Harry Graf Kessler: Ein Leben zwischen Kultur und Politik 9783412312503, 3412049948, 9783412049942


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German Pages [248] Year 1995

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Harry Graf Kessler: Ein Leben zwischen Kultur und Politik
 9783412312503, 3412049948, 9783412049942

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HARRY GRAF KESSLER

Burkhard Stenzel

HARRY GRAF KESSLER Ein Leben zwischen Kultur und Politik

® 1995 BÖHLAU VERLAG WEIMAR • KÖLN • WIEN

Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung Mitteldeutscher Kulturrat und dem Thüringer Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Stenzel, Burkhard: Harry Graf Kessler : Ein Leben zwischen Kultur und Politik / Burkhard Stenzel. - Weimar; Köln ; Wien : Böhlau, 1995 Zugl.: Diss. ISBN 3-412-04994-8

Umschlagabbildung: Harry Graf Kessler (1888), Schiller-Nationalmuseum/Deutsches Literaturarchiv Marbach/N. Dieses Buch wurde mit chlorfrei gebleichtem, säurefreien Papier hergestellt.

© 1995 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Weimar, Köln Alle Rechte vorbehalten DTP und Gestaltung: Gisela Fischer, Weimar Druck und buchbinderische Verarbeitung: Druckerei Plump, Rheinbreitbach Printed in Germany ISBN 3-412-04994-8

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT

7

I

9

EINLEITUNG

n HARRY GRAF KESSLERS FRÜHE SOZIALISATION Suche nach ästhetischen, philosophischen und politischen Grundansichten

19

Jugend- und Studienzeit Wilhelminismus Bismarckverehrung und Kaiserkritik Philosophie Nietzsches und Schopenhauers Berliner Boheme Kessler als junger Mäzen, Essayist und Reiseschriftsteller Kunstzeitschrift „Pan" Frühe Schriften

47 48 55

III KESSLERS GESELLSCHAFTLICHES ARRANGEMENT Profilierung in der Öffentlichkeit des Wilhelminischen Reiches (1900-1908)

71

Berliner Secession Moderne ausländische Kunst im „secessionistischen" Berlin um 1900 Kunsterziehungsbewegung Weimarer Reformen (1902-1906) Entstehung der Weimarer Reformbewegung Das neue Weimar Buchkunstprogramm, Eliteschule und Scheitern der Reformen

20 35 36 40 44

72 75 79 82 85 92 104

6

Inhaltsverzeichnis

IV KESSLER ALS UNIVERSALER KULTURFÖRDERER Kontakte, Positionen und Projekte bis zum Zusammenbruch des Kaiserreichs (1908-1918) . . . .

111

Kesslers Verhältnis zu europäischen Künstlern . . . . Kessler und Maillol Reise nach Griechenland Künstlerische Projekte bis zum Ende des Ersten Weltkrieges Ein „kommender Mann" Ästhetische Auffassungen bis 1918

126 127 140

V ZWISCHEN KULTUR UND POLITIK IN DER WEIMARER REPUBLIK (1918-1933) . . .

147

Neue Wirkungsmöglichkeiten in den ersten Nachkriegsjahren Kesslers Rathenau-Biographie Entstehungsgeschichte Zum Werk Wirkungsgeschichte

112 113 117

148 158 159 169 188

VI HARRY GRAF KESSLER EIN UNVOLLENDETES LEBEN FÜR DIE MODERNE

195

Anmerkungen

199

Quellennachweis

236

Literaturverzeichnis

237

Abkürzungsverzeichnis

248

Abbildungsnachweis

248

VORWORT

Harry Graf Kessler (1868-1937), Schriftsteller, Kulturförderer und Diplomat, zählt zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der europäischen Moderne und gilt als einer der wenigen Weltbürger des 20. Jahrhunderts. Er führte bewußt ein Leben zwischen Kultur und Politik. Zu Lebzeiten blieb ihm jedoch größerer Ruhm versagt, offenbar, weil seine vielfältigen Ambitionen, Geist und Macht in Deutschland zu versöhnen, scheiterten. Er blieb ein Leben lang sich und seiner Position treu, zwischen Kultur und Politik zu stehen und zwischen ihnen zu vermitteln. Es ist deshalb nur allzu verständlich, daß an den zu DDR-Zeiten zur persona non grata erklärten Kessler in Weimar, der Stadt, die für ihn dreißig Jahre lang Wohn- und Arbeitsort war und aus der er 1933 von den Nationalsozialisten vertrieben wurde, nun angesichts der Vorbereitung zum Europäischen Kulturstadtjahr 1999 endlich respektierlich erinnert wird und man sich auf sein umfassendes Kulturverständnis beruft. Sein Leben und Werk rückt seit geraumer Zeit zunehmend in den Blickpunkt germanistischer und historischer Forschungen. Zu Kesslers vielfältigen künstlerischen, kunstfördernden und politischen Tätigkeiten liegen bisher aber ausschließlich Untersuchungen zu Einzelaspekten vor. Mit dieser Arbeit soll ein biographischer Beitrag geleistet werden, der Kesslers grundlegende Literatur-, Kunst- und Politikauffassungen zum Inhalt hat. Im Rahmen dieser Darstellung wird insbesondere Kesslers Verhältnis zu Kunst und Politik untersucht, das sich bei ihm in einer außerordentlich vielschichtigen und sich mit den Jahren wandelnden geistigen Auseinandersetzung als universaler Versuch zur Kultur- und Gesellschaftsemeuerung äußerte. Seine weitreichenden Literatur- und Kunstunternehmungen und seine Aktivitäten in der Politik des Wilhelminischen Deutschlands und in der Weimarer Republik werden für die Zeit von 1895 bis 1933 betrachtet. Dieser Zeitraum umspannt Kesslers intensivsten und produktivsten Lebensabschnitt. In diesem Zusammen-

8

Vorwort

hang werden vor allem die ästhetischen und politischen Auffassungen Kesslers anhand einer analytischen und vergleichenden Betrachtung des essayistischen und schriftstellerischen Werks unter Einbeziehung von Tagebuch- und Briefmaterial, das bislang weitgehend unveröffentlicht ist, untersucht. Im Verlauf der wirkungsreichsten Jahre Harry Graf Kesslers tauchen in sehr großer Zahl die Namen der künstlerischen und politischen Prominenz auf. Aus der Vielzahl der Kontakte zu weithin bekannten Zeitgenossen im In- und Auslang entstanden häufig enge Freundschaften und Jahrzehnte überdauernde Bekanntschaften. Eine besondere Stellung in Kesslers Leben nahm der Industrielle, Politiker und Schriftsteller Walther Rathenau ein. Warum Kessler gerade Rathenau und nicht dem mit ihm gleichfalls langjährig befreundeten Dichter Hugo von Hofmannsthal eine Biographie widmete, soll auch in dieser Untersuchung geklärt werden. Für die zahlreichen Anregungen und Hinweise möchte ich mich an dieser Stelle bei allen bedanken, die meinen Denk- und Arbeitsprozeß begleitet haben. Zu besonderem Dank bin ich Prof. Dr. Jürgen John, Prof. Dr. Aldo Venturelli und Prof. Dr. Helmut Brandt verpflichtet. Dr. Ulrich Ott, Dr. Werner Volke und Dr. Gerhard Schuster vom Deutschen Literaturarchiv Marbach a. N. förderten diese Arbeit durch ihren Rat und ihren kritischen Beistand. Mein Dank gilt auch Eberhard Fuchs, der mir die Erlaubnis für die Verwendung von bisher nicht veröffentlichtem Kesslerschen Tagebuch- und Briefmaterial gab. Ferner danke ich dem Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar, dem GoetheSchiller-Archiv Weimar, dem Munch-Museet Oslo, dem Bundesarchiv Potsdam, der Weimarer Herzogin Anna Amalia Bibliothek und der Jenaer Universitätsbibliothek. Mit freundlicher Unterstützung des Thüringer Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur und der Stiftung Mitteldeutscher Kulturrat (Bonn) wurde die Drucklegung dieses Buches ermöglicht. Weimar, im März 1995

I

EINLEITUNG

Ein literaturwissenschaftlicher Beitrag zum Leben und Werk von Harry Graf Kessler kann dem zu untersuchenden Gegenstand nur gerecht werden, indem es ihm gelingt, die Einheit und Widersprüchlichkeit von Kesslers praktischer Tätigkeit und seiner vitalen geistigen Auseinandersetzung im jeweiligen historischen Kontext zu berücksichtigen. Die Rekonstruktion eines Lebens oder Lebensabschnitts nach wesentlichen Erfahrungen und Erkenntnissen impliziert eine vereinfachende Erklärung, die kaum vollständig das komplizierte Gefüge der inneren und äußeren, jeweils wirkenden Bedingungen erfassen kann. „Wer sondert, wird unrecht tun. Wer eines heraushebt, vergißt, daß unbemerkt immer das Ganze erklingt", stellte Hugo von Hofmannsthal hierzu im Hinblick auf den „Rosenkavalier" fest. 1 Für die Studie wurde die „biographische Methode" verwendet, die, nach Klaus Lankenau, von der „grundsätzlichen Annahme" ausgeht, „die soziale Wirklichkeit durch die Anlyse biographischen Materials ... zu rekonstruieren und zu erforschen".2 Das sich daraus ergebende methodologische Problem, wie sich die hinter der Rekonstrukion stehenden objektiven Strukturen dieser Wirklichkeit aufdecken lassen, wird in der germanistischen und historischen Forschung kontrovers bewertet. Deshalb orientiert sich diese Studie zu Harry Graf Kesslers Werk und Leben an dem grundsätzlichen methodischen „Aspekt der subjektiven Verarbeitung von sozialer Wirklichkeit und sozialen Prozessen". 3 Das literaturwissenschaftliche Erkenntnisinteresse an einer der interessantesten Biographien zwischen Kultur und Politik liegt in dieser Arbeit primär in der analytischen und vergleichenden Betrachtung der Kesslerschen Schriften. Die Entstehung und Rezeption der im Rahmen dieser Darstellung ausgewählten Schriften von 1895 bis 1935 wurde im Zusammenhang mit der jeweiligen konkreten historischen Situation untersucht. Dazu dienten die erstmalig 1988 edierten „Gesammelten Schriften" als Grundlage.

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Einleitung

Die Verwendung des fast lückenlos erhaltenen, über fünfzig Jahre lang geführten Tagebuchs von Harry Graf Kessler (1880 bis 1937), das das Deutsche Literaturarchiv Marbach am Neckar bewahrt, ermöglichte es, private Mitteilungen mit entsprechenden Veröffentlichungen zu vergleichen.4 Mit diesem, wie Gustav René Hocke einschätzte, „echten zeitkritischen Tagebuch der Moderne" literaturhistorisch zu arbeiten, heißt, dieses umfangreiche, materialreiche Erinnerungsjournal nicht einer „Plünderung durch Autorphilologie und Künstlerkunde" auszuliefern.5 Diese Untersuchung stützt sich nicht auf Einzelaspekte bei der Auswertung von Kesslerschen Quellen (Tagebücher, Briefe, Dokumente), sondern wahrt die ganzheitliche Betrachtung von Kesslers Leben und Werk für die Zeit von der Jahrhundertwende bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt dieses Buches steht die Frage nach dem Zusammenhang von Kesslers Literatur-, Kunst- und Politikauffassungen zu den sich verändernden gesellschaftlichen Strukturen des Wilhelminischen Deutschlands und der Weimarer Republik. Vor dem Hintergrund des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umbruchs von der Reichseinigung 1871 bis zur Jahrhundertwende fand eine spürbare Verschiebung der Gesellschaftsordnung statt. In diesem Prozeß des Verfalls und der Neuorientierung sah sich der Adel in Deutschland in einer gesellschaftlichen Defensivrolle und er konnte seine Machtsicherung nur noch in einer restaurativen Struktur - der letzten nach dem „Wiener Kongreß" (1815) - verwirklichen. Die politische Machtteilung mit dem im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts erstarkten Finanz- und Großbürgertum bildete seine letzte Phase der über zehn Jahrhunderte dauernden Herrschaft. Das Zweckbündnis mit dem Großbürgertum im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war Ausdruck des allgemeinen Machtschwunds des Adels. Der Adel geriet so immer mehr in eine krasse Gegenposition zur gesellschaftlichen Entwicklung. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges war Ausdruck für diesen Anachronismus, der den Niedergang des Wilhelminischen Reiches beschleunigte. Unter diesen Umständen der realen Bedrohung der Existenz des

Adels von der Jahrhundertwende bis 1914 soll im Rahmen die-

Einleitung

11

ser Studie der Frage nachgegangen werden, inwieweit das künstlerische und politische Denken Harry Graf Kesslers mit dem Zerfall des feudal-militaristischen Staates korrelierte. Die Kriegsniederlage Deutschlands und die Novemberrevolution von 1918 waren die Voraussetzungen für die Schaffung einer parlamentarischen Demokratie, die die Machtverhältnisse zugunsten des Großbürgertums klärte. Der Adel hatte mit dem Sturz Kaiser Wilhelms II. seine politische Vorherrschaft eingebüßt, besaß aber im Regierungs-, Militär- und Justizapparat noch immer einflußreiche Positionen. Der faktisch aufgelöste Hofadel und der Neuadel suchten nach einem Platz in der Republik. Innerhalb dieser Darstellung muß demnach auch die Frage diskutiert werden, welchen künstlerisch-politischen Standort Graf Kessler in der Weimarer Republik einnahm und welche Auswirkungen dieser auf sein Politikverständnis bis 1933 hatte. In diesem tiefgreifenden sozialen, ökonomischen und politischen Wandel vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts waren herausragende literarische und künstlerische Strömungen verflochten, die in einer bis dahin nicht gekannten Pluralität der Moderne den Weg bereiteten.6 Galten in den 80er Jahren als moderne Kunst der sozialkritische Naturalismus in der Literatur und der Impressionismus in der Malerei, so änderte sich in nur zehn Jahren das Kunstverständnis von Grund auf: „Modern heißt jetzt eine romantisch-aristokratische Abwendung vom Naturalismus".7 Für die Generation der 20- bis 30jährigen wurde in den 90er Jahren unter dem Eindruck des fin de siècle Modernität „eine Erfahrung, eine Faszination, ein Wert".8 Sie war durch die wirtschaftliche „Große Depression" von 1873 bis 1895 hervorgerufen worden und zeitigte reale Deklassierungsängste. Die ideologiegeschichtlich als „konservative Wende" bezeichnete Umorientierung von weiten Teilen der literarischen und künstlerischen Intelligenz „von sozialem bzw. sozialistischem Engagement zum radikalen Geistesaristokratismus" war Ausdruck für die tiefgehende Verunsicherung dieser Gesellschaftsschicht.9 Um 1900 war die Literatur und Kunst der Moderne vor allem durch diese , JDoppelgesichtigkeit" gekennzeichnet. Charakteristisch für Modernität blieb, daß sie in beson-

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Einleitung

ders deutlicher Weise „das historische Zeitbewußtsein" in ihren „grundlegenden Änderungen" verkörperte. 10 Auch Harry Graf Kessler wurde von diesem konservativen Umschwung, dem zunehmenden Einfluß romantisch-aristokratischer Geisteshaltung, erfaßt. 11 Viele seiner adeligen Zeitgenossen standen im Bann dieser neokonservativen Ideologie. Das aristokratische Selbstverständnis dieses „Jugend"-Adels fand in den 90er Jahren mit der Gesellschaftsvision eines elitär strukturierten Staates im Sinne Nietzsches eine breite Identifikationsmöglichkeit.12 Aus dieser philosophischen Vision wurde der Anspruch abgeleitet, daß „das Leben durch Kunst zu erneuern" sei. Diese „doppelgesichtige", elitär-konservative, erneuernde und junge Kunst wurde um 1900 in Deutschland als „Jugendstil", in Frankreich als „Art Nouveau" und in England als „Modern Art" bekannt. 13 Diese Kunst suchte entgegen der Kunst der Gründerzeit und der höfisch-akademischen nach Ausdrucksformen, die am deutlichsten in Malerei, Plastik, Architektur und Typographie hervortraten. Infolge der Industrialisierung und dem zunehmenden Rückgang des Handwerks entstand das Kunstgewerbe. Das Signum dieses Umbruchs war und blieb ambivalent. „Abschied" und „Aufbruch" wurden die Synonyme für die prägenden und existentiellen Erfahrungen der Generation von jungen Söhnen des Bürgertums, des Adels und der Intelligenz, die sich trotz unterschiedlicher politischer Positionen einig in der „ästhetischen Opposition" zum Gründerzeitoptimismus und zum „persönlichen Kunstregiment" Kaiser Wilhelms II. sahen. Diese doppelgesichtige - einerseits erneuernde, andererseits elitär-konservative Disposition - trat in der Zeit des Ersten Weltkriegs in individuellen Haltungen offen hervor. Auch für Harry Graf Kessler wurde das Weltkriegserlebnis zum biographischen Wendepunkt. Sein Weg der Suche nach einer möglichen Versöhnung von Geist und Macht, von Kultur und Politik war aber zum Scheitern verurteilt. Er suchte einerseits, ein Arrangement mit den Machtverhältnissen im Kaiserreich zu finden. Andererseits hoffte er, durch literatur- und kunstfördernde Tätigkeiten dem „Kulturrevolutionarismus" wichtige Impulse zu geben. Für das sich wandelnde Verhältnis zu Macht und Geist sind bei Kessler eine Reihe von verschiedenen individuell-familären und gesell-

Einleitung

13

schaftlichen Faktoren verifizierbar, die in dieser Studie beschrieben werden. Bei der analytisch-vergleichenden Betrachtung von Kesslers Werk und Leben werden in dieser Untersuchung hinsichtlich des oben genannten Verhältnisses zu Macht und Geist eine Vielzahl signifikanter Beispiele herausgearbeitet, die ambivalente Literatur-, Kunst- und Politikauffassungen darstellen. Diese Beispiele belegen, daß Kesslers „ästhetische Opposition" als Suche nach neuen Werten und Idealen verstanden werden muß - eben als „Aufbruch" und als entschiedenes mäzenatisches und schriftstellerisches Engagement für Kulturerneuerung und Weltoffenheit. Gleichzeitig stehen diese Beispiele für Kesslers widersprüchliche Gesellschaftskritik bis 1918, die die Vermischung von „Abschied" und „Aufbruch" kenntlich macht. Zugespitzt formuliert, heißt das für Kesslers frühe Ästhetik: Bismarckverehrung und Kaiserkritik, elitäre Kulturerneuerung beim „Pan", ästhetisierender, pathetischer, individualisierender Kunstgeschmack, Verehrung des Symbolismus, entschiedener Nietzscheanismus und moderner Kulturreformismus. Vor dem Hintergrund der angedeuteten allgemeinen und für Kessler spezifischen Problematik soll die Wandlung vom herausragenden Vertreter einer „geistigen Opposition" der Jahrhundertwende zum politisch engagierten Außenseiter im Kaiserreich und in der Weimarer Republik aufgezeigt werden. Die Untersuchung verfolgt unter Einbeziehung neu erschlossener Archivalien, welche Richtung und welchen Verlauf der Lebensweg des Weltmannes, modernen Europäers und Kulturenzyklopädisten Graf Kessler im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nahm. Ein Lebensweg, der besonders in Konfliktsituationen die individuellen Grundhaltungen Skepsis, Suche, Innovationsstreben und Flucht sichtbar werden ließ, und der - typisch für einen Teil einer ganzen Generation - in der Emigration endete. Bezogen auf die Entwicklung der modernen Kunst und Literatur wird weiterhin der Frage nachgegangen, wie Graf Kessler die Literatur des Naturalismus, die Malerei des Impressionismus und die Ästhetik des Jugendstils in seinem schriftstellerischen Werk rezipierte, und welche Positionen er zu nachfolgenden Kunstrichtungen wie etwa dem Expressionismus der Vor- und Nachkriegszeit einnahm.

14

Einleitung

Harry Graf Kesslers Leben und Werk ist, wie es Wolfdietrich Rasch einschätzt, „dem Bewußtsein der Nachlebenden entglitten".14 Die Urteile von Kesslers Zeitgenosssen und Freunden waren größtenteils widersprüchlich. So erwähnte Reichskanzler a. D. Bernhard Fürst von Bülow in seinen Memoiren abfällig, Kessler sei einer, der „sich unter dem republikanischen Regime im Auslande als ,Graf' diplomatisch betätigen konnte".15 Theodor W. Adorno ging so weit, ihn der „Wichtigmacherei, die gewaltige Mächte suggeriert" zu bezichtigen.16 Sein Freund Henry van de Velde sah in ihm rückblickend den „Adel der Gesinnung" verkörpert. Ähnlich George Grosz, der ihn als „den vielleicht letzten wirklichen Gentleman" des frühen 20. Jahrhunderts charakterisierte.17 Annette Kolb hob in ihrem Nachruf auf Graf Kessler angesichts der nationalistischen Tendenzen von HitlerDeutschland hervor: „europäisch war seine Prägung".18 René Schickele schätzte Kesslers Kulturengagement und dessen Sondierungsversuche zu Friedensverhandlungen während des Ersten Weltkrieges in der Schweiz hoch ein, weil er in seinen Augen als Patriot „ein wahrhafter Hüter des besten und unvergänglichen deutschen Gutes gewesen ist".19 Noch zu Anfang der fünfziger Jahre erinnerte sich Becher der finanziellen Hilfe und Unterstützung durch Kessler, der ihn in den schwierigen Jahren 1917/18 „vor dem Tod des Verhungerns" gerettet hatte.20 Die in den fünfziger und sechziger Jahren veröffentlichten Brief-, Tagebuch- und Memoirenbände trugen zum Beginn der systematischen Erkundung von Graf Kesslers Leben und Werk entscheidend bei. Hilde Burger sah in Kessler den „Diener der Neuen Kunst und ihren Ideale".21 Dank der Veröffentlichung von weiterem Tagebuchmaterial durch Bernhard Zeller22 entstanden in der Folgezeit verdienstvolle Arbeiten.23 Die Untersuchungen zu Kessler ergaben immer differenziertere Urteile. Jürgen Haupt kommt in seiner vergleichenden Studie zu dem Schluß: „Sein Interesse für die Kunst seiner Zeit sticht stark gegenüber Hofmannsthals künstlerischen Konservatismus ab."24 Dirk O. Hoffmann untersuchte „Harry Graf Kesslers Mitarbeit am Rosenkavalier" unter Einbeziehung von Briefen, die HansUlrich Simon mit einem historisch-psychologischen Kommentar über Bodenhausen und Kessler herausgegeben hat. Die erste zu-

Einleitung

15

sammenfassende Dokumentation zur Biographie Kesslers wurde 1988 mit dem Katalogband zur Ausstellung „Harry Graf Kessler - Tagebuch eines Weltmannes" von Gerhard Schuster und Margot Pehle herausgegeben. Parallel dazu wurden, wie bereits genannt, Kesslers „Gesammelte Schriften" erstmalig ediert. In der Folgezeit entstanden Untersuchungen, die positive Urteile über den Grafen fällten. Volker Wahl spricht davon, daß „Kessler zum beherrschenden Kulturfaktor in Weimar" wurde.25 Er wies auch auf den Zusammenhang zwischen der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Jenaer Universität (1905) an Auguste Rodin und den Rücktritt Kesslers als Kunstdirektor in Weimar (Juni 1906) hin. Hildegard Nabbe kommt in Anlehnung an die Untersuchung von Wolfdietrich Rasch zu dem Schluß, daß Kessler „eine Schlüsselfigur der elitären ästhetischen Bewegung" war.26 Aufschlußreiches Briefmaterial veröffentlichte Roswitha Wollkopf. Sie untersuchte „Das Nietzsche-Archiv im Spiegel der Beziehungen Elisabeth Förster-Nietzsches zu Harry Graf Kessler". In jüngster Zeit entstanden Untersuchungen zu Kesslers Leben und Werk, die auf eine zunehmend komplexe wissenschaftliche Betrachtung zielen. Erstmalig erforschte Hubert Lengauer 1991 in einer zusammenfassenden Studie „Count Harry Kessler's Concept of Cultural Politics at the Time of the First World War". Peter Grupp analysierte Kesslers diplomatische Tätigkeit unter Verwendung von Aktenmaterial aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes. In dem Aufsatz „Distanz und Nähe" setzte er sich mit dem Thema „Harry Graf Kessler als Biograph Walther Rathenaus" auseinander. Renate Müller-Krumbach beschäftigte sich mit dem kulturellen Vorhaben „Das Neue Weimar". Einen Beitrag zur „Beziehung Harry Graf Kessler und Henry van de Velde", der unveröffentlichtes Briefmaterial van de Veldes aus Brüssel auswertet, erarbeitete Alexandre Kostka für die Ausstellung „Henry van de Velde. Ein europäischer Künstler seiner Zeit". Kostka beschäftigte sich in seiner Dissertation mit dem Thema „Harry Comte Kessler et le problème de la modernisation de la culture allemande 1895-1918". Harry Graf Kesslers Leben im Ausschnitt von drei Jahrzehnten zu beschreiben heißt, ein ungewöhnlich weitmaschiges Netz an Beziehungen zu bedeutenden Vertretern von Literatur, Kunst

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Einleitung

und Politik des Wilhelminischen Deutschlands und der Weimarer Republik zu überschauen. Die publizierten Tagebücher des Grafen enthalten allein über 1.500 Namen von Prominenten aus Kunst und Politik. Für das mit über fünfzehntausend Seiten erhaltene Tagebuch und etwa 6000 Einzelbriefe wird davon ausgegangen, daß darin insgesamt 40.000 Personen erwähnt werden, wobei bemerkt werden muß, daß bisher lediglich etwa ein Drittel der Kesslerschen Tagebücher und Briefe publiziert vorliegen. In dieser Untersuchung kann nur ein kleiner Personenkreis hiervon Berücksichtigung finden. Es handelt sich um die Persönlichkeiten, die im hier abgesteckten Zeitraum für Kesslers künstlerische und politische Ambitionen, Ansichten und Projekte von Bedeutung waren. Dazu zählen Friedrich Nietzsche, Hugo von Hofmannsthal, Gerhart Hauptmann, Eberhard von Bodenhausen, Aristide Maillol, Rainer Maria Rilke, Max Liebermann, André Gide, Carl Sternheim, Fritz von Unruh und Walther Rathenau. Während sich Robert Musil und Thomas Mann von Rathenaus Persönlichkeit für die literarische Schöpfung von Romanfiguren - die des Paul Arnheim und des Felix Krull - inspirieren ließen, wurde Harry Graf Kessler zum Biographen der historischen Gestalt Walther Rathenaus. In Kesslers Leben ist dabei ein frühes und stetes Interesse für Rathenaus Ansichten zu registrieren. Nach 1918 näherte sich Kessler zunehmend den politischen Gedanken Rathenaus. Deshalb soll in dieser Studie geklärt werden, welches Verhältnis zwischen den grundverschiedenen Persönlichkeiten Graf Kessler und Walther Rathenau bestand und inwieweit diese Konstellation Einfluß auf Kesslers Rathenau-Biographie von 1928 hatte. Der Blick auf Harry Graf Kesslers Oeuvre zeigt das starke Bemühen um schriftstellerische Produktivität von 1895 bis 1935.27 Kessler war ein reflektierender Schriftsteller, der mit psychologischen und sozialgeschichtlichen Mitteln meisterhaft künstlerische und politische Entwicklungen aufzeichnete. Vor allem seine herausragenden schriftstellerischen Werke werden im Rahmen dieser Untersuchung erforscht: das Reisebuch „Notizen über Mexiko" (1898), die Biographie „Walther Rathenau. Sein Leben und sein Werk" (1928) und die Memoiren „Gesichter und Zeiten. Erinnerungen. 1. B and. Völker und Vaterländer" ( 1935).

Einleitung

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In diesen Schriften hat Kessler gesellschaftliche Bewegungen reflektiert, die er in einem scharfkonturierten, farbigen Bild als intime Beobachtung festgehalten hat. 28 Die Essays über Kunst und Literatur (1895-1926) entstanden überwiegend in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Sie zeugen von exzellenter Kunstanalyse, großer Kennerschaft und sicherem Stilgefühl. Zahlreiche politische Artikel zum Völkerbund und zur Konferenz von Rapallo spiegeln Kesslers gemäßigt pazifistischen und republikanischen Geist wider. Kessler hat auch auf dem Gebiet der Buchkunst Einzigartiges hinterlassen. Seine Fähgikeit, avantgardistische Schriftsteller und Künstler zu entdecken und zu fördern, ist Ausdruck der universalen Anlage, die im 20. Jahrhundert ihresgleichen in Europa suchte. Sein Freund Hofmannsthal sah in ihm zu Recht mehr als nur einen Kunstvermittler: „Warum ist Kessler kein Künstler? Er wäre etwa kein großer, und so ist er etwas mehr: er ist ein Künstler in lebendigem Material: verschafft Seelen einen Anblick, führt Erscheinungen einander zu. Erwarte von Kessler: Anleitung, fremde Charaktere zu genießen." 29 Dieser biographische Beitrag, der die ästhetischen und politischen Auffassungen Kesslers analysiert, reiht sich in die interdisziplinäre Forschung ein, um die in seinen Tagebüchern beschriebene Vielströmigkeit und Gleichzeitigkeit von geistigpraktischen Tätigkeiten in Kesslers Leben und Werk aufzuarbeiten. Golo Manns Vermutung, Kessler hätte „ - dies ist höchst wahrscheinlich - den Kaiser Wilhelm I. zum Vater" gehabt, konnte im Rahmen dieser Untersuchung nicht bestätigt werden. 30 Es spricht indessen vieles dafür, daß es in den nächsten Jahren immer wieder neue, weitergehende Forschungen und auch Funde zu dem Weltmann und Kulturförderer Harry Graf Kessler geben wird.

II HARRY GRAF KESSLERS FRÜHE SOZIALISATION Suche nach ästhetischen, philosophischen und politischen Grundansichten

„Aus dem ölglatten Geist der zwei letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts hatte sich plötzlich in ganz Europa ein beflügelndes Fieber erhoben. Niemand wußte genau, was im Werden war; niemand vermochte zu sagen, ob es eine neue Kunst, ein neuer Mensch, eine neue Moral oder vielleicht eine Umschichtung der Gesellschaft sein solle. Darum sagte jeder davon, was ihm paßte. Aber überall standen Menschen auf, um gegen das Alte zu kämpfen."1 Robert Musil Zwanzig Jahre nach der Gründung des Deutschen Reiches war Deutschland zu einer politischen und wirtschaftlichen Großmacht aufgestiegen. Neben England und Frankreich trat Deutschland als ein Land der „freien Konkurrenz" bis zur Jahrhundertwende in sein „imperiales Zeitalter" ein. 2 Die sprunghafte wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands am Ende des 19. Jahrhunderts war mit einem monarchistisch verwalteten Staat erfolgt. Zusehends fungierte der Traditionalismus in der Gestalt des preußischen Militarismus und mittels der Institution Kirche als staatstragende Idee. 3 Dieser erstarrende Traditionalismus fand seinen stärksten Ausdruck in Kaiser Wilhelm II., der unduldsam bei der Einweihung der Siegesallee 1901 in Berlin forderte: „Eine Kunst, die sich über die von Mir bezeichneten Gesetze und Schranken hinwegsetzt, ist keine Kunst mehr."4 Dabei waren doch gerade die bestimmenden philosophischen, künstlerischen und naturwissenschaftlichen Strömungen in Deutschland und Europa der Reflex auf die tiefgreifenden ökonomischen und sozialen Wandlun-

20

Frühe Sozialisation

gen dieser Zeit. Als ein, wie Robert Musil sagte, „beflügelndes Fieber" erschien den Zeitgenossen ebenso die Lebensphilosophie Friedrich Nietzsches wie auch die Entwicklungslehre Charles Darwins, die impressionistische Malerei Auguste Renoirs und der literarische Naturalismus Gerhart Hauptmanns im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts. Für Harry Graf Kessler, der in diesem Zeitraum in „drei Vaterländern" - Frankreich, England und Deutschland - aufgewachsen war und eine umfassende Ausbildung erhalten hatte, galt in besonderem Maße, was für viele Gleichaltrige zutraf: die Suche nach ästhetischen, philosophischen und politischen Grundansichten in der Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Kessler, der nach seiner Herkunft, Erziehung, Ausbildung und Position im Deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik zur kulturellen und politischen Elite zählte, schrieb zu seiner Situation in den neunziger Jahren in seinen Erinnerungen: „Wir jungen Menschen genossen einerseits die neue Ungebundenheit und wollten andererseits am Aufbau einer von überlebten Anschauungen gereinigten Welt tätig teilnehmen. Welche von beiden Tendenzen überwog und schließlich siegte, hing vom Charakter eines jeden, oft auch von zufälligen Erlebnissen ab. Für beides bereitete den Boden in uns die Zeit."5 Diese Erfahrung, sich mit den „beiden Tendenzen" zu identifizieren, d. h. den gesellschaftlichen Umbruch am Ende des 19. Jahrhunderts vom hedonistischen und vom veränderungsbereiten Standpunkt aus zu betrachten, blieb für Kessler Grunderlebnis und bestimmende Lebensperspektive. Seit 1895 nahm Kessler dann infolge finanzieller Unabhängigkeit eine bedeutende gesellschaftliche Sonderstellung ein und erkannte seine geistigpolitische Aufgabe als universaler Kunstförderer.6

Jugend- und

Studienzeit

Harry Clemens Ulrich Kessler wurde am 23. Mai 1868 in einem Pariser Bürgerhaus in der Rue de Luxembourg als erstes Kind des deutschen Bankiers Adolf Wilhelm Kessler (1838-1895) und der irischen Baronin Alice Harriet Blosse-Lynch (1844-1919) geboren. Die Ahnenreihe Harry Graf Kesslers weist auf eine so-

Jugend- und Studienzeit

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ziale Herkunft hin, die bürgerlich-reformatorischen und aristokratisch-konservativen Ursprungs ist. Mit der Taufe im Jahr 1868 folgten die Eltern dem alteingesessenen Brauch, dem Erstgeborenen Namen der Verwandten und Vorfahren zu geben. Der englische Vorname Harry erinnerte an die Mutter, Alice Harriet Baronesse Blosse-Lynch, die aus einem bekannten irischen Adelsgeschlecht stammte.Sie war in Bombay als erste Tochter des im Dienst der britischen Krone stehenden Kommandanten einer Kanonenbootflottille, Henry Blosse-Lynch, geboren worden. Ihre Kindheit verlebte sie, wie sie in ihren Erinnerungen schrieb, in einem Pariser Palais, „der Sommerwohnung meiner Großmutter", nahe der Champs-Elysees und in dem südirischen Landschloß Partry.7 Während einer Gesangsausbildung am Konservatorium von Paris bildete sie eine weithin beachtete Mezzosopranstimme aus. Sie sprach gleichermaßen akzentfrei Französisch und Italienisch sowie Englisch und Deutsch. Ihre außerordentliche Schönheit hatte sie wohl von Robert Taylor, ihrem Großvater und zeitweiligen anglo-indischen Vizekönig von Babylonien, geerbt.8 Er hatte, so vermerkte der Urenkel Harry, „ein schönes, strenges, auffallend jugendliches Gesicht mit schwarzem Haar und blauen Augen, dessen regelmäßige, energische Züge sich bei fast allen seinen Nachkommen wiederfanden und den Grund zum Familientypus gelegt haben". 9 Verschiedene einflußreiche Männer, darunter Kaiser Wilhelm I., Fürst Otto von Bismarck und Reichskanzler Bernhard von Bülow, verehrten sie. 10 Mit vierundzwanzig Jahren heiratete sie Adolf Wilhelm Kessler, der in Paris Inhaber der Niederlassung des Hamburger Kommissions- und Bankhauses Auffmordt geworden war. Seine Familie stammte aus St. Gallen (Schweiz) und brachte seit dem 16. Jahrhundert anerkannte Theologen und Schriftsteller hervor. Eingedenk des Ahn Johannes Kessler (1502-1574), der als Reformator und Lutherschüler durch ein legendäres Gespräch mit dem Junker Jörg im Wirtshaus „Zum Schwarzen Bären" zu Jena bekannt wurde, und von dem es in einer St. Gallener Chronik heißt, „er war eine anspruchslose, sanfte, reine Natur, mit einem Herzen voll milder Wärme" 11 , erhielt Harry Kessler den Vornamen „Clemens" (der Milde, der Gütige). In der Reihe der Vorfahren war es der nach Hamburg ge-

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Frühe Sozialisation

Alice Gräfin Kessler, geb. Baronesse Blosse-Lynch (1844-1919)

Jugend- und Studienzeit

Adolf Wilhelm Graf Kessler (1838-1895)

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Frühe Sozialisation

kommene evangelische Pfarrer Johann Ulrich Kessler, der Vater Adolf Wilhelms, auf dessen Namen Harry Kessler ebenso traditionsbewußt getauft wurde. Die erfolgreichen Finanzgeschäfte des Vaters in Hamburg, Paris, London und New York sicherten der Familie ein wohlhabendes und mondänes Leben. Gut behütet von den Eltern, mit Luxus umgeben und betreut von der Hamburger Kinderfrau Marie verlebte der Sprößling seine frühe Kindheit in verschiedenen Häusern dieser Metropolen. An seinem 13. Geburtstag, dem 23. Mai 1881, faßte Harry Graf Kessler die Erinnerungen an seine frühen Kinderjahre zusammen. In dem ein Jahr zuvor angelegten Tagebuch, das er akribisch bis zu seinem Tode 1937 mit Notizen über Beobachtungen, mit Aufzeichnungen von Erlebnissen, Lektüreerfahrungen und Überlegungen als Selbstgespräch führte, notierte der Dreizehnjährige: „It was my birthday today. I was born in Paris at the corner of the rue de Luxembourg and the rue du Mont Thabor at the 3 étage in 1868 but soon after I went to Hamburg. When I went to America and stopped there till I was five then I came to England and Mamma and Papa soon after about 2 years after settled in Paris where I was during the remarkably cold winter of 1879-1880 in which the cold amounted to 24 degrees Cent. I saw the Seine frozen." 12 Hinter dieser nüchternen Einschätzung verbarg sich die Tatsache, daß Kessler eine sorglose harmonische frühe Kindheit gehabt hatte, in der er von seinen Verwandten umgeben war, aber fast keinen Kontakt zu gleichaltrigen Kindern hatte. So beschrieb er später in seinen Memoiren diese Zeit als eine „Märchenwelt", in der er „als geschwisterloses und ziemlich einsames Kind ohne näheren Verkehr mit Gleichaltrigen lebte". Der temperamentvolle Knabe schuf sich, angeregt durch die Erzählungen der Kinderfrau Marie von Grimms Märchen, von den Lederstrumpfgeschichten und Märchen aus Tausend und einer Nacht in seiner Phantasie eine eigene Welt. Einen alten Bademantel verwandelte er mit „bunten Federn" in „eine Art Staatsgewand": in diesem „Zaubermantel" wünschte er sich, „die Gäste in seinen unterirdischen Gemächern zu empfangen". 13 Bereits mit drei Jahren lernte er von seiner Mutter lesen, als sich die Familie Kessler während des deutsch-französischen

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Krieges bei Verwandten in Schloß Wanstead unweit von London aufhielt. Die Mutter spielte in seinem Leben, weit über die Kindheit hinaus, eine dominierende Rolle. Noch im Alter von 67 Jahren beschrieb er die starke Bindung an die 1919 gestorbene Mutter: „Ich kann heute sagen, daß ich kein anderes Wesen je so restlos bis zum Verlöschen meiner selbst geliebt habe wie sie, mit Leidenschaft und allem, was Leidenschaft an Überraschung, Eifersucht und zeitweise an Haß mit sich bringt. Ich habe nächtelang wach gelegen und meine Mutter gehaßt - und ihr dann wieder unter Tränen Abbitte geleistet." 14 Der Vater, Adolf Wilhelm Kessler, ein hanseatischer Bürger und erfolgreicher Bankier, erzog den Sohn in autoritärer Manier zu „Pflichterfüllung und Unterwerfung". 15 „Das war wohl die bitterste Wirklichkeit, an die ich mich als Kind stieß" - so kommentierte Kessler später die väterlichen Unterweisungen. Nach der Pubertät schien das Verhältnis Sohn-Vater, der „eigentlich weich und von unfaßbar gutem Herzen" war, so Kessler über ihn, entspannter geworden zu sein. Der Sohn erfuhr vom Vater, „als er seiner Meinung nach der Erziehungspflicht genügt hatte", eine gewisse „Nachgiebigkeit, die zweifellos zu weit ging". 16 Mit zehn Jahren begann 1878 Harry Graf Kesslers Schulzeit. Er besuchte bis 1880 ein Pariser Halbinternat. In den Fächern Französisch, Literatur, Geschichte und Mathematik wurden Grundkenntnisse mit dem „Rohrstock" vermittelt. Für Kessler war diese Grundschulzeit aus eigener Sicht eine „Hölle", die er später ein „Fegefeuer" nannte. 17 Der schulische Drill, die widerspruchslose Subordination, Uniformität („schwarze Kittel"), schlecht bezahlte Lehrer, unzureichende hygienische Bedingungen in Unterrichts- und Internatsräumen entsprachen im wesentlichen den Lehrmethoden und Lernzielen sowie dem Milieu des autoritären deutsch-österreichischen Schulsystems im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. 18 Kesslers erste Schuljahre ähnelten den Lernbedingungen, die Hermann Hesse und Robert Musil in den bekannten Schülerschicksalen beschrieben hatten. 19 Die Verhältnisse im Pariser Halbinternat verkraftete Kessler psychisch und physisch nicht, zumal er die Möglichkeit des Besuchs einer „besseren Schule" gehabt hätte. In seinen Erinnerungen schrieb er: „Der tägliche Wechsel zwischen zu Hause, wo um

Harry Graf Kessler, um 1880

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meine Mutter ein raffinierter Luxus und unter der Aufsicht unserer Marie peinliche Sauberkeit und Ordnung herrschten, und diesem muffigen Internatsmilieu machte die Sache für mich unerträglich. Die Absicht meines Vaters mag gewesen sein, durch spartanische Tagesstunden die etwas weiche Atmosphäre des Hauses auszugleichen; in Wirklichkeit wurde ich aber körperlich und moralisch so zerrüttet, daß nach zwei Jahren der Hausarzt erklärte, wenn ich jetzt nicht fortkäme, könne er für nichts stehen. So entschlossen sich meine Eltern, ... mich in eine gesündere Umgebung nach England zu schicken." 20 Im September 1880 wechselte Kessler auf die Privatschule St. George's School nach Ascot bei London über.21 Diese Schule galt „als Vorschule der nationalen Erziehungsanstalten Eton, Harrow, Westminster, in denen die Söhne der herrschenden Kaste zu Parlamentsmitgliedern, Ministern, Botschaftern, hohen Verwaltungsbeamten, geistlichen Würdenträgern und großen Wirtschaftsführern, kurz zu Herren des britischen Weltreichs erzogen wurden". 22 Kessler lernte dort gemeinsam mit seinen englischen und schottischen Mitschülern, die aus landadligen, hocharistokratischen und großbürgerlichen Familien stammten, darunter auch Winston Churchill (späterer englischer Premier 1940-45). 23 Neben den traditionellen Fächern - Griechisch, Latein, englische Geschichte und Literatur - erhielten die Ascot-Schüler täglich eine Sportausbildung in Boxen, Fechten, Cricket oder Rugby.24 In den Nachmittagsstunden kamen die etwa vierzig Zöglinge regelmäßig im Frack (der sogenannten , Affenjacke") zur Lese- und Debattierstunde unter der Leitung des Schuldirektors zusammen. So sehr der zwölfjährige Kessler froh war, dem Pariser Halbinternat entgangen zu sein, so sehr sehnte er sich nach der Mutter, die er nur in den Ferien besuchen konnte, zurück. Zudem fühlte er sich unter seinen Mitschülern als „Deutscher" ohne freundschaftliche Kontakte. Aus Verzweiflung unternahm der Zwölfjährige einen erfolglos verlaufenen Selbstmordversuch.25 Mit der Idee, eine Schülerzeitung zu gründen, fand Kessler 1881 bei seinen Mitschülern Anklang und Aufmerksamkeit. Gemeinsam mit vier Klassenkameraden hatte er das Taschengeld für die Gründung der Schülerzeitung gespart. Ab September 1881 erschien die „St. George's Gazette" an jedem Sonnabend mit vier

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Seiten Schülernachrichten in der Redaktion von Harry Graf Kessler.26 Die Spalten der Gazette, auf dem Titelblatt überschrieben mit dem Spruch „Mit Gott allein" (in deutsch), wurden von den jungen Redakteuren mit Texten über Sport und Schule gefüllt. Kesslers Ansehen unter den Mitschülern wuchs allmählich durch die Herausgabe dieser Zeitung. Hierzu trug sicherlich auch der Umstand bei, daß sein Vater am 11. Mai 1881 durch Fürst Heinrich XIV. Reuß Jüngere Linie nobilitiert wurde. Nach Vermittlung von Prinz Heinrich XVIII. von Reuß hatte sich Adolf Wilhelm Kessler in einem Gesuch vom 2. Februar 1881 von Paris aus an den Fürsten gewandt, um „den deutschen Grafentitel zu erhalten". 27 Die Meinung des jungen Grafen war 1881 sehr gefragt, als unter den Ascot-Schülern die politische Zukunft Irlands diskutiert wurde. 28 Er unterzeichnete eine „Adresse", die gegen die beschränkte Selbstregierung Irlands (Homerule) und für die Erhaltung des englischen Einheitsstaates an den konservativen Parlamentsabgeordneten Lord Salisbury (späterer Premierminister 1885/86, 1886/92, 1895/1902) versandt wurde. 29 Als der 14jährige 1882 die Privatschule in Ascot verließ, wurden ihm in „Fleiß" ein „very good" und in „Allgemeines Verhalten" ein „Excellent" bescheinigt. In den Fächern Latein und Griechisch wurden seine Leistungen mit „still inaccurate" und mit „improving" eingeschätzt.30 Wie nachhaltig die Ausbildung und Erziehung in Ascot auf Graf Kessler gewirkt hatte, läßt sich leicht aus seinen Memoiren ersehen. Trotz der Prügelstrafen sah er im Schulleiter Kynnersley die „Persönlichkeit", die ihn „wirklich geformt hat". 31 Nach seiner Meinung war dieser Pädagoge „ein Abenteurer auf dem Gebiet der Formung junger neuzeitlicher Menschen, geleitet und getrieben vom Drang nach Einfühlung in die Seele einzelner Jungen, der allerdings bei ihm wie bei vielen großen Erziehern seit Plato erotischen Ursprungs gewesen sein mag". 32 Es ist denkbar, daß die Kessler „nachgesagte Homosexualität" im Verhältnis zu Kynnersley ihren Ausgang genommen hatte. 33 Kessler beschrieb homosexuelle Beziehungen in Ascot und „Fälle allzu intimer Beziehungen zwischen Jungen, bei denen Mr. Kynnersley einige seiner ausgesuchten Lieblingsschüler ins Vertrauen zog und um

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ihre Meinung befragte, ehe er die Schuldigen peitschte oder von der Schule fortjagte". 34 Vom Oktober 1882 bis zum Juli 1888 besuchte Harry Graf Kessler in Hamburg die „Gelehrtenschule des Johanneums". 35 Obwohl der Vater in Hamburg einen weitverzweigten Familienkreis besaß, wurde der Sohn im Hause des lutherisch-orthodoxen Pastors Blümer, zuständig für das Hamburger Waisenhaus, untergebracht. Während der sechsjährigen Pension im Blümerschen Haus hatte Kessler mit den fünf Kindern der Familie „wie mit Brüdern und Schwestern ziemlich einträchtig, aber ohne näheren Kontakt" zusammengelebt. 36 Der Pastor war für den jungen Kessler ein Erzieher, der „verbot und verbot... und bei Gelegenheit Strafpredigten" hielt. Von ihm wurde Kessler allerdings nicht konfirmiert. 37 Den schulischen Anforderungen in den Fächern Griechisch, Latein, Mathematik, Literatur und Geschichte kam er ohne Schwierigkeiten nach. Doch näheren Kontakt zu gleichaltrigen Mitschülern fand er bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr in Hamburg nicht. Kessler galt aufgrund seiner Herkunft, seiner ausländischen Erziehung und Ausbildung sowie der Stellung seiner Eltern zum Kaiser unter den Bürgersöhnen im Johanneum als Sonderling. Er selbst bezeichnete seine Rolle in den ersten beiden Hamburger Schuljahren als „kleiner Snob und Gernegroß, eitel, vergnügungssüchtig und selbstgefällig". Der wohlhabende Vater ermöglichte dem 15- und 16jährigen Primaner, sich in nobler Garderobe auf Bällen als Graf und „Casanova" feiern zu lassen. In dieser Zeit las er, wie er sich erinnerte, „fast die gesamte englische Literatur und von der griechischen, außer den Schulautoren Homer, Herodot, Lysias, Sophokles ... vor allem Thukydides, die griechischen Lyriker, Äschylos, Aristophanes und Plato". 38 Entgegen der Lektüregepflogenheit seines Ziehvaters, Pastor Blümer, entdeckte Kessler die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts für sich. Von einem „Goethe- und Romantikerrausch" erfaßt, versuchte der 16jährige, Gedichte zu schreiben, „in denen die Wörter wie Edelsteine glänzen und aneinander, wie in einem Schmuck, sich entzünden sollten". 39 Erst mit seiner Versetzung in die Unter- bzw. Oberprima änderte sich 1884 sein arrogantes und distanziertes Auftreten. Der

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Klassenlehrer Professor Bintz, ein ehemaliger Reserveoffizier des Potsdamer Garderegiments, der wegen seiner gedrungenen Gestalt von den Schülern „Napoleon" genannt wurde, stellte den „Snob" vor die Entscheidung, entweder gemäß seinem Talent „den Anforderungen" zu genügen oder „die Folgen" zu tragen. 40 Kessler lernte fortan, sich als Schüler des Johanneums unterzuordnen. Seine Neigung, sich hauptsächlich zu amüsieren, wich dem Interesse, sich „ernsthaft mit geistigen Dingen" zu befassen. In dem Bürgersohn Georg Melchior fand er den Schulfreund, der ihm durch seine Direktheit einen Halt gab, „an dem die wild" in Kessler „durcheinanderwuchernden Triebe sich sammeln und beruhigen konnten". 41 Mit ihm und Gleichgesinnten trat Kessler in den Schülerverein „Wissenschaftlicher Verein von 1817" ein, der im Rhythmus von „acht bis vierzehn Tagen" Vortrags- und Diskussionsabende veranstaltete.42 Im März 1886 vermerkte der zum Primus avancierte Kessler in seinem Tagebuch: „Es besteht eine faire Chance, daß es in kurzem zu einer sozialen Revolution kommt. Wenn nicht bald etwas für die Arbeiter geschieht, werden wir eines Morgens unter den Trümmern der heutigen sozialen Ordnung aufwachen." 43 Kessler war während der Pestzeit aus Neugier in die Hamburger Elendsquartiere gegangen, um Notizen über die „Wohnungs- und Gesundheitsverhältnisse" der Proletarier zu machen. Entsetzt über die unwürdigen Lebensbedingungen und überrascht vom Stolz der Arbeiterfamilien, erfuhr er damals erstmalig etwas von der Tätigkeit des Sozialdemokraten August Bebel. In dieser Zeit begann der junge Kessler, sich mit „Sinn und Zweck der Politik" auseinanderzusetzen und las den englischen Historiker Edward Gibbon, die französischen Schriftsteller Hippolyte Taine, Charles de Montesquieu und Jean-Jacques Rousseau sowie die deutschen Historiker Theodor Mommsen, Heinrich von Treitschke und Leopold Ranke. Aus der Lektüre dieser Autoren, dem Studium Piatos und der Beschäftigung mit den Schriften von Thukydides leitete Kessler eine Definition von Politik ab, die er als „Kunst, für einen Menschen bestimmter Art und Kultur ... den Boden zu schaffen und zu sichern" bezeichnete. 44 Beeindruckt von Goethes Vorstellung des „Prometheus-Menschen" („Hier sitz' ich, forme Menschen/Nach meinem Bilde...", 1774), entdeckte der achtzehn-

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jährige Kessler in ihm das Ideal des „freien Griechen", der nach „Demokratie" strebe.45 In dem „Gegensatz des Freien zum Barbaren" glaubte er zu erkennen, daß sich die Menschheitsgeschichte in dieser Polarität von der griechischen Polisdemokratie bis in die Gegenwart ständig wiederhole. Im Juli 1888 hatte Kessler schließlich das Abitur am Hamburger Johanneum erfolgreich bestanden und bekam vom Vater eine Kontinentalreise nach Nordafrika geschenkt. 46 Am 3. November 1888 begann Kessler in Bonn ein Jurastudium an der Friedrich-Wilhelms-Universität. Zusätzlich belegte er Seminare und Vorlesungen bei dem Altphilologen Hermann Usener (1834-1905), dem Archäologen Reinhart Kekule von Stradonitz (Bruder des Berliner Chemikers) und dem Nationalökonomen Erwin Nasse (1829-1890). Die Lehrveranstaltungen von Usener über Homer und von Kekule über die antike Mythologie legten bei Kessler die Grundlagen zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit der griechischen Kunst und Literatur. In seinen Erinnerungen unterstrich er, welche besondere Stellung diese Antikeausbildung für ihn hatte: „Kekule, der damals Ordinarius für Archäologie war und später Direktor des Berliner Alten Museums wurde, hatte die Gabe, ein sicheres Stilgefühl zu wecken und dieses sogar an Gipsabdrücken auszubilden; er las über Olympia und den Parthenon". 47 Durch sein Interesse für die soziale Lage der Arbeiter erhielt Kessler bei dem Wirtschaftsforscher Nasse den Seminarauftrag zu einer „Untersuchung über die Invalidenversicherung".48 Kessler „mußte in Fabriken gehen, Lohnbücher prüfen, Statistiken aufstellen ... Im Frühjahr [1889] hielt er in seinem Seminar einen Vortrag über diese damals politisch im Vordergrund stehende Frage der Invalidenversicherung". Durch die Besprechungen mit dem Hochschullehrer - mit „Fingerzeigen" und Kritik - gelang es Kessler allmählich, in der soziale Frage „von einer sentimentalen zu einer realistischen Betrachtung" zu gelangen. 49 Trotz des väterlichen Verbots nahm Kessler auch an den „Kneipen" der Bonner Korpsstudenten, den „Preußen", teil. 50 Hier lernte er Studenten kennen, die überwiegend aus norddeutschem und schlesischem Landadel stammten und auch in späteren Jahren zu seinem Bekanntenkreis gehörten. Dazu zählten Graf Pückler, Graf Schwerin (1866-1917, Chemi-

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ker, Entdecker der Osmose), Kurt von Mutzenbecher (1866— 1938, später Intendant des königlichen Schauspielhauses Wiesbaden), Graf Schulenburg und Baron Romberg (1866-1924, später Diplomat, deutscher Botschafter in der Schweiz 1914-1918, Kesslers Vorgesetzter in Bern). Bei einem der üblichen Mensurentreffen fiel ihm ein Student durch seine „kalte, aber fast ideale Schönheit auf'. 5 1 Es war sein späterer Freund, der gleichaltrige Freiherr Eberhard von Bodenhausen (1868-1918), der ebenfalls in Bonn Jura studierte. Im Jahr 1889 trat Kessler in Bonn dem „Richard-Wagner-Verein" bei, in den ihn verschiedene Bekannte eingeführt hatten. 52 Im Sommer gleichen Jahres fuhr Kessler mit seiner Mutter erstmalig nach Bayreuth zu den Festspielen. Während seine Mutter Wagners Musik als „schwülstig, musikalisch hohl und demagogisch" empfand, war der junge Graf von der „Wucht des Eindrucks" von Wagners Musik und dem „Zauber seiner Persönlichkeit, seines Genies" fasziniert. 53 In dieser Zeit begann Kessler, angeregt durch ein „philosophisches Gespräch" mit seinem Hamburger Freund Georg Melchior, Immanuel Kants Hauptwerk „Die Kritik der reinen Vernunft" zu lesen. Ergriffen von der Erstlektüre Kants notierte der 21jährige in seinem Tagebuch: „12. August 1889 Bonn - At home in the morning reading Kant; I read ten or twelve pages everyday and I have got about a hundred left; he has made quite a conquest of me; my whole former ideas are upset; I look upon him as one of the greatest thinkers that ever lived." 54 Der von Kant 1781 entwickelte Gedanke „Von der Unmöglichkeit eines kosmologischen Beweises vom Dasein Gottes" und das geformte System der „transzendentalen Ästhetik" wirkte auf Kessler in ambivalenter Weise „aufklärerisch". 55 War für Heinrich Heine „Die Kritik der reinen Vernunft" die „Todesnachricht" für den „Deismus in Deutschland", so zog Kessler aus dieser philosophischen Schrift den Schluß, daß diese sein „Weltbild umwälzte, die wirkliche, sichtbare, tastbare Welt in ein Nichts verflüchtigte". 56 Anstatt sich mit der von Kant aufgestellten These - „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß" - auseinanderzusetzen, war der Graf „ganz erobert" („quite a conquest") von Kant, der ihm die Wirklichkeit in „ein Nichts" verklärte.57

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Der Wissenschaftsglaube wurde späterhin ein wichtiger Ausgangspunkt für Kesslers Erkenntnisinteresse, das ihn zu weiteren Studien der Nationalökonomie, der experimentellen Psychologie und der Kunstgeschichte am 25. Oktober 1889 von der Bonner an die Leipziger Universität wechseln ließ. 58 In dem erhalten gebliebenen „Curriculum vitae" beschrieb Kessler seine Studienzeit in Leipzig von 1889 bis 1891 als tiefen Einschnitt in seine Entwicklung, da er „dort unter den Einfluß von Männern wie dem bahnbrechenden Nationalökonom Roscher und Lujo Brentano, dem geistreichen Rechtslehrer Wach, dem großen Philosophen und Psychologen Wundt und dem Altmeister der Kunstgeschichte Springer geriet". 59 Lujo Brentano (1844-1931) zählte neben Gustav Schmoller (1838-1917) zu den führenden Vertretern der jüngeren historischen Schule der politischen Ökonomie. 60 Er trat für soziale Reformen in Deutschland ein und legte seinen wirtschaftshistorischen und soziologischen Forschungen unter Einbeziehung neuer Forschungsfelder wie der Entwicklung von Klassen- und Sozialpolitik als Ausgangspunkt die Empirie zugrunde. Kessler führte bei ihm seine in Bonn begonnenen „Untersuchungen über Arbeiterversicherungen und Zustände in Fabriken fort." Wie widersprüchlich Recht und Gerechtigkeit sein konnten, lernte Kessler in den Vorlesungen des Rechtsgelehrten Adolf Wach.61 Wilhelm Wundt (1832-1920), dessen Lehrveranstaltungen Kessler in Leipzig besuchte, gründete 1879 die erste experimentell-psychologische Forschungsstätte. Im Jahr 1881 wurde das „Wundt-Laboratorium" in Leipzig als staatliches Universitätsinstitut anerkannt. Mit der Schrift „Grundzüge der physiologischen Psychologie" (Leipzig 1874) legte Wundt den Grundstein für die eigenständige Wissenschaftsdisziplin Psychologie, die sich auf Experimente, Messungen und Beobachtungen stützte. Er verstand experimentelle Psychologie als „Erfahrungswissenschaft", deren Hauptmethode die „Introspektion" sei. 62 In seinem Laboratorium wurde von der Versuchsperson gefordert, so genau wie möglich zu verfolgen, was in ihrem Bewußtsein beim Ausführen von Versuchsaufgaben vor sich gehe. Da die übliche Selbstbeobachtung dafür nicht ausreichte, wurden spezielle Verfahren des Trainings der Versuchspersonen erarbeitet, um bei

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ihnen die Fähigkeit zu entwickeln, detailliert über ihr unmittelbares Erleben zu sprechen.Kessler profitierte besonders in den Seminaren von Wundts experimentellen Methoden. Welch hohes internationales Ansehen Wundts Lehrveranstaltungen genossen, hielt Kessler in einer Tagebuchnotiz anschaulich fest: „Leipzig, 27. April 1891. Montag ... nachmittags zu Wundts Antrittsvorlesung ... wieder das Gewimmel von Menschen aus aller Herren Länder, Armenier, Griechen, Russen, Japaner, Amerikaner, Bulgaren, Spanier etc." 63 Ebenso nachhaltig wie das Studium bei Wundt wirkte auf Kessler die kunstgeschichtliche Ausbildung bei Anton Springer (1825-1891) in Leipzig. Springer war der „erste Lehrstuhlinhaber des entstehenden Faches" der Kunstgeschichte, aus dem er eine „empirische Wissenschaft" machte. Das hieß „Quellenund Sachforschung, exakte Beobachtung, Sammlung und unterscheidende Ordnung der Gegenstände, Datierung und Herkunftsbestimmung, methodische Strenge und Objektivität." Die Vorlesungen bei Springer waren für Kessler die Grundausbildung für eine auf Tatsachen orientierte „Morphologie der Kunst." 64 In der Leipziger Studentenkorporation „Canitzer" fand Kessler eine Reihe von Freunden, die aus sächsischem und schlesischem Adel stammten. Dazu zählten Alfred von Nostitz-Wallitz (1870-1953, Jurist, Diplomat, königlich-sächsischer Staatsminister), Graf Bernhard Stosch, Lothar von Spitzemberg (Diplomat,württembergischer Gesandter in Berlin), Ottobald Werthern und der Maler Gustav Richter (1869-1943, „Müsch" genannt). Sein Freund Eberhard von Bodenhausen war mittlerweile auch nach Leipzig gekommen, um sein Studium abzuschließen. Zu Kesslers Leipziger Freundeskreis gehörten die in Schulpforta lernenden Gymnasiasten Gerhard von Mutius (1872-1934, Diplomat, Schriftsteller, seit 1903 im auswärtigen Dienst) und Hans Graf Harrach (1873-1963, Bildhauer). Am 21. November 1891 schloß Kessler sein Studium in Leipzig mit „Gut" bestandenem Staatsexamen ab. Seine Doktorarbeit wurde am 7. Dezember 1891 an der Universität mit „magna cum laude" bewertet. Das Amtsgericht Kassel vereidigte Harry Graf Kessler dann am 22. Dezember 1891 als preußischen Staatsbeamten.65 Der

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Vater belohnte seinen Sohn daraufhin mit einer sechsmonatigen Weltreise, die ihn bis nach New York, Yokohama, Daijeeling, Bombay, Neapel und Rom führte. Für Harry Graf Kessler begann nach dem Studium und der Weltreise von 1891/92 ein neuer Lebensabschnitt. Die ihm nach seiner Herkunft, Erziehung und Ausbildung zugedachte Karriere - Referendar, Jurist, Aufnahme in den diplomatischen Dienst sollte jedoch nicht Zustandekommen. Durch die vielfältigen freundschaftlichen Beziehungen und Bekanntschaften zu gleichaltrigen Adligen, Vertretern des Bürgertums und zahlreichen Künstlern war Kessler mehr darum bemüht, eine stete vitale geistige Auseinandersetzung mit seinen Zeitgenossen zu suchen.

Wilhelminismus Am 18. März 1890 trat Reichskanzler Otto Fürst von Bismarck nach 28j ährigem Staatsdienst zurück. Damit ging in Deutschland die bonapartistische Ära zu Ende, und die Zeit des wilhelminischen Reiches (1890-1918) unter der politischen Führung Kaiser Wilhelms II. (1859-1941) begann. 66 Der Despotismus und Byzantinismus des Kaisers lösten Unbehagen und Protest bei den damals 20- bis 30jährigen Männern in großen Teilen des Adels und Bürgertums aus. In der Protesthaltung von jungen Adligen und Vertretern des Bürgertums kam nach Ansicht vieler Historiker und Germanisten ein „Generationskonflikt" am Ende des 19. Jahrhunderts zum Ausdruck. Jürgen Krause stellte in seiner Untersuchung „Zum Nietzschekult in der bildenden Kunst der Jahrhundertwende" hierzu fest: „Interessant und sympathisch zugleich mutet es an, wenn Kessler dabei stets die Zusammenarbeit mit Einzelgängern suchte, die, wie er selbst, die Unmöglichkeit eines Bündnisses von Geist und Macht im Hohenzollemreich ahnten, darunter litten und innerlich scheiterten: Eberhard von Bodenhausen und Walther Rathenau." 67 Ernst Schulin arbeitete in einem biographischen Porträt über Walther Rathenau (1867-1922) heraus, daß viele „Generationsgenossen... von ähnlichen Konflikten her zum Journalismus, zum Theater oder zur Literatur" tendierten, „wie der

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Kaufmannssohn Maximillian Harden, der Fabrikantensohn Egon Fridell oder die Bankierssöhne Carl Sternheim und Hugo von Hofmannsthal."68 Gisela Henze wies am Beispiel des Kunstkritikers Meier-Graefe (1867-1935) auf die „Gruppenbildung" bei literarisch und künstlerisch interessierten Vertretern des Bürgertums in dieser Generation hin. 69 In einer umfangreichen Studie „Zur Sozialpsychologie des Assimilationsjudentums" legte Hans Dieter Hellige an „Beispielen eines überscharfen Generationskonfliktes bei jüdischen Kindern (z.B. Felix Hollaender, Albert Ehrensstein, Walter Hasenclever) und bei Söhnen nicht-jüdischer Unternehmerväter (wie Thomas Mann, Rudolf Alexander Schröder, Friedrich Alfred Krupp sowie Heinrich und August Thyssen)" dar, „daß die dargestellten psychologischen Komplikationen und sozialen Verhaltensmuster nicht auf die ausgewählte Gruppe beschränkt waren." 70 Die ästhetisch-politische Identifikation verlief bei dieser Generation in vielfältiger Weise und hinterließ auffällige Gemeinsamkeiten, was das soziale Verhalten und allgemeine Anschauungen und Überzeugungen anbelangt.

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und

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Nach dem Sturz des „eisernen Kanzlers" wurde in Deutschland der „Sozialistenhasser" Bismarck von Vertretern des Bürgertums, Adligen und Intellektuellen gleichermaßen verehrt. Die von der linksliberalen Zeitschrift „Die Nation" festgestellte „intellektuelle Krise" zeigte sich als Nachwirkung der „großen Depression von 1873" in vielfältigen Existenzängsten.71 Der „Führungswechsel" verursachte zunehmend politische Verunsicherungen und eine grassierende Sozialismusfurcht. Schriftsteller wie Gerhard Hauptmann, Carl Sternheim und Fritz Mauthner äußerten offen ihre Bewunderung für die Leistungen Bismarcks. Besonders der Herausgeber der Zeitschrift „Die Zukunft", Maximilian Harden (1861-1972), verstand es nach zahlreichen Besuchen in Friedrichsruh zwischen 1892 und 1897, „den gestürzten Kanzler zum geistesaristokratischen Herrenmenschen, zur charismatischen Führergestalt im Dienste

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des Status quo und zur überdimensionalen Vaterfigur aufzubauen." In verschiedenen Aufsätzen stilisierte er Bismarck in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts zum nationalen Heroen. 72 Auch Walther Rathenau war von der „Superiorität" des Kanzlers Bismarck überzeugt. 73 Harry Graf Kessler verband mit Bismarck frühe familiäre Kindheitserlebnisse. Im Sommer 1874 waren seine Eltern in Bad Kissingen erstmalig vom Reichskanzler eingeladen worden. Der sechsjährige Harry Kessler war es, der wenige Tage nach dem Attentat des katholischen Böttchergesellen Eduard Kullmann auf Bismarck (13. Juli 1874) dem wieder genesenden Kanzler im Auftrag seiner Eltern „einen Strauß Feldblumen" brachte. Den frühen Kindheitseindruck der „seltsamen, bestrickend schönen, etwas aus dem Kopf tretenden Augen" konnte Kessler nicht vergessen. 74 In der Hamburger Schulzeit beschäftigte sich Kessler bereits mit Bismarcks Innen- und Außenpolitik. Zunehmend spürte der junge Graf jedoch wegen dessen Innenpolitik, insbesondere wegen der Repressalien des sogenannten „Sozialistengesetzes", Vorbehalte gegen den Kanzler. Trotz seiner Einwände kam der Gymnasiast hingegen zu dem Schluß: „Auch für keinen unter uns Jungen war es zweifelhaft, daß nur Bismarck unser Lehrmeister in der Politik sein könne ... Daher wuchs unsere ganze Generation, mindestens die bürgerlicher junger Deutscher, ohne wirkliche politische Schulung auf; wir starrten auf Bismarck, dessen Kunst, und erst recht dessen Persönlichkeit, in unerreichbarer Höhe über uns schwebte."75 In den Jahren, als Kessler begann, über die politischen Leistungen Bismarcks kritisch nachzudenken, setzte er sich gleichzeitig mit einer anderen historischen Persönlichkeit auseinander: mit Franz von Assisi. Die kunstgeschichtlichen Studien bei Springer machten ihn auf die Heiligenbilder des italienischen Renaissancemalers Giotto und damit auch auf den Gründer des Franziskanerordens, Franz von Assisi, aufmerksam. 76 Die Tagebucheintragungen vom 1. September 1890 und vom 17. Oktober 1890 belegen, daß Kessler in Assisis Predigt der Armut die „Entschleierung, Entblößung, Freilegung des Herzens" in der Welt des 13. Jahrhunderts sah. In ihm fand er die „geschichtliche Figur", die durch ihre Lehre und Naturauffassung im krassen moralischen Gegensatz zur Politik

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Bismarcks stand.77 Kesslers Begegnung mit dem abgedankten Fürsten am 10. September 1891 in Bad Kissingen bestätigte seine Einwände gegen Bismarck:, Alles war rückwärts gerichtet. Seine Konversation hatte trotz ihres Glanzes deshalb etwas Gespenstisches, als ob wir ihn von seinen verstorbenen Zeitgenossen fort aus dem Grabe geholt hätten." 7 8 Dennoch war der junge Kessler von der Persönlichkeit Bismarcks stark eingenommen. Als stilisiere er ein „Gesamtkunstwerk" Bismarcks schrieb Kessler später: „Man übersetzte seine sturmbewegte Erscheinung unwillkürlich in Musik; doch erinnerte sie in ihrer romantischen Zerrissenheit und einer rätselhaften Zartheit, die manchmal im Lächeln den Mund zu umspielen schien, weniger an die Eroica von Beethoven als an ein zwischen vielen Gewittern und spärlicher Sonne nie zur Rast kommendes Motiv von Robert Schumann." 79 Es vergingen noch Jahre, ehe sich Kessler zu Bismarcks realpolitischer Außenpolitik bekannte. In der 1928 erschienenen Rathenau-Biographie heißt es auf der letzten Seite des Buches: „Die Kugeln, die Rathenau töteten, trafen das Werk Bismarcks". Seine ambivalente Haltung zum Reichsgründer „zwischen Bewunderung und Ablehnung" - bekundete er auch in seinen 1935 bei S. Fischer gedruckten Memoiren. Hier hielt er Rückschau auf vier Jahrzehnte deutsche Geschichte und stellte fest: „Er war und blieb für mich eine problematische Erscheinung, bei der gegen eine große, geniale Leistung, die Einigung Deutschlands, eine folgenschwere Schuld, die Verkleinerung des deutschen Menschen, stand." 80 Am 6. Dezember 1892 wurde Kessler als Rekrut des III. GardeUlanen-Regiments in Potsdam vereidigt. Wie es bei der Vereidigung der Einjährig-Freiwilligen üblich war, hatte „der Kaiser geredet". Die einjährige Ausbildung zum Reserveoffizier war in den neunziger Jahren nur Adligen und wohlhabenden nicht-jüdischen Bürgern vorbehalten. Graf Kessler erfüllte die Bedingungen laut preußischem Militärrecht.81 In Potsdam, wo seit der Gründung des preußischen Militärstaates im 16. Jahrhundert die Staatselite erzogen und ausgebildet wurde, fand der junge Graf neben Subordination und blindem Gehorsam unter den Reserveoffiziersaspiranten überraschenderweise oppositionelle Ideen vor. Zu dieser Erfahrung bemerkte Kessler: „In den ersten Jah-

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ren, wo ich Potsdam kennenlernte, war die Heftigkeit der Gefühle, die sich im Offizierskorps gegen den Kaiser und seine byzantinische Umgebung wandten, so groß, daß zeitweise im Casino beim „Liebesmahl" die Ordonnanzen Befehl hatten, sofort nach dem Auftragen des letzten Gerichts den Saal zu verlassen und nicht ungerufen wieder zurückzukehren, weil befürchtet wurde, daß unbedachte Äußerungen von Offizieren zu Denunziationen wegen Majestätsbeleidigung führen könnten."82 In diesen Gesprächen sah sich Kessler in seinen persönlich-familiär bedingten Vorbehalten gegen das „persönliche Regiment" des Kaisers und gegen dessen Führungsqualitäten bestätigt.83 Offene Kritik, wie Harden in der Zeitschrift „Die Zukunft", übte Kessler an Wilhelm II. und seinem halbabsolutistischen System aus Karrieregründen nicht.84 In den Tagebüchern finden sich Hinweise, die das ungeschickte und groteske Auftreten des Staatsoberhaupts detailliert beschreiben. A m 5. November 1895 notierte Kessler anläßlich einer Hubertusjagd: „Im Grunewald im Schlosshof Frühstück; dann die ganze Gesellschaft, der Kaiser an der Spitze, wieder durch die Menschenmenge in den Wald. Kurze Jagd. Der Kaiser sieht im Jagdzivil unvorteilhaft aus; dick und unförmig, er hält sich krumm, die abnorm breiten Hüften und das fast weiblich entwickelte Hinterteil fallen im Frack mehr auf als in Uniform. Das Gesicht ist gelb und müde, bis auf die kaltblitzenden grauen Augen". Später, am 29. Januar 1898, findet sich folgender Vermerk im Tagebuch: „Kleiner Hofball. Beim Kaiser entwickelt sich immer mehr die fast bestialisch energische Mundpartie; im Alter wird sie ganz den Eindruck der oberen Gesichtsteile, vor allem der Stirn, zurückdrängen; bloß noch Bulldoggenwille; glücklich, wenn er z. B. in Bülow das Gehirn findet". An den Feierlichkeiten zu „Kaisers Geburtstag" nahm Kessler in den neunziger Jahren „beim Regiment in Potsdam" regen Anteil. Kesslers Anpassung an die Gepflogenheiten des Offizierskorps schloß nicht aus, daß er mitunter die Innenpolitik des Kaisers und seiner Regierung in Frage stellte.85 Seit Mitte der neunziger Jahre artikulierte Kessler seine verdeckte Wilhelminismuskritik in kulturpolitischen und künstlerischen Alternativen und sprach sich offen für die Moderne aus. Kesslers Kritik am Wilhelminischen Reich der neunziger Jahre bewegte

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sich gleichwohl im Rahmen systemerhaltender, konservativ geprägter Bedenken und Vorbehalte und war eine mehr ästhetisch geprägte Opposition.

Philosophie

Nietzsches

und

Schopenhauers

Nach den revolutionären Januarereignissen von 1919 schrieb Kessler: „Der Vorwurf des Ästhetizismus, der der Bewegung der neunziger Jahre gemacht wurde, war vielleicht berechtigt, insofern sie nicht mit genügender Energie diese politischen und wirtschaftlichen Folgerungen zog." Der Ausgangspunkt hierfür war der „fast reine Kultur-Revolutionarismus, wie ihn Nietzsche und später in den neunziger Jahren unser Kreis in Kunst und Literatur vertrat."86 Kessler hatte wie so viele Vertreter seiner Generation Friedrich Nietzsches philosophische Schriften mit Begeisterung gelesen. Bei einer Soirée im Salon der Cornelia Richter in Berlin-Wannsee stellte Kessler nach einem Gespräch mit der Pianistin Ossip Schubin fest: „Sie glaube nicht, daß gebildete Deutsche jetzt auf eine halbe Stunde zusammenkommen könnten, ohne den Namen Nietzsche zu nennen." 87 Dessen nachhaltigen philosophischen Einfluß beschrieb der Graf nicht frei von Pathos mit den Worten: „Er bestärkte uns in der Zuversicht, daß der nicht mehr zu vermeidende Neuguß der Welt sich fast festlich wie ein Glockenguß vollziehen werde. In uns entstand ein geheimer Messianismus. Die Wüste, die zu jedem Messias gehört, war in unseren Herzen; und plötzlich erschien über ihr wie ein Meteor Nietzsche." Seine aphoristische Philosophie wirkte auf Kessler einerseits desillusionierend, wie er selbst sagte, als „Einbruch einer Mystik" und „radikal nihilistisch", andererseits aber auch faszinierend.88 Der Lektüre der Nietzscheschriften „Menschliches, Allzumenschliches" im Jahre 1891 und, Jenseits von Gut und Böse" im Jahre 1894 sowie „Also sprach Zarathustra" entnahm Kessler Theoreme zur wesenssymbolischen Deutung des eigenen Lebens und später zur Klärung zeitgeschichtlicher Phänomene.89 In sprachlich meisterhafter Form schilderte Kessler noch 1935 in seinen Erinnerungen ein tragisch verlaufendes Liebeserlebnis

Philosophie Nietzsches und Schopenhauers

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eines Leipziger Studenten in der oben genannten Deutung. Ein adliger Leipziger Kommilitone Kesslers hatte aus Eifersucht eine Prostituierte erschossen und sich selbst danach angeschossen. Dabei wurde dieser in seinem Handeln, so Kessler, durch Nietzsches „Übermensch" und Dostojewskis „Raskolnikoff' beeinflußt.90 Kessler kam schließlich zu der Erkenntnis: „Die Rolle der Gefahr als Erweckerin von Seelenkräften, die ohne sie schlummern würden; des starken und langen Willens, des Opfermuts, der Tapferkeit, die seelischen Abenteuern nicht aus dem Wege geht, lehrte uns Nietzsche...sie war der Grundstein der neuen Sittlichkeit Nietzsche-Zarathustras, einer Sittlichkeit, die im Heldentum statt in Gott wurzeln sollte."91 In dieser idealistischen, stark individualisierenden und ästhetisierenden Weltsicht fand Kessler den „Grundstein" für seine kulturellen und politischen Auffassungen. Er übernahm von der Lebensphilosophie Nietzsches in den neunziger Jahren die Kulturkritik, das AntikeInteresse und ein „neuzeitliches", den imperialistischen Verhältnissen entstammendes Menschenbild, das sich auch in seinen Schriften und Reformversuchen widerspiegeln sollte. Es überrascht deshalb nicht, daß Kessler in Nietzsches Schrift , Jenseits von Gut und Böse" einen „neuen Sinn und Inhalt" der Politik fand. Er hoffte, die nationale Frage, die er durch Nietzsches Lektüre im Sinne des „guten Europäers" als Möglichkeit der Überwindung des Nationalismus ansah, als Diplomat im Dienst des Deutschen Kaiserreichs mitzugestalten. Kesslers Politik- und Geschichtsverständnis wurde gleichzeitig stark von dem französischen Historiker Hippolyte Taine geprägt, der mit Nietzsche in engem Briefkontakt stand. Am 4. März 1893 notierte Kessler zum Tod Taines in seinem Tagebuch: „Heute ist Taine gestorben, der Lebende, dem ich geistig am meisten verdankte." 9 2 In der Literatur zur Rezeption der Philosophie Nietzsches weist Jürgen Krause mit Recht darauf hin, daß Kessler der „Nietzsche-Bewegung" als „Zufluchtstätte für Außenseiter" angehörte.93 Roswitha Wollkopf sieht Kesslers Nietzsche-Interesse „nicht in wissenschaftlicher, sondern persönlicher Natur" begründet.94 Kessler erhielt in den neunziger Jahren vor allem durch seinen Leipziger Studienfreund Raoul Richter Anregun-

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gen zum Studium der Nietzscheschriften. Richter, der später zum ordentlichen Professor für Philosophie an die Leipziger Universität berufen wurde, gab Kessler zahlreiche Hinweise zur kritischen Auseinandersetzung mit Nietzsches Philosophie. Nach der Lektüre der Schrift „Menschliches, Allzumenschliches" notierte Kessler am 19. Dezember 1891 in seinem Tagebuch: „Zu Nietzsche, wie gewöhnlich, bewundernd, obgleich einiges verfehlt scheint, z.B. die Erklärung der Schadenfreude, sie hat viel kompliziertere Quellen als die, die Nietzsche angibt: zunächst führt das von Schaden Betroffene uns in seinen Gebärden, seinem Mienenspiel, seinen Äußerungen und Gefühlen, wie wir sie wahrnehmen oder uns vorstellen, eine kleine Komödie vor, die uns schon für sich erheitert; aus dieser Quelle hauptsächlich fließt die Schadenfreude des Menschen, die dummen Streiche der Flegeljahre, die practical jokes, sie ist die ... unschuldigste Erzeugerin der Schadenfreude." Kessler war vom „lyrischen" Verständnis der Nietzscheschriften grundlegend überzeugt. Nach einem Gespräch im Januar 1894 mit seinem Leipziger Kommilitonen äußerte sich Kessler noch einmal zur Philosophie Nietzsches: „Nicht seine Philosophie und nicht einmal seine dichterische Kraft sind an ihm die Hauptsache, sondern der Mensch, der in seinen Neigungen und Abneigungen, in seinem Streben und in seinen Träumen der Ausdruck einer neuen Art, derTypus des geistig Vornehmen, aber nervös zerrütteten im Kampfe mit der steigenden Demokratisierung ist." 95 Stimmte Kessler der Vorstellung des „vornehmen" Herrengeistes in „Jenseits von Gut und Böse" uneingeschränkt zu, so lehnte er ebenso kategorisch Nietzsches Polemik in der gleichen Schrift gegen „altruistische Handlungsweisen" ab. Kessler hielt dazu in seinem Tagebuch am 7. Februar 1894 folgende Überlegungen fest: „Denn der Wert altruistischer Handlungen liegt nicht allein in dem Guten, das sie für einen stiften; ja, wahrscheinlich bewirkt jede Handlung, auch die „beste", z.B. Christi Tod am Kreuze, ebensoviel Schlechtes wie Gutes. Man darf also auch nicht sagen, daß der altruistisch Handelnde sich für andere aufopfert. Sondern der wahre Wert seiner Handlung liegt in der Läuterung, die sie ihm bringt." Kessler folgerte hieraus: „es sind nicht alle Ideale nur glänzende Feinorgane, die uns richtig oder

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verkehrt leiten können, auf die wir aber in Ermangelung fester Leuchtfeuer angewiesen sind, um unseren Weg über das Meer unserer Leidenschaften zur wahren Selbstbestätigung zu finden." Die Lektüre der bereits genannten Schriften Friedrich Nietzsches verhalf Kessler in den neunziger Jahren, eine spezifisch aristokratische Weltsicht zu entwickeln.96 Gleichzeitig setzte sich Kessler in den neunziger Jahren auch mit der Philosophie Arthur Schopenhauers auseinander. Den geradezu in Mode gekommenen Philosophen las Kessler erstmals am 9. Oktober 1891. Mit Schopenhauers Hauptwerk, „Die Welt als Wille und Vorstellung", beschäftigte sich Kessler eingehend während seiner Weltreise 1891/92. Neben Naturbetrachtungen (Stiller Ozean, imalaya) und Überlegungen zur Lebenskultur (China, Amerika, Italien) verzeichnete Kessler seine philosophischen Reflexionen regelmäßig im Tagebuch. Nach der Lektüre des zweiten Buches, „Die Welt als Wille. Erste Betrachtung: Die Objektivation des Willens" stellte Kessler Schopenhauers Ausgangshypothese, „daß alles, was für die Erkenntnis da ist, also diese ganze Welt nur Objekt in Beziehung auf das Subjekt ist, Anschauung des Anschauenden, mit einem Wort Vorstellung" in Frage.97 Kessler notierte weiterhin in seinem Tagebuch: „Zu begründen, daß wir den Willen unmittelbar wahrnehmen, scheint er (Schopenhauer) für unnötig gehalten zu haben; und doch beruht auf dieser Behauptung sein ganzes System. Wie soll sich aber die Vorstellung, die ich von meinem Willen habe, vor der, die ich von meinen Körperhandlungen habe, ihrem Wesen nach unterscheiden? Beides sind doch bloß Bilder, Erscheinungen, eben Vorstellungen; das ganze Bewußtsein ist erfüllt von Vorstellungen und kann nichts anderes enthalten; denn eben das sich einer Empfindung bewußt sein, ist die Vorstellung, eine Empfindung zu haben." Kessler gelangte durch Zustimmung zu Immanuel Kants metaphysischer und wissenschaftlicher Weltsicht zu dem Schluß: „Hat man dieses erkannt, so muß der Wille den Weg von Kants Vernunft oder der Urteilskraft gehen."98 Kessler, der Wissenschaftsglauben und Metaphysik keinesfalls negierte, ging es also darum, wie Kant diese beiden Betrachtungsweisen der Welt möglichst differenziert anzuwenden. Seine weitere intensive Beschäftigung mit der Philosophie Schopenhauers in den Jahren

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1896 bis 1899 galt dem „Objekt der Kunst". Schopenhauers Definition der „Kunst und Poesie" diente Kessler als Leitgedanke für die Bewahrung „der ewigen Ideen", die das Wesentliche und Bleibende aller Erscheinungen der Welt" garantieren sollten." Überzeugt von der Gültigkeit der ästhetischen Auffassungen Schopenhauers und Nietzsches, sah Kessler seit Mitte der neunziger Jahre in der direkten Hinwendung zur modernen Kunst und Literatur eine geistige Alternative zum Traditionalismus des Wilhelminischen Deutschlands.

Berliner

Boheme

Durch den Dienst als Reserveoffizier im III. Garde-Ulanen-Regiment kam Kessler 1892/93 in die preußische Residenzstadt Potsdam. 100 Hier, in Potsdam und Berlin, besuchte er in seiner Freizeit häufig Museen, Ausstellungen und Theateraufführungen. Während Potsdam mit seinem Schloß Sanssouci den Ruf einer Beamten- und Kunststadt hatte, war das zur Reichshauptstadt ernannte Berlin, so der Kunstkritiker Julius Meier-Graefe, „einem blank gewichsten Offiziersstiefel, einem Dinge, an dem man an sich nichts aussetzen könne, außer daß es würdig sei, möglichst bald durch etwas Geistigeres ersetzt zu werden", zu vergleichen. 101 Der Kunstkritiker dachte ohne Zweifel an die historisierende Malerei Anton von Werners (1843-1915) und die epigonale Hofdichtung eines Ernst von Wildenbruch (1845-1909), die aus der Sicht der jungen, kunstinteressierten Generation stark „reformbedürftig" waren. Um 1890 kamen in verschiedenen Berliner Cafés und Lokalen Studenten, junge Schriftsteller und Maler zusammen, wo beim „Vertilgen von Apfelkuchen mit Schlagsahne erörtert wurde, wie miserabel die Kulturzustände seien, wie das Theater reformiert, die Kunst veredelt, die Literatur gerettet werden müsse." 102 Diese literarischen Diskussionskreise schössen „pilzartig in die Höhe", existierten aber meist nur kurze Zeit. 103 Die bekannteste Berliner Bohémiengruppe war der „Friedrichshagener Kreis". Zu dem im Berliner Vorort Friedrichshagen zusammenkommenden Personenkreis zählten u. a. die Naturalisten Arno Holz, die Brüder

Berliner Bohème

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Hart, Gerhart Hauptmann, Max Halbe, Bruno Wille, Richard Dehmel, die Skandinavier Knut Hamsun, August Strindberg und der polnische Schriftsteller Stanislaw Przybyszewski. Gleichzeitig repräsentierten die in Berlin zeitweilig oder dauernd wohnenden Künstler Max Liebermann, Franz Skrabina, Max Klinger und der Norweger Edvard Münch den Bruch mit der höfischakademischen Malerei. Diesen literarischen und künstlerischen Entwicklungen gegenüber war Kessler sehr aufgeschlossen. Den Theoretiker der Naturalisten, Hippolyte Taine, hatte Kessler eingehend studiert und dessen Schriften „Essais de critique et d'histoire" (1866) und „Philosophie de l'Art" (1865-1869) gelesen. Aus Taines Literatur- und Kunstverständnis („race-milieu-et moment"-Theorie) hatte Kessler eine eigene künstlerisch-ästhetische Sicht entwickelt. 104 Dessen Darstellungen entnahm er die „neue Methode ... die menschlichen Kunstwerke als Erzeugnisse und Tatsachen aufzufassen, deren Wesen zu bestimmen und deren Ursachen zu erforschen sind". 105 Kessler war ebenso wie Meier-Graefe, Hauptmann und Liebermann von der kulturellen Reformbedürftigkeit des Wilhelminischen Deutschlands überzeugt. Doch als kaiserlicher Reserveoffizier und Aspirant für den diplomatischen Dienst hätte das offene Bekenntnis zur Bohème für Kessler das Ende seiner Karriere bedeutet. Deshalb fand er trotz großer Sympathie keinen Zugang zu diesem Berliner Kreis. Seine neuaristokratische Herkunft und Erziehung stellte eine Identifikation mit den Bohémiens darüberhinaus in Frage. Auch die gleichaltrigen, kunstinteressierten Eberhard von Bodenhausen und Walther Rathenau begrüßten einerseits die gesellschaftliche Auflehnung dieser Gruppe und fanden hier Freunde wie Richard Dehmel und Eduard Münch, lehnten aber andererseits deren „philiströse" Lebensart kategorisch ab. 106 Eine direkte Einlassung mit der Bohème hätte in jedem Fall den Bruch mit der adligen und großbürgerlichen Welt zur Folge gehabt. Bereits 1893 erkannte Kessler ebenso wie Rathenau und Harden, daß der „revoutionäre" literarische Naturalismus seinem Ende entgegen ging. 107 Nach der aufsehenerregenden Aufführung des Dramas „Die Weber" von Hauptmann in der Freien Bühne Berlin notierte der Theaterbesucher Kessler am 5. März

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1893 in seinem Tagebuch: „In Hauptmanns „Weber" auf der Freien Bühne im Neuen Theater. Contrast zwischen dem entzückend zierlich, zarten luxuriös ausgestatteten Theater, das bis auf den letzten Platz von einem elegant gekleideten, überraffinierten, frenetisch klatschenden Publikum erfüllt war und dem Stück, dessen hohlwangige fieberäugige Hungergestalten all diesen Gästen, mittels Raubbau gezüchteten Culturblumen, den Untergang verkündeten. In dem großen Drama, das sich abspielte, waren die Hauptpersonen das Publikum und die Tendenz des Stückes; und das Drama war vielleicht fast weltgeschichtlich". Diesen kritischen Eindruck hatte Kessler auch beim Besuch der ersten öffentlichen Aufführung der „Weber" am 25. September 1894 im Deutschen Theater. 108 Er notierte dazu in seinem Tagebuch: „Und doch empfinden wir es als etwas Unlogisches, wenn all diese mit Brillianten geschmückten Finger in den Logen sich zum Applaus regen. Der Applaus gilt hier bloß dem ästhetischen Genuß, dem Nervenkitzel, wenn man will, und es folgt aus ihm noch lange nicht, daß die Klatschenden mit weniger Genuß bei Dressel Austern essen sollten, weil sie bei der Familie Baumert ein Hundefleisch-Diner mit angesehen haben." Mit diesem zunehmenden Zweifel an der naturalistischen Darstellungsform in der Literatur und der Hinwendung zu neuromantischen, symbolischen Ausdrucksformen folgte auch Graf Kessler der von Hellige beschriebenen „neokonservativen Wende" junger Intellektueller am Anfang der neunziger Jahre. Schriftsteller wie Richard Dehmel und August Strindberg distanzierten sich mehr und mehr von ihren sozial orientierten Positionen und wandten sich zunehmend dem „Aristokratismus des Geistes" und der „Anbetung hypermaskuliner Idole" zu. Hellige versuchte, diesen radikalen geistigen Bruch durch die allgemeine gesellschaftliche Verunsicherung, die durch die „Endphase der Großen Depression" verusacht wurde, zu erklären". 109 Um 1894 fand auch Kessler in einer aristokratischen Opposition die geistige Alternative zum Wilhelminischen Deutschland. Sein Interesse galt der Entwicklung und Förderung einer Kulturund Politikelite nach dem Vorbild von Nietzsches „Übermensch". Nach einer Reflexion über das Thema „Das Leiden unserer Zeit" kam Kessler im Oktober 1894 zu dem Schluß: „Denn

Mäzen, Essayist und Reiseschriftsteller

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darauf, daß man etwas will, kommt es an. Jenes Etwas nennen wir Ideal. Unser, der oberen Zehntausend Leiden, hat im Kampf der Zeit nur die Bedeutung, daß es uns die Kraft raubt, die Massen zu lenken, und daß diese, die moralisch Starken, uns, den moralisch Schwachen, daher ihre Ideale, z. B. den Sozialismus, aufzwingen." 110 Für Kessler war die Begegnung mit der Berliner Bohème in den neunziger Jahren der Ausgangspunkt für langjährige produktive Bindungen zu Schriftstellern und Künstlern. Eine direkte Nähe zu der Bohème suchte Kessler, wie bereits ausgeführt, deshalb nicht, weil dies den Bruch mit dem aristokratischen Leben, den Ausschluß aus der Familienhierachie und damit die Mittellosigkeit bedeutet hätte. Er fühlte sich zweifellos von dieser außergewöhnlichen Lebensart angezogen, verblieb aber in seiner bisherigen Lebenswelt. Damit trat keine neue Identitätsfindung ein: seine starke Bindung an die Mutter und die latente Protesthaltung gegenüber den Vater blieben zugunsten eingeübter Normen wie Familientradition und Karriere bestehen. Je weniger Kessler seinen, Ablösungskonflikt" bewältigte, desto „kulturell" aktiver wurde er seit seinem Eintritt in die Berufstätigkeit als Gerichtsassessor in Berlin-Spandau 1893/94.111

Kessler als junger Mäzen, Essayist und Reiseschriftsteller Seit Herbst 1892 verkehrte Kessler in den Berliner Kreisen, aus denen seine Leipziger Kommilitonen Gustav Richter und Lothar von Spitzemberg stammten. Hier begegnete er Regierungsangehörigen, Wissenschaftlern, Kunstgelehrten, Schriftstellern und Künstlern. 112 Bei einem Gesellschaftsabend von Frau Begas, Gemahlin des Hofbildhauers Reinhold Begas (1831— 1911) traf Kessler am 14. März 1894 erstmals den Kunstkritiker Julius Meier-Graefe. Dieser zählte zu dem Bohèmekreis des „Schwarzen Ferkels", dem auch August Strindberg und Edvard Münch angehörten.113 Über das schillernde Äußere dieses Bohémiens bemerkte Kessler: „Meyer-Graefe trug wieder einen unglaublichen Frack mit Samtaufschlägen u.s.w.; die Modernsten

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wissen sich auch nicht anders als die Romantiker von Anno 30 von ihren Mitmenschen zu unterscheiden." Ein halbes Jahr später, am 1. November 1894, war es der „moderne" Meier-Graefe, der den Grafen Kessler für den Eintritt in die „Pan"-Genossenschaft gewann. 114 Die beiläufige Notiz im Tagebuch, „übrigens dem Pan beigetreten", schien angesichts der Vielfältigkeit der Kesslerschen Unternehmungen fast unterzugehen. Doch hatte er mit dem Beitritt zur Genossenschaft „Pan" eine folgenschwere Entscheidung getroffen, die weit über die marginale Eintragung im Tagesjournal hinaus ging. 115 Aus seinem bisherigen allgemeinen Interesse für Literatur, Kunst und Philosophie entstand ein konsequentes Engagement für die Moderne. Durch die Mitherausgebertätigkeit der Zeitschrift „Pan" (1895-1900) stieg Kessler innerhalb kürzester Zeit, von 1894 bis 1896, zu einem der einflußreichsten und erfolgreichsten Kulturförderer der Moderne auf. 116 Auch seine ersten schriftstellerischen Produktionen, entstanden zwischen 1895 bis 1899, standen in unmittelbarem Zusammenhang mit Kesslers redaktioneller Haupttätigkeit für die Zeitschrift „Pan".

Kunstzeitschrift

„Pan"

Es war symptomatisch für den Zeitgeist der neunziger Jahre, daß der Plan zur Gründung der „freien Kunstzeitschrift Pan" ausgerechnet von den Bohémiens ausging, aber die Herausgabe durch wohlhabende, kunstinteressierte Aristokraten wie Bodenhausen und Kessler bewerkstelligt wurde. Das zeigt auch die Entwicklung anderer Literaturzeitschriften am Ende des 19. Jahrhunderts.117 Seit Anfang der neunziger Jahre entstand ein neuer Typ von Literaturperiodika. Die naturalistischen Zeitschriften, die „Kritischen Waffengänge" (1882-1884) und die „Gesellschaft" (1885-1902), wurden durch die übergreifend orientierten Literatur- und Kunstzeitschriften wie die „Freie Bühne für modernes Leben" (1890), dann umbenannt in „Die neue Rundschau" (hrsg. v. Brahm und Fischer), und „Die Zukunft" (1892-1922, hrsg. v. Harden) abgelöst. Man druckte die neuesten literarischen Werke (Hauptmann, Ibsen, Strindberg, Sundermann), Rezensionen (Saenger, Krauss, Ber-

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nard) und Erörterungen der aktuellen philosophischen Probleme (Nietzsche, Stirner, Bergson) ab. Diese Zeitschriften nahmen Themen der Literatur, Kunst und Politik auf. Ausgesprochen literarische Kunstzeitschriften, die Ästhetik und Neokonservatismus in avantgardistischer Form darboten, waren Georges „Blätter für die Kunst" (1892-1919), Bierbaums „Jugend" (1896-1940) und „Insel" (1899-1902) sowie die Wiener Zeitschrift „Ver Sacrum" (1898-1903). 118 Der „Pan" zählte durch seine literarischkünstlerischen Inhalte zu diesem neuen, sogenannten JugendstilZeitschriftentyp und nahm durch seine exklusive buchkünstlerische Ausstattung eine herausgehobene Sonderstellung ein. Die umfassende Idee von Meier-Graefe, neben der Zeitschrift „Pan" eine Pan-Kunstausstellung, ein Pan-Theater und selbstverständlich einen Pan-Verlag zu gründen, artikulierte die Dimension des Innovationsbedürfnisses, von dem auch Kessler inspiriert wurde. Den Zeitschriftentitel hatten die Gründer aus der griechischen Mythologie entlehnt. Pan, der Hirtengott aus dem Gefolge des Dionysos, galt als Metapher für Nietzsches Lebensphilosophie und bezeichnete das „Allumfassende, Vereinte". Damit war der Anspruch für eine allen Kunstrichtungen offen stehende Zeitschrift formuliert. In praxi sollte ein rauschhaftes, übersteigertes Lebensgefühl künstlerisch dargestellt werden. Das Anliegen des „Pan" kristallisierte sich zu einem Kunstprogramm und Kunstverständnis heraus, das demjenigen des Grafen Kessler sehr nahe kam. Im ersten Heft des „Pan" vom April 1895 hieß es etwa: „Der Grundgedanke der Genossenschaft Pan ... drückt sich in der Überzeugung aus, daß die Ziele einer rein künstlerischen Publikation, die sich nicht nach den Wünschen des großen Publikums richtet, und daher keine Aussicht auf lukrative Ausbeute in großem Umfang hat, nur erreicht werden können durch thatkräftige Vereinigung der ernsthaft kunstschaffenden mit den ernsthaft kunstpflegenden Kreisen." 119 Die Zusammensetzung des Aufsichtsrates und die der Mitglieder der Genossenschaft „Pan" aus literarischen, künstlerischen, aristokratischen und großbürgerlichen Kreisen sicherte den hohen Anspruch der Zeitschrift. Zu den prominenten Abonnenten aus der Industrie- und Bankwelt zählte auch der Sohn des AEG-Gründers Emil Rathenau

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Harry Graf Kessler (Lithographie Edvard Munch, 1895)

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(1838-1915), Walther Rathenau. Kessler kannte Walther Rathenau durch dessen Vetter, den Maler Max Liebemiann, und durch dessen Freund, den Lyriker Richard Dehmel, die beide im Aufsichtsrat der Genossenschaft vertreten waren. Seit Februar 1896 war Rathenau offiziell eingeschriebenes Mitglied in der Genossenschaft „Pan". 120 Die expressive Darstellung Rathenaus in Kesslers Rathenau-Biographie läßt noch aus der zeitlichen Distanz von rund dreißig Jahren auf einen nachhaltigen Eindruck Rathenaus auf Kessler schließen: „Wer Walther Rathenau in diesen Jahren gekannt hat, wird sich eines schlanken, sehr großen jungen Mannes erinnern, der durch seine anormale Kopfform, die mehr negerhaft als europäisch aussah, auffiel: tiefliegende, kühle, rehbraune, langsame Augen, gemessene Bewegungen, eine tiefe Stimme, eine pastorale Sprechweise bildeten die etwas unerwartete, künstlich wirkende Fassung für eine blitzende Gedankenfülle."121 Dieser „große junge Mann" war, wie auch Kessler, durch Meier-Graefe 1895 für den „Pan" angeworben worden. Mit dem „Pan"-Beitritt hatte Rathenau in erster Linie die Ambition, Schriftsteller und Künstler zu fördern. Für ihn war es selbstverständlich, die kostbare und zweitausend Mark teure „Pan"-Ausgabe als Luxusausgabe zu beziehen.122 Die „Pan"-Genossenschaft hatte im April 1898 521 Mitglieder, die Auflagenhöhe des Pan lag pro Quartalsausgabe bei 1500 Exemplaren.123 Insgesamt erschienen 21 Nummern des „Pan" bis zu dessen Ende im Jahr 1900. Die spektakuläre Aufmachung des ersten Heftes (roter Einband, Folioformat, Druck auf Büttenpapier) und die anspruchsvolle buchkünstlerische Gestaltung machte die Exklusivität und den hohen Anspruch ihrer Herausgeber deutlich. Das vom Münchner Franz Stuck entworfene Signet wirkte als großformatiges Titelbild stilbildend für das Profil der Zeitschrift. Die mehrfarbigen Kunstbeilagen von Boecklin, Klinger, Liebermann und Whistler und die literarischen Beiträge von Dehmel, Fontane, von Liliencron, Nietzsche, Novalis, Scheerbart und Verlaine waren Ausdruck für die, wie der Hamburger Kunstdirektor Alfred Lichtwerk rühmte, „aristokratische Kultur", die in diesem Journal moderne und traditionelle Kunstrichtungen verband.124 Dehmels Gedicht „Das Trinklied" stand

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im ersten „Pan"-Heft für die von der Bohème vertretene Lebensphilosophie (1. Strophe): Noch eine Stunde, dann ist Nacht; trinkt, bis die Seele überläuft, Wein her, trinkt! Seht doch, wie rot die Sonne lacht, die dort in ihrem Blut ersäuft; Glas hoch, singt! Den ersten geschäftsführenden Vorstandsmitgliedern, MeierGraefe und Bierbaum, kamen Kesslers günstige Stellung zum Hof, seine kunsthistorischen Kenntnisse und vor allem seine finanziellen Mittel außerordentlich gelegen. Mit dem Tod des Vaters am 22. Mai 1895 fiel Harry Graf Kessler ein Vermögen zu, von dessen Zinsen er finanziell unabhängig und bis 1930 schuldenfrei leben konnte. 125 Im „Pan"-Vorstand suchte Kessler seinerseits Kontakt zu allen Fraktionen, zur Bohème und zu den sogenannten „Bonzen", womit die konservativen Kunstförderer um den Kunsthistoriker Lichtwark gemeint waren. Kessler hielt seine erste Begegnung mit dem „Pan"-Aufsichtsrat am 1. Dezember 1894 in Berlin im Tagebuch fest: „Nachher zu einem Souper des Pan im Kaiserhof. Dort Liebermann, Przybyszewski, Halbe, Bierbaum, Seidlitz, Bodenhausen, Meier-Graefe, Köpping, Hartleben, Dehmel u.v.m. Dehmel erinnert entfernt an einen Böcklinschen Faun, aber er verdirbt diesen Eindruck durch Posieren mit schlangenhautfarbiger Kravatte und einem satanischen Augenaufschlag ... Liebermann hat einen energie vollen Börsenjobberkopf; neben seinem jüdischen Habichtsgesicht verschwimmen nur die Erscheinungen von Halbe, Hartleben und Bierbaum zu einem allgemeinen Eindruck von burschikosem Bierstudententum". 126 Fasziniert von dem künstlerisch-ästhetischen Programm des „Pan", begann Kessler noch im gleichen Monat, Geldmittel und persönliches Verhandlungsgeschick in den Dienst der Zeitschrift zu stellen. 127 Seit dieser Zeit nahm Kessler im Auftrag des Aufsichtsrates der Genossenschaft Kontakt zu verschiedenen Künstlern und Schriftstellern auf. Er besuchte den zeitweilig in Berlin

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wohnenden norwegischen Maler Edvard Münch am 20. Januar 1895 gemeinsam mit Eberhard von Bodenhausen, um Lithographien für den Abdruck im „Pan" zu erhalten. Er kaufte nach einem Hinweis von Eberhard von Bodenhausen mehrere Lithographien für seine private Sammlung, um den Künstler finanziell zu unterstützen. Obwohl der Graf die Qualität der Bilder Münchs erst 1897 zu schätzen lernte, ließ er sich bereits im April/Mai 1895 von ihm zeichnen. 128 Für die Zeitschrift „Pan" ging Kessler auch auf größere Reisen. Im Juli 1895 traf er in Paris den verarmten Symbolisten Paul Verlaine, um ihn nach dem Erstabdruck des ,,Prologue pour Varia" im Heft 1 des „Pan" von 1895 zur Veröffentlichung von weiteren Gedichten zu motivieren. Nach Naumburg fuhr Kessler zu einem Besuch des Nietzsche-Archivs erstmalig am 25. Oktober 1895. 129 Durch Vermittlung von Raoul Richter verhandelte er im Auftrag des „Pan"-Aufsichtsrates mit „Frau Förster-Nietzsche ... wegen der Publikation von Nietzsches musikalischen Worten im Pan." 130 Im Oktober/November 1895 besuchte Kessler Max Klinger und Adolph Menzel, um gemeinsam mit von Bodenhausen und Lichtwark Zeichnungen für den Druck im „Pan" zu erhalten. Durch seinen Einfluß auf die Auswahl, Zusammenstellung und Beschaffung von Text- und Bildmaterial wurde Kessler 1895 die eigentliche „Hauptperson" (Bodenhausen) des „Pan". Kessler fand im Engagement für diese Zeitschrift eine Form der universalen Förderung der modernen Kunst und persönliche Anerkennung bei Schriftstellern, Künstlern und Kunstgelehrten. Auf nachdrücklichen Wunsch von Bodenhausens wurde Kessler im Juli 1896 in die Redaktion des „Pan" als offizielles Redaktionsmitglied aufgenommen. Die Aufgabe des Mitherausgebers hatte er bis zur Einstellung der Zeitschrift im Jahre 1900 inne. Wegen Finanzierungsschwierigkeiten hatte Bodenhausen bereits am 14. August 1895 Kessler die „Direktion" der Zeitschrift angeboten, was Kessler aber ablehnte. Angesichts der schlechten Finanzlage der Zeitschrift beschrieb Kessler am 16. August 1896 in einem Brief an Bodenhausen sein Ansinnen, das er mit der Förderung des „Pan" und seiner Künstler verfolgte: „Mir persönlich ist das Fortbestehen des Pan, so sehr ich es wünsche, schließlich nur eine sekundäre Frage; worauf es mir ankommt,

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und worauf ich hingewirkt habe, ist, daß es in Deutschland eine vorurteilslose, geschmackvolle und nicht philiströse Zeitschrift gebe, die auch pekuniär in der Lage ist, für wirklich künstlerische Interessen einzutreten." Hatte Kessler vom Dezember 1894 bis zum Juli 1896 die „Pan"-Förderung durch Absprachen mit Bodenhausen, Meier-Graefe und Lichtwark als private Sache angesehen, so verfügte er vom Sommer 1896 bis zur Einstellung der Zeitschrift im Juni 1900 über das offizielle Mitspracherecht im Aufsichtsrat. Er war fortan mit Entscheidungsbefugnissen im Bereich Literatur und bildende Kunst ausgestattet. Seine Mitarbeit bildete damit ein Gegengewicht zum Führungsstil Cäsar Flaischlens. 131 Während seiner Tätigkeit als Mitherausgeber der Zeitschrift wurde Kessler selbstverständlich mit verschiedenen Schriftstellern, Künstlern, Publizisten und Verlegern bekannt, die auch nach 1900 weiterhin zu seinem Freundeskreis gehörten. Dazu zählten seit dem Sommer 1897 Auguste Rodin, seit November 1897 Henry von de Velde, seit Mai 1898 Hugo von Hofmannsthal, seit April 1898 Maximilian Harden, seit Sommer 1898 Peter Behrens, seit Herbst 1898 Samuel Fischer und seit März 1899 Richard Strauss und Gerhart Hauptmann. Kesslers Verdienst als „Pan"-Herausgeber war es, der Zeitschrift ein weltoffenes Profil gegeben zu haben. Seine weitreichenden Kontakte zu den Pariser, Londoner, Brüsseler Museen, Galerien und Verlagshäusern nutzte er, um die in Deutschland weitgehend unbekannten Werke der neueren französischen, englischen und belgischen Künstler vorzustellen. Sehr entschieden setzte er sich auch für die Berücksichtigung Friedrich Nietzsches in der Zeitschrift ein. 132 Als die Auflösung des „Pan" aus finanziellen Gründen unabwendbar wurde, war es den Bemühungen Kesslers zu verdanken, daß die „Pan"-Autoren in Absprache mit Samuel Fischer teilweise in die 1900 gegründete Zeitschrift „Insel" überwechseln konnten. Damit verantwortete Graf Kessler neben Alfred Walter Heymel die künstlerische Verschmelzung der Zeitschriften „Pan" und „Insel". 133 Das zuletzt erschienene Pan-Heft Nummer 21 vom Juni 1900 bewahrte das ästhetische Vermächtnis und die künstlerische Einzigartigkeit dieser Jugendstilzeitschrift. Die Auswahl und Zusammenstellung der insgesamt „225 Kunstbeilagen, darunter über 100 Ori-

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ginale" war maßgeblich durch die Mitherausgeber- und Vermittlungstätigkeit von Kessler zustandegekommen. Das Resümee der Pan-Redaktion fand sich nach fünfjähriger Arbeit im letzten Zeitschriftenheft: „Die Aufgabe, die der Pan in den fünf Jahren seines Bestehens sich gestellt hatte: den ringenden Kräften unserer Zeit zum Durchbruch und zum Sieg zu verhelfen, hat er, wie wir glauben, erfüllt." 134

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Die ersten Veröffentlichungen Harry Graf Kesslers von 1895 bis 1899 können kaum isoliert von seiner Pan-Herausgebertätigkeit und seiner beabsichtigten Diplomatenkarriere gesehen werden. Die Analyse der frühen Schriften soll Aufschluß über Kesslers ästhetisch-philosophische Grundansichten geben. Im Mittelpunkt stehen hierbei folgende Fragen: Welche Gegenstände und Themen wurden in den frühen Schriften behandelt? Welche philosophischen und künstlerischen Vorbilder und Prägungen sind dabei zu erkennen? Wie und mit welchen sprachlichen Mitteln verdeutlichte Kessler seine Intentionen? Und inwieweit hatten seine Grundanschauungen Einfluß auf seinen weiteren Lebensweg? Verschiedene Autoren haben sich bereits zum Begriff der „frühen Schriften" bei Kessler geäußert.135 Das Kriterium zur Bezeichnung dieser Schriften muß jeweils das Datum der Erstveröffentlichung sein. Diese frühen Schriften umfassen die ersten Publikationen in der Zeitschrift „Pan": „Henri de Régnier" (1895), „Kunst und Religion" (1899) und die erste Ausgabe von „Notizen über Mexico" (1898). Damit ist werkgeschichtlich der Zeitraum der frühen schriftstellerischen Produktion von 1895 bis 1899 umrissen. In seinem ersten Essay „Henri de Régnier", erschienen im Jahr 1895, wandte sich Kessler einem literarischen Thema zu. Er wählte den französischen Lyriker und Romancier Henri de Régnier (1864-1936), der seit der Mitte der achtziger Jahre mit den Gedichtbänden „Lendemains" („Tage danach", 1885) und „Apaisement" („Beschwichtigung", 1886) an die Öffentlichkeit trat. Régnier gehörte mit seiner Dichtung zum Kreis um den

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Vignette zu Kesslers Essay „Henri de Régnier" (Pan, Jg. 1, 1895, Heft 4)

Symbolisten Mallarmé und war in Deutschland fast unbekannt. In dem klar strukturierten Aufsatz unternahm Kessler den Versuch, am Beispiel des literarischen Werks von Régnier die Geisteshaltung der jungen französischen Symbolisten, der „Décadence", aus dem zeitgeschichtlichen Zusammenhang zu erklären. Dabei benutzte Kessler die literaturhistorische Methodenanalyse von Taine. Taine hatte in der Einleitung zur Geschichte der englischen Literatur herausgearbeitet, „daß es die drei Faktoren der Rasse, des Zeitpunkts und des Milieus (race, moment, milieu) sind, die als beherrschend" für die Betrachtung der Literaturgeschichte „zu gelten haben." Er definierte in der Schriftensamm-

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lung „Philosophie de l'Art", veröffentlicht zwischen 1865 und 1869, die neue Methode dadurch, daß „die menschlichen Werke und besonders die Kunstwerke als Erzeugnisse und Tatsachen aufzufassen, deren Wesen zu bestimmen und deren Ursachen zu erforschen" seien.136 Kessler legte diese „Dreiklang"-Theorie als Basis seiner Untersuchung zugrunde. Als Ausgangspunkt seiner Darstellung griff er in der Einleitung auf den von ihm besonders geschätzten Dichter Verlaine zurück, den er im Sommer 1895 in Paris, in ärmlichen Verhältnissen wohnend, kennengelernt hatte. Dessen Unbeliebtheit stand im Gegensatz zur allgemeinen Anerkennung von Régnier, der 1912 Mitglied der „Académie française" wurde und „es verstanden hat, den Symbolismus zu popularisieren." Im ersten Abschnitt seines Essays analysierte Kessler nun frühe prägende biographische Erlebnisse von Régnier. „In der träumerischen Weltferne der französichen Provinz, in einer Art von Rosmersholm, welches Glück tötete, ist Régnier aufgewachsen."137 Régniers Kindheitseindrücke schilderte Kessler voller Betroffenheit, als sei er dadurch an seine eigene einsame und kalte Kinderwelt erinnert worden: „Auf öden Treppen des alten Hauses, im Zwielicht der langen Gänge, in denen seine Schritte wie die von gespenstischen Begleitern widerhallen, in Saalfluten, die seit Menschengedenken unbewohnt und leer standen, hat er gespielt." Romantisierend erklärte er, wie Régnier sich vom Leben in der alten Adelsfamilie verabschiedete: .Aristokrat, das Kind eines greisenhaften Geschlechtes ... trat in die Welt wie sein Held in den Lebensgarten". Kessler begründete Régniers Entwicklung zu einer weitabgewandten Sicht mit dessen „Leiden" am Leben. Er gelangte zu der Auffassung, daß „das Kind durch sie (die Leiden) Hamlet, Dante, Friedrich der Große oder Philister werde."138 In dieser Erklärung sah sich Kessler in seiner eigenen Sichtweise bestätigt, daß nur durch Leiden wirklich große geistige Leistungen vollbracht werden könnten. Bereits im März 1894 hatte er in seinem Tagebuch vermerkt: „wo bleiben die Zweifler und Schwächlinge neben Männern wie Bernhard, Dante, Luther, die sich mit der ganzen Macht ihrer elementaren Natur eine Wahrheit geschaffen haben, an die sie glauben?" Damit folgte Kessler zeittypischen Geniekult-Ideen und setzte seinen Essay -

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nach der Behandlung von „Rasse" und,.Zeitpunkt" - mit der Beschreibung des „Milieus" fort. Wobei Kessler aus der Régnierschen Dichtung ableitete, daß der „Weltschmerz ... keine Philosophie, sondern eine Charaktereigenschaft" sei. Er überhöhte damit Régniers „Leidens"-Problem zu dem einer ganzen Generation. Als Ursache für Pessimismus, Resignation und Verunsicherung in seiner Generation ab Mitte der neunziger Jahre sah Kessler den Verlust von Werten und Idealen: „Auf diesem Flugsand läßt sich nichts Festes oder Dauerhaftes bauen. In ewigem Wechsel und Widerspruch vergehen und schwinden wie sein Ich dessen Ergänzung und Zusammenfassung, die Ideale." In Anlehnung an den Lebensweg von Franz von Assisi interpretierte Kessler Régniers Leiden an den Problemen der Zeit folgendermaßen: „Er entsagt der Liebe wie früher dem Ruhm; er selber glaubt: auf immer." 139 Mit dem Glauben an einen Willen, „rettend das aus dem Ich geborene Und Doch zu sprechen", sah Kessler in Régniers Dichtung und Leben eine exemplarische Antwort der französischen Symbolistsen auf die verfallenden bürgerlichen Normen. 140 Damit formulierte Kessler treffend das zentrale Problem bei Régnier und das seiner Generation: den Verlust alter Werte und die Suche nach neuen gültigen Idealen. Aus dieser Zustandsanalyse gelangte Kessler in seinem Aufsatz letztlich zu dem Schluß, daß sich „die Schiffbrüchigen nach dem Untergang ihres Glaubens an Religion, Liebe, Wissenschaft und sich selber" in dem „Kultus der Schönheit" retten werden. Die Kunst sollte an die Stelle des Religions- und Werteverlustes treten, um „ihre geschwächte Persönlichkeit stark ..., ihr flüchtiges Ich dem ewigen Wandel entrückt zu fühlen." Kessler überschätzte hierbei wohl die Wirkung von Kunst und Literatur auf die Menschen: „ihnen kann Kunst ebensogut Wahn wie Ewigkeit, Sturm wie Stille, Schmerz wie Seligkeit bedeuten und ist das allein der Schönheit Merkmal, daß alle Schwingungen der Seele auf einen Augenblick rein und voll auf einen Ton gestimmt zusammenklingen." Dabei wies er erstmalig auf die geistige und poetische Verwandtschaft zwischen Régnier und dem jungen Wiener Dichter Hugo von Hofmannsthal hin. Kessler würdigte Régniers Dichtung, weil er „das mit dem Absterben der religiösen Kunst eingeschlafene symbolistische Kunstwerk, wenn auch

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ohne religiös-dogmatische Gebundenheit, wiederzuerwecken" suchte. Märchenhaftes, Verträumtes und Schwermütiges entdeckte Kessler bei dem Erzähler Régnier. In dem Drama ,,L' homme et la Sirène" fand Kessler folgendes Frauenbild: „das Meerweib liebt" den Mann, der „an ihr zugrunde geht", wie es den Auffassungen"des Weibes" bei Friedrich Nietzsche entsprach. Zusammenfassend meinte Kessler, daß sich im Kulturpessimismus Régniers die Chance für eine „momentane Harmonie der Seele ... des modernen Menschen ... eröffnet" und sich damit ein „Ausblick auf eine tiefere leidenschaftlichere und schmerzensreichere Weltanschauung" ergeben würde.141 In der Auseinandersetzung mit der Dichtung dieses französischen Symbolisten entdeckte Kessler individuelle Eigenschaften, die seinen eigenen recht nahe kamen. Er entwarf in dem Essay gleichzeitig ein Persönlichkeitsbild des „modernen Menschen": heroisch leidend, harmonisierend, distanziert, aristokratisch-elitär und kunstsinnig. Kesslers trauriger und stolzer Blick auf Münchs Lithografie von 1895 und die schwermütige Dichtung von Henri de Régnier sind Momentaufnahmen einer von der Wirklichkeit enttäuschten Generation. Dieses Persönlichkeitsbild der Moderne blieb ein Kunstprodukt, da es durch Abstraktion und Überhöhung den realen Konflikten und Widersprüchen im Wilhelminischen Deutschland auswich. Kesslers Erstveröffentlichung und seine Tätigkeit beim „Pan" war Ausdruck für sein starkes Artikulationsbedürfnis, das sich im zentralen Problem, der Suche nach Idealen, am Beispiel der Dichtung Régniers bestens zeigen ließ. Kesslers Freunde, Bodenhausen und Rathenau, sahen in der Publizistik ebenfalls ein probates Mittel, um ihre „Assimilationsschwierigkeiten" in Industrie und Politik zu beschreiben.142 Als Sproß einer neuadligen Familie war für Graf Kessler die Anerkennung in Hof- und Künstlerkreisen nicht selbstverständlich. Auch deshalb suchte er mit publizistischen Mitteln als engagierter Außenseiter geistige Bestätigung und Aufnahme in die Kreise der politischen und künstlerischen Elite im Wilhelminischen Deutschland zu finden. Welch hohen Stellenwert Kessler selbst seiner Erstpublikation im „Pan" beimaß, belegt seine Tagebucheintragung vom 7. März 1896, eine Woche nach Erscheinen des Régnier-Aufsatzes: „Sehr

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enthusiastischer Brief von Lichtwark über meinen Artikel, wenn ich nur 1/10 glauben könnte, wäre ich froh; d.h. das bin ich eigentlich auch." 143 Kessler veröffentlichte vier Jahre später, 1899, im „Pan" seinen zweiten Essay „Kunst und Religion. Die Kunst und die religiöse Menge". Nach ausführlicher Vorbesprechnung mit Bodenhausen, der ihm diesen Titel empfahl, wählte Kessler eine umfassende Betrachtung von bildender Kunst, Literatur und Musik in ihrer Beziehung zur Religion zum Thema seines Beitrags. 144 In diesem umfangreichsten Essay seines schriftstellerischen Werks versuchte Kesslers, die bereits im Régnier-Aufsatz auftauchende Frage nach dem Verhältnis zwischen Kunst und Religion zu klären. Dabei ging Kessler von einem hohen ästhetischen Anspruch aus: „Die Ästhetik wird nicht umhin können, diesen Wechselbeziehungen „zwischen Kunst und Religion" nachzuforschen, sobald sie sich erst dem Ratgeber entwachsen fühlt und nur darauf ausgeht, das ästhetische Phänomen verstehen zu lernen, wie es auftritt und wie es verläuft." 145 Auch diesem Aufsatz legte er Taines Schrift „Philosophie de l'Art" einschließlich dessen „Dreiklang"-Theorie und Nietzsches Kulturkritik zugrunde. Für den von ihm verwendeten Begriffsapparat („Vorstellung, Gefühl, Harmonie, religiöse Erregung") diente ihm Wundts Darstellung „Grundzüge der physiologischen Psychologie" als Grundlage. Kesslers Einleitungssatz lautet: „Die Geschichte zeigt als den unerschöpflichsten Quell von Kunst die Religion." Mit „Geschichte" meinte Kessler die Menschheitsgeschichte, in der die Gesamtheit der künstlerischen Produktionen, monokausal erklärt, ihren Ursprung in der Religion hätte. Dieser stark vereinfachte theoretische Ansatz war der Ausgangspunkt für eine abstrakte und mechanistische Kunstbetrachtung, die im Gegensatz zum Régnier-Aufsatz auf die Untersuchung jeglicher konkreter Werke aus der Literatur, bildenden Kunst und Musik verzichtete.Vielmehr wollte Kessler allgemeine Gesetzmäßigkeiten und Prozesse der Kunstentstehung beim Künstler sowie der Kunstrezeption beim Publikum als „religiöse Erregung" erforschen: „Und auch diese Gestaltungen durchlaufen immer wieder analoge Bahnen; denn den zahllosen Bildern und Gefühlsschattierungen, aus denen sie zusammenwachsen, dienen doch immer

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Harry Graf Kessler, um 1898

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nur zwei Gefäße zum stürmischen Widerspiel ihrer schöpferischen Vermischung: die religiöse Menge und das Heilige." Das Problem kunsttheoretischer Gesetzmäßigkeiten oder Regelmäßigkeiten war um 1900 weitgehend unerforscht.146 Kesslers Untersuchung war deshalb eine Pionierleistung auf dem Gebiet der Kunsttheorie, die aber, wie Rathenau in seiner Schrift „Physiologie des Kunstempfindens" von 1901 ausführte, auch zu einigen Fehleinschätzungen führte. 147 Für Kesslers ästhetisches Erneuerungsprogramm zeichneten sich in dem Aufsatz die ersten Reformansätze ab. Im ersten Teil seines Essays folgte Kessler recht unkritisch den RenaissanceAuffassungen von Taine: „Dante und Donatello haben uns die Männer der Renaissance in Gestalt und Seele bewahrt... mit Augen wie Greifen, geschmeidig und hart an Geist und Körper, die Seele voll Hoffnungen und durchkämpfter Leiden, die der leiseste Reiz emportreibt.... Für solche Seelen, die voll Figur und Leidenschaft waren, barg in der Tat ein Kunstwerk in jedem Moment ein neues, noch ungeborenes Glück." 148 Damit interpretierte Kessler die Kunst der Renaissance in demselben Sinn wie Taine, der über die italienische Renaissance geäußert hatte: „Es läßt sich also die Kunst der Renaissance nicht als ein glücklicher Zufall ansehen, sondern es muß zugestanden werden, daß die Ursache für diese Blüte eine allgemeine geistige Verfassung war, eine überraschende, in allen Schichten des Volkes verbreitete Begabung, die so vorübergehend gewesen ist wie die Kunst selbst." 149 Im mittleren Teil seines Essays, in dem es um die religiöse Kunst des Mittelalters geht, meinte Kessler, den „Ursprung des neuen europäischen Fühlens, der Skala des Mitleidens, der Gefühlsphantasie ... und deren Passions- und Liebesgluten zu reinem Licht gesteigert in der Seele von Franz von Assisi" gefunden zu haben. Programmatisch bewertete er auch die Rolle des „Kunstgenusses" als lebenserneuernde Kraft und neues Ideal: „Er (der Kunstgenuß) verfeinert die Kunstmittel und erzieht die Seelen, an die er sich wendet, daß sie immer feinere und zahlreichere Unterschiede der Empfindungen oder auch Phantasievorstellungen mit ebenso feinen und zahlreichen und klaren Unterschieden des Fühlens beantworten." 150

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In diesem Aufsatz finden sich bereits deutliche Spuren des Einflusses des belgischen Architekten und Reformers des Kunstgewerbes, Henry van de Velde, den Kessler seit dem Herbst 1897 kannte und der 1898 für Kessler die Inneneinrichtung der Berliner Wohnung in der Köthener Straße entworfen hatte. Sein mit blütenförmigen Ornamenten versetzter „Neuer Stil" (Art Nouveau) war erstmalig 1897 auf der Dresdener Internationalen Kunstausstellung zu sehen. Kessler hob dieses neue „Ornament" in der Malerei, Plastik und Architektur in seinem Aufsatz als kunsterneuerndes Element hervor. Er schrieb, ohne van de Velde beim Namen zu nennen, anerkennend: „Auch diese Künste haben keinen anderen Erfolg, als den des einfachen rhythmischen Ornaments; sie verweben miteinander nur reichere und vielfältigere Gefühlsvorgänge." Überzeugt von der ästhetischen Macht der Kunst als gesellschaftserneuernde Kraft, schloß Kessler sein Essay mit den programmatischen Worten: ,3s scheint dann einem jeden gegeben, Neues und Tiefes zu sagen, wenn er nur Ausdrucksmittel hat. Und das ist in der Tat der Fall, weil das Symbol das Geistesleben aller durchdringt". Mit diesem Fazit wollte Kessler seine theoretische Abhandlung keineswegs beenden, sondern einen Folgeartikel erscheinen lassen, der allerdings niemals erschienen ist. 151 Kessler beschränkte sich in seinem schriftstellerischen Werk fortan ausschließlich auf die Darstellung konkreter Themen aus der bildenden Kunst und Literatur, da Kessler selbst seine theoretische Abhandlung als „entsetzlich grau" ansah. Hofmannsthal bewunderte diesen Aufsatz, während Bodenhausen nach anfänglicher Zustimmung die Darstellung skeptisch beurteilte.152 Mit seinem ersten Buch „Notizen über Mexico" gab Kessler 1898 ein erfolgreiches Debüt als Erzähler. Richard Dehmel schrieb unmittelbar nach dem Erscheinen des Kesslerschen Erstlings an den Verfasser: „Ihr Buch ist ja ein Meisterwerk."153 Ein Rezensent urteilte, Kessler sei ein Erzähler mit „feinstem Stilgefühl", und er hätte das Geschick eines Malers, „dem die impressionistische Kunst der Darstellung angeboren ist." 154 Als Reiseautor griff Kessler auf die schriftstellerische Tradition seiner Schweizer Ahnen zurück, die mit der Technik des Sammeins im Tagebuch die Stoffgrundlage für ihre Texte sicherten.155 Kessler

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benutzte in seinem Mexico-Buch Tagebuchaufzeichnungen, die er im Herbst 1896 auf einer Reise nach Nord- und Mittellamerika gemacht hatte. Kessler vermerkte während seiner Weltreise am 8./10. November 1896 in seinem Tagebuch: „Texas-Mexico .... Siebzigstündige Fahrt, gereist durch die endlose, horizontweite Gras- und Parkebene von Texas, über die sich der Himmel wie über einen Ozean wölbt." In seinem Reisebuch befand sich die Tagebuchnotiz unter der Rubrik „Von New Orleans nach Mexico, 8./10. November 1896" in epischer Form wieder. Dort hieß es dann: „Von New Orleans bis Mexico fährt der Express siebzig Stunden. Zuerst durchschneidet er die endlose Gras- und ParkEbene von Texas, neues, kaum erschlossenes Gebiet.... Das Land rollt in sanften Wellen zum Horizonte hin, und darüber wölbt sich der Himmel klar und riesengroß wie über den Ozean." 156 Seine Impressionen von der mexikanischen Geschichte, Kultur und Politik, den Menschen und der Natur sind im wesentlichen lebensphilosophisch geprägte Reflexionen, die sich zu einem modernen Reisebild in Tagebuchform zusammenfügen. Der zuerst geplante Titel des Buches „Mexikanische Ornamente" fixierte Kesslers ursprüngliches Anliegen, das in der „Vorrede" als Zeitbild formuliert wurde: „Unsere Zeit ist möglicherweise die letzte gewesen, zu der man noch reisen konnte; schon wir kommen kaum noch aus unserer Zivilisation hinaus; das Bild bleibt sich von Weltteil zu Weltteil erstaunlich gleich." 157 Mit dieser Feststellung sprach Kessler das Zeitgefühl der neunziger Jahre an, das die Endzeit (Fin de siècle) der bürgerlichen Gesellschaft verhieß. „Neues zu empfinden", sollte aus der Sicht Kesslers die Alternative für den Leser sein, den „Kunstwerke und Gesellschaftsformen, die längst für ihn keine Bedeutung mehr hatten, auf eine neue Weise zu rühren beginnen sollten, weil sie die Bekenntnisse von Seelen sind." Kesslers Bezug zu Goethes „Bekenntnisse einer schönen Seele" sollte der Leser als Versuch verstehen, der „Endzeit" Erneuerung und Klassizität abzugewinnen. Welches Selbstverständnis und welchen Stellenwert der Autor seinem Buch beimaß, zeigte sich darin, daß Kessler im April 1898 die „Vorrede" als „Selbstanzeige" in die gesellschaftskritische Zeitschrift „Die Zukunft" (hrsg. v. Harden) brachte und noch 1925 das Buch als „das bei weitem beste über

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Mexico" ansah. 158 Im Sinne von Friedrich Nietzsches „fruchtbaren ... vorbereitenden ... Übermenschen ... der überwunden werden soll", schloß Kessler die Vorrede (Selbstanzeige) zu seinem Buch mit dem Anspruch ab „einen Boden zu bereiten, auf dem dann vielerlei Frucht wachsen mag." 159 Kessler gliederte sein Reisebuch in sieben Kapitel, in denen der Leser von der „See" über Nordamerika (New Orleans) nach Mittelamerika (Mexico) zu verschiedenen historischen Schauplätzen und Natursehenswürdigkeiten geführt wird. Das Grundproblem um 1900 sah Kessler in der zunehmenden Entfremdung des „tropischen" und europäischen Menschen von sich und seiner Umwelt: „die Gefahr ist, daß sich das Streben nach dem Ideal von der Arbeit um das tägliche Brot trenne, und daß das praktische Leben infolgedessen langsam erstarre. Dann sammelt sich die Kraft der menschlichen Sehnsucht neben und außerhalb der Welt an, um irgendwann als neuer Glaube oder Revolution den blutleer gewordenen Gesellschaftskörper zu zertrümmern." Mit dieser kulturkritischen Sicht erkundete Kessler in seinem Reisebuch die Wurzeln der mexikanischen Kultur und verglich diese mit dem modernen Europa. Kesslers Interesse galt dem, was „der Einzelne will und wie stark er es will, das hauptsächlich bestimmt den Aufbau der Gesellschaft und ihrer Seele." Nach Kesslers Verständnis war die wirtschaftliche Überlegenheit Europas gegenüber Mexiko bereits durch die Veranlagung des Individuums determiniert, da „die Grundlage der modern-europäischen Gesellschaftsform ... die wirtschaftliche Einheit, das heißt der Stamm gemeinsamer wirtschaftlicher Interessen und den Umlauf von Wert- und Subsistenzmitteln ... wie die Blutzirkulation ein Volk zu einer Art von materiellem Organismus verbindet." Er gelangte zu dem Schluß, daß der „Durchschnittsmexicaner", der „weder Wunsch noch Gabe besitzt", ausländische Aktionäre und Unternehmer als „wirtschaftliche Übermenschen" brauche. Als Machtstützen der herrschenden Kreise in Mexiko benannte der Autor „die Kirche, das Nationalgefühl und und die politische Gewaltherrschaft." 160 Scharfe Kritik übte Kessler in Anschluß hieran am Staatsterror des Präsidenten Porfirio Diaz, dessen Brutalität er in die Nähe des russischen Zaren Nikolaus II. (1894-1917) rückte. 161 Sondereinheiten der mexikanischen

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Gendarmerie, Rurales, unterdrückten unnachgiebig jeglichen Widerstand der Bauern und Landarbeiter. Nachdrücklich entlarvte Kessler die „Ley-Fuga"-Praktiken (auf der Flucht erschossen) in seinem Reisebuch. Sarkastisch schrieb er: „Wer protestiert, kommt um; das heißt er fällt der Ley Fuga zum Opfer, der geistvollen Handlung der Polizeibefugnis, auf fliehende Arrestanten zu schießen." Gleichzeitig ließ Kessler jedoch in der Beschreibung des Diktators eine schwer nachzuvollziehende Bewunderung für ihn durchblicken: „Ich saß in der Loge neben der des Präsidenten und habe ihn beobachten können. Er ist ein schöner Mestize mit kurzgeschnittenen grauen Haaren und soldatisch gebräuntem Gesicht. Beim Grüßen und Händedrücken hat er die Bewegung eines Gentleman. Trotz seines militärischen Ranges trug er Zivil; sehr gut gemachtes; wahrscheinlich aus London importiert, wie seine Manieren. Energie und Ley-Fuga-Reminiszenzen geben seiner Eleganz die richtige Stimmung. Unter den ihn umgebenden europäischen Diplomaten fiel er entschieden auf, wegen seines vornehmen Äußeren." 162 Kessler nahm damit die ambivalente Haltung eines systemkritischen und zugleich machtverehrenden Chronisten ein. Im Sinne Nietzsches „Geburt der Tragödie" beurteilte er den Verlauf der politischen Geschichte Mexikos im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ausschließlich in der Reduzierung auf den Machtkampf zwischen Kaiser Maximilian und dem Diktator Profirio Diaz. 163 Im siebten Kapitel seines Buches beschrieb Kessler seine Eindrücke von dem Besuch der Hinrichtungsstätte Maximilians in dem Kloster Queretaro. Die Beschreibung der „Richtstätte" und des „letzten Blicks" des Kaisers gestaltete der Autor zu einer memorialen Würdigung, die dem Pathos von Manets impressionistischem Ölgemälde „Erschießung Kaiser Maximilians" (1868) in nichts nachstand. 164 Das tragische Ende des österreichischen Erzherzogs faßte Kessler als das Scheitern der „zivilisatorischen Kulturtaten" des modernen Europas auf. Und über Maximilian urteilte er: „im letzten Grunde ging er unter, weil er versuchte, eine niedrige Rasse mit europäischen Mitteln, das heißt anständig, zu regieren." Nach Kesslers Auffassung brachte das Scheitern dieser „aufgeklärtesten" Kolonialpolitik die „Notwendigkeit" hervor, „Mexico zu regieren wie es Diaz regiert." 165 Mit

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NOTIZBNÜBER/ ^YBXICO^VON« HARRT'CRAF-lCESS LEIi

bciEFontane&CS ^ BERLIN^ 1898

„Notizen über Mexico" (Entwurf Georges Lenraien, Vignetten von James Burn, erschienen im „Pan"-Verlag Fontane & Co.)

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dieser Feststellung schloß der Verfasser sein Reisebuch ab. Kessler wurde damit einerseits zum Befürworter imperialer, neokolonialer und sozialdarwinistischer Auffassungen, andererseits aber auch zum Ankläger gegen soziale Ungerechtigkeit und Staatsterror. Aufgrund der Veröffentlichung der „Ley-Fuga"Praktiken wurde der Graf in Mexiko „daraufhin für vogelfrei erklärt." In Deutschland erschien 1898 ein Kapitel des Reisebuches in der sozialdemokratischen Zeitung „Vorwärts" im Feuilletonteil. 166 Die Leistungen und Grenzen der nord- und mittelamerikanischen Kultur schilderte Kessler sehr kunstvoll. Durch seine farben- und kontrastreichen Beschreibungen verschiedener Bereiche (Städte/Dörfer, Kirchen/Tempel, Opferrituale/Volkskunst) wurde ein schillerndes mosaikartiges Reisebild aus einer Vielzahl von authentischen Details zusammengefügt. 167 Nietzsches Diktum von der „Kunst des Reisens" galt auch für Kessler, nämlich als Erfahrung von der „Selbst-Erkenntnis zur All-Erkenntnis in Hinsicht auf alles Vergangene" zu gelangen. 168 Kesslers direkter, flüssiger, mitunter ironischer Erzählstil erinnert teilweise an Heinrich Heines Reisebilder. Aus seiner Vorliebe für französische Lebensart und Kultur machte auch Kessler in seinem Reisebuch keinen Hehl. So notierte er über die „unamerikanischste aller amerikanischen Städte", New Orleans, folgendes: „Alte weißgetünchte Häuser mit grünen Fensterläden drängen sich an den engen Gassen; Balkone und Portiken überdachen auf Säulen gestützt den Fußsteig; auf den Fensterbrüstungen leistet hier und dort eine mager aussehende Topfpflanze einem alten Hemde, das in der Sonne trocknet, Gesellschaft." Zu den Frauen „der Gesellschaft" beobachtete er in Mexiko: „Der Typus ist nicht hübsch, keine Figur und kein Taint; aber viel Schminke, die Kleider bunt, und Hüte, die in Paris nur die Cocotten tragen." Besonderes Interesse hatte Kessler an der Architektur der altmexikanischen Hochkulturen: Azteken, Mayas und Tolteken. Seine Eindrücke beim Besuch der Pyramiden in der Tempelstadt Teotihuacän (12. November 1896) am Fuße des Vulkans Popocatepetl faßte Kessler als „das mexicanische Gizeh" zusammen. Beeindruckt von der Monumentalität der Tempel, beschrieb der Autor expressiv die Opferprozedur und gelangte zu dem merkwürdigen

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Schluß, daß mit dem „heiligen Mord ... hier etwas Gewaltiges gestorben" sei. 169 Die Besteigung des Popocatepetl in„sechzehntausendfünfhundert Fuß" Höhe bei Sonnenaufgang gestaltete der Verfasser zu einer einzigartigen Naturschilderung, die wie eine Reminiszenz an Goethes „Osterspaziergang" wirkt: „In den Thälern regt sichs, und vom Nebelmeer lösen sich Wolkenzüge und schweben an Abgründen aufwärts; Dunstschleier schwinden von nahen Bergen und darunter erscheinen die Matten schon nebelhaft grün; Strahlen brechen aus den östlichen Tiefen weißflimmernd hervor und stehen am Himmel wie Unterpfande des kommenden Lichts: Himmel und Erde sind künftige Farbe, schweigendes Werden." 170 Fasziniert von der Farbenpracht des tropischen Urwaldes, gab Kessler eine eindrucksvolle, motivreiche und typische Jugendstilbeschreibung von der Flora und Fauna. In dem Reisebuch heißt es: „Blühende Lianen breiten sich bis über die Baumkronen weg, dicht verschlungen wie ein buntes Tuch, einige mit hellroten, kleinen Kelchen, andere mit herabhängenden mattlila Glocken, die meisten mit grossen, blauen Sternen, alles so dicht verstrickt." 171 In dem altindianischen Töpfer- und Kunsthandwerk sowie in der Herstellung von Gebrauchsgegenständen (Matten, Kochgeschirr, Ponchos), also in der Alltagskultur, glaubte Kessler die Wurzeln des „alten Herrenvolkes" zu entdecken. Die Wandmalereien von Chichen-Itzä wirkten auf den Autor hingegen „im Grunde genommen stumm und tot." Kessler zog das Fazit, daß die „altamerikanische Kultur" mit der europäischen Zivilisation in „geheimnisvoller Verwandtschaft" zueinander stünde, da sie „ähnliche Ausblicke" und „ähnliche Dilemmen" eröffnen würden. 172 Kessler hatte auch den Wertverlust kunsthandwerklicher Gegenstände beobachtet, die in regelrechter Massenproduktion hergestellt wurden: „die alten, ganz feinen Lack- und PorzellanArbeiten sterben aus, weil die Jungen sich der Herstellung von Strümpfen und Streichhölzern zuwenden". Kessler räumte nur ein, daß „sich Einzelne vielleicht einen plutokratischen Luxus" leisten könnten, der aber nicht „die alte, volkstümliche Luxuskultur" darstellen würde. 173 Einen Ausweg aus dieser Kulturentfremdung sah der Autor in der Führungskraft, Erneuerungsfähigkeit und „Geschlossenheit der nordischen Rasse" begründet. In

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Anlehnung an sozialdarwinistische Theorien kam Kessler zu der Einschätzung: „Diese südliche Menge steht der blonden, nordischen ebenso sehr an sozial wertvollen Trieben nach wie der tropische Einzelmensch dem Europäer an Charakter, an Willensstärke und innerem Reichtum; der Sieg des Nordens ist von Beiden die Frucht." 174 Von der Beschreibung der Kultur, Geschichte und Politik Mexikos gelangte Kessler abstrahierend zu der Auffassung, daß die Voraussetzungen für ein „neues Regime" in Deutschland nur von einer gänzlich neuen Elite geschaffen werden könnten. Diese kunstinteressierte, sozialorientierte, die imperialistischen Machtverhältnisse stabilisierende Führungsschicht sollte nach dem Verständnis des Grafen für einschneidende Reformen auf dem Gebiet der Kultur- und Bildungpolitik des Wilhelminischen Deutschlands eintreten. Anhand der frühen Schriften („Henri de Régnier", „Notizen über Mexico", „Kunst und Religion") und der Tätigkeit als „Pan"-Mitherausgeber läßt sich erkennen, daß Kessler einen hohen Sachverstand in Kunst- und Literaturgeschichte erworben hatte, moderne Malerei, bildende Kunst und Literatur schätzte und engagiert förderte, einem elitär geprägten, modernen Persönlichkeitsbild nahestand, Anhänger des Ästhetizismus- und Nietzschekults war und politische Auffassungen vertrat, die ihn um 1900 als einen sozialliberalen, antidemokratischen Konservativen mit kulturreformerischen Intentionen charakterisierten. Seine frühen Publikationen trugen neben seiner bürgerlich-aristokratischen Herkunft und Erziehung sowie seiner finanziellen Lage seit 1895 dazu bei, daß er in den oberen Gesellschaftskreisen von Kunst und Politik eine unabhängige, erfolgversprechende Stellung, oder mehr eine Sonderstellung als universaler Kunstförderer und Aspirant für den auswärtigen Dienst einnahm. Durch seine offenen sozialkritischen Positionen im Reisebuch „Notizen über Mexico" wurde seine geplante Karriere im diplomatischen Korps jedoch eher ungünstig beeinflußt. 175

III KESSLERS GESELLSCHAFTLICHES ARRANGEMANT Profilierung in der Öffentlichkeit des Wilhelminischen Reiches (1900-1908)

„Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheit des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament, oder was Sie sonst wollen, ein Urteil herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze."1 Hugo von Hofmannsthal Nach der Jahrhundertwende bahnte sich in Deutschland und Europa die zunehmende Verschärfung der ökonomischen, politischen und sozialen Gegensätze an. Der Ausbruch der ersten Weltwirtschaftskrise im gerade beginnenden Jahrhundert von 1900 bis 1903 war Ausdruck für die neue imperialistische Epoche. Entsetzen und Unbehagen waren Anzeichen für eine „Sprachkrise" in intellektuellen und künstlerischen Kreisen, die für den gesellschaftlichen Zustand symptomatisch war. Der von Reichskanzler Bernhard von Bülow (1900-1909) für Deutschland beanspruchte „Platz an der Sonne" wurde zum Inbegriff wilhelminischer Weltmachtpolitik. Mit dem Ende der Bismarckschen Balance- und Ausgleichsdiplomatie gerieten das kaiserliche Deutschland und seine wenigen Verbündeten in eine zunehmende Isolierung und durch diese neue Politik wurde die Katastrophe des Ersten Weltkrieges mit heraufbeschworen. Die geistigen Auseinandersetzungen nahmen in dieser Umbruchszeit an Schärfe enorm zu, wobei sich die politisch Herrschenden eines zügellosen Nationalismus

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Gesellschaftliches Arrangement

und Chauvinismus bedienten, der mit einer offiziellen konservativ-akademischen Kulturpolitik einherging. Mit der Metapher „modrige Pilze" bezeichnete der junge Österreicher Hugo von Hofmannsthal treffend die krisenhaften Erscheinungen um 1900. Gleichzeitig entstand eine neue Kunstbewegung in Literatur, Malerei, Plastik, Typographie und Architektur: der „Jugendstil"; „Artsand-Crafts" in England und „Art Noveau" in Frankreich genannt. Der belgische Architekt Henry van de Velde faßte das Ziel der neuen Kunst- und Kunstgewerbebewegung mit den Worten der „wirklichen Vereinigung von Kunst und Leben" zusammen.2 Graf Kessler suchte intensiv nach einem Ausweg aus dieser intellektuellen „Sprachkrise", der für ihn zwingend mit der Profilierung in der Öffentlichkeit des Wilhelminischen Reiches verbunden war. In der Erneuerung der Kultur und der Bildung einer neuen kulturell geprägten Oberschicht sah er den einzig möglichen Ausweg aus der bedrohlichen Krise des 20. Jahrhunderts: „Die Aufgabe der Kultur, die der Mensch in ihr löst, ist immer dieselbe: was ihn umgiebt, in Kraftquellen zu verwandeln, für seinen Körper, für seinen Geist; die Welt sich anpassen, sich der Welt anpassen; daß das Resultat seine höchste Intensität und Mannigfaltigkeit sei, die zahlreichsten und also die fruchtbarsten Möglichkeiten menschlichen Seins verwirklicht"3.

Berliner

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Nach 1900 war die Reichshauptstadt Berlin „neben Paris und London der tonangebende Kunstmarkt" in Europa geworden. Auch wenn im aufblühenden Auktionsgeschäft die Berliner Kunsthändler Fritz Gurlitt (Potsdamer Straße) und Eduard Schulte (Unter den Linden) nicht den Handelsumfang der etablierten Pariser und Londoner Konkurrenten erreichen konnten, wuchs doch das Kaufinteresse an Gemälden und Plastiken beim deutschen Großbürgertum.4 Der 1898 von Bruno und Paul Cassirer eröffnete Kunstsalon sorgte in Berlin für großes Aufsehen. In den von Henry van de Velde entworfenen Ausstellungsräumen wurden mehrfach Gemälde der französischen Impressionisten Degas, Renoir, Manet, Monet und Cézanne gezeigt. Werke des

Berliner Secession

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damals noch umstrittenen Vincent van Gogh waren in Cassirers Salon in zehn verschiedenen Ausstellungen von 1901 bis 1914 zu sehen. Van de Velde ließ zur gleichen Zeit die Innenausstattungen für das Kunsthaus Keller & Reiner in der Potsdamer Straße und die Einrichtung des Geschäfts für den kaiserlichen Hofbarbier Francois Haby (Mittelstraße) anfertigen.5 Das wachsende Bedürfnis nach zeitgenössischer Kunst und Literatur zeigte sich auch an den Erfolgen der in den achtziger und neunziger Jahren gegründeten Verlage S. Fischer, Egon Fleischel & Co. und Schuster & Loeffler. Die Zeitschriften „Die neue Rundschau" (S. Fischer), „Kunst und Künstler" (Cassirer) und „Die Zukunft" (Harden) wurden die Organe, in denen die meisten Debatten um moderne Kunst und Literatur stattfanden. Kunstkritiker wie Meier-Graefe und Scheffler waren die ersten publizistischen Verfechter für den in Deutschland noch weitgehend unpopulären und als „undeutsch" verrufenen Impressionismus. Der 1896 ernannte Direktor der Berliner Nationalgalerie, Hugo von Tschudi, setzte sich dagegen als einer der ersten vehemt für die neue Kunstrichtung und eine nach modernen Gesichtspunkten ausgerichtete, aufgelockerte und vielseitig orientierte Sammlung und Präsentation der neuen Gemälde ein. Dieses Engagement für die moderne Kunst stieß in Hofkreisen und bei akademischen Historienmalern auf Ignoranz und heftigen Protest, der bis zu erregten öffentlichen Beschimpfungen reichte. Kaiser Wilhelm II. selbst bezeichnete die neue Kunst mehrfach als „Rinnsteinkunst" und .Atelierabhub". Eine offene Frontstellung gegen das persönliche Kunstregiment des Kaisers entstand im Jahr 1898 mit der Gründung der „Berliner Secession", die seit Anfang dieses Jahrhunderts in der Reichshauptstadt zu einer „Kunstrevolution" führte. Über 60 Berliner Maler und Bildhauer schlössen sich aus Protest gegen die offizielle Kulturpolitik zur unabhängigen Sezession zusammen. Anlaß für die Konstituierung dieser Vereinigung war die Zurückweisung des Gemäldes „Grunewaldsee" von Walter Leistikow für die Große Berliner Kunstausstellung durch das Kultusministerium im Mai 1898 und die ablehnende Haltung des Vorsitzenden der königlichen Akademie, Anton von Werner. Der zum Präsidenten der neuen Künstlerorganisation gewählte Maler

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Max Liebermann sah die „Hauptaufgabe" der Secession darin, „einer jeden Individualität zur Entwicklung zu verhelfen, nicht aber sie zu brechen." In dieser Künstlervereinigung waren erstmalig in Deutschland Frauen gleichberechtigte Mitglieder. Von 1899 bis 1912 wurden die Berliner Sezessionsausstellungen jährlich veranstaltet. Den Vertrieb und Verkauf der „Secessionsbilder" übernahmen die Vettern Bruno und Paul Cassirer, die „Sekretäre" der Berliner Secession. Erster Vizepräsident wurde Walter Leistikow. Bei der Eröffnung der ersten Ausstellung der Secession im Jahr 1899 - die Auswahl und Anordnung der Bilder erfolgte eher unkonventionell - verwies Liebermann programmatisch auf die neuen Prinzipien: „Wir führen eine kleine Anzahl von Werken dem Betrachter vor ... , denn wir sind der Überzeugung, daß die massenhafte Anhäufung von Kunst ebensosehr gegen das Interesse des Publikums wie das der Kunst selbst verstößt."6 Ausschlaggebend für die Auswahl der Gemälde war „das Talent". In Anspielung auf die doktrinäre Haltung des Monarchen unterstrich Liebermann die unabhängige Position der „Secession": „Für uns gibt es keine alleinseligmachende Richtung in der Kunst, sondern als Kunstwerk erscheint uns jedes Werk, welcher Richtung es auch angehören möge, in dem sich eine aufrichtige Empfindung verkörpert." Deshalb wurden bei der Ausstellung Gemälde alter (Menzel, Böcklin) und neuer Meister (Liebermann, Leistikow, von Hofmann) gezeigt. Diese Ausstellung wurde ebenso wie die folgenden ein großer Erfolg für die Sezessionisten. Obwohl man anfangs „vielfache Anfeindungen" befürchtete, konnte Liebermann bei der Eröffnung der zweiten Sezessionsausstellung im Jahr 1900 die durch die Sezessionisten weitgehend befriedigten „Bedürfnisse des Publikums" konstatieren. 7 Dies setzte sich um die Jahrhundertwende vorzugsweise aus den aufgeklärten „Teilen des Groß- und Bildungsbürgertums und der Bildungsschicht" und kunstinteressierten Adligen zusammen, die wiederum identisch mit der Elite des Wilhelminischen Reiches waren.8 Als Kunstsammler und Mäzene wurden besonders Karl Ernst Osthaus, Bernhard Koehler und Walther Rathenau bekannt.9 Zu diesen Sympathisanten und Förderern der „Berliner Secession" gehörte auch Harry Graf Kessler. Durch

Moderne ausländische Kunst

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seine Mitherausgebertätigkeit beim „Pan" von 1896 bis 1900 waren ihm die meisten „Secessionisten" sowohl aus Berlin als auch aus München und Dresden persönlich gut bekannt. Weitgehende Übereinstimmung fand Kessler mit ihnen in der Bewertung des impressionistischen und neoimpressionistischen Stils.

Moderne ausländische im „secessionistischen"

Kunst Berlin um 1900

Mitte der neunziger Jahre entwickelte sich Kessler zu einem hervorragenden Kenner der französichen Moderne. Bei seinen regelmäßigen Besuchen der Mutter in Paris sah er beim Kunsthändler Paul Durand-Ruel ausgestellte Gemälde von Monet und Renoir. Hier ergaben sich auch eine Reihe von privaten Kontakten zu französischen Malern und Bildhauern. Seine Bewunderung für die impressionistische Malerei hielt Kessler mehrfach in seinem Tagebuch fest. Nach einem Besuch des Durand-Ruel-Salons am 30. Mai 1896 vermerkte er etwa: „die Renoirs; wahre Wunder im Lichte lebendiger Farbe.... Die Renoirschen Landschaften halten sich sogar neben den Monets, die in den Nebenräumen hängen; aber das schönste dort vielleicht eine schlafende Nymphe, die er für Gallimard (Gaston) gemalt hat in den schlafgeröteten Wangen, und bei der man noch wunderbarer, als bei seinen sonstigen Bildern, das Flirren des Bluts unter der Haut sieht." Max Liebermann setzte sich bereits 1896 am Beispiel des Malers und Bildhauers Degas in einem Aufsatz im ,,Pan" stark für den Impressionismus ein. 10 Fünf Jahre später, 1901, als Vorsitzender der „Berliner Secession", fiel ihm ein differenzierter beobachtendes Publikum auf. Aus Anlaß der dritten Sezessionsausstellung stellte Liebermann fest: „Pissarro, Renoir und Claude Monet, deren Werke bei ihrem Erscheinen mit Entrüstung zurückgewiesen wurden, muten uns heute bereits - ein Menschenalter nach ihrem Entstehen - klassisch an. Sie beweisen aufs deutlichste - ebenso wie Böcklins Werke - , daß die Entrüstung des Publikums über eine neue Auffassung in der Kunst um so größer ist, je neuer und individueller sich der Künstler in ihr offenbart."11 Auf diesen sich allmählich wandelnden Geschmack

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bei Teilen des Berliner Kunstpublikums gegenüber der Moderne hatte auch Kessler in besonderer Weise Anteil. Seine mit weißlackierten van-de-Velde-Möbeln eingerichtete Wohnung in der Köthener Straße war seit Februar 1898 für Gäste aus Kunst- und Politikkreisen „ein sensationelles Ereignis". Kesslers private Sammlung von impressionistischen und neoimpressionistischen Gemälden von Renoir, Cézanne, van Gogh und Vertretern der Nabis-Gruppe wie Maurice Denis, Pierre Bonnard, Edouard Vuillard und Radierungen der Sezessionisten Münch und von Hofmann war zu dieser Zeit einmalig in Deutschland. Im Dezember 1897 hatte Kessler in Paris drei NeoImpressionisten in ihren Ateliers besucht: Maximilian Luce, Paul Signac und Hippolyte Petitjean. Beglückt über seine Entdeckung, schrieb er an den Freund Eberhard von Bodenhausen, die Bilder dieser Maler seien „das Interessanteste und Zukunftsreichste, was Frankreich jetzt zu bieten hat, und selbst in Paris so gut wie unbekannt", und weiter meinte er, daß diese „Wunder des Lichts und der Poesie" seien. Kessler regte in der „Pan"-Redaktion an, ein „Pan"-Heft (Heft 1, 4Jg., 1898) allein den Neo-Impressionisten zu widmen. Damit konnten erstmalig in Deutschland einem Teil des kunstinteressierten Publikums Lithographien neoimpressionistischer Maler gezeigt werden. Kessler setzte sich mit anderen auch dafür ein, daß vom 22. Oktober bis 5. Dezember 1898 die erste Ausstellung neoimpressionistischer Bilder in der Berliner Galerie Keller & Reiner stattfinden konnte. Für seine luxuriöse Wohnung in Berlin kaufte er im Dezember 1897 bei dem Nabis-Künstler Pierre Bonnard das berühmte Gemälde „Les Poseuses" von Georges Seurat. 12 Als das Bild Anfang Februar 1898 aus Platzgründen in der Berliner Wohnung nur teilweise aufgerollt und aufgehängt werden konnte, war auch van de Velde anwesend, der sich später an diese Situation erinnerte: „Harry hatte nur den einen Wunsch, das Gemälde - das erste große neo-impressionistische Bild, das die deutschen Kritiker zu sehen bekamen - zu zeigen; er war zu allem bereit, selbst dazu, seinen Gästen nur einen Teil vorzuführen."13 Als Kessler das Gemälde seinen Freunden und Gästen in seiner Wohnung mit ihrem modern-luxuriösen Interieur in der Köthener Straße zeigte, fiel die Resonanz recht unterschiedlich aus. Dehmels

„Les Poseuses" von Georges Seurat (entstanden 1886/88) in Kesslers Berliner Wohnung, Köthener Straße 28

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Meinung z.B. hielt Kessler nach einem Gespräch mit ihm am 14. November 1898 im Tagebuch fest: „Dehmel bei mir... die N. I. (Neo-Impressionisten) wirkten auf ihn nicht durch ihre Farbe, sondern bloss durch ihr Licht; während bei Böcklin, wohl seiner mangelhaften Technik, immer die Farben-Erfindung ihn erfreue; Signac's Wirkung bleibe auf seine Netzhaut beschränkt; er wirke nicht central, erschüttere nicht den ganzen Menschen ... Böcklin erfinde Farbenwerte; Signac und die Neoimpressionisten seien im höchsten Sinne geschickte Handwerker." Hildegard Baronin Spitzemberg äußerte sich nach einem Besuch der Kesslerschen Wohnung im März 1900 sehr herablassend: „Er wohnt 28. Köthener Strasse in 4 - 5 Löchern in einem Hinterhause!! Heute, da es kaum Tag wurde und Schneefall mit Regen wechselte, sah es dort so düster aus, daß all die Kunstschätze, die dort hängen und stehen, absolut nicht zur Geltung gelangten."14 Trotz Vorbehalten und Kritik bemerkten aber auch Kessler und Liebermann Anzeichen für ein wachsendes Verständnis beim kunstinteressierten Publikum gegenüber der modernen Kunst. Hoffnungsvoll, den momentanen Eindruck überschätzend, schrieb Kessler nach dem Besuch der Neoimpressionistenausstellung bei Keller & Reiner in sein Tagebuch: „die alte Frau Abeken getroffen, ... sie zeigte, wie das grosse Publikum überhaupt, schon viel Verständnis für die N. I.; ihnen imponiert das Valeur, und dann studieren sie den Pan-Artikel."15 Gleichzeitig gelang es Kessler, Henry van de Velde in den Berliner Salon der Cornelia Richter einzuführen und ihn damit einem Teil des Berliner Publikums, bestehend aus Hofbeamten, Industriellen, Bankiers, Museumsdirektoren und Kunstkritikern, vorzustellen.16 Im Februar 1900 hielt der Architekt im Richterschen Salon drei Vorträge zum Thema „Die Wiedergeburt des Kunstgewerbes und der Kunstindustrie". Zu den gut besuchten Vortragsabenden kamen u. a. folgende namhafte Gäste: der kaiserliche Kammerherr Bodo Freiherr von dem Knesebeck, Hofarchitekt und Intimus des Kaisers, Professor Ernst von Ihne, Generaldirektor der Staatlichen Berliner Museen, Wilhelm von Bode, Direktor der Berliner Nationalgalerie, Hugo von Tschudi, Direktor der Troponwerke, Eberhard Freiherr von Bodenhausen und Walther Rathenau, Aufsichtsratmitglied der Berliner Han-

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delsgesellschaft (BHG). Das Echo nach den Vorträgen war zwiespältig. Rathenau beispielsweise schrieb einige Jahre später, 1906, in einem Brief an Harden über van de Velde: „Sie kennen meine Meinung von v. d. Velde, den ich als Propagandisten gelten lasse, als Maler-Architekten-Schreiner-Decorateur wenig schätze." 17 Auch wenn sich van de Veldes Reformvorschläge für das Kunstgewerbe in Berlin nicht durchsetzten, zeichnete sich doch ein verändertes Rezeptionsverhalten beim Kunstpublikum ab, das auch Lichtwark, Direktor der Hamburger Kunsthalle und Mitherausgeber des „Pan", beobachtete. Er setzte sich wie Kessler „mit diplomatischer Geschicklichkeit" ständig und ausdauernd für die Förderung und Anerkennung der Impressionisten in Deutschland ein. 18

Kunsterziehungsbewegung Adressiert an das großbürgerliche Publikum äußerte sich Lichtwark zur Rolle der Kunststammler in dem Aufsatz „Selbsterziehung" wie folgt: „erst die innige Berührung mit der Produktion der Gegenwart schafft Sammler, wie wir sie zur Förderung unserer lebendigen Kunst augenblicklich fast noch nötiger brauchen als Künstler."19 Kessler stimmte den Auffassungen Lichtwarks weitgehend zu. Sie waren beide überzeugt von der Ansicht, „dass Nietzsche gerade den preussischen Offiziersstand als möglichen Kulturträger so hoch geschätzt habe" und daß „die Schaffung des preussischen Offizierstypus, der nebenbei gesagt der Königstypus der ganzen Welt geworden sei,... die grösste Kulturtat der Hohenzollern" gewesen wäre. 20 Neben dem Verleger der Münchner Zeitschrift, Jugend," Georg Hirth, gehörte Lichtwark zu den führenden Vertretern der Kunsterziehungsbewegung. Diese Bewegung trat für die „künstlerische Erziehung der deutschen Jugend" ein und war seit den achtziger Jahren ein Teil der „bürgerlichen Reformbewegung" in Deutschland. Anläßlich der ersten Kunsterziehungstagung in Dresden am 28. und 29. September 1901 mahnte Lichtwark an, das „Problem der künstlerischen Erziehung" als „Gesamterziehung unseres Volkes" zu verstehen, um den „Ruf nach einer sittlichen Erneuerung unseres Lebens" zu

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verwirklichen. Denn das Ziel müsse „die Bildung des Deutschen der Zukunft" sein, dem es an „guten Eigenschaften des Charakters, an Kräften und Fähigkeiten" nicht fehlen solle. Lichtwark entwarf das Modell einer idealen Gesellschaft, in der „eine wirkliche Lebensgemeinschaft mit den führenden Geistern der deutschen Polititk, Literatur, Kunst und Wissenschaft" entstehen sollte. Er hatte die Vorstellung, daß „der Einzelne" in die Lage versetzt werden müßte, „seine Wohnung einzurichten, seinen Anzug den Forderungen des Geschmacks zu unterwerfen, kurz gesagt: ein anmutiger Deutscher zu werden". Realisieren sollte dieses Reformprogramm „der deutsche Professor, der deutsche Lehrer und der deutsche Offizier ... durch sein Beispiel." Dieser Entwurf für ein Erneuerungsprogramm hatte die Erziehung eines modernen Menschen zum Kern, der durch den geschulten Umgang mit Kunst und Literatur „ästhetische Ansprüche an seine Umgebung und Erscheinung" stellen sollte. Lichtwark stand damit im Einklang mit den Ansichten der Vertreter der „Berliner Secession" und plädierte wie Kessler für ein an Nietzsche angelehntes Menschenbild. Sein Vortrag über den „Kulturkampf des Einzelnen", gehalten auf dem Kunsterziehungstag 1901, legte beredtes Zeugnis für seine Grundüberzeugungen ab. Abschließend meinte Lichtwark auf dieser Tagung zuversichtlich: „Aber unbesiegbar werden wir stehenbleiben, wenn jeder einzelne in jeder Stunde, bei jedem Werk, an jedem Ort, wohin ihn Mut und Schicksal gestellt haben, das höchste Maß seines Willens und seiner Kraft entfalten lernt." 21 Kessler stellte rückblickend nach der Novemberrevolution die Kunsterziehungsbewegung und die „Berliner Secession" in einen größeren Zusammenhang. Er war der Meinung, daß die .Auflehnung der neunziger Jahre und ersten Jahre dieses Jahrhunderts gegen die wilhelminische Kunst in Wirklichkeit der Anfang der Revolution war", und daß das „Brüchige" des kaiserlichen Systems in Kunst und Literatur viel früher als in der Politik gespürt und aufgegriffen worden ist. Kessler bewertete den „Kampf ... unter dem Namen Impressionisten" nur als einen „Teil des gewaltigen Ringens auf breitester Front in der ganzen Welt zwischen lebendiger Qualitätskunst und totem Epigonentum." Er würdigte die Leistungen Cassirers, Lichtwarks und Tschudis, indem er ihnen bescheinigte, den „drängenden öffent-

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liehen Geschmack ... gegen die Geheimräte in den Kulturministerien und den mächtigen und rücksichtslos eingesetzten Einfluß Wilhelms II." maßgeblich durchgesetzt zu haben. 22 Kessler wußte, wovon er 1926 zum Gedächtnis an Paul Cassirer und über die Entwicklung der „Berliner Secession" sprach. Er hatte von 1902 bis 1908 mit mehreren Essays, Ausstellungen, Vorträgen und offenen Briefen der akademischen Kunst und Kunstbetrachtung den Kampf angesagt und damit dem Impressionismus und der Anerkennung moderner internationaler Kunst in Deutschland zum Durchbruch verholfen. 23 Seine Entscheidung, sich offen auf die Seite der modernen Kunst und Literatur zu stellen, steht auch in Zusammenhang mit der Absage des Auswärtigen Amtes vom Frühjahr 1902 im Hinblick auf eine diplomatische Karriere Kesslers. 24 Am 20. April 1902 bekam Kessler eine diesbezügliche schriftliche Mitteilung vom Vortragenden Rat im Auswärtigen Amt, Karl Max Fürst Lichnowsky, dem späteren Deutschen Botschafter in London, über Cornelia Richter zugeleitet. Im Tagebuch notierte der Graf hierzu: „Bei Hindenburgs gefrühstückt mit Nostitz. Nachmittags von Lichnowsky ... von Richters Briefe erhalten, die den Verhandlungen mit dem Amt ein Ende setzen. Sie lehnen ab, mich gegenwärtig in den diplomatischen Dienst aufzunehmen. Leider hat sich aus verschiedenen Gründen die Aufnahme in den diplomatischen Dienst nicht sofort ermöglichen lassen ... An Frau Richter schreibt L.: .Augenblicklich sind zu viele Leute dagegen'. Wer? Wahrscheinlich Holstein. Vielleicht Schiätzer. Für später sieht L. Aufnahme in Aussicht. Aber wie soll ich darauf warten? Lichnowsky nur, wie mir scheint, guten Willens. Aber Intriganten stärker. Bestenfalls hat das Amt sich gewissenhaft und lächerlich gezeigt." Obwohl er einen großen Teil der Anforderungen - wie Dreisprachigkeit, finanzielle Unabhängigkeit und bestandenes Assesorexamen - für die Aufnahme ins diplomatische Korps erfüllte, entsprach er doch nicht dem ungeschriebenen Gesetz des Auswärtigen Amtes, nach dem es hieß: , J e neuer der Titel, desto unerwünschter war der Adelige für eine diplomatische Karriere." 25 Großen Einfluß bei den Personalentscheidungen dürften Reichskanzler Bernhard von Bülow, „Mernes Verehrer und Widersacher" und dessen „graue Emi-

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nenz", Friedrich von Holstein, Vortragender Rat im Auswärtigen Amt seit 1878, gehabt haben, denn im „Hinblick auf einen so kleinen Beamtenkörper waren Beziehungen und Fürsprachen in manchem Falle entscheidend." 26 Nicht folgenlos für die Entscheidungsfindung im Amt dürften auch Kesslers sozialkritische, gegen die mexikanische Diaz-Diktatur gerichteten Äußerungen und „seine engen Kontakte zum Künstlermilieu" gewesen sein. 27 Für Kessler bedeutete die vorläufige Ablehnung durch das Auswärtige Amt einen tiefen Einschnitt in sein Leben. Auch wenn er seinen Freunden Bodenhausen und Hofmannsthal diese Entscheidung 1902 nicht mitteilte, so war sie für ihn eine herbe persönliche Enttäuschung und eine offenkundige Zurücksetzung. Das beabsichtigte gesellschaftliche Arrangement mit der Politik des Wilhelminischen Reiches war gescheitert. Das finanziell unabhängige „Rentendasein, das ihm als Bankierssohn gestattet war", und seine überaus weit verzweigten Verbindungen ermöglichten es Kessler daraufhin, um 1900 eine in Deutschland für die Kunst und Literatur einzigartige „Sonderstellung" einzunehmen. Politisch galt er fortan als engagierter Außenseiter und „stiller Frondeur" gegen das persönliche Regiment des Kaisers. Für die Verwirklichung seiner künstlerisch-ästhetischen Ambitionen suchte Kessler zeitlebens verschiedene kulturelle Wirkungsmöglichkeiten und fand eher zufällig seit 1902 aus der Sympathie für den nachklassisch wirkenden Geist in Weimar eine überschaubare Aufgabe und Möglichkeit im sächsisch-weimarischen Großherzogtum vor, die ihn mehr als drei Jahrzehnte mit Thüringen verbinden sollte.

Weimarer Reformen

(1902-1906)

Die thüringische Residenzstadt Weimar wurde im Jahr 1901 von zwei nachhaltig wirkenden Ereignissen erschüttert, die weit über die Landesgrenzen hinaus die politische und kulturelle Krise im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach signalisierten. Am 5. Januar starb Großherzog Carl Alexander. Die Regentschaft übernahm bis zum Jahr 1918 sein Enkel, Großherzog Wilhelm

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Ernst. Vom 27. bis zum 30. August 1901 traf sich anläßlich des ersten Todestages Friedrich Nietzsches ein kleiner Personenkreis, um Pläne zur kulturellen und geistigen Erneuerung für das „neue Weimar" zu besprechen. Der literatur- und kunstfördernde Großherzog Carl Alexander (1853-1901) hatte in den letzten Jahren seiner Regentschaft einen dem „starren Aristokratismus" verhafteten Weimarer Hof hinterlassen, der Jede Bürgerlichkeit ablehnte und der sich bewußt vom Volke distanzierte." Als Anfang Januar 1901 der fünfundzwanzigjährige Großherzog Wilhelm Ernst seine Nachfolge antrat, versprach dieser, „er werde das Andenken seines Großvaters dadurch ehren, daß er in seinem Sinne wirken und die Überlieferungen seines Hauses als ein teures Vermächtnis bewahren und pflegen werde". Dessen konservativ-liberale Politik setzte der junge, auf Zeitgenossen eher unsicher wirkende, mitunter aggressiv auftretende Souverän fort. 28 Unter dem Einfluß Kaiser Wilhelms II. stehend, förderte er während seiner Amtszeit mehr das Militärwesen als die Musen. In Weimarer Gesellschaftskreisen um das Goethe-Schiller- und Nietzsche-Archiv wurde seit Ende der neunziger Jahre die Frage diskutiert: „Wie soll es mit der deutschen Kulturentwicklung weitergehen, wenn ein Ort wie Weimar so wenig seine ihm vorgezeichneten Aufgaben erfüllt?" 29 Gleichzeitig forderten völkisch-nationalistische Kreise um die in Weimar wohnenden „heimatkünstelnden" Schriftsteller Friedrich Lienhard und Adolf Bartels fern von Berlins „LärmJuden" die „geistige Hauptstadt Weimar". 30 Großherzog Wilhelm Ernst hatte weder Veränderungen im Land angekündigt noch eine Kabinettsumbildung für erforderlich gehalten. Er verstärkte weiterhin den Einfluß konservativ-preußischer Kräfte am Hof, stellte aber gleichzeitig eine personelle Neubesetzung der Weimarer Kunstschule in Aussicht.31 Von diesen regionalen Veränderungen war Kessler im Februar 1901 durch Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche unterrichtet worden. Welches Interesse aber hatte der Weltbürger Kessler ausgerechnet an der thüringischen Residenzstadt Weimar, und was bewog ihn, einen Plan für „das neue Weimar" zu entwickeln? Die Leiterin des Nietzsche-Archivs schrieb ihm, „daß das kleine Großherzogtum" mit seinen „Porzellanfabriken,

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Glasbläsereien, renomierten großen Töpfereien ... im Anschluß an die Kunstschule eine Reihe Werkstätten unter der Leitung eines hervorragenden Künstlers wie van de Velde" stellen könnte, um „billige Gebrauchsgegenstände, die eben das Volk auch bezahlen kann", zu produzieren. Seit 1896 war Kessler mit dem Nietzsche-Archiv eng verbunden. 32 Während seiner Tätigkeit als „Pan"-Mitherausgeber wurde er im Oktober 1895 durch die Erstherausgabe von Nietzsche-Kompositionen mit der Schwester des Philosophen bekannt. Im August 1900 hatte er Nietzsches Totenmaske abgenommen. Für Kessler ergab sich mit dem Weimarer Regierungswechsel die Möglichkeit, seinem Freund, dem „Art-Nouveau"-Künstler Henry van de Velde, zu einer neuen Wirkungsstätte in Deutschland zu verhelfen. Eine eigene Anstellung in Weimar zeichnete sich für ihn hingegen erst im Frühjahr 1902 ab. Vorerst galt es, Sondierungsgespräche zu führen, um Vorurteile gegen van de Veldes neuartige Kunst- und Kunstgewerbeauffassung am Weimarer Hof, im Staatsministerium und in der Öffentlichkeit abzubauen. Kessler legte hierfür den Grundstein in Gesprächen vom 27. bis 30. August 1901 mit Elisabeth Förster-Nietzsche und Henry van de Velde. Anläßlich des Gedächtnisses zum ersten Todestag Nietzsches traf sich dieser kleine Kreis mit einigen Archivmitarbeitern in der „Villa Silberblick". In diesen Tagen wurde der „Plan gemeinsamen kulturellen Wirkens in Weimar" entwickelt. 33 Henry van de Velde bezeugte, daß seine Berufung ins Großherzogtum den ersten Schritt für ein „neues Weimar" bilden sollte. Der Plan bestand darin, so van de Velde, „eine neue, dritte Epoche weimarischer Kultur in die Wege zu leiten, in deren Mittelpunkt der ,neue Stil' stehe. Diese Epoche sollte in gehöriger Distanz zu den früheren die Wiederbelebung des Kunsthandwerks wie der industriellen Kunst bringen und den Weg für einen architektonischen Stil und eine Ästhetik unserer Zeit frei machen." 34 Elisabeth Förster-Nietzsche, Kessler und Graf Werthern fiel dabei die Aufgabe zu, „die verantwortlichen Kreise in Weimar an die Bedeutung der Tradition zu erinnnern und den jungen Fürsten auf die Möglichkeit hinzuweisen, die Tradition in würdiger Weise fortzusetzen." 35 Elisabeth Förster-Nietzsche verfolgte mit der Unterstützung von van de Veldes Berufung nach Weimar

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das Ziel der künstlerisch-modernen Aufwertung des Archivs, wobei ihr Prestigestreben, wie sich später zeigte, eine nicht gerade untergeordnete Rolle spielte. Nach den Augustgesprächen von 1901 stellte sich heraus, daß „Graf Kessler der eigentliche Urheber des Experiments war, das in Weimar zu einer künstlerischen und geistigen Erneuerung führen sollte." Als geistige Grundlage einer moralisch-praktischen Erneuerung und der Realisierung des „Neuen Stils" in Kunst, Kunstgewerbe, Architektur, Ästhetik und Literatur diente Nietzsches Auffassung vom „neuen Menschen". 36

Entstehung der Weimarer Reformbewegung Am 4. April 1902 gab die „Weimarische Zeitung" folgendes bekannt: „Seine Königliche Hoheit der Großherzog haben die gnädigste Entschließung gefaßt, 1. den Maler Hans Olde zu Seekamp bei Friedrichsort unter Verleihung des Titels .Professor der Malerei" zum Direktor der Großherzoglichen Kunstschule, 2. den Maler Henry van de Velde hier zum,Professor des Kunstgewerbes' zu ernennen." 37 Mit der Berufung des Nietzsche-Porträtisten Olde und des „Art-Nouveau"-Künstlers van de Velde hatte Elisabeth Förster-Nietzsche ihren Einfluß am Hof geltend gemacht. Durch Kesslers diplomatisches Geschick konnten dem Großherzog Wilhelm Ernst und Staatsminister Karl Rothe die Vorbehalte gegen den „Neuen Stil" allmählich genommen werden. Beide waren von den wirtschaftlichen Vorteilen überzeugt worden, die sich durch van de Veldes Tätigkeit für das Großherzogtum ergeben sollten. Die aus Kesslers Sicht entscheidenden Gespräche mit dem Staatsministerium und dem Hof fanden im Oktober und November 1901 statt: „um 4 zu Rothe und ihm meine Vorschläge vorgetragen. Kunsthandwerk fördern, ist für den Mittelstand lohnender als großes Handwerk, weil ein hervorragender Maler oder Bildhauer, den die Kunstschule hervorbrächte, wahrscheinlich nicht im Lande bliebe, sondern nach Berlin oder München ginge, wo er mehr Aussicht auf Aufträge hat." 38 Zwei Wochen später, am 4. November 1901, gab der Großherzog für Kessler ein Abendessen. Der Graf notierte dar-

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aufhin in sein Tagesjournal: „Beim Großherzog der Wunsch, etwas zu thun, das seine Regierung für das Land in einer glänzenden Weise einleitet. Bei der Hofgesellschaft die Langeweile und dass es sie nach einem Spielzeug juckt; Etwas, womit sie sich beschäftigen kann und was sie beschäftigt. So habe ich den Eindruck, dass der Entschluß zur Berufung aus Allem Zustandekommen wird." 39 Der Großherzog zeigte sich am darauffolgenden Tag beeindruckt, als van de Velde ihm die modernen „Beleuchtungskörper" vorführte. Mit der Berufung am 1. April 1902 bekam van de Velde als künstlerischer Berater für Kunst und Kunstgewerbe das Aufgabenfeld zugesprochen, das er nach den Vereinbarungen mit Kessler angestrebt hatte. Vor Ort studierte er die Lage der „verschiedenen Heimindustrien" und die der „wenigen kunstgewerblichen Betriebe" in Jena, Eisenach, Weimar und Apolda, um durch „Gutachten und sachlichen Beirat die Absatzverhältnisse und Handelsbeziehungen" zu verbessern. 40 Gemeinsam mit Kessler hatte er die auf Initiative des hessischen Großherzogs Ludwig Ernst 1899 gegründete Künstlerkolonie „Mathildenhöhe" vom 31. August bis 2. September 1901 besucht. Nach dem Besuch der Ausstellung „Ein Dokument deutscher Kunst" zeigte sich van de Velde stark empört über die „geschmacklose Selbstverspottung" der ausgestellten kunstgewerblichen Exponate. 41 Für ihn sollte ganz im Gegenteil die Synthese von Kunst und Handwerk der entscheidende Ausgangspunkt für das „Neue Weimar" sein, der zum Aufschwung der thüringischen mittelständischen Industrie beitragen sollte. Das am 15. Oktober 1902 eröffnete „Kunstgewerbliche Seminar" diente exakt diesem Zweck. Es vergingen dann noch sechs Jahre, bis van de Velde 1908 die „Staatliche Kunstgewerbeschule" in Weimar als deren erster Direktor eröffnen konnte. Für Kessler ergab sich im Frühjahr 1902 die Möglichkeit, in Weimar eine künstlerisch exponierte Stellung einzunehmen. Im Januar 1902 teilte ihm Elisabeth Förster-Nietzsche in einem Brief dahingehende Spekulationen des Staatsministeriums mit: „Das allgemeine Gerede, daß Sie hierher berufen werden sollen, dauert fort, aber an der entscheidenden Stelle ist noch kein Entschluß gefaßt." Vorbehalte traditionalistischer Weimarer gegen-

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über Kessler spürend, erklärte sie: „Ich will Ihnen jetzt aufrichtig sagen: mir wird ein wenig bange, wenn ich von dem hiesigen Gesellschaftstreiben höre: ob es überhaupt wünschenswert ist, daß Ihnen diese Stelle angeboten wird? Ich begreife, daß Sie sich jetzt kühl und etwas ablehnend dazu verhalten. Meine Empfindung ist jetzt das beunruhigende Gefühl, als ob man einen jungen Adler in einen Käfig sperren wolle; im allgemeinen lieben doch Adler, frei zu fliegen. Das Glück in dieser Sache ist nur, daß der Adler unter allen Umständen seinen Käfig jederzeit aufmachen kann." 42 Vom Großherzoglichen Generaladjutanten und Oberhofmarschall Aimé Freiherr von Palézieux, der dem kaiserlichen Hof nahestand und in Weimar über großen Einfluß verfügte, wurde Kessler am 4. April 1902 das Angebot unterbreitet, „die Permanente Ausstellung in ein ganz modernes Museum umzuwandeln" und „in das Curatorium einzutreten, da man ihn gern in Weimar haben" wolle. Mit seiner Entscheidung für Weimar „sei dann ein Anfang" gemacht, so Palézieux, „an der sich Weiteres schliessen lasse." 43 Die „Permamente Ausstellung", ein seit 1880 von Privatpersonen gegründetes Museum am Karlsplatz, stellte Gemälde von Malern der Kunstschule zum Verkauf aus. Initiator dieses Museums für Kunst und Kunstgewerbe war Palézieux selbst. Seit 1888 wurden hier erstmalig Bilder französischer Impressionisten gezeigt. Es sollte nun nach dem Willen der Regierung bis 1903 in ein staatliches Museum umgewandelt werden. Kessler führte diesbezüglich nach nochmaliger Vermittlung von Elisabeth Förster-Nietzsche mit dem Staatsminister Rothe am 4. April 1902 die entscheidenden Verhandlungen. Rothe bot ihm „sofort eine Professur in Jena" an. Der Graf lehnte jedoch ab und unterbreitete dem Staatsminister stattdessen sein Reformprogramm. Unter Kesslers „Oberleitung" sollten alle „Kunstbestrebungen im Großherzogtum" stehen, um „alles, was für diese Kultur geschieht, mit einander in Verbindung zu setzen und dem allgemeinen Ziel dienstbar" zu machen. Demnach umfaßte die „reorganisatorische, ... administrative ... und akademische Thätigkeit" Kesslers in erster Linie die Reform der Schulen und Museen. Diese Reformen sollten realisiert werden, indem erstens „alles, was an Kunst- und Zeichenunterricht in allen Schulen des Landes von der Völksschule bis zur Kunstschule gegeben wird,

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... in einem Sinne aufzubauen wäre, so daß schon die Volksschule für Kunst und Kunsthandwerk" vorbereiten könnte. Dazu wäre eine „Kommission" erforderlich, „die die Grundsätze, das Lehrbuch und die Lehrmethoden festzustellen hätte" und sich zusammensetzen würde „aus dem Professor der Physik an der Universität Jena, van de Velde, Olde, einem Beamten des Ministeriums" und Kessler selbst. Zweitens sah der Kesslersche Plan vor, die Museen des Großherzogtums so zu verändern, daß sie nicht mehr „nur Touristen und Studien-Objekt sein" sollten, sondern vielmehr „bei jeder Anschaffung deren produktiver Wert für das Land" im Vordergrund stehen sollte. 44 Das „allgemeine Ziel" der Reformen hatte Kessler bereits 1899 in seinem Essay „Kunst und Religion" in Umrissen formuliert. Vom konservativen Literaturhistoriker Hippolyte Taine beeinfußt, ging Kessler davon aus, daß die Kunst der italienischen Renaissance der „Ursprung des neuen europäischen Fühlens" sei. Kessler hielt den Kunstgenuß für eine lebenserneuernde Kraft und erhob ihn zu einem neuen Ideal: „Er verfeinert die Kunstmittel und erzieht die Seelen, an die er sich wendet, daß sie immer feinere und zahlreichere Unterschiede der Empfindungen oder auch Phantasievorstellungen mit ebenso feinen und zahlreichen und klaren Unterschieden des Fühlens beantworten." 45 Gleichzeitig folgte Kessler mit seinem „allgemeinen Ziel" in Weimar der spätbürgerlichen Kulturkritik Nietzsches, der gefordert hatte, sich mit der „Nothwahrheit" auseinanderzusetzen, „daß der Deutsche keine Cultur hat, weil er sie auf Grund seiner Erziehung gar nicht haben kann." Die „erste Generation" sollte nach dieser „Nothwahrheit" erzogen werden, um durch „sich selbst gegen sich selbst zu einer neuen Gewohnheit" zu gelangen. 46 Diese Auffassungen bildeten die Grundlage für Kesslers Weimarer Reformversuch. Seine Vorschläge zählten wegen ihrer Programmatik ebenso wie die Neuerungen des Hamburger Kunstdirektors Alfred Lichtwark zur „Kunsterziehungsbewegung". Kessler visierte von Anfang an ein auf breitere Schichten sich ausdehnendes „Kunsterziehungsprogramm" im Großherzogtum Sachsen-Weimar an. Mit der für Kessler überraschenden vorläufigen Absage des Auswärtigen Amtes vom 20. April 1902 für die Stelle eines Se-

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kretärs der deutschen Botschaft in London war endgültig der Weg für die Berufung ins Weimarer Kuratorium des Großherzoglichen Museums für Kunst und Kunstgewerbe frei geworden. Auch wenn Kessler die Verhältnisse am Hof und in der Kleinstadt mit Distanz beobachtete, entschloß er sich, an dem von ihm initiierten „neuen Weimar" direkt mitzuwirken. 47 Im Oktober 1902 schrieb er an van de Velde mit großer Zuversicht: „Ich werde nach Weimar kommen und besonders gern kommen, wenn es Kämpfe, Intrigen, Gefahren gibt, die gegen die Aufgaben gerichtet sind, die Sie verwirklichen müssen. Aber ich bin weniger pessimistisch als Sie. Was wollen wir eigentlich? Schaffen - wie könnten uns Intrigen daran hindern? Sie sind Ihr eigener Herr in Ihren Ateliers, ich in meinem Museum. Wir werden aufbauen, was uns vorschwebt: eine klare, gesunde, stärkende und produktive Lehre." 48 Zu dieser entschiedenen Position für die Moderne bekannte sich Kessler ausdrücklich in dem im November 1902 erschienenen Essay über „Klingers Beethoven", gedruckt in der Berliner Secessionsschrift „Kunst und Künstler". Der Aufsatz leitete die aufsehenerregenden kunsthistorischen und kulturpolitischen Essays ein, in denen Kessler bis 1908 offen gegen die kaiserliche Politik polemisierte 4 9 Der mit Kessler seit dem Oktober 1895 befreundete Bildhauer Max Klinger hatte die als „Gesamtkunstwerk" verstandene Beethovenplastik 1902 in Wien und Berlin ausgestellt. In dem Aufsatz verglich Kessler das bildhauerische Schaffen von Klinger mit dem Rodins und stellte es dem von monarchistischen Vertretern der „Berliner Artistenschaft" erhobenen Vorwurf des „l'art pour l'art" entgegen. Klingers Beethovenplastik legitimierte Kessler mit einem zeittypischen Pathos: dem des Aufbruchs und der Neorenaissance. Klinger sei, so Kessler, „im Beethoven ein Symbol gelungen, d. h. ein Werk, das durch die Vollendung seiner sinnlichen Wirkungen Weltanschauungs-Stimmung herruft." Er faßte zusammen: „Hier ist etwas zur Welt gekommen, das Ehrfurcht gebieten sollte. Hier ist ein Kunstwerk und eine Kunst geboren." 50 Dieser Geist der „Weltanschauungs-Stimmungen" sollte auch im „neuen Weimar" Fuß fassen. Nach Absprache mit Elisabeth Förster-Nietzsche gab Kessler am 5. April 1902 Klinger den Auftrag, eine Nietzsche-Herme, „ein großer 2,55 Meter hoher Block

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von griechischem Marmor", für das umgestaltete NietzscheArchiv anzufertigen. 51 Van de Velde wurde mit dem Umbau des Archivs beauftragt, durch den der „Neue Stil" in Weimar eingeführt wurde. Kesslers Entscheidung, die Berufung als Vorsitzender des Kuratoriums des Museums für Kunst und Kunstgewerbe anzunehmen, fiel im Oktober 1902. Van de Velde sollte daraufhin für ihn ein Haus in Weimar ausfindig machen, „in dem er die Einrichtung seiner Berliner Wohnung unterbringen konnte." 52 Direkt am Südhang des Nietzsche-Archivs fand der Architekt ein zweigeschossiges Haus mit Gartengrundstück (Cranachstraße 15).53 Kessler ließ nach van de Veldes Entwürfen umgehend die Inneneinrichtung gestalten. Die Holztreppe wurde mit einem massiven, schnörkellosen Geländer versehen und mit weißem Schleiflack gestrichen, die Räume waren schwellenlos und mit modernen Fußmatten ausgelegt. Aus Berlin brachte er neben den van de Velde-Möbeln und Tapeten seine einzigartige Sammlung von Gemälden (Denis, Cézanne, van Gogh, Neoimpressionisten) und Plastiken (Rodin, Maillol) mit nach Weimar. Im Jahr 1903 bezog Kessler das Haus in der Cranachstraße, das in den folgenden drei Jahren zusammen mit dem Nietzsche-Archiv zu einem intellektuellen Zentrum des „vornehmen Culturkreises" avancierte. Zu diesem Freundeskreis, der sich im Sinne Nietzsches als „Ordensbund höherer Menschen" verstand, gehörten u. a. Elisabeth Förster-Nietzsche, van de Velde, von Bodenhausen, Klinger, Olde und von Hofmann. Kessler hoffte mit Hilfe dieses Kreises, einen geistigen Umschwung am Weimarer Hof zu bewirken und die Reformen als ehrenamtlicher Museumsdirektor durchzusetzen. Ermutigt von der anfänglichen Sympathie des Großherzogs für die moderne Kunst, war Kessler überzeugt davon, auch eine Möglichkeit gefunden zu haben, um Kaiser Wilhelm II. zu einer liberaleren Kulturpolitik zu bewegen, obwohl sich der Monarch im Jahr 1902 beim Besuch der „Düsseldorfer Industrieausstellung" noch sehr abfällig über van de Veldes Kunst geäußert hatte: „Nein, nein, meine Herren, ich verzichte darauf, seekrank zu werden." 54 Der kunst- und literaturhistorisch hochgebildete Graf Kessler verkannte um 1902 offensichtlich die realen politischen und kulturellen Bedingungen im Großherzogtum Sachsen-Weimar. Er

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Von 1903 bis 1933 wohnte Kessler in dem Haus Cranachstraße 15, Weimar (Inneneinrichtung von Henry van de Velde)

überschätzte seinen Einfluß auf den Hof und den seiner Berliner und Weimarer Freunde aus Kunst, Politik und Wissenschaft und glaubte, mit einer gezielten Personalpolitik, die bis Anfang 1903 durchaus als erfolgversprechende Strategie angesehen werden kann, die Weimarer Reformen zu verwirklichen. Kessler geriet seit seinem öffentlichen Eintreten für die Moderne aber zwischen die Fronten: Einerseits arrangierte er sich erfolgreich mit dem Weimarer Hof, andererseits stellte er sich mit den Reformen bewußt in Opposition zur monarchischen Kulturdoktrin. Rückblickend auf den Anfang seiner Weimarer Tätigkeit, schrieb er in

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den zwanziger Jahren: „ich ergriff mit Freuden die Gelegenheit, die sich mir unverhofft im Jahre 1903 bot, in Weimar mitzuhelfen an dem Aufbau einer deutschen Kulturstätte, die im Gegensatz zu den kaiserlichen Bestrebungen, dem vielen Guten, was Deutschland in Kunst und Dichtung damals hervorbrachte, einen Mittelpunkt und eine Heimstätte bieten und von hier aus auch die Brücke schlagen sollte zu den gleichlaufenden Bewegungen in England, Amerika, Frankreich usw., um so die Isolierung, in die Deutschland durch die kaiserliche Politik hineingeraten war, zu durchbrechen und dem neuen deutschen Geiste neue Einbruchspforten in die Außenwelt zu öffnen." 55 Kesslers Reformprogramm und der Weimarer Kreis riefen die Aktivitäten der Gegenkräfte zu einem Zeitpunkt hervor, als sich 1903/1904 bereits erste Erfolge abzeichneten. Das „neue Weimar" wurde in der Auseinandersetzung zwischen der Moderne und ihren Gegnern in Deutschland nach 1900 zum Politikum, wobei der Kaiser Kesslers Reformversuche erwartungsgemäß recht abfällig beurteilte.56 Die liberal-konservativen Kreise um die Weimarer Schriftstellerin Adelheid von Schorn und Ludwig von Jordan versuchten, die kontroversen künstlerischen Positionen durch die Integration der konservativ-völkischen Kräfte um Egloffstein, Schultze-Naumburg, Lienhard und Wildenbruch und Vertreter der Moderne um Kessler und van de Velde zu überwinden, um Weimar zu einer neuen „Kunstblüte" zu verhelfen. Dieser Vermittlungsversuch endete 1904 mit der verleumderischen Pressekampagne, die von völkisch-monarchistischen Kräften gegen die Weimarer Reformer entfacht worden war. Die sich verschärfende Auseinandersetzung, die mit der Entstehung des „neuen Weimar" 1903/1904 entstand, zeigte so deutlich die geistige Polarisation und Widersprüchlichkeit zwischen der Moderne und der „Heimatkunstbewegung".

Das neue Weimar Als Kessler am 2. März 1903 die Übergabe-Verhandlungen im Museum für Kunst und Kunstgewerbe als deren ehrenamtlicher Leiter für die Dauer von drei Jahren übernahm, hatte er vom

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Großherzog „neben der finanziellen und personellen Sicherung des Unternehmens die Erlaubnis, Gegenstände aus der ehemaligen Sammlung veräußern zu dürfen, um Neuanschaffungen zu ermöglichen." 57 Zur Umwandlung der „Permanenten Ausstellung" in eine ständige Ausstellung für Kunst und Kunstgewerbe hatte Kessler den Plan, durch Ankäufe und Ausstellungen das Museum am Karlsplatz zu modernisieren.58 Das hieß - nach dem Vorbild der Berliner Nationalgalerie unter Hugo von Tschudi und Secessionsgaleristen wie Bruno Cassirer - statt, wie bisher, in überfüllten Ausstellungsräumen Gemälde, Plastiken und kunstgewerbliche Exponate nunmehr wesentlich großzügiger in der Raumaufteilung zu präsentieren. Kessler beabsichtigte, das Museum durch einen Erweiterungsbau nach Entwürfen van de Veldes mit großflächig verglasten Galerieräumen, einem Tagescafe und einem Atelierraum zu vergrößern. Mit der Eröffnung der Klinger-Ausstellung am 24. Juni 1903 begann in Anwesenheit des Hofes und hochrangiger Beamter eine für Weimar einzigartige Ausstellungsperiode unter Kesslers Leitung. Innerhalb von drei Jahren wurden in nicht weniger als 34 Ausstellungen die Werke moderner deutscher und ausländischer bildender Künstler gezeigt. 59 Mit den Ausstellungen nahm Kesslers Tätigkeit als Direktor des modernen Weimarer Museums 1903 einen erfolgreichen Anfang. Bereits im August des gleichen Jahres fand die für damalige Verhältnisse aufsehenerregende, weil mit Ölgemälden und Aquarellzeichnungen hochmoderner Künstler zusammengestellte Ausstellung „Deutsche und französische Impressionisten und Neoimpressionisten" statt. Zu sehen waren Paul Baum, Pierre Bonnard, Henri Edmond Cross, Maurice Denis, Curt Herrmann, Theo van Rysselberghe, Paul Signac und Edouard Vuillard. Kessler hatte aufgrund seiner langjährigen Verbindung zu den Pariser Kunsthändlern diese und die folgenden Impressionisten- und Neoimpressionisten-Ausstellungen organisieren können. Der Großherzog sprach ihm deshalb auch ausdrücklich seine Anerkennung aus. Ein positives Echo fanden Kesslers Ausstellungen auch im benachbarten Jena. Der im Herbst 1903 unter Vorsitz von Eduard Rosenthal gegründete „Kunstverein Jena" veranstaltete im dortigen Volkshaus seit November ebenfalls Ausstellungen von Künstlern der Moderne. 60

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Conrad Ansorge in Kesslers Salon (Cranachstraße 15)

Zu dieser Zeit gab es jedoch bereits Stimmen am Hof, die Vorbehalte gegen Kessler äußerten.61 Auch von außerhalb wurden Vorwürfe laut und Anschuldigungen gegen Kessler erhoben. Im März 1903 antwortete Kessler in einer Erwiderung auf einen Aufsatz des Sekretärs der Berliner Akademie, Wolfgang von Oettingen, „Über den Kunstweit des Neo-Impressionismus". Kessler polemisierte darin offen gegen die kaiserliche und akademische Kunstbetrachtung. Von Oettingens Vorwürfe gegen die französischen und deutschen Neoimpressionisten wies er mit den Worten von sich, daß sie „prinzipiell und überall tüpfeln" würden und die „Vernichtung jedes feineren künstlerischen Empfindens" bewirkten. 62 In einer kenntnisreichen kunsthistorischen Argumentation führte er die Haltlosigkeit der vereinfachenden und verunglimpfenden Betrachtungsweise von Oettingens vor. Seitdem sah sich Kessler Angriffen von höchster Stelle aus Berlin ausgesetzt. Ausgerechnet von Oettingen sollte indessen drei

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Jahre nach Kesslers Sturz im Jahr 1909 als neuer Direktor des Großherzoglichen Museums nach Weimar kommen. Durch Einladung an namhafte deutsche und ausländische Schriftsteller zu Vorträgen, Lesungen und Theaterinszenierungen versuchte Kessler, Weimar zu neuem literarischen Glanz zu verhelfen. Im August 1903 war der französische Dichter André Gide für einige Tage in der Cranachstraße zu Gast. Nach dem Besuch des Nietzsche-Archivs hielt er am 5. August vor der Hofgesellschaft der Erbgroßherzogin Pauline einen Vortrag zum Thema „Die Bedeutung der Öffentlichkeit" („De l'importance du public"). Kessler meinte, mit dieser literarischen Veranstaltung den Anfang gemacht zu haben, um „hier am Hofe allmählich wieder ein wirkliches Publikum erziehen zu können". 63 Das Vorbild der Fürstenerziehung vor Augen, sollten die geladenen Dichter wiederum in Weimar aufklärerische, moderne Ideen durchsetzen. Ende August besuchte Hugo von Hofmannsthal die Residenzstadt, um ebenfalls vor dieser ausgesuchten Gesellschaft durch einen Vortrag - am 26. August 1903 referierte er „Das kleine Welttheater" und las Gedichte - Kesslers „allgemeinem Ziel" zu dienen. Hofmannsthal hatte jedoch schon im Vorfeld seiner Weimarreise Bedenken angemeldet. Er schrieb damals an Kessler, „was ich wirklich fürchte: das Brave, das Gebildete, das was den Lebendigen behandelt wie einen Todten, das, was der Goethestadt würdig wäre." 64 Seine Vorbehalte gegenüber dem vorherrschenden Geist in der Kleinstadt schienen sich bei seinem Aufenthalt zu bestätigen. Kessler vermerkte dazu in seinem Tagebuch: „Hoffmannsthal erst gegen 11 aufgestanden. Er klagt über Rückenschmerzen. Er habe sich Weimar ganz anders vorgestellt. Bei Müller seien die Leute alle grotesk gewesen; wie Figuren aus einem bösen Traum." 65 Zu der von Kessler so sehr erwünschten Inszenierung des Stücks „Tod des Tizian" als „Versuch an einem Sommerabend" im Theater des Belvedere-Parks kam es leider nicht. Der Dichter versprach, der Hofgesellschaft Stücke für dieses Theater zu schreiben, doch blieb es allein bei dem Versprechen. Auch Kesslers Plan von 1903, Hofmannsthal durch die Intendanz des Weimarer Theaters an die Residenzstadt zu binden, schlug fehl. In den darauffolgenden Jahren konnte Kessler Hauptmann

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(1905), Rilke (1905) und Dehmel (1907) für literarische Vorträge in Weimar gewinnen. Die Berliner Schriftstellerin Marie von Bunsen, die Kessler seit Mitte der neunziger Jahre aus dem Salon der Cornelia Richter kannte, unterstützte ihn anfänglich in seinen Bemühungen. 66 Namhafte Schriftsteller auf Dauer institutionell an das „neue Weimar" zu binden, gelang Kessler trotz mehrmaliger Versuche aber nicht. Um die Reform des Schulunterrichts im Großherzogtum voranzubringen, vereinbarte Kessler mit dem Hamburger Kunstdirektor Lichtwark, den „2. nationalen Kunsterziehungstag" vom 9. bis 11. Oktober 1903 in Weimar stattfinden zu lassen. Von dieser Tagung versprach sich Kessler eine nachhaltige Signalwirkung und baute auf ein positives Echo bei den rund 80 erwarteten Vertretern der Kunsterziehungsbewegung Deutschlands, die Schulverwaltungen, Schulaufsichtsbehörden, Lehrervereine und Frauenorganisationen repräsentierten. Auch Lichtwark meinte zuversichtlich, die „Worte, die hier gesprochen sind, werden durch Deutschland hallen." 67 Unter Vorsitz des Reformpädagogen Georg Kerschensteiner (München) und des Staatsministers Karl Rothe sprachen die Referenten u. a. zu den Themen „Das Kind und die Muttersprache" (Wilhelm Wätzoldt, Berlin), „Lesen, Vorlesen und mündliche Wiedergabe des Kunstwerks" (Otto Ernst, Hamburg) und „Die Einheit der künstlerischen Erziehung" (Alfred Lichtwark, Hamburg). Die Wirkung der Tagung auf die Förderung der Schulreform in Weimar blieb allerdings hinter den hohen Erwartungen weit zurück. Kessler stellte seit 1904 zudem die Kunsterziehungsauffassungen Lichtwarks als „Propaganda für den Dilettantismus" in Frage. In öffentlichen Vorträgen forderte er stattdessen die Erziehung eines neuen, gebildet-kritischen Kunstpublikums. 68 Die Eröffnung des umgebauten Nietzsche-Archivs am 15. Oktober 1903 im Beisein von Staatsminister Rothe wurde für Kessler und das „neue Weimar" ein grandioser Erfolg. 6 9 Mit der modernen Ausstellungstätigkeit, den literarischen Veranstaltungen am Hofe und der zunehmenden Anerkennung der Kulturleistungen in der Öffentlichkeit schien sich die Weimarer Reformbewegung langsam durchzusetzen. Der Konflikt mit konservativen Kräften blieb auf lange Sicht aber unvermeidbar.

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Nietzsche-Archiv in Weimar (wiedereröffnet 1903)

Zu offensichtlich beanspruchte Kessler die Rolle der kulturellen „Oberleitung" im Großherzogtum, die offiziell im Zuständigkeitsbereich des Oberhofmarschalls lag. Zur ersten öffentlichen Auseinandersetzung zwischen Kessler und Vertretern der Hofgesellschaft kam es am 8. November 1903 bei der Eröffnung der

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Ausstellung von van de Veldes „Kunstgewerblichen Gegenständen und Interieur-Photographien" im Museum am Karlsplatz. Palezieux erhob gemeinsam mit der Gräfin Werthern gegen Kessler den Vorwurf, sein „Lebenswerk" (die „Permanente Ausstellung") zerstört zu haben. Kessler glaubte, indem er beiden „derb die Wahrheit" sagte - der Gräfin soll bei dieser Gelegenheit „fast ohnmächtig" geworden sein-eine entscheidende „Wirkung" erzielt zu haben. Durch dieses Gespräch wurde die Spannung mit dem Oberhofmarschall nur weiter verschärft. Palezieux setzte nun aus persönlicher Kränkung im Bund mit dem Kabinettssekretär Egloffstein und dem Theaterdirektor Vignau alles daran, Kessler aus seinem Amt zu vertreiben. Kessler, der sich der Protektion des Großherzogs sicher wähnte, hielt dagegen weiterhin unbeirrt an seinen Erneuerungsplänen fest. Angesichts der unverändert dogmatischen kaiserlichen Kulturpolitik gegenüber der Moderne waren sich seit Oktober 1903 die führenden Vertreter der „Berliner Secession", Liebermann und Leistikow, gemeinsam mit Kessler sogar darüber einig, „eine neue Künstlergenossenschaft" zu gründen. Deren Zielsetzung sollte darin bestehen, die „Befreiung vom Gewissenszwang in der Kunst, die Freiheit der Kunst, die absolute Toleranz des Staats" gegenüber den Künstlern durchzusetzen. 70 Am 15. und 16. Dezember 1903 kam es in Weimar zum denkwürdigen Zusammenschluß aller deutschen Künstlersezessionen zum „Deutschen Künstlerbund". Unter der Schirmherrschaft Großherzog Wilhelm Emsts wurde ein siebenköpfiger Vorstand gewählt. 71 Der Künstlerbund hatte seinen Sitz im Museum für Kunst und Kunstgewerbe (Weimar) und verhandelte im Auftrag der „Secessionisten" direkt mit der Reichsregierung. Dabei fiel Kessler als 1. Vizepräsident des Künstlerbundes die Verhandlungsführung zu. Während der Gründungssitzung wurde der Beschluß gefaßt, sich bei der Reichsregierung dafür einzusetzen, daß auf der Weltausstellung in St. Louis 1904 im deutschen Pavillon auch Gemälde der „Secessionisten" zu sehen sein sollten. Präsident Leopold Graf Kalckreuth und die Vorstandsmitglieder Lichtwark, Olde und Tuaillon hatten das Mandat, die Forderungen des KUnstlerbundes beim Reichskommissar Lewald in Berlin vorzutragen.

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Die Vertreter des Künstlerbundes konnten bei ihren Verhandlungen keine größeren Erfolge verbuchen. Lichtwark sah daraufhin die freie Künstlerorganisation „in eine oppositionelle Stellung gedrängt." 72 Nach den gescheiterten Verhandlungen zur Beteiligung des Künstlerbundes an der Weltausstellung in St. Louis 1904 forderte Kessler, die Kulturpolitik Kaiser Wilhelms II. öffentlich zu kritisieren. Zur Reichstagssitzung am 15. und 16. Februar 1904 wurde allen Fraktionen Kesslers Aufsatz „Der Deutsche Künstlerbund" zugestellt. Kessler hatte in seiner programmatischen Schrift die Praktiken des Vorsitzenden der Berliner Akademie, Anton von Werner, gegenüber den Sezessionisten scharf kritisiert und die Aufgaben und Ziele der neuen Künstlerorganisation dargelegt. Er plädierte für den „modernen Staat", der sich unter der Führung „eines Geschlechts neuer Kulturpolitiker" mit Kunst befassen sollte, um „die Eigenart in der Kunst zu schützen und zu fördern, und zwar mit Macht." 73 Als positiven Neuanfang in der Kulturpolitik führte Kessler das Beispiel der Förderung moderner Kunst durch den Großherzog Wilhelm Ernst in Sachsen-Weimar an. Das Bekanntwerden der Benachteiligung der Sezessionisten hatte 1904 im Reichstag die bekannte große Debatte ausgelöst, die die Polarisation von Befürwortern (national-liberale und sozialdemokratische Abgeordnete) und Gegnern (konservative Abgeordnete) der modernen Kunst deutlich machte. Die Kulturdebatten auf Reichs- und Regionalebene waren nach 1904 durch eine Vermischung von Weltoffentheit und Provinzialität und von den Gegensätzen freiheitlicher und reglementierender Kunst- und Kulturauffassung gekennnzeichnet. Währenddessen forcierte Kessler von Weimar aus seine ambitionierten Erneuerungspläne. Anfang 1904 hatte er bei einer Zusammenkunft des engeren Vorstandes des Künstlerbundes durchgesetzt, daß 1906 in Weimar die Künstlerbundausstellung im Museum für Kunst und Kunstgewerbe durchgeführt werden sollte, wenn „bis dahin passende Räume für die Ausstellung hier geschaffen werden." 74 Die Entwürfe für einen Erweiterungsbau des modernen Museums am Karlsplatz reichte Kessler im Staatsministerium ein. Die von ihm organisierten Ausstellungen in Weimar wurden einhellig von der Lokalpresse gewürdigt. Ein

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Sitzung des Vorstandes des Deutschen Künstlerbundes im Oktober 1909, vor dem Museum am Karlsplatz (Kessler sitzend in der Mitte)

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besonderer Höhepunkt wurde die Rodin-Ausstellung, die Kessler anläßlich des Geburtstages der kunstliebenden Großherzogin Caroline am 12. Juli 1904 eröffnete. Nach Auszügen aus dem Kesslerschen Ausstellungskatalog schrieb der Redakteur der „Weimarischen Zeitung", Hermann Schlag, über dieses Ereignis: „Rodin ist ein genialer Künstler und als solcher längst anerkannt. Wir haben deshalb allen Grund, der Leitung des Großherzoglichen Museums am Karlsplatz für die Veranstaltung dieser bedeutsamen und herrlichen Ausstellung aufrichtig zu danken". 75 Aufgrund der erfolgreichen Tätigkeit als Museumsdirektor beabsichtigte der Großherzog Wilhelm Emst im Oktober 1904, Kessler zum „Kommissar für die im Jahre 1906 zu veranstaltende 3. Deutsche Kunstgewerbeausstellung zu Dresden" zu bestellen. 76 Da Kessler jedoch in keinem Beamtenverhältnis zum thüringischen Großherzog stand, konnte dieser Berufungsversuch nicht realisiert werden. Je mehr Kessler mit seiner Reform im Museumswesen an Zuspruch beim Großherzog und in der Weimarer Öffentlichkeit gewann, desto massiver sahen sich die konservativ-völkischen Kräfte in ihrem Ziel, eine „geistige Hauptstadt" Weimar zu errichten, bedrängt. Offen traten diese gegen Kessler gerichteten Kräfte auf den Plan, als seit Januar 1904 über das Modell eines modernen Theaters, eines „Mustertheaters", öffentlich diskutiert wurde. Nach dem Weimarer Gastspiel der Berliner Schauspielerin Louise Dumont (Deutsches Theater) mit dem Ibsen-Ensemble im Herbst 1903 entstand die Idee, ein „Mustertheater" für moderne Stücke im Großherzogtum zu schaffen. Kessler hatte im Dezember 1903 Oberhofmarschall Palezieux von diesem Vorhaben unterrichtet. Danach sollten die besten deutschen Schauspieler in den drei Sommermonaten, finanziell unterstützt von Berliner Aktionären, klassische und moderne Stücke in Weimar aufführen. Der Spielplan dieses nationalen „Mustertheaters" sah Stücke von Aischylos, Sophokles, Shakespeare, Goethe, Kleist, Ibsen, Hauptmann und Hofmannsthal vor. Die Initiatoren hatten das Ziel, ein „Bayreuth für dramatische Literatur zu schaffen." Sie beabsichtigten, ein Publikum „aus ganz Deutschland zu diesen Vorstellungen in einer Stadt im Mittelpunkt des Reichs" zusammenzubringen.77

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Van de Velde entwickelte für eine Spielstätte einen Projektplan, der im Bereich der Belvederer Allee angesiedelt war. Für die kostenfreie Abtretung eines Grundstücks setzte sich Kessler selbst beim Staatsministerium ein. Weit über die Grenzen des Großherzogtums hinaus fand das Dumont-Theater-Projekt in „über 60 deutschen Zeitungen" starke Beachtung. 78 Der amtierende Theaterintendant von Vignau versuchte seit Anfang 1904, dieses Vorhaben gezielt zu hintertreiben, um seine eigenen Pläne für einen Theaterneubau in Weimar durchzusetzen. Die von ihm lancierten Zeitungsmeldungen brachten seit Januar 1904 persönliche Ausfälle gegen Louise Dumont, van de Velde und Kessler. Das anerkannte Ibsen-Ensemble wurde als „fragwürdiger künstlerischer Genuß", das Theaterprojekt überhaupt als „unmöglich lebensfähig" bezeichnet. „Dumont - van de Velde und Genossen" hielt man vor, ein Nationaltheater „mit Berliner (jüdischem?) Gelde" zu finanzieren.79 Adolf Bartels verstieg sich zu folgender Äußerung: „Der Ruhm der modern-europäischen .Intellektuellen' verlockt uns freilich nicht, in ihnen sehen wir nur eine wildwuchernde, aber fast wurzellose OberflächenVegetation, während wir stolze Bäume wollen, die tief im nationalen Erdreich wurzeln." 80 Den Theaterreformern wurden ihre Kontakte zu Juden, ihre teilweise ausländische Herkunft und ihre kosmopolitische Gesinnung zum Vorwurf gemacht. Durch diese nationalistisch-antisemitische Pressekampagne wurde erreicht, daß die Aufmerksamkeit der Weimarer Öffentlichkeit auf den Neubau des Hoftheaters gelenkt wurde, der von Hofintendant von Vignau Ende Januar 1904 triumphierend verkündet werden konnte. Der Großherzog stellte für das „Mustertheater" kein Grundstück zur Verfügung. Kessler verfolgte mit diesem Theaterplan auch das Ziel, den modernen englischen Regisseur und Bühnenbildner Edward Gordon Craig nach Weimar zu ziehen, der mit seinen bühnentechnischen Neuerungen u. a. Max Reinhardt stark inspirierte. Kessler veranstaltete deshalb im Mai 1905 im Museum für Kunst und Kunstgewerbe eine Ausstellung, die Craigs moderne „Entwürfe für TheaterDekorationen und Kostüme" dem Weimarer Publikum erstmalig vorstellte. Zu einer Anstellung in Weimar kam es jedoch niemals. 81

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CRAN ACHSTRASSE WE