsunmittelbar galt, womit die Briten bei Besatzungsfragen sich institutionell auf der Reichsebene bewegten, letztere aber im Sinne der alliierten Selbstverwaltung der Kommunen innerhalb der britischen Besatzungszone institutionell eigenständig arbeiten sollte und konnte. Durch den Mischcharakter Hamburgs als reichsunmittelbares Gebiet, in dem die Landesinstitutionen nach wie vor weiterarbeiteten, war beim Wegfall der Reichsebene also eine Regelung solcher Rechtsfragen notwendig. Zugleich zeigt gerade die Notwendigkeit einer entsprechenden Regelung nach der Kapitulation nochmals, wie stimmig das Hamburger Konstrukt funktioniert hatte. Es war zwar ein „gleichgeschaltetes“ Gebiet, behielt aber seine eigenstaatlichen Institutionen. Wie gezeigt war Kaufmann sehr geschickt darin gewesen, dieses System zu begründen, aufrechtzuerhalten und sogar auszubauen. Insofern zeigt der Reichsgau Hamburg, dass zentralistische Monokratie und partikularistische Polykratie kein Widerspruch sein müssen. Zu einer solchen an sich theoretisch möglichen Übereinstimmung, die im „Dritten Reich“ aber nur sehr selten vorkam, vgl. Jäckel, Eberhard: Hitlers Herrschaft. Vollzug einer Weltanschauung, 3. Aufl., Stuttgart 1991, S. 63–65. 8 „Eine Ansprache des neuen Bürgermeisters: ‚Hamburg kann wieder Pforte werden…‘“, HNB, 1 (1945), H. 14. Hervorhebungen im Original.
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und Reichsstatthalter sich unter Einsatz seines eigenen Lebens für eine kampflose Übergabe Hamburgs eingesetzt hatte. Die übrigen Jahre nach 1945 verfestigten den unmittelbaren öffentlichen Eindruck offenbar nur immer mehr, statt dass er nachhaltig hinterfragt wurde. Dies lag vor allem daran, dass verschiedene lokale gesellschaftliche Umstände diesen Eindruck viel stärker begünstigten, als es in anderen Gauen des einstigen „Dritten Reiches“ der Fall war. Aus diesen heraus entwickelten sich zahlreiche weitere Legenden, die immer weiter unhinterfragt tradiert wurden, bis sie sich schließlich durch eine Art umgekehrte „Macht des Faktischen“ im allgemeinen Bewusstsein festsetzten. Solche „Volkstumslegenden“, wie sie vereinfacht genannt werden können, sind ebenfalls nicht (wie oft behauptet wurde) auf Kaufmanns Bestreben zurückzuführen. Denn erstens lag eine nachhaltige Veränderung dieser lokalen gesellschaftlichen Umstände, die nachfolgend erläutert werden, nicht in seinen Möglichkeiten. Und zweitens befand sich Kaufmann zwischen Kapitulation 1945 und Unfall 1946 in Internierung, und blieb trotz seines Unfalls auch noch einige Jahre inhaftiert beziehungsweise unter direkter Beobachtung. Er hatte nach 1945 nicht die physischen Möglichkeiten, um die Mentalität der Hamburger Nachkriegsgesellschaft nachhaltig zu verändern. Die erwähnten lokalen gesellschaftlichen Umstände, die das Gedeihen und Blühen unterschiedlichster Gerüchte und vermeintlicher Wahrheiten zuerst begünstigten, und ihr Verfestigen als vermeintliche Tatsachen schließlich bedingten, besaßen verschiedene Hintergründe. Die Hamburger Bevölkerung, die während des Kriegsendes in der Stadt ausgeharrt hatte beziehungsweise in den folgenden Jahren in rasantem Tempo wieder in sie zurückkehrte, besaß ein relativ ausgeprägtes Sonderbewusstsein des Hanseatentums. Angesichts des Nationalsozialismus wurde nach 1945 besonders auf dieses Hanseatentum verwiesen, welches im Gegensatz zum Nationalsozialismus gestanden habe, aufgrund seiner Werte und Überzeugungen gar immun gegen ihn gewesen sei, und deshalb zu einem Sonderweg Hamburgs im „Dritten Reich“ geführt habe. Dies ist soweit nicht unbedingt etwas ungewöhnliches. Ähnliche lokale und regionale „Immunitätslegenden“ gab es auch in vielen anderen Regionen des Reiches, darunter die katholischen Kölner oder die liberalen Stuttgarter. Oftmals bestand darin ein wahrer Kern, so auch bei den erwähnten Kölnern 9 und Stuttgartern 10. Aber solches waren Ausnahmen.
9 Im katholisch geprägten Rheinland und besonders in Köln bildete sich aus dem katholischen Milieu heraus eines der größeren Widerstandsnester gegen den Nationalsozialismus, das von Teilen der Kirche, über ehemalige Politiker bis hin zu theologischen Laien aus innerer Überzeugung zusammengesetzt war. Dieses konnte nicht zuletzt deshalb gerade in Köln entstehen, da dort die das katholische Milieu zwar auch nach und nach zersetzt wurde, aber vergleichsweise lange gegen das Einsickern des Nationalsozialismus passiv blieb. Vgl. zur katholischen Resistenz und dem Widerstand in Köln von Hehl, Ulrich: Katholische Kirche und Nationalsozialismus im Erzbistum Köln. 1933–1945, Main 1977, S. 73–82. 10 Ein besonders hervorstechendes Beispiel hierfür ist der liberale „Boschkreis“, der eine zentrale Stützfunktion im breiten Widerstandsspektrum gegen die nationalsozialistische Herrschaft besaß. Auch der „Boschkreis“ konnte sich, wie der katholische Widerstand in Köln, nur in einer gewissen Atmosphäre entwickeln, sodass die Zuschreibung, dass Baden und insbesondere
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Das hanseatische Sonderbewusstsein in Hamburg bezog sich gegenüber dem Nationalsozialismus unter anderem auf Weltoffenheit und liberale Tendenzen. Deshalb sei selbst die Hamburger Parteispitze immer auf Abstand zur Gesamtpartei gewesen, habe es gar immer nur „humane“, keine brutalen Deportationen von Juden gegeben, und Hitler selbst sei von gewisser Abneigung gegen die liberale Hansestadt erfüllt gewesen, sodass er sie vermeintlich kaum besucht habe 11. Ähnliche Nachkriegsauffassungen kursierten auch im kulturell vergleichbaren Bremen, und können fast durchweg als Legenden bezeichnet werden 12. In Hamburg wurden solche Legenden zwar von einzelnen Personen und Gruppierungen immer wieder kritisiert. Aber damit drangen sie lange nicht zur breiten Bevölkerung durch 13. Die Forschung nahm sich im Laufe der Jahrzehnte (vor allem ab den 1980er Jahren) im Rahmen diverser Lokal- und Regionalstudien einzelner Legenden an. Sie kam dabei oft zu differenzierenden Befunden, meistens aber zu völlig gegenteiligen Ergebnissen. Dazu nachfolgend drei kurze Beispiele. Erstens zum Liberalismus, auf den sich die Hamburger der Nachkriegszeit geradezu als „Bollwerk“ gegen den Nationalsozialismus beriefen. Durch die Forschung wurde nachgewiesen, dass die NSDAP in Hamburg grundsätzlich schon vor 1933 in allen Milieus Fuß fassen konnte, es aber gerade die nach 1945 beschworenen liberalen Parteien waren, deren Wähler ab 1929 massenhaft zur NSDAP überliefen 14. Dies kann für eine von Handel und Export abhängige Hafenstadt wie Hamburg nicht weiter verwunderlich sein, da die Weltwirtschaftskrise diese noch weit härter traf, als die meisten anderen deutschen Großstädte. Der Mittelstand, der in Hamburg größtenteils die liberalen Parteien DDP/DStP, DVP sowie DNVP unterstützte, sah sich besonders stark bedroht und wandte sich umso nachdrücklicher von der Weimarer Republik und den staatstragenden Parteien ab 15. Dass führende Anhänger des hamburgischen Liberalismus aber nach 1933 im „Dritten Reich“ mitwirkten, darunter sogar im Senat, verstärkte den Eindruck Stuttgart liberal geprägt gewesen seien, einen festen Kern aufweist. Zum Widerstand des „Boschkreises“ vgl. detailliert Scholtyseck, Joachim: Robert Bosch und der liberale Widerstand gegen Hitler 1933 bis 1945, 2. Aufl., München 2000, S. 117–537. 11 Vgl. Schildt, Axel: Lokalhistorische Erkundungen des Nationalsozialismus – das Beispiel Hamburg (ein kurzer Überblick über neuere Projekte), in: Gerstenberger, Heide/Schmidt, Dorothea (Hrsg.): Normalität oder Normalisierung? Geschichtswerkstätten und Faschismusanalyse, Münster 1987, S. 149–159, hier S. 149f. 12 Vgl. hierzu näher Marßolek, Inge: Bürgerlicher Alltag in Bremen – oder „die zähe Fortdauer der Wonnen der Gewöhnlichkeit“ (Christa Wolf), in: Gerstenberger, Heide/Schmidt, Dorothea (Hrsg.): Normalität oder Normalisierung? Geschichtswerkstätten und Faschismusanalyse, Münster 1987, S. 115–124, hier S. 117–123. Zu Bremen im „Dritten Reich“ vgl. Schwarzwälder, Herbert: Geschichte der Freien Hansestadt Bremen, Bd. 4. Bremen in der NS-Zeit (1933–1945), 2. Aufl., Bremen 1995. 13 Vgl. Schildt: Erkundungen, S. 150f. 14 Vgl. Krause: Hamburg, S. 171–195. 15 Zur Staats- und Wirtschaftskrise Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre in Hamburg und ihren politischen Auswirkungen vgl. Büttner, Ursula: Hamburg in der Staats- und Wirtschaftskrise 1928–1931, Hamburg 1982, S. 187–271 und S. 426–500.
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der Zeitgenossen, dass der Liberalismus zwischen Weimarer und Bonner Republik eine Kontinuität aufwies. Dies konnte schnell dazu führen, dass die Nachkriegsgesellschaft eine verklärte Sicht auf den hamburgischen Liberalismus einnahm. Ein zweites Beispiel für die gesellschaftlichen Umstände in Hamburg, die eine Legendenbildung um den Sonderweg Hamburgs im „Dritten Reich“ nachhaltig begünstigten, entwickelte sich direkt aus der vermeintlichen Hamburgabneigung Hitlers. Es lag in Gerüchten wie den vermeintlich nur sehr seltenen Besuchen Hitlers. Demnach sei Hitler sich des liberalen Charakter Hamburgs bewusst gewesen, und habe deshalb möglichst einen Bogen um die Hansestadt gemacht und lieber andere Städte besucht. Die Forschung konnte aber mindestens 33 Besuche Hitlers in Hamburg nachweisen, womit er Hamburg nicht weniger oft besuchte, als andere deutsche Großstädte. Erst in der Kriegszeit nahmen seine Besuche ein Ende, was kriegsbedingt aber ebenfalls nicht untypisch war 16. Da die Bevölkerung also davon ausging, sich einredete oder davon überzeugt war, dass Hitler eine Abneigung gegen das weltoffene Hamburg habe, erlag sie einer Art Selbstsuggestion. Als drittes Beispiel seien die Deportationen genannt. Jahrzehnte hielt sich die Legende, die Deportationen seien weniger brutal durchgeführt worden, als anderswo im Reich. Noch in den 1980ern empörte sich ein Journalist in einem Dokumentationsband deutlich darüber: „Und was resultiert nicht alles aus dieser Legende vom ‚vernünftigen‘ Faschismus hanseatischer Prägung, etwa im Hinblick auf die Deportationen jüdischer Bürger in die Vernichtungslager, über die in einem Senats-Gedenkbuch (1965) bzw. einer Dokumentation der Landeszentrale für politische Bildung (1978) zu lesen ist: ‚Die Abfertigungen in Hamburg waren vergleichsweise erträglich, ja im Vergleich zu anderen Orten human.‘ ‚Humane‘ Deportationen: Man muß es zweimal lesen und mag es doch nicht glauben.“ 17
Auch zu diesem Thema konnte die Forschung schließlich in den 1990er Jahren Ergebnisse vorweisen, die das Gerücht der „humanen Deportationen“ widerlegte 18. Solche gab es in Hamburg nicht. Hierbei werden die Zeitgenossen der Nachkriegszeit dem klassischen „Abwehrreflex“ unterlegen haben, der nach 1945 sehr häufig auftrat, wenn es um den Antisemitismus ging. Dies ist für Hamburg scheinbar nicht anders als für andere Orte gewesen. In Hamburg steht aber nach dem bisher Erläuterten zu vermuten, dass
16 Eine kurze systematische Auflistung findet sich bei Erdmann, Heinrich: Hitlers Aufenthalte in Hamburg. Eine Chronologie, in: Erdmann, Heinrich (Hrsg.): Hamburg im Dritten Reich. Sieben Beiträge, Hamburg 1998, S. 7–26, hier S. 9–26. 17 Skrentny, Werner: „Grüßen hätte er doch können!“ Nachrichten aus dem Hamburger Alltag, 1933/43, in: Bruhns, Maike/Krause, Thomas/McElligott, Anthony/Preuschoft, Claudia/Schildt, Axel/Skrentny, Werner (Hrsg.): „Hier war doch alles nicht so schlimm“. Wie die Nazis in Hamburg den Alltag eroberten, Hamburg 1984, S. 88–101, hier S. 88. 18 Ein jüngeres, aber anschauliches Beispiel stellt der an anderer Stelle bereits zitierte Ausstellungskatalog dar: Deportationen.
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sich dieser „Abwehrreflex“ auch mit den anderen gesellschaftlichen Umständen vermischt haben könnte, wonach Hamburg eine dem Nationalsozialismus gegenüber immune Stadt in einer Hitler ergebenen Umwelt gewesen sei. Es wurde an dieser Stelle kurz und exemplarisch auf die gesellschaftlichen Umstände des Hamburg der Nachkriegszeit eingegangen, weil nur aus ihrem Gesamtklima heraus verständlich wird, warum Kaufmann in der Öffentlichkeit den Ruf des Retters von Hamburg erhielt, den er schließlich bis in die 1990er Jahre, und in beträchtlichen Teilen sogar bis zum Verfassen der vorliegenden Arbeit behielt. Es entsprach nicht nur dem Zeitgeist, die eigene Heimat (im lokalen und/oder regionalen Sinne) als nicht dem Nationalsozialismus ergeben zu interpretieren. In Hamburg kamen verschiedene Umstände hinzu, die sich aus der Konstitution der hamburgischen Gesellschaft erklären, darunter etwa das weltoffene und liberale Selbstverständnis einer auf Export und Handel angelegten Hafenstadt. Eine entsprechend übertrieben positive Sicht auf den ehemaligen „Führer Hamburgs“ kann dabei nicht weiter verwundern. All die genannten Umstände begünstigten also, dass Kaufmann kein negatives oder ablehnendes Bild in der Öffentlichkeit erhielt. Und dies nicht, weil er selbst dafür gesorgt hätte, sondern weil die allgemeinen gesellschaftlichen Umstände der Nachkriegszeit in Hamburg eine positive Rezeption von Kaufmanns Verantwortung für die kampflose Übergabe Hamburgs anfangs begünstigten und später mangels genaueren Hinterfragens verfestigten. Der oberste hamburgische Nationalsozialist Kaufmann galt 1945 also als der Retter Hamburgs, und blieb dies in einem den Nationalsozialismus offen ablehnenden Hamburg auch über Jahrzehnte hinweg. Kein anderer Gauleiter verfügte nach dem Ende des „Dritten Reiches“ über einen solch ungebrochenen oder gar positiv gesteigerten guten Ruf in seinem Gau. Das hier Erläuterte erklärt also anhand der kampflosen Übergabe Hamburgs als einem der zuvor aufgezählten zehn Punkte, warum Kaufmann eine so überaus positive Rezeption in Hamburg erfuhr. Dies ließe sich für jeden weiteren der genannten Punkte ebenso ausführen. Seine Rezeption kann also keineswegs monokausal, und vor allem nicht mit Verweis auf ein Verbreiten von Legenden durch Kaufmann persönlich, erklärt werden. Es waren vielmehr die vorgestellten zehn Punkte, die sich gegenseitig ergänzten und dabei auch noch verstärkten. Diese Punkte entstanden also einerseits aus der hamburgischen Gesellschaft und ihrem Selbstbild, sowie andererseits aus Kaufmanns Wirken bis 1945 und dessen Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Es bleibt noch zu erläutern, wie sich das öffentliche Bild und Kaufmanns positive Rezeption nach dem Einsetzen breiterer Forschungen zu Hamburg im „Dritten Reich“ verändert hat. Wie erwähnt setzte (bis auf wenige Ausnahmen) eine tatsächlich breit angelegte Forschung hierzu erst ab den 1980er Jahren ein. Infolgedessen begann auch eine umfassendere Auseinandersetzung der Medien mit der Geschichte der Hansestadt zwischen 1933 und 1945, wobei auch oftmals Kaufmann als ranghöchster und letztlich entscheidender Nationalsozialist erwähnt wurde. Dabei lässt sich feststellen, dass der grundsätzliche Ton kritischer wurde. Die positive Rezeption wandelte sich nicht um in
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eine durchweg negative, aber das öffentliche Bild Kaufmanns wurde nunmehr nuancierter. Hierzu zwei vergleichende Beispiele, ersteres aus der Hamburger Lokalpresse anlässlich des fünfzigsten Jahrestages der kampflosen Übergabe Hamburgs 1995: „War Karl Kaufmann ein ‚guter Nazi‘, weil er Hamburg durch kampflose Übergabe an die Briten vor der endgültigen Vernichtung rettete? Zeitgeschichtliche Forschung widerlegt diese Legende. Wie kaum einer der NSDAP-Gauleiter häufte Kaufmann eine Machtfülle auf sich: Als Gauleiter, Reichsstatthalter, Führer der Landesregierung, Chef der Staats- und Gemeindeverwaltung und Reichsverteidigungskommissar vereinigte er im ‚Reichsgau‘ Hamburg fünf der wichtigsten politischen Ämter. Kaufmann sollte 1946 in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen auftreten. Doch auf der Fahrt dorthin wurde er bei einem Autounfall schwer verletzt. Er erhielt Haftverschonung und wurde 1948 aus der Internierung freigelassen. Die Wissenschaftler der ‚Forschungsstelle für die Geschichte Hamburgs von 1933 bis 1945‘ kamen später zu dem Ergebnis: Kaufmann war nicht der Retter Hamburgs. Erst nach Hitlers Tod und als die Gefahr vorüber war, sei er an die Seite jener getreten, die sich um die Verhütung des Schlimmsten bemühten. 1969 starb Kaufmann als gutsituierter Teilhaber eines Versicherungsunternehmens und einer chemischen Fabrik in Hamburg.“ 19
Mangels genauerer Forschung zum Zeitpunkt des Erscheinens des zitierten Artikels von 1995 waren noch viele inzwischen bekannte Tatsachen unklar, darunter beispielsweise das Faktum, dass Kaufmann nicht erst nach Hitlers Tod Friedensfühler ausstreckte und dabei gar ohne Gefahr handeln konnte. Doch zeigt der Artikel zumindest auf, dass Kaufmann fünfzig Jahre nach der Kapitulation kritischer (wenngleich zu negativ) betrachtet wurde. Er war demnach nicht mehr der uneigennützige Retter Hamburgs, sondern fast schon eine Art Trittbrettfahrer, der sich „nach Hitlers Tod […] an die Seite jener“ gestellt habe, „die sich um die Verhütung des Schlimmsten bemühten.“ Das zweite Beispiel erschien zehn Jahre später und legte in einem Artikel in der gleichen Tageszeitung anlässlich des sechzigsten Jahrestages 2005 noch kritischere Töne an: „Aber war es denn in Hamburg überhaupt so schlimm gewesen? Hatte Hamburg aufgrund seines liberalen Geistes, seiner Weltoffenheit und seiner toleranten hanseatischen Tradition nicht – zumindest im Rahmen des damals Möglichen – doch eine rühmliche Ausnahme gebildet? Das behauptet die ‚Hamburg-Legende‘, die auf Kurt Detlev Möller zurückgeht, den ehemaligen Direktor des Hamburger Staatsarchivs. Im Frühjahr 1947 veröffentlichte er sein Buch ‚Das letzte Kapitel‘, in dem er beschrieb, wie sich der Gauleiter Karl Kaufmann vom Nazi zum Nazi-Gegner gewandelt habe. Auch wenn man Kaufmanns Rolle in den letzten Kriegstagen differenziert sehen muß, war Möllers Darstellung weit von der historischen Wirklichkeit entfernt. Erst Veröffentlichungen
19 „Die Legende vom ‚guten Nazi‘“, HA, 48 (1995), H. 102.
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der 80er und 90er Jahre zerstörten die ‚Hamburg-Legende‘, an die viele nur allzu gern geglaubt hatten.“ 20
Die Beschreibung des Journalisten war nicht ganz korrekt. Wie erläutert war Möllers Studie nur aus politischen Gründen umstritten, wissenschaftlich dagegen bildet sie eines der beiden Standardwerke zur Kapitulation (was, wie ebenfalls erklärt, im Übrigen bereits 1990 und 1992 von wissenschaftlicher Seite nochmals untermauert wurde). Zudem ging die sogenannte „Hamburg-Legende“ nicht monokausal von Kaufmann oder einem falsch verstandenen Archivar aus, sondern beruhte auf den zehn erläuterten Punkten. Hinsichtlich der Art und Weise der Presseberichterstattung als Beispiel für den Wandel der Rezeption Kaufmanns zeigt der zitierte Artikel aber deutlich eine Veränderung, infolgedessen das Bild Kaufmanns nochmals kritischer wurde. Da erstens die Forschungen zum Nationalsozialismus in Hamburg nach wie vor voranschreiten, und seit den 2000er und 2010er Jahren einen Höhepunkt erreicht haben, sowie zweitens sich jede Gesellschaft mal schneller, mal langsamer selbst verändert und damit eine andere Sicht auf ihre Vergangenheit erhält und einnimmt, steht zu erwarten, dass sich auch die Rezeption Kaufmanns nochmals erheblich verändern könnte. Dies könnte zu einer öffentlich negativeren, aber auch öffentlich positiveren Rezeption führen. Auf jeden Fall sind mit jeder weiteren Studie, so wie auch mit der hier vorgelegten, differenziertere und realistischere Betrachtungen Kaufmanns möglich, weitab einer rein gesellschaftspolitischen Rezeption.
20 Gretzschel, Matthias: „Es war ein langer Weg bis zur bitteren Wahrheit. Bald wurde die Hamburg-Legende geboren“, HA, 58 (2005), H. 102.
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Fazit: Was erbringt eine Karl-Kaufmann-Biografie? „Ich habe im Jahre 1921 eine Parteiversammlung in München besucht, in der Adolf Hitler sprach. Was mich in der damaligen Rede interessierte, war vor allen Dingen die Einstellung Hitlers zur sozialen Frage [mit der Kaufmann sich schon zuvor beschäftigt hatte]. Ich habe Gelegenheit genommen, einige Tage nach dieser Rede Adolf Hitler persönlich aufzusuchen, um mit ihm in persönlicher Diskussion noch einmal die Probleme durchzusprechen, die er in seiner Rede angeschnitten hatte. Hitler wusste mich damals zu überzeugen, dass das Hauptproblem innerhalb eines Staatszusammenlebens in der Lösung der sozialen Frage stünde und dass eine Abhilfe auf diesem Gebiete durch internationale Hilfe nicht zu erwarten sei, sondern auf nationaler Grundlage selbst geschaffen werden müsste. Meine Einstellung zur sozialen Frage war überhaupt das A und O meines Entschlusses, mich politisch zu betätigen.“ 1
Mit diesen Worten schilderte Kaufmann in einer Nachkriegsvernehmung den Beginn seiner NSDAP-Karriere. Damit fand eine NSDAP-Karriere ihren Anfang, die in vielerlei Hinsicht repräsentativ für die zweite Reihe der „NS-Führung“ verlief, aber in vielerlei Hinsicht auch einzigartig war. Die vorliegende Arbeit hatte sich zum Ziel gesetzt, Kaufmanns gesamten Werdegang aufzuzeigen und in seinen Kontext einzuordnen. Hierbei wurde in einem ersten Teil vor allem seine Herkunft und die Aufbauarbeit der Partei im Rheinland betrachtet. In einem zweiten Teil wurden seine zentralen Funktionen in der Zeit des „Dritten Reiches“ und sein darauf beruhendes einzigartiges Herrschaftssytem analysiert. In einem dritten Teil schließlich wurde sein Leben nach 1945 betrachtet, welches von Krankheit, Internierung und erfolgreichem beruflichem Neubeginn geprägt war, bevor er an den Langzeitschäden seiner Krankheit starb. Biografien neigen oft dazu, das Leben eines Einzelnen kausal zu deuten und als in sich logisches, zusammenhängendes Element zu betrachten. Dies lässt oft die Brüche und Wandlungen sowie Veränderungen übersehen oder missverständlich interpretieren. Gerade Kaufmanns Leben ist hierfür ein anschauliches Beispiel. Seine beruflichen Fehlstarts bis 1925 stehen im starken Kontrast zu seiner erfolgreichen politischen Karriere bis 1945. Seine Ortsungebundenheit bis 1924 wiederum steht völlig konträr dem dauerhaften und über 1945 hinausreichenden Lebensmittelpunkt Hamburg gegenüber, wo er schließlich 1969 verstarb. Und als drittes Beispiel steht die Arbeit in der freien Wirtschaft ab 1959 völlig entgegengesetzt der Berufstätigkeit als hauptamtlicher Politiker von 1926 bis 1945 gegenüber. Die vorliegende Arbeit hat über Kaufmann eine Vielzahl an Erkenntnissen hervorgebracht, die ihrerseits auch weitere Schlüsse über den Nationalsozialismus zulassen. 1 StaHH 213-11, 72424, Protokoll vom 23. August 1950.
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Konkret über Kaufmann konnte erstmals sein früher Werdegang offengelegt werden. Seine häufigen Wechsel zwischen Schul-, Berufs- und Militärausbildung waren zuvor nicht bekannt. Ebenfalls unbekannt war bisher, dass er nie im Kampfeinsatz gewesen war, sondern dies propagandistisch immer nur suggeriert wurde. Auch konnte hier erstmals ausführlich gezeigt werden, was über Kaufmanns politisches Engagement in den frühen 1920er Jahren nachweisbar ist. Deutlich wurde hieraus vor allem, dass er ausgehend vom völkischen Milieu in seiner Heimatregion im Bergischen Land eine lokale Führungsrolle bei der Bildung und Etablierung der Nationalsozialisten innehatte. Darauf aufbauend entstanden die regulären Parteistrukturen der NSDAP, die Kaufmann selbst entscheidend in Elberfeld und dem nördlichen Rheinland aufbaute. Als die dortige NSDAP schließlich ab 1925 über einen Gauverband verfügte, beerbte Kaufmann dessen ersten Gauleiter schon nach kurzer Zeit. Geboren aus dem Selbstverständnis, die Partei in der Region von Beginn an aufgebaut zu haben, ergaben sich aber rasch Differenzen mit der Parteizentrale in München, welche versuchte ihren Vorrang- und Gestaltungsanspruch gegenüber den Gauen durchzusetzen. Für Kaufmann als Gauleiter fiel das Ende dieser Differenzen mit seinem eigenen Ende als Gauleiter zusammen, als er wegen personalpolitischer Querelen 1928 gezwungen wurde, zurückzutreten. Welche Dimensionen dies für Kaufmanns Karriere hatte, ist lange unterschätzt und zumeist gar nicht wahrgenommen worden. Er hatte Gauleitung und Schriftleitung einer parteinahen Zeitschrift abgeben müssen und lediglich sein Landtagsmandat behalten dürfen. Dort zeigte er zwar weiterhin sein Engagement für sozialpolitische Fragen, aber seine politische Karriere hing hiernach nicht mehr von ihm ab. Doch erhielt er mit der Übernahme der Gauleitung in Hamburg 1929 schließlich eine Bewährungsmöglichkeit. Und diese nutzte er auch vollauf aus. Erst unter Kaufmann gelangte der Gau Hamburg zu innerparteilicher Disziplin, straffer Organisation und zu einer Kontinuität in der Führungsspitze. Ohne diese Aufbauarbeit wäre die Machtübernahme im hamburgischen Senat 1933 nicht möglich gewesen. Im „roten Hamburg“ war die NSDAP aber trotzdem nicht stark genug, aus sich heraus in die Landesregierung einzuziehen. Hierzu bedurfte es erst des von der SPD hinterlassenen Machtvakuums, das ausgenutzt werden konnte. Wie alle Länder erhielt auch Hamburg im Verlauf des „Machtergreifungsprozesses“ auf Reichsebene einen Reichsstatthalter. Kaufmann war für Hamburg als Gauleiter der einzig passende Parteifunktionär, um Reichsstatthalter zu werden. In den nächsten Jahren gelang es ihm, die hamburgischen Eliten in einer Politik des Ausgleichs und der Integration miteinzubeziehen, und so seine eigene Vormacht auf eine breitere Basis zu stellen. Schon hierbei begann er einen immer autoritäreren Führungskurs zu etablieren, der ihm selbst immer mehr Einblick in alle Bereiche des hamburgischen Geschehens vermittelte, und gleichzeitig die Entwicklungen in Partei und Staat von seinen Entscheidungen abhängig machte. Die eigene Übernahme der Landesregierung 1936 sowie die Umwandlung Hamburgs in einen Reichsgau 1938 verstärkten diese Trends noch weiter, in eingeschränkter Weise auch das Reichsverteidigungskommissariat und das Reichskommissariat für die Seeschifffahrt. Dabei konnte die vorliegende Arbeit erstmals zeigen, wie Kaufmann in diesem scheinbaren Kompetenzdickicht herrschte. Das zentrale Element war dabei das Delegieren von Aufgaben an mehrere, einzeln von ihm abhängige
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Personen, bei dem er durch direkten Eingriff, regelmäßige Rücksprachen und andere Instrumente immer die Übersicht über das von diesen Personen Ausgeführte behielt. Kaufmanns eigene Einstellung zur Wende des Krieges und die damit verbundenen Amtstätigkeiten waren lange Zeit sehr umstritten. Er selbst behauptete, nach der Zerstörung Hamburgs Mitte 1943 nicht mehr vom einem siegreichen Kriegsende ausgegangen zu sein. Dem wurde häufig widersprochen. Hier nun wurde erstmals ausführlich Kaufmanns schlagartige Verhaltensänderung Mitte 1943 untersucht, sodass die entsprechende Debatte bereichert werden konnte. Das gilt gleichermaßen für die kampflose Übergabe Hamburgs. Es ist lange über Kaufmanns Rolle debattiert worden. Hier wurde der Blick auf Hamburgs Kriegsende um den zentralen Aspekt von Kaufmanns eigener Haltung zum Krieg ab Mitte 1943 erweitert, woraus sich erst Kaufmanns eigenes Verhalten bei der Kapitulation erklären lässt. Was in den folgenden Jahren in Kaufmanns Leben konkret geschah, war bis auf einzelne kontextlose Ereignisse unklar. Hier aber konnte gezeigt werden, wie er 1945 verhaftet und interniert wurde, dass der Autounfall 1946 tatsächlich schwere gesundheitliche Schäden mit sich brachte, sowie wie und warum die Internierung 1948 endete. Die komplizierten Geschehnisse um seine Ermittlungs- und Gerichtsverfahren sowie um seine „Entnazifizierung“, die sich allesamt über viele Jahre hinzogen, konnten erst in der vorliegenden Arbeit einmal ausführlich analysiert werden. Und während es inzwischen zwar einige Untersuchungen zum „Naumann-Kreis“ gibt, erschien die konkrete Rolle Kaufmanns immer etwas diffus. Hier konnte der biografische Blick aber aufzeigen, dass Kaufmann zwar in den Kreis involviert war, aber seine Krankheit größeres Engagement verhinderte. Auch die spätere Berufstätigkeit als Unternehmer und die Frage nach seinen Vermögensverhältnissen waren zuvor noch nie betrachtet worden, und die Rezeption ist zwar für Hamburg und dessen NSDAP-Politker im Allgemeinen bereits in den Blick genommen worden, ohne aber dabei Kaufmanns recht positive Rezeption und deren Entwicklung näher erklären zu können. Von einer Biografie über Kaufmann werden zwangsläufig auch andere Themen miterfasst. Viele davon erhalten durch die Erforschung Kaufmanns neue Nuancen. Diese sollen hier noch kurz erwähnt werden, da ausgehend von der Erforschung Kaufmanns in diesen Themen neue Interpretationsmöglichkeiten gegeben sind. Erstens ist Kaufmann weit mehr der „Führer Hamburgs“ gewesen, als es bislang erschien. Es war bereits bekannt, dass seine Ämterfülle zumindest innerhalb des „Altreichs“ einzigartig war und er unvergleichliche Kompetenzen gesammelt hatte. Wie sich die Herrschaftspraxis dabei aber gestaltete, war noch nicht klar. Mit den hier vorliegenden Ergebnissen kann dahingehend aber eine neue Perspektive in der Erforschung des nationalsozialistischen Hamburg und allgemein der NS-Mittelinstanz eröffnet werden. Das betrifft primär die Frage nach den Hamburger Herrschaftsstrukturen, die alle auf Kaufmann hinausliefen, sowie in eingeschränkter Weise auch die einzelnen Führungspersönlichkeiten des nationalsozialistischen Hamburg, die in diese Strukturen eingebunden waren. Hinsichtlich der NSMittelinstanz ist zugleich der Blick um einen der mächtigsten Gauleiter und um den Reichsgau Hamburg erweitert worden.
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Zweitens war Kaufmanns Verortung auf dem linken Parteiflügel bereits bekannt. Was das aber konkret in seinen ideologischen Vorstellungen bedeutete, war nicht klar, zumal der Begriff des „nationalen Sozialismus“ von verschiedenen politischen Richtungen reklamiert wurde und jede etwas anderes darunter verstand. Mit den hier erreichten Ergebnissen kann der linke Parteiflügel noch etwas näher untersucht werden, denn da seine Protagonisten nach 1926 keine geschlossene Gruppe mehr bildeten, kommt es hierbei besonders auf die Erforschung der einzelnen Personen wie beider Strasser, Koch, Goebbels oder eben auch Kaufmann an. Drittens war die Kapitulation Hamburgs nie ein Thema, das unbearbeitet lag. In Forschung und Öffentlichkeit gab es immer irgendwo einen Ansatz, der die Kapitulation berührte. Zwar war die Mehrheitsmeinung in der Forschung sich einig, dass eine Kapitulation ohne oder gegen Kaufmann nicht möglich gewesen wäre, und auch, dass er den Kapitulationswillen ab einem bestimmten Zeitpunkt besaß. Wie das aber in seinem Denken und Handeln seit Mitte 1943 stand, und dass er definitiv seit der „Operation Gomorrha“ nicht mehr an den „Endsieg“ glaubte, war nicht bekannt. Durch die nun erlangten Ergebnisse kann also auch die Endphase Hamburgs im Zweiten Weltkrieg von „Gomorrha“ bis zur kampflosen Übergabe noch einmal um eine Perspektive reicher werden. Ersichtlich wird an diesen drei (Haupt-)Punkten, bei denen Kaufmanns Erforschung auch andere Themenfelder berührte auch, dass Struktur- und Personengeschichte kein Widerspruch sind und nie ganz getrennt werden können. Ganz besonders im „Dritten Reich“ mit seiner totalitären Verfasstheit und seinem „Führerprinzip“ lag eine enge Verzahnung von beiden vor. Insofern ist die hier erfolgte Erforschung Kaufmanns nicht nur eine weitere Studie über die Protagonisten der NS-Mittelinstanz, sondern auch des NSHerrschaftssystems. Von jedem weiteren Gauleiter, der erforscht wird, können weitere Erkenntnisse über beides erwartet werden, zumal jeder von ihnen seinen „Hoheitsbereich“ individuell prägen konnte. Woher diese Gauleiter kamen, wie sie geprägt wurden, was sie aus Idealismus und politischer Sozialisation heraus erlitten und andere erleiden ließen, was sie aufbauten, wie sie es aufbauten, welche Konsequenzen ihr Handeln für andere hatte, wie ihre Herrschaft zusammenbrach, wie sie danach lebten und sich ein neues Leben aufzubauen versuchten, wurde hier an Kaufmann detailliert gezeigt. Weitere Gauleiter harren ihrer umfassenden, über Aufsätze und Einzelaspekte hinausgehenden Erforschung, darunter sogar Persönlichkeiten, die rangtechnisch über viele Jahre hinweg mit Kaufmann ungefähr auf einer Ebene standen, wie Karl Hanke, Jordan, Lohse, Mutschmann, Röver, Terboven oder auch Robert Wagner. Mit jedem von ihnen wird das Bild des Nationalsozialismus etwas klarer. Mit Karl Kaufmann wurde hier ein Beitrag dazu geleistet.
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Quellen- und Literaturverzeichnis
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LAV NRW R – –
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NARA –
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NDR Retro –
WR 23771.
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StaH –
SN 1.
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Adreß-Buch der Stadt Elberfeld für 1905 mit dem alphabetischen Einwohnerverzeichnis der Stadt Cronenberg und Gemeinde Vohwinkel. Beilagen: Grundstücks-Angebote (8 seitig) und zwei Stadtpläne. XV. Jahrgang, Elberfeld 1905 [o. H.].
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Auch wenn sich mehrere Unterkapitel thematischen Kontextualisierungen widmen, wurde im Personenregister auf die Aufzählung des Namens „Kaufmann“ verzichtet. Je nach Einzelfall kann es sich durchaus anbieten, den Protagonisten einer Biografie im Personenregister zu nennen. Hier trifft dies jedoch nicht zu. Adenauer, Konrad 347.
Ahrens, Georg 132, 179f., 182, 186, 188, 190f.,
193f. 220, 224, 228f., 238, 266–270, 274, 307f.
Amann, Max 101.
Dreher, Wilhelm 161.
Drescher, Wilhelm 318. Eckart, Dietrich 58.
Eigruber, August 294.
André, Etkar 330.
Eggeling, Joachim Albrecht 294.
Bang, Paul 157.
Feder, Gottfried 60, 77, 101, 159.
Antonescu, Ion 286.
Erzberger, Matthias 51.
Axmann, Artur 342, 344.
Esser, Hermann 56, 161.
Best, Werner 337.
Florian, Karl Friedrich 79, 83, 98, 293,
Böckenhauer, Arthur 124.
Frank, Hans 159, 161.
Brunswig, Hans 274.
329, 337, 340.
Bock von Wülfingen, Constantin 297, 308.
Forster, Albert 67, 151, 294, 357.
Bormann, Martin 61f., 161, 298, 300, 324.
Franke-Gricksch, Alfred 339.
Bourchard-Moth, Wilhelm 292, 306, 308.
Franzen, Anton 161.
Brinkmann, Friedrich-Georg 344.
Frick, Wilhelm 79, 159, 161, 167f., 175,
Buch, Walher 161.
Giesler, Paul 281, 294.
Bracht, Fritz 17, 98.
Freiberger, Herbert 344.
Brinkmann, Friedrich 57.
Freyberg, Alfred 177.
Brückner, Helmuth 66.
177, 179, 186, 189, 194, 218, 221.
Brüning, Heinrich 169.
Gerland, Karl 294f.
Buhle, Walther 298–300.
Goebbels, Joseph 14–16, 35, 45, 48, 61f.,
Bürckel, Josef 15, 62, 149, 161.
67, 71, 73, 75–81, 82f., 85–89, 93–96,
Busch, Ernst 298–300, 303f.
98f., 122, 127, 135, 137, 149, 151, 154,
Daluege, Kurt 252.
189, 161, 169, 188, 237, 241, 246, 249f.,
Darré, Walther 161.
Dönitz, Karl 281, 298–302, 306f., 310.
271f., 281, 294f., 348, 384.
416
Goerdeler, Carol Friedrich 297.
Göring, Hermann 10, 62, 110, 152f., 158f.,
Hoffmann, Alfred 58.
Graef, Walther 152f.
Hühnlein, Adolf 162.
161, 164–166, 170, 175, 185, 218, 220f.,
Holz, Karl 294f.
237, 246, 251, 258f., 266, 283, 305, 348.
Hugenberg, Alfred 164.
Graf Bernadotte, Folke 297.
Huisgen, Horst 344.
Graf zu Reventlow, Ernst 60, 103, 126, 159.
Hüttmann, Ernst 124.
Granzow, Walter 177.
Ipsen, Hans Peter 217, 220.
Greiser, Arthur 249, 294.
Jury, Hugo 294.
Grohé, Josef 16, 98, 146, 161, 139, 167, 181,
Jacob, Hans 125.
294f., 323, 331, 337, 340, 358f.
Jodl, Alfred 298, 300.
Günther, Alfred 50, 55.
Jordan, Rudolf 61, 150, 294, 329, 384.
Haake, Heinz 86, 109, 111.
Keitel, Wilhelm 298–300.
Hellmuth, Otto 294.
Klagges, Dietrich 161.
Hanke, Karl 281, 294, 384.
Kehrl, Hans 307.
Helfferich, Emil 131f., 228f., 239.
Kerrl, Hans 109, 111, 161.
Henlein, Konrad 293.
Klant, Josef 122.
Hess, Rudolf 161, 186, 281f.
Klintzsch, Hans Ulrich 51.
Hierl, Konstantin 159.
Koch, Erich 39, 59f., 78, 83, 92–96, 98–
Hildebrandt, Friedrich 15, 81, 161, 185, 231,
100, 121, 127, 135, 137, 149, 161, 276,
238, 294.
281–283, 294, 384.
Himmler, Heinrich 96f., 241f., 246–248, 252,
Kraft, Waldemar 342, 345.
274, 287, 293, 297f., 300, 305, 310.
Krebs, Albert 78, 86, 122f., 125.
Hitler, Adolf 12f., 15, 17f., 27, 33, 45, 47, 51,
Krogmann, Carl Vincent 132, 178–183,
54, 56–63, 72, 74, 77f., 82–88, 93–95, 97,
185–188, 190f., 193f., 200, 210f., 218–
99–101, 103, 106, 122, 125–129, 131, 135–
221, 229, 231, 238, 240f., 244, 250,
138, 140, 143, 149, 152, 156–158, 161, 166–
308–310, 374.
176, 180–182, 185–187, 189, 201, 215f.,
Kube, Wilhelm 66, 109, 111, 161, 259.
285, 287, 295, 298–300, 304, 324, 348, 358,
Lauterbacher, Hartmann 265, 294.
219–221, 223–228, 239, 241, 246, 248f.,
Kunstmann, Heinrich 336, 344.
251, 256, 258–260, 272f., 275f., 278, 281–
Lammers, Heinrich 186.
375–379, 381.
Laverrenz, Wilhelm 154.
Hoefer, Karl 43.
Ley, Robert 74, 78, 82, 89, 101, 109,
Hofer, Franz 248.
Hoffmann, Albert 293.
111, 159, 161f., 348.
417
Linder, Karl 162.
Loeper, Friedrich Wilhelm 159.
Lohse, Hinrich 109, 111, 122f., 124, 220f., 226, 265, 281f., 294, 329, 384.
Ludendorff, Erich 57f., 75. Lueger, Karl 224.
Sauckel, Fritz 14–16, 62, 149, 163, 177, 225, 238, 281f., 293, 324.
Scheel, Gustav Adolf 281, 294, 329, 337, 340, 342, 344, 371.
Scheidemann, Philipp 51.
Lutze, Viktor 161.
Schepmann, Wilhelm 59.
Martini, Oskar 230.
Schlageter, Albert Leo 41f.
Mehlich, Ernst 42.
Schultz, Heinrich 51.
Meyer, Alfred 95, 150, 185, 294.
Schwarz van Berk, Hans 44, 281, 370,
Mutschmann, Martin 16, 65, 78, 150, 159, 161,
Seldte, Franz 161.
Murr, Wilhelm 238, 294. Mussolini, Benito 62.
192f., 227, 238, 294f., 384.
Naumann, Werner 339–347. Neubacher, Hermann 286.
Servatius, Robert 137f.
Simon, Gustav 98, 146, 294. Six, Alfred 337.
Nieland, Hans 200, 229f.
Speer, Albert 61f., 64, 247, 272f., 283,
Oehlschläger, Karl 52.
287f., 295, 303–309.
Okraß, Hermann 125.
Sprenger, Jakob 150, 159, 161, 227, 294f.
Petersen, Carl Wilhem 176, 200, 374.
Spurling, Douglas 290, 307f.
Petersen, Rudolf 200, 374.
Stegner, Artur 342.
Pfeffer von Salomon, Franz 60, 103, 126, 159.
Stöhr, Franz 159, 163.
Prützmann, Hans-Adolf 247, 252f.
Stöhr, Willi 294.
Rainer, Friedrich 294.
Strasser, Gregor 57, 59f., 78f., 82, 94,
Richter, Alfred 132, 175f., 183, 197, 253.
101–103, 125–128, 135f., 140, 159,
Riensberg, Heinrich 297.
384.
Ripke, Axel 71, 75, 249.
Strasser, Otto 59f., 81, 82, 88, 101, 103,
Ritter von Epp, Franz 125, 159, 161, 170, 185.
126–128, 384.
Rosenberg, Alfred 51, 58, 159, 181, 221, 272,
Streckenbach, Bruno 247.
281–283.
Streicher, Julius 15f., 45, 62, 66, 77, 104,
Roth, Alfred 49.
249, 358.
Rothenberger, Curt 190.
Stresemann, Gustav 42.
Röver, Carl 16, 161, 177, 225, 265, 384.
Stürtz, Emil 294.
Rust, Bernhard 159, 265.
Ruckdeschel, Ludwig 293.
372.
Schwede, Franz 294, 329.
Tegeler, Wilhelm 366.
418
Telschow, Otto 220f., 265, 294.
Terboven, Josef 94f., 98, 100, 121, 161, 280f., 384.
Tillessen, Heinrich 51.
Uiberreither, Siegfried 294.
Völtzer, Friedrich 186f.
Von dem Knesebeck, Jürgen 159. Von Graefe, Albrecht 57.
Von Hindenburg, Paul 75, 117, 152, 155, 181. Von Killinger, Manfred 38, 43f., 50f., 65, 192.
Von Manstein, Erich 303.
Von Papen, Franz 10, 107f., 151f., 154, 161, 167, 174, 185, 202.
Von Schirach, Baldur 152, 281, 294. Wächtler, Fritz 66, 295.
Wagner, Josef 66, 94f., 98, 100, 121, 161, 358. Wagner, Robert 150, 161, 227, 238, 294, 384. Wahl, Karl 63f., 66, 68, 260, 294. Wallenberg, Jacob 297.
Wallenberg, Marcus 297.
Weinrich, Karl 162, 275f.
Wegener, Paul 265, 276, 281, 293, 329, 340.
Wenck, Walther 299. Werber, Lambert 51.
Werdermann, Carl 230.
Wiegershaus, Friedrich 57. Willikens, Werner 159.
Wolff, Otto 200, 204f., 245, 364, 367–370.
Wolz, Armin 290, 296f., 301f., 306–308, 310. Wulle, Reinhard 49, 57.
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Der Historiker Daniel Meis studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Rechtswissenschaft. Seit 2020 lehrt er in Düsseldorf, nun auch in Bonn und Stuttgart. Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Biografik, Mediengeschichte, Nationalsozialismus, Regionalgeschichte und Unternehmensgeschichte.
www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-45032-9
Daniel Meis Hamburgs „Führer“ Karl Kaufmann (1900–1969)
Karl Kaufmann baute von frühester Zeit an die NSDAP mit auf, war ein Gesicht des linken Parteiflügels und ab 1925 Mitglied der zweiten Reihe der NS-Führung. In Hamburg etablierte er eine Herrschaft, die mit Vorläufern aus dem Saarland Muster für annektierte Gebiete und die geplante Neuordnung des Reiches wurde. Nach dem Krieg erst schwer erkrankt, dann als Unternehmer aktiv und teils bis heute von gutem Rufe in Hamburg war Kaufmann ein ungewöhnlicher NS-Politiker. Der Historiker Daniel Meis geht all diesem in der ersten umfassenden Biografie nach. Deutlich wird, dass Kaufmann anders war, als es lange schien.
Daniel Meis
Hamburgs „Führer“ Karl Kaufmann (1900–1969) Ein Leben zwischen Macht, Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Krankheit