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German Pages 230 [232] Year 2016
Grundzüge der Agrargeschichte In drei Bänden herausgegeben von Stefan Brakensiek, Rolf Kießling, Werner Troßbach und Clemens Zimmermann
Gunter Mahlerwein
GRUNDZÜGE DER GR ARGESCHICHTE A Band 3: Die Moderne (1880–2010) Herausgegeben von Clemens Zimmermann
2016 Böhlau Verlag Köln Weimar Wien
Die Grundzüge der Agrargeschichte beruhen auf einem Vorhaben des Arbeitskreises Agrargeschichte und der Gesellschaft für Agrargeschichte. Das Projekt wurde gefördert mit Mitteln der Landwirtschaftlichen Rentenbank und der Gesellschaft für Agrargeschichte e.V., Frankfurt am Main.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung : Kartoffelernte auf der Ostalb bei Neenstetten 1959 (© Landesmedienzentrum Baden-Württemberg) © 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Jörg Eipper-Kaiser, Graz Einbandgestaltung : Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Satz: Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung : Balto print, Vilnius Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22228-4
Inhalt
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Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung : Prozesse und Akteure.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3 Boden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Bodenqualitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Neulandgewinnung und Meliorationen . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Beeinträchtigungen der Bodenqualität. . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Betriebsgrößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Betriebsgrößenstruktur im späten 19. Jahrhundert.. . . . . . . . . 3.2.2 Weitere Ausdehnung der unteren Größenklassen um die Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Stabilisierung der mittleren Betriebsgrößen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Kontinuierlicher Anstieg der Betriebsgrößen nach 1950. . . . . . . 3.2.5 „Optimale“ Betriebsgrößen ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Der Zugriff auf den Boden : Formen von Besitz und Besitztransfer . 3.3.2 Bodenreform und Kollektivierung in der SBZ/DDR . . . . . . . . 3.4 Besitztransfer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Das Reichserbhofgesetz.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Höfeordnungen der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.4 Bodenmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.5 Pacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Kollektive Nutzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Diskurse über Boden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7 Bodennutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7.2 Acker-Grünland-Verhältnis.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7.3 Verschiebungen im Pflanzenbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4 Kapital . . . . . . . . . . 4.1 Gebäude . . . . . . . . . 4.2 Geräte und Maschinen. . 4.3 Viehbestand . . . . . . . 4.4 Saatgut . . . . . . . . . . 4.5 Düngemittel . . . . . . . 4.6 Energie . . . . . . . . . .
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. 62 . 62 . 70 . 84 . 101 . 104 . 108
6
Inhalt
4.7 Pflanzenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8 Finanzielle Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.2 Zwischen Schwarzmarkt, Inflation und Agrarkrise – Einkommen in der Weimarer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.3 Festpreispolitik und Umschuldung in der NS-Zeit.. . . . . . . . . . 4.8.4 Einkommenssteigerungen dank staatlicher Förderung – die Entwicklung nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 109 . 113
5 Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Arbeitskräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Abwanderung der familienfremden Arbeitskräfte . . . . . . . . . . . 5.1.3 Die Familialisierung der landwirtschaftlichen Arbeit nach 1945. . . . 5.1.4 Landwirtschaftliche Arbeitskräfte in der DDR. . . . . . . . . . . . . 5.1.5 Beschleunigter Strukturwandel nach der Wiedervereinigung . . . . . 5.2 Arbeitsbeziehungen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Die Regelung der Arbeitsbeziehungen in der Weimarer Zeit.. . . . . 5.2.3 Unterschiedliche Interessen in der NS-Zeit . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Arbeitsbeziehungen in der SBZ/DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.5 Bäuerliche Familienbetriebe als agrarpolitisches Leitbild im Westen. . 5.2.6 LPG-Nachfolgebetriebe nach 1990.. . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4 6.2 6.2.2
Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissensproduktion und Wissenstransfer. . . . . . . . . . . Praktiker und Experten.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Institutionalisierung von Agrarforschung und -lehre. . . . . Landwirtschaftliches Schulwesen. . . . . . . . . . . . . . . Die These von der „Wissenserosion“ . . . . . . . . . . . . . Ökologische Landwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . Ökologischer Landbau seit der Mitte des 20. Jahrhunderts .
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Ertragssteigerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
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8 Agrarmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Konsumverhalten.. . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Vermarktung der Agrarprodukte . . . . . . . . 8.2.2 Der Erste Weltkrieg als Zäsur . . . . . . . . . 8.2.3 Gesteuerter Agrarmarkt in der NS-Zeit . . . . 8.2.4 Landhandel und Genossenschaften nach 1945 8.2.5 Vermarktung in der SBZ/DDR . . . . . . . . 8.2.6 Importe und Exporte. . . . . . . . . . . . . . 8.3 Verarbeitendes Gewerbe und Einzelhandel. . .
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. 115 . 117 . 119
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153 153 157 160 161 164 166 167 167
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Inhalt
Agrarpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Agrarpolitische Maßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einfluss der landwirtschaftlichen Verbände auf die Agrarpolitik. . Agrarische Verbände in der Weimarer Zeit und im Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.3 Die Stellung des Deutschen Bauernverbandes im agrarpolitischen Diskurs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
9.1 9.2 9.2.2
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. . . 171 . . . 171 . . . 174 . . . 175 . . . 176
Globale Verflechtungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
11 Demografie der ländlichen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . 11.1 Begriffsbestimmung ländlicher Raum – ländliche Gesellschaft.. 11.2 Demografische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.2 Wanderungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Register. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
1 Vorwort
Clemens Zimmermann Im dritten Teil der „Grundzüge der Agrargeschichte“ geht es um die „Moderne“, ein Epochenbegriff, der bislang in den Geschichtswissenschaften eher in den Bereichen von Kunst, Kulturdiskursen und Urbanitätskonzepten auftauchte, hier aber auf Agrargesellschaft und Landwirtschaft übertragen wird. Damit wird zum Ersten verdeutlicht, dass das Agrarische integrierter Bestandteil umfassenden wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wandels ist. Zum Zweiten handelt es sich nicht allein, wie bislang üblich, um eine Geschichte erfolgreicher technischer Modernisierungsprozesse. Vielmehr wird der Modernisierung von Produktionsweisen, Agrarstrukturen, betrieblichen Verhältnissen und ländlichen Lebensformen in ihren komplexen Wechselbezügen, vor allem mit der Urbanisierung und der Entwicklung von Mobilität nachgegangen. Lokal wirksame Traditionen werden als Ressourcen begriffen, nicht einfach als Hindernisse. Das heißt zugleich : Brüche und unerwünschte Folgen von intendierten Modernisierungsansätzen werden sehr deutlich markiert. Zum Dritten wird die Darstellung bis in die Gegenwart hinein geführt. „Moderne“ hat hier also keinerlei normative Bedeutung, sondern bezeichnet eine temporale Ordnung und die Richtung des Wandels. Sowohl die positiven Seiten dieser Moderne werden verdeutlicht (Befreiung aus Armut, steigende Chancen für Individualisierung und Selbstbestimmung auf dem Land, Zuwächse an Bildung und Mobilität, Integration in die Sozialversicherung) wie die Schattenseiten (Selbstenteignung und Verschwinden der kleinen Produzenten, ökologische Probleme intensiver Landbewirtschaftung, Zunahme an potenziell risikovollen wirtschaftlichen und technischen Vernetzungen). Dabei zeigt sich die besondere Handschrift des Autors. Gunter Mahlerwein unterstreicht, wie trotz aller wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zwänge die ländlichen Bevölkerungen immer auch Akteure sind, Entscheidungen treffen, sich aktiv verhalten und nicht bloß passiv die vorgedachten Entwicklungspfade nachvollziehen. Hierbei spielten der Wechsel der Generationen und sehr unterschiedliche individuelle Lebensentwürfe eine Rolle. Auch der Abzug aus dem elterlichen Betrieb konnte auf einen solchen Lebensentwurf zurückgehen. Besonders werden regionale Strukturen und Differenzierungen herausgearbeitet und damit wird endgültig die frühere Fixierung der Agrargeschichte auf ostelbische und großbäuerliche Verhältnisse korrigiert. Zugleich wird das bedeutsame Thema der Agrarpolitik der DDR eingeführt. Weitere Akzente, die der Verfasser setzt, sind die Betrachtung der für die Moderne kennzeichnenden Diskurse, die Bedeutung von agrarischem Wissen bei der Modernisierungsgeschichte, der tatsächliche Verlauf des historisch relativ spät massierten Technologieeinsatzes. Damit zeichnet der Autor ein Bild der agrarischen Moderne, das im Wechselbezug von aufgezwungenen Anpassungsleistungen und Selbstdynamisierungen besteht.
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Vorwort
Zweifelsohne hat das Agrarische in unserer Gesellschaft und Kultur gegenüber dem späten 19. Jahrhundert mit seinen Debatten über Schutzzölle und Konservierung eines „Agrarstaates“ seinen hohen Stellenwert verloren. Es sind jedoch, wie der Verfasser verdeutlicht, Landwirtschaft und ländliche Lebensverhältnisse weiterhin hoch relevant, über quantifizierbare ökonomische Wertschöpfung und demographische Aspekte hinaus. Ein Leben in ländlich geprägten Siedlungen stellt für viele Menschen eine klare Option dar, auch wenn es einen hohen Aufwand für Mobilität bedeutet und manchmal zu neuen Ambivalenzen führt. „Landschaft“ erweist sich als Erholungsraum, dessen reale und symbolische Potenziale derzeit stärker erkannt werden. Die Landwirtschaft übernimmt weiterhin trotz ihrer Verflochtenheit mit dem Weltmarkt und der Industrie die elementare Funktion der Sicherung ausreichender, relativ krisenfester und, mit wachsender Priorität, gesunder Ernährung.
2 Einleitung : Prozesse und Akteure
Zwischen 1880 und 2010 sank der Anteil der Landwirtschaft an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung in Deutschland von 36% auf unter ein Prozent, der Anteil der in der Landwirtschaft Erwerbstätigen von 47% auf zwei Prozent.1 Die an diesen wenigen Zahlen erkennbare grundlegende Transformation der deutschen Landwirtschaft vom späten 19. Jahrhundert bis heute wird in der agrarhistorischen und wirtschaftswissenschaftlichen Literatur mit Prozessbegriffen beschrieben, die bei aller räumlichen und zeitlichen Differenzierung Gültigkeit für den gesamten Beobachtungszeitraum beanspruchen und somit die Zusammenschau über 130 Jahre Agrargeschichte rechtfertigen. Der Begriff des Strukturwandels fand in der politischen, öffentlichen und fachinternen Diskussion die weiteste Verbreitung.2 Aus historischer Sicht ist damit der sektorale Strukturwandel gemeint, die Verschiebungen der relativen Bedeutung zwischen primärem, sekundärem und tertiärem Sektor, die an den Anteilen der Wirtschaftssektoren am Sozialprodukt, der Verteilung der Erwerbstätigen oder der Aufteilung der Investitionen auf die verschiedenen Sektoren abgelesen werden können.3 Der Bedeutungsverlust des agrarischen, primären Sektors lässt sich durch die Theorie der Drei-Sektoren-Entwicklung darstellen, nach der ein langfristiger Produktivitätsanstieg und damit verbundene geringere Herstellungskosten zwar zunächst zu einem steigenden, aber nicht unbegrenzten Verbrauch führen und als Folge einer letztlich stagnierenden Produktionsmenge Produktionskapazitäten und Arbeitskräfte reduziert werden. Dieser Effekt setzt zuerst im primären Sektor ein.4 Ging der prozentuale Anteil der Beschäftigten in der Landwirtschaft bereits spätestens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zurück (bei zu gleicher Zeit einsetzender Produktivitätssteigerung), so setzte mit der Industrialisierung ein deutliches Wachstum von Produktion und Beschäftigung im sekundären und in der Folge ein Schrumpfungsprozess im primären Sektor ein. Die Veränderung der Beschäftigtenquote im Agrarsektor kann als Maßindex für den Stand der Industrialisierung in einem Land gelten.5 Die relative Verteuerung des Faktors Arbeit, die zum produktivitätssteigernden Mehreinsatz von Kapital zur Einsparung von Arbeitskräften führte, wird als eine der wesentlichen Ursachen für strukturellen Wandel 1 Hahn 2005, S. 45 ; Angaben des Statistischen Bundesamtes : http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/ Sites/destatis/Internet/DE/Content/Statistiken/Zeitreihen/WirtschaftAktuell/Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen/Content100/vgr010a,templateId=renderPrint.psml (Zugriff : 16.4.2010) (Zahlen beziehen sich auf Land-/Forstwirtschaft und Fischerei) 2 Mahlerwein 2010, S. 43–55. 3 Meißner/Fassing 1989, S. 14. 4 Ambrosius 22006, S. 213–234. 5 Hesse 1989, S. 139–171, S. 139.
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Einleitung : Prozesse und Akteure
benannt. Ermöglicht wird die Steigerung der Arbeitsproduktivität durch die Durchsetzung technischer Innovationen.6 Der neuerdings in die Diskussion eingeführte Begriff der agrarischen Transition als einer Übergangsphase von einer agrarischen zu einer von einer technisch-wissenschaftlichen Revolution geprägten Gesellschaft, die alle europäischen und außereuropäischen Gesellschaften erlebten oder noch erleben werden7, konkretisiert die Folgen des Strukturwandels für den Agrarsektor. Als Teilprozesse der agrarischen Transition werden hier die Deagrarisierung als wirtschaftlicher, aber auch gesellschaftlicher, kultureller und politischer Bedeutungsverlust von Landwirtschaft und ländlichem Raum und die Entbäuerlichung des ländlichen Raums als zunächst quantitative Marginalisierung der in der Landwirtschaft Erwerbstätigen innerhalb der ländlichen Gesellschaft verstanden.8 Stärker auf die Agrarproduktion bezogen wird der Begriff der Industrialisierung der Landwirtschaft, der den Übergang zu einer sektoral wie regional konzentrierten und spezialisierten Produktionsweise kennzeichnet, in der die Bedeutung des Faktors Arbeit durch kapitalintensive Mechanisierung, Technisierung und Chemisierung zurückgedrängt wird.9 Dieser Einsatz exogener Inputs (Saatgut, Chemikalien, fossile Energieträger als Grundlage der Mechanisierung), der nicht zuletzt auch als Folge der Arbeitskräfteabwanderung in die Industrie anzusehen ist, kennzeichnet den Übergang von einer – energetisch betrachtet – solaren, weil auf biotische Energieträger zurückgreifend, zu einer auf fossile und mineralische Ressourcen gestützten Landwirtschaft mit grundlegend veränderten ökologischen Folgen.10 Mit der Verminderung der Transportkosten vor dem Hintergrund der Verkehrsrevolution beschleunigte sich seit dem späten 19. Jahrhundert die Einbindung der agrarischen Produktion in den umfassenden Globalisierungsprozess. Damit ist nicht nur der weltweite Austausch landwirtschaftlicher Erzeugnisse gemeint, sondern vor allem auch die globale Verflechtung agrarwirtschaftlicher Produktionsketten durch die räumliche Ausweitung aller der Produktion im Agrarbetrieb vor- und nachgelagerten Stufen : Betriebsmittel, aber auch Arbeitskräfte und Wissensbestände werden in der modernen Landwirtschaft ebenso aus einem zunehmend globalen Zusammenhang bereitgestellt wie auch Verarbeitungsund Distributionsfunktionen fortschreitend von global agierenden Akteuren übernommen werden.11 Die neuere Agrargeschichte fragt nach den Akteuren (Menschen, Personengruppen, Institutionen), die sich hinter diesen abstrakten Prozessbegriffen verbergen, und nach regionalen und lokalen Differenzierungen. Welche Handlungen und welches Verhalten lösten die Entwicklungen aus, beschleunigten oder bremsten sie ? Aufgrund welcher Be 6 Ambrosius 22006, S. 222. 7 Mai 2007, S. 471–514. 8 Ebenda, S. 473, 512 ; Troßbach/Zimmermann 2006, S. 256–258 ; Mooser 2000, S. 23–35. 9 Windhorst 1990, S. 436–463. 10 Sieferle u.a. 2006, S. 276 f. 11 Klohn/Voth 2010, S. 38–43.
Einleitung : Prozesse und Akteure
dingungen konnten sich durch die Bündelung ähnlichen Agierens regionale Tendenzen ausbilden ? Wie wurden die Veränderungen wahrgenommen, wie wurde darauf reagiert ? Welche äußeren Faktoren wirkten auf die Entscheidungen der Akteure ein ? Stellt man den landwirtschaftlichen Akteur in den Mittelpunkt der Betrachtung, dessen Handeln von Strukturen abhängig ist, aber auch Strukturen verändert, dann richtet sich der Blick auf die „Ressourcen“, über die er verfügt, die „Relationen“, in die er eingebettet ist, und die „Regeln“, nach denen er agiert.12 Die aktuelle Forschungslage erlaubt nur vereinzelt Antworten auf diese Fragen, vielfach werden die Prozesse doch nur auf der Grundlage quantitativen Materials geschildert. Trotzdem soll die folgende Darstellung – wo immer möglich – von der Perspektive der Menschen in der Landwirtschaft ausgehen, nach den Akteuren hinter den Zahlen fragen, nach ihren Ressourcen an Land, Ausstattung und Betriebsmitteln, nach den Arbeitsabläufen, ihren Wissensbeständen, ihren Orientierungen, ihren sozialen Einbindungen und Beziehungen. Die Regeln und Mechanismen, nach denen diese Ressourcen verteilt und genutzt werden, werden hier ebenso aufgegriffen wie die Kräfte, die „von außen“ auf deren Nutzung einwirken. Die anhaltenden Produktivitätssteigerungen können als Resultat des Umgangs mit Ressourcen nach veränderten Regeln verstanden werden. Dabei sollten die Vielschichtigkeit, die Widersprüche, die Ungleichzeitigkeiten dieses grundlegenden Transformationsprozesses deutlich werden, den auf einen Nenner zu bringen nicht möglich schien und auch nicht intendiert war. Gegliedert ist die folgende Darstellung nach den klassischen Produktionsfaktoren Boden, Kapital, Arbeit und Wissen. Aus deren Zusammenspiel ergeben sich die in Kapitel 5 dargestellten Ertragssteigerungen. Die Bedeutung des Marktes für die Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktion wird im Kapitel 6 erläutert, Kapitel 7 zur Agrarpolitik bezieht sich vor allem auf die Regulierung des Marktes. Der Einfluss der Politik auf die agrarische Praxis insgesamt wird in den verschiedenen Kapiteln immer wieder benannt. Zum Schluss werden die globalen Verflechtungen der landwirtschaftlichen Akteure angesprochen. Um die Kontinuitätslinien vieler Entwicklungen zu betonen, wurde für die einzelnen Kapitelabschnitte eine durchgehend diachrone Darstellungsweise gewählt, mit dem Nachteil, dadurch synchrone Bezüge zu vernachlässigen. Die Herstellung vieler Querverbindungen soll diesen Nachteil ausgleichen.
12 Langthaler 2006, S. 216–238, S. 234 f.; Mahlerwein 2010, S. 48–50.
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3 Boden
Grundlage agrarischen Wirtschaftens ist der Boden. Seine Verfügbarkeit, seine Qualität und Nutzungsmöglichkeiten – und zwar im bodenkundlichen Sinn wie im Verständnis als Betriebsfläche, als „Land“1 – bestimmen die ökonomischen Spielräume seiner Besitzer und ihren sozialen Status innerhalb der ländlichen Gesellschaft. Bereits im späten 19. Jahrhundert sind Trends zu erkennen, die im Lauf des 20. Jahrhunderts zu einem gewissen Bedeutungsverlust dieses Faktors führten : die schwindende Abhängigkeit der agrarischen Produktivität vom Boden (und von klimatischen Bedingungen), in der Massentierhaltung teilweise sogar die betriebliche Emanzipation von der Ressource Boden, die Auflösung von über den Landbesitz definierten sozialen und kulturellen Statuszuschreibungen. Diese Bedeutungsverschiebungen spiegeln sich auch in politischen und wissenschaftlichen Diskursen.
3.1 Bodenqualitäten 3.1.1 Gute und schlechte Böden
Die Zusammensetzung des Bodens, seine Durchlüftung, Bearbeitbarkeit, Speicherfähig keit von Wasser und Nährstoffen, und die klimatische Lage der Agrarflächen sind entscheidend für die Ertragschancen landwirtschaftlicher Arbeit. Angesichts der hohen physiogeographischen Heterogenität Deutschlands sind die Voraussetzungen der Agrarproduktion entsprechend unterschiedlich. So lassen sich die Böden von Nord nach Süd gliedern in sehr fruchtbare küstennahe Marschböden, dahinter liegende karge Geestböden, weit reichende Sandgebiete vor allem im Nordosten, äußerst produktive Löss- und Schwarzerdeböden in den norddeutschen Bördegebieten, karge Mittelgebirgsböden und teilweise sehr fruchtbare Flussniederungen in Süddeutschland.2 Diesen groben landschaft lichen Gliederungen werden hier in historischer Perspektive erhebliche regionale, lokale und selbst innerbetriebliche Differenzierungen hinzugefügt. Diese Differenzierungen lassen sich an einer ab 1925 in Angriff genommenen, zwischen 1934 und 1954 – mit kriegsbedingten Unterbrechungen – als „Reichsbodenschätzung“ neu ausgerichteten Einschätzung aller landwirtschaftlich genutzten Grundstücke ablesen, in deren Rahmen die auf den topografischen und klimatischen Bedingungen basierenden Ertragswerte parzellenweise festgelegt wurden. Als bester Boden wurde der Lössboden der Magdeburger Börde ermittelt. Von Bodenkundlern wurde diese Schätzung wegen des Vorrangs des taxonomischen Wertes vor wissenschaftlicher Differenzierung schon früh 1 Arnold 1997, S. 39. 2 Eckart 1998, S. 34–36.
Bodenqualitäten
Abb. 1 : Kleinmaßstäbige Bodengütekarte der Bundesrepublik Deutschland. Die auf der Grundlage von Bodenzahl und den Faktoren Relief, Klima und Wasserverhältnisse angefertigte Karte zeigt die regionale Differenzierung der durchschnittlichen Bodenfruchtbarkeit.
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Boden
kritisiert. Die Einrechnung heute nicht mehr gültiger betriebswirtschaftlicher Aspekte lässt die Bestimmung des Ertragspotenzials nicht mehr als zeitgemäß gelten. So werden neue multifaktorielle Bewertungsansätze eingeführt, die mit Parametern wie „Bodenart, Zustandsstufe, Entstehungsart, Wasserverhältnisse, Klimastufe“, vor allem aber mit der für die Frage der Bodenbearbeitung wichtigen Oberflächengestaltung des Geländes, der „Reliefverhältnisse“, operieren.3 3.1.2 Neulandgewinnung und Meliorationen
Trockenlegungen in Nordwestdeutschland Die Erschließung zusätzlicher Agrarflächen durch die Kultivierung von Moor- und so genanntem Ödland, die vor allem durch die Regulierung des Grundwassers vorgenommen wurde, verlangsamte sich am Ende des 19. Jahrhunderts. Zwischen 1883 und 1913 veränderte sich der Anteil des Moores an der Gesamtfläche des Deutschen Reiches von einem Prozent und der des Ödlandes von drei Prozent kaum, da es reichsweit nur noch wenige Reserven an ungenutztem Boden gab.4 In einzelnen Regionen sind dennoch erhebliche Kultivierungsanstrengungen zu beobachten. So konnte im Herzogtum Oldenburg der Anteil an Moor- und Ödlandflächen zwischen 1878 und 1913 von 40,4% auf 24,3% reduziert werden.5 Bis um die Jahrhundertwende entstanden dort trotz einer verstärkten staatlichen Förderung der Kolonisation, also der Ansiedlung von Bauernstellen auf – in diesem Fall – bislang agrarisch nicht oder kaum genutzten Flächen, nur wenig neue Stellen. Erst nach 1900 nahm die Entwicklung an Fahrt auf.6 Angeregt durch das Vorbild der durch einen neuen „Moorkultivierungsinspektor“ forcierten staatlichen Urbarmachung erschlossen insbesondere Kleinbauern Moore und Heideland, um ihre landwirtschaftliche Existenz zu stabilisieren. Der Umfang der privaten Kultivierungsmaßnahmen übertraf den der staatlichen bei weitem. Ermöglicht wurden diese Maßnahmen durch den verstärkten Einsatz von Kunstdünger und Maschinen.7 Auch im Emsland, wo anders als im restlichen Nordwestdeutschland die Gemeinheitsteilungen erst im späten 19. Jahrhundert vorgenommen wurden und der Anteil des agrarisch kaum genutzten Landes um die Jahrhundertmitte noch fast 70% betrug, wurde die Ödlandkultivierung ab den 1860er Jahren vorwiegend „vom Hofe aus“ und deutlich weniger durch „Bodenverbesserungsgenossenschaften“ oder staatliche Stellen vorangetrieben.8
3 Kluge 2005, S. 20 ; Böckmann 2000, S. 13–32 ; Bastian 1996, S. 9–17, S. 12 f.; Uekötter 2010, S. 229 f.; Henkel 42004, S. 104–109. 4 Ditt 2001, S. 85–125, S. 95–97. 5 Brockstedt 1989, S. 55–132, S. 80. 6 Ebenda, S. 90–92. 7 Mütter/Meyer 1995, S. 109–112. 8 Oltmer 1995, S. 64–68.
Bodenqualitäten
Landgewinnung als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme Im 20. Jahrhundert war es nicht mehr möglich, die Verluste der agrarischen Nutzfläche durch Siedlung, Verkehr und Industrialisierung durch die Rodung von Ödland auszugleichen, da der größte Teil des nicht genutzten Landes bereits umgewandelt worden war. Dennoch wurden zwischen 1919 und 1933 immerhin fast 750.000 Hektar Agrarland erschlossen. So wurden in Westfalen zwischen 1913 und 1935 ein Fünftel der noch bestehenden Moorflächen und über ein Drittel des Ödlandes umgebrochen und entwässert. Im Rahmen der nationalsozialistischen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wurde die Neuschaffung von Flächen nach 1933 um fast 30% jährlich vor allem durch den Einsatz des Reichsarbeitsdienstes gesteigert. Der propagierte „Kampf mit dem Moor“, ab 1936 vor dem Hintergrund der „Erzeugungsschlacht“ zur Vorbereitung des Zweiten Weltkrieges intensiviert, blieb aber weit hinter den Erwartungen zurück. Nur ein Viertel der geplanten Umwandlung von zwei Millionen Hektar „Brachland“ wurde bis 1940 realisiert. Mit Kriegsbeginn wurde auf die arbeitsintensive Landerschließung fast ganz verzichtet.9 In den Nachkriegsjahrzehnten nahm man die Neulandgewinnung wieder auf. Wenn auch in der Bundesrepublik ungenutztes Moor- und Ödland in den sechziger Jahren gerade noch vier Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche ausmachte, wurden doch weiterhin Anstrengungen unternommen, Teile davon der landwirtschaftlichen Nutzung zuzuführen. So wurden etwa zwischen 1950 und der Mitte der 1960er Jahre 70.000 ha Ödland im Kreis Emsland umgebrochen.10 Flächenstilllegungen Vor dem Hintergrund der Produktionsüberschüsse und der höheren Aufmerksamkeit für Naturschutzbelange stellt die Neugewinnung von Agrarland seit den siebziger Jahren keine Perspektive für die landwirtschaftlichen Akteure mehr dar, im Gegenteil kam es mit Unterschutzstellungen und Flächenstilllegungen zu dauerhaften oder temporären Umwidmungen der Landnutzung. Bereits seit den sechziger Jahren war die Tendenz zu beobachten, dass Parzellen- und Kleinbetriebe die Nutzung nicht rentabler Flächen, der so genannten Grenzertragsböden, aufgaben. In den davon besonders betroffenen südwestdeutschen Regionen konnte das Ausmaß der als „Sozialbrache“ diskutierten Erscheinung in der Mitte der sechziger Jahre bis zu zehn Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche annehmen.11 Zudem wurden infolge der Maschinisierung Flächen, die sich für eine mechanisierte Bearbeitung nicht eigneten, extensiviert oder ganz aus der landwirtschaftlichen Produktion genommen.12 9 Ditt 2001, S. 96 f.; Theine 1991, S. 236 f.; Lekan 2003, S. 161 f.; Patel 2003, S. 351. 10 Abel 31967, S. 275. 11 Eckart 1998, S. 211 f. 12 Niggemann 1990, S. 489.
17
18
Boden
Flächenerweiterungen in der DDR Angesichts der Vorgaben zur Produktionssteigerung blieb die Schaffung von Agrarland in der DDR noch in den sechziger Jahren eine wichtige Option. Seit der Übergang zur industriegemäßen Produktion in der Landwirtschaft in den sechziger Jahren beschlossen worden war, arbeiteten Meliorationsbetriebe und Meliorationsgenossenschaften vornehmlich an der Entwässerung bisher nicht oder schlecht genutzter Flächen. Vor allem im Norden der DDR boten die noch zahlreich vorhandenen Moorflächen Möglichkeiten, zwar technisch aufwändige und ökonomisch fragwürdige, aber propagandistisch verwertbare Landgewinnungen vorzunehmen. So wurde zwischen 1958 und 1962 das über 12.000 Hektar große Kalkflachmoor „Friedländer Große Wiese“ im Bezirk Neubrandenburg trockengelegt und in nutzbares Land umgewandelt. Bis in die siebziger Jahre wurden jährlich steigende Flächen entwässert. Der bis 1980 zu verzeichnende Rückgang an Entwässerungsprojekten war weniger auf ökonomische oder ökologische Faktoren als auf fehlende Investitionsmittel zurückzuführen.13 Verbesserung der Bodenqualität Von der Kultivierung bislang kaum genutzter Flächen zu unterscheiden ist die Steigerung der Bodenqualitäten von bereits agrarisch bearbeitetem Land. In der Verbesserung der leichten Sandböden insbesondere in den ostelbischen Regionen sahen schon zeitgenössische Autoren den Hauptgrund für die insgesamt deutlichen Ertragssteigerungen der Landwirtschaft in der Zeit des Deutschen Kaiserreichs.14 Insbesondere die Möglichkeit, die Erträge über verbesserte Düngung zu steigern, machte die Landwirte unabhängiger von den natürlichen Bedingungen ihres Wirtschaftens.15 Beregnungsanlagen steigerten die Erntechancen auf sandigen Böden in trockenen Regionen. In der DDR-Landwirtschaft, die auf etwa 70% ihrer Flächen mit Trockenheit zu kämpfen hatte, wurde die künstliche Bewässerung exorbitant eingesetzt. Etwa ein Fünftel der landwirtschaftlichen Nutzfläche wurde in den späten achtziger Jahren beregnet. In der Bundesrepublik, die allerdings auch klimatisch bedingt einen geringeren Bedarf hatte, waren in der Mitte der sechziger Jahre erst 1,4% der Nutzfläche mit Beregnungsanlagen ausgestattet. Um die Jahrtausendwende betrug dann der künstlich bewässerte Anteil der Nutzflächen deutschlandweit drei Prozent.16 Durch den Eintrag kapitalintensiver Inputs wie Dünger oder Beregnung konnte also die Bodenfruchtbarkeit der unterschiedlichen Bodenqualitäten weitgehend nivelliert werden. 13 Behrens 2003, S. 213–271, S. 245 f. 14 Grant 2005, S. 244 ; Schiller 2003, S. 123–125. 15 Grant 2005, S. 245 ; Windhorst 1990, S. 436–463, S. 440. 16 Technik und Landwirtschaft 18/19 (1966), S. 208 ; Fiedler 2001, S. 449 ; Heinz 2011, S. 287 f.
Betriebsgrößen
3.1.3 Beeinträchtigungen der Bodenqualität
Mit dem Durchbruch der modernisierten Landwirtschaft sind Gefährdungen der Bodenqualität verbunden, die nachhaltige Ertragsminderungen zur Folge haben können. Bodenerosion wird durch die Entfernung von Hecken zur maschinengerechten Bewirtschaftung großer zusammenhängender Flächen ebenso gefördert wie durch den in den letzten Jahrzehnten intensivierten Maisanbau, bei dem die im Vergleich mit anderen Getreidekulturen länger offen liegenden Bodenoberflächen angreifbarer für Wasser und Wind sind. Insbesondere in Regionen mit Viehhaltung wird der Boden durch die Ausbringung von Gülle überdüngt, in Ackerbauregionen durch den seit den 1950er Jahren verstärkten Einsatz von Kunstdünger und Pflanzenschutzmitteln belastet. Immissionen durch Industrie und Verkehr führen ebenso wie die Klärschlammdüngung, die allerdings bis in die achtziger Jahre nur auf einem sehr geringen Teil der Ackerflächen praktiziert wurde, zum Eintrag von Schwermetallen. Die Verwendung schwerer landwirtschaftlicher Maschinen kann den Boden verdichten. Bereits die tiefgründige Lockerung der Erde durch Dampfpflüge und die anschließende Belastung des Bodens durch Fahrzeuge ließ die Bodenstruktur verpressen, was Staunässe, vermindertes Wurzelwachstum und schlechtere Düngeraufnahme zur Folge hatte. In der DDR war das Problem der Bodenverdichtung aufgrund des starken Einsatzes großer Maschinen und des Mangels an leichteren Geräten oder Alternativen wie Doppelbereifung besonders folgenreich : Auf 67% in Neubrandenburg und 50–60% im Bezirk Rostock wird der Anteil des durch Verdichtung geschädigten Bodens im Jahr 1980 geschätzt.17
3.2 Betriebsgrößen Den Betriebsgrößen, also dem Umfang der den Agrarproduzenten zur Verfügung stehenden Flächen, kommt für den ökonomischen Erfolg nur bedingte Aussagekraft zu, da die Bodenqualität, die klimatischen Bedingungen, der Zuschnitt der Flächen, die Nutzungsform, die Marktanbindung, Besitz- und Erbrecht, nicht zuletzt auch die individuellen Potenziale der Landwirte und ihre Kapitalausstattung die Rentabilität eines Betriebes in hohem Maße mitbestimmen.18 Dennoch werden in der Agrarstatistik seit 1882 Größenzuschreibungen an exakten Hektarzahlen festgemacht. Demnach werden Betriebe mit Flächen unter zwei Hektar als Kleinst- oder Parzellenbetriebe bezeichnet, zwei-bis-fünfHektar-Betriebe als kleinbäuerliche Betriebe, Betriebe zwischen fünf und 20 Hektar als mittelbäuerliche, zwischen 20 und 100 Hektar als großbäuerliche Betriebe und solche mit mehr als 100 Hektar als Großbetriebe. Bei allen Einschränkungen liegt der Vorteil dieser konstanten statistischen Zuschreibung in der interregionalen Vergleichbarkeit der Daten 17 Ditt 2001, S. 107–109 ; Küster 2001, S. 486 ; Heinz 2009, S. 69–94, S. 90–92. 18 Konersmann 2003, S. 125–143, S. 126.
19
20
Boden
über lange Zeiträume, die auch räumlich und zeitlich differenzierte Bedeutungsverschiebungen des Faktors Boden sichtbar werden lassen. 3.2.1 Betriebsgrößenstruktur im späten 19. Jahrhundert
Statistisch erfasst werden die Zahl der Betriebe der einzelnen Größenklassen und ihr Anteil an der gesamten agrarischen Nutzfläche. An der Betriebsgrößenstatistik des Jahres 1882 ist leicht zu erkennen, dass weit mehr als die Hälfte der landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland mit Flächen unter zwei Hektar auskommen musste. Weniger als sechs Prozent der Betriebe, aber 55,5% der landwirtschaftlichen Nutzflächen wurden von Großbauern und Großbetriebsinhabern bewirtschaftet. Drei Viertel aller Betriebe waren Kleinst- und Kleinwirtschaften, verfügten aber über weniger als ein Sechstel der Flächen. Tabelle 1 : Betriebsgrößenstruktur im Deutschen Reich 1882 Anteil an Gesamtzahl der Betriebe in Prozent (n= 5276344)
Anteil an landwirtschaftlicher Nutzfläche in Prozent
< 2 ha
58,0
5,7
Betriebsgrößen
2 – 5 ha
18,6
10,0
5 – 20 ha
17,6
28,8
20 – 100 ha
5,3
31,1
> 100 ha
0,5
24,4
(Quelle : Henning 21988, S. 149 f.)
Regionale Differenzierungen Die regionale Differenzierung der Betriebsgrößenstrukturen lässt eine grobe Einteilung der deutschen Agrarlandschaften in drei – genauer vier – Regionen zu, die vorrangig durch verschiedene Formen der Besitzweitergabe erklärt wird : die südwestdeutsche Region mit vorherrschender Realerbteilung, die durch ein Übergewicht von Kleinst- und Kleinbetrieben bestimmt ist, der nordwestdeutsche Raum mit Anerbenrecht und demzufolge mittel- und großbäuerlicher Prägung und der aufgrund seiner gutsherrschaftlichen Vergangenheit von Großgrundbesitz dominierte nordostdeutsche Raum. In Mitteldeutschland, dem Rheinland und Bayern hingegen war keine Betriebsgröße dominant.19 Außer den Erbsitten dürften auch andere Faktoren diese Strukturunterschiede mitgeprägt haben. Zweifellos wurden Erbgewohnheiten vor dem Hintergrund klimatischer und naturräumlicher Bedingungen ausgebildet und wirkten sie ihrerseits auf die Ausprägung 19 Born 1985, S. 24 f.
Betriebsgrößen
außerlandwirtschaftlicher Erwerbsalternativen zurück. Aber auch rein ökonomische Faktoren wie Konjunkturen oder Produktions- und Distributionsbedingungen spielten eine Rolle bei der Entwicklung der Größenverhältnisse.20 Ohnehin müssen diesem Drei-Regionen-Modell erhebliche Binnendifferenzierungen hinzugefügt werden. In den preußischen Nordostprovinzen wurde zwar 1882 knapp die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche von Großbetrieben bewirtschaftet, ein ebenfalls hoher Anteil von 45% war allerdings im Besitz von mittel- und großbäuerlichen Betrieben. Deren Anteil stieg bis 1907 auf über 51% an, während der der Großbetriebe um sieben Prozent zurückging.21 Von einer Dominanz der Großbetriebe lässt sich also kaum reden. Selbst in Pommern, neben Posen eine der beiden preußischen Provinzen mit der ausgeprägtesten Großbetriebsstruktur, wurden 1879 nur etwas mehr als die Hälfte der Agrarfläche von Großbetrieben bearbeitet.22 In Nordwestdeutschland verfügten mittel- und großbäuerliche Betriebe über 75% der Flächen, dennoch konnte der Anteil der Kleinst- und Kleinbetriebe in einzelnen Regionen, etwa im Herzogtum Oldenburg, bis zu drei Viertel der Gesamtbetriebszahl ausmachen.23 Drei von vier Betrieben in Baden und vier von fünf in Württemberg verfügten 1882 über weniger als fünf Hektar, zwei Drittel dieser Gruppe sind als Parzellenbetriebe zu charakterisieren. Trotzdem sind in beiden Staaten umfangreiche naturräumlich eher benachteiligte und industrieferne Gebiete mit einer aufgrund des dort praktizierten Anerbenrechts völlig anders gelagerten Betriebsgrößenstruktur zu finden.24 Statistische Zuschreibungen und bäuerliche Selbstwahrnehmung Die reichsweit vereinheitlichte Größenzuschreibung stimmte nicht immer mit der Wahrnehmung der landwirtschaftlichen Akteure überein. So entspricht zwar die Charakterisierung eines Landwirts im (damals preußischen, heute saarländischen) Kreis Merzig mit mehr als 20 Hektar als eines „guten, reichen Bauern“, der über die Eigenversorgung hinaus dauerhaft für den Markt produzieren kann, eines „Mittelbauern“ mit einem Besitz zwischen fünf und zehn Hektar, der in guten Jahren genügend Überschüsse erzielt, um schlechte Jahre auszugleichen, und von Besitzern mit weniger als fünf Hektar als „arme und geplagte Leute“, die ohne zusätzlichen Verdienst nicht auskommen, annähernd den Zuschreibungen der Reichsstatistik. In Oberbayern galten aber bereits Betriebe mit weniger als zehn Hektar als „Kleinhäusler- oder Tagelöhneranwesen“, im Münsterland wurde erst ein Besitz über zwölf Hektar als für eine bäuerliche Existenz ausreichend angesehen, während Kötter und Kuhbauern mit fünf bis zwölf Hektar Land ein zusätzliches Hand20 Becker 1990, S. 60 ; Heß 1990, S. 31 ; Borcherdt 1985, S. 98. 21 Heß 1990, S. 30. 22 Buchsteiner 1993, S. 45–50. 23 Born 1985, S. 25 ; Brockstedt 1989, S. 86. 24 Borcherdt/Häsler u.a. 1985, S. 102, 111.
21
22
Boden
werk oder Gewerbe ausüben mussten. Als „kleinere Besitzung“ verstand man am Ende des 19. Jahrhunderts im westfälischen Minden-Ravensberg und in der Oldenburgischen Marsch Betriebe mit weniger als 25 bzw. 20 Hektar, während in den westpreußischen Niederungen an der Weichsel selbst Eigentümer bis zu 50 Hektar noch als Kleinbesitzer bezeichnet wurden. In Sonderkulturregionen kann das andere Extrem beobachtet werden. So liegen die Grenzen zwischen kleinen, mittleren und größeren Betrieben in der weinbautreibenden bayerischen Rheinpfalz bei einem bzw. fünf Hektar, in der fruchtbaren badischen Rheinebene konnte ein Besitz von 1,8 Hektar schon als vollbäuerlich gelten.25 Keineswegs können daher aus der unterschiedlichen Verteilung der Besitzgrößen regionale Hierarchisierungen wirtschaftlichen Erfolgs abgeleitet werden. Nach Meinung pfälzischer Bauern etwa wurden die Nachteile ihrer kleingliedrigen Landwirtschaft mehr als ausgeglichen durch die intensivere Bewirtschaftung und die damit verbundene bessere Ausnutzung der familiären Arbeitskräfte. Sicher aus ähnlichen Gründen bezeichnete auch der Berichterstatter des Vereins für Socialpolitik Adolf Buchenberger die Besitzverteilung im Großherzogtum Baden mit seiner Vielzahl an kleinst- und kleinbäuerlichen Existenzen als „im Großen und Ganzen“ günstig.26 Das Problem der Parzellierung Kritischer wurde die Zerstückelung vieler Betriebsflächen gesehen. In Realteilungsgebieten hatte die Praxis der fast unbegrenzten Zerteilung der Parzellen beim Erbgang zur Folge, dass die Flächen weit zerstreut und für eine rationelle Bewirtschaftung als zu klein erachtet wurden, in anderen Regionen war die Zersplitterung eine Folge der Gemeinheitsteilungen. Der 2,5 Hektar umfassende Besitz von Adam Philipp aus Womrath im Hunsrück, wo 1882 86% der Betriebe zu den Kleinst- und Kleinbetrieben zählten, setzte sich aus 109 Parzellen mit einer Durchschnittsgröße von 188,6 Quadratmeter zusammen.27 In Behrungen im (thüringischen) Sachsen-Meiningen teilten sich 695 Einwohner die 1378 Hektar ihrer Gemarkung in 13.910 Parzellen, die Durchschnittsgröße der Parzellen in der Vorderpfalz betrug 600–800 m2.28 Eine Neuordnung der Flur durch Zusammenlegungen ermöglichte neben einer besseren Bewirtschaftung größerer Parzellen auch grundlegende Verbesserungen durch Beund Entwässerungsmaßnahmen und einen Wegebau, der den Flurzwang obsolet machte. Um 1880 war dieser seit langem von Agrarexperten vehement geforderte und bereits in etlichen Staaten initiierte Prozess noch nicht zum Abschluss gekommen. Einerseits konn25 Alle Angaben nach : Bäuerliche Zustände 1883, Kartels 1883, S. 193 ; Petersen 1883, S. 249 ; Ranke 1883, S. 279 ; Winkelmann 1883, S. 2, 13 ; Hofmeister 1883, S. 25 ; Buchenberger 1883, S. 244. 26 Petersen 1883, S. 250 ; Buchenberger 1883, S. 245. 27 Bauer 2009, S. 100, 115. 28 Heim 1883, S. 10 ; Petersen 1883, S. 252.
Betriebsgrößen
ten etwa im Regierungsbezirk Kassel die Zahl der Parzellen in 296 Gemarkungen durch Verkoppelungsverfahren um den Faktor 7,5 vermindert oder in der thüringischen Rhön eine halbe Million Parzellen zu 56.028 Grundstücken zusammengelegt werden.29 Andererseits scheiterten Zusammenlegungsbemühungen in vielen Fällen an den Einsprüchen der Besitzer. Dabei waren nicht immer die Kosten, die Furcht vor Landverlust oder das Festhalten an hergebrachten Traditionen – etwa die in Oberbayern beobachtete „Liebe zum ererbten Besitz“ oder die dem münsterländischen Bauern unterstellte „angeborene Anhänglichkeit an alle Theile seines Hofes“ – ausschlaggebend für die Ablehnung. In der Rheinpfalz wurde etwa die Verteilung des Besitzes auf verschiedene Teile der Gemarkung als risikominimierend angesehen, im mittelfränkischen Bezirksamt Hersbruck die Gemengelage mit dem Wunsch der Hopfenanbauer, in jeder Lage der Gemarkungen Anlagen zu bepflanzen, gerechtfertigt oder in der Oldenburgischen Geest die höhere Rentabilität parzellenweiser Verpachtung erkannt. Gerade in Realteilungsgebieten wurden zudem freiwillige Arrondierungen durch Kauf und Tausch von Nachbargrundstücken staatlichen Regulierungen vorgezogen.30 3.2.2 Weitere Ausdehnung der unteren Größenklassen um die Jahrhundertwende
In der Entwicklung der Betriebsgrößenstruktur sind bis 1907 keine grundlegenden Transformationen zu erkennen. Die Tendenzen sind allerdings eindeutig : Das Anwachsen der Gesamtbetriebszahl um 8,7% ist ausschließlich der Entwicklung in den unteren drei Größenklassen zuzuschreiben. Die Zahl der Parzellenbetriebe stieg um über 300.000 an.31 Gleichzeitig verringerte sich aber ihr prozentualer Anteil an der Nutzfläche. Deutlich steigern konnte die auch in ihrer Gesamtzahl angewachsene Gruppe der mittleren Betriebe ihren Flächenanteil, wohl vor allem auf Kosten der großbäuerlichen Betriebe und des Großgrundbesitzes, die in Anzahl und Fläche merklich zurückgingen, aber doch immer noch mehr als die Hälfte des Agrarbodens bewirtschafteten. Auch in der Dynamik der Veränderungen sind regionale Unterschiede zu erkennen. In Ostdeutschland ist die Zunahme der klein- und mittelbäuerlichen Betriebe teilweise mit der Einrichtung von Siedlerstellen im Rahmen der Inneren Kolonisation zu erklären.32 In Südwestdeutschland nahmen die Betriebszahlen in Realteilungsgebieten insbesondere in der Größenordnung unter 0,2 Hektar in Industrienähe stark zu, während in den Anerbengebieten die Zahl der Betriebe kontinuierlich zurückging, die durchschnittliche Betriebsgröße sich aber – auch auf Kosten der Kleinstbetriebe – erweiterte.33 29 Baumbach 1883, S. 125 ; Gau 1883, S. 30. 30 Ranke 1883, S. 274 ; Petersen 1883, S. 251 ; Eheberg 1883, S. 167 ; Mendel 1883, S. 41. 31 Ein Teil dieses Anstiegs kann allerdings auch durch eine genauere statistische Aufnahme verursacht sein, vgl. Heß 1990, S. 26. 32 Born 1985, S. 24. 33 Borcherdt 1985, S. 110 f.
23
24
Boden
Tabelle 2 : Betriebsgrößenstruktur im Deutschen Reich 1907 Anteil an Gesamtzahl der Betriebe in Prozent (n = 5736082)
Anteil an landwirtschaftlicher Nutzfläche in Prozent
< 2 ha
58,9
5,4
Betriebsgrößen
2 – 5 ha
17,6
10,4
5 – 20 ha
18,5
32,7
20 – 100 ha
4,6
29,3
> 100 ha
0,4
22,2
(Quelle : Heß 1990, S. 26)
Dass sich zwischen 1882 und 1907 die Betriebsgrößenstruktur nur wenig veränderte, zeigt, dass die Rahmenbedingungen für die Landwirtschaft in dieser Zeitspanne insgesamt positiv und alle Betriebsgrößen offensichtlich ökonomisch lebensfähig waren.34 3.2.3 Stabilisierung der mittleren Betriebsgrößen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Das ließe sich auch für die Entwicklung im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts feststellen, denn bis 1925 hatte sich die Verteilung der Betriebsgrößen und des Nutzflächenanteils der verschiedenen Größenklassen kaum geändert. Dass sich die Gesamtzahl der Betriebe um über 600.000 verringert hatte, ist mit den Gebietsabtretungen nach dem Ersten Weltkrieg zu erklären. Tabelle 3 : Betriebsgrößenstruktur im Deutschen Reich 192535 Betriebsgrößen
Anteil an Gesamtzahl der Betriebe in Prozent (n = 5115406)
Anteil an landwirtschaftlicher Nutzfläche in Prozent
< 2 ha
59,5
6,2
2 – 5 ha
17,5
11,4
5 – 20 ha
18,7
35,8
20 – 100 ha
3,9
26,4
> 100 ha
0,4
20,6
(Quelle : Wehler 2003, S. 276)
34 Heß 1990, S. 45. 35 Wehler 2003, S. 276.
Betriebsgrößen
Die Entwicklung bis 1933 ist aufgrund anderer statistischer Verfahren nur schwer mit den Zahlen von 1925 abzugleichen. Es deutet sich aber an, dass aufgrund der Aufgabe von Kleinst- und Kleinbetrieben und der Abnahme des Großgrundbesitzes sich die Zahl der bäuerlichen Betriebe zwischen fünf und 50 Hektar deutlich vergrößerte. Die Agrarkrise der späten 1920er und frühen 1930er Jahre traf vor allem die Betriebe zwischen 50 und 100 Hektar, deren Anzahl zwischen 1925 und 1933 deutschlandweit um fünf Prozent zurückging.36 Dieser Rückgang betraf so unterschiedliche Agrarlandschaften wie SüdOldenburg oder Baden und Württemberg gleichermaßen. Im Südwesten erwiesen sich die Betriebsgrößen zwischen zwei und fünf Hektar als am wenigsten abhängig von konjunkturellen Schwankungen, während Kleinstbetriebe unter 0,5 Hektar auf Kosten der 0,5-bis-zwei-Hektar-Betriebe stark zunahmen.37 Das agrarpolitische Ziel der Nationalsozialisten, mittels der Reichserbhofgesetzgebung die mittel- und großbäuerlichen Existenzen zu stärken, hatte bis 1939 kaum nennenswerte Verschiebungen der Betriebsgrößen zur Folge. Die leichte Abnahme der kleinbäuerlichen Betriebe und des Großgrundbesitzes und die leichte Zunahme des Anteils der mittel- und großbäuerlichen Betriebe entsprechen den bereits langjährigen Tendenzen. Auch der deutliche Anstieg der Betriebe zwischen zehn und 50 Hektar bis 1939 im Landkreis Stade liegt im langfristigen Trend der Zunahme dieser Größenklassen in der gesamten ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.38 In Baden und Württemberg war die agrarpolitische Zielsetzung vor dem Hintergrund der überwiegend geteilten Besitzweitergabe noch weniger erfolgreich, hier machte 1933–1939 der Zuwachs der Betriebe zwischen fünf und 20 Hektar nur die Hälfte von dem der Jahre 1925 bis 1933 aus.39 3.2.4 Kontinuierlicher Anstieg der Betriebsgrößen nach 1950
Der eigentliche Strukturwandel in der Frage der Betriebsgröße setzte erst nach 1950 ein. Unmittelbar nach dem Krieg war es – wie üblich in Notzeiten – zu einer Vermehrung der Selbstversorgerwirtschaften und folglich der Kleinstbetriebe gekommen. Während in den westlichen Besatzungszonen Bodenreformen mit dem Ziel, den Einfluss der Großgrundbesitzer zurückzudrängen und Siedlungsland für die Heimatvertriebenen und Flüchtlinge bereitzustellen, sich auf die Betriebsgrößenstruktur kaum auswirkten, da nur fünf Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche davon betroffen waren, wurde in der Sowjetischen Besatzungszone ein Drittel des Landbesitzes neu verteilt. Am Ende dieser ungleich radikaleren Bodenreform bewirtschafteten nur noch 0,2% der Betriebe – ab 1949 in der Regel als „Volkseigene Betriebe“ – mehr als 100 Hektar, hatte nur jeder zehnte Betrieb großbäuerliches Ausmaß, und hatte sich mit 55% mittelbäuerlichen und 35% kleinbäuerlichen 36 Böckmann 2000, S. 34–38. 37 Ebenda ; Borcherdt 1985, S. 142–154. 38 Petzina/Abelshauser/Faust 1978, S. 60 ; Münkel 1996, S. 34 ; Wilde/Barnstedt 1964, S. 190 f. 39 Borcherdt 1985, S. 151.
25
26
Boden
Besitzungen die Besitzgrößenstruktur deutlich verschoben. Besonders spürbar war dieser Wandel in den nördlichen Landesteilen Mecklenburg und Brandenburg, während Thüringen ohnehin bereits vor dem Krieg von einer klein- und mittelbäuerlich bestimmten Landwirtschaft geprägt war.40 Der rapide Rückgang der Kleinbetriebe um fast 30% in der Bundesrepublik zwischen 1949 und 1960 markiert die Beschleunigung des Konzentrationsprozesses, der die Situation der landwirtschaftlichen Betriebe bis heute bestimmt. Die Arbeitsmöglichkeiten in der Industrie erleichterten die Aufgabe unrentabler Höfe. Deren Land stand dann zur Aufstockung anderer Betriebe zur Verfügung, was die Wachstumsschwelle, also die Betriebsgröße, ab der die Zahl der Betriebe zunimmt und die somit eine ökonomisch sinnvolle Untergrenze bezeichnet, kontinuierlich ansteigen lässt. Dass der größte Rückgang in der Gruppe der Kleinbetriebe und nicht in der der Kleinstbesitzer stattfand, ist damit zu erklären, dass die Kleinbetriebe für den Nebenerwerb zu groß waren und daher zumindest Teile des Landes abgegeben wurden. Die Kleinstbesitzungen hingegen konnten neben der gewerblichen oder industriellen Arbeit weiter geführt werden. Die Wachstumsschwelle lag 1957 in allen Bundesländern bei zehn bis 20 Hektar, was aber nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass weiterhin 56,3% aller Betriebe weniger als fünf Hektar bewirtschafteten.41 Die durchschnittliche Betriebsgröße lag 1960 in Schleswig-Holstein bei fast 19 Hektar, in Niedersachsen bei knapp elf, in Nordrhein-Westfalen und Bayern hatten die Betriebe durchschnittlich acht Hektar, in Hessen, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz fünf, im Saarland nur drei Hektar zur Verfügung. In den kleinbetrieblich strukturierten Regionen war zudem der landwirtschaftliche Besitz in deutlich mehr Teilstücke zersplittert : Bei fast 17 Teilstücken pro Betrieb betrug die durchschnittliche Größe einer Agrarfläche in Rheinland-Pfalz 0,3, in Baden-Württemberg 0,4 Hektar, während schleswig-holsteinische Bauern auf durchschnittlich 4,6 Hektar großen Flächen zusammenhängend wirtschaften konnten.42 Weiterhin differierte die Größe, ab der ein Betrieb im Vollerwerb bewirtschaftet wurde, regional sehr stark. Zwischen 1959 und 1989 sank die Zahl der westdeutschen Betriebe mit mehr als zwei Hektar Betriebsfläche von 1,2 Millionen auf knapp 570.000. Die Wachstumsschwelle erhöhte sich kontinuierlich, von 20 Hektar in den siebziger über 30 Hektar in den achtziger auf 40 Hektar in den neunziger Jahren. Dennoch wirtschafteten auch 1989 noch knapp 120.000 Betriebe mit weniger als zwei Hektar Fläche und stellte der Anteil der Betriebe mit weniger als zehn Hektar noch die Hälfte aller bundesdeutschen Betriebe. Nur ein Fünftel verfügte über zehn bis 20 Hektar, 29% wären nach der alten Nomenklatur als großbäuerliche Betriebe zu bezeichnen gewesen und weniger als ein Prozent bearbeiteten mehr als 100 Hektar.43 40 Eckart 1998, S. 173, 188–191. 41 Bericht über die Lage der Landwirtschaft 1958. 42 Abel 1967, S. 285. 43 Agrarbericht 2000, Tabelle 2, online unter : http://www.bmelv-statistik.de//fileadmin/sites/030_Agrarb/2000/AB00_Tab1_30.pdf (Zugriff : 10.4.2010).
27
Betriebsgrößen
Nach Abschluss der Kollektivierung wurden am Ende des Jahres 1960 92,7% der landwirtschaftlichen Nutzfläche in der DDR von 19276 Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften und 669 Volkseigenen Gütern bewirtschaftet, deren Größe noch stark differierte. Tabelle 4 : Betriebsgrößenstruktur der LPG und VEG in der DDR Ende 1960 Betriebsgrößen < 200 ha
Anteil an Gesamtzahl der Betriebe in Prozent 57,0
200–499 ha
27,0
500–999 ha
12,0
1000–2000 ha
4,0
> 2000
0,3
Durch Zusammenschlüsse reduzierte sich die Zahl der LPG und stiegen infolgedessen die Betriebsgrößen an. Die 11.500 LPG des Jahres 1968 bewirtschafteten zu je einem Drittel Flächen unter 200 Hektar, zwischen 200 und 500 Hektar und über 500 Hektar.44 Die durchschnittliche Betriebsfläche der LPG stieg von 280 Hektar im Jahr 1960 auf 650 Hektar 1971. Ende 1989 verfügten die 464 Volkseigenen Güter, die 199 Gärtnerischen Produktionsgenossenschaften und die 3844 LPG über jeweils durchschnittlich 1292 Hektar, wobei die auf den Pflanzenbau konzentrierten Betriebe diese Größenordnung noch weit übertrafen.45 Nach der Wiedervereinigung blieben die Unterschiede in den alten und neuen Bundesländern weiterhin bestehen. Während 1998 nur drei Prozent der westdeutschen Betriebe mehr als 100 ha bewirtschafteten, waren es in den neuen Ländern 29%. Außer in der Größenklasse zwischen zwei und zehn Hektar, in der die neuen Länder einen etwas höheren Anteil als die alten Bundesländer aufwiesen, blieben sie in allen anderen bäuerlichen Größenkategorien dementsprechend deutlich darunter. Allerdings waren in allen Größenkategorien zwischen zwei und 1000 Hektar Zuwächse zu verzeichnen. In den alten Ländern lag die Wachstumsschwelle schon bei 50 Hektar.46 Bis 2006 war dieser Wert, jetzt allerdings auf das gesamte Bundesgebiet bezogen, auf 75 Hektar angestiegen.47 In der aktuellen durchschnittlichen Betriebsgröße spiegeln sich immer noch – mit Abstrichen selbst in den neuen Ländern – die regionalen Traditionen wider. 44 Lambrecht 1977, S. 215. 45 Immler 1973, S. 131 ; Eckart 1998, S. 367. 46 Agrarbericht 2000, Tabelle 2, online unter : http://www.bmelv-statistik.de//fileadmin/sites/030_Agrarb/ 2000/AB00_Tab1_30.pdf (Zugriff : 10.4.2010). 47 Agrarbericht 2007, Tab. 2, online unter : http://www.bmelv-statistik.de//fileadmin/sites/030_Agrarb/ 2007/AB07_Tab01_22.pdf (Zugriff : 20.9.2010).
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Boden
Tabelle 5 : Durchschnittliche Betriebsgrößen in den Bundesländern 2007 Mecklenburg-Vorpommern
250 ha
Sachsen-Anhalt
240 ha
Brandenburg
218 ha
Thüringen
165 ha
Sachsen
110 ha
Schleswig-Holstein
60 ha
Niedersachsen
52 ha
Saarland
45 ha
Hessen
35 ha
Nordrhein-Westfalen
32 ha
Rheinland-Pfalz
29 ha
Bayern
27 ha
Baden-Württemberg
25 ha
(Quellen : Berechnet nach Angaben in : http://www.statistik.baden-wuerttemberg.de/Veroeffentl/Faltblatt/ 803810022.pdf ; https://www.statistik.bayern.de/medien/statistik/wirtschafthandel/sg33_191e_auszug_f__r_internet.pdf ; http://www.statistik-nord.de/uploads/tx_standocuments/SI07_144_F.pdf ; http://www.statistik-mv.de/cms2/STAM_prod/STAM/de/la/index.jsp ; http://www.tls.thueringen.de/datenbank/TabAnzeige.asp?tabelle=zt000503||Landwirtschaftliche+Betrieb e+nach+Kulturarten+und+Planungsregionen&startpage=169&csv=&richtung=&sortiere=&vorspalte=0 &tit2=&TIS=&SZDT=&anzahlH=-1&fontgr=12&mkro=&AnzeigeAuswahl=&XLS=&auswahlNr=&f elder=0&felder=1&felder=2&felder=3&felder=4&felder=5&felder=6&felder=7&felder=8&felder=9&fe lder=10&felder=11&felder=12&felder=13&felder=14&felder=15&felder=16&felder=17&felder=18&f elder=19&felder=20&felder=21&felder=22&felder=23&felder=24&felder=25&felder=26&felder=27 ; http://www.statistik-hessen.de/themenauswahl/landwirtschaft/landesdaten/agrarstruktur/ landwirtschaftliche-betriebe-nach-betriebsgroessenklassen/index.html ; http://www1.nls.niedersachsen.de/statistik/html/mustertabelle.asp?DT=K6080011 ; http://www.it.nrw.de/statistik/i/daten/eckdaten/r322lwbetriebe1.html ; http://www.statistik.rlp.de/fileadmin/dokumente/berichte/C4033_200701_2j_K.pdf ; http://www.stala.sachsen-anhalt.de/Internet/Home/Daten_und_Fakten/4/41/411/41122/Groessen struktur_nach_Jahren.html ; http://www.statistik.sachsen.de/html/658.htm ; http://www.saarland.de/dokumente/thema_statistik/staa_LANDW_AT1%281%29.pdf (Zugriff auf alle : 25.5.2011).
3.2.5 „Optimale“ Betriebsgrößen ?
Das Problem der „optimalen“ Betriebsgröße wurde bereits im 19. Jahrhundert diskutiert. Genauso alt wie diese Diskussion ist auch der Lösungsvorschlag der „gesunden Mischung“ unterschiedlich großer Betriebe, der sich im agrarwissenschaftlichen Diskurs auch deswe-
Betriebsgrößen
gen einer gewissen Beliebtheit erfreut, weil die vielfältigen Untersuchungen über die Leistungsfähigkeit der verschiedenen Betriebsgrößen in verschiedenen Regionen zu keiner abschließenden Bewertung führten.48 Zudem spielten immer auch außerlandwirtschaftliche Argumente eine Rolle. Viele auf die Betriebsgrößen abzielenden Diskussionen und Maßnahmen wurden von nicht in erster Linie produktionsorientierten Überlegungen bestimmt : die Ansiedlung bäuerlicher Familienwirtschaften im Osten als Schutz vor osteuropäischer Einwanderung vor dem Ersten Weltkrieg, die skeptische Haltung gegenüber Großbetrieben in der Weimarer Zeit, die Förderung mittel- und großbäuerlicher Betriebe durch die Reichserbhofgesetzgebung, die Zerschlagung von Großgrundbesitz in der Bodenreform der SBZ, andererseits der Aufbau großer Betriebseinheiten im Rahmen der Kollektivierung und deren Vergrößerung zur Durchsetzung der „industriegemäßen Produktion“ in der DDR, die Propagierung des bäuerlichen Familienbetriebes als Gegenmodell, schließlich neuere der ökologischen Nachhaltigkeit der Betriebsführung verpflichtete Debatten in der BRD. Betriebswirtschaftliche Berechnungen führten wohl zu Ergebnissen, die aber als Handlungsanweisungen auch nur unzureichend funktionieren. Mit der Verschiebung der Aufmerksamkeit von der Bodenproduktivität auf die Arbeitsproduktivität49 scheinen zwar die Vorteile auf der Seite der größeren Betriebe zu liegen. Damit werden agrarpolitische Weichenstellungen hin zum Imperativ des „Wachsens oder Weichens“, also der Bevorzugung größerer Einheiten, gerechtfertigt. Auch der stetige Anstieg der Wachstumsschwelle bestätigt diese Einschätzung. Dass aber nicht nur im regionalen Vergleich, sondern auch innerhalb der Regionen selbst völlig unterschiedliche Betriebsgrößen über lange Zeit parallel existierten50, verweist auf unterschiedliche ökonomische Logiken, die sich etwa in unterschiedlichen Vorstellungen eines „ausreichenden Einkommens“ manifestierten, andererseits aber auch auf Motivationen, die über die ökonomische Komponente hinausreichten. So gaben in den späten 1960er Jahren in einer Befragung 85% der interviewten Nebenerwerbslandwirte an, ihre Kleinbetriebe als Möglichkeit zur Selbstversorgung, als Absicherung gegenüber Wirtschaftskrisen, als Hobby oder aus „Tradition“ weiterführen zu wollen. Nur sechs Prozent der Vollerwerbslandwirte mit Betrieben, die für eine rentable Bewirtschaftung zu klein waren, waren bereit, eine Tätigkeit außerhalb der Landwirtschaft aufzunehmen. In den achtziger Jahren erklärten baden-württembergische Landwirte ihren Entschluss, den Betrieb trotz großer wirtschaftlicher Schwierigkeiten zu erhalten, mit traditionellen oder familiären Bindungen an den Hof, mit der Zufriedenheit mit dem Beruf, der Angst, dass der Berufswechsel als Eingeständnis eines Misserfolges gewertet werden könnte, mit der Furcht vor sozialem Abstieg und vor dem Verlust der Selbstständigkeit.51
48 Abel 1967, S. 258 ; Becker 1990, S. 51 f. 49 Streb/Pyta 2005, S. 56–78. 50 Kleversaat/Nellinger 1997, S. 251. 51 Kluge 1989, S. 85 f.; Lenz 1994, S. 101–104.
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3.3 Der Zugriff auf den Boden : Formen von Besitz und Besitztransfer 3.3.1 Besitzrechte
Das Ziel der liberalen Agrarreformen, die Eigentumsrechte von feudalen Belastungen zu befreien, war bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts erreicht worden. Das freie bäuerliche Eigentum, das verkauft, verpachtet, geteilt und belastet werden konnte, unterlag allerdings in der Folge teilweise neuen Einschränkungen. Auch nach den Agrarreformen war die Teilung von Eigentumsrechten in ein Ober- und ein Untereigentum in Form von Fideikommissen noch möglich. Mithilfe dieser Rechtsform konnte der im Eigentum einer Familie befindliche Landbesitz nach dem Recht der Primogenitur ungeteilt vom Fideikommissinhaber vererbt werden und war weitgehend von Pfändung und Zwangsvollstreckung ausgenommen. Vorwiegend preußische adlige Familien bedienten sich dieser Möglichkeit, ihren Großgrundbesitz vor Teilung zu bewahren. Waren die circa 700 Familienfideikommisse um 1870 etwa gleichmäßig in ganz Preußen verteilt, so verlagerte sich der Schwerpunkt bis 1914 durch annähernd 600 Neustiftungen in die ostelbischen Provinzen. Mit fast 2,5 Millionen Hektar Land nahmen die unter Fideikommiss stehenden Flächen sieben Prozent der Gesamtfläche Preußens ein. Dieses Rechtsinstitut wurde erst 1938 endgültig aufgelöst.52 Um die Kontrolle über die im Rahmen der Inneren Kolonisation zur Verfügung gestellten Güter nicht völlig aus der Hand zu geben, führte die preußische Regierung 1886 für die Provinzen Westpreußen und Posen das Institut des Rentengutes ein. Anders als in der 1850 abgeschafften Erbpacht wurde dabei das volle Eigentum gegen eine feste Jahresrente auf den Erwerber übertragen, seine Handlungsmöglichkeiten wurden aber beschränkt : So behielt sich der Rentenberechtigte – zunächst der Staat – vor, einer Parzellierung oder einer Weiterveräußerung des Gutes zu widersprechen. 1890 wurde diese Regelung auf ganz Preußen ausgeweitet und auch Privatpersonen zugestanden, diese Rechtsform bei der Landweitergabe zu nutzen.53 Auch die nach 1919 ausgegebenen Parzellen für „Neusiedler“ unterlagen staatlichen Eingriffsrechten. Elemente des Anerbenrechtes und des Fideikommisses enthielt das „Erbhofgesetz“ der Nationalsozialisten, das das Verfügungsrecht der Eigentümer erheblich einschränkte. 3.3.2 Bodenreform und Kollektivierung in der SBZ/DDR
Die Bodenreform Eine umfassende Veränderung der Eigentumsordnung erfuhr die Landwirtschaft in der SBZ/DDR. In der bereits im Sommer 1945 in Angriff genommenen Bodenreform wur52 Heß 1990, S. 207–211. 53 Hofer 2001, S. 263 f.
Der Zugriff auf den Boden : Formen von Besitz und Besitztransfer
den alle Gutsbesitzer, die über mehr als 100 Hektar verfügten, sowie alle Eigentümer, die als nationalsozialistische Funktionäre oder als Kriegsverbrecher galten, entschädigungslos enteignet, ihr gesamter landwirtschaftlicher Besitz inklusive Inventar und Gebäude in einen Bodenfonds eingebracht und zu einem Großteil zu sehr günstigen Konditionen an Landarbeiter, bisherige Pächter, Vertriebene (in der Sprache der SBZ/DDR : Umsiedler), landarme Bauern zum Auf- oder Ausbau klein- und mittelbäuerlicher Existenzen abgegeben. Bereits im sowjetischen Exil hatten deutsche kommunistische Funktionäre die grundlegende Umgestaltung der ländlichen Besitzverhältnisse geplant, deren Ausmaß und Ablauf dann aber letztlich von der sowjetischen Besatzungsmacht auf Anweisungen von Stalin selbst bestimmt wurden. Die Notwendigkeit einer Bodenreform sahen auch die anderen Siegermächte, bei deren Überlegungen die Verantwortung des Großgrundbesitzes für die Entstehung des Nationalsozialismus, darüber hinaus auch die geringere Rentabilität von Großgrundbesitzungen und zu kleinen bäuerlichen Wirtschaften, schließlich auch die Versorgung der Flüchtlinge und Vertriebenen eine Rolle spielte. Kollektive Formen der Bewirtschaftung oder Verstaatlichungen der Güter wurden in der SBZ noch für nicht durchsetzbar gehalten. Stattdessen intendierten die neuen Machthaber die Schaffung einer kleinbäuerlichen, durch den Bruch mit der überlieferten Bodenordnung mit dem neuen politischen System verbundenen Klasse. Aufgrund des dort geringeren Einflusses des Großgrundbesitzes, des hohen Anteils abhängig Beschäftigter in der ländlichen Gesellschaft und des organisatorischen Vorsprungs der KPD wurde die Bodenreform zuerst in der Provinz Sachsen durchgeführt, die dann als Modell für die anderen Länder innerhalb der SBZ dienen sollte. Gleichwohl die Machtposition der sowjetischen Besatzung eine direkte Umsetzung der Bodenreform ermöglicht hätte, sollte ein von der KPD unter sowjetischer Direktive erarbeiteter Gesetzentwurf von dem „Block der antifaschistischdemokratischen Parteien“ verabschiedet werden. Gegen die Stimmen der CDU und LPD, die für die Reform, aber gegen pauschale Enteignungen waren, wurde ein Beschluss durchgesetzt, der in ähnlicher Form auch in den anderen Ländern zum Tragen kam.54 Zur schnellen Umsetzung wählten die potenziellen Empfänger auf Gemeindeebene Bodenkommissionen, die unter Aufsicht von Kreis- und Provinzialkommissionen und letztlich der sowjetischen Besatzungsmacht die Enteignungen und die Verteilung des Landes und des Inventars vornahmen. Die bisherigen Besitzer wurden bis zur endgültigen Verteilung durch Treuhänder ersetzt und mussten in vielen Fällen sofort den Hof verlassen. Oft wurden sie, um die Wirksamkeit alter paternalistischer Bindungen bei der Durchführung der Bodenreform zu verhindern, in weiter entfernte Gemeinden gebracht, teilweise in Internierungslagern festgehalten. Bis Herbst 1946 war der größte Teil des Landes verteilt, zu Jahresbeginn 1950 galt die Bodenreform als abgeschlossen. 3,3 Millionen Hektar, ein Drittel der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche in der SBZ, waren enteignet, zwei Drittel davon an 559.089 Privatpersonen ausgegeben worden. Ein weiteres Drittel blieb 54 Schöne 2005, S. 57–59 ; Mahlich 1999, S. 9–12 ; Buchsteiner 21998, S. 12–15 ; Bauerkämper 1996, S. 72–75 ; Bauerkämper 2002, S. 71–82.
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unter staatlicher Verwaltung und wurde später in die „Volkseigenen Güter“ überführt. Mit 42,6% ging der größte Teil der Flächen an Landarbeiter und landlose Bauern, die etwas mehr als ein Fünftel der Empfänger stellten. 35% des Landes wurde 90.000 Umsiedlern zur Verfügung gestellt. Mit durchschnittlich etwa acht Hektar Landausstattung bewegten sich diese beiden Gruppen von Neubauern somit auf einem klein- bis mittelbäuerlichen Niveau. Der Rest des Landes ging an landarme Bauern (durchschnittlich 3,3 Hektar) und Kleinpächter (ein Hektar), als Gartenland an nicht-landwirtschaftliche Arbeiter und Handwerker und als „Waldzulage“ an Altbauern. Aufgrund der Unterschiede in der Betriebsgrößenstruktur vor 1945 hatte die Bodenreform regional sehr unterschiedliches Ausmaß. Während in Mecklenburg-Vorpommern 54%, in Brandenburg 41% und in Sachsen-Anhalt 35% der Nutzflächen neu verteilt wurden, waren es in Thüringen mit seiner ausgeprägt bäuerlichen Besitzstruktur nur 15%. 487 Betrieben mit mehr als 100 Hektar standen dort 524 Betriebe mit einem durchschnittlichen Flächenbesitz von 18 Hektar gegenüber, die aufgrund tatsächlicher oder vorgeblicher Aktivitäten ihrer Eigentümer im Nationalsozialismus oder als Kriegsverbrecher enteignet wurden. Das zugeteilte Land unterlag als Eigentum einigen Beschränkungen, es durfte nicht geteilt, verpachtet oder verpfändet werden. Zwar grundsätzlich vererbbar, musste es bei Betriebsaufgabe wieder an den Bodenfonds zurückgegeben werden. Ein neues Bodenrecht verpflichtete die Empfänger zu guter Bearbeitung in ihrem eigenen und im gesellschaftlichen Interesse.55 Das erhebliche Tempo, in dem die Bodenreform durchgeführt wurde, darf nicht über die aus ihr resultierenden Widersprüche und Schwierigkeiten hinwegtäuschen. Aufgrund der Präsenz der sowjetischen Besatzung blieben direkte Sabotage- oder Gewaltakte gegen die Bodenreform eher die Ausnahme. Keineswegs scheint es sich aber um eine „friedliche Sozialrevolution von Kleinbauern und Landarbeitern“ gehandelt zu haben. Vielmehr sind häufig zurückhaltende bis ablehnende Reaktionen der zum Landerwerb berechtigten Gruppen überliefert, die sich auf persönliche Bindungen und alte Loyalitäten zu den Enteigneten, auf Misstrauen gegenüber der Dauerhaftigkeit der Verhältnisse, bei den Umsiedlern auch auf die Hoffnung, wieder in die alte Heimat zurückzukehren, zurückführen lassen. In ehemaligen Gutsdörfern wurden die enteigneten Güter weiterhin gemeinschaftlich bewirtschaftet und wurde erst unter Strafandrohung zur Individualwirtschaft übergegangen. Allerdings sind auch andere Beispiele bekannt, in denen die Zerstörungen des Krieges, Flucht und Vertreibung und die Abwesenheit der Gutsbesitzer die Durchführung der Bodenreform erleichtert hatten. Häufig spielten bei der Besetzung der Bodenkommissionen direkt oder indirekt alte Netzwerke eine gewichtige Rolle, was zur Bevorzugung von Einheimischen und Verwandten gegenüber den ortsfremden Umsiedlern führte. Außer dass sie von den ortskundigen Kommissionsmitgliedern die eher schlechten Felder zugesprochen bekamen, hatten die Neubauern vor allem mit Ausstattungsproblemen zu 55 Bauerkämper 1996, S. 75–78 ; Mahlich 1999, S. 12–16 ; Buchsteiner 21998, S. 17–19.
Der Zugriff auf den Boden : Formen von Besitz und Besitztransfer
Abb. 2 : Die Bodenreform in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945. Übergabe des Bodens auf dem ehemaligen Staatsgut Bredentin in Mecklenburg.
kämpfen. So bebauten die mecklenburgischen Neubauern 1946 zwar über die Hälfte des Landes, hatten aber nur 15% der Pferde zur Verfügung. Als noch nachteiliger erwies sich das Fehlen von Wohn- und Wirtschaftsgebäuden für die Wirtschaftsführung der Neubauern.56 Dass nur etwa ein Zehntel der Neubauern erfolgreich wirtschaftete und bis 1952 fast ein Drittel von ihnen ihre Betriebe aufgegeben hatten, ist mit dieser schlechten Ausstattung, aber auch mit fehlender landwirtschaftlicher Erfahrung und dem zu knapp bemessenen Landbesitz zu erklären.57 Die Kampagne gegen die „Großbauern“ Nach der Zerschlagung der Großbetriebe in der Bodenreform wurde ab 1948 aus ideologischen Gründen eine Kampagne gegen Landwirte mit mehr als 20 Hektar als „Klassenkampf auf dem Lande“ initiiert, die auf der Konstruktion eines Klassengegensatzes zwischen „werktätigen“ Klein- und Mittelbauern und „kapitalistischen“ Großbauern ba56 Schöne 2005, S. 61–64 ; Mahlich 1999, S. 17 ; Osmond 1996, S. 143–145 ; Kaiser 1996, S. 127 f.; Bauerkämper 1996, S. 78–80 ; Langenhan 1999, S. 125–127. 57 Schöne 2005, S. 63.
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sierte. Der statistische Begriff des „Großbauern“ wurde zum Kampfbegriff umgedeutet. Anders als die Klein-, Neu- und Mittelbauern konnten viele Großbauern aufgrund ihrer Ausstattung und Berufserfahrung Ernteergebnisse erzielen, die eine eigenständige Vermarktung von „freien Spitzen“, über der Ablieferungspflicht liegenden Produktionsmengen, ermöglichten. Mit erhöhten Steuern, mehrfachen Erhöhungen des Ablieferungssolls für Großbauern und zunehmenden Benachteiligungen bei der Zuteilung von Betriebsmitteln und Agrartechnik wurde versucht, diese politisch unpassende Entwicklung zu unterbinden. Zudem wurde den Großbauern Ausbeutung der Landarbeiter, mangelnde Unterstützung der Kleinbauern und „Sabotage an der Volksernährung“ vorgeworfen. Die fortan als „Klassenfeinde“ titulierten Großbauern wurden auch aus politischen und sozialen Führungsfunktionen, etwa im Genossenschaftswesen oder in der berufsständischen Vertretung, zurückgedrängt. Unter dem Eindruck dieser Repressalien gaben bis 1952 etwa 5000 Großbauern ihren Betrieb auf.58 Die Kollektivierung Der Kollektivierungsprozess der DDR-Landwirtschaft fand in mehreren Phasen statt. Der Beschluss der SED im Juli 1952, der die Bildung von landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) propagierte, ist im Zusammenhang weiterer Maßnahmen zur sozialistischen Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft zu sehen. Bereits vor diesem Zeitpunkt wurden einzelne Versuche unternommen, die Probleme der Kleinbetriebe durch Zusammenschlüsse zu lösen. Aber erst nachdem im Frühsommer 1952 klar geworden war, dass gesamtdeutsche Optionen nicht realisierbar waren und daher keine Rücksicht mehr auf disparate Entwicklungen in Ost und West mehr genommen werden musste, stand der „Aufbau des Sozialismus“ auf der Tagesordnung. Jetzt waren – anders als vorher – „freiwillige“ Zusammenschlüsse von Einzelbauern erwünscht und wurden von der SED, die allerdings nicht offen als Vermittler auftreten sollte, um den Schein der Spontaneität und Freiwilligkeit zu wahren, mit allen Kräften unterstützt und gefördert. Durch Bevorzugungen bei der Bereitstellung von Betriebsmitteln und Agrartechnik, die Stundung von Krediten, die Befreiung von Steuern, den Erlass von Zahlungen für Landanteile aus der Bodenreform und andere Vergünstigungen sollten die Landwirte zum Eintritt in die LPG motiviert werden. Trotz aller Propaganda und Vorteile war bis Ende 1952 nur ein geringer Teil der Landwirte, vor allem Klein- und Neubauern mit ungünstigen wirtschaftlichen Voraussetzungen, zur Kollektivierung bereit. Ab November wurde daher der Druck auf die „Privatbauern“ erhöht : Sie hatten höhere Pflichtablieferungen zu erbringen, wurden mit höheren Steuern belegt und in der Zuteilung von Betriebsmitteln erheblich benachteiligt. Konnten sie unter diesen Umständen die erforderlichen Ablieferungspflichten nicht erbringen, 58 Osmond 1996, S. 148–150 ; Humm 1999, S. 82–87 ; Schöne 2005, S. 64–72 ; Schöne 2005 b, S. 18–22 ; Scherstjanoi 2007, S. 229–248.
Der Zugriff auf den Boden : Formen von Besitz und Besitztransfer
Abb. 3 : Verlassener Bauernhof in Altenweddingen im Februar 1953. Das Bild wurde zu Propagandazwecken genutzt, um die vermeintlichen Versäumnisse des in den Westen geflüchteten „Großbauern“ anzuprangern.
wurden sie massiven Zwangsmaßnahmen ausgesetzt. Es kam zu Verhaftungen und Enteignungen. In der Folge entzogen sich viele Bauern dem Druck durch Flucht in den Westen. Der zunehmende Mangel an fachlich erfahrenen Arbeitskräften und die mangelhafte Ausstattung mit Betriebsmitteln führte zu einem empfindlichen Produktionseinbruch, der die sowjetische Besatzungsmacht – nach dem Tod Stalins – vor einer zu einseitigen Unterstützung der LPG warnen ließ und einen „Neuen Kurs“ der SED erzwang, der die Rücknahme vieler Zwangsmaßnahmen vorsah. Dass dieser Kurswechsel als unzureichend angesehen wurde, gehört zu den unmittelbaren Motiven des Aufstandes vom 17. Juni, der zu einem erheblichen Anteil auch von Aktionen im ländlichen Raum mitgetragen wurde. Trotz der Niederschlagung des Aufstandes lösten sich in der Folge mehr als ein Zehntel der LPG auf und traten mehr als ein Fünftel der Mitglieder aus den Genossenschaften aus. In den folgenden Jahren wurde die Kollektivierung in gebremstem Tempo weitergeführt. Erst nach dem Ungarnaufstand 1956 wurde die umfassende Kollektivierung wieder verstärkt in den Blick genommen. Bis dahin hatten sich die Zahl der LPG-Mitglieder von 130.000 auf 230.000 vergrößert und der Anteil der Nutzflächen auf etwas mehr als ein Fünftel lediglich verdoppelt. Weiterhin waren es vor allem Kleinbauern und ehemalige Landarbeiter, die in die LPG eintraten. Diese beiden Gruppen stellten Ende 1956 drei
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Viertel der LPG-Mitglieder, weitere zehn Prozent waren ehemalige Industriearbeiter. In den späten 1950er Jahren gerieten daher die sich überwiegend verweigernden Mittelbauern in den Blick. Als agrarpolitisches Ziel wurde jetzt die Vollkollektivierung ausgegeben, die zunächst in Modellkreisen durchgeführt wurde, um dann als Muster für alle Bezirke zu dienen. Nur mit erheblichem Druck konnten die Bauern, die nicht in den Westen flüchteten, dazu gebracht werden, die Individualwirtschaft aufzugeben und in die LPG einzutreten. Von Freiwilligkeit konnte nicht die Rede sein. Am 25. April 1960 erklärte Ulbricht die „Bauernbefreiung“ für abgeschlossen.59 Rechtlich blieben die Bauern Eigentümer ihres Bodens, verloren aber die Verfügungsgewalt. Lediglich 0,5 Hektar ihres Landes konnten sie als individuell nutzbare Fläche behalten. Die Nutzung von Vieh und Betriebsmitteln war in verschiedenen LPG-Typen unterschiedlich geregelt. Im zunächst weitaus häufigsten Typ I blieben sie im Besitz der Genossen, im Typ III wurden auch Tiere und Geräte in die Genossenschaft eingebracht und durfte nur ein bestimmter Anteil an Vieh für die „individuelle Hauswirtschaft“ genutzt werden.60 Widerstände der betroffenen Landwirte begleiteten die Kollektivierung von Anfang an und kamen auch mit dem Eintritt fast aller noch verbleibenden Privatbauern in eine LPG im Frühjahr 1960 nicht zum Erliegen. Dem Eintritt in die Genossenschaften versuchten sich viele Bauern durch Flucht, durch Abwanderung in die Industrie, vereinzelt sogar durch Selbstmord, zu entziehen. Die Gründungsversammlungen wurden durch direkte Aktionen zu verhindern oder zu stören versucht : Hier reichte das Spektrum von Hindernissen auf dem Weg bis zu Übergriffen gegen Funktionäre. Wurde der Eintritt unumgänglich, wurden bewusst die in die Genossenschaft einzubringenden Äcker und Viehbestände vernachlässigt. Auf bestehende LPG wurden Brandanschläge ausgeübt, Viehbestände wurden vergiftet, Sabotageaktionen durchgeführt. Neben diesen einzelnen spektakulären Aktionen prägte allerdings die Gleichzeitigkeit von angepasstem und opponierendem Verhalten den Alltag vieler Akteure in der LPG. Dem nicht mehr vermeidbaren Eintritt in die LPG gingen mancherorts Verhandlungen und Kompromisse voraus, die Vergünstigungen für die neuen Genossenschaftsmitglieder zur Folge hatten. Dass sich viele LPGMitglieder wesentlich stärker auf ihre individuelle Hauswirtschaft konzentrierten und dementsprechend ihre Arbeitsleistung im Bereich der kollektivierten Landwirtschaft deutlich verminderten, zeigt ihre fehlende Bereitschaft, sich über den notwendigsten Einsatz hinaus in die Genossenschaft einzubringen. Traditionale Beziehungen und Konflikte wirkten auch im neuen Umfeld der LPG weiter, wenn etwa vormalige Groß- und Mittelbauern Führungsfunktionen übernahmen oder informell ausübten oder wenn in Altbauerndörfern die Genossenschaften aus mehreren verwandten oder befreundeten Familien zusammen gesetzt waren, die in der Praxis weiterhin individuell arbeiteten. Zumindest für die erste Phase der Vollkollektivierung bis 1960 kann daher festgestellt werden, dass die 59 Schöne 2005 b, S. 23–36 ; Schöne 2008, S. 101–141. 60 Bauerkämper 2005, S. 84–86 ; Schöne 2005 b, S. 26.
Der Zugriff auf den Boden : Formen von Besitz und Besitztransfer
Abb. 4 : Vollversammlung in der LPG „Thomas Müntzer“ in Worin im August 1952.
Vergenossenschaftlichung zwar umfassend durchgeführt wurde, im Detail aber deutlich von der „reinen Lehre“ abgewichen wurde, was zu erheblicher Störungsanfälligkeit beitrug, aber das System insgesamt nicht in Frage stellte.61 In den sechziger und siebziger Jahren wurden im Sinne der „industriegemäßen Produktion“ als zu klein eingeschätzte LPG zusammengefasst und mit massiver Förderung der Übergang der LPG Typ I und des sehr seltenen Typ II in den Typ III forciert. Außer wirtschaftlichen Gründen wurde die weiterhin stark einzelbäuerlich und kaum von einem „sozialistischen Bewusstsein“ geprägte Haltung der Typ I-Mitglieder als Grund für diesen Schritt, der als Fortführung der Kollektivierung nach der formalen Vollkollektivierung verstanden werden kann, angeführt. Die Zahl der LPG I und II-Mitglieder sank von 360.000 im Jahr 1960 auf 159.000 1970 und schließlich auf 11.000 in der Mitte der siebziger Jahre. Zwar sank auch die Zahl der LPG III aufgrund von Zusammenlegungen in der ersten Hälfte der siebziger Jahre von 6000 auf weniger als 4500, die Genossenschaften des Typ I allerdings wurden in nur vier Jahren bis 1975 von über 2500 auf 306 reduziert.62 61 Osmond 1996, S. 150–164 ; Langenhan 1999, S. 149–158 ; Bauerkämper 2002, S. 507–509 ; Schöne 2005, S. 270–288 ; Grashoff 2006, S. 208–216. 62 Schöne 2008, S. 146 ; Heinz 2011, S. 97–116.
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3.4 Besitztransfer 3.4.1 Innerfamiliärer Besitztransfer
Mit der liberalen Regelung des 19. Jahrhunderts, dass, falls kein Testament vorliegt, jeder Miterbe einen Anteil am Nachlass hat, war die Abschaffung des Anerbenrechtes intendiert. Sie konnte letztlich nicht durchgesetzt werden. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten einige Länder in Landgüterordnungen die Möglichkeit zur geschlossenen Vererbung des landwirtschaftlichen Besitzes als Ausnahme von der Regel der gleichen Erbteilung festgeschrieben. Im letzten Drittel des Jahrhunderts wurde die Frage der Gefährdung bäuerlicher Existenzen und des befürchteten Produktivitätsrückgangs durch die Erbteilung der Betriebe verstärkt diskutiert mit der Folge, dass etliche Staaten im Norden Anerbenrechte gesetzlich verankerten : Mecklenburg-Schwerin 1869, Oldenburg 1873, Lippe 1886, Bremen 1890. Preußen erließ für verschiedene Provinzen entsprechende Landgüterordnungen : Hannover 1873, Lauenburg 1881, Westfalen 1882, Brandenburg 1883, Schlesien 1884, Schleswig-Holstein 1886, und 1891 schließlich für alle Provinzen ein Sondererbrecht für bestimmte Güter, das durch die fakultative Eintragung in eine Höferolle in Anspruch genommen werden konnte. Umstritten war allerdings die Ausprägung des Anerbenrechtes in der Frage, ob die ungeteilte Vererbung nur den Eigentümern zugestanden wurde, die sich in die Höferollen eintragen ließen, oder generell in allen Fällen galt, in denen keine anderweitigen Verfügungen der vererbenden Generation vorlagen. Auch das Bürgerliche Gesetzbuch ließ den Ländern die Möglichkeit, eigene Anerbengesetze zu formulieren, was außer von einigen norddeutschen Staaten auch 1898 von Baden für das Anerbengebiet Schwarzwald genutzt wurde.63 Die regionalen Unterschiede in der Weitergabe des Landbesitzes blieben also weitgehend bestehen, ebenso die Sonderregelungen zur Versorgung der weichenden Geschwister und der überlebenden Elternteile oder – im Fall der Übergabe zu Lebzeiten – des Elternpaares. Ging der Grundbesitz an einen Übernehmer, je nach regionaler Tradition der älteste, jüngste oder der für am fähigsten gehaltene Sohn oder auch Tochter und Schwiegersohn, dann konnten die an die Geschwister zu zahlenden, nicht selten als sehr oder gar zu hoch eingeschätzten Abfindungen (Erbportionen) und die oft hypothekarisch abgesicherten Altenteile die wirtschaftliche Zukunft des Anerben erheblich belasten, was häufig Ursache für die dauerhafte Verschuldung des Betriebes war. So hatte etwa in der Umgebung von Lüneburg der älteste Sohn, der, falls er nicht in einen anderen Hof einheiratete, den Betrieb übernahm, seine Brüder mit vergleichsweise geringen Summen, seine Schwestern allerdings mit deutlich höheren Anteilen abzufinden, um deren Chancen auf die Einheirat in gut situierte Höfe zu steigern. Die Höhe der Abfindungen und des Altenteils wurde zwischen den Familienmitgliedern oft zum Nachteil des Anerben verhandelt. In anderen Regionen wurde der Hof geschätzt und dem Anerben zu einem Satz überschrieben, der, wie in einigen Regionen Ostpreußens 25–50% unter dem Verkaufswert liegen konnte 63 Abel 31967, S. 171 f.; Holthöfer 1987, S. 121–176, S. 143–145 ; Thissen 1988, S. 28 f.
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oder wie im Münsterland vom Grundsteuerreinertrag aus berechnet wurde, aber auch wie in der unterfränkischen Rhön über dem üblichen Marktpreis angesetzt werden konnte. In Oberbayern wurde eine zunehmende Steigerung der von dem Anerben auszuzahlenden Erbportionen festgestellt.64 Dass die Belastung des Anerben durch Abfindungen und Altenteile eher zunahm, könnte durch die mit der geschlossenen Übergabe konkurrierende Alternative der freien Teilbarkeit zu erklären sein, aber auch mit der erheblichen Steigerung der Bodenpreise im Zusammenhang stehen. Eine ähnliche Erweiterung der Verhaltensdispositionen familiärer Besitzweitergabe lässt sich in den Realteilungsgebieten nicht feststellen, aber auch hier sind unterschiedliche Verfahren zu erkennen. So wurden die Grundstücke in der Rheinpfalz „in natura“ nach der Zahl der Erben geteilt und nur bei Unterschreitung einer Minimalgrenze versteigert. Im Kreis Merzig wurde bereits zu Lebzeiten der Eltern geteilt, wobei eines der Kinder nach der Heirat das elterliche Haus übernahm, deren Wohnrecht über die „Leibzucht“ geregelt wurde. Eine andere, aber deutlich seltener genutzte Möglichkeit war die „Zivilteilung“, bei der der gesamte Besitz versteigert und die Erbmasse geteilt wurde. Die Entscheidung hierzu konnte von Marktsituationen abhängig sein : In Westpreußen etwa wurde in Kreisen mit besseren Bodenverhältnissen und einem dementsprechend höheren Marktwert so verfahren, während in Kreisen, in denen insbesondere kleine Besitzungen schlecht zu verkaufen waren, eher die geschlossene Besitzübergabe unter Garantierung des Altenteils praktiziert, allerdings die Abfindung für die Geschwister wegen Geldmangels häufig doch in Land vorgenommen wurde. Ähnliche Zwischenstufen zwischen geschlossener und geteilter Besitzweitergabe finden sich in Oldenburg, wo mit der Neuregelung 1873 die Möglichkeit geschaffen wurde, trotz der prinzipiellen Teilbarkeit des Besitzes aus einer „behausten Stelle“ eine „Grunderbstelle“ zu machen. Diese Stelle bekam der „Grunderbe“ als alleiniges Eigentum, sie wurde aber mit seinem Erbteil verrechnet. Gerade in der gewohnheitsrechtlich die ungeteilte Übergabe praktizierenden Geest und in den Teilen der Marsch mit geschlossener Erbtradition wurde diese Form des Besitztransfers häufig genutzt.65 Wenn die Familien auch die Möglichkeiten der neuen Gesetzgebungen vereinzelt nutzten, so lässt sich doch insgesamt ein deutliches Festhalten an Rechtstraditionen feststellen, so dass von einer einheitlich geregelten Besitzübergabe auch am Ende des 19. Jahrhunderts bei weitem nicht die Rede sein konnte. Daran änderte sich auch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nichts. Eine erneute Enquete des „Vereins für Socialpolitik“ ging im Herbst 1929 der Frage nach, ob die „Anerbensitte“ zurückginge und stattdessen die Realteilung um sich greife. In Ostpreußen, Pommern, Brandenburg, Mecklenburg und im Freistaat Sachsen wurde beobachtet, dass 64 Eckert/Enckhausen 1883, S. 79–90, S. 83 ; Kreis 1883, S. 296 ; Winkelmann 1883, S. 7 ; Thüngen-Roß bach 1883, S. 176 ; Ranke 1883, S. 274 f. 65 Petersen 1883, S. 243 ; Kartels 1883, S. 201 f.; Oemler 1883, S. 242 ; Hofmeister 1883, S. 28 ; Mendel 1883, S. 47 f.
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die geschlossene Vererbung weiterhin praktiziert wurde. In Schlesien dehnte sich das Anerbenprinzip sogar noch aus. In anderen alten Anerbengebieten ließ sich eine Aufweichung der geschlossenen Vererbung feststellen, durch die das Anerbenprinzip aber nicht in Frage gestellt wurde. In württembergischen Anerbengebieten teilten Großbauern ihren Betrieb bisweilen unter zwei bis drei Söhnen auf, wenn diese mit dem ererbten Besitz weiterhin im Vollerwerb wirtschaften konnten. In Westfalen und am Niederrhein verkauften die Anerben Teile des Landes, um ihre Miterben finanziell abzufinden. Aus abgestoßenen und aufgekauften Parzellen konnten dann wieder neue Anerbenhöfe entstehen. Auch in Realteilungsgebieten passte man sich situativen Herausforderungen an, ohne dadurch die Teilung grundsätzlich in Frage zu stellen : In den ostfriesischen Marschen wurde häufig die „ideale Teilung“ vollzogen, indem ein Erbe den Hof weiterführte und die Geschwister mit Kapital abfand, das aus der Verpachtung einiger guter Parzellen erwirtschaftet wurde. In Thüringen versuchte man, die Teilung in unwirtschaftliche Parzellen zu vermeiden. Lediglich in den bekannten Realteilungsgebieten am Rhein und im Südwesten war eine Abnahme der selbstständigen Bauern, vor allem der mittleren Betriebsgrößen, in Württemberg und Baden dementsprechend eine Zunahme der Arbeiterbauern zu erkennen. Aber auch hier stand eine gesetzliche Einführung des Anerbenrechts nicht auf der Wunschliste der betroffenen Bauern. Unabhängig von der Gesetzgebung wurde überall der Übergabe- oder Erbvertrag zu Lebzeiten der Eltern geschlossen. In den meisten Fällen scheint es sich um konsensuale Verfahren unter Mitwirkung der erbenden Nachfahren gehandelt zu haben.66 Wenn sich Vererbungspraktiken änderten, dann waren weniger gesetzliche Vorgaben als andere Umstände die Ursache. So konnten die Banken größeren verschuldeten Betrieben die Aufteilung der Felder untersagen.67 3.4.2 Das Reichserbhofgesetz
Die auf einem biologistischen und rassistischen Diskurs einerseits, auf Diskussionen in der Agrarpublizistik andererseits aufbauende nationalsozialistische Reichserbhofgesetzgebung, nach der die Höfe vor Überschuldung und Zersplitterung bewahrt und das „deutsche Bauerntum“ gestärkt werden sollten, konnte vor dem Hintergrund dieser differenzierten Entwicklung kaum flächendeckend durchgesetzt werden. Bei dem bereits im Mai 1933 in Preußen eingeführten Erbhofrecht handelte es sich um eine Form des Intestatanerbenrechtes, nach dem die Eigentümer ihren Besitz in eine Höferolle eintrugen, der somit – ähnlich wie die Fideikommisse – bei zukünftigen Übergaben unteilbar war. Im September 1933 wurde das Gesetz, das für Betriebe zwischen 7,5 und 125 Hektar galt, auf ganz Deutschland übertragen. Verglichen mit den Handlungsspielräumen der landwirtschaftlichen Familien auch in Anerbengebieten bedeutete diese Regelung einen empfindlichen 66 Zusammenfassung der Ergebnisse der Enquete des Vereins für Socialpolitik zur Vererbung ländlichen Besitzes in : Frost 1931, S. 203–230. 67 Thissen 1988, S. 29.
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Einschnitt. Die genaue Vorgabe der Erbfolge überließ den Erblassern nicht mehr die Entscheidung, dem Fähigsten der Nachkommen den Hof zu überlassen und benachteiligte zudem weibliche Erbberechtigte. Die vordem gegebenen Möglichkeiten, den einstigen Miterben einen Ausgleich anzubieten, entfielen weitgehend. Überdies wurde durch den Grundsatz der Unveräußerlichkeit und das Verbot der hypothekarischen Belastung des Hofes die ökonomisch wichtige Flexibilität der Betriebe verhindert. Bei schlechter Betriebsführung oder mit nationalsozialistischer Ideologie nicht zu vereinbarender Lebensführung der Eigentümer konnten Zwangsmaßnahmen bis hin zum Entzug des Hofes durchgesetzt werden. Dass bis 1939 nur ein Fünftel aller Betriebe, aber 37% der landwirtschaftlichen Nutzfläche von der Regelung erfasst wurden, lässt sich vor allem aus der großen Zahl der Betriebe erklären, die unter dem Minimum von 7,5 Hektar lagen. Dementsprechend wurden in den kleinbetrieblich strukturierten Regionen nur Bruchteile der Betriebe zu Erbhöfen umgewandelt : ein Prozent im Saarland, sechs Prozent in Baden, elf Prozent in Württemberg. Die vielen Schwierigkeiten, die sich für die Eigentümer mit der Eintragung in die Erbhöferolle verbanden, konnten häufig nur durch die Einschaltung des Anerbengerichtes gelöst werden. Ausnahmen bei der Unveräußerlichkeit der Güter, der Bestimmung der Erben, der Abfindung der nicht-erbberechtigten Kinder, der Altenteilregelungen oder der Belastungen durch Kredite wurden, wie am Beispiel des Landkreises Stade gezeigt wurde, von den zur Hälfte mit Bauern aus der Region besetzten Gerichten aus ökonomischen Gründen in den meisten Fällen gewährt. Diese nach Kriterien der Praktikabilität motivierten Entscheidungen konterkarierten zwar letztlich die mit der Erbhofgesetzgebung verbundenen Ziele, stabilisierten aber durch eine weniger strikte Auslegung eben auch das System.68 3.4.3 Höfeordnungen der Nachkriegszeit
Erst 1947 wurde das Reichserbhofgesetz aufgehoben. Für das britisch besetzte Nordwestdeutschland wurde eine neue Höfeordung erlassen, die auch die Rechte der nicht den Hof übernehmenden Erben festschrieb, den Landwirten aber wieder die Möglichkeit ließ, die Bedingungen durch Testament oder Übergabevertrag selbst festzulegen. Für die amerikanische und die französische Zone wurden die vor 1933 geltenden Bestimmungen wieder weitgehend erneuert. Auch in klassischen Realteilungsgebieten wurde die Möglichkeit für kleinere Betriebe geschaffen, sich durch Eintrag in die Höferolle der geschlossenen Vererbung zu bedienen. Weiterhin zogen allerdings die meisten bäuerlichen Familien die interne Regelung über Übergabeverträge vor : Um 1960 war nur etwa ein Viertel der westdeutschen Höfe in einer Höferolle eingetragen.69 68 Abel 1967, S. 172–175 ; Borcherdt 1985, S. 149 f.; Münkel 1996, S. 112–120, 192–280 ; Kluge 2005, S. 32. 69 Abel 1967, S. 175–179.
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Weiterhin bestehen in einigen Bundesländern Höfeordnungen, durch die landwirtschaftliche Besitzungen aus der Regel der Teilung des Nachlasses auf alle Erben herausgenommen werden.70 In der Praxis setzte sich in allen Regionen vor dem Hintergrund der Abwanderung aus der Landwirtschaft und der wachsenden Betriebsgrößen die Hofnachfolge durch einen Erben durch, wenn das Erreichen der Altersgrenze nicht ohnehin zur Betriebsaufgabe führte.71 3.4.4 Bodenmarkt
Mit den Agrarreformen war die Entstehung eines freien Bodenmarktes möglich geworden. Gegenüber dem Eigentümerwechsel innerhalb der Familie blieb der freie Grundstücksverkehr aber auch am Ende des 19. Jahrhunderts nur von nachgeordneter Bedeutung. Nur im Nordosten Deutschlands wurden Güter häufiger durch Verkauf als durch Vererbung weiter gegeben.72 So fanden über zwei Drittel der Eigentumsübertragungen im pommerschen Großgrundbesitz zwischen 1879 und 1910 nicht zwischen Vater und Sohn, sondern zwischen nicht-verwandten, meist bürgerlichen Verkäufern und Käufern statt.73 Allerdings galten immerhin 57% der Flächen des Großgrundbesitzes in Brandenburg 1910 als „alter Besitz“, während die restlichen 43% innerhalb der vorausgegangenen Jahrzehnte einen oder mehrere Besitzerwechsel erlebt hatten. Auch hier war die Bodenmobilität unter bürgerlichen Eigentümern deutlich höher, gleichwohl auch im Bürgertum wie im Adel die Tendenz, den Landbesitz länger in der Familie zu halten, unverkennbar war.74 Dass sich die Bodenmobilität in Nordostdeutschland in einem höheren Maß als in anderen Regionen außerhalb von Verwandtschaftsnetzen abspielte, ist allein mit der häufigeren Existenz von Großgrundbesitz zu erklären. Zumindest für Teile West- und Ostpreußens und Mecklenburg-Schwerin kann nachgewiesen werden, dass bäuerliche Besitzungen so selten über den freien Bodenmarkt gehandelt wurden wie überall im Deutschen Reich.75 Nach den Berichten der Enquete des Vereins für Socialpolitik von 1883 fanden in Regionen mit Anerbentradition die wenigsten freien Verkäufe statt.76 Nur bei Verschuldung oder wenn keine Hofnachfolge gegeben war, kamen in Westfalen, in der Provinz Hannover, in Oldenburg oder in Oberbayern Agrarflächen auf den Markt. Lediglich in SchleswigHolstein wurden Eigentümer repräsentativer Höfe in Stadt- oder Eisenbahnnähe, die für kapitalkräftige Stadtbürger attraktiv geworden waren, durch die hohen Grundstückspreise zur Stellenaufgabe ermutigt. Aber auch hier überwog bei weitem das ererbte gegenüber
70 Kipp/Coing 141990, S. 713–724. 71 Thissen 1988, S. 33. 72 Heß 1990, S. 309. 73 Buchsteiner 1993, S. 70. 74 Schiller 2003, S. 274–276. 75 Oemler 1883, S. 244 ; Kreis, S. 297 ; Paasche 1883, S. 368. 76 Bäuerliche Zustände, passim. Verglichen wurden die Angaben zu 25 Regionen.
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dem angekauften Eigentum.77 Schätzungen liegen vor für die Oldenburgische Marsch und das Königreich Sachsen : Maximal fünf Prozent des Besitzes in der Marsch und – je nach Region – ein Drittel bis ein Zehntel des Landes in Sachsen dürften auf dem freien Markt erworben worden sein.78 Auch in Realteilungsregionen fanden die meisten Transaktionen in der Familie statt. Dennoch konnten hier Kaufinteressierte weitaus häufiger zum Zuge kommen, wenn aus dem Wohnort wegziehende Erben oder Heiratende ihren Landanteil zur Versteigerung stellten, ganze Nachlässe nicht geteilt, sondern direkt versteigert wurden oder auch Einzelparzellen der meist zersplitterten Agrarflächen von ihren Eigentümern aus wirtschaftlicher Not oder zur Kapitalbeschaffung für Arrondierungsankäufe abgegeben wurden. Für den Hunsrück lässt sich allerdings nachweisen, dass auch in diesen Fällen die engsten Verwandten die besten Chancen hatten, die Flächen zu erwerben.79 Möglicherweise billigten die Nicht-Verwandten der Kernfamilie ein informelles Vorkaufsrecht zu und hielten sich dementsprechend bei der Versteigerung zurück. Besonders dynamisch entwickelte sich der Bodenmarkt in Realteilungsregionen, in denen über außerlandwirtschaftliche Beschäftigungsmöglichkeiten die finanziellen Mittel erwirtschaftet werden konnten, um Parzellen zur Subsistenzsicherung anzukaufen, oder in denen durch den Anbau von Sonderkulturen auch kleine Flächen gewinnbringend zu bebauen waren.80 Steigerung der Bodenpreise Die fast überall zu beobachtende Steigerung der Bodenpreise ist regional unterschiedlich zu bewerten. Die nach den hohen Steigerungsraten nach der Jahrhundertmitte sich ab den 1870er Jahren nur noch um ein bis zwei Prozent erhöhenden Bodenpreise zogen nach der Jahrhundertwende noch einmal deutlich um fünf bis sieben Prozent jährlich an.81 Im Bereich der Gutswirtschaft kann die Preisbewegung im Zusammenhang mit der Steigerung der Erträge und der aufgrund besserer Verkehrsinfrastruktur verbesserten Marktanbindung, die auffällige Steigerung nach 1900 mit der Einführung des Zolltarifs von 1902 gesehen werden.82 Die Nachfrage dürfte trotz der mit drei bis vier Prozent vergleichsweise niedrigen Verzinsung des in die Landwirtschaft investierten Kapitals wegen der Option auf weiter steigende Bodenpreise und der außerlandwirtschaftlichen Bedeutung von Großgrundbesitz stabil gewesen sein.83 Parzellenkäufe einer wachsenden Gruppe von Fabrik- und Bergwerksarbeitern, Handwerkern, Gewerbetreibenden und Kleinbesitzern und Wein-, Hopfen-, Tabak- und Zuckerrübenanbau verteuerten die Grundstücke in mehr bäuerlich geprägten Regionen. Wie in den nordostdeutschen Regionen stiegen auch 77 Bokelmann 1883, S. 67 f. 78 Hofmeister 1883, S. 36 ; Langsdorff 1883, S. 220. 79 Bauer 2009, S. 91. 80 Heim 1883, S. 14 ; Kartels 1883, S. 208 ; Petersen 1883, S. 260 ; Heitz 1883, S. 207–235. 81 Im Überblick : Wehler 1995, S. 696. 82 Eddie 1994, S. 148. 83 Flemming 1978, S. 19 ; Schiller 2003, S. 123–125.
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hier die Preise für Flächen minderer Qualität überproportional an. Im Bereich des Großgrundbesitzes ist das auf verbesserte Bewirtschaftungsmöglichkeiten, im Fall der Kleinbesitzer auf die geringere Kapitalausstattung und das dementsprechende Interesse an trotz Überteuerung weiterhin günstigerem Land zurückzuführen.84 Die außerwirtschaftliche Bedeutung von Grundbesitz, die Einbindung der Transaktionen in familiäre Logiken und der massenhafte Parzellenkauf zum vorrangig selbstversorgungsorientierten Anbau erlauben es auch für das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert zumindest im Bereich des Eigentümerwechsels nur ansatzweise von einem kapitalistischen Bodenmarkt, der eine „Wanderung des Landes zu den effizientesten Nutzern“85 garantierte, zu sprechen. Beschränkungen des Bodenmarktes Im 20. Jahrhundert wurde der Bodenmarkt wiederholt gesetzlichen Einschränkungen unterworfen. Im letzten Kriegsjahr 1918 wurde der Verkauf von Grundstücken ab einer regional differenzierten Mindestgröße von behördlicher Genehmigung abhängig gemacht, die bei überhöhten Preisen oder bei Vorbehalten gegen den Käufer versagt werden konnte. Nach dem Krieg wurde diese Verordnung beibehalten, in der NS-Zeit die Kontrollfunktion bei Grundstücksverkäufen von nicht vom Reichserbhofgesetz betroffenen Flächen, die prinzipiell einem Veräußerungsverbot unterlagen, auf den Reichsnährstand übertragen. Mit nur 1,3% abgelehnter Anträge in Preußen im Jahr 1938 zeigt sich aber, dass die Auswirkung dieser Gesetzgebung auf die Bodenmobilität doch sehr begrenzt war. 1942 wurde jeglicher Grundstücksverkehr verboten, sofern nicht „zwingende persönliche Gründe“ vorlagen oder dadurch Verbesserungen der Versorgung ermöglicht wurden. In der Nachkriegszeit erlassene Regelungen und das 1961 beschlossene Grundstücksverkehrsgesetz behielten die Genehmigungspflicht bei, die allerdings in der Praxis kaum noch spürbare Einschränkungen hatten.86 Dass die Kaufpreise für Großbetriebe in der Provinz Sachsen in der Zeit der Weimarer Republik erheblich zurückgingen, während die Kauf- und Pachtpreise für Kleinbetriebe gleichzeitig anstiegen, zeigt die weiterhin unterschiedliche Kaufmotivation an. Wenn auch der Anteil des Eigenlandes bei den Großbetrieben wegen der für Pächter günstigen Gelegenheit zum Erwerb anstieg, war es generell für gewinnorientierte Landwirte sinnvoller, Kapital in Intensivierungen als in den Bodenerwerb zu investieren.87 Der aufgrund der hohen Nachfrage stark gestiegene Bodenpreis in den südwestdeutschen Realteilungsgebieten zeigt die Bedeutung des zur Existenzabsicherung und Selbstversorgung praktizierten Lander84 Heim 1883, S. 14 ; Kartels 1883, S. 208 ; Petersen 1883, S. 260 ; Heitz 1883, S. 207–235 ; Müller 1976, S. 24–27. 85 Kopsidis 2006, S. 197. 86 Abel 31967, S. 182 ; Niemann 2000, S. 37. 87 Nabert 1992, S. 27 f.
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werbs in den untersten Betriebsgrößenklassen an. Eben dieser nachfrageinduzierte Anstieg ließ aber die Zahl der Kaufbewegungen nach einem um die Jahrhundertwende erreichten Höhepunkt zugunsten von Pachtungen bis in die zwanziger Jahre deutlich zurück gehen.88 Der bereits in der Endphase der Weimarer Zeit aufgrund des durch die Agrarkrise ausgelösten Preisverfalls für Güter in Mecklenburg zu beobachtende Anstieg des Grundstückhandels setzte sich auch trotz wieder anziehender Bodenpreise in der NS-Zeit fort. So wurden nach 1935 in den Kreisen Güstrow und Malchin 14% aller privat bewirtschafteten Großgüter verkauft, zwischen 1928 und 1939 wechselte die Hälfte aller mecklenburgischen Domänen ihre Eigentümer oder Pächter.89 Der Bodenmarkt für mittel- und großbäuerliche Betriebe wurde hingegen durch die Bestimmungen des Reichserbhofgesetzes stark eingeschränkt, gleichwohl die ihm unterstellten Betriebe unter bestimmten Bedingungen, etwa im Austausch mit anderen Erbhöfen, zum Schuldenabbau oder sogar zur Ausstattung der Geschwister, Land verkaufen konnten.90 Für die Nachkriegszeit liegen Schätzungen des über Verkauf umgesetzten Landes vor : Jährlich standen dem Bodenmarkt in den 1960er Jahren nur etwa 0,5% der landwirtschaftlichen Nutzfläche zur Verfügung, in mittel- und großbäuerlichen Regionen 0,25 bis 0,35%, in Kleinbauerngebieten ein bis 1,5%, 90% aller Verkäufe und 70% der verkauften Flächen betrafen Grundstücke unter zwei Hektar.91 Der vor allem wegen der Nachfrage für außerlandwirtschaftliche Zwecke (Wohnungsbau, Verkehr, Infrastruktur, Gewerbe, Touristik) steigende Bodenpreis ließ Landwirten, die mit der Vergrößerung ihrer Flächen eine rentablere Betriebsführung erreichen wollen, Landkauf als eher unrentabel erscheinen, während für den Erwerb aus Sicherheitserwägungen meist das Kapital fehlte.92 Als weiterhin wichtigste Form des Nutzerwechsels erweist sich die Pacht. 3.4.5 Pacht
Im Vergleich mit England, wo sie als Anzeichen für eine kapitalistische Landwirtschaft verstanden wurde, oder auch mit Frankreich hatte die Pacht in Deutschland eine deutlich geringere Bedeutung. 1907 waren nur 17,3% der landwirtschaftlichen Nutzfläche im Deutschen Reich Pachtland.93 Die Anpachtung von Land konnte je nach Betriebsgröße von völlig unterschiedlichen Motivationen geleitet sein. Im Bereich des Großgrundbesitzes und der Großbetriebe konnten mehr Betriebsmittel statt für den Ankauf von Land in die Steigerung der Produktivität investiert werden, um so stärker am agrartechnischen Fortschritt zu partizipieren.94 Die Hof- oder Gutspacht ermöglichte Landwirten mit ge88 Borcherdt 1985, S. 145. 89 Niemann 2000, S. 31–41. 90 Münkel 1996, S. 217–224. 91 Abel 31967, S. 181. 92 Witzke 1984, S. 100 f. 93 Eckart 1998, S. 56. 94 Buchsteiner 1993, S. 81.
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ringer Eigenkapitalausstattung die Führung eines eigenen Betriebes. Das höhere Investitionspotenzial und die häufig bessere Ausbildung und Berufserfahrung der Pächter gelten daher als für den wirtschaftlichen Erfolg eines Großbetriebes entscheidende Faktoren. In bäuerlichen Betrieben konnte die Zupacht von Parzellen zur besseren Auslastung der Arbeitskraft und der Ausstattung führen, bei Neben- oder Zuerwerbsbetrieben den Sprung in die selbstständige Existenz ermöglichen oder zusätzliche Einnahmen schaffen. In landlosen oder landarmen Haushalten wurde über gepachtete Flächen zumindest ein Teil der Eigenversorgung gewährleistet. Regionale Differenzen des Pachtlandanteils Die regionalen Differenzen im Ausmaß der Pachtlandanteile erklären sich vor allem aus den in unterschiedlicher Dichte zur Verfügung stehenden Landressourcen, aber auch aus produktionsbestimmenden Faktoren wie Boden, Klima und Marktanbindung.95 Adliger oder bürgerlicher Großgrundbesitz, dessen Eigentümer ihr Land nicht selbst bewirtschafteten, oder staatliches Domänengut waren die Grundlage für Betriebe, die ausschließlich auf gepachtetem Land geführt wurden. Dass etwa ein Drittel aller Betriebe in den preußischen Provinzen Hannover und Westfalen und knapp ein Viertel in Sachsen, Schleswig-Holstein und Brandenburg um 1880 reine Pachtbetriebe waren, verweist auf das dementsprechende Landangebot. Mit Anteilen von zehn bis 17% lagen Ost- und Westpreußen, Pommern, Schlesien und das Rheinland unter dem preußischen Durchschnitt. Nur 2,8% der landwirtschaftlichen Betriebe in Hohenzollern basierten ausschließlich auf Pachtland. Ähnlich gering war die Quote auch in anderen mehr kleinbetrieblich strukturierten Regionen wie der Pfalz, Baden, Württemberg, Teilen Frankens, der Moselgegend oder dem Westerwald.96 Gerade in diesen mehrheitlich durch Realteilung geprägten Gebieten wiederum wurde häufig Land zugepachtet. So bewirtschafteten in Hohenzollern mehr als 40%, in Hessen-Nassau mehr als ein Drittel der Betriebe zusätzliches Pachtland, meist kleine Parzellen, die aus dem Gemeindeeigentum, dem Pfarr- und Schulgut oder vorübergehend von minderjährigen Eigentümern zur Verfügung gestellt wurden.97 Das erklärt auch, dass, obwohl etwa 45% aller Betriebe Pachtland bewirtschafteten, ihr Anteil an der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Preußen 1882 nur 13,4% betrug. Mehr als ein Drittel der Nutzflächen der Kleinstlandwirte mit weniger als einem halben Hektar und mehr als ein Viertel des Bodenbesitzes der Kleinbauern setzte sich aus Pachtland zusammen, während es in mittel- und großbäuerlichen Betrieben mit sieben bis neun Prozent eine deutlich geringere Rolle spielte.98 95 Heß 1990, S. 48 f. 96 Angaben nach Heß 1990, S. 50 und Bäuerliche Zustände, passim. 97 Hümmerich 1883, S. 175 ; Bungeroth 1883, S. 180. 98 Heß 1990, S. 51.
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Bis 1907 blieb der Anteil der Pachtflächen an der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche fast gleich. Während der Anteil der Gutspächter leicht zurückging (weil der Adel sein Land in zunehmendem Maß selbst bewirtschaftete), und auch der der Landwirte, die mehr als 50% gepachtete Flächen bearbeiteten, rückläufig war, nahm die Zahl der Parzellenpächter deutlich zu.99 Die Bedingungen der Pacht variierten der Vielzahl von Erscheinungsformen entsprechend. Die Parzellenpacht wies die höchsten Pachtpreise und die niedrigsten Pachtdauern auf. So waren in Westpreußen um 1880 für einen Hektar Ackerland zwischen 48 und 72 Mark zu erzielen, wenn er im Rahmen einer Gutsverpachtung vergeben wurde, aber 72 bis 180 Mark bei parzellenweiser Verpachtung.100 Die Pächter kleiner Flächen, oft Tagelöhner, Kleinhandwerker, Arbeiter, Bergleute, konnten die Preise aufgrund ihrer außerlandwirtschaftlichen Einnahmen zahlen und durch intensive, gartenmäßige Bearbeitung dennoch einen erheblichen Beitrag für die Eigenversorgung der Familie, vor allem mit Kartoffeln und Gemüse, oder in Regionen mit Sonderkulturen ein zusätzliches Einkommen erwirtschaften.101 Kurze Pachtzeiten für Parzellen ermöglichten den Verpächtern schnelle Anpassung an Preiskonjunkturen. Dahingegen galten für Güter deutlich längere Vertragszeiten, häufig zwölf Jahre, die in der Regel verlängert wurden. Nicht selten übernahm der Sohn den Pachtvertrag vom Vater.102 Auch die Bewegung der Pachtpreise war uneinheitlich und korrelierte nicht immer mit der der Bodenpreise. Während in Schleswig-Holstein, in Nordhessen oder in der Umgebung von Göttingen in den Jahren vor 1880 nicht nur die Preise für Parzellen, sondern auch die für Güter aufgrund großer Nachfrage anstiegen, waren sie in Thüringen und im Moselraum rückläufig. Trotz allgemein hoher Pachtzinsen beurteilten die Berichterstatter der 1882er Enquete insgesamt die Lage sowohl der Parzellen- als auch der Güterpächter positiv. Lediglich in Schleswig-Holstein und dem Raum Paderborn verschlechterte sich ihre Situation aufgrund steigender Pachtzinsen und härterer Pachtbedingungen.103 Die unterschiedliche Pachtzinsentwicklung von Domänengütern in verschiedenen preußischen Regionen hing mit dem Stand der agrarischen Intensivierung zusammen : Während die Pachtpreise seit der Jahrhundertmitte in der Magdeburger Börde aufgrund der starken Intensivierung des Anbaus, vor allem von Zuckerrüben, bis 1890 auf ein Rekordniveau gestiegen waren, entwickelten sie sich ab den 1890ern bis 1907 rückläufig, weil es kaum noch weiteres Intensivierungspotenzial gab. In Hinterpommern stagnierte die agrarische Entwicklung bereits seit den 1870er Jahren mit der Folge, dass auch die staatlichen Einnahmen aus der Pacht zurück gingen. In Hessen-Nassau war um 1890 aufgrund günstiger Verkehrslage bereits ein hohes Niveau 99 Buchsteiner 1993, S. 87 ; Heß 1990, S. 54–56. 100 Oemler 1883, S. 231. 101 H. Franz 1883, S. 81 f.; Buerstenbinder 1883, S. 100 ; Gerland 1883, S. 129. 102 Winkelmann 1883, S. 5, 19 ; Hofmeister 1883, S. 35. 103 Bokelmann 1883, S. 59 ; Baumbach 1883, S. 137 ; Drechsler 1883, S. 68 ; Heim 1883, S. 12 ; Kartels 1883, S. 217.
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an Pachtzins erreicht, das angesichts fehlender weiterer Intensivierung kaum noch gesteigert wurde.104 Die doch stark differenzierten Motivationen und quantitativen Anteile zeigen, dass die Nutzung der Besitzform Pacht zu sehr verschiedenen ökonomischen Logiken – und in einem hohen Maß gerade der subsistenzorientierten – gehorchte, um als Anzeiger für den Stand einer kapitalisierten Landwirtschaft oder als Hinweis auf eine gezwungenermaßen besonders renditeorientierte Agrarpraxis gelten zu können. Die Entwicklung der Pacht im 20. Jahrhundert Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hatte sich der Anteil der Pachtflächen an der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Deutschland kaum bewegt, bis 1925 ist sogar ein Rückgang auf 12,8% zu verzeichnen, 1933 lag er auf etwa gleichem Niveau. Weiterhin war die Anpachtung von Land nur teilweise durch eine starke Marktorientierung motiviert. So war der Anteil des Pachtlandes überdurchschnittlich hoch in Gegenden wie der fruchtbaren Magdeburger Börde, wo mehr als die Hälfte der Pachtflächen von Zuckerfabriken oder kaufmännisch orientierten Großlandwirten bewirtschaftet wurden, oder in den zur Viehmast sehr geeigneten schleswig-holsteinischen Marschen, wo vor allem Schlächter, Viehhändler und Bauern aus der Geest als Pächter fungierten. Aber selbst in diesen Regionen ist die immense Bedeutung der Pacht als Existenzabsicherung für Tagelöhner, Landarbeiter und Industriearbeiter an ihrer hohen Pachtquote ablesbar. Etwa ein Viertel der gesamten Betriebsfläche der kleinst- und kleinbäuerlichen Betriebe war angepachtet. In Südwestdeutschland betrug der Anteil des Pachtlandes an den Betrieben unter zwei Hektar fast 50%. Zudem machten hier – wohl wegen der gestiegenen Bodenpreise – Verpachtungen um 1925 schon mehr als die Hälfte aller Immobilienveräußerungen aus. In den meisten Fällen „wanderte“ das Pachtland von großen zu mittleren und kleinen Betrieben.105 Den Kleinpächtern zugute kamen die Pachtschutzgesetze, die in der Weimarer Republik – im internationalen Vergleich sehr spät – verabschiedet wurden und die Pächter von Flächen unter 2,5 Hektar vor Kündigung und ungerechtfertigter Pachtzinserhöhung absicherten.106 Diese nach einer ersten Notgesetzgebung 1919 im Jahr 1920 zunächst befristet verabschiedeten Pachtschutzgesetze wurden immer wieder erneuert und überstanden auch die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. 1940 wurde eine Vereinheitlichung der in der Durchführung auf Länderebene differenzierten Pachtschutzgesetze vorgenommen, die im Sinne der Kriegsproduktion letztlich auf die Vermeidung von Pächterwechsel abzielte.107 Wenn auch Verpachtungen unter dem Reichserbhofgesetz stehender Betriebe verhindert werden sollten, galt andererseits 104 105 106 107
Henning 21988, S. 156–158. Rothkegel 1925, S. 1–67 ; Krause 1937, S. 733–742 ; Borcherdt 1985, S. 145. Becker 1990, S. 302. Abel 31967, S. 198 ; Lehmann 1985, S. 594.
Besitztransfer
Pachtland auch in der NS-Zeit noch als „Schrittmacher“ bei der Ab- und Zunahme der Betriebe.108 Gleichwohl entsprach um 1949 die Quote des Pachtanteils in Westdeutschland mit etwa einem Achtel der Nutzflächen immer noch ziemlich exakt dem seit den zwanziger Jahren deutschlandweit gemessenen Wert. Weiterhin sind starke regionale Unterschiede zu beobachten, die zwischen drei Prozent in Niederbayern und 30% im Regierungsbezirk Düsseldorf schwankten. Nur 5,7% der Betriebe waren reine Pachtbetriebe, 51,9% der Betriebe hatten Flächen zugepachtet.109 Im beschleunigten Strukturwandel der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die Pacht zum vorherrschenden Instrument der Betriebsflächenaufstockung. Dabei ist vor allem eine „Wanderung“ des Landes von kleinen zu größeren Betrieben festzustellen. Während Pachtland im Durchschnitt aller Betriebsgrößen von 1949 bis 1960 um 17,3% anstieg, wuchs es in den Betrieben zwischen zehn und 20 Hektar um 62%, in den 20-bis–50-Hektar-Betrieben um 73% und in den 50-bis–100-Hektar-Betrieben um 42% an.110 Dem Interesse der Zupächter an kapitalgünstiger Betriebserweiterung entsprach offensichtlich auf der Seite der Verpächter der Wunsch, bei Betriebsaufgabe auch im Sinn der nachfolgenden Erbengenerationen zumindest Teile des Eigentums beizubehalten. Diese Tendenz setzte sich fort. Bis 1981 wurde der Anteil des Pachtlandes, zu über 80% Zupachtflächen, auf fast ein Drittel gesteigert. 1999 betrug der Anteil der Pachtflächen im Gebiet der alten Bundesrepublik 50%.111 Der mit 90% im Jahr 1999 sehr hohe Anteil der Pachtflächen in den neuen Ländern erklärt sich aus der Transformation der Eigentumsverhältnisse nach 1990. Der Großteil der Flächen war bis 1993 von der Treuhandanstalt und ihrer Nachfolgeinstitution, der Bodenverwertungsund -verwaltungs-GmbH (BVVG), langfristig verpachtet worden. Seit 1996, als die gesetzlichen Grundlagen für den Flächenerwerb geschaffen worden waren, können nur nach und nach verpachtete Flächen veräußert werden, wie am langsamen Rückgang des Pachtflächenanteils in Ostdeutschland von 89,8% im Jahr 1991 auf 88,1% 2001 zu sehen ist.112 Heuerlinge Gleichwohl es seit dem frühen 20. Jahrhundert in der Kritik stand, blieb das seit der Frühen Neuzeit existierende Heuerlingswesen als mit Arbeitspflicht verbundene Zeitpacht bis in die 1960er Jahre bestehen und wurde dessen Existenz auch nach erheblicher politischer Diskussion noch 1952 im „Landpachtgesetz“ garantiert. Um die Jahrhundertmitte waren bereits verschwindend geringe Flächen als „Heuerland“ bewirtschaftet worden : 0,6% der 108 109 110 111
Krause 1938, S. 265 ; Münkel 1996, S. 223. Puttkammer 1954, S. 425–444. Abel 31967, S. 188. Wehner 1987, S. 17–30 ; Agrarbericht 2002, online abrufbar unter : http://www.bmelv-statistik.de// fileadmin/sites/030_Agrarb/2002/AB02_Tab1_10.pdf, 16.10.2010. 112 Seibel 2005, S. 396–402 ; Agrarbericht 2002, Tabelle 9.
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landwirtschaftlich genutzten Flächen in Niedersachsen 1949, 0,2% 1960 in WestfalenLippe. Angesichts des Arbeitsplatzangebotes in der Industrie verschwanden die letzten Heuerlingsstellen in den 1960er Jahren.113 Boden- und Pachtpreise Der ökonomische Wert von Agrarflächen lässt sich an der Entwicklung der Boden- und Pachtpreise ablesen, die allerdings von einer Vielzahl inner- und außerlandwirtschaftlicher Faktoren, insbesondere den Eingriffen der Agrarpolitik, abhängig ist. So wurde in den letzten Jahrzehnten das Boden- und Pachtpreisniveau von den Agrarsubventionen mitbestimmt.114 Da der Pachtpreis schneller auf Agrarpreiskonjunkturen reagiert als der Bodenpreis, spiegelt sich an seiner Entwicklung die landwirtschaftliche Ertragslage. So verlangsamte sich der bis in die 1870er Jahre zu beobachtende Aufschwung der Pachtpreise, um nach der Jahrhundertwende wieder mehr an Fahrt zu gewinnen. In der Zwischenkriegszeit reagierte er auf die wechselhaften Konjunkturen. In den Jahren 1956–64 wurde in der Bundesrepublik eine Steigerung des Pachtpreises um zwölf Prozent beobachtet.115 Die Bodenpreise stiegen von der Mitte der siebziger Jahre bis um 1980 deutlich an, um dann bis in die 1990er Jahre zu stagnieren oder abzusinken. Dabei blieben die durchschnittlich erzielten Preise in Niedersachsen und Schleswig-Holstein unter dem durch die hohen Preise in Bayern und Baden-Württemberg bestimmten Bundesdurchschnitt.116
3.5 Kollektive Nutzungen Kollektive Nutzungsrechte spielten am Ende des 19. Jahrhunderts nach den Gemeinheitsteilungen und Allmendauflösungen nur noch eine geringe Rolle für die ländliche Ökonomie. In einigen Regionen (z. B. Nordhessen, Lüneburger Umland, Franken, Teilen der Rheinpfalz) waren noch Rechte an Wald und Weide – oft nur für eine bestimmte Gruppe „Altberechtigter“ – mehr oder weniger verbreitet. In Nordhessen, Oberfranken und einzelnen rheinpfälzischen Gemeinden wurden Agrarflächen aus Gemeindeeigentum an Einwohner verteilt. In manchen Separationsverfahren wurden Flächen zur Gänse- oder Schweinehut für die Viehhaltung unterbäuerlicher Schichten vorgehalten und auch der Dorfanger in ostpreußischen Siedlungen konnte noch für Weidezwecke genutzt werden. Insgesamt aber war der Anteil solcher Landnutzung trotz seiner Bedeutung für die betroffenen Bevölkerungsgruppen quantitativ kaum noch messbar.117 113 114 115 116 117
Theine 1991 ; S. 314–326 ; Albers 1999, S. 151 ; Exner 1997, S. 115 ; Böckmann 2000, S. 163–170. Möhl 2006, S. 51–60. Abel 31967, S. 196. Kindler 1993, S. 31, 70. Baumbach 1883, S. 127 f.; Petersen 1883, S. 254 ; Winkelmann 1883, S. 19 ; Eckert/Enckhausen 1883, S. 80 ; Kreis 1883, S. 288.
Diskurse über Boden
In Südwestdeutschland hielten sich Restbestände von Allmendland bis weit in das 20. Jahrhundert. Nur noch sehr selten wurden sie allerdings an Nutzungsberechtigte vergeben, sondern von den Gemeinden langfristig, teilweise zugunsten der Berechtigten, verpachtet. Noch 1960 wurden aber immerhin über 44000 Betriebe gezählt, zu deren Flächen auch Allmend- oder Dienstland gehörte.118 3.6 Diskurse über Boden Durch die Agrarreformen, die Aufteilungen der Gemeinheiten, die zumindest teilweise mögliche Emanzipation von Erbgewohnheiten, aber auch durch günstige Agrarkonjunkturen und – vor allem im Kleinbesitz – Investitionen von außerlandwirtschaftlich erarbeitetem Kapital hatte sich der Zugriff auf Land bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erheblich dynamisiert. Dennoch geschah die Verteilung der Ressource nicht allein nach wirtschaftlichen Mechanismen, sondern blieb weiterhin häufig eingebunden in verwandtschaftliche Zusammenhänge. Auch die status- und prestigebestimmenden Aspekte von Landbesitz behielten ihre Bedeutung, sichtbar in adligen oder bürgerlichen Distinktionsbestrebungen oder innerdörflichen Machtzuweisungen. Mit dem wirtschaftlichen und sozialen Bedeutungsverlust der Landwirtschaft verlor auch der Landbesitz für das Prestige innerhalb der ländlichen Gesellschaft an Relevanz. Bis in die 1960er Jahre waren – wie in einigen westfälischen Gemeinden untersucht – (Groß-) Bauern in den kommunalpolitischen Gremien überproportional vertreten, was als Anzeichen für ihre Reputation gewertet werden kann, die sich kaum noch aus Arbeits- und anderen wirtschaftlichen Abhängigkeiten ableiten lässt.119 Landbesitz bot Möglichkeiten zur innerdörflichen Distinktion, wie sie an Bekundungen des sozialen Status, etwa durch einen zur Schau gestellten aufwändigeren materiellen Lebensstil, ein differenziertes Freizeitverhalten und eine demonstrative Feierkultur beobachtet werden kann.120 Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erfuhr der Landbesitz eine politische und ideologische Aufwertung, die sich zum einen aus der Agrarromantik als Gegenbewegung zur aufkommenden Industrialisierung, zum anderen aus seiner angenommenen Relevanz für die Erhaltung eines staatstreuen und ökonomisch stabilen bäuerlichen Standes speiste. Elemente dieser Neubewertung finden sich bis in die Gegenwart. So sollte mit der Siedlungspolitik seit dem Kaiserreich zur Stabilisierung eines für das Staatswesen als notwendig erachteten „gesunden Mittelstandes“ das bäuerliche Eigentum verstärkt werden. Hindenburgs Siedlungsversprechen von 1917 hatte eindeutig die Steigerung der Zuverlässigkeit der Weltkriegssoldaten im Blick. In den preußischen Ostprovinzen dienten die Siedlungspläne offensichtlich auch außenpolitischen und ethnopolitischen Zielen.121 Die ideologische Überhöhung der Bauern, wie sie in der 118 119 120 121
Monheim 1961, S. 90–94 ; Borcherdt 1985, S. 191. Exner 1997, S. 231, 260–264. Troßbach/Zimmermann 2006, S. 212. Henning 21988, S. 145,200 ; Kluge 2005, S. 10 ; Dix 2002, S. 71.
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„Blut-und-Boden“-Ideologie der Nationalsozialisten ihren Höhepunkt fand, wurde bereits von biologistischen und sozialdarwinistischen Schriftstellern vorbereitet, die aufgrund der Beobachtung, dass die ländliche Gesellschaft ihren Bevölkerungsüberschuss an die Städte abgebe, die Erhaltung des Bauernstandes als die oberste Aufgabe des Staates ansahen122, was wiederum nur durch die über Generationen andauernde Besitzkontinuität innerhalb bäuerlicher Familien gewährleistet werden könne.123 Im Erbhofgesetz, in dem die nach nationalsozialistischen Kriterien deutsche Abstammung des Hofbesitzers und dessen „ehrbares“ Verhalten als Voraussetzung für die Verfügungsgewalt über den Hofbesitz angesehen wurde, erfuhr diese Ideologie ihre konkrete Umsetzung.124 Die politischen Implikationen des Landbesitzes als stabilisierender Faktor wurden auch nach 1950 in der Bundesrepublik mit der Fixierung auf den „bäuerlichen Familienbetrieb“ in Abgrenzung zur Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR weiter verfolgt.
3.7 Bodennutzung 3.7.1 Rückgang der Agrarflächen
Von 1883 bis 2007 ging der Anteil der landwirtschaftlich genutzten Flächen an der Gesamtfläche von zwei Drittel auf weniger als die Hälfte zurück. Wenn auch dieser Vergleich aufgrund territorialer Veränderungen und der Modifikationen statistischer Erhebungen kaum zulässig ist, so zeigt er doch die Tendenzen der Bodennutzung deutlich an. Konkurrierender Bedarf durch Städte- und Siedlungsbau, Verkehrsnetze, Industrie- und Gewerbeanlagen, militärische Nutzungen sowie die Aufgabe ehemals landwirtschaftlicher Flächen aus Rentabilitätsgründen ließen die Agrarflächen kontinuierlich sinken. Der Verlust zwischen 1883 und 1913 betrug 2,2%. Durch die Gebietsabtretungen nach dem Ersten Weltkrieg verringerte sich die landwirtschaftliche Fläche um fünf Millionen auf knapp 30 Millionen Hektar, was um 1925 62,6% der Gesamtfläche entsprach. Vor allem wegen militärischer Ansprüche ging dieser Anteil bis in die Mitte der dreißiger Jahre trotz der Maßnahmen zur Landgewinnung auf 61% zurück. Die Nachkriegsentwicklung in der Bundesrepublik und der DDR verlief in unterschiedlicher Dynamik. Die Gebietsverluste im stärker agrarisch geprägten Osten reduzierten den Anteil landwirtschaftlicher Flächen ohnehin. So waren bereits um 1935 nur 59,6% des Gebietes der späteren Bundesrepublik agrarisch genutzt. Dieser Wert sank bis in die Mitte der fünfziger Jahre auf 58,3%, bis 1970 auf 55,1% und lag 1988 – jetzt allerdings ohne die nicht mehr genutzten, brachliegenden Agrarflächen – nur noch bei 48,7%. In der DDR verlief der Prozess der Flächenumnutzung deutlich langsamer. 60,7% der gesamten Flächen wurden 1950 agrarisch genutzt, 1980 58,4%, 1990 betrug der Anteil 122 Münkel 1996, S. 95–98. 123 Henning 21988, S. 212. 124 Münkel 1996, S. 115.
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Abb. 5 : Ackerflächen in Deutschland um 2000.
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immer noch 57,3%. Umso rapider war der Abbau nach der Wiedervereinigung. Bereits 1991 wurden nur noch 49,2% in den neuen Bundesländern als Agrarflächen erfasst, 48,1% in der gesamten Bundesrepublik. Der gleiche Anteil wurde 2007 gemessen, nachdem die Flächen bis in die Mitte der neunziger Jahre wieder leicht angewachsen waren, um dann in einem deutlich langsameren Tempo wieder abzunehmen.125 3.7.2 Acker-Grünland-Verhältnis
Das Verhältnis zwischen Ackerland und Dauergrünland als der beiden wichtigsten Nutzungsformen, neben denen Sonderkulturen wie Wein- und Obstanbau nur marginale Flächenanteile von ein bis zwei Prozent einnehmen, lässt sich über das 20. Jahrhundert in zwei Trends beschreiben. Bis Ende der sechziger Jahre ist ein kontinuierlicher Rückgang des Ackerlandanteils bei gleichzeitiger Ausweitung des Grünlandes zu beobachten. 1913 nahmen die Ackerflächen fast drei Viertel, die Dauergrünlandflächen knapp ein Viertel der landwirtschaftlichen Flächen ein. Bis 1944 wandelte sich dieses Verhältnis zu zwei Drittel Ackerland zu einem Drittel Grünland. Neben arbeitstechnischen Gründen – Grünland ist mit weniger Arbeitskräften und einer geringeren technischen Ausstattung zu bewirtschaften – hat diese Veränderung auch die zunehmende Konzentration auf Veredlungswirtschaft als Ursache. Das zeigt sich am fast doppelt so hohen und auch schneller wachsenden Anteil des Wiesenlandes im Vergleich zur Dauerweide. Dieser eher als Intensivierung denn als Extensivierung zu verstehende Prozess setzte sich im Westen auch nach dem Krieg fort. Von 56,9% im Jahr 1949 sank der Ackerlandanteil im Bundesgebiet auf den Tiefststand von 54,1% im Jahr 1967. Hier spiegelt sich wohl vor allem die Herausnahme von maschinell schlecht zu bearbeitenden und wenig ertragreichen Flächen aus der ackerbaulichen Nutzung wider. Der Anteil des Dauergrünlands blieb bei etwa 40%, wobei der Wiesenanteil gegenüber der Weide weiterhin zunahm. Die weitere Entwicklung war geprägt durch eine Stagnation der Ackerbauflächen und eine Reduzierung der Grünlandflächen. Zwischen 1979 und 1989 nahm die Wiesenfläche um 4,3%, die Weidenfläche um 18,1% ab. Der Rückgang der landwirtschaftlichen Flächen machte sich daher statistisch vor allem beim Grünland bemerkbar, während der Anteil der in absoluten Zahlen kaum veränderten Ackerflächen von etwa 55% in den späten sechziger Jahren auf 61,2% 1989 anstieg. Durch die höheren Durchschnittswerte der Ackerflächen in der DDR, die 1950 bei 77%, 1961 bei 75% lagen, wurde dieser Trend nach der Wiedervereinigung verstärkt. Der Anteil von zwei Drittel Ackerland 1990 wurde bis 2007 kontinuierlich auf 70% gesteigert, der des Grünlands fiel von 31% auf 28,7%, wobei hier vor allem die Halbierung der Weidenflächen auffällt.126 125 Statistisches Jahrbuch 1956, S. 5 ; Eckart 1998, S. 37, 133, 211, 277, 319, 351, 387 ; Statistisches Jahrbuch 2008, S. 2. 126 Brockstedt 1989, S. 80 ; Eckart 1998, S. 37, 153, 211, 277, 319 ; Angaben nach https://www-genesis. destatis.de/genesis/online, Stichwort Bodennutzung, 16.8.2011.
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3.7.3 Verschiebungen im Pflanzenbau
Intensivierungen in der ersten Jahrhunderthälfte Der Getreidebau als wichtigste Kulturart ging bis in die Mitte des Jahrhunderts von knapp zwei Drittel der Ackerflächen auf etwas mehr als die Hälfte zurück, während die mit Hackfrüchten und Futterpflanzen bebauten Flächen zunahmen. Innerhalb der Getreidebauflächen nahm Roggen mit knapp 40% bis in die vierziger Jahre die erste Stelle ein, gefolgt von Hafer mit etwa 30%. Ab etwa 1930 begannen Weizen und Gerste allerdings aufzuholen, um bis gegen Ende der fünfziger Jahre die Anbauflächen von Roggen und Hafer zu übertreffen. Dieser als Intensivierung des Getreidebaus zu verstehende Prozess, in dessen Folge anspruchsvollere Arten auch unter schlechteren natürlichen Bedingungen angebaut werden konnten, wurde durch Fortschritte in der Pflanzenzüchtung, der Bodenbearbeitung, der Düngung, des Pflanzenschutzes, aber auch der landwirtschaftlichen Ausbildung und Wissensvermittlung ermöglicht. Zieht man in Betracht, dass außer Hafer und Gerste auch ein großer Anteil der Hackfrüchte als Viehfutter diente, ein Zehntel der Flächen mit Futterpflanzen bebaut war und zudem der Zwischenfruchtbau an Bedeutung gewann, wird deutlich, dass die Verschiebungen im Anbau zu einem nicht geringen Teil mit Entwicklungen in der Viehwirtschaft zu erklären sind. Handelsgewächse wie Hanf und Flachs, Raps und Rübsen, die 1913 lediglich 0,4% der Ackerflächen einnahmen, wurden während des Ersten Weltkrieges verstärkt angebaut, um dann wieder an Bedeutung zu verlieren. Lediglich Raps wurde aufgrund einer Festpreisgarantie ab 1932 wieder konzentrierter kultiviert. Auch während des Zweiten Weltkrieges, teilweise auch schon vorher, betrieb man wieder planmäßig Hanfund Flachsanbau. Zuckerrübenkulturen waren wegen des auf dem Weltmarkt konkurrierenden Rohrzuckers 1932 begrenzt worden und wurden ebenfalls während des Krieges aus Versorgungsgründen wieder stärker ausgebaut.127 Die Wende nach 1950 Die Entwicklung in der Bundesrepublik nach 1950 ist als „anbaustrukturelle Wende“ bezeichnet worden. Der Wachstumstrend der Getreide- und Hackfruchtflächen kehrte sich um. Während bis in die Mitte der siebziger Jahre der Getreideanteil an den Ackerflächen auf 71% anstieg, um dann allerdings bis 1989 wieder auf 64% zurück zu fallen, sanken die mit Hackfrüchten bebauten Äcker kontinuierlich von einem Viertel um 1950 auf nur noch neun Prozent 1989. Um über 80% gingen die Kartoffelflächen zurück, nur noch ein Zehntel der Flächen wurde 1989 mit Futterrüben bepflanzt. Dieser massive Rückgang wurde auch nicht durch die Verdoppelung der Zuckerrübenflächen ausgeglichen, die 1950 knapp zehn Prozent, 1989 58% der Hackfruchtflächen ausmachten. Neben agrarpolitischen Weichenstellungen (so wirkte sich der günstige Zuckerpreis auf den Rübenanbau 127 Lehmann 1985, S. 616–619 ; Eckart 1998, S. 38, 40, 86–90, 133, 189.
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aus), Umstellungen in der Futterwirtschaft und veränderter Nachfrage aufgrund des stetig sinkenden Kartoffelkonsums sind gerade in den fünfziger und sechziger Jahren für diese Entwicklung Veränderungen in der Betriebsorganisation verantwortlich zu machen : Der höhere Mechanisierungsgrad der Kultivierung- und Erntearbeiten ließ den Getreidebau rentabler erscheinen als den arbeitsintensiven Hackfrüchtebau, so dass die zunehmende betriebliche Spezialisierung auf wenige Produkte eher zum Getreideanbau tendierte. Als Viehfutter spielten Hackfrüchte, auch wegen der arbeitsintensiven, in spezialisierten Großbeständen kaum mehr zu praktizierenden Zubereitung, eine immer geringere Rolle. Auch der Feldfutterbau, insbesondere von Klee und Gras, ging stark zurück. An ihre Stelle trat neben Kraft- und Mischfutter, Nebenerzeugnissen aus der Weiterverarbeitung landwirtschaftlicher Produkte und den Erträgen des ansteigenden Zwischenfruchtbaus vor allem der Silomais, dessen Kulturen sich verzwanzigfachten und 1989 fast 13% der gesamten Ackerflächen einnahmen. Die Steigerung der Flächen für Handelsgewächse ist fast ausschließlich auf die Verzehnfachung der Winterrapsflächen zurückzuführen. Die Zunahme der Getreideflächen ist vor allem eine Folge der Ausweitung der Futtergetreideäcker, wohingegen Brotgetreideflächen zwar bis 1960 ebenso anstiegen, dann aber kontinuierlich zurückgingen. Haferflächen konnten wegen des sinkenden Bedarfs an Pferdefutter in Folge der Motorisierung reduziert werden. Der Anstieg der Wintergerste von 130.000 Hektar auf über eine Million Hektar resultiert vor allem aus ihrer Nutzung als Futtergetreide.128 Pflanzenbau in der DDR In der DDR waren 1950 54% der Ackerflächen mit Getreide angebaut. Der sehr starke Roggenanteil von fast 48% sank in den folgenden Jahrzehnten nur langsam. Dass die Motorisierung in den 1950er Jahren noch nicht sehr weit fortgeschritten war, ist auch am nur langsamen Rückgang der Haferfelder zu erkennen. Weizen konnte seinen Anteil von 17,6% der Getreideflächen nicht halten und sank bis 1961 leicht ab, während der Anbau von Gerste und Menggetreide als Futtergetreidesorten verdoppelt wurde. In den sechziger Jahren wurde der Gerste-, aber auch der Weizenanbau weiter intensiviert, während die Roggenanteile sanken, so dass diese drei Sorten um 1970 etwa die gleichen Ackerflächen beanspruchten. Die siebziger Jahre brachten bis 1978 einen enormen Zuwachs des Gersteanbaus, der auch danach die dominierende Stellung innerhalb des Getreidesortimentes behielt. Das daran erkennbare Interesse an einer Steigerung der Futterproduktion zeigt sich auch am – im Vergleich zum Westen deutlich früheren – Siegeszug von Silomais auf den Feldern der DDR : Bereits in den fünfziger Jahren wurden dessen Flächen um das 17fache ausgeweitet. Der Hackfruchtbau wurde schon seit den fünfziger Jahren reduziert, selbst Zuckerrüben verloren – wenn auch in deutlich geringerem Ausmaß als Kartoffeln und Futterrüben – Anbauflächen. Bis zum Ende der achtziger Jahre ging der Kartoffelan128 Eckart 1998, S. 168, 212–214, 218, 278–280 ; Angaben nach https://www-genesis.destatis.de/genesis/online, Stichwort Anbaufläche, 16.8.2011.
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bau weiter zurück, während der Zuckerrübenbau nach einer leichten Steigerung in den siebziger und achtziger Jahren wieder auf dem Niveau von 1970 angekommen war.129 Nach 1990 : Mais, nachwachsende Rohstoffe und Energiepflanzen Die Entwicklung ab 1990 ist geprägt durch einen stagnierenden bis leicht zurück gehenden Getreidebau, eine Reduzierung des Hackfrüchtebaus um die Hälfte der Flächen, einen vor allem wegen der Ausweitung von Winterraps enormen Anstieg der Handelsgewächse und einen nicht ganz kontinuierlich ansteigenden Anbau von Silomais. Während im Getreidesektor Weizenflächen um fast ein Fünftel zunahmen, setzte sich die Reduzierung von Roggen- und Haferflächen fort. Auf einem Siebtel der Getreideflächen wurden 2005 Triticale, ein in den achtziger Jahren aus Weizen und Roggen gekreuztes Futtergetreide, und Körnermais inklusive des aus Teilen der Maisspindel und Maiskörnern zusammengesetzten Corn-Cob-Mix angebaut, 1990 hatte ihr Anteil zusammen erst vier Prozent betragen. Während der Futterrübenbau fast bedeutungslos wurde, reduzierte sich die Kartoffelanbaufläche 1990–2007 um die Hälfte, die der Zuckerrüben um ein Drittel.130 Erhebliche Bedeutung erlangten in den letzten Jahren die Flächenausweitungen für nachwachsende Rohstoffe und Energiepflanzen. Bereits 2003 wurden 835.500 Hektar, sieben Prozent des Ackerlandes, dafür genutzt, zu vier Fünftel für die Erzeugung von Rapsöl, bis 2007 stieg die Fläche auf über zwei Millionen Hektar an. Neben der weiteren Vergrößerung der Rapsfelder stand ein Drittel der Fläche für die Produktion von Energiepflanzen für die Biogasgewinnung, vor allem Silomais, aber auch Grünlandschnitt und andere Getreidearten, zur Verfügung. Diese Umdeutung von Ackerland von der Produktionsgrundlage für Nahrungsmittel zur Basis für Energieproduktion stellt einen in seinem quantitativen Potenzial derzeit noch nicht absehbaren qualitativen Einschnitt in der Bodennutzung dar.131 Regionale Fallbeispiele Die regionale Differenzierung und die teilweise unterschiedlichen Ursachen für die Veränderungen im Pflanzenbau sollen an drei Beispielen dargestellt werden : Baden und Württemberg, Westfalen und Mecklenburg bieten sich aufgrund ihrer sehr unterschiedlichen Agrarstruktur an. Baden und Württemberg In Baden und Württemberg wandelte sich das Verhältnis von Ackerland und Grünland in einem überdurchschnittlichen Tempo. Am Ende des 19. Jahrhunderts betrug der Ackeranteil 129 Eckart 1998, S. 319–321, 335 f., 351. 130 Angaben nach https://www-genesis.destatis.de/genesis/online, Stichwort Anbaufläche, 16.8.2011. 131 Statistisches Jahrbuch 2008, S. 90.
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70%. Bis in die dreißiger Jahre sank er auf 60%, bis vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges auf 55% ab. Nach dem Krieg setzte sich diese Entwicklung bis in die sechziger Jahre fort. In den Siebzigern stiegen die Flächen wieder an. 1982 wurde mit 53% wieder der Wert von 1960 erreicht, 2010 nahmen die Ackerflächen 59% der landwirtschaftlich genutzten Flächen ein. Die angesichts ihres Tempos als „Vergrünlandungsprozess“ charakterisierte Entwicklung in der ersten Jahrhunderthälfte nahm ihren Ausgang von den Mittelgebirgslagen, von wo aus sie auf benachbarte Räume ausgriff. Nur in den klimatisch günstiger gelegenen Regionen behielt der Ackerbau seine Stellung bei. Das ist auch mit der Betriebsgrößenstruktur zu erklären. Die größeren Betriebe der Anerbengebiete reagierten mit dem Ausbau der Milchwirtschaft auf zunehmende Schwierigkeiten bei der Vermarktung des Getreides, während die Kleinproduzenten einen Großteil der Ernte zur Eigenversorgung und zur Viehfütterung verbrauchten und insofern nicht so schnell umstellen mussten. Bis zum Ersten Weltkrieg nahm auch der Hackfruchtbau im Verhältnis zum Getreidebau zu, um dann allerdings nach 1918 auch an Gewicht zu verlieren. Im Getreidesortiment ist vor allem die Reduzierung des traditionell starken Dinkels zugunsten aller anderen Getreidearten festzustellen. Damit reagierten die Produzenten sowohl auf Veränderungen der Ernährungsgewohnheiten (etwa den zunehmenden Weizenkonsum) als auch der Marktnachfrage. Handelsgewächse wie Tabak und Hopfen, die gerade in der bevölkerungsreichen nordbadischen Gegend eine wichtige Rolle spielten, waren aufgrund ansteigender ausländischer Konkurrenz und wegen Arbeitskräftemangels rückläufig. Ebenfalls konkurrierende Produkte anderer Anbaugebiete, fehlende Arbeitskräfte, aber auch Schädlinge machten dem Weinbau zu schaffen. Eine erhöhte Nachfrage ließ die Weinbergsflächen in der zweiten Jahrhunderthälfte wieder ansteigen. Die Abnahme des Dauergrünlandes nach 1960 ist zum einen mit der Aufforstung schlechter oder schwer maschinell zu bearbeitender Flächen, andererseits mit dem Umbruch von Wiesen in Ackerland zu erklären. Die agrarpolitischen Rahmenbedingungen und die Steigerung der Arbeits- und Flächenproduktivität durch die Maschinisierung ließ die Getreideflächen seit den fünfziger Jahren wieder ansteigen, seit Ende der siebziger Jahre ist allerdings wieder ein leichter Rückgang zu beobachten. Während der Kartoffelanbau kontinuierlich zurückging, stiegen die Zuckerrübenflächen bis um 1980 auf das Doppelte an, um seit 1990 leicht abzusinken. Der nach einem enormen Zuwachs seit Ende der siebziger Jahre aufgrund der sich halbierenden Rinderhaltung rückläufige Anbau von Silomais wurde nach 2003, jetzt wegen der energetischen Nutzung, wieder umgekehrt. Bereits vor seiner Nutzung als Biokraftstoff wurde Winterraps durch die Entwicklung bitterstoffarmer Sorten seit den siebziger Jahren für die Nahrungsmittelindustrie attraktiv, was auch zur Verzehnfachung des Anbaus beitrug.132 132 Borcherdt 1985, S. 77–79, 115–121, 160–165, 206–213 ; Hartmann 7/2008, S. 40–42 ; Hartmann 3/2008, S. 35–38 ; Hartmann 2010, S. 41–43 ; http://www.statistik-bw.de/Landwirtschaft/Landes daten/LRt0702.asp, 15.8.2011 ; http://www.statistik-bw.de/SRDB/Tabelle.asp?H=Landwirtschaft& U=02&T=05025036&E=LA&R=LA, 15.8.2011.
Bodennutzung
Westfalen Auch in Westfalen nahm in der ersten Jahrhunderthälfte der Ackeranteil zugunsten des Grünlandes ab. Die Ausdehnung der Weideflächen stellte keinen Extensivierungsvorgang dar, sondern war Ausdruck der Intensivierung der Landwirtschaft durch eine steigende Viehwirtschaft. Neben Regionen wie dem Sauerland, in denen man die Weidewirtschaft aus klimatischen Gründen dem Ackerbau vorzog, wurde auch in stärker ackerbaulich geprägten Gegenden Ackerland zu Grünland umgewandelt. Auch auf den Ackerflächen lässt sich die Hinwendung zu einer verstärkten Veredelungswirtschaft erkennen. Lediglich etwa 40% der Ackerfläche war mit Getreide bebaut, knapp 46% nahmen Grünlandanteil und Futterbauflächen 1932 ein. Stellt man in Rechnung, dass etwa die Hälfte der Getreidefläche für Futtergetreide genutzt, ein Teil der Kartoffeln verfüttert wurde und 3,3% des Landes aus Ackerweide und Brache bestand, wird deutlich, dass der weitaus größte Teil der Agrarflächen der Viehhaltung diente. Besonders stark fiel die Reduzierung der Getreideflächen zugunsten des Futterbaus in stadtnahen Regionen aus.133 Hackfrüchte erfuhren ihre größte Ausweitung in den dreißiger und vierziger Jahren. Der Anbaustrukturwandel seit den fünfziger Jahren ist auch in Westfalen deutlich zu fassen. Erstmals dehnte sich der Getreidebau wieder aus, nachdem durch mit Flurbereinigungen verbundenen Wasserabsenkungen Grünland zu Ackerland umgewandelt werden konnte und durch zunehmenden Mähdreschereinsatz der Arbeitskräftemangel ausgeglichen werden konnte. Seit den fünfziger Jahren entwickelte sich der Kartoffelbau wegen veränderter Nachfrage und schwindender Bedeutung für die Schweinemast zurück. Fast bedeutungslos wurde in der zweiten Jahrhunderthälfte der bis in die fünfziger Jahre stetig zunehmende Futterrübenanbau. In den naturräumlich besseren Lagen wurde die Rindviehhaltung weitgehend aufgegeben und auf Schweinehaltung umgestellt, die wiederum stärkeres ackerbauliches Engagement verlangte.134 Dass die westfälische Landwirtschaft auch weiterhin in einem hohen Maße auf Viehwirtschaft spezialisiert blieb, zeigt sich an der weiteren Entwicklung der Bodennutzung. Seit den siebziger Jahren nahm der Getreidebau wieder zu. 53,5% der Getreideflächen wurden 2008 zum Anbau von Futtergetreide und Corn-Cob-Mix verwendet, 18,5% für Futterpflanzen, nur noch 2,3% für Hackfrüchte und 6,7% für Handelsgewächse. Unter den Futterpflanzen und Handelsgewächsen nahmen Winterraps und Silomais die je weitaus größten Flächenanteile ein. Deren seit 2001 deutlich steigende Flächen dürften auch hier mit ihrer Verwendung als Rohstoff- und Energiepflanzen zu erklären sein.135 133 Theine 1991, S. 221–233. 134 Albers 1999, S. 155–159 ; Niggemann 1990, S. 498–500. 135 Landesamt für Statistik und Datenbearbeitung NRW, Bodennutzung in Nordrhein-Westfalen 2001. Endgültiges Ergebnis, online abrufbar : https://webshop.it.nrw.de/gratis/C109%20200151.pdf, 15. 8.2011 ; Landesamt für Statistik und Datenbearbeitung NRW, Bodennutzung in Nordrhein-West falen 2001. Endgültiges Ergebnis 2008, online abrufbar : https://webshop.it.nrw.de/gratis/C119%20 200800.pdf, 15.8.2001.
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Boden
Mecklenburg In Mecklenburg war mit drei Viertel der landwirtschaftlichen Nutzflächen in den dreißiger Jahren ein überdurchschnittlicher Anteil dem Ackerbau gewidmet. Gleichwohl die Getreideflächen zwischen 1933 und 1943 um 16% zurückgingen und die der Hackfrüchte um 21,3% zunahmen, blieb Getreide die bei weitem dominierende Frucht. Der ackerbauliche Wandel in der Zeit des Nationalsozialismus war agrarpolitisch vorgegeben. Bis 1942 wurde der Kartoffelanbau um ein Viertel erweitert, um einen Ausgleich angesichts eines Verfütterungsverbotes für Roggen zu schaffen. Die Anbaufläche von Zuckerrüben wurde mehr als verdoppelt. Die Überreste der Zuckerrübenernte und der Zuckerproduktion verwertete man für Fütterungszwecke, die Pressrückstände der Rapsölproduktion als eiweißreiches Viehfutter. Der Anbau von Raps und Rübsen wurde aufgrund seiner flächenbezogen unerreicht hohen Fettausbeute stark forciert und stieg zwischen 1933 und 1943 von 161 Hektar auf 22.513 Hektar.136 Die Konzentration auf Ackerbau wurde auch im erweiterten Mecklenburg-Vorpommern der zweiten Jahrhunderthälfte beibehalten. Zwar sank der Ackerlandanteil bis 1970 auf 71%, während das Grünland 27% erreichte, in den folgenden Jahrzehnten kehrte sich dieser Trend aber wieder um, so dass im Jahr 2005 80% der landwirtschaftlich genutzten Flächen als Ackerland zur Verfügung standen und nur noch 19,9% als Grünland. Mit Ackeranteilen von 48% im Jahr 1960 und etwa 55% von 1980 bis heute dominiert weiterhin der Getreideanbau. Brotgetreide wurde und wird in höheren Anteilen als Futtergetreide angebaut, die Intensivierung des Getreidesortimentes führte zu einer kontinuierlichen Zunahme der Weizenfelder und einer bis 1990 rapide ansteigenden, dann aber rückläufigen Gersteproduktion, während der Rückgang von Roggen und Hafer in absoluten Zahlen allerdings vergleichsweise langsam vonstatten ging. Setzten sich im Jahrzehnt nach der Wende die langfristigen Tendenzen im gesamten Getreidebau – gleichwohl mit internen Umschichtungen – weiter fort, so gestaltete sich die Entwicklung bei Hackfrüchten, Ölfrüchten und Futterpflanzen umbruchartiger. Zwischen 1990 und 2000 sanken die Flächenanteile der Hackfrüchte von 11,9% auf 4,2% mit weiterhin rückläufiger Tendenz. Der Kartoffelanbau sank auf fast ein Fünftel seiner bereits seit 1960 ohnehin stark reduzierten Flächen, Zuckerrübenkulturen büßten fast die Hälfte ihrer Flächen ein. Wie im Westen ist der Anstieg der Ölfrüchte vor allem auf die Ausweitung des Winterrapses zurückzuführen, während der Einbruch der Futterpflanzen zwischen 1990 und 2000 dem Einbruch der Klee- und Grasflächen, aber auch des Silomaisanbaus um ein Drittel zuzuschreiben ist. Anders als im Westen hatte Silomais bereits um 1960 fast zehn Prozent der Ackerflächen eingenommen, war dann aber reduziert worden. Seit 2000 wird der Maisanbau wegen seiner Funktion für die Biogasgewinnung wieder forciert.137 136 Niemann 2000, S. 117–132. 137 Statistisches Jahrbuch Mecklenburg-Vorpommern 2007, S. 187 f., online abrufbar : http://www.statis
Bodennutzung
Natur- und wirtschaftsräumliche Bedingungen, Betriebsgrößenstrukturen, politische Vorgaben und Lenkungsinstrumente, Arbeitskräfteressourcen und Markteinflüsse wirkten sich in zeitlich und räumlich unterschiedlicher Intensität auf die Bodennutzung aus, die auch zu grundlegenden Umschichtungen, etwa sich abwechselnden Vergrünlandungsoder Vergetreidungsprozessen, führen konnten. Dennoch ist im regionalen Vergleich die Wirksamkeit langer Kontinuitätslinien auffällig, die schließlich auch in den Zwängen betrieblicher Spezialisierungen begründet waren. Die Entwicklung der Landwirtschaft als energetischer Rohstofflieferant markiert auch den Beginn einer in ihrer Entwicklung noch nicht vorhersehbaren neuen Phase der Bodennutzung.
tik-mv.de/cms2/STAM_prod/STAM/_downloads/Veroeffentlichungen/aeltere_Ausgaben_Jahr buch/Gesamtausgabe_%282007%29.pdf (Zugriff : 17.8.2011) ; Statistisches Amt MecklenburgVorpommern, Bodennutzung der Betriebe in Mecklenburg-Vorpommern 2009, online abrufbar : http://service.mvnet.de/statmv/daten_stam_berichte/e-bibointerth05/landwirtschaft/c-i__/c113__/ daten/c113-2009-00.pdf (Zugriff : 12.8.2011).
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4.1 Gebäude Von der Gründerzeit bis zum Ende der Weimarer Republik Der bekannte Bauboom der Gründerzeit war kein rein städtisches Phänomen. In etlichen ländlichen Regionen setzte im letzten Drittel des 19. Jahrhundert ein bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs andauernder Aufschwung ein, in dessen Folge ein großer Teil der bestehenden Bausubstanz durch Neubauten ersetzt wurde.1 Bereits in der Enquete des Vereins für Socialpolitik von 1882 wurde für einen Großteil der untersuchten Gebiete Bautätigkeit als ein Grund für Verschuldung angegeben, wobei mehrfach ausdrücklich auf die damit verbundenen Verbesserungen von Lebensstandard und landwirtschaftlicher Praxis hingewiesen wurde.2 Ursache dieser investiven Entwicklung waren die Erfordernisse der intensivierten Landwirtschaft. Für größere Ernteerträge und den steigenden Verbrauch von Viehfutter mussten zusätzliche Lagermöglichkeiten durch den Neubau oder die Erweiterung von Scheunen und Speichern geschaffen werden. Für die größeren Viehbestände waren mehr Stallungen notwendig. Andere, bislang für die überkommene landwirtschaftliche Praxis vorgehaltene Raumressourcen waren überflüssig geworden, etwa die große Diele, die angesichts des maschinellen Druschs nicht mehr gebraucht wurde. Stattdessen benötigte man Schuppen, in denen Göpel und andere Maschinen betrieben werden konnten. Höhere Einnahmen aus der Landwirtschaft und neue oder in neuen Verfahren industriell hergestellte Baumaterialien (Ziegelsteine, Dachpfannen, Dachpappe, Eisenträger, Gusseisenfenster, Zement) ermöglichten die Bauvorhaben.3 Wenn auch höhere, am städtisch-bürgerlichen Vorbild orientierte Wohnansprüche die Baulust zusätzlich reizten, standen die agrarwirtschaftlich motivierten Neu- und Umbauten deutlich im Vordergrund. Sowohl in fränkischen Dörfern als auch in den oldenburgischen Geestgebieten wurden wesentlich mehr Wirtschaftsgebäude als reine Wohngebäude errichtet.4 Die Verbindung zwischen Wohn- und Wirtschaftsgebäuden wurde vielerorts schrittweise aufgelöst, in Norddeutschland etwa durch zwischen Wohn- und Stallbereich gelagerte, als Wasch- oder Futterküchen genutzte Zwischenräume.5 Die völlige Trennung von Wohnund Wirtschaftsgebäuden blieb in Gegenden, in denen die Separierung von Wohnen und landwirtschaftlicher Arbeit nicht ohnehin Tradition war, allerdings nur einigen Oberschichtfamilien vorbehalten.6 Gleichwohl die neuen Formen landwirtschaftlichen Bauens 1 2 3 4 5 6
Schimek 1999, S. 171. Bäuerliche Zustände, passim. Dahms 1999, S. 126. May 2006, S. 88 ; Schimek 2004, S. 73–78. Fok 1999, S. 123 ; Schimek 1999, S. 191. Schimek 2006, S. 47.
Gebäude
Abb. 6 : Neubau eines Gehöftes in Linswege, Gemeinde Westerstede, 1909 : separates Wohnhaus mit Stallscheune in Gulfbauweise.
auch auf einen durch Fachausbildung von Bauhandwerkern und von jungen Landwirten basierenden Wissenszuwachs über bauliche Techniken und technische und räumliche Voraussetzungen für die Anwendung neuer agrarwirtschaftlicher Methoden zu erklären sind7, lässt sich etwa in Oldenburg beobachten, wie die neuen Anforderungen weniger durch innovative, aus der fachwissenschaftlichen Analyse hervorgegangene Bauformen, sondern durch die Übernahme traditioneller Gestaltungen erfüllt wurden. So wurde etwa das Modell des niederdeutschen Hallenhauses, dessen große Diele überflüssig geworden war, durch das in benachbarten Regionen seit Jahrhunderten verbreitete Gulfhaus ersetzt, dessen Aufteilung den neuen Erfordernissen der größeren Lagerkapazität bei erleichterten Arbeitsbedingungen besser entsprach.8 Der Bauboom erreichte auch kleinbäuerliche Produzenten, die dann allerdings oft – wie für die Magdeburger Börde belegt – zugunsten neuer Wirtschaftsgebäude im Wohnbereich nur kleine Verbesserungen und Renovierungen vornahmen.9 Der Erste Weltkrieg beendete diese Investitionswelle abrupt. Aufgrund der wirtschaftlichen Probleme der Nachkriegs- und der Inflationszeit wurde nach einem kurzen Wiederaufflackern der Baukonjunktur um 1920 erst in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre wieder in nennenswertem Umfang neu gebaut. Dabei können regionale Entwicklungen beobachtet werden, wie etwa in Oldenburg, wo die Bautätigkeit in den Geestgebieten 7 Ebenda, S. 38. 8 Schimek 1999, S. 183 f. 9 Rach 2006, S. 63.
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Abb. 7 : Die Vorgängerbauten vor 1909.
einherging mit einem Intensivierungsprozess der Landwirtschaft, während das geringere Wachstum in der bereits intensiv genutzten Marsch die dort eher stagnierenden Bauaktivitäten erklärt.10 Unterschiedliche Tendenzen in der NS-Zeit In der NS-Zeit lassen sich verschiedene Tendenzen beobachten. Zum einen wurde in der Fortführung bereits bestehender Trends weiter gebaut, in Nordwestdeutschland etwa Anlagen mit getrennten Wohn- und Wirtschaftsgebäuden, die teilweise mit Baustoffen regionaler Prägung gestaltet wurden und nur im Ornamentalen Anspielungen an die nun maßgebliche „Blut und Boden“-Ideologie erkennen lassen. Die dieser Ideologie entspringende Hochschätzung des Bauernhofs in seiner vorindustriellen Form bestimmte auf der Ebene der Planer und Architekten die Bemühungen um eine an regionale Traditionen angelehnte Gestaltung von neu zu errichtenden Bauten wesentlich mit. Auf der anderen Seite wurden den Bedürfnissen der modernisierten Landwirtschaft entsprechende Bauten gefordert, deren Errichtung zugleich auch die an anderen Stellen benötigten Ressourcen an Baumaterial und Arbeitskräften schonte. Musterhäuser und Mustersiedlungen wurden – anders als für die später eroberten Gebiete im Osten – für das „Altreich“ nur selten 10 Schimek 2004, S. 74–79.
Gebäude
geplant.11 Gründungen wie die so genannten „Erbhöfedörfer“ im hessischen Ried blieben eher die Ausnahme.12 Der Befund für den norddeutschen Landkreis Rotenburg, dass zwar in den dreißiger Jahren eine rege Bautätigkeit im Bereich landwirtschaftlicher Gehöfte zu beobachten ist, sich aber in der Gestaltung kaum Unterschiede zu den vorhergehenden und nachfolgenden Jahrzehnten erkennen lassen, dürfte auch auf andere Regionen zutreffen.13 Baustoffmangel infolge der Aufrüstung behinderte bereits ab 1937 das landwirtschaftliche Bauwesen. Mit Kriegsbeginn wurde alle „nicht kriegswichtigen Neubauten“ verboten. Nur dringend nötige Ersatzbauten, etwa nach Umsiedelungsmaßnahmen wegen militärischer Nutzung des alten Hofplatzes oder nach Kriegszerstörungen, durften zumindest bis 1943 noch realisiert werden.14 „Neubauernhöfe“, Mustersiedlungen und Massenställe in der SBZ/DDR Im Rahmen der Bodenreform in der SBZ gestaltete sich die Ausstattung der „Neubauern“ mit Wohn- und Wirtschaftsgebäuden als eines der dringendsten Probleme, dem die sowjetische Verwaltung 1947 mit einem Bauprogramm entgegentreten wollte. Bis Juni 1949 wurden 19.180 Wohnhäuser, 13.709 Ställe und 10.123 Scheunen gebaut. Noch 1950 hatte fast die Hälfte der Neubauernfamilien keine eigenen Gebäude. Mit dem nach der Gründung der DDR weitergeführten Bodenreformbauprogramm sollte dem entgegengewirkt werden. Aus Kostengründen wurde zunächst die Errichtung einfacher „Kernbauten“ bevorzugt, die aus einem Wohnraum mit Küche und einem Stall bestanden und später erweitert werden sollten. Mit dem Beginn der Kollektivierung 1952 wurden die Bauaktivitäten auf den Neubauernhöfen weitgehend eingestellt.15 Statt Einzelstellen wurden nun – im Sinne einer Angleichung der Lebensverhältnisse von Stadt und Land und der politisch gewollten Annäherung der Lebensbedingungen der landwirtschaftlichen Bevölkerung an die der Industriearbeiter – die Trennung von Wohnen und Arbeiten, der Bau separater moderner Wirtschaftsgebäude und die Errichtung mehrstöckiger Wohnblöcke propagiert. Die ländliche Bevölkerung sollte zunehmend in „Hauptorten“ als Siedlungszentren mit gut ausgebauter Infrastruktur konzentriert, kleine Dörfer sollten vernachlässigt und langfristig aufgegeben werden. Nur in einigen „sozialistischen Musterdörfern“, in denen öffentliche Gebäude einen Dorfplatz umstehen, Konsumkaufhäuser, Kulturhäuser und Schwesternstationen die umfassende Versorgung der in mehrgeschossigen Neubauten oder umgenutzter alter Bausubstanz in der Ortsmitte lebenden Einwohner gewährleisten und die Wirtschaftsgebäude am Siedlungsrand konzentriert werden sollten, wurden – 11 Spohn 2009, S. 17–25. 12 Heyl 1988. 13 Dörfler 2009, S. 205–224. 14 Spohn 2009, S. 25–28. 15 Schöne 2005, S. 62 f.; Meinicke 1993, S. 71–80.
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und selbst dort nur ansatzweise – die Utopien der Planer umgesetzt. Tatsächlich entstanden allerdings an vielen Orten neue, einfach konstruierte und schmucklose Wohnanlagen und vom Wohnbereich separierte Wirtschafts- und Verwaltungsgebäude für die LPG. Die Vernachlässigung der kleinen Dörfer in der Baugeschichte zeigt sich daran, dass die kleinsten Gemeinden den höchsten Anteil an schlechter Bausubstanz hatten, was die Abwanderung förderte. Umgekehrt ging in den großen Gemeinden mit einem höheren Anteil an modernen Wohnungen die individuelle Hauswirtschaft zurück, weil deren räumliche Voraussetzungen, etwa der Bau von Ställen, ganz fehlten oder nicht ausreichend waren.16 Der dörfliche Charakter der meisten Siedlungen wurde nicht verändert. So waren etwa im thüringischen Merxleben, Sitz der ersten LPG der DDR, bereits 1953 neue Stallanlagen, Wirtschafts- und Verwaltungsgebäude sowie in den folgenden Jahren ein Gebäude, in dem die Gemeindeverwaltung, die Schule, die Post, eine Bücherei und eine Schwesternstation Platz fanden, ein Kindergarten, eine Kinderkrippe und ein Lehrlingswohnheim gebaut worden. Aber noch 1968 befanden sich 92% der Wohnhäuser im Eigentum ihrer Bewohner und existierten neben 134 Ein- und Zweifamilienhäusern nur vier Mehrfamilienhäuser, von denen zwei bereits im 19. Jahrhundert für Landarbeiter gebaut worden waren. In der gesamten DDR waren 1970 78% aller Wohnungen in den ländlichen Gemeinden im Privatbesitz.17 Abgesehen von einem Mehrfamilienhaus für Angestellte der MaschinenTraktor-Station wurden auch in Niederzimmern in den fünfziger und sechziger Jahren kaum Neubauten für Wohnzwecke errichtet. Die LPG-Bauten, 1959 ein nach sowjetischem Vorbild errichteter, aber bald den klimatischen Bedingungen angepasster „Rinderoffenstall“ für 36 Tiere, 1960 eine Schweinmastanlage für 2000 Tiere und 1969–1973 eine Schweinezuchtanlage für 12.000 Tiere, spiegeln die Entwicklung der Massentierhaltung wider. In den ersten Jahren nach der Kollektivierung nutzte man die alten Wirtschaftsgebäude der einzelnen Höfe für die individuelle Hauswirtschaft, aber auch für die genossenschaftliche Viehhaltung weiter.18 Gerade im Bereich der Tierproduktion ist zu erkennen, dass ehrgeizige Planungen nur zum Teil umgesetzt werden konnten. Zwar entstanden im Zuge der zunehmenden Konzentration spektakuläre moderne Stallanlagen mit Stellplätzen für viele tausend Tiere, aber noch in den frühen achtziger Jahren standen vier Fünftel des Großviehbestandes in kleineren älteren Ställen.19 Altbauten und Aussiedlerhöfe Im Westen erschwerten neben der Besitzzersplitterung vor allem in den Realteilungsgebieten enge Ortslagen ohne Möglichkeit zur Erweiterung und für die Belange der mechanisierten Landwirtschaft überalterte Wirtschaftsgebäude eine den neuen Anforderungen 16 Dix 2002, S. 397 f.; Heinz 2011, S. 443–467. 17 Schier 2001, S. 240–249 ; Zimmermann 2001, S. 341. 18 Humm 1999, S. 65–68. 19 Heinz 2011, S. 154–163.
Gebäude
Abb. 8 : Bau eines Neubauernhauses im Kreis Wanzleben, Sachsen-Anhalt.
Abb. 9 : Bau des „sozialistischen Musterdorfs“ Mestlin 1953.
entsprechende Betriebsführung. Von politischer Seite wurde die Lösung dieses Problems in der Aussiedlung leistungsfähiger Betriebe in die Gemarkungen bei gleichzeitiger Zusammenlegung von Feldern angesehen. Die seit den 1950er Jahren errichteten Aussiedlerhöfe sollten mit modernen Stalleinheiten, Lagerhallen, Maschinenunterständen und neuen Wohnvorstellungen entsprechenden Wohnhäusern die Bedürfnisse modernen Wirtschaftens erfüllen. Die staatliche Unterstützung der Aussiedlung durch günstige Kredite, Beratungs- und Planungshilfe führte zu einer schnellen Umsetzung der Pläne. So
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entstanden bis Ende 1966 in Baden-Württemberg 6035 Höfe außerhalb der Dörfer, über 24.000 Aussiedlungen wurden zwischen 1956 und 1985 in der Bundesrepublik vorgenommen. Das Aussiedlungstempo verlangsamte sich allerdings bereits in den sechziger Jahren. Die oft mit sehr viel Fremdkapital gebauten Höfe galten in ihrer Entstehungszeit als Vorzeigebetriebe, konnten dieses Attribut aber bei fehlender weiterer Modernisierung schnell wieder verlieren. Der Wegzug gerade der jüngeren Landwirtfamilien aus den Dörfern beschleunigte die Veränderungen im Zusammenleben landwirtschaftlicher und nichtlandwirtschaftlicher Bevölkerung.20 Dennoch stellen die Aussiedlerhöfe nur einen Bruchteil der landwirtschaftlichen Betriebe in der Bundesrepublik. Die Ausstattung des weitaus überwiegenden Teils ist von einer Mischung alter, teilweise umgenutzter und neuer Gebäude geprägt. Am Beispiel des ostwestfälischen Dorfs Löwendorf, dessen bauliche Veränderungen zwischen 1920 und 1977 detailliert dokumentiert wurden, lässt sich die bei allen regionalen Unterschieden vergleichbare Situation vieler landwirtschaftlicher Betriebe nachvollziehen. Außer zwei Aussiedlerhöfen, die zudem noch alte Scheunen mitnutzten, basierten alle Höfe (im Jahr 1977 dreizehn Vollerwerbs- und sieben Nebenerwerbsbetriebe) auf alter, aus der Zeit vor 1920 stammender Bausubstanz und erlebten im 20. Jahrhundert etliche Umbauten. Der Trend, Wohn- und Wirtschaftsbereich zu separieren, ist am Rückgang des Wohn-Stallhauses zu erkennen. Die zwischen 1905 und 1957 erbauten Scheunen verloren mit dem Einsatz von Mähdreschern ihre Bedeutung als Dreschscheunen und wurden 1977 als Abstellund Lagerräume für Maschinen und Düngemittel oder als Ställe genutzt. Die außer bei den kleinen Hofstellen separaten „Schweinehäuser“ mit Stallung und „Schweineküche“ zur Zubereitung der Futterkartoffeln, stammten aus der Zeit zwischen 1890 und 1920. Im Zuge der Spezialisierung wurden einige Ställe in den 1960er und 1970er Jahren in Boxenställe um- und neugebaut und verschwanden die nach der Umstellung auf Getreideund Kraftfutter überflüssig gewordenen Schweineküchen, die restlichen noch existierenden Ställe wurden für Lagerzwecke umfunktioniert. In den fünfziger und sechziger Jahren wurden in vielen der Betriebe Neubauten von Remisen und Schuppen als Abstellplätze für den wachsenden Maschinenbestand errichtet. Silos, in den dreißiger Jahren als Kartoffelsilos, ab den späten fünfziger Jahren mit staatlicher Hilfe als Grünfutter-Hochsilos gebaut, verloren schnell ihre Funktion und standen leer, von ihren Besitzern meist als Fehlinvestition eingeschätzt. Die stärksten Veränderungen erfuhren die Viehställe angesichts der Abschaffung der Pferde, der Spezialisierung auf Milchviehhaltung mit entsprechender Installierung von Melk- und Kühlanlagen oder auf Schweinehaltung mit entsprechenden Lauf- und Boxenställen.21 An diesen sukzessiven funktionalen Umwidmungen, Erweiterungen, Um- und Neubauten wird die Transformation auch klein- und mittelbäuerlicher Mischbetriebe hin zur Spezialisierung deutlich, deren teilweise retardiertes Tempo an der Abfolge der Bau- und Umbautätigkeit erkannt werden kann. Die Entscheidung der meis20 Mahlerwein 2007, S. 37–39 ; Henker 1992, S. 266 f. 21 Klocke 1980, S. 173–189.
Gebäude
Abb. 10 : Aussiedlerhof bei Gammelshausen, Landkreis Göppingen, Baden-Württemberg, 1969.
ten Landwirte, ihre Produktion nicht wie in den Aussiedlerhöfen abrupt zu modernisieren, führte auf lange Sicht auch aufgrund unzureichender baulicher Grundlagen zur Unrentabilität und so zur Aufgabe der Betriebe, ist zugleich jedoch als Risikominimierungsstrategie zu verstehen. Aufgrund der benötigten Größen, der Emissionen und der Beeinträchtigung des Wohnwertes für die Anlieger durch den laufenden Betrieb werden heute landwirtschaftliche Gebäude meist nur noch außerhalb von Wohngebieten errichtet. Im Fall von Stallanlagen für die Massenviehhaltung kommt es zunehmend zu Akzeptanzproblemen, die auf der Abscheu vor Geruchsbelästigungen, aber auch grundsätzlichen Bedenken gegen diese Form von Tierhaltung beruhen.22 Die Zahl der neu errichteten Betriebsgebäude ist seit Jahren bei allerdings ansteigender Durchschnittsgröße rückläufig. Wurden im Jahr 2000 9192 neue Gebäude errichtet, so waren es 2009 nur 7551, die Größe stieg aber von 3007 Kubikmeter auf 3976 Kubikmeter umbauten Raums an. In der Betriebsbilanz stehen die Gebäude mit etwa zehn Prozent des Anlagevermögens – mit allerdings weitem Abstand nach dem Boden – an zweiter Stelle.23 22 Gerlach/Spiller 2008, S. 489–501. 23 Statistisches Jahrbuch 2010, S. 71, 158, online unter : http://www.bmelv-statistik.de//fileadmin/sites/ 010_Jahrbuch/Stat_Jahrbuch_2010.pdf, 22.3.2012.
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4.2 Geräte und Maschinen Verhaltene Technisierung im Kaiserreich Als der Hunsrücker Bauer Peter Mayer nach Ausbezahlung seiner Geschwister 1888 den elterlichen Betrieb übernahm, standen ihm an Gerätschaften zur Verfügung : ein Wagen mit Ernteleiter, ein Vorder- und zwei Hinterpflüge, Eggen, ein Jauchefass, ein einachsiger „Schnappkarren“ und das Anspanngeschirr.24 Nichts an dieser Ausstattung deutet darauf hin, dass die Agrarmodernisierung des späten 19. Jahrhunderts, anders als die Intensivierung in der ersten Jahrhunderthälfte, auch wesentlich eine Folge verbesserter Arbeitsgeräte und eines verstärkten Maschineneinsatzes war. Wie der Hunsrücker Landwirt, dessen Betrieb mit fast zehn Hektar zu den größeren in seiner Umgebung zählte, so waren um 1880 auch viele andere Vertreter seines Berufsstandes kaum mit mehr Gerätschaften ausgestattet als ihre Vorgängergeneration. Geldmangel verhinderte in so unterschiedlichen Regionen wie dem Stuttgarter Umland, der unterfränkischen Rhön oder Mecklenburg-Schwerin die Anschaffung besserer Geräte. Während dies in der Stuttgarter Gegend nur für die – allerdings vorherrschenden – Kleinbesitzer zu gelten scheint, waren in der Rhön alle Produzenten gleichermaßen schlecht ausgestattet. In Mecklenburg-Schwerin war noch der alte „wendische Haken“ in Gebrauch, im ostpreußischen Regierungsbezirk Gumbinnen wurde gar mit der hölzernen Zoche gepflügt. Erst langsam verdrängten in Posen Ackergeräte aus Eisen ihre hölzernen Vorläufer.25 Der Gebrauch weiter entwickelter, bereits bekannter Ackergeräte, oft eben die Ersetzung hölzerner Geräte durch solche aus Eisen, war häufig der erste Schritt zu einer verbesserten Geräteausstattung : Verbesserte Pflüge, Eggen und Walzen waren verbreitet in Gebrauch. Landwirtschaftliche Maschinen, die Handarbeiten erleichterten oder ersetzten, setzten sich dagegen deutlich langsamer durch. Durch menschliche oder tierische Kraft angetriebene Maschinen zur Aussaat, Ernte, zum Drusch und zur Reinigung des Getreides, Sämaschinen für Hackfrüchte und Häcksel- und Schneidemaschinen für Viehfutter waren am Ende des 19. Jahrhunderts bei weitem noch nicht in allen Regionen und Betriebsgrößen vorzufinden. Nur 0,5% der Parzellenbetriebe und 3,8% der Kleinbetriebe verfügten 1882 über wenigstens eine dieser Maschinen, während in jedem fünften mittelbäuerlichen Betrieb, in fast jedem zweiten großbäuerlichen Betrieb und in vier Fünftel der Großbetriebe Arbeiten maschinell unterstützt wurden.26 Unter allen landwirtschaftlichen Arbeiten nahm das Dreschen des Getreides die meiste Zeit in Anspruch. So können 90 Arbeitstage für drei Drescher als Annäherungswert für den Drusch der Ernte von neun Hektar Getreide gelten.27 Die Anschaffung einer Dresch24 Bauer 2009, S. 361. 25 Heitz 1883, S. 229 ; Thüngen-Roßbach 1883, S. 178 ; Paasche 1883, S. 371 ; Stoeckel 1883, S. 331 ; Nathusius 1883, S. 35. 26 Brockstedt 1989, S. 104. 27 Achilles 1993, S. 246.
Geräte und Maschinen
maschine, entweder von Hand über eine Kurbel oder mit Pferden über ein Göpelwerk angetrieben, erschien daher selbst bäuerlichen Betrieben rentabel, die eher mit Familienarbeitskräften und Gesinde arbeiteten als mit saisonalen Lohnabeitern : 6,5% der mittelbäuerlichen und ein Drittel der großbäuerlichen Betriebe verfügten in Brandenburg im Jahr 1882 über diese Möglichkeit, mit elf bzw. 40% waren die Hand- und Göpeldreschmaschinen in den entsprechenden Größenklassen in badischen Betrieben zu finden. Die Nutzung der durch menschliche oder tierische Kraft angetriebenen Maschinen wurde auch fortgesetzt, als große Betriebe oder Genossenschaften zum Dampfdrusch übergingen. So wurde um 1880 aus Thüringen berichtet, es seien „viele Hunderte von Handdreschmaschinen“ in „den kleinsten Verhältnissen“ noch in Gebrauch und auch die Göpeldreschmaschine sei durch die in den größeren Betrieben gebräuchliche Dampfdreschmaschine nicht verschwunden.28 Andere Maschinen spielten in der bäuerlichen Landwirtschaft noch kaum eine Rolle. Nur ein verschwindend geringer Teil der Betriebe mit weniger als 100 Hektar arbeitete um 1880 mit Mähmaschinen, jeder zwanzigste der brandenburgischen und badischen großbäuerlichen Betriebe nutzte Sämaschinen.29 Stärker verbreitet waren Futterschneidmaschinen.30 Kann der Mechanisierungsgrad der bäuerlichen Betriebe also noch als sehr zurückhaltend und fast ausschließlich auf der technischen Übersetzung von menschlicher und tierischer Muskelkraft basierend charakterisiert werden, so unterschied sich die Technisierung der Großbetriebe durch den wesentlich höheren Anteil an Maschinen, die zu Sä- und Erntearbeiten genutzt wurden, und vor allem durch den verstärkten Einsatz der Dampfkraft. 51% der badischen, 59,4% der brandenburgischen und 68,2% der pommerschen Großbetriebe setzten Sämaschinen ein, ein Viertel bis ein Fünftel der Betriebe mähten mit Hilfe einer von Pferden gezogenen Maschine. Dass sich diese Zahlen mit steigender Betriebsgröße noch deutlich nach oben bewegen, zeigt das Beispiel Pommern. Weniger als die Hälfte der Betriebe von 100 bis 200 Hektar, aber mehr als 80% der Güter über 500 Hektar arbeiteten dort mit der Sämaschine.31 Die Nutzung der Dampfkraft stellt einen Einschnitt in der Agrargeschichte dar, da nun erstmals in größerem Ausmaß betriebsfremde Energie genutzt wurde. Der um die Jahrhundertmitte in England erfundene Dampfpflug spielte allerdings in der deutschen Landwirtschaft nur eine geringe Rolle. Die hohen Anschaffungskosten und der hohe Betriebsaufwand ließen seine Anwendung nur für sehr große Betriebe mit großen zusammenhängenden Flächen rentabel erscheinen. So ist der Dampfpflug 1882 in Pommern nur in einem Prozent der Betriebe zwischen 100 und 500 Hektar, in 7,2% der Betriebe zwischen 500 und 1.000 Hektar, aber in jedem fünften der Betriebe mit mehr als 1.000
28 Krauß 1997, S. 189 ; Rook 1994, S. 247 ; Franz 1883, S. 106. 29 Ebenda. 30 Bäuerliche Zustände, passim. 31 Buchsteiner 1993, S. 355.
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Hektar Nutzflächen im Maschinenbestand nachzuweisen.32 In Brandenburg pflügte lediglich 1,2% der Großbetriebe mit Dampfkraft, auf die Betriebe aller Größenklassen gerechnet ein Anteil von 0,01%.33 Im kleinen ehemaligen Fürstentum Halberstadt, Teil der preußischen Provinz Sachsen, konnten, wohl aufgrund der ausgeprägten Zuckerrübenkultur, zwölf Dampfpflüge von Lohnpflügern unterhalten werden.34 Deutlich mehr Verbreitung fand die Dreschmaschine mit Dampfantrieb. Es bestand hier allerdings – bedingt durch ein unterschiedliches Angebot an Arbeitskräften – ein West-Ost-Gefälle. Während in Baden 39% der Großbetriebe und sogar acht Prozent der großbäuerlichen Betriebe über eine Dampfdreschmaschine verfügten, stand sie in Brandenburg nur in jedem vierten, in Pommern nur in jedem fünften Großbetrieb.35 Die statistisch erfassten Bestandszahlen geben keine Auskunft darüber, wie viel Anteil der Flächen tatsächlich von Dampfpflügen kultiviert wurde oder wie groß der Teil der Ernte war, der mit Hilfe von Dampfkraft gedroschen wurde, zumal sich die von Lohnunternehmern oder genossenschaftlich angeschafften Maschinen bearbeiteten Flächen nicht quantifizieren lassen. Dass viele großbäuerliche Betriebe und sogar ein Fünftel der Großbetriebe um 1880 noch ohne Maschineneinsatz auskamen, war nicht vorrangig mit Vorbehalten gegen die Maschinisierung oder fehlenden Finanzmitteln zu erklären. Vielmehr stand das Angebot an Arbeitskräften der Rentabilität der Maschinen entgegen. Solange genügend Arbeitszeitkapazität zur Verfügung stand, musste die Verrichtung der Arbeiten per Hand als die sinnvollere Alternative erscheinen. So waren etwa in Thüringen genossenschaftlich angeschaffte Dreschmaschinen wieder aufgegeben worden, weil die ersparte Arbeitszeit kaum anders eingesetzt werden konnte.36 Bis 1907 nahm der Maschinenbestand erheblich zu. Die Zahl der Dreschmaschinen im Deutschen Reich stieg von 218.000 im Jahr 1882 auf eine knappe Million. Die stärksten, allerdings von einem deutlich niedrigeren Niveau ausgehenden prozentualen Zuwachsraten hatten Mähmaschinen (+ 1459%) und Sämaschinen (+ 750%), während die Zahl der Dampfpflüge sich zwar auch fast vervierfachte, aber mit 3000 Exemplaren nach wie vor doch noch sehr gering blieb.37 In Brandenburg verzehnfachte sich die Zahl der Betriebe, die Maschinen nutzten. Dass dort trotzdem nur ein Fünftel der Betriebe Arbeitsabläufe maschinisiert bewerkstelligten, ist mit dem großen Anteil der Kleinbetriebe zu erklären, von denen nur drei Prozent Maschinen verwendeten. Dahingegen nutzten zwei Drittel der mittleren Betriebe, 90% der großbäuerlichen Betriebe und fast alle Großbetriebe mindestens eine Maschine.38 Von den pommerschen Großbetrieben verfügte 1907 jeder über mindestens eine Sämaschine und zwei Mähmaschinen, eine durch Dampf oder 32 Ebenda. 33 Rook 1994, S. 247. 34 Gerland 1883, S. 138. 35 Rook 1994, S. 247 ; Buchsteiner 1993, S. 355 ; Krauß 1997, S. 189. 36 Heim 1883, S. 7. 37 Wehler 1995, S. 697. 38 Rook 1994, S. 247.
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Göpel angetriebene Dreschmaschine und jeder zweite über eine Drillmaschine.39 Bei den badischen und württembergischen Parzellenbetrieben blieb der Maschineneinsatz verschwindend gering. In den Klein- und Mittelbetrieben wurde nur langsam maschinisiert, während in fast allen Betrieben über 20 Hektar Maschinen den Drusch erledigten und 60 bis 70% dieser Betriebe eine Mähmaschine verwendeten. Sämaschinen in größerer Zahl wurden nur von Großbetrieben genutzt.40 Als erster wesentlicher Faktor für die zunehmende, wenngleich langsame Technisierung der landwirtschaftlichen Arbeit wird der insbesondere in den nord- und ostdeutschen Regionen wegen industrieller Lohnkonkurrenz steigende Arbeitskräftemangel genannt.41 Die umgekehrte Annahme, der Einsatz von Maschinen hätte Arbeitsgelegenheiten reduziert und so zur Abwanderung aus der Landwirtschaft geführt, lässt sich allerdings nicht belegen. So war die Abwanderungsrate in den Regionen mit der höchsten Quote an Dampfdreschmaschinen (Hessen, Braunschweig, Franken, Teile von Westfalen und Hannover) nicht auffallend hoch. Vielmehr scheint der Maschineneinsatz zwar den Zeitaufwand von Arbeitsvorgängen verkürzt zu haben, die freigesetzte Arbeitszeit gerade in den großen, mehr Maschinen nutzenden Betrieben aber zur Intensivierung der Produktion genutzt worden zu sein.42 Dennoch dürfte auch – als zweiter wesentlicher Faktor – der zunehmende Konkurrenzdruck durch Getreideimporte für größere Betriebe Anlass gewesen sein, durch den Einsatz von Maschinen kostengünstiger zu produzieren. Sinkende Maschinenpreise, zwischen 1870 und 1900 um etwa die Hälfte, erleichterten die Anschaffungsentscheidung. Trotz deutlich steigender Produktionszahlen der deutschen Landmaschinenindustrie wurde ein großer Anteil aus England importiert. So lieferten die englischen Landmaschinenhersteller noch 1913 etwa ein Drittel ihrer Produktion nach Deutschland.43 Eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung der Maschinen spielte ihre Propagierung durch landwirtschaftliche Vereine und Verbände, Landwirtschaftskammern, Landwirtschaftslehrer, ihre Präsentation auf landwirtschaftlichen Ausstellungen und in Fachzeitschriften.44 Neben der Frage der Rentabilität war vor dem Anschaffungsbeschluss auch die Frage der technischen Beherrschung der Maschinen zu klären. Wie generell bei der Diffusion von Innovationen beeinflusste daher das direkte Vorbild, die Nutzung von Maschinen durch Berufskollegen, die Kaufentscheidung. Bis zum Ersten Weltkrieg blieb der Einsatz anderer als menschlicher oder tierischer Energie als Antriebskraft überwiegend auf das Dreschen – und in geringem Ausmaß auf das Pflügen – beschränkt. Bei allen anderen Tätigkeiten wurde die Arbeitsleistung durch die Maschinen zwar transformiert und konnte man somit erhebliche Arbeitszeiteinspa39 Buchsteiner 1993, S. 160. 40 Krauß 1997, S. 191. 41 Buchsteiner 1993, S. 158 f.; Brockstedt 1989, S. 105 ; Rook 1994, S. 234. 42 Grant 2005, S. 247. 43 Wehler 1995, S. 697 ; Eckart 1998, S. 52. 44 Rook 1994, S. 238 ; Krauß 1997, S. 194.
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rungen oder Intensivierungen erreichen, der betriebsfremde Input blieb aber auf die Maschine selbst begrenzt. Erste Ansätze der Elektrifizierung oder Motorisierung der Arbeitsvorgänge sind vor 1914 noch wenig zum Tragen gekommen. Mechanisierung, Elektrifizierung und Motorisierung in der Weimarer Zeit Auch nach dem Ersten Weltkrieg behielt die tierische Antriebskraft im sich beschleunigenden Mechanisierungsprozess zunächst noch ihre Bedeutung bei. In der Getreideernte dominierten weiterhin gespanngezogene Mähmaschinen unterschiedlicher Ausstattung, unter anderen der aus den USA stammende, sich nach dem Krieg schnell verbreitende Mähbinder. 1925 waren in fast allen großbäuerlichen Betrieben Westfalens und selbst in vielen kleineren Betrieben solche Mähmaschinen vorhanden, 1933 wurden sie in über der Hälfte aller Betriebe gezählt. In Südwestdeutschland waren sie in den meisten mittel- und großbäuerlichen Betrieben zu finden.45 Auch die Dampfkraft verlor zwar an Bedeutung, aber gerade in den großen Gütern Mittel- und Ostdeutschlands blieben Dampfpflüge wegen ihrer Fähigkeit, tief zu pflügen, weiterhin im Einsatz.46 Gemessen an der Verbreitungsdichte kommt der Elektrifizierung die hervorgehobene Bedeutung im Mechanisierungsprozess der zwanziger und dreißiger Jahre zu. Zwei Drittel aller westfälischen Betriebe, ein Drittel der kleinbäuerlichen und zwei Drittel der mittelbäuerlichen Betriebe in Baden und Württemberg nutzten um 1925 einen Elektromotor. Bis 1933 waren viele Arbeiten in der Innenwirtschaft zu großen Teilen von elektrisch betriebenen Geräten übernommen worden. So wurden in vier Fünftel der badischen Betriebe Futterschneidmaschinen, Dreschmaschinen, Heu- und Garbenaufzüge, Jauchepumpen, Schrotmühlen und Milchzentrifugen elektrisch angetrieben. Melkmaschinen setzten sich allerdings nur allmählich durch. Hohe Anschaffungskosten, Reparaturanfälligkeit und Anwendungsprobleme verhinderten eine schnelle Verbreitung der 1910 erstmals auf einer Ausstellung der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft präsentierten Maschine.47 Ein einfacher Zahlenvergleich zeigt die noch geringe Bedeutung der Motorisierung der Zugkraft in der landwirtschaftlichen Mechanisierung : 82.051 Elektromotoren standen in Württemberg im Jahr 1925 104 Traktoren gegenüber, deren Zahl sich zwar bis 1933 versiebenfachte, während die der Elektromotoren nur um 50% anstieg, was aber dennoch auf die klare Vorreiterrolle der Elektrifizierung in der Weimarer Zeit verweist. Bei 1925 reichsweit 7000 und vier Jahre später 15.000 in der deutschen Land- und Forstwirtschaft gezählten Schleppern lässt sich allenfalls der Beginn eines Motorisierungsprozesses in den zwanziger Jahren konstatieren, dem aber in der agrarhistorischen Literatur, wohl wegen seiner Bedeutung in der zweiten Jahrhunderthälfte, höchste Aufmerksamkeit zukam. 45 Eckart 1998, S. 100 ; Theine 1991, S. 184 ; Albers 1999, S. 186 ; Borcherdt 1985, S. 157. 46 Nabert 1992, S. 74. 47 Theine 1991, S. 147, 192.
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Abb. 11 : Korndreschen mit der Dreschmaschine auf Gut Vellinghausen, Kreis Soest, um 1918.
Am Anfang der Motorisierung der Landwirtschaft standen nicht die Traktoren, sondern die Motorpflüge. Sie hatten gegenüber den Dampfpflügen den Vorteil, nicht an Seilwinden umständlich über das Feld gezogen werden zu müssen, sondern als Selbstfahrer auch auf kleineren Flächen eingesetzt werden zu können. Um 1920 wurden in Preußen circa 300 Motorpflüge gezählt, 1933 in ganz Deutschland 15.632, während die Zahl der Dampfpflüge auf 748 zurück gegangen war. Allerdings erschwerten technische Probleme, eine hohe Reparaturanfälligkeit und hohe Kosten ihre Durchsetzung, so dass sie auf die größeren Güter beschränkt blieben.48 Erst nach der Inflation und angeregt durch ein staatliches Kreditprogramm 1925, das auch Finanzierungsmodelle der Hersteller nach sich zog, schafften sich größere Landwirte in nennenswertem Ausmaß Motorpflüge und Traktoren an. Die bis zur Mitte der zwanziger Jahre entwickelten Schlepper hatten sich aufgrund ihrer noch nicht ausgereiften Technik und ihrer hohen Kosten kaum auf dem Markt behaupten können. Das änderte sich erst mit der Einfuhr des amerikanischen Fordson-Modells und der Preissenkung für deutsche Modelle, etwa des am Fließband produzierten Lanz-Bulldogs. Am Ende der Weima48 Theine 1991, S. 155 ; Nabert 1992, S. 74 ; Uekötter 2010, S. 278.
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rer Republik bewirtschaftete die Hälfte der Großbetriebe ihre Felder mit motorisierter Zugkraft. Auch großbäuerliche Betriebe bedienten sich der neuen Technik : von vier auf 17% war zwischen 1925 und 1933 der traktorfahrende Anteil der westfälischen Landwirte mit 50 bis 100 Hektar Nutzflächen angestiegen, aber nur von 0,4% auf ein Prozent in der Größenklasse 20 bis 50 Hektar. Unterhalb der 20 Hektar-Grenze ließ sich überhaupt kein Traktor nachweisen. Im vorwiegend durch kleinere und mittlere Betriebsgrößen dominierten Südwestdeutschland spielten Traktoren dementsprechend noch kaum eine Rolle. Die Frage, ab welcher Besitzgröße die Anschaffung eines Traktors als rentabel galt, wurde am Ende der zwanziger Jahre kontrovers diskutiert : Ob bereits ein 30-Hektar- oder erst ein 60-Hektar-Betrieb gewinnbringend mit Traktor wirtschaften konnte, war von der Entscheidung des Landwirts, gleichzeitig die tierische Zugkraft abzuschaffen oder wenigstens zu reduzieren, abhängig. Wurden die Pferde aus Prestigegründen oder emotionalen Motiven, aber auch weil sie als weniger „störungsanfällig“ galten, beibehalten, dann war die zusätzliche motorisierte Zugkraft ein kaum zu rechtfertigender Kostenfaktor, der nicht selten zur Überschuldung beitrug.49 Der Technisierungsprozess in der Landwirtschaft wurde in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren in unterschiedlicher Intensität von staatlicher Seite, den Verbänden, der Agrarpublizistik, den Agrarwissenschaften und nicht zuletzt der Landmaschinenindustrie gefördert. Bereits 1920 wurde ein „Ausschuss für Technik und Landwirtschaft“ am Landwirtschaftsministerium angesiedelt. Eine staatliche Kreditaktion 1925 schob nach der Inflation 1925 einen Investitionsboom an, der nicht nur der Landwirtschaft zugutekommen sollte, sondern auch der Industrie, für die der Binnenmarkt angesichts jährlicher Investitionssummen von 750 Millionen Reichsmark (1928) vorrangige Bedeutung erlangte. Mit entsprechendem Nachdruck engagierten sich die Landmaschinenhersteller mit Finanzierungsangeboten, Fortbildungskursen und dem Aufbau von Kundendienstnetzen für die Durchsetzung ihrer Produkte. Die Bemühungen von Staat und Industrie wurden von einer allgemeinen Technikbegeisterung in der Fachpublizistik begleitet, unter die sich nur selten skeptische Stimmen mischten. Verbände und Landwirtschaftskammern, für die die Verbesserung der Geräteausstattung von jeher ein wichtiges Thema war, verhielten sich in der Propagierung eines verstärkten Maschineneinsatzes in der Nachkriegs- und Inflationszeit eher zögernd, übernahmen dann aber Informations-, Schulungs- und Beratungsfunktionen. Selbst Organisationen wie der westfälische „Pächter- und Kleinbauernbund“ machten sich für einen vermehrten Maschineneinsatz stark.50 Für die landwirtschaftlichen Akteure bedeutete der Einsatz des motorisierten oder elektrischen Antriebs zweifelsohne einen deutlich stärkeren Einschnitt als die Mechanisierungsfortschritte auf der Basis traditioneller tierischer Zugkräfte oder menschlicher Muskelkraft. Die Nutzung der Dampfkraft beim Dreschen und Pflügen war meist durch Experten ermöglicht worden. Beim Einsatz von Motorpflügen und Traktoren sahen sich 49 Theine 1991, S. 155 f., 157–165 ; Nabert 1992, S. 74 ; Borcherdt 1985, S. 158 f. 50 Theine 1991, S. 146–156 ; Nabert 1992, S. 72 f.; Uekötter 2010, S. 290–294 ; Corni/Gies 1997, S. 308.
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die Landwirte nun anderen Anforderungen ausgesetzt, denen sie nicht immer gerecht wurden. So erklärt sich ein Teil der hohen Kosten mit vernachlässigter Pflege und Wartung und unsachgemäßer Unterstellung. Betriebsstörungen waren auch auf die noch hohe Anfälligkeit der frühen Traktoren zurückzuführen. Ausbildungskurse für Fahrer und Betriebsleiter bei den Herstellerfirmen, bei Lanz etwa ab 1930, und bei den „Deutschen Landkraftführerschulen Deulakraft“ in Zeesen bei Berlin ab 1927 konnten diese Defizite nur zum Teil beseitigen. Auch der Umgang mit den anderen Maschinen und Geräten für Innen- und Außenwirtschaft wurde über die Maschinenberatungsstellen von Landwirtschaftskammern und Verbänden bei Vorführungen demonstriert und unterrichtet. Mit Reparaturen waren die bislang für die Instandhaltung der Gerätschaften zuständigen Dorfhandwerker, allen voran die Schmiede, überfordert. Spezialisierte Werkstätten waren noch kaum vorhanden, so dass die Herstellerfirmen als Zwischenlösung mit dem Aufbau mobiler Kundendienste reagierten. In die Rentabilitätsrechnung der Traktoranschaffung muss einfließen, dass etwa die Hälfte der Anschaffungskosten zusätzlich für Reparaturen ausgegeben werden mussten.51 Die Frage der Rentabilität lässt sich daher nicht ohne Weiteres beantworten. Zieht man die Kosten des hohen Wartungsaufwands und des weiterhin beibehaltenen Zugviehbestandes in Betracht, dann dürfte sich die Anschaffung eines Traktors in vielen Fällen kaum gelohnt haben. Bereits zeitgenössische Beobachter erkannten allerdings einen anderen Rentabilitätsbegriff bei den bäuerlichen Produzenten : „Dem Bauern ist eine Maschine, die ihm seine Arbeit erleichtert oder verbessert, ‚rentabel‘, wenn er das Geld hat sie zu kaufen“, stellte 1934 der Berliner Landtechnik-Professor Carl Heinrich Dencker fest.52 Insofern lässt sich die forcierte Mechanisierung nicht allein auf die Abwanderung der Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft zurückführen. Zweifelsohne waren der Mangel an Arbeitskräften und somit steigende Arbeitslöhne besonders in großbetrieblich strukturierten Gebieten und in Regionen, die in der Nähe der Industriegebiete einem erhöhten Abwerbungsdruck aus dem sekundären Sektor unterlagen, wichtige Motive für die Anschaffung neuer Geräte. Wenn drei Arbeiter mit einer Hackmaschine in der Magdeburger Gegend an einem Tag eine so große Fläche bearbeiten konnten wie 120 mit der Hand hackende Frauen, dann fiel die Entscheidung nicht schwer. Im mehr bäuerlich geprägten Westfalen wurde dem wachsenden Arbeitskräftemangel ebenfalls mit der Motorisierung zu begegnen versucht, gleichzeitig stieg aber der Bedarf an Arbeitskräften wegen der mit der Maschinisierung verbundenen Produktionsintensivierung merklich an. In Südwestdeutschland konnte bis 1930 keine Verbindung zwischen einer verstärkten Mechanisierung und der Abwanderung landwirtschaftlicher Arbeitskräfte festgestellt werden. Vielmehr ist hier in den bereits stark industrialisierten Realteilungsgebieten eine verstärkte Investition in die Technisierung der überwiegend kleineren Betriebe zu beobachten, was 51 Theine 1991, S. 166 ; Theine 2001, S. 207–210 ; Uekötter 2010, S. 292–294. 52 Zitiert nach Uekötter 2010, S. 286.
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darauf hindeutet, dass Einkommen aus industrieller Arbeit die Anschaffung von landwirtschaftlichen Maschinen ermöglichte.53 Propaganda und Praxis in der NS-Zeit Trotz der Anti-Mechanisierungspropaganda der nationalsozialistischen „Blut-und-BodenIdeologie“, wonach Maschinen in der Landwirtschaft „unmenschlich und irreführend“ seien, wuchs der Gerätebestand auch in den Jahren bis zum Zweiten Weltkrieg kontinuierlich weiter. Die Anzahl der Traktoren nahm zwischen 1933 und 1939 um 185% zu, um 63% die der Hackmaschinen, um 50% die der Mähmaschinen. In den größeren Betrieben setzten sich von Traktoren gezogene Zapfwellenmähbinder durch, die gegenüber den gespanngezogenen Mähbindern zusammen mit modernen Stahldreschmaschinen und Ackerwägen mit Gummireifen erhebliche Zeitersparnis brachten. Selbst bei den südwestdeutschen Kleinbauernbetrieben ist ein deutlicher Anstieg der Geräteausstattung zu erkennen. Bis 1938 stiegen die jährlichen Investitionen in Landmaschinen um fast ein Viertel auf 988 Millionen an. Dennoch war die Zuwachsrate geringer als vor 1933, was aber kaum auf die maschinenfeindliche Propaganda zurückzuführen sein dürfte. Nach 1936 setzte sich vor dem Hintergrund der „Erzeugungsschlacht“ trotz teilweise gegenläufiger Diskussionen im Reichsnährstand die Überzeugung durch, dass ohne eine Steigerung des Maschinenbestandes eine Leistungssteigerung in der agrarischen Produktion kaum denkbar sei. Dennoch sahen sich mechanisierungsfreudige Landwirte vor einige Probleme gestellt. Zum einen waren die Höfe, die unter das Reichserbhofgesetz fielen, von der Kreditbeschaffung weitgehend abgeschnitten, da sie nicht belastet werden durften – gleichwohl die Anschaffung von Maschinen als Ausnahmegrund öfter akzeptiert wurde. Außerdem blieben die Einnahmen für landwirtschaftliche Produkte, die durch Festpreisregelungen vorgegeben waren, hinter den Ausgaben für Investitionsgüter, die bis 1937 keiner Preisbindung unterlagen, zurück, wodurch die landtechnische „Aufrüstung“ erschwert wurde.54 Nach Kriegsbeginn wäre eine verstärkte Ausstattung mit Maschinen notwendig gewesen, um die ausfallenden Arbeitskräfte zu kompensieren. Stattdessen wurde das Angebot beschränkt, 1939 die Zahl der Traktortypen von 62 auf 19 reduziert, außerdem wurden leichtere Maschinen gebaut, um Rohstoffe zu sparen. Der Bezug von Treib- und Schmierstoffen war wegen der Konkurrenz der Kriegsindustrie und vor allem des militärischen Bedarfs erschwert worden, zudem wurden Landmaschinen in besetzte Gebiete gebracht. Der Mangel an Ersatzteilen und neu angefertigten Geräten spiegelt sich in stark zurückgehenden Investitionssummen, die bis in das letzte Kriegsjahr fast vollständig gegen null gingen.55 53 Theine 1991, S. 168, 185 f., 192 ; Nabert 1992, S. 73 ; Borcherdt 1985, S. 159. 54 Borcherdt 1985, S. 158 ; Münkel 1996, S. 353 ; Corni/Gies 1997, S. 263, 307 ; Eckart 1998, S. 137 f. 55 Corni/Gies 1997, S. 427–432 ; Eckart 1998, S. 155.
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Traktoren, Mähdrescher, Melkmaschinen – die rasante Technisierung der Nachkriegszeit Dass die Entwicklung in den Jahrzehnten nach dem Krieg als „größter Intensivierungsschub in der Geschichte der Landwirtschaft“ bewertet wird, ist zu einem wesentlichen Teil der rasanten Beschleunigung des Mechanisierungsprozesses zuzuschreiben.56 Die Vollmechanisierung fast aller Arbeitsschritte innerhalb weniger Jahrzehnte veränderte die landwirtschaftliche Praxis grundlegend. Als Schlüsselinnovation kann die Durchsetzung des Traktors als Universalmaschine in allen Betriebstypen gesehen werden. Schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit bis 1949 stieg der Traktorbestand in Westfalen um das Dreifache. Zwischen 1949 und 1959 verzehnfachte sich die Schlepperzahl in der Bundesrepublik auf eine Dreiviertelmillion. Dabei fand der größte Zuwachs in den Betrieben zwischen fünf und zehn Hektar statt, deren Bestand um das 26-fache zunahm, während er bei den kleinbäuerlichen Betrieben unter fünf Hektar immerhin um das 20-fache anstieg. Bereits 1953 verfügte jeder fünfte Betrieb zwischen fünf und zehn Hektar in BadenWürttemberg über einen Traktor, ab der Mitte der sechziger Jahre waren fast alle mittelund großbäuerlichen und fast die Hälfte der kleinbäuerlichen Betriebe mit motorisierter Zugkraft ausgestattet. Die auf die Fläche bezogene Schlepperdichte war um 1960 in den kleinbetrieblichen strukturierten Regionen doppelt so hoch wie in den Gegenden mit mittel- und großbäuerlicher Dominanz. Wie bereits in der Zwischenkriegszeit in Ansätzen erkennbar, konnten gerade Kleinbetriebe mit einem zusätzlichen außerlandwirtschaftlichen Einkommen in die technische Ausstattung investieren, zum einen, weil sie eben kapitalkräftiger als manche mittelbäuerliche Existenzen waren, zum anderen, weil erst die Reduzierung der Arbeitszeit infolge der Anschaffung eines Traktors, vor allem auch der Wegfall der für Zugvieh notwendigen Stallhaltung, die Weiterführung einer agrarischen Tätigkeit neben der Arbeit in der Industrie ermöglichte. Warnungen von Fachpublizistik und Agrarpolitik vor einer Übermechanisierung oder einer „Treckeritis“ liefen daher ins Leere. Wenn auch die Motivation des Schlepperkaufs nicht immer streng betriebswirtschaftlich begründet werden konnte, verband sich mit der Anschaffung Zukunftsoptimismus und entwickelte sich der Traktor auf dem Hof zum Statussymbol, das zeigte, dass sein Besitzer am Fortschritt teilnahm.57 Dieser nun schnelle Umstieg auf motorisierte Zugkraft in allen Betriebstypen zeigt eine seit der Zwischenkriegszeit deutlich gewachsene Fähigkeit an, mit Technik umzugehen, die sicher mit Schulungen und Angeboten der staatlichen und verbandsorganisierten Fortbildung, noch mehr aber mit Einübungen in technische Abläufe der insgesamt stärker technisierten und motorisierten Gesellschaft zu erklären ist.58 Denkbar ist zudem, dass auch die im Krieg erworbenen technischen Fähigkeiten der ehemaligen Soldaten eine Rolle spielten.
56 Eckart 1998, S. 240. 57 Borcherdt 1985, S. 197 ; Eckart 1998, S. 239 ; Mahlerwein 2007, S. 32 f. 58 Uekötter 2010, S. 298.
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Die vollständige Mechanisierung der Getreideernte ab den 1950er Jahren setzte ein hohes Arbeitskräftepotenzial frei. Waren für die Aberntung und Drescharbeit eines Hektars Getreidefläche mit Selbstbinder und Dreschmaschine 110 Arbeitsstunden nötig, so konnte der Mähdrescher die gleiche Fläche in sieben Stunden bewältigen. Bereits 1937 wurde der erste traktorgezogene Mähdrescher eingesetzt, bis 1942 waren in Westdeutschland 1600 solcher Maschinen in Gebrauch. 1953 wurden 4000, 1960 32.000 Mähdrescher gezählt. Aufgrund der hohen Investitionskosten und der nur saisonalen Verwendbarkeit wurden viele Mähdrescher von Genossenschaften oder Lohnunternehmern für die überbetriebliche Nutzung angeschafft.59 In der Innenwirtschaft begann in den fünfziger Jahren der Siegeszug der Melkmaschinen. In Baden-Württemberg stieg ihre Zahl von 1949 bis 1960 von 423 auf 47.000 an, in der gesamten Bundesrepublik auf 291.000. Allerdings war das Melken von Hand in Betrieben bis zehn Hektar noch üblich, erst ab einem Bestand von mehr als fünf Kühen wagten die Landwirte die Investition. Durch die Verbindung mit baulichen Veränderungen konnte die Melkarbeit weiter rationalisiert werden, so dass bereits in den 1960er Jahren in so genannten Fischgrätmelkständen eine Person innerhalb kurzer Zeit eine große Menge an Kühen melken konnte.60 Weitere Erleichterungen der Stallarbeit wie mechanische Entmistungsanlagen waren noch größeren Betrieben vorbehalten. Gärfutterbehälter wurden bereits in den 1930er Jahren propagiert, so dass vor Kriegsbeginn bereits 350.000 Silos in 250.000 Betrieben standen. In den fünfziger Jahren wurde der Silostauraum allein in Baden-Württemberg um das Dreifache gesteigert.61 Um 1970 konnte die Landwirtschaft in vielen Regionen als vollmechanisiert gelten. Wenn auch manche Arbeitsgänge in der Mehrzahl der Betriebe noch manuell erledigt wurden – so wurde in Südwestdeutschland erst ein Bruchteil der Kartoffeln vollautomatisch geerntet –, standen doch Maschinen für fast alle Arbeiten zur Verfügung : Vollernter für Zuckerrüben, Kartoffeln und Heu, seit den späten siebziger Jahren auch für die Weinlese, Feldhäcksler und vieles mehr. Einige Maschinen, Traktoren, Ackerwägen, Pflüge, waren mittlerweile in vielen Betrieben in mehrfacher Zahl vorhanden. Die weitere Entwicklung in den siebziger und achtziger Jahren war vom Ausbau des Maschinenparks und vor allem von der Steigerung der Zugkraftleistung durch den Einsatz von Großschleppern geprägt.62 Die Mechanisierung der Landwirtschaft der DDR Die Mechanisierung der Landwirtschaft der DDR wurde dem agrarpolitischen Programm entsprechend in kollektiven Formen organisiert. Technikstationen, 1952 von „Maschi59 Borcherdt 1985, S. 188 f.; Eckart 1998, S. 138, 240 ; Albers 1999, S. 186–188 ; Uekötter 2010, S. 298. 60 Borcherdt 1985, S. 199 f..; Albers 1999, S. 190–192 ; Mahlerwein 2007, S. 33 ; Uekötter 2010, S. 298. 61 Borcherdt 1985, S. 199 f.; Eckart 1998, S. 154 ; Albers 1999, S. 189. 62 Borcherdt 1985, S. 199 f.; Uekötter 2010, S. 327.
Geräte und Maschinen
Abb. 12 : Kartoffelernte auf der Ostalb bei Neenstetten 1959.
nen-Ausleih-Stationen“ in „Maschinen-Traktor-Stationen“ (MTS) umbenannt, stellten in der Phase bis zur vollendeten Kollektivierung den Betrieben und neu gegründeten Produktionsgenossenschaften Geräte und technische Expertise zur Verfügung, parallel dazu wurden in den Volkseigenen Gütern umfangreiche Maschinenbestände aufgebaut.63 An der Entwicklung des Zugviehbestandes kann allerdings abgelesen werden, dass die Angebote der MTS vor allem den Genossenschaften zugutekamen. Während sich die Zahl der Pferde pro 100 Hektar Land bei den Privatbetrieben bis zum Ende der fünfziger Jahre kaum veränderte, reduzierte sie sich in den LPG bis 1959 um mehr als die Hälfte, was den Ersatz tierischer durch motorisierte Zugkraft eindeutig belegt. Die circa 25.000 Traktoren der selbstständig wirtschaftenden Bauern stammten überwiegend aus der Vorkriegszeit. Die knappe Verdoppelung der Traktoren auf 70.000 am Ende des Jahrzehnts ist fast ausschließlich auf den Ausbau des MTS-Bestandes zurückzuführen. Verglichen mit der Verelffachung des Traktorbestandes in der Bundesrepublik kann für die DDR der fünfziger Jahre noch kaum von einem vergleichbaren Tempo in der Motorisierung der Landwirtschaft gesprochen werden.64 Von agrarpolitischer Seite war das Problem der verschleppten Mechanisierung angesichts der Engpässe in der Lebensmittelversorgung frühzeitig angesprochen worden. So monierte der Präsident der Zentralverwaltung für die Landwirtschaft der SBZ, Edwin Hoernle, im Februar 1948, dass den 300.000 im Rahmen der Bodenreform neu geschaffenen Bauernstellen die Mittel für die Motorisierung fehlten. In den fünfziger Jahren wurden metallverarbeitende Betriebe auf die Produktion von Land63 Eckart 1998, S. 325. 64 Humm 1999, S. 123 f.
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maschinen umgestellt, um Angebotsdefizite auszugleichen. Schließlich wurde zu Beginn der 1960er Jahre in der Motorisierung eine Möglichkeit gesehen, die als Folge der Kollektivierung wahrgenommene nachlassende Arbeitsmotivation auszugleichen.65 Der entscheidende Durchbruch zur Motorisierung der Landwirtschaft fand in den sechziger Jahren statt. Die Zahl der Traktoren stieg bis 1970 auf mehr als das Doppelte an, die der Mähdrescher verdreifachte sich bis in die Mitte des Jahrzehnts, die in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts verstärkt eingesetzten Kartoffelerntemaschinen wurden am Ende der sechziger Jahre bereits auf Dreiviertel der Anbauflächen eingesetzt. Zwar blieb auch jetzt noch die Mechanisierungsdichte weit hinter der der Bundesrepublik zurück, allerdings sind die höhere PS-Zahl der Traktoren und die aufgrund der großflächigen Nutzung höhere Auslastung der Maschinen in Rechnung zu stellen.66 Auch dieser Maschinisierungsschub wurde agrarpolitisch gelenkt. 1963 hatte SED-Chef Ulbricht den „Übergang zu industriegemäßen Methoden in der Landwirtschaft“ angekündigt, der außer sozialpolitischen Implikationen einen verstärkten Einsatz von Maschinen auf großen, der maschinellen Bearbeitung angepassten Flächen beinhaltete. Versinnbildlicht wurde diese Vorstellung durch den auch propagandistisch im Sinne des „Fortschritts“ zu nutzenden Einsatz von zahlreichen gleichzeitig eine große Fläche aberntenden Mähdreschern.67 Nach dem Abschluss der Kollektivierung wurden den LPG die Maschinen aus den Maschinen-Traktor-Stationen zugewiesen. Einige der MTS wurden in Großwerkstätten für Landtechnik umgewandelt, aus denen dann in der Mitte der sechziger Jahre „Kreisbetriebe für Landtechnik“ gebildet wurden, die einerseits für die Funktionsfähigkeit der im Kreis vorhandenen Maschinen, andererseits für die Planung des Maschinenbedarfs zuständig waren.68 Allerdings blieb die Ausstattung weiterhin hinter dem Bedarf zurück, ein Umstand, der sich auch mit der 1971 vom Staatsratsvorsitzenden Honecker formulierten Erkenntnis, dass Produktionssteigerungen in der Landwirtschaft von einer weiteren „Zuführung moderner Produktionsmittel“ abhängig seien, nicht verbesserte. So wurden zwar zwischen 1970 und 1989 die in der Landwirtschaft eingesetzten Lastkraftwagen verdoppelt, die Zahl der Traktoren und Mähdrescher sank allerdings, weil alte, außer Betrieb genommene Maschinen nicht mehr im gleichen Maße ersetzt wurden. Das Investitionsvolumen in der Landwirtschaft sank von 14% des volkswirtschaftlichen Gesamtvolumens in den sechziger Jahren auf 8,5% in den Achtzigern. Ersatzteilemangel, veraltete Maschinen, schließlich der im Rahmen der Arbeitsteilung innerhalb der RGW-Staaten motivierte Export von Landmaschinen, obwohl die eigene Versorgung mit Agrartechnik nicht gewährleistet war, sorgten für Ausfälle in der landwirtschaftlichen Produktion. Daran änderte auch die nach 1981 verordnete höhere Bereitstellung von Traktoren und Mähdreschern kaum etwas. Bei den landwirtschaftlichen Akteuren sorgten diese Unzulänglich65 Schwarzer 1999, S. 63–65. 66 Humm 1999, S. 125. 67 Heinz 2011, S. 41 f., 56. 68 Eckart 1998, S. 339.
Geräte und Maschinen
Abb. 13 : Maschinen-Ausleih-Station in Sachsendorf, Kreis Lebus, Brandenburg 1949.
keiten für massive Verbitterung und zu informellen Lösungsversuchen wie der Hortung von Ersatzteilen in den LPG, Tauschgeschäften, Bestechungen, aber auch der Eigenproduktion von Ausstattungsgegenständen. Letztendlich trug die Wahrnehmung dieser Defizite zur grundlegend systemkritischen Auseinandersetzung mit der DDR-Agrarpolitik und der Planwirtschaft bei.69 Nach 1990 Die Transformation der DDR-Agrarwirtschaft in privatisierte, bei aller staatlichen Unterstützung den Zwängen des Agrarmarktes unterlegene Betriebe führte nach 1989 zur Ersetzung des alten Maschinenbestandes durch neue leistungskräftige Modelle. Nach 1992 ging der Umsatz der Landmaschinenindustrie in Ost und West bis zur Jahrtausendwende allerdings kontinuierlich zurück.70 Neue Chancen, aber auch neue Ansprüche an die in der Landwirtschaft Beschäftigten bringt heute der Einsatz von Computertechnologie, etwa in der Fütterung oder in der Düngeplanung.71
69 Heinz 2011, S. 288–311. 70 Eckart 1998, S. 407. 71 Rosskopf/Wagner 2003.
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4.3 Viehbestand Die Entwicklung des Viehbestandes im Kaiserreich Auch in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg hatte Viehbesitz innerhalb des agrarischen Systems noch mehrere Funktionen zu erfüllen : Vieh musste wegen seiner Zugkraft gehalten werden, war notwendig zur Erzeugung von Dünger und lieferte Fleisch, Milch, Eier und andere Produkte (Leder, Talg, Wolle, Federn etc.). Diese Multifunktionalität der Viehhaltung behielt für lange Zeit ihre Bedeutung bei, auch wenn bereits mit betriebsfremden Energieträgern und Pflanzennährstoffen in die vorher weitgehend geschlossenen Stoff- und Energiekreisläufe eingegriffen wurde.72 Wurden Pferde mehr oder weniger ausschließlich wegen ihrer starken Zugkraft gehalten, konnten Ochsen und Kühe, die als Spannvieh arbeiteten, auch als Fleisch- und Milchlieferanten genutzt werden, was insbesondere in Gegenden mit kleinteiliger Betriebsstruktur oder mit wenig Grünlandreserven praktiziert wurde.73 In vielen Regionen war die Betriebsgröße weiterhin leicht an der Wahl des Gespanns zu erkennen. Die nach seinen Zugtieren vorgenommene Charakterisierung eines Landwirts als „Pferde-, Ochsen- oder Kuhbauer“ implizierte in hohem Maße soziale Zuschreibungen. Deshalb war die Entscheidung mancher Bauern, Pferdegespanne zu halten, von der wirtschaftlichen Seite her nicht immer begründet.74 Der langfristige Trend der Erhöhung der Viehbestände setzte sich fort. War bereits im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts die viehwirtschaftliche Produktion, die sich nach dem Wert der Fleisch-, Milch- und Wollerzeugung bemisst, um fast die Hälfte gestiegen, so wuchs sie im letzten Viertel um 37% und von 1900 bis 1913 um weitere 28% an.75 In Großvieheinheiten pro 100 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche gerechnet, wuchs der Viehbestand in Deutschland 1873–1913 von 45 auf 62,5 an. Die Zahl der Pferde steigerte sich in diesem Zeitabschnitt um 36%, die Rindviehbestände um 33,1%, Schweine um 260,2%. Lediglich die Schafbestände sanken um 77,9%.76 Setzt man allerdings diese Zahlen in Zusammenhang mit der Bevölkerungsentwicklung, so bleibt nur die Entwicklung der Schweinehaltung im positiven Bereich : von 1873 bis 1913 stieg der Schweinebestand pro 1000 Einwohner von 171 auf 382, verringerte sich aber der Pferdebestand und der Rinderbestand bezogen auf die Einwohnerzahl deutlich.77 Das deutet darauf hin, dass die Entwicklung der Viehzucht zumindest teilweise mit der Bevölkerungsentwicklung – und somit der steigenden Nachfrage – nicht Schritt halten konnte. Als Ursache für den Aufschwung der Viehwirtschaft ist ein ineinander greifendes Faktorenbündel anzusehen.78 Die steigende Nachfrage nach tierischen Veredelungsproduk72 Krausmann 2006, S. 29 f. 73 Bäuerliche Zustände, passim. 74 Petersen 1883, S. 263. 75 Wehler 1995, S. 695. 76 Grant 2005, S. 229. 77 Eckart 1998, S. 49. 78 Brockstedt 1989, S. 100.
Viehbestand
ten infolge des Bevölkerungswachstums und der entstehenden Industriegesellschaft und die in der Folge steigenden Preise machte es für Agrarproduzenten attraktiv, die Viehhaltung auszubauen. Besonders wirksam wurde dieser Faktor in Regionen mit Anbindung an große Absatzmärkte. So lieferte die westfälische Landwirtschaft in die Industriereviere an Rhein und Ruhr.79 Voraussetzung für Umorientierungen hin zu einer verstärkten Viehzucht war die agrartechnische und agrarwissenschaftliche Entwicklung : der Ausbau der Grünlandwirtschaft, Ausweitung und Verbesserungen von Wiesen- und Weideflächen, verbesserte Zucht- und Fütterungsmethoden. Durch staatliche Institutionen und landwirtschaftliche Vereinigungen wurde die Viehzucht publizistisch – durch Zeitschriften, Vorträge, Schulungen – und praktisch – etwa durch die Bereitstellung oder Organisation von Zuchttieren – massiv unterstützt. In Regionen mit intensiver Viehzucht und erheblichem Zufütterungsbedarf wirkten sich fallende Getreidepreise und billige Getreideimporte positiv auf die Entwicklung aus. Der Ausbau der Viehwirtschaft und die Erhöhung des Futterpflanzenanteils in der ackerbaulichen Rotation bedingten sich gegenseitig. Ohne vermehrte Düngung war keine Erweiterung der alten getreideorientierten Anbaufolgen möglich. Waren diese Voraussetzungen in manchen Regionen bereits seit dem späten 18. Jahrhundert geschaffen worden, so hinkte die Entwicklung in anderen Gegenden noch deutlich hinterher. Dass zu wenig Futterbau betrieben wurde – und zum Teil die Sommerstallhaltung noch nicht eingeführt worden war –, beklagten die Berichterstatter der 1882er Enquete für so verschiedene Gebiete wie die preußische Provinz Posen, Mecklenburg-Schwerin oder Mittel- und Oberfranken.80 Im überwiegenden Teil der deutschen Agrarlandschaften hatten allerdings Wiesen- und Weidenbau sowie der Anbau von Futterpflanzen seit dem frühen 19. Jahrhundert bedeutend zugenommen. In Oldenburg wurden bereits in den 1870ern mehr Futterpflanzen als – zudem auch als Futter genutzte – Kartoffeln und Hackfrüchte angebaut, im Emsland verlagerte sich in den letzten Jahrzehnten das Schwergewicht der Ackerproduktion auf Grünlandwirtschaft und den Anbau von Futterpflanzen, in 37 badischen Gemeinden lag im Jahr 1880 der Flächenanteil von „Futterkräutern“ bei 18%, der von „Futterhackfrüchten“ bei 12,4% und auch ein Teil der auf 14% des Landes angebauten Kartoffeln dürfte verfüttert worden sein.81 Der wachsende Futterbedarf, 1883 bis 1913 stieg er um 82% an, konnte allerdings nicht allein aus der inländischen Produktion gedeckt werden. Insbesondere Gerstenimporte aus Russland ermöglichten die starke Zunahme der Schweinebestände.82 Die Agrarwissenschaft erkannte und unterstrich die Bedeutung stark eiweißhaltigen Futters als Leistungsfutter – in der Sprache der Zeit : „Meliorationsfutter“ –, das anders als das „Beharrungsfutter“ über die Bestandserhaltung hinaus zur Steigerung der Fleisch-, 79 Albers 1999, S. 166. 80 Nathusius 1883, S. 37 ; Eheberg 1883, S. 159 ; Paasche 1883, S. 370. 81 Brockstedt 1989, S. 93 ; Oltmer 1995, S. 73 f.; Buchenberger 1883, S. 239 f. 82 Achilles 1993, S. 363.
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Milch- und Wollproduktion eingesetzt wurde.83 Die „rationellen“ Landwirte des späten 18. und des 19. Jahrhunderts hatten diese Fütterung mit eiweißhaltiger Schlämpe, einem Abfallprodukt der Branntweinbrennerei, mit großem Erfolg bereits regional praktiziert. Im späten 19. Jahrhundert erfüllte vor allem Ölkuchen, als Pressrückstand bei der Ölherstellung gewonnen, diese Funktion. Der Einsatz von Kraftfuttermittel expandierte schnell in unterschiedlichsten Regionen und Produzentenschichten. Über die inländische Produktion hinaus wurden bis zum Ersten Weltkrieg 1,3 Millionen Tonnen Ölkuchen importiert.84 In der Oldenburgischen Geest verkaufte man Getreide, um den Erlös in Futter zu investieren, außer Ölkuchen Reismehl, Erdnuss- und Baumwollsamen sowie Fleischmehl.85 Für seinen Viehbestand von sechs Ochsen, drei Kühen, vier Rindern und zwei Kälbern kaufte der erwähnte Hunsrücker Bauer Peter Mayer 1908/09 monatlich ein bis zwei Zentner Lein- und Maismehl, Kleie und Ölkuchen.86 Wie in Oldenburg führte die Verringerung der kommunalen Nutzungen mancherorts nach der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem vorübergehenden Rückgang der Schweinebestände, da angesichts der fehlenden Möglichkeit der Wald- und Weidemast Angehörige der ländlichen Unterschicht die Schweinehaltung aufgeben mussten.87 Noch um 1880 wurden Schweine im Taunus nur von „Wohlhabenden“ gemästet, während in den Ställen der Armen vor allem Ziegen standen.88 In fast allen anderen deutschen Regionen hatte zu diesem Zeitpunkt die Schweinezucht schon einen außerordentlichen Aufschwung erlebt, der bis in die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg noch erheblich gesteigert wurde. 1873 wurden 7,1 Millionen Schweine im Deutschen Reich gezählt, 1913 25,6 Millionen.89 Das ist zum einen mit der Ausbildung von auf Schweinezucht spezialisierten Regionen in Norddeutschland zu erklären, die auf den wachsenden Fleischhunger der Städte und Industriezentren reagierten. In der Oldenburgischen Geest und im Oldenburgischen Münsterland entwickelte sich schnell eine intensive Schweinehaltung, die wie etwa im Amt Vechta frühzeitig eine im deutschen Vergleich bis heute ungebrochene Spitzenstellung einnahm.90 Bereits um die Jahrhundertwende entstanden Schweinemastbetriebe, die keine eigene Futterproduktion mehr praktizierten und als gewerblich geführte Betriebe ganz auf Zukauf und Futtermittelimporte angewiesen waren. Einzelne Betriebe konnten schon in modernisierten Stallanlagen mehr als 1000 Tiere halten.91 Zum anderen trug die Bedeutung der Schweinehaltung für die Selbstversorgung zu den stark steigenden Bestandszahlen bei : 1907 wurden bei Großbetrieben auf 100 Hektar landwirtschaftliche 83 Achilles 1993, S. 261, 265 f. 84 Achilles 1993, S. 266. 85 Mendel 1883, S. 50. 86 Bauer 2009, S. 371 f. 87 Brockstedt 1989, S. 96. 88 Schnapper-Arndt 1883, S. 154. 89 Grant 2005, S. 229. 90 Brockstedt 1989, S. 100. 91 Windhorst 1990, S. 440 ; Eckart 1998, S. 51.
Viehbestand
Nutzfläche 19,6 Schweine gezählt, bei Kleinbetrieben 94, bei Betriebsgrößen von weniger als zwei Hektar aber 253,2 Schweine.92 Nicht nur Parzellenbauern, sondern auch viele, selbst im städtischen/vorstädtischen Bereich lebende Arbeiter sicherten ihre Existenz mit der Haltung eines Schweins subsistenzwirtschaftlich ab. Den Ansprüchen von Schweinehaltern und Verbrauchern nach schnellwüchsigen, aber im Vergleich mit asiatischen oder englischen Rassen nicht sehr fettreichen, für die Stallhaltung geeigneten Schweinen kamen Züchtungen entgegen, die aus der Kreuzung von deutschen Landschweinen und aus der englischen Züchtung hervorgegangenen Edelschweinen, ihrerseits Resultat der Mischung alter englischer Landschweinrassen mit ostasiatischen Rassen, hervorgegangen waren. Der völligen Verdrängung regionaler Landschweinrassen wirkten Zuchtstationen entgegen. Generell scheint eine gewisse, wenn auch quantitativ nur gering wirksame Reserviertheit gegenüber den Einkreuzungen englischer Edelschweine eher im Süden Deutschlands bestanden zu haben, während die mehr auf intensive Schweinemast setzende norddeutsche Landwirtschaft, wohl hauptsächlich wegen deren schnelleren Wüchsigkeit, stärker die Zucht so genannter „halbenglischer“ und englischer Schweinerassen praktizierte.93 Der Anstieg der Rinderbestände 1873–1913 um ein Drittel auf 21 Millionen Tiere blieb zwar unter dem Niveau des Bevölkerungszuwachses in der gleichen Zeitspanne. Angesichts der Zunahme des Schlachtgewichts um durchschnittlich 25% und der Milchleistung um etwa 70% konnte die Versorgung mit Fleisch und Milch dennoch gesteigert werden.94 Voraussetzung waren züchterische Anstrengungen, die der dreifachen Funktion von Rindvieh, in klein- und mittelbäuerlichen Betrieben als Zugvieh, als Milch- und als Fleischlieferant, Spezialisierungen gegenüberstellten. In Regionen mit stärkerer klein- und mittelbäuerlicher Ausprägung versuchte man der multifunktionalen Bedeutung des Rindes auch weiterhin gerecht zu werden, etwa im Hunsrück, wo die Glan-Donnersberger Rasse als Zugtier gebraucht wurde, trotzdem gute Mastfähigkeit und eine gute Milchleistung aufwies.95 In den verstärkt milchproduzierenden Regionen in Norddeutschland orientierte sich die Züchtung an Milchleistung und Fettanteil der Milch, ohne die Fleischleistung ganz zu vernachlässigen, so dass bereits ein Konzentrationsprozess auf wenige Rassen wie das Schwarzbunte Niederungsrind sichtbar wird.96 In Bayern setzte sich das Höhenfleckvieh nach der Jahrhundertwende zunehmend gegen die hergebrachten Landrassen und Lokalschläge durch.97 Das Wirken von Züchtervereinigungen, Genossenschaften und ähnlichen Vereinen, die sich in dem Jahrzehnt um 1900 mehr als verfünffacht hatten und über Unterricht, Kontrolle und über aber die Haltung geeigneter Vatertiere 92 Achilles 1993, S. 269. 93 Haushofer 1963, S. 96–98 ; Achilles 1993, S. 267 f.; Jahrbuch für wissenschaftliche und praktische Tierzucht einschließlich der Züchtungsbiologie 3, 1908, S. LIX–LXII. 94 Grant 2005, S. 229 ; Henning 21988, S. 134. 95 Bauer 2009, S. 305. 96 Achilles 1993, S. 262. 97 Göbel 2008, S. 270.
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die Viehzucht voran bringen wollten, darf in seinem quantitativen Ausmaß nicht überschätzt werden. 1907 waren lediglich 9,7% aller Kühe von diesen Vereinigungen erfasst und „züchterisch betreut“.98 Auch lokale Befunde, wie zum oberbergischen Kreis Wipperfürth, wo 1907 darüber geklagt wurde, dass die auch als Zugtiere genutzten Rinder nur ein Drittel bis ein Viertel der Milchleistung der Kühe der Rheinebene brächten, zeigen die trotz verstärkter Züchtungsbemühungen noch sehr unterschiedliche regionale Situation an.99 Die Zahl der Pferde stieg in den vier Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg um mehr als ein Drittel auf 4,56 Millionen Tiere. Dieser Anstieg spiegelt allerdings keine rein agrarwirtschaftliche Entwicklung wider, sondern ist auch durch die Zunahme der militärisch genutzten Pferde und der in den Städten gehaltenen Zug- und Reitpferde verursacht.100 So ist der starke Zuwachs an Pferden in Baden und Württemberg bis um die Jahrhundertwende durch den erhöhten Bedarf in den gewerblich-industriellen Gebieten um Stuttgart, Mannheim, Heilbronn oder Pforzheim zu erklären. Nach 1900 verlangsamte sich die Wachstumsrate hier wegen des zunehmenden Einsatzes von Kraftfahrzeugen. In mittelbäuerlichen Betrieben ersetzten Pferdegespanne häufig die Zugkraft von Ochsen. Insbesondere der Einsatz neuartiger Maschinen wie Göpel, Mähmaschinen oder Heuwender erforderte Pferde- statt Rinderkraft. Während in den Anerbengebieten vorwiegend Pferde gehalten wurden, ging der Pferdebestand in den Kleinbetrieben der badischen und württembergischen Realteilungsgebiete deutlich zurück.101 Die Kosten für Futter, Stall, Schmied und Sattler konnten Kleinbesitzer für ein Arbeitspferd, das anders als Zugochsen und -kühe eben nur eine Funktion erfüllte, nicht aufbringen.102 Angesichts ihres Distinktionswertes kam der Pferdehaltung eine hohe Aufmerksamkeit zu : nicht nur, dass Pferde auch trotz zu geringer wirtschaftlicher Tragfähigkeit des Betriebes gehalten wurden, sondern ihrer Pflege wurde besondere Bedeutung zugemessen, ihre äußere Erscheinung durch aufwändiges Geschirr noch verstärkt. Der Pferdezucht widmeten sich nur wenige Betriebe in grünlandreichen Gebieten, etwa in SchleswigHolstein, Oldenburg, Hannover, Ostpreußen, aber auch in der badischen Rheinebene.103 Als Gründe für den massiven Rückgang der Schafzucht um 78% zwischen 1873 und 1913 von 25 auf 5,5 Millionen Tiere werden die Verdrängung angesichts zunehmender Rinderhaltung, die Abnahme von Weiden und Brachen und die Absatzschwierigkeiten aufgrund wachsender überseeischer Konkurrenz angeführt.104 Die Ziegenhaltung erlebte in industriell geprägten Regionen einen Aufschwung. Als „Kuh des kleinen Mannes“ half sie die Existenz von Fabrikarbeiterfamilien abzusichern. 98 Achilles 1993, S. 262 f. 99 Spilker 1986, S. 48. 100 Grant 2005, S. 229 ; Henning Landwirtschaft, S. 134. 101 Borcherdt 1985, S. 124 f. 102 Achilles 1993, S. 273. 103 Bäuerliche Zustände, passim. 104 Achilles 1993, S. 271 f.; Borcherdt 1985, S. 127 ; Buchsteiner 1993, S. 139.
Viehbestand
So stieg ihr Bestand in Baden 1870–1903 von 60.471 auf 110.811 Tiere an. Während im gesamten Großherzogtum auf einen Quadratkilometer 7,35 Ziegen gezählt wurden, waren es im Kreis Mannheim 29,94.105 Bei der Entwicklung der Viehzucht zeigen sich regional und betriebsgrößenbedingt deutliche Unterschiede. Wie bereits am Beispiel der Schweinebestände zu sehen war und auch an den Rinderbeständen eindeutig nachzuweisen ist, war der Viehbesitz bei kleineren Betrieben höher. Auf 100 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche bezogen hielten kleinbäuerliche Betriebe 1907 95,4 Rinder, mittelbäuerliche 75,5, großbäuerliche 56,9, Großbetriebe aber nur 33.106 Das erklärt sich teilweise aus der Betriebsorganisation. So wäre die Arbeitskraft der klein- und mittelbäuerlichen Familien ohne Rindviehhaltung nicht voll ausgenutzt worden, war die Haltung von mehr Schweinen im Winter für Bauern arbeitstechnisch günstig und eine Möglichkeit, einen Teil der Kartoffelernte im eigenen Betrieb rentabel einzusetzen, und machte der Viehverkauf einen unersetzlichen Teil der Betriebseinnahmen aus.107 Demgegenüber nahmen Großbetriebe die Chance zur Einkommenssteigerung über die Vermarktung von Veredelungsprodukten nur in geringerem Maß wahr. Zielt der Vorwurf, dass diese Betriebe die Umstellung auf mehr Viehwirtschaft versäumt hätten, gerade auch angesichts der Auseinandersetzungen um die Agrarzollpolitik, die durch Zollerhöhung für Getreideimporte die stärker auf Tierproduktion setzende Landwirtschaft gegenüber den Getreideanbauern benachteiligte, auf den ostelbischen Großgrundbesitz, so zeigen neuere Untersuchungen, dass etwa in Pommern der Viehbestand der Großbetriebe wesentlich stärker anwuchs als im Reichsdurchschnitt. Allerdings standen auch hier trotz des Anstiegs der Rinderzahlen zwischen 1882 und 1907 um 89% und der der Schweinebestände um 240% lediglich ein Drittel der Rinder und weniger als ein Fünftel der Schweine in Pommern in den Ställen der Großgrundbesitzer.108 Massiver Rückgang im Ersten Weltkrieg Der Erste Weltkrieg bedeutete für die Viehwirtschaft einen empfindlichen Einschnitt. Um den angesichts fehlender Futtermitteleinfuhren steigenden Verbrauch von Kartoffeln als Schweinefutter zugunsten der menschlichen Ernährung zu reduzieren, wurde 1915 die Zwangsschlachtung von Schweinen angeordnet. Der Rückgang des Bestandes von 25,5 Millionen Tieren im Jahr 1913 auf elf Millionen 1917 lässt sich allerdings nicht alleine mit dieser als „Schweinemord“ bezeichneten Aktion erklären, die zwei bis 2,5 Millionen Tiere über die üblichen Schlachtungen hinaus betroffen haben soll. Vielmehr scheint die Futtermittelknappheit die Produzenten auch zur Bestandreduzierung aus eigener Einsicht veranlasst zu haben. Im Vergleich zu den Schweinezahlen sanken die des Rinderbestandes 105 106 107 108
Geschäftsbericht des Großherzoglich Badischen Ministeriums des Innern, Teil 2, 1907, S. 13 f. Achilles 1993, S. 272 ; Grant 2005, S. 242. Achilles 1993, S. 259, 268 ; Bauer 2009, S. 283. Buchsteiner 1993, S. 139 f.
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in deutlich geringerem Maß, aufgrund des Futtermittelmangels aber gingen Milchleistung und Schlachtgewicht spürbar zurück. Der Pferdebestand litt unter den militärischen Ansprüchen. So verloren die südwestdeutschen Betriebe mehr als 40% ihrer Pferde. Die Zunahme von Schafen und Ziegen in den Kriegsjahren verweist auf deren Funktion für die Eigenversorgung.109 Wechselhafte Viehwirtschaft in der Weimarer Zeit Die Entwicklung der Viehwirtschaft in den Weimarer Jahren spiegelt mehr als je zuvor die konjunkturellen Wechsellagen der Zeit. Zu den stärksten Schwankungen kam es bei der Schweinehaltung, die zwar von 14 Millionen 1920 auf 24 Millionen 1933 gesteigert wurde, aber im zyklischen Wechsel immer wieder Einbrüche erlebte, da die Züchter in diesem Bereich am schnellsten auf preisliche Entwicklungen reagierten. Die intensive, in zunehmendem Maß auf betriebsfremden Futtermitteln basierende Schweinemast in Nordwestdeutschland wurde angesichts steigender Nachfrage weiter ausgebaut. In frühen Zentren der Veredelungswirtschaft wie im südoldenburgischen Kreis Vechta oder im westfälischen Minden-Ravensberg wurde um 1930 der Höchststand mit bis zu 400 Tieren pro 100 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche erreicht. In diesen Intensivregionen bewirkten auch durch Überangebot ausgelöste Preisrückgänge, die andernorts zu einer Reduzierung des Bestandes führten, keine Anpassungen, sondern stiegen die Zahlen kontinuierlich, um dann erst angesichts des Nachfragerückgangs und der zunehmenden Finanzierungsprobleme im Zusammenhang mit den Futtermittelimporten infolge der Weltwirtschaftskrise zu stagnieren oder zurückzugehen. Dass der Flächenbesatz im rheinisch-westfälischen Industriegebiet noch die Werte der auf Schweinezucht spezialisierten Kreise übertraf, zeigt die weiterhin praktizierte Schweinehaltung für den Eigenverbrauch in den Arbeiterhaushalten an. Auch in den Realteilungsgebieten Südwestdeutschlands diente die Schweinehaltung vorrangig der Eigenversorgung. 28% der 1925 in Baden gezählten Schweine standen in Ställen von kleinstbäuerlichen Betrieben, 60% in denen der Kleinbauern. Selten fanden sich mehr als ein bis zwei Tiere auf diesen Höfen.110 Die Zunahme des Rinderbestandes um fast drei Millionen Tiere zwischen 1919 und 1932 war zunächst durch eine aufgrund der starken Nachfrage nach Milchprodukten erweiterte Milchviehhaltung bedingt. Züchtungsanstrengungen, verbesserte Fütterung und vor allem die Ausweitung der Kontrolle über die Produktion ließen die Qualität und Quantität steigen. Die durchschnittliche Milchleistung pro Kuh und Jahr wurde im Jahrzehnt zwischen 1922 und 1932 um fast 50% auf 2400 Liter gesteigert. Dieser Durchschnittswert wurde auch bestimmt durch die deutlich niedrigere Leistung von als Milch- und Arbeitskühen genutzten und von nicht vom Kontrollwesen erfassten Tieren. Intensivbetriebe konnten bis zu 7000 Liter erreichen, der Durchschnitt der „Kontroll109 Borcherdt 1985, S. 166–168 ; Eckart 1998, S. 70 ; Huegel 2003, S. 104–106. 110 Theine 1991, S. 282–292 ; Borcherdt 1996, S. 169 ; Eckart 1998, S. 96 f.; Böckmann 2000, S. 72, 99 f.
Viehbestand
kühe“ in Westfalen lag 1931 bei 4234 Liter. Diese intensive Form der Milchwirtschaft wurde eher in großbäuerlich strukturierten Regionen praktiziert, die kleinbäuerlichen Betriebe konnten ihre geringere Produktion häufig aber über direkten Absatz zu höheren Preisen umsetzen.111 Der durch den Kriegseinsatz reduzierte Pferdebestand erholte sich bis 1924 wieder, begann dann aber aufgrund der zunehmenden Motorisierung – zunächst in den Städten, dann aber auch auf dem Land – abzusinken. Von 1927 bis 1930 wurden jährlich 100.000 Pferde weniger gezählt, danach verlangsamte sich der Rückgang.112 Die Ziegenhaltung ging von 4,5 Millionen 1920 auf 2,5 Millionen 1932 zurück. Dass sie aber etwa in den stärker industrialisierten Räumen Südwestdeutschlands noch lange auf einem hohen Stand blieb, zeigt ihre weiterhin gültige Bedeutung für die Subsistenzsicherung an. Die Schafhaltung war wegen infolge von Meliorationen reduzierter Weidemöglichkeiten und aufgrund der scharfen internationalen Konkurrenz ebenfalls rückläufig und erreichte um 1930 nur noch etwa die Hälfte ihres Standes vom Beginn des Jahrzehnts.113 Einen kräftigen Aufschwung erlebte die Hühnerwirtschaft, deren Bestandszahlen sich von 1925 bis 1930 fast verdoppelten. Neben dem Ausbau der Eierproduktion in kleinen Betrieben als Möglichkeit für konstante finanzielle Einnahmen standen bereits Konzen trationen wie in Betrieben im westfälischen Kreis Halle mit mehr als 200 Tieren. Erst die sinkenden Eierpreise nach 1930 stoppten diese Entwicklung.114 Viehwirtschaft im Nationalsozialismus Die aufgrund des massiven Futtermitteldefizits nur geringe Inlandproduktion von tierischen Fetten sahen die nationalsozialistischen Agrarpolitiker als eine der wesentlichen Schwachstellen der deutschen Agrarwirtschaft an, die es vordringlich zu beseitigen galt. Die Entwicklung des Viehbestands während des NS-Regimes ist daher in engem Zusammenhang mit politischen Vorgaben und Initiativen zu sehen.115 Ein aufgrund schlechter Ernten in der Anfangszeit des NS-Regimes zusätzlich steigender, aber nur schwer zu finanzierender Importbedarf für Futtermittel ließ die bereits durch die Weltwirtschaftskrise geschwächten Bestände in den Jahren 1934–1935 weiter zurückgehen, die Schweinezahl um fast zehn Prozent, die weniger flexiblen Rinderbestände um 2,5%. Danach setzte beim Rindvieh ein leichter Anstieg ein. Trotz aller Anstrengungen, die Milchwirtschaft wegen ihrer Bedeutung für die Fettversorgung der Bevölkerung zu verbessern, stagnierte die Milchleistung zwischen 1934 und 1938 bei etwa 111 112 113 114 115
Theine 1991, S. 263 f.; Eckart 1998, S. 96. Rauterberg 1935, S. 20 ; Eckart 1998, S. 99. Theine 1991, S. 292 ; Nabert 1992, S. 71 ; Borcherdt 1985, S. 168 ; Eckart 1998, S. 96. Theine 1991, S. 294–296 ; Eckart 1998, S. 99. Corni/Gies 1997, S. 309 f.
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Kapital
2500 Liter pro Jahr. Schaut man in die Aufzeichnungen der einzelnen Zuchtverbände, ist sogar ein deutlicher Rückgang zu konstatieren und werden zudem die Nord-Süd-Unterschiede offensichtlich : Um zwischen zwei und 13% sank die Milchleistung zwischen 1933 und 1939 bei den verschiedenen Rassengruppen ab. Während in Süddeutschland ein Durchschnitt zwischen 2500 und 3000 Liter pro Jahr erreicht wurde, lag er in Norddeutschland um fast 1500 Liter höher. Der mit Prämien und Wettbewerben unterstützten „Milcherzeugungsschlacht“ und angehobenen Erzeugerpreisen für Milch und Butter zum Trotz sank die Milchleistung in den Kriegsjahren weiterhin ab. Lediglich der Steigerung des Milchkuhbestands um 2,6% zwischen 1939 und 1944 (bei gleichzeitigem Rückgang des Rinderbestandes um zwei Prozent) ist daher der nur leichte Rückgang der gesamten Milchproduktion um zwei Millionen Tonnen bis 1944 zu verdanken. Die Maßnahmen zur Konzentration der Weiterverarbeitung in die Molkereien waren dagegen erfolgreicher. Wurden 1933 43,5% der Butter in den landwirtschaftlichen Betrieben selbst hergestellt, waren es 1943 nur noch 2,9%. Von 63 auf fast 80% nahm der Anteil der abgelieferten Milch zwischen 1939 und 1944 zu. Die Zurückdrängung der von den Erzeugern selbst verarbeiteten „Bauernmilch“ war nicht zuletzt durch die verschärften Bestimmungen nach Kriegsbeginn, etwa die Beschlagnahmung der Butterfässer und Zentrifugen, bedingt. Über Schwarzhandel dürfte allerdings ein gewisser Anteil der Produktion der offiziellen Kontrolle entzogen worden sein. So wurde am Beispiel des Landkreises Celle gezeigt, dass Geldstrafen wegen unerlaubter Selbstvermarktung von Butter und Käse nicht selten waren und sogar „Ortsbauernführer“ als lokale Vertreter des Regimes trafen.116 Angesichts der besseren Futterverwertung hatte die Milcherzeugung in der Rinderhaltung Vorrang vor der Fleischerzeugung. Daraus erklärt sich der Rückgang der Schlachtungen von im Inland gemästeten Rindern zwischen 1939 und 1944 um 41%, zusätzlich wurden allerdings jährlich zwischen 200.000 und 500.000 Tiere aus den besetzten Gebieten nach Deutschland geschafft.117 Unterlag die Schweinehaltung bereits vor dem Krieg größeren Schwankungen, so lässt sich der massive Rückgang um ein Drittel zwischen 1939 und 1943 mit der politisch gewollten und mittels Futtermittelkontingentierung und Preisgestaltung herbeigeführten Reduzierung der Fleischproduktion erklären.118 Die Schafhaltung wurde politisch gefördert, da die Tiere keine Nahrungskonkurrenten für die menschliche Ernährung darstellten und extensiv gehalten werden konnten. Zudem sollte der Anteil an „deutscher Wolle“ erhöht und das Potenzial der Fleischerzeugung genutzt werden. Die seit dem 19. Jahrhundert rückläufigen Bestandszahlen stiegen daher bis 1939 um ein Drittel, in den Kriegsjahren um ein weiteres Sechstel an.119 Die Hühnerhaltung nahm bis 1939 um nur zwei Pro116 Comberg 1984, S. 38 f., 44–61 ; Lehmann 1985, S. 629–633 ; Münkel 1996, S. 330–335 ; Corni/Gies 1997, S. 268, 482–484. 117 Lehmann 1985, S. 633. 118 Corni/Gies 1997, S. 485–487. 119 Corni/Gies 1997, S. 487 ; Comberg 1984, S. 28 ; Niemann 2000, S. 174–178.
Viehbestand
zent auf knapp 90 Millionen Tiere zu, wobei sich der Anteil von Legehennen von 72% auf 55% verringerte. Bis 1943 wurde die Hühneranzahl, wegen der Verfütterung von Getreide auch auf staatlichen Druck, um ein Drittel reduziert. Der Anstieg der Kleintierzucht zur Selbstversorgung, insbesondere der während des Krieges gerade von nicht-landwirtschaftlichen Betrieben mehr als verdreifachten Kaninchenhaltung, aber auch die Haltung von Enten und Gänsen, wurde von politischer Seite als Futtermittelverschwendung kritisch bewertet, Anfang 1945 ganz verboten.120 Trotz aller Autarkiebestrebungen und Produktionssteigerungsprogramme konnte die Viehwirtschaft bis 1939 kaum gesteigert werden und war teilweise sogar rückläufig. Ein Mangel an spezialisierten Arbeitskräften und eine gegenüber den Getreidepreisen weiterhin nachteilige Preisgestaltung für tierische Produkte werden als Gründe für diese Entwicklung genannt, es dürften aber auch die Einschränkungen betrieblicher Entscheidungsfreiheiten eine Rolle gespielt haben.121 Aufschwung in der Nachkriegszeit Der kriegs- und nachkriegsbedingte Rückgang der Viehbestände hielt in den westlichen Besatzungszonen bis 1948 an. Um sieben Prozent hatte zwischen 1943 und 1946 der Rinder- und der Milchkühebestand abgenommen, um 28% der der Schweine. Erst durch Futtermitteleinfuhren, die von den Besatzungsmächten organisiert wurden, konnte dieser Trend gewendet werden.122 In den folgenden Jahrzehnten erlebte die Viehhaltung nachfragebedingt und agrarpolitisch forciert einen bis dahin beispiellosen Aufschwung. Bereits in den frühen siebziger Jahren waren vier Fünftel der in der Bundesrepublik erzeugten Nahrungsmittel tierischer Herkunft und basierten fast drei Viertel der landwirtschaftlichen Wertschöpfung auf tierischen Produkten.123 Die forcierte Motorisierung der Landwirtschaft ließ die Zahl der Pferde rapide absinken. Schon in der Mitte der fünfziger Jahre war der Bestand gegenüber der Vorkriegszeit um 29% gesunken. Um 1970 wurde in 136.000 Betrieben mit einer viertel Million Pferde nur noch ein Sechstel des Bestandes von 1950 gezählt. Ebenfalls starke Einbußen erlebte die Schafhaltung, deren langfristiger Abwärtstrend sich nun wieder fortsetzte. Der Bestand wurde von 1950 bis in die Mitte der sechziger Jahre um die Hälfte auf eine Viertelmillion Tiere reduziert. Er stieg allerdings bis Ende der achtziger Jahre wieder aufgrund der erhöhten Nachfrage insbesondere von türkischen Arbeitsmigranten wieder auf 1,5 Millionen an. Der stärkste Rückgang ist in der Ziegenhaltung, meist Zeichen für subsistenzwirtschaftliche Orientierung der Besitzer, zu beobachten : Ihre Zahl
120 121 122 123
Lehmann 1985, S. 640 ; Corni/Gies 1997, S.488 f. Corni/Gies 1997, S. 312 f.; Kluge 2005, S. 30 f. Eckart 1998, S. 171. Brandkamp/Hilgenstock 1973, S. 65.
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sank von 1,3 Millionen 1950 auf 50.000 im Jahr 1970 ab.124 Einen erheblichen Anstieg hatte die Schweinehaltung zu verzeichnen. Die von den Besatzungsmächten initiierte, als „Schweinemastaktion“ deklarierte Zufuhr einer halben Million Tonnen Futtergetreide hatte den Bestand in der amerikanischen und der britischen Besatzungszone zwischen 1947 und 1949 von 4,9 auf 8,7 Millionen Tiere hochschnellen lassen, 1950 wurden bundesweit 11,9, 1960 15,8 und 1970 21 Millionen Tiere gezählt. Diese Bestandsverdoppelung ging mit einer Reduzierung der Halter um mehr als die Hälfte auf eine Million im Jahr 1970 einher, was eine Vervierfachung der Bestände pro Halter bedeutete. Dass die regional bereits sehr ausgeprägte Besitzkonzentration statistisch nicht noch stärker wahrzunehmen ist, erklärt sich aus der noch lange Zeit weiter betriebenen Schweinehaltung der Klein- und Nebenerwerbsbetriebe. Zwei Drittel der bundesdeutschen Schweine standen um 1960 noch in Beständen mit weniger als zehn Tieren. Um 1970 hielten mit entsprechend geringen Bestandszahlen 63,2% der kleinbäuerlichen Betriebe, 41,4% der Betriebe zwischen ein und zwei Hektar und immer noch 15,3% der Betriebe mit weniger als einem Hektar Nutzflächen Schweine.125 Noch um 1950 hatte in jedem zweiten der nordbadischen Parzellenbetriebe in der Umgebung von Mannheim ein Schwein im Stall gestanden, das zumindest teilweise von den Küchenabfällen der nichtlandwirtschaftlichen Haushalte der Nachbarschaft gefüttert wurde. Im Saarland, einer anderen Region mit einem hohen Anteil an Arbeiterbauern, lässt sich beobachten, dass mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre diese Form selbstversorgungsorientierter Tierhaltung zunehmend aufgegeben wurde.126 Im klein- und mittelbäuerlichen Bereich wurden Schweine zur Eigenversorgung und zur Vermarktung gezogen. Das Beispiel westfälischer Nebenerwerbsbetriebe aus der Mitte der fünfziger Jahre, die bei einem Schweinebestand von fünf Tieren drei vermarkten und so erheblich zur Kapitalbildung ihres Betriebes beitragen konnten, lässt sich gewiss auf viele andere Betriebe dieser Größenordnung übertragen.127 Auf der anderen Seite der Produzentenskala entwickelte sich die in einigen, vornehmlich nordwestdeutschen Regionen bereits seit der ersten Jahrhunderthälfte praktizierte Intensivhaltung weiter. Lag der deutschlandweite Durchschnitt der Schweinemastbetriebe 1970 bei 21,5 Tieren pro Halter, so betrug er in Schleswig-Holstein bereits 44,8. In spezialisierten Betrieben Westfalens standen 1977 schon durchschnittlich 289 Tiere, der veränderten Nachfrage entsprechend vorwiegend fettarme und fleischreiche „Hybridschweine“. 326 Schweine zählten die durchschnittlichen Bestandsgrößen 1986 im Kreis Vechta, 324 im Kreis Cloppenburg. Rationalisierungen der Stallarbeit waren Vorbedingung für die Bewältigung der mit der Schweinehaltung verbundenen Aufgaben : strohlose Ställe, das – seit den achtziger Jahren auch computergesteuerte – Füttern nur eines Intensivfutters, die 124 125 126 127
Rieger 1969, S. 111–159 ; Eckart 1998, S. 229. Müller 1963, S. 41 ; Brandkamp/Hilgenstock 1973, S. 66–71 ; Eckart 1998, S. 229–234. Monheim 1961, S. 146 ; Müller 1976, S. 139–143. Rolfes 1955, S. 375.
Viehbestand
Klimatisierung der Ställe und die Vergüllung der Exkremente.128 Der Höhepunkt der Schweinehaltung war Mitte der achtziger Jahre mit 24,5 Millionen Tiere erreicht, danach setzte eine Abwärtsbewegung ein, die den Bestand bis zum Ende des Jahrzehnts um zwei Millionen abnehmen ließ.129 Der Rinderbestand hatte sich bis in die frühen 1950er Jahre nur wenig gegenüber dem Vorkriegsstand verändert. Mehr als die Hälfte der elf Millionen Tiere wurde 1950 als Milchvieh genutzt. Fast ein Drittel dieser Milchkühe diente auch – vor allem in kleinbäuerlichen Regionen – als Arbeitsvieh. Darüber hinaus wurden noch 280.000 Zugochsen gehalten. Bis zur Mitte der sechziger Jahre war der Anteil der als Zugvieh genutzten Tiere auf 2,8% reduziert worden. Zu dieser Zeit standen noch drei Viertel der Rinder in Beständen mit weniger als 10 Tieren. Noch 1971 hielt jeder fünfte Parzellenbetrieb eine Kuh, mehr als ein Drittel überhaupt Rindvieh. In weit mehr als der Hälfte der kleinbäuerlichen und in 80 bis 90% der mittel- und großbäuerlichen Ställe stand Milchvieh. Die Abschaffung der Kühe war häufig gekoppelt mit der Betriebsaufgabe. Andererseits ermöglichte die Motorisierung auch der Kleinbetriebe die Weiterführung eines Nebenerwerbsbetriebes ohne die zeitintensive Haltung von Zugtieren, die auch für die Produktion von Dünger nicht mehr benötigt wurden. Ähnlich wie der Schweinebestand erreichte auch der Rinderbestand – bei allerdings langsamerem Wachstum – bis in die Mitte der achtziger Jahre seinen Höchststand von 15,6 Millionen, der dann bis zum Ende des Jahrzehnts um fast eine Million zurückging. Der Anteil des Milchviehs am Rindviehbestand war bereits seit den fünfziger Jahren von der Hälfte der Tiere auf ein knappes Drittel im Jahr 1988 kontinuierlich gefallen, in absoluten Zahlen aber einigermaßen stabil geblieben.130 Trotzdem verdoppelte sich angesichts einer Steigerung der jährlichen Milchleistung pro Kuh von 2500 auf 5000 Liter die Milchproduktion von 1950 bis 1989. Der stärkste Zuwachs ist in den fünfziger und sechziger Jahren auszumachen, in denen die Produktion von 14,6 auf über 22 Millionen Tonnen gesteigert werden konnte.131 Der Konzentrationsprozess verlief allerdings langsamer als in der Schweinehaltung. Mit einer Steigerung von 4,3 Tieren pro Halter im Jahr 1960 über 7,3 1970, 12 im Jahr 1979 auf 17,6 Ende der achtziger Jahre blieb die westdeutsche Milchwirtschaft auch im europäischen Vergleich auf einem eher mittleren Niveau.132 Diese Entwicklung ist stark an agrarpolitisch gesetzte Rahmenbedingungen gekoppelt. Über Marktordnungen garantierte Preise, Förderung von Infrastruktur wie Melk- und Kühlanlagen und von Qualitätssicherung über die Milchleistungsprüfungen sicherten der Milchwirtschaft über Jahrzehnte die Existenz. Erst die drängenden Probleme der Fi128 129 130 131 132
Windhorst 1990, S. 454 ; Eckart 1998, S. 288 ; Albers 1999, S. 170–173. Eckart 1998, S. 286, 401. Brandkamp/Hilgenstock 1973, S. 68 ; Borcherdt 1985, S. 215 ; Eckart 1998, S. 227 f., 286–289. Comberg 1984, S. 38 f. Brandkamp/Hilgenstock 1973, S. 66 ; Eckart 1998, S. 286 ; Europäische Kommission, Generaldirektion Landwirtschaft, Bericht : Lage und Perspektiven Milchsektor, April 1997, S. 14, online abrufbar unter : http://ec.europa.eu/agriculture/publi/pac2000/dairy/dairy_de.pdf, 28.6.2011.
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nanzierbarkeit der Überproduktion, die seit den siebziger Jahren gerade im Bereich der Milchproduktion an den „Butterbergen“ und „Milchseen“ unübersehbar wurden, führten zu Preisbeschränkungen und Produktionskontingentierungen, die schließlich den Bestandsrückgang seit der Mitte der achtziger Jahre zur Folge hatten.133 Die stärksten Konzentrations- und Spezialisierungsprozesse gingen von der Geflügelwirtschaft aus. In den fünfziger Jahren noch überwiegend in der bäuerlichen Landwirtschaft angesiedelt und mit einem Bestand von 48 Millionen Tieren, bei 3,4 Millionen Haltern durchschnittlich 14 Tiere pro Halter, war die Entwicklung in der Mitte des Jahrzehnts sogar rückläufig, so dass staatliche Förderprojekte und Ausgleichzahlungen initiiert wurden, um dem steigenden Import von Eiern und Masthühnern entgegenzuwirken. In den meisten Parzellen- und Kleinbetrieben wurden für den Eigenverbrauch und zur Direktvermarktung mehrere Hühner gehalten, eine Einnahmequelle, die sich auch mittelbäuerliche Betriebe nicht entgehen ließen. Gegen Ende der fünfziger Jahre übernahmen auch deutsche Landwirte und Unternehmer, vornehmlich im Norden, Betriebsmodelle, die im nordamerikanischen und westeuropäischen Raum schon länger bekannt waren. Geflügelzucht und Eierproduktion wurden zunehmend in spezialisierten Betrieben mit im Hinblick auf die jeweilige Funktion gezüchteten Tieren und spezieller Fütterung praktiziert. In nur zehn Jahren zwischen dem Ende der fünfziger und dem der sechziger Jahre wuchs die Zahl der Tiere um 42% an. Die Legeleistung wurde in den sechziger Jahren um 31,4% auf 206 Eier pro Henne gesteigert, bis 1975 auf 237, bis 1987 auf 257. Weiterhin überwog die Kleinhaltung von Legehennen in landwirtschaftlichen Betrieben, die 1971 in der Hälfte der Parzellenbetriebe, in zwei Dritteln der kleinbäuerlichen und in fast vier Fünftel der mittelbäuerlichen Betriebe immer noch praktiziert wurde. Lediglich ein Drittel aller Hennen wurde in Beständen mit mehr als 10.000 Tieren gehalten. Diese Form der Intensivhaltung setzte sich zuerst in Nordwestdeutschland durch. In Niedersachsen, wo 1971 ein Drittel des gesamten bundesdeutschen Hühnerbestandes gezählt wurde, war bereits mehr als die Hälfte der Tiere in Großhaltungen aufgestallt. In der Masthühnerhaltung verlief der Konzentrationsprozess noch schneller, allein zwischen 1969 und 1971 nahm die Zahl der Halter mit mehr als 25.000 Tieren um 46% zu, die der Tiere um 83%. 31 Betriebe übernahmen bereits mit jeweils mehr als 100.000 Tieren ein Fünftel der gesamten westdeutschen Produktion.134 Gerade in den Landkreisen Vechta und Cloppenburg, in denen auf Erfahrungen aus der intensiven Schweinemast aufgebaut werden konnte, konzentrierte sich auch die kapitalintensive, auf weitgehender Automatisierung basierende Massenhaltung von Hühnern, die zeitgenössisch als Modell ausgegeben wurde. Angesichts der Organisationsformen und der Produktionskapazität – in den achtziger Jahren wurden Größenordnungen von mehreren Millionen Stellplätzen erreicht – kann für diesen Produktionszweig von agrarindustriellen Unternehmen gesprochen werden. Die 133 Kluge 1989, Band 1, S. 132, 175 f., 265. 134 Monheim 1961, S. 146 ; Brandkamp 1969, S. 73–110 ; Brandkamp/Hilgenstock 1973, S. 67–71, 110 ; Kluge 1989, Band 1, S. 133, 178, 266 ; Eckart 1998, S. 230, 288.
Viehbestand
Abb. 14 : Geflügelzucht bei Wiedenbrück, Kreis Detmold, 1954.
Zahl der Hühner haltenden landwirtschaftlichen Betriebe war dagegen von 1971 bis 1986 in der Bundesrepublik um zwei Drittel, in Niedersachsen um drei Viertel zurückgegangen.135 Das zeigt allerdings auch, dass trotz der konkurrenzlos kostengünstig produzierenden Massenhaltung ein gewisses Maß an kleineren und mittleren Beständen gehalten werden konnte. Private und kollektivierte Viehhaltung in der SBZ/DDR Die Entwicklung der Viehwirtschaft in der SBZ/DDR war eng an agrarpolitische Vorgaben gebunden. Kriegsbedingt waren die Viehbestände gegenüber dem Vorkriegsstand wesentlich stärker reduziert worden als in den westlichen Besatzungszonen : um zwischen 20 und 30%, in Sachsen-Anhalt sogar um fast 90%, waren die Pferdezahlen in den Ländern zurückgegangen, bis zu 40% die Rinderbestände, um 50 bis 80% die Schweine. Mit der Zerschlagung der Viehbestände der Großgüter markierte die Bodenreform einen weiteren Einschnitt. Das den Neubauern zur Verfügung stehende Vieh, 1950 im Durchschnitt 0,6 Pferde, 2,5 Rinder (davon 1,1 Milchkühe), 0,7 Schafe und 3,1 Schweine, diente mehr zur Eigenversorgung.136 Die im „Klassenkampf “ gegen die „Großbauern“ 1949 erlassene Hektarveranlagung für tierische Erzeugnisse anstelle der bislang gültigen Veranlagung nach der Größe der Bestände konnte zur Folge haben, dass Angehörige dieser Produzen135 Windhorst 1990, S. 445–453. 136 Eckart 1998, S. 185–187 ; Schöne 2005 (b), S. 15.
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tengruppe, die im Verhältnis zu ihrer Betriebsfläche einen nur geringen, aber qualitativ guten Viehbestand aufweisen und so keine ihrer Hektarzahl entsprechende Menge an tierischen Produkten abliefern konnten, ihr Vieh abgenommen bekamen.137 In den fünfziger Jahren stiegen die Viehbestände erheblich an, die Rinderbestände zwischen 1949 und 1961 um mehr als ein Drittel, die Schweine um mehr als das Doppelte, die Legehennen fast um das Dreieinhalbfache. Auffällig sind allerdings die Einbrüche in den Jahren verstärkter Kollektivierung 1953 und 1960/61. Selbst die Milchleistung der Kühe war in diesen Jahren rückläufig. Das planerisch vorgegebene Ziel, die Versorgung mit Wolle zu verbessern, führte zu einer Ausweitung der Schafzucht bis zum Ende der fünfziger Jahre.138 Die private Viehhaltung in den noch selbstständigen Betrieben und in den LPG des Typ I, in denen das Vieh weiterhin im bäuerlichen Besitz blieb, scheint an diesem Aufschwung einen höheren Anteil gehabt zu haben. Bezogen auf die landwirtschaftliche Nutzfläche war ihr Rinderbestand um ein Viertel, ihr Schweinebestand um ein Sechstel höher als der der LPG Typ III, in denen auch der Viehbesitz kollektiviert war. Das Ausmaß der Viehhaltung in den „individuellen Hauswirtschaften“ der LPG-Angehörigen wurde statistisch nicht erfasst. Selbst im Typ III war neben den 0,5 Hektar Nutzfläche zur eigenständigen Bearbeitung der Besitz von zwei Kühen mit Kälbern, zwei Mutterschweinen mit Ferkeln, fünf Mutterschafen mit Nachwuchs und von Ziegen, Geflügel, Kaninchen und anderem Kleinvieh in unbegrenzter Anzahl gestattet. Auch zur LPG stoßende Industriearbeiter und Handwerker ohne eigenen Landbesitz bekamen Land zugeteilt und wurden beim Bau von Wirtschaftsgebäuden zur Viehhaltung im Rahmen der „individuellen Hauswirtschaft“ unterstützt. So dürfte ein Großteil des Eigenbedarfs abgedeckt geworden sein. Darüber hinaus konnten die über die Abgabeverpflichtungen hinausgehenden tierischen Produkte zu höheren Preisen frei vermarktet werden, was sich offensichtlich motivationssteigernd auswirkte. Im Ergebnis dürfte daher, trotz einiger Nachteile – so verfügten die LPG des Typ III über modernere Stallanlagen – die Leistung der individuellen Hauswirtschaft teilweise die der LPG und Volkseigenen Betriebe übertroffen haben.139 In den sechziger Jahren verlief die quantitative Entwicklung der Viehwirtschaft langsamer und war teilweise sogar rückläufig. Nur um 17,3% stieg der Rinderbestand zwischen 1962 und 1971 an, die Zahl der Milchkühe veränderte sich nur wenig, die der Schweine wuchs um ein Fünftel an, der Schafbestand nahm um ein Fünftel ab. Dass die Motorisierung der Landwirtschaft in der DDR erst in den sechziger Jahren flächendeckend erfolgte, zeigt der starke Rückgang des Pferdebestandes von 446.800 im Jahr 1960 auf 105.800 1971. Betrug der Anteil der persönlichen Tierhaltung an der gesamten Viehwirtschaft der LPG 1960 noch 56,4%, so war er bis 1971 auf 17,8% abgesunken. Gründe für diesen starken Rückgang waren : die Zurückdrängung der LPG Typ I und deren Eingliederung 137 Schier 2001, S. 59. 138 Eckart 1998, S. 322–324. 139 Humm 1999, S. 128 ; Schier 2001, S. 70–74, 144, 224.
Viehbestand
in die LPG Typ III, die Vereinheitlichung der Preise für tierische Produkte, die fehlende Investitionsbereitschaft und die aufgrund von Überalterung fehlenden Arbeitskräfte in der privaten Viehwirtschaft der Typ I-Angehörigen. Dass die Aufgabe der privaten Viehbestände während des häufig unter Druck erfolgenden Übergangs der Genossenschaftsbauern in den Typ III nicht emotionslos verlief, zeigen Schilderungen aus dem thüringischen Merxleben.140 In den siebziger und achtziger Jahren bewegte sich die Rinderzahl leicht nach oben, der Anteil der Milchkühe nahm leicht ab, lediglich der Schweinebestand hatte deutliche Aufwärtstendenz von etwa zehn Millionen Tieren um 1970 auf das Maximum von 13,2 in der Mitte der achtziger Jahre. Die Leistung der Tiere wurde in den beiden Jahrzehnten in unterschiedlicher Intensität gesteigert : das Schlachtgewicht der Schweine um sieben Prozent, das der Rinder um zehn Prozent, die Legeleistung allerdings um ein Drittel, die Milchleistung von etwa 3500 auf 4500 bis 5000 Kilogramm pro Jahr.141 Die bereits seit 1963 propagierte Spezialisierung der Agrarproduktion verlief im Bereich der Tierhaltung deutlich schleppender. Aufgrund des großen Anteils privater Viehhaltung in kleinen Beständen fehlten moderne Ställe und „industriegemäße“ Anlagen. Durch die politisch geforderte Kooperation bildeten sich aber langsam auch in diesem Bereich intensivierte Strukturen heraus, an die bei der Trennung von Tier- und Pflanzenproduktion in den siebziger Jahren angeknüpft werden konnte. Unterschiedliche Aufgabenverteilung in miteinander kooperierenden Betrieben, etwa im Bereich der Aufzucht, setzten bereits Spezialisierungen in Gang, die Errichtung moderner Stallanlagen war ein weiteres Feld der Kooperation. Mit der Auslagerung der Feldproduktion in „Kooperative Abteilungen Pflanzenproduktion“ (KAP) oder LPG und VEG (P) blieb den „Rest-LPG“ nur noch die Tierproduktion. Als Nachfolgeunternehmen der um die Acker- und häufig auch Grünlandbewirtschaftung reduzierten Produktionsgenossenschaften wurde der neue Typus der LPG (T) installiert, während die aus den KAP hervorgehenden neuen LPG (P) und entsprechende VEG ausschließlich auf Pflanzenproduktion konzentriert wurden. Drei Viertel der 1980 noch bestehenden LPG waren der Tierproduktion gewidmet. Erfahrungen mit der Massentierhaltung, durchaus auch nach westlichem Vorbild, waren bereits in den sechziger Jahren mit den staatlichen „Kombinaten Industrielle Mast“ gemacht worden. So war etwa der neubrandenburgische Ferdinandshof auf 14.200 Rindermastplätze und 6700 Mastkälberaufzuchtplätze angelegt. Die quantitativen Vorgaben für die in den siebziger Jahren errichteten Ställe wurden immer weiter nach oben verschoben : Mindestgrößen von 1930 Milchkühen, 4480 Jungrinder-, 5600 Sauen- und 24.000 Mastschweinplätzen sollten bereits in den frühen 1970ern die Norm darstellen. Allerdings wurde bis in die achtziger Jahre nur ein Fünftel des Viehbestandes in Ställen dieser Größenordnung untergebracht. Obwohl bereits in den späten 1970er Jahren die Probleme der Massentierhaltung erkannt worden waren und die Konzentrationspolitik zurückhaltender praktiziert 140 Eckart 1998, S. 338 ; Schier 2001, S. 159–161 ; Heinz 2011, S. 99 f. 141 Eckart 1998, S. 354 f.
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wurde, existierten am Ende der DDR 112 Milchviehanlagen mit mehr als 2000 Plätzen, elf Schweinezucht- und Mastanlagen mit 165.000 bis 185.000 Tieren und fünf Rindermastanlagen mit 18.000 bis 20.000 Plätzen.142 Die Negativfolgen solcher Massenhaltung liegen auf der Hand : erhebliche tiermedizinische Probleme, Entsorgungsprobleme der Abwässer und Exkremente, deren ganzjährige Ausbringung als Gülle auf Acker- und Grünland zu massiven Schäden der Böden führte, die Eutrophierung von Gewässern, die Anlage von Grundwasser und Luftreinheit gefährdenden „Gülleseen“.143 Nach der Wiedervereinigung Außer bei den Geflügelbeständen ist die Entwicklung der Viehwirtschaft nach 1990 durch einen Rückgang der Bestandszahlen geprägt, dessen Vehemenz in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung vor allem den stark reduzierten Zahlen in den neuen Bundesländern zuzuschreiben ist. So ist der Abbau der Rinderbestände zwischen 1990 und 1995 um ein Fünftel auf 16 Millionen Tiere vornehmlich mit der Reduzierung um fast die Hälfte in Ostdeutschland zu erklären. Die ohnehin stärker schwankende Schweinezucht brach in den ersten fünf Jahren nach 1990 um fast ein Viertel ein, die Zahl der Schafe fiel von 1990 bis 1995 von 3,2 auf 2,4 Millionen Tiere. Während sich die Schweine- und Schafbestände nach 1995 mit leichten Schwankungen auf dem erreichten Level einpendelten, sank die Rinderzahl, bedingt durch die Garantiemengenregelungen der Milcherzeugung und durch eine wegen der reduzierten Kälberzahl auch sinkende Schlachtrinderhaltung, um weitere drei Millionen bis 2010. Lediglich der Geflügelbestand konnte von 114 Millionen Tieren im Jahr 1990 auf 128,5 Millionen im Jahr 2007 kontinuierlich weiter ausgebaut werden.144 Trotz der weiterhin tendenziell größeren Anzahl von Betrieben mit hoher Bestandszahl in den neuen Ländern werden die meisten Tiere im Westen gezählt. Mehr als ein Viertel aller Rinder stand 2007 in bayrischen Ställen, ein Fünftel in Niedersachsen, über eine Million Tiere wurden außerdem in Nordrhein-Westfalen, BadenWürttemberg und Schleswig-Holstein erfasst. Mehr als die Hälfte des Schweinebestandes und mehr als ein Drittel des Legehennenbestandes hatten Niedersachsen und NordrheinWestfalen zu verzeichnen.145 Nach wie vor spielen Betriebe mit kleinen Beständen eine erhebliche Rolle in der Viehhaltung. In mehr als der Hälfte aller milchviehhaltenden Betriebe standen 2007 weniger als 30 Milchkühe, die Hälfte der schweinehaltenden Betriebe blieb mit weniger als 50 Tieren weit unter dem durchschnittlichen Besatz von 337 142 Schöne 2005 b, S. 56–60 ; Heinz 2011, S. 147–165. 143 Eckart 1998, S. 356 ; Schöne 2005 b, S. 60, 74 ; Bauerkämper 2006, S. 162. 144 Eckart 1998, S. 400–406 ; Statistisches Jahrbuch des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz 2010, Tab. 137, http://berichte.bmelv-statistik.de/SJT-31002000000.pdf, 4.7.2011. 145 http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Publikationen/ Fachveroeffentlichungen/LandForstwirtschaft/ViehbestandTierischeErzeugung/Viehbestandtierisch eErzeugung2030400087004,property=file.pdf, 4.7.2011.
Saatgut
Tieren pro Betrieb. In 18% der Betriebe standen nur ein bis zwei Schweine im Stall. 87% der Masthühnerhalter verfügten über Bestände unter 500 Tiere. Wenn auch der Anteil dieser Betriebe am Gesamtbestand mit zwischen zehn und 20%, im Fall der Masthühner sogar nur 0,2%, eher vernachlässigbar erscheint, wird aber doch die hohe Bedeutung der Viehhaltung auch für kleinere Betriebe, die den Ausbau zur Massentierhaltung nicht mit vollzogen haben, offenbar.146 Seit den spektakulären Ausbrüchen von Viehseuchen wie BSE, Maul- und Klauenseuche oder Schweinepest in den neunziger Jahren werden die massiven Nachteile der Massenhaltung in Politik und Öffentlichkeit breit diskutiert. Dennoch ist der sich weiter fortsetzende Trend zu immer größeren Beständen nicht zu verkennen. In absoluten und in relativen Zahlen wuchsen zwischen 1999 und 2007 nur die Betriebe mit den höchsten Bestandszahlen an : bei den Masthühnerhaltern die Betriebe mit mehr als 50000 Tieren, bei den Schweinehaltern die mit mehr als 1000 Tieren. Stand 1999 noch ein Drittel aller Schweine in solchen Großbetrieben, so waren es 2007 schon mehr als Hälfte. Bei den Rinderhaltern lag die Schwelle bei 200 Tieren, nur bei den Milchkühen fand das größte Wachstum nicht im obersten Bereich (über 100 Tiere), sondern bei den Beständen zwischen 50 und 99 Tieren statt.147 Bedingt durch die Angleichung der Tierhaltungspraxis und des Nachfrageverhaltens ist bei der Varietät der Rassen eine deutliche Reduzierung zu erkennen. Betrug der Anteil von vier Rinderrassen an den Herdbuchrindern schon um 1950 87%, so wurde dieser Wert bis 1992 auf 97% gesteigert und war der Anteil der „Deutschen Schwarzbunten“ von einem Drittel auf 54% gewachsen. Fast 95% der Tiere in der Schweinezucht zählten 2002 zu drei Rassen, 60,9% der erfassten Herdbuchzuchttiere allein zur „Deutschen Landrasse“. Noch stärker war der Verdrängungsprozess bei der Hühnerhaltung, bei der sich nur eine Rasse, die „weiße Leghorn“, als „käfigtauglich“ erwies.148
4.4 Saatgut Nur aus wenigen Regionen wurde 1880 in der Enquete des Vereins für Socialpolitik berichtet, dass die landwirtschaftlichen Fortschritte der vorangegangenen Jahrzehnte in den bäuerlichen Betrieben auch auf der Verwendung „besseren“ Saatgutes basierten.149 Die weit überwiegende Mehrheit der Agrarproduzenten säte die so genannten alten Landsorten aus, von den Landwirten selbst durch einfache Auslese gewonnenes, aufgrund des langjährigen Anbaus in einer meist eng begrenzten Region an die lokalen ökologischen 146 Statistisches Jahrbuch des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz 2010, Tabellen Nr. 136, 139, 144, 145, 148, 156, http://www.bmelv-statistik.de/de/statisti sches-jahrbuch/kap-c-landwirtschaft/, 4.7.2011. 147 Ebenda, Tabellen Nr. 144, 145, 148, 156. 148 IÖW/Ökö-Institut/FU 2004, Kapitel 2, S. 72–81. 149 Bäuerliche Zustände, passim.
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Verhältnisse gut angepasstes Saatgut. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts begannen sich allerdings – zunächst von der Zuckerrübenzüchtung ausgehend – effektivere Auslesemethoden und infolgedessen verbesserte Sorten durchzusetzen. Der aus England importierte „Dickkopfweizen“, dort in den 1860er Jahren aus einer Mutation weitergezüchtet, verdrängte in Deutschland ab 1876 einheimische Sorten. Vor allem Gutsbesitzer in Mittel- und Ostdeutschland widmeten sich ab den 1870ern der Saatgutvermehrung, die sie teilweise zu einem eigenen Betriebszweig ausbauten. Sorten wie der „Petkuser Roggen“, von Ferdinand von Lochow aus den besten Landsorten weitergezüchtet, verbreiteten sich schnell. Die Agrarwissenschaften, die landwirtschaftlichen Organisationen und die staatliche Landwirtschaftsförderung reagierten auf die zunächst privaten Initiativen mit dem Aufbau von Forschungsinstituten, Saatgutkontrollinstanzen und gesetzlichen Regelungen. Da die Mendelschen Regeln erst nach 1900 wieder entdeckt und für die Pflanzenzüchtung nutzbar gemacht wurden, basierten die Züchtungsverfahren bis nach der Jahrhundertwende vorwiegend auf verbesserten Ausleseverfahren, erst danach setzten sich Kreuzungszüchtungen durch. Die Hochzuchtsorten führten zu höheren Erträgen. So wurde etwa der Zuckergehalt der Zuckerrüben vervierfacht. Der Anteil der Pflanzenzüchtung auf die Ertragssteigerungen bei Getreide wird auf 15% geschätzt, wobei hier der Einfluss der verschiedenen ertragssteigernden Faktoren schwer zu bestimmen ist.150 Allerdings scheinen diese neuen Sorten nur im Zusammenhang mit der Anwendung von Kunstdünger das gewünschte Ergebnis gebracht zu haben, während die lokalen Landsorten im Vergleich besser abschnitten, wenn nicht auf betriebsfremden Dünger zurückgegriffen werden konnte.151 Neben der Anwendung von Hochzuchtsaatgut ist daher noch für einige Zeit von der gleichzeitigen Praxis, betriebseigenes Saatgut zu verwenden, auszugehen. Noch 1907 jedenfalls zog der bereits mehrfach erwähnte Hunsrücker Bauer Peter Mayer von seiner Getreideernte die für das nächste Jahr benötigte Aussaatmenge ab, wie das seit Jahrhunderten gängige Praxis war.152 Zumindest in Nordwestdeutschland scheint das auch noch bis in die dreißiger Jahre so praktiziert worden zu sein. Nur 3,6% betrug dort der Anteil der Ausgaben für Saatgut in den Jahren 1924–31 und selbst ein von der Landwirtschaftskammer unterhaltenes Versuchsgut investierte mit 3,9% nur unwesentlich mehr. Vielmehr versuchte man das Saatgut nicht nur über Reinigung und Sortierung mit Trieuren und Windfegen, sondern seit den späten zwanziger Jahren auch durch verbesserte Reinigungsanlagen und Beizanlagen, die Keime abtöten sollten, zu verbessern.153 Inflation und sinkende Getreidepreise nach 1926 hielten die Landwirte vom Kauf teurer Zuchtsorten ab. So lag der Umsatz der Saatgutfirmen 1931 nur noch bei zehn bis 15% des Wertes von 1925. Auch eine staatliche „Saatgutkreditaktion“ war 1924 nur auf geringe Resonanz gestoßen. Zudem 150 151 152 153
Haushofer 1963, S. 199 f.; Harwood 2002, S. 14–17 ; Wieland 2004, S. 20–102 ; Grant 2005, S. 234. Jahrbuch der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft 29, 1914, S. 29. Bauer 2009, S. 369. Theine 1991, S. 234 f.
Saatgut
bremste ein aus der unklar geregelten Sortenanerkennung resultierender „Sortenwirrwarr“ die Investitionsfreudigkeit in diesem Bereich.154 Im Rahmen der nationalsozialistischen „Erzeugungsschlacht“ wurde der Pflanzenzucht höchste politische Aufmerksamkeit zuteil. Der Saatgutmarkt wurde der Kontrolle des Reichsnährstandes unterstellt. Mit einer „Verordnung über Saatgut“ wurden 1934 im Zuge einer „Sortenbereinigung“ die erhältlichen Sorten erheblich reduziert. Zudem wurde im Sinne der Autarkie die Züchtung insbesondere von Futter-, Öl- und Faserpflanzen stark gefördert.155 Auch nach 1945 blieb die Saatgutzucht unter staatlicher Kontrolle. In der Bundesrepublik regelte ein 1953 erlassenes Gesetz den Saatgutverkehr, der an eine amtliche Überprüfung und Anerkennung gebunden blieb. In der DDR koordinierte ab 1955 eine „Zentral stelle für Sortenwesen“ in enger Zusammenarbeit mit dem staatlichen Saatgutkonzern diesen Bereich. Ab den 1960er Jahren wurde mittels des „Rayonierungssystems“ zentral vorgegeben, wo welche Sorten angebaut werden sollten. Im Sinne einer Planbarkeit der Saatgutproduktion wurde so die Auswahlfreiheit der Saatgutbezieher erheblich eingeschränkt und die Verwendung wirtschaftseigenen Nachbau-Saatguts zurückgedrängt.156 Am Beispiel des Winterweizens wurde gezeigt, dass bereits 1926 nur fünf von 135 anerkannten Sorten auf dem überwiegenden Teil der Flächen angebaut wurden. Allerdings liegen keine Angaben über von den Produzenten selbst nachgezogene regionale Sorten vor. 1973 waren 87% der Winter-Weichweizen-Flächen mit fünf von 37 zugelassenen Sorten bebaut. Dieser Trend zur Marktdominanz einzelner Sorten ist allerdings rückläufig. 1993 waren nur noch 45,2% mit den fünf führenden von mittlerweile 69 zugelassenen Sorten kultiviert, bis 2002 sank dieser Anteil auf 41%, während die Zahl der zugelassenen Sorten auf 104 stieg.157 Der Anteil des wirtschaftseigenen Nachbaus ist schwer zu benennen. Bei Winzerweizen wurde er um das Jahr 2000 auf etwa 50% eingeschätzt, bei Kartoffeln dürfte dieser Wert noch höher liegen, während bei Mais und Zuckerrüben aufgrund der verwendeten ertragsreichen, aber zum Nachbau nicht geeigneten Hybridsorten ein nur geringer Anteil von den Landwirten selbst nachgezogen wird.158 Die seit den achtziger Jahren geführte öffentliche Debatte über die Risiken der gentechnologisch veränderten Nutzpflanzen hat die Ausbreitung transgener Pflanzen in Deutschland bislang weitgehend verhindert. Den Zuchtzielen, Produktverbesserungen, Resistenzen gegen Krankheiten, Insekten und Pilze, aber auch gegen Herbizide, die dann gezielter eingesetzt werden können, stehen Bedenken wegen eines nicht abschätzbaren Risikopotenzials und eines zu starken Eingriffs in die Pflanzenökologie entgegen. Zudem gilt der Frage der Koexistenz nicht-transgener und transgener Pflanzen in der Diskussion 154 155 156 157 158
Harwood 2002, S. 29–31 ; Wieland 2004, S. 151 f.. Wieland 2004, S. 195–203. IÖW/Ökö-Institut 2004, Kapitel 4, S. 15–17. Ebenda, Kapitel 11, S. 27 f. Ebenda, S. 43.
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erhöhte Aufmerksamkeit. Vor allem beim Anbau von Soja, Mais, Baumwolle und Raps wird weltweit der größte Anteil gentechnisch veränderter Pflanzen gemessen. Bei etwa 80% der Pflanzen wurde die Eigenschaft der Herbizidresistenz verändert. Vor allem in den USA, Argentinien, Brasilien, Kanada und in China ist der Einsatz transgener Pflanzen bereits weit verbreitet, in der Europäischen Union in größerem Ausmaß allerdings nur in Spanien. In Deutschland nahm die Anbaufläche des gentechnisch manipulierten Maises im Jahr 2006 nur einen Anteil von 0,06% ein.159
4.5 Düngemittel Betriebseigene und betriebsfremde Düngemittel Der württembergischen kleinbetrieblichen Landwirtschaft war der Zukauf von künstlichem Dünger im späten 19. Jahrhundert zu teuer, zudem war man sich über dessen Qualität nicht sicher und verfügte über keine Erfahrung in der Anwendung. Grund genug für die schwäbischen Bauern, auf eine deutlich billigere Ressource zurückzugreifen, deren Transport bis zum jeweiligen Hof über die Anlage von Gruben an Bahnhöfen ermöglicht wurde : die „Stuttgarter Latrine“.160 Gleichwohl in diesem Fall die traditionelle Form der Bodenanreicherung mit – hier vorwiegend menschlichen – Exkrementen gewählt wurde, ist doch ein modernes Element des bäuerlichen Wirtschaftens nicht zu übersehen : die Durchbrechung der innerbetrieblichen Kreisläufe durch die Zufuhr von externen Pflanzennährstoffen. War die Nutzung von betriebsfremden Düngeressourcen in intensiven Landwirtschaften im Umfeld von Städten auch vor dem späten 19. Jahrhundert nicht unbekannt, so ermöglichten nun die niedrigen Transportkosten den Nährstofftransfer auch in abgelegenere Gegenden. Die Notwendigkeit, dem Boden entzogene Mineralien wieder hinzuzuführen und mit ihrer Hilfe künftige Ernten zu steigern, war vor dem Hintergrund einer zunehmenden Marktintegration noch dringlicher geworden. Mit dem starken Anstieg der städtischen und nicht-landwirtschaftlichen Bevölkerung wurden deutlich mehr Nahrungsmittel in die Städte geliefert, die somit als Nährstoffe innerhalb des lokalen Kreislaufs ausfielen. Angesichts des geschätzten Verlustes etwa der Stickstoffmenge von 20 bis 25% wurden städtische Zentren zu „Senken für Pflanzennährstoffe“, die über andere Quellen der Landwirtschaft wieder zur Verfügung gestellt werden mussten. Neben der Anwendung von effizienzsteigernden Methoden wie dem Anbau stickstoffanreichernder Leguminosen, Fruchtfolgesystemen und Bewässerungstechniken mussten zu einer weiteren Steigerung der Produktion zusätzliche Ressourcen erschlossen werden.161 Anders als in einigen Regionen in Mittel- und Ostdeutschland war jedoch im süddeutschen Raum 159 Aus der Fülle der Literatur stellvertretend für Pro- und Contra-Haltungen : Menrad/Gaisser 2003, S. 61–118 ; Saan-Klein/Vogt 2007 ; Beckmann 2009, S. 100–105. 160 Heitz 1883, S. 228 f. 161 Krausmann 2001, S. 32 f.
Düngemittel
um 1880 der Einsatz künstlichen Düngers noch sehr gering.162 Als zusätzliche Stickstoffquelle wurde bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vielerorts Guano, ein aus den Exkrementen von Seevögeln bestehender stark stickstoffhaltiger Dünger, verwendet. Bis zur Entdeckung des Haber-Bosch-Verfahrens im Jahr 1908, mit dessen Hilfe Ammoniak synthetisiert und zu einem billigen Stickstoffdünger weiter verarbeitet werden konnte, war das in Südamerika natürlich vorkommende Natriumnitrat als so genannter Chilesalpeter die wichtigste Quelle für Stickstoffdüngung. Superphosphat, später dann aber vor allem das als Abfallprodukt bei der Stahlproduktion erzeugte Thomasmehl dienten als Phosphatquelle. Kalisalze wurden im Bergbau erschlossen.163 Bis zum Ersten Weltkrieg wurde der Einsatz von Mineraldünger stark gesteigert. So erhöhte sich die Nährstoffzufuhr durch künstlichen Dünger von 1878/1880 bei Stickstoff von 0,7 Kilogramm pro Hektar auf 6,4 Kilogramm in den Jahren 1911–1914, bei Phosphat von 1,6 auf 18,9 Kilogramm und bei Kali von 0,8 auf 16,7 Kilogramm. Der betriebseigene Dünger blieb aber bis 1914 deutlich im Übergewicht : je 40% des Kaliund Phosphatbedarfes, aber nur 16% des Stickstoffbedarfs wurden durch mineralische Dünger abgedeckt.164 Dass größere Betriebe, vor allem in Nord- und Ostdeutschland, in stärkerem Maße von der Innovation Kunstdünger Gebrauch machten, ist nur teilweise mit Kostenkalkulationen oder einer auf einem besseren landwirtschaftlichen Aus- und Weiterbildungsniveau basierenden Agrarpraxis zu erklären. Vielmehr stiegen mit den Viehbestandszahlen auch die Mengen des aufgrund seiner humusbildenden Eigenschaften weiterhin geschätzten natürlichen Düngers, was sich insbesondere auf die Nährstoffversorgung der Klein- und Mittelbetriebe mit ihrer deutlich intensiveren Viehwirtschaft auswirkte. Zweifelsohne spielte die durch Eisenbahntransport und industrielle Herstellung relativ preiswerte Mineraldüngung eine bedeutende Rolle für die Produktivitätssteigerungen in den ost- und norddeutschen Sandgebieten und in Zuckerrübenregionen. Der hohe Anteil des Faktors Dünger als Ursache für die Ertragssteigerungen, den Zeitgenossen auf 50% schätzten, wurde aber zu einem großen Teil erst durch die stark steigende Viehzucht ermöglicht.165 Mangelnde Erfahrung im Umgang mit Kunstdünger und daraus resultierende Probleme bremsten einen noch durchschlagenderen Erfolg in der Frühzeit ebenso wie extreme Qualitätsunterschiede der Handelsware. Die Agrarwissenschaft setzte aber trotz möglicher alternativer Ansätze zur Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit ganz auf die produktivitätssteigernde Wirkung der Chemie. Das resultierte auch aus der engen Verbindung zwischen agrarwissenschaftlicher Forschung und der Düngerindustrie, die sich etwa darin manifestierte, dass 1913 50 von 65 Versuchsstationen von Chemikern geleitet wurden, dass enge Verbindungen zwischen den Forschungseinrichtungen der Düngerproduzenten und 162 163 164 165
Bäuerliche Zustände, passim. Eckert 1998, S. 53 ; Ditt 2001 S. 102 f.; Krische 21920, S. 65 f. Grant 2005, S. 235 ; Achilles 1993, S. 238. Grant 2005, S. 245 ; Brockstedt 1989, S. 71 f.; Mütter-Meyer 1995, S. 73.
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staatlichen Stellen bestanden oder dass die Düngerabteilung der DLG am Vertrieb von Kali und Thomasmehl beteiligt war.166 Aufgrund der Importabhängigkeit für Chilesalpeter und Phosphorsäure und der um die gleichen Rohstoffe konkurrierenden Munitionsproduktion ging der Verbrauch von Stickstoff- und Phosphatdünger im Ersten Weltkrieg stark zurück. Die daraus entstehende Versorgungslücke konnte auch durch die Steigerung des aus der inländischen Produktion stammenden Kalidüngers nicht ausgeglichen werden. Zudem wurde sie durch den Mangel an wirtschafteigenem Dünger aufgrund des reduzierten Viehbestands vergrößert, was zu erheblichen Ertragseinbußen führte.167 Auch auf diese Erfahrung dürfte sich die staatliche Kunstdüngerpropaganda nach 1918 zurückführen lassen. Die inländische Produktion von Stickstoffdünger ließ Importe – um 1920 immerhin noch 50.000 Tonnen – bald überflüssig werden, zudem sank der Preis dieses im Vergleich zu Kali und Phosphat teuren Düngemittels zwischen 1913 und 1932 um fast die Hälfte. Die gegenüber dem Vorkriegsstand bis 1929 messbare Steigerung des Stickstoffeinsatzes um das Doppelte und des Kalieinsatzes um mehr als Hälfte verlief dennoch angesichts der finanziellen Schwierigkeiten während der Inflationszeit nicht gradlinig und wurde nach dem 1930 erreichten Höchststand von einer Abwärtsbewegung infolge zurückgehender Investitionen während der Weltwirtschaftskrise abgelöst.168 Weiterhin war die Entwicklung regional differenziert. Während in Westfalen der Stickstoffabsatz zwischen 1924 und 1929 um 54,5% gesteigert wurde, waren es in ganz Preußen nur 19,4%. In Ostpreußen wurden pro Hektar 13 Reichsmark für Düngemittel investiert, in der Provinz Sachsen wegen der dort ausgeprägten Zuckerrübenkulturen fast das Vierfache.169 Auch im internationalen Vergleich verbrauchte die deutsche Landwirtschaft enorm viel Stickstoffdünger : Das Fünffache der in Frankreich und das Zehnfache der in den USA auf die Fläche ausgebrachten Menge landete bereits um 1927 auf deutschen Äckern.170 Trotz intensiver Diskussionen um mit Kunstdüngereinsatz in Zusammenhang gebrachter Bodenversauerung erschien der eingeschlagene Pfad der chemischen Stabilisierung und Verbesserung der Ertragsfähigkeit der Böden gegenüber minoritär diskutierten bodenkundlichen und bodenbiologischen Alternativen oder praktizierten Verfahren wie der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise dem überwiegenden Teil der agrarischen Akteure als der einzig gehbare.171 Nachdem die Investitionen in Düngemittel reichsweit zwischen 1928 und 1933 krisenbedingt von 947 Millionen Reichsmark auf 813 Millionen abgesunken waren, stiegen sie bis 1935 auf 1,1 Milliarden, bis 1938 sogar auf 1,5 Milliarden Reichsmark an. Zudem sorgten weiterhin sinkende Preise, insbesondere die 1937 mit staatlichen Mitteln finan166 167 168 169 170 171
Uekötter 2010, S. 146–166. Eckart 1998, S. 71. Eckart 1998, S. 102 f.; Uekötter 2010, S. 199–207. Theine 1991, S. 238–242 ; Uekötter 2010, S. 204. Engel 1930, S. 241. Uekötter 2010, S. 259.
Düngemittel
zierte Preissenkung, für eine erhebliche Steigerung des Düngemitteleinsatzes, wenn auch die offiziellen Angaben, nach denen sich der Eintrag pro Hektar von Stickstoff, Kali und Phosphat zwischen 1932 und 1938 jeweils um das Doppelte gesteigert hätte, mit Vorsicht zu behandeln sind. Anders als im Ersten Weltkrieg blieb die Versorgung in den ersten Jahren des Zweiten Weltkrieges einigermaßen gewährleistet. Lediglich bei der fast ausschließlich aus dem Import stammenden Phosphorsäure gab es Engpässe. Zudem war die Versorgung mit Wirtschaftsdünger aus der Rinderhaltung anders als zwischen 1914 und 1918 stabil. Von 1938 bis 1942 ging der Gesamtverbrauch an Dünger nur um 15% zurück. Allerdings häuften sich ab 1942 Klagen über zu geringe Düngerlieferungen, die zunächst auf Transportprobleme wegen der vorrangigen Nutzung der Bahn für militärische und industrielle Zwecke, ab 1943 verstärkt auch auf Zerstörungen der Produktion und der Verkehrsinfrastruktur zurückzuführen waren. In den letzten beiden Kriegsjahren war dementsprechend der Stickstoffeintrag pro Hektar auf fünf Kilogramm abgesunken.172 Steigerung des Kunstdüngereinsatzes in der Nachkriegszeit Nach nachkriegsbedingten Produktions-, Distributions- und Finanzierungsproblemen, die den Düngerverbrauch auf ein Minimum reduzierten, wurde ab 1948/49 in den westlichen Besatzungszonen der Vorkriegsstand wieder erreicht. In den kommenden Jahrzehnten wurde der Einsatz des Kunstdüngers in vorher nicht gekannter Weise vervielfacht. Das ist teilweise erklärbar mit der Preisentwicklung. In den sechziger Jahren etwa blieb die Preissteigerung für Handelsdünger mit zehn Prozent deutlich unter der der Erzeugerpreise mit 19%, was Spielräume für einen höheren Einsatz öffnete. Die in der Zeit des Nationalsozialismus erlassene Verpflichtung zu Bodenuntersuchungen wurde nach 1945 wieder zurückgenommen. Nur ein Bruchteil der Flächen, in Westfalen-Lippe in den späten 1960ern etwa fünf bis zehn Prozent, wurde auf den Bedarf an Nährstoff hin geprüft. Ansonsten verließen sich die meisten Agrarproduzenten auf ihr Gefühl, auf die unter Berufskollegen verbreitete Praxis des „Viel hilft Viel“ oder auf allgemeingültige Empfehlungen der Düngemittelhersteller. Mit der Düngung einhergehenden Problemen, wie etwa der weiterhin latenten Gefahr der Bodenversauerung, wurde mit dem Eintrag weiterer Substanzen, in diesem Fall von Kalk, begegnet. Die Verdreifachung des Einsatzes von Stickstoff auf 79,7 Kilogramm pro Hektar, die Verdoppelung von Phosphatgaben und die Steigerung des Kalieintrags um 78% zwischen 1950/51 und 1969/70 zeigt zum einen die enorme Steigerung insgesamt, andererseits aber auch die Verstärkung der bereits in der ersten Jahrhunderthälfte sichtbaren Stickstoffdominanz. Mit zunehmender Intensität der Bodennutzung und mit zunehmenden Betriebsgrößen stieg auch der Düngereinsatz. Das dürfte auch erklären, dass im Norden der Bundesrepublik in einem erheblich höheren Maß gedüngt wurde als in Süddeutschland.173 172 Corni/Gies 1997, S. 308, 341, 423–427 ; Eckart 1998, S. 155. 173 Nieschulz 1959, S. 331–338 ; Eckart 1998, S. 172, 244–246 ; Uekötter 2010, S. 357–369.
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Bis 1986/87 wurde die Stickstoffdüngung um weitere 58% auf 131,5 Kilogramm pro Hektar gesteigert. Die Folgen von Überdüngung waren bereits in den fünfziger Jahren diskutiert worden. Jetzt wurden sie immer offensichtlicher. Am Beispiel der besonders intensiven Landwirtschaft Nordrhein-Westfalens wurde aufgezeigt, dass bei 125 Kilogramm Stickstoffdünger pro Hektar und zusätzlichen, als Gülle aus der Intensivmastwirtschaft anfallenden 90 Kilogramm Wirtschaftsdünger 245 Kilogramm Stickstoff auf einen Hektar Land aufgebracht werden. 139 Kilogramm werden über das Erntegut wieder entnommen, der Überschuss von 105 Kilogramm geht zu etwa 60% in das Grundwasser, zu etwa 40% gasförmig in die Atmosphäre. Trotzdem dürfte der ab den späten achtziger Jahren zu beobachtende Rückgang des Düngemittelverbrauchs – bis in die Mitte der neunziger Jahre doch immerhin ein Fünftel bei Stickstoff und mehr als die Hälfte bei Kali und Phosphat – eher auf die Verteuerung des Betriebsmittels und als Folge der agrarpolitisch initiierten Extensivierungsprogramme als auf ökologische Einsichten zurückzuführen sein.174 In der DDR war die Versorgung mit Kunstdünger einigen Schwankungen unterworfen. Erst in den späten 1950er Jahren wurden die – aufgrund des höheren Ackerlandanteils allerdings auch höheren – Werte der Vorkriegszeit wieder erreicht. Ausgehend von knapp 40 Kilogramm pro Hektar Stickstoff um 1960 wurde in einer kontinuierlichen Aufwärtsbewegung bis Ende der siebziger Jahre mit 130 Kilogramm pro Hektar ein Maximum erzielt, während die Kali- und Phosphatversorgung bis Anfang der siebziger Jahre kaum anstieg und der Peak des ohnehin sehr hohen Kalkeinsatzes bereits in der Mitte der sechziger Jahre erreicht war. Anders als im Westen basierten die Wechsel in der Düngeintensität nicht vorrangig auf Entscheidungen der landwirtschaftlichen Akteure, sondern auf der Menge der zur Verfügung gestellten Substanzen. Nach 1966 übernahmen Agrochemische Zentren (ACZ) als zwischenbetriebliche Einrichtungen alle mit der Düngerversorgung zusammenhängenden Aufgaben. Die Unzufriedenheit mit deren Arbeit, die etwa in einer Befragung von Genossenschaftsbauern 1977 zutage trat, führte allerdings in den frühen Achtzigern auch zu einer teilweisen Rücknahme dieser Spezialisierungsmaßnahme.175
4.6 Energie Die neuere Umweltgeschichte versteht den Vorgang der Agrarintensivierung von ihrer energetischen Seite, als Übergang von einer Praxis, die in der Aneignung pflanzlicher Biomasse deren gespeicherte solare Energie nutzbar macht, zu einer Wirtschaftsweise, die mit Hilfe fossiler Energie die Arbeitsproduktivität steigerte und – nicht mehr primär auf Energiegewinnung orientiert – auf einem deutlich höheren Niveau pflanzliche in tierische Biomasse umwandelte. Der Energieertrag der Landwirtschaft, d.h. das Verhältnis des ge174 Koch-Achepöhler 1996, S. 119 ; Eckart 1998, S. 292–294, 407 ; Uekötter 2010, S. 361, 395 f. 175 Eckart 1998, S. 325 f., 340, 356–359 ; Heinz 2011, S. 280–284.
Pflanzenschutz
sellschaftlichen Energieaufwandes (= Arbeit) zu dem Energiepotenzial der produzierten Nahrungsmittel, der sich in der Relation von Arbeitstagen und Nahrungsäquivalenten verdeutlichen lässt, konnte in der noch kaum industrialisierten österreichischen Landwirtschaft zwischen 1830 und 1910 weitgehend ohne fossile Energieträger von 1 : 5 auf 1 : 9 gesteigert werden. Der Einsatz fossiler Energie findet in der landwirtschaftlichen Produktion in drei Bereichen statt : der Ersetzung menschlicher und tierischer Arbeitskraft durch Maschinen, der energieaufwändigen Produktion von Mineraldünger und anderer Betriebsmittel und dem Transport von Betriebsmitteln und Agrarprodukten.176 Für die Zeit um 1880 wird der Anteil tierischer Energie in Form von Zugkraft am gesamten Energieaufwand auf 56,8% geschätzt, der der menschlichen Arbeit auf 39,8%, während der Einsatz betriebsfremder Energie, vor allem importierte Futtermittel und Kunstdünger, nur 3,4% ausmachte. Bis 1913 ist bereits eine Reduzierung des Anteils an tierischer und menschlicher Arbeitskraft auf 88%, bis 1935 auf 78% zu verzeichnen. Jetzt, in der Mitte der dreißiger Jahre, war der Energieaufwand für Produktion und Transport von Düngemitteln bereits mit 14,3% zu veranschlagen und spielte der direkte Einsatz von Elektrizität und fossilen Antriebsstoffen eine nur geringe Rolle. Der massive Wandel setzte in den fünfziger Jahren ein. Können die Anteile tierischer und menschlicher Energie um 1950 noch auf etwa 70% geschätzt werden, so nahm die tierische Zugkraft bis Mitte der sechziger Jahre nur noch etwa fünf Prozent ein und wurde 1975 in der Statistik überhaupt nicht mehr erfasst. Menschliche Arbeit wurde 1975 mit nur noch fünf Prozent berechnet, während 95% des gesamten Energieeinsatzes außerbetriebliche Quellen hatte. In den 100 Jahren seit 1880 hatte sich das Verhältnis zwischen betriebseigenen und -fremden Energiequellen damit genau umgekehrt. Knapp die Hälfte des Energieeinsatzes um 1975 wurde für Heizöl, Elektrizität und Dieselöl veranschlagt, fast ein Viertel für Produktion und Transport von Düngemitteln, elf Prozent für Maschinen und 9,3% für importierte Futtermittel.177 Allerdings ist ein deutlicher Rückgang der Energieeffizienz zu verzeichnen. War, nach einer anderen Berechnungsmethode als in der oben dargestellten österreichischen Schätzung, die Produktivität des Energieeinsatzes zwischen 1880 und 1905 von 1 :3 auf 1 : 4 angestiegen, so ist bis 1975 ein Rückgang auf 1 : 1,8 zu verzeichnen.178
4.7 Pflanzenschutz Das Überhandnehmen von Organismen, die dem Wachstum der Kulturpflanzen schaden, von konkurrierenden Pflanzen, Pilzen oder Insekten, wurde durch mechanische Verfahren (Ausreißen, Hacken, Absammeln), aber auch durch Abwechslung in der Fruchtfolge zu 176 Krausmann 2001, S. 17–45 ; Winiwarter 2001, S. 733–767 ; Winiwarter/Knoll 2007, S. 150–154 ; Sieferle/Krausmann 2006. 177 Weber 1979, S. 19–23. 178 Ebenda, S. 28 f.
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verhindern versucht.179 Stellte die Vermeidung von sich wiederholenden Kulturen einen natürlichen Schutz gegen übermäßige Schädigungen dar, so wurde die Gefahr von massiven Ernteausfällen oder -einbußen gerade bei Sonder- und Spezialkulturen offensichtlich. Kartoffelfäule und „Rübenmüdigkeit“, Reblaus und Apfelblütenstecher entwickelten sich zu Bedrohungen, denen sich die im späten 19. Jahrhundert entstehende Phytomedizin oder Phytopathologie wissenschaftlich zu widmen begann.180 Mit semantischen Konstruktionen wie dem Begriff des „Schädlings“, sich schnell institutionalisierender akademischer Forschung, von landwirtschaftlichen Organisationen und dem Staat begründeten Kontrollinstitutionen und statistischen Initiativen konnte diese vergleichsweise junge wissenschaftliche Disziplin ihre Bedeutung innerhalb kurzer Zeit diskursiv und institutionell untermauern.181 In der landwirtschaftlichen Praxis spielte die Aufmerksamkeit gegenüber den von Schädlingen ausgehenden Gefahren noch nicht die der wissenschaftlichen Diskussion entsprechende Rolle. So sind vielfache Beschwerden der wissenschaftlichen und der agrarischen Pflanzenschutzpioniere über die Ignoranz der Landwirte gegenüber den „kleinen Feinden“ überliefert. Die Vierländer Obstbauern etwa waren von der die Apfelernte limitierenden, aber insgesamt positiven Wirkung des Apfelblütenstechers überzeugt, Winzer äußerst skeptisch gegenüber Reblausbekämpfungsmaßnahmen.182 Dennoch gelangten gerade im Obst- und Weinbau erste Substanzen zur Anwendung. Mit der „Bordeauxbrühe“, einer Mischung von Kupfervitriol und Kalk, wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts das erste wirksame Fungizid gegen den Falschen Mehltau im Weinbau, später auch gegen Kraut- und Knollenfäule bei Kartoffeln, eingesetzt. Um die Zeit des Ersten Weltkrieges begannen sich große Chemieunternehmen in Deutschland für das bislang eher von Kleinunternehmen besetzte Thema Pflanzenschutz zu engagieren. So gründete die Farbenfabrik Bayer 1917 eine erste landwirtschaftliche Abteilung mit Forschungsinstitut. Wege der biologischen Schädlingsbekämpfung, wie man sie bereits im späten 19. Jahrhundert in den USA erforschte, wurden zwar auch schon vor dem Krieg in Deutschland diskutiert, blieben aber gegenüber der chemischen Variante ein nur minoritär entwickelter Forschungsstrang.183 Bis zu den späten dreißiger Jahren wurde das Spektrum an Pflanzenschutzmitteln auf rund 300 Präparate mit 24 verschiedenen Wirkstoffen erweitert, im Bereich der Insektizide vor allem Blei-, Zink- und Kalk-Arsenmittel sowie Nikotinpräparate.184 Aber erst die Entdeckung der insektiziden Wirksamkeit von DDT im Jahr 1939 durch den Schweizer Paul Müller führte zum Durchbruch des chemischen Pflanzenschutzes. Das von der Baseler Firma Geigy produzierte Präparat „Gesarol“ wurde bereits 1942 nach Deutschland exportiert und ab 1943 von der Berliner Firma Schering als Lizenzpartner hergestellt. Der sehr hoch eingeschätzte Bedarf, 1943/44 24.000 Ton179 180 181 182 183 184
Ditt 2001, S. 103. Haushofer 1963, S. 101 ; Jansen 2003, S. 277–334. Jansen 2003, S. 318 f., 386. Straumann 2005, S. 88 f., 119–122, 146. Eckart 1998, S. 139.
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Abb. 15 : Traktor beim Spritzen im Maisfeld 1987.
nen, konnte allerdings aufgrund von Rohstoffknappheit, aber auch wegen konkurrierender Aktivitäten der I.G. Farben nicht zufrieden gestellt werden, so dass 1944 der Einsatz auf genau beschriebene Aufgabenbereiche eingeschränkt wurde.185 Der Höhenflug der chemischen Schädlingsbekämpfung begann in den fünfziger Jahren. Die Ernteeinbußen durch Schädlinge, Krankheiten und Unkräuter wurden in den frühen Fünfzigern auf 20 bis 25% eingeschätzt. Durch die Intensivierung des Ackerbaus wuchs die Notwendigkeit des Pflanzenschutzes : Ein stärkeres Unkrautwachstum aufgrund des höheren Düngereinsatzes im Getreidebau, eine höhere Anfälligkeit gegen Pilzkrankheiten angesichts dichterer Bepflanzung, neuer Sorten und veränderter Fruchtfolgen und ein höherer Schadinsektenbefall von Monokulturen ließen die Anwendungen schnell ansteigen. Bereits zwischen 1950/51 und 1954/55 stiegen die Ausgaben für den Pflanzenschutz von 60 auf 110 Millionen DM an. Das Problem der Resistenzentwicklung wurde schon früh erkannt und mit höheren Dosen und neuen Wirkstoffen oder Wirkstoffkombinationen zu bekämpfen versucht. Ab den sechziger Jahren kam der Pflanzenschutz auch im Zuckerrübenanbau verstärkt zum Einsatz. Der Mangel an Arbeitskräften machte aus den Hackkulturen „Spritzkulturen“, da die Beseitigung der unerwünschten Unkräuter nicht mehr manuell bewältigt werden konnte.186 Bis 1970 steigerte sich der jährliche Einsatz in der 185 Straumann 2005, S. 236–245. 186 Eckart 1998, S. 247 f.; Büschenfeld 2001, S. 221–259, S. 224–238.
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Bundesrepublik auf etwa 17.000 Tonnen, für die 400 Millionen DM ausgegeben wurden. Mit 50 bis 60% nahmen Herbizide die vorrangige Position innerhalb des Pflanzenschutzspektrums ein, gefolgt von 25 bis 30% Fungiziden und fünf bis sechs Prozent Insektiziden. Trotz der in den 1970er Jahren einsetzenden Kritik an der Pflanzenschutzpraxis durch die entstehende ökologische Bewegung, zu deren Initialerlebnissen die Lektüre von Rachel Carsons „Silent Spring“ über die Auswirkungen von DDT zu zählen ist, stieg der Einsatz weiter an und erreichte in den achtziger Jahren mit mehr als 1800 verschiedenen Produkten und etwa 30.000 Tonnen jährlichem Verbrauch seinen Höhepunkt. Ähnlich wie bei Kunstdünger ist die Verbreitung der Pflanzenschutzmittel auf ein Zusammenwirken staatlicher, berufsständischer, wissenschaftlicher und privatwirtschaftlicher Initiativen zurückzuführen. Die Bedeutung dieses Themas für die Kriegswirtschaft wurde schnell erkannt, nach 1950 seiner Relevanz für die Versorgungssicherheit durch die Bereitstellung von Fördergeldern Rechnung getragen. Ein Netz von Beratern und Ausbildern aus staatlichen Schulungseinrichtungen, Landwirtschaftskammern, ihnen unterstellten Pflanzenschutzämtern und aus der Industrie vermittelte den Agrarproduzenten die für die Anwendung nötigsten Kenntnisse. Allerdings traten immer wieder bei Umfragen die Unsicherheiten der Nutzer bei Diagnose und Dosierung zutage. Nach anfänglicher Skepsis auf Seiten der Nutzer wird ab der Mitte der sechziger Jahre von einer verbreiteten Zustimmung zum chemischen Pflanzenschutz ausgegangen, die nicht zuletzt auch auf einen sozialen Druck unter den Agrarproduzenten zurückzuführen sein dürfte. Dass einzelne Landwirte, indem sie keine Pestizide anwendeten, den Erfolg ihrer Feldnachbarn gefährden könnten, wurde jedenfalls nicht nur in der Werbung und von der Beratung thematisiert, sondern dürfte auch im direkten Kontakt zur Sprache gekommen sein.187 Seit den achtziger Jahren wird verstärkt der „Integrierte Pflanzenschutz“ propagiert, in dem durch den Einsatz biologischer, züchterischer und anbaupraktischer Maßnahmen der Anteil der chemischen Präparate reduziert werden soll. Es lässt sich jedoch keine Verminderung der Absatzmenge erkennen, die um die Jahrtausendwende weiterhin auf 30.000 Tonnen verharrte, bis 2008 sogar auf 43.420 Tonnen angestiegen war.188 Auch in der DDR stieg der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln in den sechziger Jahren erheblich an, allein zwischen 1965 und 1970 um mehr als das Doppelte. 1988 erreichte – bei erheblich geringerer landwirtschaftlicher Nutzfläche – der jährliche Verbrauch mit etwa 30.000 Tonnen das gleiche Niveau wie in der Bundesrepublik. Wie in der Düngerversorgung waren auch für den Pflanzenschutz seit den späten 1960ern die Agrochemischen Zentren zuständig, die die von ihnen zu bearbeitenden riesigen Flächen teilweise mit Hubschraubern und Flugzeugen aus der Luft besprühen ließen.189 187 Eckart 1998, S. 248, 294 ; Büschenfeld 2001, S. 238, 240–245 ; Büschenfeld 2006, S. 147. 188 Büschenfeld 2001, S. 239 ; Statistisches Jahrbuch des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz 2010, Tabelle Nr. 83, http://berichte.bmelv-statistik.de/SJT3060710-0000.pdf, 14.7.2011. 189 Eckart 1998, S. 341, 359.
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4.8 Finanzielle Ressourcen 4.8.1 Landwirtschaftliches Einkommen im Kaiserreich
Die Einkommenssituation der Landwirtschaft zwischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg wird mittlerweile deutlich positiver gesehen als das unter dem Eindruck des Krisendiskurses des späten 19. Jahrhunderts lange Zeit auch in der Historiografie der Fall war. Die seit den 1830er Jahren anhaltende Steigerung der Agrarpreise und somit auch der „Geldreinerträge“ der Betriebe wurde zwar in den späten 1880er Jahren unterbrochen. Über Ertragssteigerungen konnten diese Preisdellen, die von steigenden Preisen nach 1900 abgelöst wurden, aber in der Regel mehr als ausgeglichen werden. Das Anwachsen der Wertschöpfung pro Hektar um 122% zwischen 1871 und 1913 lässt auf eine Verdoppelung der Einkommen vieler mittel- und großbäuerlicher Betriebe rückschließen. In den 1870er Jahren hatte sich das durchschnittliche Arbeitseinkommen der Landwirte gegenüber dem vorhergehenden Jahrzehnt von 318 auf 425 Mark um 34% gesteigert, war dann in den 1880er Jahren auf 405 Mark abgesunken, um sich in den 1890ern um fast zehn Prozent auf 445 Mark zu bewegen.190 Das Einkommen kleinbäuerlicher Betriebe dürfte, wenn der Gegenwert der zur Selbstversorgung produzierten Güter miteingerechnet wird, dem der Industriearbeiter entsprochen haben.191 Auch die Rentabilität des ostelbischen Großgrundbesitzes scheint nicht so schlecht gewesen zu sein, wie es im agrarpolitischen Streit dargestellt wurde. Ein Großteil der brandenburgischen Gutsbesitzer konnte eine durchaus wohlhabende Existenz führen, ein gutes Einkommen eines brandenburgischen Großbauern wurde um 1900 auf 3000 bis 6000 Reichsmark geschätzt.192 Eine kurz vor dem Ersten Weltkrieg von der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft in Auftrag gegebene Erhebung stellte für 200 untersuchte Großbetriebe für die Jahre 1906–1912 eine durchschnittliche Verzinsung des Gesamtvermögens von vier bis fünf Prozent fest.193 Ein freilich nicht zu verallgemeinerndes, aber in dieser Detailliertheit seltenes Fallbeispiel eines Hunsrücker Bauern mittlerer Betriebsgröße zeigt, dass die Einnahmen, die zwischen 1890 und 1900 jährlich bei etwa 1700 Mark lagen, in den fünfzehn Jahren danach auf knapp 3000 Mark gesteigert werden konnten. Aufgrund steigender Investitionen in die Intensivierung des Betriebs fiel der Gewinn, der im jährlichen Durchschnitt 553 Mark betrug und zwischen 1000 Mark im Jahr 1890 und Minusbeträgen bis 500 Mark am Anfang des Jahrhunderts pendelte, allerdings langfristig. Die Ausgaben des Wirtschaftsjahrs 1910 zeigen, wie die finanziellen Ressourcen eingesetzt wurden. 52% der Ausgaben waren Betriebsausgaben, die für Viehkauf, Baumaßnahmen, Düngemittel, Futtermittel und als Steuern aufzubringen waren. 29% waren Kosten für Haushalt und Kleidung, 19% 190 191 192 193
Flemming 1978, S. 20. Henning 21988, S. 155. Schiller 2003, S. 134. Heß 1994, S. 159.
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sonstige Kosten, die für Arztbesuche, Fahrkosten, Genussmittel, vor allem aber für Überweisungen für den Militärdienst leistenden Sohn fällig wurden.194 Verschuldung der Landwirtschaft Deutlich mehr als die Einkommenssituation ist die Verschuldung der Landwirtschaft diskutiert worden. So wurde eine „übermäßig starke Verschuldung“ als eine der „inneren Belastungen der deutschen Landwirtschaft“ verstanden.195 Bereits in der Enquete von 1883 stellte der Berichterstatter für den ostpreußischen Regierungsbezirk Gumbinnen fest, die Frage nach der Verschuldung des bäuerlichen Besitzes sei eine „ganz schwierige, weil namentlich der gut situirte Bauer überhaupt ungern Angaben macht und stets bemüht bleibt, sich durch dieselben als verschuldet und durch Steuern und Abgaben überlastet darzustellen.“196 Dementsprechend muss eine Betrachtung der Schuldensituation differenziert vorgehen und nach der Art der Schulden und dem Anteil der verschiedenen Betriebsgrößen an der agrarischen Schuldenlast fragen. Angesichts des Fehlens vergleichbarer statistischer Quellen und einer übereinstimmenden Methodik kann die Einschätzung der Autoren der Enquete nur als Annäherung an die Problematik gewertet werden, die aber eindeutige Tendenzen anzeigt : Die Lage der bäuerlichen Landwirtschaft um 1880 wird insgesamt eher positiv gesehen, indem die zwar in fast allen untersuchten Regionen angewachsene Verschuldung durch den ebenfalls angestiegenen Wert der Grundstücke und die verbesserte Ertragssituation in den meisten Fällen mehr als ausgeglichen wurde. Für Schleswig-Holstein etwa beschreibt der Präsident des Landwirtschaftlichen Centralvereins den „außerordentlichen Aufschwung der Landwirtschaft“ damit, dass viele Landwirte ohne hypothekarische Belastungen wirtschafteten und dass sich ein Vermögenszuwachs auch dann ergebe, wenn sich die Summe der Hypotheken verdoppelt, aber der Wert der Grundstücke sich verdreifacht. Als Gründe für Verschuldung werden Landerwerb, Erbausgleich, Betriebsinvestitionen, bei übermäßiger Verschuldung auch das schlechte Wirtschaften der Betriebsleiter, aber nur in Einzelfällen höhere Löhne und Steuern genannt. Selbst in Regionen, in denen eine sehr hohe hypothekarische Verschuldung festgestellt wurde, übertraf die Schuldensumme nicht ein Drittel des Gesamtwertes, was als noch mäßige Belastung verstanden werden kann. Lediglich für einige so unterschiedliche Untersuchungsregionen wie Westfalen oder Teile Frankens wird die Situation als problematisch dargestellt.197 Auch in der neueren Forschung wird das Bild der überschuldeten Landwirtschaft im Kaiserreich erheblich revidiert. So relativiert sich die in Statistiken von 1883 und 1896 deutlich erkennbare Steigerung der Hypothekenverschuldung bei allen Betriebsgruppen 194 195 196 197
Bauer 2009, S. 399–403. Wehler 1995, S. 58. Stoeckel 1882, S. 322. Bäuerliche Zustände 1883, passim.
Finanzielle Ressourcen
angesichts der gleichzeitig erfolgten Einkommens- und Vermögenszuwächse. Zudem stieg – entgegen gängiger Annahmen – die Verschuldung bäuerlicher Produzenten in einem weit höheren Ausmaß als die der Gutsbesitzer. Dennoch war etwa die Hälfte der Betriebe unterhalb des Großgrundbesitzes schuldenfrei. 1902 betrug die Schuldenlast der gesamten preußischen Landwirtschaft etwa ein Viertel ihres Gesamtvermögens, die des Großgrundbesitzes allerdings ein Drittel. In der regionalen Differenzierung zeigt sich, dass die östlichen Provinzen deutlich höher verschuldet waren : Die Verschuldung der Gutsbesitzer erreichte in der Rheinprovinz 16% des Gesamtvermögens, in Schleswig-Holstein und in Brandenburg etwa ein Drittel, in Schlesien und Pommern die Hälfte, in den Provinzen Ost- und West-Preußen und in Posen aber zwei Drittel. In Brandenburg, mit einer insgesamt mäßigen Verschuldungsrate, war jeder vierte Gutsbesitzer hoch und jeder siebte übermäßig verschuldet, allerdings auch ein Viertel des Großgrundbesitzes fast oder völlig schuldenfrei. Der Verschuldungsgrad lässt zudem keine genaue Aussage über die Wirtschaftskraft eines Betriebes zu. Bei Gütern, deren Erwerb noch nicht lange zurücklag, ist eine höhere Verschuldung anzunehmen als bei seit langem in Familienbesitz befindlichen Betrieben. Zudem ist für Pommern – durchaus verallgemeinerbar – festgestellt worden, dass eine hohe Verschuldung nicht unbedingt auf eine schlechte Wirtschaftsführung hinweisen muss, sondern eben auch höhere Investitionstätigkeit oder eine höhere Kreditfähigkeit, also auch eine höhere Intensität und Rentabilität anzeigen kann. Anders als die erhitzten und lang anhaltenden agrarpolitischen Debatten vermuten lassen, ist die Verschuldungssituation der deutschen Landwirtschaft vor 1914 insgesamt also deutlich positiver zu beurteilen. Das lässt sich auch daran erkennen, dass die ohnehin nur einen sehr geringen Prozentsatz der Eigentümer betreffenden Zwangsversteigerungen landwirtschaftlicher Haupterwerbsbetriebe zwischen 1881 und 1914 in allen Besitzgrößenklassen stark abnahmen. Ursachen für Zwangsversteigerungen scheinen weitaus eher Misswirtschaft und Fehlspekulationen gewesen zu sein als sinkende Preise und steigende Löhne.198 4.8.2 Zwischen Schwarzmarkt, Inflation und Agrarkrise – Einkommen in der Weimarer Zeit
Auch die Einkommens- und Verschuldungssituation der Landwirtschaft während der Weimarer Zeit lässt sich regional differenziert darstellen. In Kriegs-, Nachkriegs- und in Inflationszeiten sicherte der landwirtschaftliche Besitz die Wohn-, Heiz- und Nahrungsbedürfnisse der Bauernfamilien. Für die Nachkriegszeit, in der die Zwangswirtschaft weiter praktiziert wurde, ist auch von einem nicht quantifizierbaren, aber doch merklichen, lukrativen Engagement am Schwarzmarkt auszugehen.199 Die westfälische Landwirtschaft verzeichnete bis 1918 aufgrund fehlender Investitionsmöglichkeiten, aber auch guter wirt198 Heß 1990, S. 309–312 ; Heß 1994, S. 162–164 ; Buchsteiner 1993, S. 190–194 ; Schiller 2003, S. 103 f, 164–167. 199 Hempe 2002, S. 77.
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schaftlicher Ergebnisse während des Krieges, einen „enormen realen Vermögenszuwachs“. Nach 1918 gingen die Überschüsse zurück, was aber vor allem mit der wieder einsetzenden Investitionstätigkeit zu erklären ist. Die Entwicklung der Guthaben und Kredite zeigt eine andauernde Verbesserung der Wirtschaftslage der westfälischen Bauern bis 1923 an. In der Inflation konnten die landwirtschaftlichen Betriebe einen Großteil ihrer Schulden tilgen, so dass annähernde Schuldenfreiheit erreicht werden konnte. Insgesamt gelang es der deutschen Landwirtschaft, ihren Vorkriegsschuldenstand von 17,5 Milliarden Mark mit abgewertetem Geld abzuzahlen. Allerdings war auch Betriebskapital vernichtet worden und mussten ab 1924 neue Kredite aufgenommen werden, so dass die ansteigende Schuldenlast neben der Steuerlast und den fallenden Agrarpreisen eine Ursache für die Agrarkrise der späten 1920er Jahre bildete.200 Trotz der gravierenden Auswirkungen der Agrarkrise gerade auf norddeutsche Regionen wird für Westfalen angesichts guter Absatzbedingungen ein positives Fazit für die gesamte Weimarer Zeit gezogen : Bei Betrieben mit fünf bis 20 Hektar im westfälischen Münsterland wurde ein deutlicher Einkommenszuwachs registriert. Das Einkommen von Landwirten mit 20 bis 50 Hektar Landbesitz entsprach dem von Angestelltenhaushalten und auch bei Kleinbauern wurde ein höheres Einkommen als in Arbeiterhaushalten erzielt.201 Auch in Süd-Oldenburg erreichten Betriebe unter fünf Hektar zumindest in guten Jahren den Durchschnitt der Einkommen von Arbeiter- oder Angestelltenhaushalten, während ein Landbesitz von über 20 Hektar ein Einkommen auf dem Niveau von Handwerkern, Handelsberufen oder mittleren Beamten, ein Besitz von mehr als 50 Hektar ein einem höheren Beamten vergleichbares Einkommen ermöglichte.202 Stärker betroffen von der Agrarkrise war Schleswig-Holstein, wo die Verschuldung der Landwirtschaft in den späten zwanziger Jahren zu massiven Protesten führte.203 Vor allem aber der ostelbische Großgrundbesitz galt als hoch verschuldet. Bereits 1926, noch vor der Agrarkrise, waren nach einer repräsentativen Erhebung 42% der erfassten ostpreußischen Betriebe mit mehr als 100% ihres Einheitswertes völlig überschuldet, weitere 27% mit 61 bis 100% hoch verschuldet. Weniger als die Hälfte der deutschen Großgrundbesitzer zahlte zu diesem Zeitpunkt keine Einkommenssteuer, wirtschaftete also ohne Gewinn oder war verschuldet.204 Am Beispiel Mecklenburg lässt sich die Entwicklung nachzeichnen : Zwar profitierte auch dort der Großgrundbesitz wie die übrigen landwirtschaftlichen Betriebe bis 1923 von steigenden Preisen für die Agrarprodukte und konnte ebenfalls in der Inflation Schulden abbauen. Allerdings fehlten mit dem Verlust des Betriebskapitals danach die Möglichkeiten zu Investitionen. Die sich öffnende Schere zwischen den Preisen für landwirtschaftliche Erzeugnisse und Betriebsmittel, für Dünger, Maschinen und Neubauten, aber auch die wegen der bis in die späten 1920er Jahre noch hinter dem Vor200 Bergmann 1989, S. 208–211 ; Becker 1990, S. 88 ; Theine 1991, S. 28, 60. 201 Theine 1991, S. 50–67. 202 Böckmann 2000, S. 144–156. 203 Bergmann 1989, S. 208–222. 204 Hertenstein 1931, S. 426.
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kriegsstand zurückbleibenden Produktion spürbaren Umsatzeinbußen ließen den Gutsbesitzern innerhalb kürzester Zeit nur noch die Möglichkeit, zur Finanzierung der weiterhin gebotenen Intensivierung waghalsige Kredite aufzunehmen.205 Auch die kleinen und mittleren Betriebe in Franken hatten zunächst von der Inflation eher profitiert, dann aber in der Hyperinflation empfindlich zu spüren bekommen, dass der finanzielle Gegenwert für ihre Produkte sich schnell verflüchtigte, gleichzeitig aber Futtermittel kaum noch zu bezahlen waren. Nach der Inflation sanken die Preise für Agrarprodukte schneller als die für die Betriebsmittel, so dass die Verschuldung schnell wieder anstieg und mit Zinsen bis zu zehn Prozent, bei „fliegenden Krediten“ von privaten Geldgebern sogar bis zu 36%, etliche Betriebe bald vor dem Konkurs standen.206 Trotzdem waren die bäuerlichen Wirtschaften im Süden und Westen weitaus weniger von der Schuldenkrise betroffen. 78% der in der repräsentativen Erhebung 1926 erfassten südwestdeutschen Betriebe und 84% der nordwestdeutschen Betriebe galten als Gewinnbetriebe, 89% bzw. 85% waren nicht, leicht oder auf mittlerem Niveau verschuldet. Dass die klein- und mittelbäuerlichen Betriebe weniger Kredite aufnahmen, ist vor allem darin begründet, dass sie weniger Investitionen für Intensivierungen tätigten und fast keine Kosten für familienfremde Arbeitskräfte hatten. Zudem waren für südwestdeutsche Kleinbetriebe Kredite aus öffentlichen Mitteln kaum zu bekommen, da Betriebe unter einem Hektar Fläche, also immerhin 40% aller badischen Betriebe, von dieser Möglichkeit ausgeschlossen waren.207 Der Preissturz für agrarische Produkte infolge der Weltagrarkrise ab 1928 erfasste dann alle Betriebe, allerdings weiterhin die mit hohem Lohnaufwand ungleich stärker.208 In Preußen verdreifachte sich die jährliche Zahl der zwangsversteigerten Großbetriebe zwischen 1928 und 1931.209 Die Auswirkungen auf Kleinbetriebe lassen sich am Beispiel Franken darstellen : Der stockende Absatz des Getreides wurde noch verstärkt durch den Preisverfall für Vieh, der nicht zuletzt durch ein Überangebot verursacht wurde, das entstanden war, weil viele Landwirte die Futtermittel nicht mehr zahlen konnten und daher ihre Tiere früher auf den Markt brachten. Gerade die Kleinbauern, deren wichtigste Finanzquelle der Verkauf von wenigen Stück Vieh pro Jahr ausmachte, wurden so vor massive Probleme gestellt. Das erklärt auch, warum es gerade in Bayern zwischen 1931 und 1932 zu einem weit überdurchschnittlichen Anstieg der Zwangsversteigerungen um 62,7% kam.210 4.8.3 Festpreispolitik und Umschuldung in der NS-Zeit
1932 hatte das landwirtschaftliche Einkommen den Tiefpunkt erreicht. Bis 1933 stiegen die Einkünfte wieder um 9,1% an, bis 1934, bedingt durch die Festpreispolitik der Nati205 Becker 1990, S. 93 ; Nabert 1992, S. 79 ; Hempe 2002, S. 271–279. 206 Kittel 2000, 458 f. 207 Hertenstein 1931, S. 426, 434. 208 Busch 1931, S. 389–404, S. 403. 209 Nabert 1992, S. 168. 210 Kittel 2000, S. 556–560.
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onalsozialisten, um weitere 21,1%. Da für Produktionsmittel keine Festpreise galten, kam der Aufwärtstrend 1935/36 ins Stocken. Eine leichte Erhöhung der Agrarpreise ließ die Einkommen ab 1937 wieder steigen. Auch wenn sich die landwirtschaftlichen Einnahmen zwischen 1932/33 und 1938/39 mehr als verdreifacht hatten, blieben die Einkommenszuwächse ab 1936/37 deutlich hinter denen in Industrie und Gewerbe zurück. So hatte das Einkommen im primären Sektor bis 1938 annähernd den Stand von 1927 erreicht, während das des sekundären Sektors in der gleichen Zeitspanne um 23% gesteigert wurde. Die Preiserhöhungen in der Kriegszeit ließen die agrarischen Einkommen dann wieder merklich ansteigen. Der durchschnittliche Überschuss pro Hektar erhöhte sich von 131 Reichsmark 1936/39 auf 234 Reichsmark im Wirtschaftsjahr 1943/44.211 Von der Einkommenssteigerung zwischen 1933 und 1937 profitierten die verschiedenen Betriebsgrößen in unterschiedlicher Weise. Während in den Großbetrieben das Einkommen je Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche um 62 Reichsmark, in den Mittelbetrieben um 53 Reichsmark anstieg, wuchs es bei den Kleinbetrieben nur um 36 Reichsmark.212 Das dürfte mit den bei stabilen Agrarpreisen bezogen auf die Fläche geringeren Betriebskosten der größeren Betriebe zu erklären sein. Die von den Nationalsozialisten geplante Umschuldung der deutschen Landwirtschaft hatte bereits Vorläufer in den zwanziger Jahren : die Stundung der Winzerkredite 1925 und vor allem die ab 1926 zunächst für die besonders hoch verschuldeten ostpreußischen Betriebe geplanten, 1931 auf das Reichsgebiet ausgedehnten Programme.213 Mit dem im Juni 1933 erlassenen Entschuldungsgesetz war die Entlastung der gesamten Landwirtschaft vorgesehen, letztlich nahmen aber nur fünf Prozent der Betriebe an dem Programm teil, das die Verschuldung der Antragsteller öffentlich machte und erhebliche Einflussnahme auf die Betriebsführung zur Folge haben konnte. Der Erfolg des Verfahrens war zweifelhaft, es kam häufig zu nur kurzzeitigen Entlastungen durch die Ermäßigung der Zinsen oder die Kürzung der Gläubigerforderungen, die die Probleme der betroffenen Betriebe nicht nachhaltig lösen konnten.214 Großbetriebe profitierten überdurchschnittlich von der Entschuldungsaktion. So konnten 16,6% der mecklenburgischen Großbetriebe im Rahmen des Entschuldungsverfahrens ihre Schulden um insgesamt 17,9% absenken. Ebenfalls am Beispiel Mecklenburg kann gezeigt werden, dass der Schuldenabbau einiger repräsentativer Großgüter in den Kriegsjahren erfolgte. Angesichts des seit 1939 steigenden Geldüberschusses scheint das für große Teile der deutschen Landwirtschaft gelten zu können.215
211 Münkel 1996, S. 111, 128 ; Corni/Gies 1997, S. 345 f ; Niemann 2000, S. 208. 212 Saldern 1979, S. 119. 213 Becker 1990, S. 263 f. 214 Münkel 1996, S. 280–320. 215 Niemann 2000, S. 197–213.
Finanzielle Ressourcen
4.8.4 Einkommenssteigerungen dank staatlicher Förderung – die Entwicklung nach 1945
Diese Entwicklung zeigt sich auch an dem niedrigen Schuldenstand von 1948 : Gegenüber den 6,2 Milliarden Reichsmark von 1939 hatte sich die Summe bis 1948 auf 2,5 Milliarden reduziert, um dann bis Mitte der fünfziger Jahre wieder auf den Vorkriegsstand anzuwachsen. Auffällig daran sind der Rückgang des Anteils der Hypotheken und das Ansteigen der persönlichen Schulden, die 1948 fünf Prozent, 1954 aber 50% der Schuldensumme ausmachten.216 Das dürfte mit einer erneuten Auseinanderentwicklung von Agrarpreisen, Betriebsmittelpreisen und Löhnen zu erklären sein. Zwischen 1948/49 und 1954/55 verdoppelten sich die Betriebsausgaben, wobei insbesondere die Posten für Löhne, Dünger, Futtermittel und Maschinen stark ins Gewicht fielen.217 Regional und betriebsgrößenbezogen differierten die Ergebnisse sehr stark. 1954/55 schwankte der Betriebsertrag pro Hektar zwischen 773 DM in den süddeutschen Futterbaubetrieben und 2529 DM in den nordwestdeutschen Zuckerrübengebieten. Das jährliche Einkommen pro Arbeitskraft bewegte sich zwischen 1583 und 5830 DM.218 Im Durchschnitt betrug es 2899 DM und lag somit 17,2% niedriger als der gewerbliche Vergleichslohn. In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre begannen die Einkommen der Landwirte deutlich anzuziehen. Eine Steigerung der Realeinkommen um jährlich (!) 10,9% bis Ende der fünfziger Jahre, um 8,1% in den sechziger Jahren und – dann nach einem Höhepunkt um die Mitte der siebziger Jahre – nur noch um 2,8% in den siebziger Jahren ließ die landwirtschaftlichen Einkünfte zeitweise über die Vergleichseinkommen in Industrie und Gewerbe hinauswachsen. Die Aufgabe kleiner unrentabler Betriebe, somit das Verschwinden ihrer unterdurchschnittlichen Einkünfte aus der Statistik, und die Übernahme ihrer Flächen durch die größeren Betriebe hatten zu diesem Wachstum ebenso beigetragen wie der Wechsel von einer arbeitsintensiven zu einer kapitalintensiven Wirtschaftspraxis. Ohne die mit dem Landwirtschaftsgesetz von 1955 initiierten Maßnahmen (Mindestpreise, Preiszuschläge, Verbilligungen von Betriebsmitteln, Steuererleichterungen) wäre allerdings diese Entwicklung kaum möglich gewesen.219 Der Rückgang der Realeinkommen seit der Mitte der siebziger Jahre ist daher nicht nur mit der Verteuerung der Betriebsmittel, sondern vor allem mit den Versuchen, die Ausgaben der europäischen „Gemeinsamen Agrarpolitik“ zu begrenzen, zu erklären. 1988/89 betrug der Anteil der öffentlichen Förderung durch Subventionen, Zinsverbilligungen, Milchrechte und Einkommensausgleich am Gewinn von Vollerwerbsbetrieben 37%, von Zuerwerbs betrieben 49% und von Nebenerwerbsbetrieben sogar 102%.220 Am von Abschreibungen 216 Statistisches Jahrbuch 1956, S. 116. 217 Statistisches Jahrbuch 1956, S. 112. 218 Müller 1956, S. 206–210, S. 209. 219 Kluge 1989 a, S. 246, 274 ; Brandkamp 1982, S. 494–510. 220 Brandkamp 1990, S. 7.
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bereinigten durchschnittlichen Gewinn eines Haupterwerbsbetriebes im Wirtschaftsjahr 2006/07 von 41.125 Euro machten die staatlichen Zulagen und Zuschüsse mit 27.198 Euro zwei Drittel der Summe aus.221
221 Statistisches Jahrbuch 2008, S. 162.
5 Arbeit
5.1 Arbeitskräfte 5.1.1 Prozentualer Rückgang im Kaiserreich
Zwischen 1878 und 1913 sank der Anteil der in der Landwirtschaft erwerbstätigen Personen im Deutschen Reich von 49,1% auf 35,1%. In absoluten Zahlen kann aber – aufgrund des Bevölkerungswachstums – von einem Rückgang keine Rede sein. Arbeiteten 1878 9,7 Millionen Menschen in der Landwirtschaft, so waren es 1907 12,7 Millionen.1 Die Schwierigkeit der Statistik, verlässliche Zahlen zu liefern, ergibt sich aus der Struktur der Arbeitsverhältnisse in der Landwirtschaft. So wurden in den Zählungen von 1882 und 1895 die so genannten „mithelfenden Familienangehörigen“ nur unzureichend erfasst. Die Zahl der Frauen unter den Erwerbstätigen wurde mit 2,5 bzw. 2,7 Millionen deutlich zu niedrig angegeben und 1907 mit neuer Methode auf 4,6 Millionen eingeschätzt. Die Anzahl der Familienangehörigen der agrarisch Erwerbstätigen variiert zwischen 1882 und 1907 zwischen 10,5 und 7,6 Millionen, auch hier ist die Verschiebung innerhalb der Statistik ursächlich für die starke Differenz.2 Dennoch kann festgehalten werden, dass – nach den Maßstäben der Zählung von 1907 – etwas weniger als die Hälfte der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft weiblich war und zusammen mit den Familienangehörigen etwa 17,5 Millionen Menschen von der Landwirtschaft lebten. Auf die Zahl der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft lässt das nur einen ungefähren Schluss zu, denn aus der Summe der Familienangehörigen geht nicht hervor, wie viele von ihnen als Kinder und Jugendliche oder als haushaltsangehörige Verwandte im landwirtschaftlichen Betrieb mitarbeiteten. Zudem muss beachtet werden, dass die statistischen Angaben aus den landwirtschaftlichen Betriebszählungen, in denen alle in der Landwirtschaft tätigen Personen erfasst wurden, zu völlig anderen, nämlich weitaus höheren Ergebnissen führen als die aus den Volks- und Berufszählungen hervorgehenden Daten, die die Erwerbstätigen nach ihrem Hauptberuf definieren. Das führt auch in der neueren Literatur immer wieder zu unterschiedlichen Angaben. Die Zahl der Neben- oder Zuerwerbslandwirte, deren Haupteinkommen aus handwerklicher oder gewerblicher Tätigkeit stammte oder die als Arbeiterbauern zwischen primärem und sekundärem Sektor pendelten3, lässt sich nicht genau bestimmen. Fast alle Parzellenbetriebe und ein Teil der Kleinbetriebe dürften zu dieser Kategorie zu zählen sein. Etwa zwei Drittel der in der Landwirtschaft arbeitenden Menschen waren selbstständige Landwirte oder „mithelfende Familienangehörige“, ein Drittel arbeitete als Gesinde, 1 Wehler 1995, S. 692 ; Oltmer 1995, S. 14. 2 Hohorst/Kocka 1975, S. 66 ; Achilles 1993, S. 284. 3 Zimmermann 1998, S. 176–181 ; Zimmermann 2011, S. 155–178.
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Landarbeiter oder Verwalter.4 Die bäuerliche Landwirtschaft dominierte eindeutig : Während 21% der ständig in der Landwirtschaft Beschäftigten in Parzellenbetrieben und 71% in bäuerlichen Klein-, Mittel- und Großbetrieben arbeiteten, waren es nur acht Prozent in Betrieben des Großgrundbesitzes.5 Die in bäuerlich und gutswirtschaftlich geprägten Regionen unterschiedliche Arbeitskräftebesetzung zeigt ein Vergleich zwischen dem Regierungsbezirk Osnabrück in der preußischen Provinz Hannover und Pommern. 30% der Arbeitskräfte im Regierungsbezirk Osnabrück gehörten 1907 nicht der Familie des Betriebsleiters an, die Hälfte von ihnen arbeitete allerdings nur saisonal. Nur ein Fünftel des ständigen familienfremden Arbeitspersonals waren Lohnarbeiter, der überwiegende Teil arbeitete als Gesinde. Mit 28% stellten die ständig mitarbeitenden Familienangehörigen die größte Gruppe, 23% wurden als nicht ständig mithelfende Familienangehörige in der Statistik geführt.6 Im Pommerschen Großgrundbesitz dagegen wurde die Arbeit 1907 vollkommen anders organisiert. Lediglich 0,7% der Arbeitskräfte auf einem Gut mit mehr als 100 Hektar Land waren mithelfende Familienangehörige, 1,6% Betriebsleiter (davon knapp ein Viertel als Verwalter), 3,9% arbeiteten als Angestellte, 13,3% als Gesinde, 49,3% als ständige Tagelöhner und 31,2% als Saisonarbeiter.7 Trotz des Anstiegs der Zahl der landwirtschaftlich Erwerbstätigen klagten die zeitgenössischen Beobachter über Arbeitskräftemangel. Lediglich bei kleineren bäuerlichen Wirtschaften wurde nach der Aussage der Berichterstatter der Enquete von 1882 die Arbeitskraft der Betriebsangehörigen nicht voll ausgenutzt und waren daher noch Kapazitäten für gewerbliche Nebenerwerbstätigkeiten, häufig Transport-, Holz- und Waldarbeiten, aber immer auch noch heimgewerbliche Tätigkeiten, frei.8 Aus einzelnen Regionen, etwa aus dem westfälischen Regierungsbezirk Arnsberg, wurde eine sehr starke Abwanderung in die Industriebezirke gemeldet.9 Besonders hoch war der Abzug landwirtschaftlicher Arbeitskräfte in den nordöstlichen preußischen Provinzen. So wanderten aus Ostpreußen zwischen 1881 und 1910 630.000 Menschen ab.10 Die höheren Löhne und besseren Vertragsbedingungen im Industriesektor, aber auch die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft, insbesondere die Auflösung der patriarchalischen Instverfassung, nach der die gesamte Landarbeiterfamilie in das gutswirtschaftliche System eingebunden war, und die Saisonalisierung der Lohnarbeiten im Hackfruchtbau, motivierten vor allem Angehörige der unterbäuerlichen Schichten, die als Arbeitskräftereservoir für Landarbeiten bereit gestanden hatten, zur Abwanderung.11 Die dadurch 4 Born 1985, S. 25. 5 Oltmer 1995, S. 14. 6 Ebenda, S. 89. 7 Buchsteiner 1993, S. 149 8 Bäuerliche Zustände 1883, passim. 9 Winkelmann 1883, S. 13. 10 Bade 2004, S. 143. 11 Bade 2004 ; Grant 2005, S. 112.
Arbeitskräfte
entstehende, in der zeitgenössischen Publizistik viel beklagte „Leutenot“ wurde teilweise durch osteuropäische Saisonarbeiter ausgeglichen. Wenn trotz des Anstiegs der Beschäftigtenzahl über Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft geklagt wurde, so lässt das auf einen aufgrund der Produktionsintensivierung höheren Arbeitsbedarf rückschließen. Die stark gestiegene Viehhaltung, insbesondere auch der Übergang von extensiver zu arbeitsintensiver Praxis (Stallfütterung), die Ertragssteigerungen im Ackerbau und der verstärkte Anbau von Hackfrüchten, hier vor allem die Ausweitung des Zuckerrübenanbaus, bedeuteten einen erheblichen Anstieg an Arbeitsleistung. So wuchs der Arbeitsbedarf im Pflanzenbau beim Übergang von einem Dreifeldersystem zu einer Rotationsfolge, die Zuckerrüben integrierte, um geschätzte 346% an.12 Insgesamt wurde für die Zeitspanne zwischen 1850 und 1910/13 ein Mehrbedarf von 3,6 Millionen Arbeitskräften errechnet, dem eine Zunahme von 2,3 Millionen Arbeitskräften gegenübersteht. Der Fehlbedarf der Arbeitsleistung von 1,3 Millionen Arbeitskräften musste also durch geschätzte zehn Prozent Mehrarbeit der in der Landwirtschaft Beschäftigten ausgeglichen werden.13 Auch wenn solche Berechnungen immer nur Annäherungscharakter haben können, zeigen sie doch eindeutige Tendenzen auf. Bäuerliche Betriebe waren wesentlich stärker von der Steigerung der Arbeitsbelastung betroffen als die Großbetriebe, in denen die Intensivierung im Pflanzenbau schon enger mit Mechanisierungs- und Maschinisierungsprozessen verbunden war und die Viehhaltung pro Hektar Nutzfläche wesentlich niedriger lag. Gerade Hackfruchtwirtschaft und Viehhaltung waren am Ende des 19. Jahrhunderts schon traditionell Arbeitsbereiche, in denen besonders Frauen zum Einsatz kamen. Ein Großteil der Mehrarbeit wurde also von ihnen getragen, was in der wissenschaftlichen Publizistik der Zeit bereits erkannt und in seiner Bedeutung für die Gesundheit der Frauen kritisch hinterfragt wurde.14 Für einen großen Teil der kleinst- und kleinbäuerlichen Wirtschaften ist anzunehmen, dass Frauen zusammen mit den Kindern und eventuell Angehörigen der älteren Generation das Gros der Arbeitsanforderungen bewältigten, während der Mann außerhalb industriell oder gewerblich erwerbstätig war. Der Begriff Nebenerwerbsbetrieb bezieht sich nur auf die Zuordnung der gesamten Familieneinkünfte. Für die Ehefrau stellte sich die Versorgung der Agrarwirtschaft neben der der Familie durchaus als Haupterwerb dar.15 Am Beispiel emsländischer bäuerlicher Betriebe kann gezeigt werden, wie durch die Praxis der Mischwirtschaft versucht wurde, Arbeitsspitzen zu nivellieren und so weitgehend auf familienfremde Arbeitskräfte verzichten zu können. Fehlende familieneigene Arbeitskräfte wurden durch Gesinde ersetzt, bei kurzfristigem Arbeitsbedarf zusätzliche Arbeitskräfte, meist als Tagelöhner, hinzugezogen.16 Wie im Hunsrück ist in vielen Regionen zwischen 1880 und 1914 ein deutlicher Rückgang der familienfremden Arbeitskräfte, 12 Grant 2005, S. 247. 13 Achilles 1993, S. 275–284. 14 Bidlingmaier 2009, S. 17–51. 15 Werner 1989, S. 29–42. 16 Oltmer 1995, S. 21 f, 99 f.
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insbesondere des Gesindes, zu beobachten, der auf lange Sicht zu einer „Verbäuerlichung“ des Produktionsprozesses und erst jetzt zum Durchbruch des – im eigentlichen Sinn – „bäuerlichen Familienbetriebs“ führte.17 Zweifelsohne führte auch hier das konkurrierende Arbeitsplatzangebot in der Industrie zur Abwanderung von Arbeitskräften. Angesichts der trotzdem anwachsenden Zahl von in der Landwirtschaft arbeitenden Personen lässt sich allerdings auch nach dem Effekt der demografischen Veränderungen fragen : Wie schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dürfte auch jetzt die Gesindezahl in den Haushalten umgekehrt proportional zur Zahl der arbeitsfähigen Kinder gestanden haben.18 Der Rückgang der Kindersterblichkeit könnte zu einem höheren Potenzial an familieneigenen Arbeitskräften geführt haben. Selbst wenn ein wachsender Anteil der jungen Generation den primären Sektor seinerseits verließ, standen den Betrieben zumindest zeitweise zusätzliche Helfer zur Verfügung. Dass diese Strategie der Arbeitsorganisation betriebswirtschaftlich sinnvoll war, zeigen die Einschätzungen verschiedener Beobachter der Landwirtschaft um 1880 : Für so unterschiedliche Regionen wie die bayerische Rheinpfalz, die Oldenburgische Geest und Posen wurde festgestellt, dass der Reinertrag pro Hektar bei kleineren Betrieben wegen des Verzichts auf fremde Arbeitskräfte höher war.19 Arbeitszeit Berechnungen der Arbeitszeit können meist nur Tendenzen angeben. Für einen bäuerlichen Betrieb im Hunsrück liegt eine Buchführungsbilanz vor, aus der die täglichen Arbeitsstunden der einzelnen Familienmitglieder ersehen werden können. Demnach arbeitete der männliche Betriebsleiter im Sommer an Werktagen zwölf Stunden, seine Frau acht, der erwachsene Sohn zehn und die noch schulpflichtigen Kinder je sechs Stunden in der Landwirtschaft. Im Winter reduzierte sich die tägliche Arbeitszeit beim Mann um fünf, bei der Frau und beim Sohn um vier und bei den Kindern um drei Stunden.20 Allerdings sind hier nur die rein landwirtschaftlichen Arbeiten erfasst. Insbesondere die Arbeitszeit der Frau ist um die meist beträchtliche Hausarbeit zu erweitern. Eine 1914 publizierte Befragung von Frauen nach ihren Arbeitsbedingungen gibt dementsprechend eine tägliche Stundenzahl von 15,5 für den Sommer und 12,5 für die Winterzeit an.21 5.1.2 Abwanderung der familienfremden Arbeitskräfte
Die quantitative Entwicklung bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs spiegelt die ökonomischen Konjunkturen der Zeit. Im Ersten Weltkrieg hatte die Mobilisierung von ins17 Bauer 2009, S. 193–197. 18 Mahlerwein 2001, S. 99. 19 Petersen 1883, S. 263 ; Mendel 1883, S. 50 ; Nathusius 1883, S. 37. 20 Bauer 2009, S. 401 f. 21 Jones 2009, S. 46.
Arbeitskräfte
gesamt 13 Millionen Männern gerade im agrarischen Milieu einen massiven Arbeitskräftemangel zur Folge, der durch den Einsatz von Hilfsdienstpflichtigen und – vor allem russischen – Kriegsgefangenen nicht aufgefangen werden konnte, da insbesondere qualifizierte Arbeitskräfte fehlten.22 Die schwierige wirtschaftliche Situation in der Nachkriegszeit und der Inflation ließ vielen bereits in die Industrie Abgewanderten keine Alternative als die temporäre, existenzsichernde Wiederaufnahme der Beschäftigung in der Landwirtschaft, so dass verglichen mit den Zahlen der landwirtschaftlichen Betriebszählung von 1907 die Zahl der in der Landwirtschaft tätigen Personen bis 1925 um zwölf Prozent auf 14,43 Millionen zunahm. Da sich gleichzeitig die Zahl der Landarbeiter und familienfremden Arbeitskräfte um 600.000 reduzierte, ist der Anstieg ausschließlich mit der Rückkehr von zwei Millionen Betriebsleitern und Familienangehörigen in die Landwirtschaft zu erklären. Allein die Hälfte der wieder neu in der Agrarwirtschaft Erwerbstätigen wurde in Parzellenbetrieben gezählt. Auch der Rückgang der landwirtschaftlichen Bevölkerung bis 1933 um 1,2 Millionen auf 13,1 Millionen Personen ist vor allem auf die Abwanderung der familienfremden Arbeitskräfte und der Landarbeiter zurückzuführen, während sich die Zahl der Familienarbeitskräfte wegen der schwierigen Lage im sekundären Sektor infolge der Weltwirtschaftskrise nur langsam veränderte. Die ansteigende industrielle Konjunktur nach 1933 führte dann bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges zu einer spürbaren Verringerung der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte auf 11,6 Millionen, die diesmal vornehmlich mit dem Abzug der familieneigenen Kräfte zu erklären ist.23 Die regional unterschiedlichen Betriebsgrößenstrukturen prägten auch weiterhin den Arbeitskräftebesatz. Die höchste Arbeitskräftedichte und die meisten Betriebsinhaber wurden in Südwestdeutschland gezählt, die geringste Dichte im Nordosten. Dort übertraf die Zahl der familienfremden Arbeitskräfte die der Betriebsinhaber, Nebenerwerbslandwirte blieben eine fast zu vernachlässigende Größe. Während im Osten Tagelöhner und Lohnarbeiter unter den familienfremden Arbeitskräften mit weitem Abstand dominierten, blieb deren Anzahl im Westen und im Süden weit unter der der ständigen Arbeitskräfte, dem familienintegrierten Gesinde.24 In Westfalen verfügten Betriebe mit mehr als zehn Hektar Fläche über mindestens eine fremde Arbeitskraft, der bäuerlichen Struktur entsprechend in vier Fünftel der Fälle Gesindepersonen. Lediglich in den mittel- und großbäuerlichen westfälischen Regionen war der Anteil an „freien“ Arbeitskräften höher, hier dominierte allerdings immer noch das Heuerlingssystem über die Lohnarbeit.25 In den arbeitsintensiven Großbetrieben der Provinz Sachsen sank die Zahl der fremden Arbeitskräfte vor allem nach 1925 rapide ab. War der Rückgang der Wander- und Saisonarbeiter zwischen 1907 und 1925 durch eine Erweiterung des Bestandes an ständigen Arbeitskräften aufgefangen worden, so waren die Bemühungen der Großlandwirte, die Gutstagelöhner und Deputan22 Oltmer 1995, S. 28, 33 ; Eckart 1998, S. 71 f. 23 Berthold 1974, S. 111 f.; Wehler 2003, S. 276 f. 24 Eckart 1998, S. 114 f. 25 Theine 1991, S. 309–315.
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ten weiterhin durch Werkwohnungen mit Möglichkeit zu eigener kleiner Landwirtschaft an den Betrieb zu binden, einigermaßen erfolgreich. Ein erheblicher Teil der Knechte und vor allem der nichtständigen Arbeitskräfte wanderte aber aufgrund der wesentlich besseren Lohnsituation in der Industrie bis 1933 ab.26 In Württemberg wurden um 1933 bereits mehr als vier Fünftel aller Betriebe nur von familieneigenen Kräften bewirtschaftet.27 Zunehmende Belastung der Frauen Der forcierte Abzug von Arbeitskräften nach 1933 bereitete der Landwirtschaft – zumal angesichts erhöhter Anforderungen im Rahmen der „Erzeugungsschlacht“ – erhebliche Probleme, die weder durch agrarpolitische Programme, etwa kürzere oder längerfristige Arbeitseinsätze durch Arbeitslose, Schüler, Schulabgänger, Reichsarbeitsdienstangehörige, Soldaten, das Anwerben ausländischer Saisonarbeiter und Propagandamaßnahmen zur Landarbeiteranwerbung, noch durch die noch zu zurückhaltende Maschinisierung gelöst werden konnten, sondern einen erhöhten Arbeitseinsatz für die im Betrieb Verbliebenen, insbesondere für die Frauen, bedeuteten.28 Noch mehr als die Abwanderung von Lohnarbeitskräften ist der Übergang vieler Betriebe zum Nebenerwerb als Ursache dafür anzusehen, dass die Frauen mit wachsenden Arbeitsanforderungen belastet wurden. Gerade in diesen Klein- und Nebenerwerbsbetrieben waren die Geschlechterrollen in der Arbeitsverteilung deutlich schwächer ausgeprägt, indem Frauen Arbeiten in der Außenwirtschaft oder im Stall verrichteten, die in größeren Betrieben meist den Männern vorbehalten waren.29 Dass vor allem diese Frauen auch mit gesundheitlichen Folgen der Arbeitsüberlastungen zu kämpfen hatten, zeigt eine Untersuchung aus dem Jahr 1939, die bei Kleinbäuerinnen aus Betrieben bis vier Hektar im Vergleich mit Bäuerinnen in größeren Betrieben, Fabrikarbeiterinnen und städtischen Hausfrauen den schlechtesten Gesundheitszustand feststellten.30 Untersuchungen dieser Art wurden aufgrund des die nationalsozialistischen Machthaber alarmierenden Befunds zunehmender Fehlgeburten und reduzierter Geburtenhäufigkeit im klein- und mittelbäuerlichen Milieu angestellt, blieben allerdings konsequenzlos. Im Gegenteil wuchs durch den Krieg die Arbeitsbelastung der Frauen in der Landwirtschaft erheblich an.31 Bereits in den ersten Kriegsjahren wurde der Verlust an männlicher Arbeitskraft in der Landwirtschaft auf 45% eingeschätzt. Zwischen 1939 und 1944 wurden 2,3 Millionen Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft abgezogen. Diese Lücke mussten die Frauen und zunehmend dienstverpflichtete Personen und vor allem etwa drei Millionen Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter füllen.32 26 Nabert 1992, S. 60, 68, 184. 27 Borcherdt 1985, S. 154. 28 Meier-Kaienburg 1992, S. 87 f.; Münkel 1996, S. 338–351. 29 Albers 2001, S. 59, 63. 30 Jacobeit 1989, S. 84. 31 Silberzahn-Jandt 1999, S. 119–130, S. 122. 32 Corni/Gies 1997, S. 433–468, bes. 437 ; Eckart 1998, S. 159.
Arbeitskräfte
Abb. 16 : Kartoffel-Lesen 1957.
5.1.3 Die Familialisierung der landwirtschaftlichen Arbeit nach 1945
Wie schon nach dem Ersten Weltkrieg stieg auch nach 1945 angesichts entlassener Soldaten und nun auch heimatvertriebener Arbeitssuchender die Zahl der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte wieder an. 1946 wurden in den vier Besatzungszonen 7,83 Millionen landwirtschaftlich erwerbstätige Personen gezählt, 28,9% aller Erwerbstätigen (hierbei handelt es sich – wie auch im Folgenden – um Zahlen aus Volks- und Berufszählungen, die also nur die hauptberuflich Erwerbstätigen und die mithelfenden Familienangehörigen erfassen).33 1950 wurden in der Bundesrepublik 5,1 Millionen Erwerbstätige in der Landwirtschaft erfasst, gegenüber den auf das gleiche Gebiet bezogenen Zahlen von 1939 ein Rückgang um 200.000 Personen. In den folgenden Jahrzehnten beschleunigte sich der langfristige Trend in einem bis dahin unbekannten Tempo. Bis 1960 ging die Zahl der agrarisch Erwerbstätigen auf 3,54 Millionen und ihr Anteil an allen Erwerbstätigen von 27% auf 13,4% zurück. 1970 arbeiteten nur noch 1,99 Millionen hauptberuflich oder als mithelfende Familienangehörige in der Landwirtschaft (7,5%), in der Volkszählung von 1987 wurden nur noch 866.100 Personen erfasst, der Anteil war auf 3,2% abgesunken. Da in diesen Zählungen die Arbeiter in der Forstwirtschaft und im Fischereiwesen mit ein33 Fritz 2001, S. 177, 273 f.
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bezogen wurden, ist die Zahl der agrarisch Tätigen noch tiefer anzusetzen.34 Die besseren Verdienstmöglichkeiten sowie Lebens- und Arbeitsbedingungen im sekundären und tertiären Sektor veranlassten die agrarischen Akteure zum Ausstieg aus der (Haupterwerbs-) Landwirtschaft. Die bereits in der ersten Jahrhunderthälfte erkennbare Familialisierung der landwirtschaftlichen Arbeit, zunehmend auch die Konzentration auf den – in vier Fünfteln der Fälle männlichen – Betriebsleiter, ist den Statistiken deutlich zu entnehmen. So stieg der relative Anteil der Betriebsleiter an der Gesamtheit der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte von einem Viertel im Jahr 1950 über ein Drittel 1960 auf 41,2% 1987. Der Anteil der – etwa zu drei Viertel weiblichen, also inklusive der Ehefrauen – mithelfenden Familienangehörigen reduzierte sich in den fünfziger Jahren nur geringfügig von 53% auf 50,1%. Bis 1987 sank er auf 25,2% ab, wobei an der Geschlechterverteilung zu erkennen ist, dass etwa die Hälfte der männlichen Betriebsleiter ohne ihre Ehefrauen wirtschaftete. Dieser Tendenz dürfte auch zuzuschreiben sein, dass die Zahl der familienfremden Arbeiter, die von 1950 bis 1970 um drei Viertel abnahm, sich in den siebziger und achtziger Jahren nur noch langsam verringerte und im prozentualen Anteil an den Arbeitskräften sogar von 12,1% auf 20,6% zunahm.35 Nebenerwerbsbauern In diesen Zahlen sind die nebenberuflich in der Landwirtschaft Arbeitenden nicht erfasst. Der relative Anteil der Nebenerwerbsbetriebe nahm seit den fünfziger Jahren kontinuierlich zu. Waren 1956 knapp 30% aller Betriebe im Nebenerwerb geführt worden, so stieg ihr Anteil bis 1979 auf 50,2%, bis 1989 auf 53,25%. Die Nebenerwerbsbauern der fünfziger Jahre bewirtschafteten überwiegend Parzellen- und Kleinbetriebe. Zwei Drittel verfügten 1956 über weniger als zwei Hektar, 27,6% über Flächen zwischen zwei und fünf Hektar. 36 Unter dem Begriff der Nebenerwerbslandwirtschaft konnten in diesen Jahren unterschiedliche Betriebstypen zusammengefasst werden : Wirtschaften, die von selbstständigen Handwerkern, Witwen und Rentnern oder Arbeitnehmern in der Industrie, dem Handwerk oder dem Gewerbe betrieben wurden, und die von einer viehlosen Kleinstelle bis zu einem knapp unter den regional unterschiedlichen Mindestausstattungen für einen bäuerlichen Vollbetrieb liegenden Flächenbesitz reichen konnten, teilweise eigenversorgungsorientiert waren, in vielen Fällen aber eine Verbindung von Subsistenz34 Statistisches Handbuch 1956, S. 6 ; Fritz 2001, S. 235–238. 35 Berechnet nach den Angaben in : Statistisches Handbuch 1956, S. 6 ; Fritz 2001, S. 235–238. 36 Statistisches Handbuch 1956, S. 35 ; Angaben des Statistischen Bundesamtes zu den Jahren 1979 und 1987, https://www-genesis.destatis.de/genesis/online;jsessionid=3908FD98631161EF5F136EA3F6026 387.tomcat_GO_2_2?operation=previous&levelindex=3&levelid=1311590864114&step=3 ; https:// www-genesis.destatis.de/genesis/online;jsessionid=3908FD98631161EF5F136EA3F6026387.tom cat_GO_2_2?operation=previous&levelindex=3&levelid=1311591520411&step=3, 25.7.2011. Die im Vergleich mit anderen Darstellungen höheren Prozentsätze der Nebenerwerbslandwirtschaft ergeben sich daraus, dass auch Betriebe unter 0,5 Hektar mitgezählt wurden.
Arbeitskräfte
und Marktproduktion praktizierten. Gerade in Sonderkulturregionen konnte auf kleinen Flächen mit Wein-, Tabak- oder Gemüsebau das außerlandwirtschaftliche Einkommen erheblich aufgebessert werden.37 Wie bereits in der Zwischenkriegszeit lag bei voller Erwerbstätigkeit des Mannes ein hoher Teil der Arbeitsbelastung bei den Frauen, teilweise auch bei den Kindern und den Altenteilern.38 Bis zum Ende der siebziger Jahre stieg die Durchschnittsgröße der Nebenerwerbslandwirtschaften deutlich an, mit 38,2% war der Anteil an mittelbäuerlichen Betrieben am größten, während die Kleinbetriebe innerhalb dieses Betriebstypus 31,9% und die Parzellenbetriebe nur noch 27,2% einnahmen.39 Das deutet auf einen zunehmenden Anteil an umgewandelten Haupterwerbsbetrieben hin, deren Größe im Konkurrenzdruck des Strukturwandels nicht mehr für den Familienunterhalt ausreichte, die aber zur Erhöhung des Gesamteinkommens, sicher auch zur Aufrechterhaltung des Selbstverständnisses als landwirtschaftlicher Akteur weiter betrieben wurden. Abseits der Sonderkulturregionen lassen sich hierbei Arbeitsextensivierungen, etwa die Verminderung der Hackfruchtflächen oder des Viehbestandes beobachten.40 Dass diese Betriebsform nicht als Übergang angesehen wurde, zeigt eine repräsentative Befragung aus dem Jahr 1976, bei der vier Fünftel der Nebenerwerbslandwirte angaben, auch in Zukunft ihren Betrieb „unbefristet“ weiterführen zu wollen. Mit weniger als zwei Stunden täglicher Arbeit kam knapp die Hälfte der männlichen Betriebsleiter in der Versorgung des Betriebes aus, wobei abgesehen vom Wochenende die Ehefrauen einen merklich höheren Anteil zu schultern hatten, nach einer anderen Umfrage täglich fünf Stunden im Sommer und vier Stunden im Winter.41 Möglich war die Weiterführung der Betriebe im Nebenerwerb durch eine intensive Mechanisierung, die oft erst durch die außerlandwirtschaftlichen Einkünfte finanzierbar wurde.42 Bis zum Ende der achtziger Jahre verlagerten sich die Nebenerwerbsbetriebe hin zu den mittleren Größen : 1987 bewirtschafteten 41,3% fünf bis 20 Hektar und sogar 5,5% als ursprünglich großbäuerliche Flächenausstattungen anzusehende 20 bis 50 Hektar.43 Daraus erklären sich auch die bereits 1980 erfassten durchschnittlichen Wochenarbeitszeiten in Nebenerwerbsbetrieben von 25 Stunden bei den Männern und 27 Stunden bei den Frauen. In der gleichen Untersuchung wurden auch die Arbeitszeiten der Haupterwerbslandwirte abgefragt. Mit 66 Stunden pro Woche für den männlichen Betriebsleiter und 37,5 Stunden rein landwirtschaftlicher Arbeit für seine Frau bewegen sich die Angaben etwa in der Größenordnung vergleichbarer Arbeitszeiterhebungen aus den fünfziger bis zu den achtziger Jahren.44 37 Rolfes 1955, S. 317–376. 38 Eichmüller 2002, S. 234 f. 39 Angaben des Statistischen Bundesamtes zu 1979, vgl. Anm. 409. 40 Werschnitzky 1975, S. 215–253. 41 Hülsen 1979, S. 365 ; Hülsen 1981, S. 122–158, S. 152. 42 Eichmüller 2002, S. 236. 43 Angaben des Statistischen Bundesamtes zu 1979, vgl. Anm. 409. 44 Pascher 1982, S. 55–76, S. 59 ; Fliege 1998, S. 212 f.; Albers 2001, S. 92 f.
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Angesichts steigender Betriebsgrößen und zunehmender Familialisierung der landwirtschaftlichen Arbeit hatte sich also seit dem frühen 20. Jahrhundert trotz Mechanisierung am Ausmaß der Arbeitszeit kaum etwas verändert. Allerdings müssen in den Vergleichen mit den Arbeitszeiten nichtlandwirtschaftlicher Akteure die Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit und auch zwischen Arbeit und Freizeit/ Nichtarbeit im agrarischen Milieu beachtet werden. Die Körperlichkeit der landwirtschaftlichen Arbeit unterlag dagegen einem enormen Wandlungsprozess, in dem zum einen die Schwere der Arbeitsverrichtungen reduziert, andererseits auch geschlechterspezifische Zuschreibungen teilweise aufgelöst wurden. Dennoch blieb agrarische Arbeit bei aller Technisierung und Rationalisierung auch weiterhin körperliche Arbeit und resultierten aus der Maschinennutzung andere Formen körperlicher Belastung. Gleichzeitig ergaben sich mit der Technisierung neue Rollenzuweisungen. Während etwa die Melkarbeit bis in die fünfziger Jahre vorwiegend Frauenarbeit war, bemächtigten sich mit der Einführung der Melkmaschine die Männer dieses Bereiches, überließen aber die Säuberung der Maschine den Frauen.45 Diese Ambivalenz scheint auch für die Diversifizierung der Arbeiten zu gelten. Zwar verengte sich aufgrund zunehmender Spezialisierung das Aufgabenfeld, so dass sich etwa ein nur Getreidebau oder Milchviehhaltung praktizierender Landwirt der achtziger Jahre stärker auf ein Arbeitsgebiet konzentrieren konnte als sein Mischwirtschaft betreibender Kollege der fünfziger Jahre. Andererseits verschwanden im Zuge der Mechanisierung monotone manuelle Tätigkeiten und wurden durch die Technisierung neue komplexe Verfahrensabläufe eingeführt, zudem erforderte gerade die Pflege der technischen Geräte einen nicht geringen Zeitaufwand. Im Selbstverständnis der landwirtschaftlichen Akteure erscheinen als wichtige Distinktionsmerkmale ihres Arbeitsfeldes gegenüber anderen, nichtlandwirtschaftlichen Tätigkeiten immer wieder drei Argumente, die zumindest teilweise auch das Verharren im Beruf oder die Fortführung des Betriebes im Nebenerwerb trotz ökonomischer Schwierigkeiten erklären helfen : die Selbstständigkeit der Arbeit, die Verbindung von Berufs- und Familienleben und die Arbeit in und mit der „Natur“.46 5.1.4 Landwirtschaftliche Arbeitskräfte in der DDR
In der DDR verlief der Abbau landwirtschaftlicher Arbeitsplätze deutlich langsamer als im Westen. Auch wenn die Zählung der „Berufstätigen“ anderen statistischen Regeln folgte als die der Erwerbstätigen in der Bundesrepublik und in der Gesamtzahl der Berufstätigen der 1989 immerhin eine Dreiviertelmillion umfassende „x-Bereich“ aus politischen Gründen nicht erfasster Personen fehlte, ist doch die Tendenz eindeutig erkennbar. Zwischen 1949 und 1960 nahmen die in der Land- und Forstwirtschaft Tätigen von 2,24 auf 1,3 Millionen und ihr prozentualer Anteil von 30,6% auf 18,1% ab. Bis 1970 fiel die Zahl 45 Albers 2001, S. 101. 46 Fliege 1998, S. 206–278 ; Mölders 2008, S. 181–212.
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unter eine Million (12,8%), um dann bis 1980 nur noch langsam auf 878.500 abzusinken und in den achtziger Jahren wieder bis 1989 auf einen Stand von 923.500 anzusteigen. Waren in der Bundesrepublik 1989 nur noch etwa drei Prozent in der Land- und Forstwirtschaft aktiv, so betrug ihr Anteil in der DDR 10,8%.47 Die forcierte Abwanderung aus der Landwirtschaft in den fünfziger Jahren ist zum Teil mit politisch motivierten Entscheidungen zu erklären : aus Mangel an Ressourcen und Berufserfahrung aufgebende Neubauern und im „Klassenkampf auf dem Land“ zermürbte „Großbauern“ verließen in den späten Vierzigern und frühen Fünfzigern die Landwirtschaft, etliche Bauern wanderten unter dem Kollektivierungsdruck der fünfziger Jahre ab.48 Bereits zwischen 1950 und 1952 hatte die Zahl der Landarbeiter von 410.000 auf 221.000 abgenommen, was ebenso wie ihre staatlich verordnete Besserstellung ab 1950 vor allem in den großbäuerlichen Betrieben die Arbeitskräftesituation belastete.49 Bis 1955 wurde zwar der Rückgang der selbstständigen Landwirte und ihrer mithelfenden Familienangehörigen mehr als kompensiert durch den Anstieg landwirtschaftlicher Arbeiter und Angestellter und vor allem von LPG-Mitgliedern, die teilweise in „Industriearbeiter aufs Land“-Aktionen angeworben wurden, aber – ebenso wie viele ehemalige Landarbeiter – vielfach nach kurzer Zeit die Landwirtschaft wieder verließen. Danach nahmen aber die landwirtschaftlichen Arbeitskräfte insgesamt ab. Nur 70% der selbstständigen Landwirte und 42% der Familienangehörigen traten bis 1960 einer LPG bei, der Rest wanderte aus der Landwirtschaft ab.50 Mit dem Mauerbau wurde die massenhafte Abwanderung von Arbeitskräften gestoppt, die eben auch die Landwirtschaft betraf. Trotz der im Vergleich zum Westen hohen Zahlen blieb in den sechziger und siebziger Jahren der vor allem in der nicht ausreichenden Mechanisierung begründete Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft ein Problem, das allerdings wegen der gleichen Situation in anderen Wirtschaftsbereichen nicht durch Abwerbung gelöst werden konnte. Der Anstieg der Arbeitskräfte ab 1977 resultierte nicht in erster Linie aus personellem Zuwachs in der Produktion, sondern betraf mehr das Verwaltungs- und technische Personal.51 Der Status der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte in der DDR war vom Verlauf der Kollektivierungspolitik geprägt. Noch 1955 waren 56,8% der in der Agrarwirtschaft hauptberuflich Tätigen Selbstständige und mithelfende Familienangehörige und nur elf Prozent Mitglieder in LPG. 29% waren als Arbeiter und Angestellte wohl vor allem in den Volkseigenen Gütern beschäftigt. Mit dem Abschluss der Kollektivierung erreichten die LPG-Mitglieder einen Anteil von etwa 70%, den sie auch bis 1989 hielten. Mit 27 bis 30% blieb der Anteil der Arbeiter und Angestellten über die Jahrzehnte einigermaßen stabil.52 47 Zahlen nach : Fritz 2001, S. 58, 196. 48 Schöne 2005 b, S. 28, 45. 49 Bauerkämper 2002, S. 143. 50 Humm 1999, S. 117–121. 51 Heinz 2011, S. 333–339. 52 Berechnet nach : Fritz 2001, S. 197 f.
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Auch in der DDR gab es Nebenerwerbslandwirtschaft. Dass der größte Teil der Kleinstund Kleinbetriebe, die 1946 in der SBZ erfasst wurden, im Nebenerwerb bewirtschaftet wurde, darauf deutet die Geschlechterverteilung unter den Arbeitskräften hin : 80% der Arbeitskräfte in den Betrieben zwischen 0,5 und zwei Hektar und zwei Drittel in den Betrieben zwischen zwei und fünf Hektar waren weiblich.53 In den fünfziger Jahren entschieden sich, so der Befund in der Niederlausitz oder im thüringischen Niederzimmern, die meisten Nebenerwerbsbauern gegen einen Eintritt in die LPG, da sie ansonsten ihre besser dotierte industrielle Tätigkeit hätten aufgeben müssen. Am Ende der Kollektivierungsphase traten dann häufig ihre Frauen in die Genossenschaften ein.54 Auch die individuellen Hauswirtschaften, die den LPG-Mitgliedern gestattet waren, können als eine Form von Nebenerwerbslandwirtschaft verstanden werden, die nicht nur zur Subsistenz-, sondern ganz erheblich auch zur Marktproduktion genutzt wurden.55 Politisches Ziel war die Angleichung der Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft an die der Industrie, was durch die Regelung der Arbeitszeiten, die Einführung industriegemäßer Produktionsmethoden, die Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz, die Auflösung der Familienwirtschaft und die Lösung des Einkommens vom landwirtschaftlichen Ertrag erreicht werden sollte.56 Einer konsequenten Umsetzung dieser Ziele standen aber die speziellen Anforderungen der Agrarwirtschaft entgegen. So wurde etwa in der Mitte der siebziger Jahre den Genossenschaftsbauern eine 48-Stunden-Woche und 15 Tage Urlaub im Jahr zugestanden, was in der Praxis aber nicht realisiert werden konnte. Gerade in der Viehwirtschaft war man angesichts der unzureichenden technischen Ausstattung noch weit entfernt von industriegemäßen, durch Automation geprägten Arbeitsvorgängen. Vielmehr musste noch in den siebziger Jahren ein erheblicher Anteil der Arbeiten manuell erledigt werden. Die körperliche Schwere der Arbeiten fiel um so mehr ins Gewicht, weil gerade wegen der unattraktiven Arbeitssituation die Rekrutierung junger Arbeitskräfte unzureichend und die Belegschaft teilweise dementsprechend überaltert war. Der Blick auf die landwirtschaftliche Arbeitszeit wäre ohne Einbeziehung der Arbeitsleistung in der persönlichen Hauswirtschaft unvollständig, die angesichts fehlender statistischer Daten allerdings kaum kalkuliert werden kann. Die hohe Produktivität der intensiven Bewirtschaftung einer 0,5 Hektar-Fläche und der Haltung von – ab 1977 kaum noch begrenzten – Tierbeständen deutet aber auf ein erhebliches zeitliches Engagement hin.57 Gerade für die fünfziger Jahre, als die Vergleichbarkeit mit den Ergebnissen der selbstständig geführten Landwirtschaft noch gegeben war, aber auch für die folgenden Jahrzehnte, ist hervorgehoben worden, wie wenig die kollektive Arbeitsform in ungewohnten Abhängigkeiten die Genossenschaftsmitglieder motivierte und wie viel effizienter nicht 53 Berechnet nach den Angaben in : Bauerkämper 2002, S. 541. 54 Humm 1999, S. 57 f. 55 Meyer-Renschhausen 2002, S. 166–172. 56 Bauerkämper 2002, S. 501. 57 Schier 2001, S. 224–226 ; Heinz 2010, S. 340–367.
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nur die Privatbauern, sondern auch die Genossenschaftsbauern, wenn sie sich in ihrer Hauswirtschaft engagierten, waren.58 Auch in der sozialistischen Landwirtschaft wurden die Geschlechterdifferenzen in der Arbeitsverteilung nicht überwunden. Wie im Westen, so waren auch in den LPG Frauen für die noch wenig mechanisierte Viehwirtschaft oder den Hackfruchtanbau zuständig, während die Männer sich der Technik bemächtigten. Gerade die geringe Attraktivität der überwiegend manuellen Arbeitsvorgänge, etwa in der Viehwirtschaft, dürfte eine Ursache für den kontinuierlichen Rückgang an Frauenarbeitskräften in der Landwirtschaft gewesen sein. Waren um die Mitte der fünfziger Jahre noch fast eine Hälfte der LPGMitglieder weiblich, so verringerte sich deren Anteil bis 1989 auf etwa ein Drittel. Auch in Entscheidungsprozessen innerhalb der LPG waren Frauen stark unterrepräsentiert, da die weitaus meisten Leitungspositionen in den LPG männlich besetzt waren.59 5.1.5 Beschleunigter Strukturwandel nach der Wiedervereinigung
Nach der Wiedervereinigung sank die Zahl der landwirtschaftlich erwerbstätigen Personen rapide ab. In den neuen Bundesländern wirkte sich der beschleunigte Strukturwandel am stärksten aus. Von 1989 noch gezählten 850.000 Beschäftigten waren 1991 noch 362.000 übrig. 1991 arbeiteten knapp 1,5 Millionen Menschen hauptberuflich oder als mithelfende Familienangehörige in der Landwirtschaft. In nur vier Jahren sank ihre Anzahl um fast ein Drittel : 1,06 Millionen wurden 1995 gezählt, die 2,8% der insgesamt erwerbstätigen Bevölkerung ausmachten.60 Auch dieser Rückgang betraf das Gebiet der ehemaligen DDR wesentlich stärker : Während sich die Anzahl aller, auch der teilzeitlich und der nicht-ständig in der Landwirtschaft arbeitenden Personen in den fünf neuen Ländern um 55,4% verringerte, machte der Rückgang in den alten Ländern in der gleichen Zeit nur 17,7% aus. Bis 2001 stabilisierte sich die Zahl der Arbeitskräfte in den neuen Ländern, während sie im alten Bundesgebiet weiter um sieben Prozent sank. Allerdings ist am Rückgang der „Arbeitskraft-Einheiten“, einer statistischen Größe, die die Arbeitszeit mit einbezieht, um jeweils etwa ein Fünftel erkennbar, dass der zeitliche Aufwand in Ost und West fast gleichermaßen reduziert wurde.61 Der verlangsamte Rückgang der Arbeitskräfte seit der Mitte der neunziger Jahre ist daher auch nicht als Trendwende im Strukturwandel zu verstehen, sondern erklärt sich vor allem aus der Zunahme der überwiegend ausländischen Saisonarbeitskräfte. Insbesondere die Intensivkulturen in den alten Bundesländern, Gemüse-, Spargel-, Erdbeeranbau, sind mittlerweile ohne die Erntehelfer aus Mittelund Osteuropa, vor allem polnische und zunehmend auch rumänische Staatsangehörige, 58 Schier 2001, S. 230–237 ; Bauerkämper 2002, S. 342–345, 488 f. 59 Bauerkämper 2002, S. 391–397 ; Heinz 2010, S. 370–378. 60 Statistisches Jahrbuch 2008, S. 15. 61 Agrarbericht der Bundesregierung 2000, Tabelle 1, http://www.bmelv-statistik.de//fileadmin/sites/ 030_Agrarb/2000/AB00_Tab1_30.pdf ; Agrarbericht der Bundesregierung 2007, Tabelle 1, http:// www.bmelv-statistik.de//fileadmin/sites/030_Agrarb/2007/AB07_Tab01_22.pdf, 1.8.2011.
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kaum noch zu bewirtschaften. Die Zahl der offiziell angemeldeten Saisonarbeiter (von einer gewissen Dunkelziffer mit entsprechend schlechten Arbeitsbedingungen ist gerade für die frühen neunziger Jahre auszugehen) vervierfachte sich im Gebiet der alten Bundesrepublik von 73.300 im Jahr 1990 auf fast 300.000 im Jahr 2007, in den neuen Ländern von 9000 im Jahr 1993 auf 40.000 2007. Auch die Anzahl der ständigen familienfremden Arbeitskräfte, vor allem der teilzeitbeschäftigen, nahm in den alten Bundesländern zwischen 2001 und 2007 um 7,4% zu, während die Reduzierung der Familienarbeitskräfte um 16,1% weit unter dem Niveau des allgemeinen Rückgangs der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte um fünf Prozent lag. In den neuen Ländern betrug die Verminderung der Arbeitskräfte in diesem Zeitraum nur 1,4%, hier stieg die Zahl der Familienarbeitskräfte sogar leicht um 0,5% an und sank die Zahl der familienfremden Arbeitskräfte um 10,5%. Ein Trend zur „Entfamilialisierung“ der Landwirtschaft wird somit auch im Westen deutlich. Waren 1970 noch mehr als 90% aller Arbeitskräfte Familienangehörige, so zählten 2007 nur noch 63% zu dieser Gruppe. In den neuen Bundesländern arbeitete 2007 ohnehin nur ein Viertel der Arbeitskräfte im Familienbetrieb, während die große Mehrheit in den auf der Basis der alten LPG weiter geführten Personengesellschaften tätig war.62
5.2 Arbeitsbeziehungen 5.2.1 Familie, Gesinde und Landarbeiter – Arbeitsbeziehungen im Kaiserreich
Die Beziehungsintensität der in der Landwirtschaft arbeitenden Personen konnte zwischen den Extremen lebenslanger familiärer Zusammenarbeit und kurzfristiger saisonaler Lohnarbeitsverhältnisse pendeln. In der bäuerlichen Landwirtschaft ist – wie bereits dargestellt – schon im späten 19. Jahrhundert ein Trend hin zu einer stärker familienbasierten Landwirtschaft aufgrund der Abwanderung familienfremder Arbeitskräfte festzustellen. Arbeit war somit in einem komplexen Geflecht von hierarchisch und emotional bestimmten Beziehungen organisiert. Innerhalb der Gruppe der bäuerlichen Betriebe können eine Vielzahl von Personenkonstellationen differenziert werden, von einer vielköpfigen, häufig drei Generationen umfassenden vollbäuerlichen Wirtschaft bis hin zu einer nur von einer oder zwei Arbeitskräften im Nebenerwerb zu versorgenden Parzellenwirtschaft. Die Folgen solcher unterschiedlichen Besetzungen der Arbeitspositionen in den Betrieben für die Wirtschaftspraxis sind bislang kaum untersucht worden. Dass nicht zwingend von einer Vormachtposition des männlichen Betriebsleiters ausgegangen werden muss, liegt in den Fällen nahe, in denen die Frauen eine Vielzahl von Arbeiten des wegen Fabrikarbeit abwesenden Mannes übernommen hatten oder in Betrieben, in denen mehrere Generationen mitarbeiteten. Die familienfremden Arbeitskräfte konnten in unterschiedlichen Abhängigkeitsverhältnissen zur bäuerlichen Familie stehen. Knechte und Mägde lebten als meist unverheiratete 62 Holst/Hess 2008, S. 361–384 ; Statistik und Berichte des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, http://berichte.bmelv-statistik.de/DFB-0010000-2010.pdf, 1.8.2011.
Arbeitsbeziehungen
Gesindepersonen im bäuerlichen Haushalt und unterstanden noch bis 1918 unterschiedlich ausgestalteten Gesindeordnungen. Die in der Regel für ein Jahr abgeschlossenen Arbeitsverträge sicherten ihnen neben der Barbezahlung Kost und Logis, unterwarfen sie aber auch einer sehr weitgehenden Gehorsamspflicht und schränkten ihre Entscheidungsfreiheit für die Kontraktdauer erheblich ein. Das Spektrum möglicher Relationen zwischen Gesinde und Familienmitgliedern war sehr weit gesteckt. Nur selten waren Knechte und Mägde über langfristige Zugehörigkeit zum Betrieb eng in die Familie integriert, weitaus häufiger waren nach einem oder wenigen Jahren wechselnde Besetzungen, zumal wenn der Gesindedienst als temporäre Existenzform zwischen Kindheit und Heirat verstanden und zum Ansparen eines Kapitals zur Begründung einer eigenen kleinbäuerlichen Existenz genutzt wurde. So waren 86% der Gesindepersonen 1907 unverheiratet und 96% noch keine 30 Jahre alt.63 Zwischen Gesinde und freien Lohnarbeitskräften gab es auch im bäuerlichen Bereich noch einige Zwischenstufen differenzierter Abhängigkeiten. Immer noch von einiger Bedeutung im späten 19. Jahrhundert waren die nordwestdeutschen Heuerlinge, die einen Teil ihrer Pacht für Land und Wohnung bei den Bauern in Zeiten der Arbeitsspitzen abarbeiteten. Auch die eigentlich „freien“, also nicht durch Kontrakte an die bäuerlichen Arbeitgeber gebundenen Tagelöhner, die selbst über eine kleine Landwirtschaft verfügten, standen in einem die einseitige Arbeitsbeziehung überlagernden Austauschverhältnis mit den Vollerwerbslandwirten, indem sie etwa auf deren Gespann, Gerätschaften oder Scheunenkapazitäten zur Versorgung des eigenen Kleinbetriebes angewiesen waren. Im gutswirtschaftlichen Bereich waren die Arbeitsbeziehungen grundlegend anders organisiert, indem fast die gesamte Arbeitsleistung gegen Lohn erbracht wurde. Die Arbeitskräfte sind hinsichtlich ihrer Bindung an den Betrieb, Entlohnung und Abhängigkeit von Gutsbesitzer oder -verwalter zu differenzieren. Das Gesinde war, insbesondere bei großen Gütern, hierarchisiert. Vertraglich gebundene Gutstagelöhner arbeiteten als Insten gegen Bereitstellung von Land und Wohnung, einen eher geringen Geldbetrag und einen Anteil der Ernte oder des zu dreschenden Getreides mit ihren Frauen und jugendlichen oder erwachsenen Kindern oder noch einem zusätzlich von ihnen zu unterhaltendem „Scharwerker“ oder „Hofgänger“ in der Gutswirtschaft. Anders als das Gesinde hatten sie die Möglichkeit, früh zu heiraten und in einem eigenen Haushalt zu leben, waren ansonsten aber in vielerlei Hinsicht von den Gutsbesitzern abhängig, was bei Verschuldung bis hin zu einer „faktischen Schollengebundenheit“ führen konnte. Deputanten waren ähnlich in die Gutswirtschaft eingebunden, erhielten aber statt je nach Ernte variabler Naturalienmenge ein festgesetztes Maß, das „Deputat“. Andere Tagelöhnerfamilien waren zwar auch vertraglich an das Gut gebunden, bekamen aber ihren Lohn größtenteils nicht in naturaler Form, sondern in Geld ausgezahlt. Die Auflösung dieser sich durch eine auf alle Lebensbereiche auswirkende patriarchalische Ordnung charakterisierten Arbeitsverhältnisse und ihre Überführung in freie Lohnbeziehungen war am Ende des 19. Jahrhunderts bereits im Gange. Die Umstellung auf Fruchtwechselwirtschaft und die Abwanderung vieler Ar63 Kocka 1990, S. 154–171 ; Becker 1995, S. 55–58 ; Oltmer 1995, S. 97.
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beitskräfte erforderte andere Formen der Arbeitsorganisation. Die stärker saisonal anfallenden Arbeiten wurden zunehmend von nur temporär eingestellten Lohnarbeitern, seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts verstärkt von ausländischen Wanderarbeitern, übernommen, die häufig in Kolonnen organisiert, von einem Zwischenunternehmer eingestellt und beaufsichtigt, für die Dauer ihres Arbeitseinsatzes in Massenquartieren, meist eigens errichteten Baracken, leeren Ställen oder Scheunen lebten. Auch nahm die Zahl der Deputanten, an die festgeschriebene Naturallöhne gezahlt wurden, gegenüber den mit variablen Ernteanteilen entlohnten Insten zu.64 Die nicht aus der Landwirtschaft abwandernden Landarbeiterfamilien passten sich diesen Veränderungen in den zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg erstaunlich flexibel an. Die Frauen nutzten ihre angesichts zurückgehender Arbeitseinsätze auf den Gutshöfen freiwerdenden Kapazitäten zur Schweinemast, die sie auf der Grundlage des von den Männern erwirtschafteten Deputats aufbauen konnten. Dank der infolge der erhöhten Nachfrage der Industriearbeiterschaft steigenden Fleischpreise konnten sie so erheblich zum Unterhalt der Familien beitragen. Selbst freie Tagelöhner praktizierten vor dem Hintergrund der Saisonalisierung diese Form der Veredelungswirtschaft. Zweifelsohne führte diese ökonomische Akzentverlagerung nicht nur zu einer Entdifferenzierung innerhalb der Landarbeiterschaft, sondern auch zu stärkerer Unabhängigkeit gegenüber den Arbeitgebern.65 Diese für Pommern beschriebene Entwicklung dürfte allerdings auch zu einer gewissen Distanz der Landarbeiterfamilien zur eher die Interessen der Industriearbeiterschaft als Konsumenten vertretenden Gewerkschaftsbewegung geführt haben.66 5.2.2 Die Regelung der Arbeitsbeziehungen in der Weimarer Zeit
Dieser „Versachlichung“ der Arbeitsbeziehungen, die eher von den südlichen ostelbischen Provinzen ihren Ausgang nahm, wurde durch die Aufhebung der Gesindeordnungen am 12. November 1918 und die Verabschiedung der „Vorläufigen Landarbeitsordnung“ im Januar 1919 weiter Vorschub geleistet. Dadurch wurden Arbeitszeiten und Lohnzahlungen geregelt und Koalitionsfreiheit auch für die Landarbeiter zugelassen.67 Auch in den nördlichen Regionen war gerade in der für sie vorteilhaften ökonomischen Situation nach Kriegsende die Hoffnung der Landarbeiter auf eine größere Selbstständigkeit gegenüber den Gutsbesitzern gewachsen. So spielte in Mecklenburg der Wunsch der Landarbeiterfrauen, vom Melkdienst auf den Gütern befreit zu werden, um sich mehr auf die eigene Wirtschaft zu konzentrieren, eine wesentliche Rolle in den im August 1921 in einer Streikbewegung kulminierenden Auseinandersetzungen zwischen Arbeitgebern und Landarbei64 Weber 21988, S.470–507 ; Kocka 1990, S. 172–206 ; Born 1985, S. 25–27 ; Oltmer 1995, S. 98 ; MeierKaienburg 1992, S. 77 ; Hempe 2002, S. 57–71. 65 Kölling 1996, S. 198–216. 66 Kölling 1996, S. 363. 67 Abel 31967, S. 122.
Arbeitsbeziehungen
tern. Ab der Mitte der zwanziger Jahre wurden allerdings vor dem Hintergrund einer sich verschlechternden Lage wieder eher rückwärtsgewandte Forderungen, wie die Einbeziehung der Landarbeiterfrauen in die Gutswirtschaft oder die Stellung von Hofgängern, durchgesetzt.68 War der Landarbeiterstreik in Mecklenburg, der an 240 Orten zu Arbeitsniederlegungen für einen bis mehrere Tage führte, ein einmaliges Ereignis, so verweisen die 266 Streiks, die in der Provinz Sachsen zwischen 1919 und 1925 gezählt wurden, auf die angesichts der Nähe zur Industrie schnellere Übernahme gewerkschaftlicher Organisationsformen, die sich auch in einem hohen Organisationsgrad der Landarbeiter und Landarbeiterinnen im sozialdemokratischen Deutschen Landarbeiterverband und in der Existenz von Betriebsräten in vielen Großbetrieben manifestierten.69 In bäuerlich dominierten Regionen wie Westfalen standen zu enge persönliche Beziehungen zwischen Bauern und Gesinde einer Rationalisierung der Arbeitsverhältnisse etwa in Form von Tarifverträgen entgegen, wie sie seit 1919 von einer durch die Landarbeiterverbände initiierten „Tarifbewegung“ gefordert wurden. Nur in den großbäuerlichen Zuckerrübengebieten kam es zur Bildung von Betriebsräten und zum Abschluss von Tarifverträgen. Trotz der Existenz eines sozialdemokratischen Heuerleute-Verbands verhinderte das Selbstverständnis der Heuerlinge, die sich eher als Kleinlandwirte denn als Landarbeiter sahen, eine flächendeckende Organisierung ihrer Interessen.70 Wie in Sachsen scheint auch in Westfalen die Abwanderung aus der Landwirtschaft angesichts der räumlichen Nähe zu Arbeitsplätzen in der Industrie als jederzeit umsetzbare Alternative den Landarbeitern größere Spielräume in der Aushandlung ihrer Arbeitsbedingungen ermöglicht zu haben als in den industriefernen nordöstlichen Provinzen. Inwieweit auch dort die Option der Landflucht Auseinandersetzungen zwischen Arbeitgebern und Landarbeitern verhinderte, ist umstritten.71 5.2.3 Unterschiedliche Interessen in der NS-Zeit
Die nationalsozialistische Gesetzgebung und Propaganda zur Eindämmung der Landflucht hatte nur wenige Auswirkungen. Weiterhin wanderten Landarbeiter in die Industrie ab. Ebenso wenig griffen in der Praxis kaum durchsetzbare Zwangsmaßnahmen, gegen Gesindepersonen und Landarbeiter, die ihre Arbeitsstellen verließen, mit Sanktionen bis hin zur „Schutzhaft“ vorzugehen. Versuche, den Status der Landarbeiter durch eine Lehre aufzubessern und so die Attraktivität des Berufes zu steigern, hatten ebenfalls nur wenig Erfolg. Gleichzeitig wurden die Landarbeiter von sozialpolitischen Maßnahmen ausgenommen, etwa von der Pflicht zur Arbeitslosenversicherung, und an die traditionelle „Fürsorglichkeit“ der Arbeitgeber appelliert.72 Der Wohnsituation der Landarbeiter galten Förderprogramme, die 68 Hempe 2002, S. 124–127. 69 Nabert, 1992, S. 68–70, 189 ; Hempe 2002, S. 87. 70 Theine 1991, S. 316–328. 71 Kölling 1996, S. 360. 72 Schneider 1999, S. 303 f., 388, 418.
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zwar regional zu einigen Verbesserungen beitrugen. So übertraf die Anzahl der in Mecklenburg neu errichteten Landarbeiterwohnungen in den Jahren 1935 bis 1939 deutlich die der Zeit zwischen 1924 und 1932, blieb aber angesichts des 1938 konstatierten Bedarfs von mindestens 100.000 Neubauten weit hinter den Zielen zurück.73 Die zwischen Reichsnährstand und Deutscher Arbeitsfront umstrittene Zuständigkeit für die Landarbeiter spiegelt die Auseinandersetzungen um die Idee der „Hofgemeinschaft als Lebensgemeinschaft“, in der sich die unterschiedlichen Interessen weitgehend auflösen und Konflikte intern geregelt werden sollten, wider. Rückwärts gewandte Projektionen einer Arbeitsorganisation, wie sie vom Reichsnährstand propagiert wurden und die etwa den langfristigen Trend der Saisonalisierung der Landarbeit und der stärker geld- und weniger naturalorientierten Entlohnung, somit auch der Entkoppelung von Arbeits- und Wohnplatz rückgängig machen wollten, stießen auf wenig Begeisterung bei den landwirtschaftlichen Arbeitgebern.74 Aussagen über das Verhältnis zwischen Gutsbesitzern und Landarbeitern in Mecklenburg lassen das ganze denkbare Spektrum von harter Ausbeutung bis zu fast fürsorglichen Beziehungen sichtbar werden, wobei die Regel ein eher guter Umgang gewesen sein soll, dessen patriarchalischer Charakter aber einer Bewertung des Arbeitsverhältnisses als Vereinbarung zwischen zwei prinzipiell gleichberechtigten Partnern entgegenlief.75 5.2.4 Arbeitsbeziehungen in der SBZ/DDR
Die Bodenreform in der SBZ betraf etwa ein Drittel aller Landarbeiter, die in den enteigneten Gutsbetrieben gearbeitet hatten, während in den bäuerlichen Betrieben weiterhin Landarbeiter beschäftigt waren. Versuche von politischer Seite, deren Arbeitsverhältnisse zu verbessern und an die Bedingungen der Industriearbeiter anzupassen, wurden nicht nur von den Betriebsleitern, sondern auch von den Arbeitern selbst abgelehnt. So ließen sich die 1946 von der Sowjetischen Militäradministration und der SED durchgesetzten Kollektivverträge für Landarbeiter ebenso wenig in die Praxis umsetzen wie 1949 Tarifverträge, die eine Angleichung an Industrielöhne vorsahen, oder die Einführung des Acht-Stundentags durch ein Landarbeiterschutzgesetz 1950. Die politische Mobilisierung der Landarbeiter durch die SED gelang kaum. Das kann mit der Heterogenität der Gruppe der Landarbeiter zusammen hängen, in der sich in den Nachkriegsjahren neben seit langem in der Landwirtschaft beschäftigten Personen auch Flüchtlinge, Personen aus anderen Branchen und Saisonarbeitskräfte zusammen fanden, die bei zu großer Unzufriedenheit oder bei der Chance, außerhalb der Agrarwirtschaft zu arbeiten, schnell in die Industrie abwanderten. Waren die Arbeitsbeziehungen in den bäuerlichen Betrieben noch von hergebrachten Auffassungen bestimmt, so stand mit der Einbeziehung der Landarbeiter in die LPG ein neues Modell der Zusammenarbeit auf dem Programm. Der Anteil der ehemaligen Landarbeiter in den 73 Schneider 1999, S. 625–627 ; Niemann 2000, S. 154 f. 74 Corni/Gies 1997, S. 212–228. 75 Niemann 2000, S. 142–151.
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LPG variierte, er nahm von 1953 bis 1955 von 18% bis auf fast die Hälfte zu, um dann angesichts einer steigenden Aufnahme von Altbauern wieder auf 16% abzusinken, wobei die meisten Landarbeiter in den LPG Typ III eintraten. Das gemeinsame Arbeiten von ehemaligen Einzelbauern, Landarbeitern und Industriearbeitern war bis in die sechziger Jahre noch durch das Bewusstsein der ursprünglichen sozialen Differenz geprägt. Dazu trug auch die unterschiedliche Entlohnung bei. Während das Einkommen ehemaliger Bauern zu einem gewissen Anteil auf ihrem in die Genossenschaft eingebrachten Boden basierte, wurde der Lohn der ehemaligen Landarbeiter ausschließlich nach Arbeitseinheiten berechnet.76 Mit der Bildung von Brigaden in den LPG, die spezialisierte Aufgaben zu erfüllen hatten, also nur für Feldarbeit, Viehzucht, Bauaufgaben oder Verwaltung zuständig waren, sollten wesentliche Elemente bäuerlichen Wirtschaftens – Eigenverantwortlichkeit, Planungskompetenzen und Koordinierung unterschiedlicher Aufgaben – überwunden und der Übergang zur Kollektivarbeit vollzogen werden. Das bedeutete für die selbstständige Arbeit gewohnten Bauern innerhalb der LPG die Unterordnung unter die Beschlüsse des LPG-Vorstandes unter seinem Vorsitzenden und die Anweisungen der Brigadeleiter. Die in den Statuten vorgesehene Partizipationsmöglichkeit der Mitgliederversammlung war in der Praxis eher gering und reduzierte sich auf die Bestätigung bereits vorliegender Planungen.77 Diese Transformation bäuerlicher Arbeit verlief nicht reibungslos. Gerade aus den ersten Jahren der Kollektivierung sind etliche Spannungen und Konflikte aus den LPG überliefert, sowohl unter den Mitgliedern als auch zwischen Mitgliedern und Vorständen, die sich als Anpassungsschwierigkeiten an kollektive Arbeitsformen und als Autoritätskonflikte verstehen lassen. Die letztlich in vielen Fällen doch zu beobachtende Integration vieler Bauern, auch die Übernahme von Verantwortung innerhalb des Systems, kann mit dem Interesse an der Wahrung eines gewissen sozialen Status und auch an einem sich für die LPG-Mitglieder direkt auszahlenden wirtschaftlichen Erfolg erklärt werden.78 Dieser für die sechziger Jahre beschriebene Prozess scheint aber mit der Vergrößerung der Betriebe und der Trennung von Pflanzen- und Tierproduktion wieder gebremst worden zu sein. Ein weiteres Schwinden der Arbeitsmotivation konnte weder durch Prämierungen noch durch weitergehende Sanktionen aufgehalten werden. Dennoch kann spätestens bei der zweiten Generation, gerade auch bei den Frauen, von einer Anerkennung auch der Vorteile der kollektiven Organisation von Arbeit, einer klareren Trennung von Arbeit und Freizeit, von Familie und Betrieb, ausgegangen werden.79 5.2.5 Bäuerliche Familienbetriebe als agrarpolitisches Leitbild im Westen
Dass der bäuerliche Familienbetrieb in der Bundesrepublik gerade in der Auseinandersetzung mit der Kollektivwirtschaft der DDR zum agrarpolitischen Leitbild bestimmt 76 Bauerkämper 2002, S. 373–387 ; Bauer 2003, S. 317 f. 77 Humm 1999, S. 122 f.; Bauerkämper 2002, S. 339–341. 78 Humm 1999, S. 146–166. 79 Schier 2001, S. 238 ; Heinz 2011, S. 378–389.
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wurde, ist auch im Zusammenhang mit der „Verbäuerlichung“ der westdeutschen Landwirtschaft nach der Abtrennung der stärker von Gutsbetrieben geprägten ostelbischen Regionen zu sehen.80 So standen die bäuerlichen Betriebe, die bei „ordnungsgemäßer Führung die wirtschaftliche Existenz einer Familie nachhaltig gewährleisten“, im Mittelpunkt des Landwirtschaftsgesetzes von 1955.81 Jenseits von ideologischen Implikationen aber und auch nach der Einsicht, dass die meisten familiären Kleinbetriebe auf Dauer nicht zu halten waren, setzte sich doch in der neueren Diskussion die Erkenntnis durch, dass in der Verbindung von Familie, Haushalt und Betrieb Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Unternehmensformen liegen und sich die Persistenz der Familienbetriebe aus den niedrigeren „Transaktionskosten“, etwa für Verwaltung und Kontrolle, sicher aber auch aus der flexibleren Arbeitsorganisation oder der Anpassung der Betriebsgröße an das Arbeitspotenzial, herleiten lasse.82 Allerdings sind neben Rentabilitätsproblemen auch die Folgen des Individualisierungsprozesses der letzten Jahrzehnte in ihrer Konsequenz für die Fortdauer der Familienunternehmen zu beachten. Die Ausweitung der Entscheidungsspielräume für Kinder, Ehepartner und auch Altenteiler in der Frage der Einbindung in den Betrieb kann die Transformation des Modells Familienwirtschaft in einen „Einmannbetrieb“ mit zusätzlicher familienfremder Arbeitskraft oder aber in eine Weiterführung mit entsprechend veränderten Beziehungsmustern, die eben nicht mehr auf der mehr oder weniger alternativlosen Lage der Familienmitglieder basierten, vorantreiben.83 5.2.6 LPG-Nachfolgebetriebe nach 1990
Dass sich nach der Wiedervereinigung entgegen westlicher Erwartungen die Mehrzahl der LPG-Mitglieder nicht für die Einrichtung bäuerlicher Familienbetriebe entschied, sondern die Fortführung der gemeinschaftlich arbeitenden Großbetriebe in anderen Rechtsformen vorgezogen wurde, ist auch darauf zurückzuführen, dass die Arbeitsbedingungen in einer großen, nicht familiär organisierten Landwirtschaft, etwa die klaren Arbeitszeitregelungen oder die Streuung des Betriebsrisikos, als vorteilhaft erkannt wurden. Zudem bedeutete der Bruch der familiären Tradition durch die Kollektivierung vielfach ein unüberwindbares Hindernis für die Wiedereinrichtung von familiären Betrieben, indem keine Hofnachfolger bereit standen, die diese Aufgabe, für die sich andererseits viele aus der Elterngeneration zu alt fühlten, hätten übernehmen können.84
80 Neu 2005, S. 136–146, S. 138. 81 Kluge 1989 a, S. 229. 82 Schmitt 1989, S. 161–219, S. 209 ; Hagedorn 1992, S. 62 ; Schmitt 1992, S. 213–230. 83 Fliege 1998, S. 207–211 ; Vonderach 2004, S. 142–157 ; Bohler 2009, S. 10–22. 84 Barlösius/Neu 2003, 67–70 ; Neu 2005, S. 138–140.
6 Wissen
6.1 Wissensproduktion und Wissenstransfer 6.1.1 Praktiker und Experten
Zweifelsohne muss das Wissen der Agrarproduzenten als eine ihrer wichtigsten Ressourcen angesehen werden. Basierte die landwirtschaftliche Produktion bis in das 18. Jahrhundert fast ausschließlich auf in der Praxis erworbenen und in der alltäglichen Arbeit an nachfolgende Generationen vermittelten Wissensbeständen, so konfrontierte die agronomische Literatur und der in landwirtschaftlichen Assoziationen seit dem späten 18. Jahrhundert geführte Diskurs einen – zunächst verschwindend geringen, aber im Lauf der Zeit doch stetig anwachsenden – Teil der Landwirte mit neuen produktivitätsteigernden Verfahren, deren Aneignung Umorientierung in der Wirtschaftsplanung erforderte. Letztlich beruhten die neuen Methoden allerdings auch auf Erfahrungswissen, das von anderen Landwirten in anderen Ländern und Regionen erworben worden war und über die verschiedenen Kanäle der landwirtschaftlichen Kommunikation verbreitet wurde. Eine wesentliche Rolle bei der Diffusion von Neuerungen spielte das direkte Vorbild eines mit Erfolg wirtschaftenden Praktikers.1 Die im späten 19. Jahrhundert flächendeckend erkennbaren Veränderungen der agrarischen Praxis, vor allem die Fruchtwechselwirtschaft mit gesteigertem Hackfrucht- und Leguminosenanbau und die Vergrößerung der Viehwirtschaft, sind als Folge der Erweiterung des bäuerlichen Wissenshorizontes seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts zu verstehen. Ist für die verbreitete Umsetzung dieser landwirtschaftlichen Innovationen, die zu einer bereits bedeutenden Produktivitätssteigerung führten, etwa ein Jahrhundert anzusetzen, so verlief die Aneignung der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts aus der Agrarwissenschaft und -technik kommenden Impulse zwar schneller, aber keineswegs innerhalb weniger Jahrzehnte. Vielmehr herrschte bis weit in das 20. Jahrhundert eine „kaum verwissenschaftlichte Agrarpraxis“ vor.2 Die beispielsweise zur Erweiterung von Fruchtfolgen notwendigen Kenntnisse waren noch im kommunikativen Austausch zwischen Praktikern zu erwerben. Die Vermittlung der agrarwissenschaftlichen Forschungsergebnisse, zunächst vor allem in der Entwicklung chemischer Dünge-, später auch Pflanzenschutzmittel, spielte sich demgegenüber als ein Diskurs zwischen Experten und Praktikern ab und stellte somit einen qualitativen Einschnitt in der Landwirtschaftsgeschichte dar. Mit dem zunehmenden Einsatz betriebsfremder Produktionsmittel wurde die Einschaltung betriebsfremder Experten notwendig, die die Entscheidungen der
1 Mahlerwein 2007, Sp. 1011–1015. 2 Uekötter 2006, S. 109.
142
Wissen
landwirtschaftlichen Produzenten in wachsendem Maße beeinflussten.3 Allerdings zeigen die nur langsame Diffusion neuer Methoden und die Organisation der Agrarforschung und ihrer Vermittlung, dass es sich hier keineswegs um eine eindimensionale Beziehung handelte. 6.1.2 Institutionalisierung von Agrarforschung und -lehre
In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg begannen sich Agrarwissenschaften und Agrarlehre in dauerhaften Formen zu institutionalisieren. Bezeichnend für die Entwicklung ist schon in dieser frühen Phase die Ausbildung von Institutionen mit unterschiedlicher Trägerschaft und Zielrichtung, die sich um ähnliche Problemstellungen bemühten : agrarwissenschaftliche Fakultäten der Universitäten, landwirtschaftliche Akademien, Versuchs- und Forschungsanstalten, Forschungsabteilungen der Betriebsmittelhersteller bildeten ein Netzwerk von Forschungsstätten, deren Personal in einem engen kommunikativen Austausch stand und die trotz ihrer unterschiedlichen Finanzierung durch Staat, landwirtschaftliche Organisationen und Industrie nur sehr selten schärfere Interessensgegensätze auszutragen hatten.4 In diese Forschungsaktivitäten waren immer auch aktive Landwirte als Berater einbezogen. Dieser Umstand und die – noch kaum erforschte – biografische Verwurzelung einer Anzahl von Akteuren dieses Umfeldes in der landwirtschaftlichen Praxis lassen die schroffe Gegenüberstellung von Experten und Praktikern als fraglich erscheinen. Die Forschungstätigkeit der agrarwissenschaftlichen Universitätsinstitute war zudem in unterschiedlicher Intensität von den Ansprüchen der landwirtschaftlichen Praxis mitbestimmt.5 Forschung und Vermittlung lassen sich kaum trennen. In den landwirtschaftlichen Versuchsanstalten wurden Innovationen geprüft, Untersuchungen von Betriebsmitteln unternommen und Landwirten die Möglichkeit zur Besichtigung von Versuchsergebnissen geboten. Landwirtschaftliche Vereine, in denen seit dem frühen 19. Jahrhundert deutlich mehr praktizierende Landwirte mitwirkten als in ihren Vorgängergesellschaften des späten 18. Jahrhunderts, waren flächendeckend in allen Regionen des Reiches bis zur lokalen Ebene hinunter organisiert, und trugen über Zeitschriften, Treffen, Vorträge, Versuche und landwirtschaftliche Feste zur Verbreitung neuer Methoden bei.6 6.1.3 Landwirtschaftliches Schulwesen
Landwirtschaftliche Schulen unterschiedlicher Ausrichtung und Trägerschaften vermittelten die Erkenntnisse an die junge Generation, wobei vor allem die Winterschule durch ihre Berücksichtigung des betrieblichen Arbeitskräftebedarfs zum Erfolgsmodell wurde, 3 4 5 6
Uekötter 2010, S. 23. Uekötter 2010, S. 64. Harwood 2005, S. 77–108. Pelzer 2002.
Wissensproduktion und Wissenstransfer
deren Anmeldezahlen weit über denen der ganzjährigen Ackerbauschulen lagen. Neben Unterricht in allgemeinbildenden Fächern lag der Schwerpunkt des Curriculums der Winterschulen auf naturwissenschaftlichen Fächern und landwirtschaftlichen Kursen wie Fütterungs- und Düngerlehre. Die Lehrer der Winterschulen, insbesondere ihre den größten Teil der Lehrverpflichtungen übernehmenden Direktoren, hatten in der Regel eine Ausbildung an einer landwirtschaftlichen Akademie oder einer Universität durchlaufen und standen außerhalb ihrer Schultätigkeit als „Wanderlehrer“ über Vorträge und Beratungstätigkeit mit der landwirtschaftlichen Bevölkerung und vor allem ihren ehemaligen Schülern in einem direkten Kontakt.7 Die für Bayern vorliegenden Schülerzahlen zeigen aber zum einen den zwar spürbaren Anstieg zwischen 1874/75 und 1911/12 von 252 auf 1878, aber auch, dass nur eine Minderheit der jungen Landwirte von dieser Ausbildung erfasst wurde. Für Preußen wurde geschätzt, dass maximal jeder zehnte Betriebsleiter Absolvent einer Winterschule gewesen war.8 Auch nach dem Ersten Weltkrieg erreichten Versuche, den landwirtschaftlichen Nachwuchs über eine der gewerblichen und handwerklichen vergleichbaren Lehre oder das landwirtschaftliche Schulwesen weiterzubilden, nur einen Teil der Zielgruppe. Lediglich die Hälfte aller nordwestdeutschen und maximal 20% der süd- und südwestdeutschen Betriebsleiter schickten Ende der zwanziger Jahre ihre zukünftigen Nachfolger in die Winterschulen.9 Auf viel mehr Absolventen war das System nicht ausgelegt. Nur 20 bis 30% des Nachwuchses an Betriebsleitern hätten um 1930 einen Schulplatz bekommen können. Bis 1945 war allerdings die Zahl der Landwirtschaftsschulen in Deutschland auf 710 angewachsen.10 Nur knapp 18.000 junge Männer und 11.400 junge Frauen absolvierten Mitte der fünfziger Jahre eine praktische Berufsausbildung in der Landwirtschaft, 30.000 junge Männer besuchten die Landwirtschaftsschule, 11.000 junge Frauen die vornehmlich auf Hauswirtschaft ausgerichteten „Mädchenabteilungen“ der Landwirtschaftsschulen. Der Anteil der so ausgebildeten Betriebsleiter wird auf etwa ein Drittel eingeschätzt.11 Mit der Bildungsexpansion seit den späten sechziger Jahren veränderte sich auch die Lage im landwirtschaftlichen Ausbildungswesen. 1973 war die Zahl der Auszubildenden in der Landwirtschaft auf einem Tiefpunkt angelangt, danach setzte eine Aufwärtsbewegung ein. In den achtziger Jahren wurde es für Hofnachfolger in Haupterwerbsbetrieben zur Regel, eine landwirtschaftliche Ausbildung zu durchlaufen. Weibliche Auszubildende machten in diesem Bereich in den neunziger Jahren etwa zehn Prozent aus. Fast die Hälfte der Absolventen dieser Ausbildung strebte die Meisterprüfung oder den Abschluss einer zweijährigen Fachschule an.12 In der Folge stieg der Anteil der Betriebsleiter mit landwirtschaftlicher Ausbildung bis zum Jahrtausendwechsel deutlich an. Zwei Drittel der 2005 gezählten Be 7 Bauer 2009, S. 240–252 ; Mahlerwein 2001, Weihnachtsball, S. 16 f. 8 Achilles 1998, S. 49 ; Großewinkelmann 2007, S. 541–564 ; Schmiel 1991, S. 398–404. 9 Abel 1967, S. 77. 10 Uekötter 2010, S. 101, 103. 11 Statistisches Jahrbuch 1956, S. 123 f.; Abel 1967, S. 77. 12 Kluge 1989 b, S. 294.
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Wissen
triebsleiter hatten eine landwirtschaftliche Lehre, Schule oder Hochschulausbildung absolviert, bei den Betrieben zwischen 20 und 100 Hektar betrug der Anteil sogar vier Fünftel. Einen agrarwissenschaftlichen Fachhochschul- oder Hochschulabschluss hatten 6,5% der Betriebsleiter mit Ausbildung vorzuweisen.13 Von einem „Hinterherhinken“ des landwirtschaftlichen Schulwesens hinter der Agrarmodernisierung, wie es für die ersten zwei Drittel des 20. Jahrhundert konstatiert wurde14, kann also für das letzte Drittel nicht die Rede sein. Der weitaus größte Teil der landwirtschaftlich Erwerbstätigen rekrutiert sich aus landwirtschaftlichen Familien.15 Die Einübung von Arbeitsvorgängen als Teil der kindlichen und jugendlichen Sozialisation in landwirtschaftlichen Betrieben muss daher auch weiterhin als wichtige Grundlage des Produktionswissens angenommen werden, das durch expertenproduzierte Wissensbestände, vermittelt durch Schule, Beratung und den Einfluss von Berufskollegen, erweitert wurde.16 Neu erworbene Kenntnisse wirkten nun auch wieder zurück auf die über die tägliche Praxis übermittelten Wissensinhalte, die so von einem generationell sich potenzierenden Anteil expertengenerierter Informationen mitbestimmt wurden. Gerade im Generationenwechsel konnte die Anwendung neuer Wissensbestände zu erheblichen Konflikten führen.17 Landwirtschaftliche Ausbildung in der DDR In der DDR musste der landwirtschaftlichen Ausbildung aufgrund des hohen Stellenwerts industrieller Methoden und da Wissensaneignung nicht mehr auf familiärer Vermittlung basierte, eine besondere Bedeutung zukommen. Dementsprechend wurde die Quote der Berufstätigen in der Landwirtschaft mit Ausbildung im Jahrzehnt nach der Kollektivierung von 13% im Jahr 1961 auf 57,6% im Jahr 1970 gesteigert. 1981 betrug ihr Anteil schon 91,1%, 1989 94,1%. Nur wenige Prozent unter dem allgemeinen Durchschnitt lag die Ausbildungsquote der Frauen. Ein noch in der SBZ aufgebautes schulisches Angebot wurde sowohl für die agrarische als auch die politische Instruktion genutzt.18 Am Beispiel der LPG im thüringischen Merxleben wurde beschrieben, wie seit den fünfziger Jahren unterschiedliche Gruppen von Lehrlingen in den Arbeitsablauf der Genossenschaft integriert wurden. Das Spektrum der Ausbildung reichte von stark praktisch orientierten Ausbildungsgängen für nur „beschränkt ausbildungsfähige“ Schüler bis zu Angeboten, mit einer engen Verbindung von theoretischer und praktischer Ausbildung neben dem Abitur noch eine landwirtschaftliche Lehre abzuschließen. Die Jugendlichen des Ortes, insbesondere jene, deren Eltern als LPG-Bauern Land in die Genossenschaft eingebracht hatten, wurden auch gegen ihre eigentlichen Berufswünsche mit Nachdruck zur Aufnahme einer 13 Berechnet nach den Angaben in : Statistisches Jahrbuch 2008, S. 33, 68. 14 Uekötter 2010, S. 104. 15 Vgl. Fliege 1998, S. 183–192. 16 Langthaler 2003, S. 563–650, S. 612. 17 Fliege 1998, S. 220–223. 18 Bauerkämper 2002, S. 197, 310 ; Heinz 2011, S. 368.
Wissensproduktion und Wissenstransfer
Abb. 17 : Lehrlinge der Jugendbrigade Pils von der Geflügelfarm der LPG Wildenhain, Krs. Eilenburg beim theoretischen Unterricht an dem Modell eines Huhnes, 1960.
landwirtschaftlichen Ausbildung aufgefordert. Auch die vor allem in den Ställen arbeitenden Frauen absolvierten eine Facharbeiterausbildung. Erst im Zusammenhang mit der Hochtechnisierung der siebziger und achtziger Jahre wurden technisch orientierte Bewerber „aus der Stadt“ dem ortsansässigen Nachwuchs vorgezogen.19 Das Ziel, dass alle Betriebsleiter ein Fachstudium absolviert haben sollten, wurde nicht erreicht. So hatten zwar alle LPG (P)-Vorsitzenden im Bezirk Neubrandenburg 1982 einen Hoch- oder Fachschulabschluss vorzuweisen, im Bezirk Rostock 1978 allerdings weniger als die Hälfte. Angebote zur ständigen Weiterqualifizierung der Genossenschaftsbauern und Landarbeiter stießen angesichts der ohnehin hohen Arbeitsbelastung an ihre Grenzen.20 6.1.4 Die These von der „Wissenserosion“
Die in der Zwischenkriegszeit sich innerhalb der Agrarwissenschaften herausbildende Vorrangstellung der Agrikulturchemie gegenüber anderen Konzepten der Steigerung der 19 Schier 2001, S. 214–217. 20 Heinz 2011, S. 367–370.
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Wissen
Bodenfruchtbarkeit und der Aufbau einer Infrastruktur, die Schulungs-, Beratungs- und Reparaturangebote für die Nutzer agrartechnischer Innovationen umfasste, werden als Voraussetzung für die erst nach 1950 massiv einsetzende Transformation des agrarischen Wissenssystems hin zu einer weniger auf Partizipation der Agrarproduzenten als vielmehr auf deren Instruktion zielende Praxis verstanden. Durch Spezialisierung und Betriebsvereinfachung sei zum einen eine „Wissenserosion“, ein Verlust von Wissensbeständen, eingetreten, andererseits aber auch eine „selektive Intensivierung“ von Wissenserwerb in Gang gesetzt worden. Während sich die landwirtschaftlichen Akteure im Bereich der Agrartechnik umfassende Kenntnisse zur Anwendung und Instandsetzung aneigneten, wurde im Umgang mit dem Boden eine Reduktion der Wissensbasis und somit eine Verengung der Handlungsoptionen auf die von Experten gemachten Vorgaben hingenommen.21 Andererseits scheint die „Simplifizierung“ der Entscheidungsprozesse – zu nennen wäre hier sicher auch der Trend zur Monokultur in Pflanzenbau und Viehhaltung – eine Kehrseite der angesichts der zunehmenden Dominanz des Faktors Kapital über den Faktor Arbeit komplexer werdenden betrieblichen Abläufe zu sein.
6.2 Ökologische Landwirtschaft 6.2.1 „Natürlicher Landbau“ und biologisch-dynamische Landwirtschaft
Die Entwicklung der ökologischen Landwirtschaft gehört in den Zusammenhang des Produktionsfaktors Wissen. Seit dem frühen 20. Jahrhundert wurden Gegenkonzepte zur zunehmend auf inputs von außen setzenden landwirtschaftlichen Entwicklung gesucht. Insbesondere der Einsatz mineralischer Dünger stand zunächst im Mittelpunkt der Kritik der nach Alternativen suchenden Theoretiker und Praktiker. Die landwirtschaftliche Bakteriologie betonte um die Jahrhundertwende die Bedeutung von Mikroorganismen für die Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit. Von dieser Idee ausgehend entwickelten die Pioniere des im Zusammenhang mit der Lebensreform- und Siedlungsbewegung entstehenden „natürlichen Landbaus“ ein Konzept einer Landwirtschaft ohne chemische und auch weitgehend ohne moderne technische Hilfsmittel, die aufgrund ihrer vegetarischen Einstellung auch ohne Vieh auskommen sollte. Die Selbstversorgung stand bei dieser Bewegung im Vordergrund, Überschüsse wurden über Hofläden und Wochenmärkte, teilweise auch über örtliche Reformläden direkt vermarktet.22 Nach Vorträgen zur Landwirtschaft, die der Begründer der anthroposophischen Bewegung Rudolf Steiner 1924 gehalten hatte, gründete sich ein „Versuchsring“, der die Ideen Steiners in die Praxis umzusetzen begann. Steiner verstand den landwirtschaftlichen Betrieb als Organismus, der durch eine vielfältige, den lokalen Bedingungen angepasste Struktur gekennzeichnet ist, als Kreislauf funktioniert und auf die Erzeugung qualitativ 21 Uekötter 2010, S. 272–275, 437–441. 22 Vogt 2000, S. 60–92.
Ökologische Landwirtschaft
hochwertiger Nahrungsmittel ausgerichtet ist. Mineralische Dünger führten nach seiner Überzeugung zu einer Degenerierung des Bodens und der Lebensmittel. Deswegen lag der Schwerpunkt in dem nun entstehenden biologisch-dynamischen Landbau auf einer Steigerung der Bodenfruchtbarkeit durch weitgehend innerbetriebliche Ressourcen : eine vergrößerte Tierhaltung, ein Gründüngungsphasen einbeziehendes Fruchtfolgensystem und eine verbesserte Kompostwirtschaft. Könnte das zumindest teilweise noch den Methoden der rationellen Landwirtschaft vor der Einführung des Kunstdüngers entsprechen, so ist der Einsatz von durch kosmische Kräfte aufgeladene Feld- und Kompostpräparaten ganz in der anthroposophischen Lehre begründet und mit naturwissenschaftlichem Verständnis nicht mehr zu fassen. Diese Praktiken bildeten denn auch den wichtigsten Anknüpfungspunkt für die Kritiker aus den Agrarwissenschaften, die mit dem Verweis auf die esoterischen Anteile der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise auch deren Angriff auf den Mineraldüngereinsatz zurückwiesen. Dennoch fanden sich – gerade unter ostdeutschen anthroposophisch orientierten Gutsbesitzern – etliche Betriebsleiter, die die neuen Methoden umsetzten und schon ab 1932 ihre Produkte unter dem Warenzeichen „Demeter“ vermarkteten.23 Zwischen 1928 und 1933 stieg die Zahl der nach Steiner praktizierenden Landwirte von 100 auf über 1000 an. In der NS-Zeit wurde die „Anthroposophische Gesellschaft“ zwar verboten, Organisationen der „angewandten Anthroposophie“ waren aber bis 1941 weiterhin geduldet. Einige Führungspersonen des „Dritten Reichs“, vor allem Rudolf Hess und später Heinrich Himmler, sowie der „Reichslandschaftsanwalt“ Alwin Seifert, der für die Entwicklung des biologischen Gartenbaus in der Nachkriegszeit noch eine wichtige Rolle als Autor spielen sollte, hegten offene Sympathie oder zumindest Interesse für die biologisch-dynamischen Methoden, wodurch bereits für Thüringen erlassene und für das Reich geplante massive Restriktionen zurückgenommen bzw. verhindert wurden. Selbst Reichsbauernführer und Landwirtschaftsminister Richard Walther Darré, der 1934 noch mit Rücksicht auf „Beamte seines Ministeriums wie auch auf die Landwirtschaftswissenschaft und auf seine Industrie (…) die alle gegnerisch eingestellt wären“ nur unter massiver Einflussnahme von Hess zu Konzessionen bereit war, zeigte sich nach 1940 nach der Kenntnisnahme positiver Vergleichsuntersuchungen und einem Besuch eines Musterbetriebes durchaus angetan von dessen Erfolgen – freilich nach seiner weitgehenden Entmachtung innerhalb des NS-Systems. Die Protagonisten der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise kamen dem System durch sprachliche Anpassungen, etwa die Nutzung des Autarkiebegriffs für die Betriebsorganisation, und Zusammenarbeit selbst in von der SS betriebenen Versuchsanstalten, auch in einer Versuchsanlage für Heilkräuter im KZ Dachau, entgegen.24
23 Vogt 2000, S. 155–168 ; Uekötter 2010, S. 232–242. 24 Werner/Lindenberg 1999, S. 82–93, 266–286 ; Vogt 2000, S. 120 f., 133–152, 173 ; Gerhard 2003, S. 264–266.
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Wissen
6.2.2 Ökologischer Landbau seit der Mitte des 20. Jahrhunderts
Die bislang vorrangig in ostdeutschen Gutsbetrieben praktizierte biologisch-dynamische Methode wurde nach dem Krieg in westdeutschen Familienbetrieben weitergeführt.25 Mit dem Aufkommen der organisch-biologischen Methode erwuchs ihr aber bereits seit den 1940er Jahren eine Konkurrenz. Unter Rückgriff auf Erfahrungen des natürlichen Landbaus, des englischen und amerikanischen organischen Landbaus und der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise seit den 1940er Jahren entwickelte das Schweizer Ehepaar Hans und Maria Müller, seit 1952 in Zusammenarbeit mit dem deutschen Mediziner HansPeter Rusch, ein auf neuen Erkenntnissen zur Bodenmikrobiologie basierendes „Naturhaushaltungskonzept“. Dieser Form der ökologischen Landwirtschaft, die ohne den auch für umstellungswillige Bauern häufig suspekten anthroposophischen Hintergrund auskam, dafür auf einem bäuerlich-christlichen Wertesystem beruhte, schlossen sich auch in Deutschland zunehmend Betriebe an, die sich seit 1971 in einem Anbauverband organisierten und ab 1981 ihre Produkte unter dem Warenzeichen „Bioland“ vermarkteten.26 Durch die Umweltbewegung seit den siebziger Jahren erlebte der ökologische Landbau einen deutlichen Aufschwung. Waren in der Mitte der siebziger Jahre erst 56 Betriebe im organisch-biologischen Anbauverband organisiert, so waren es am Ende des Jahrzehnts schon 200, zehn Jahre später 1.200 und um 2000 3.450. An die Stelle der weltanschaulichen Bezüge der Pioniergenerationen traten zunehmend allgemein ökologisches Interesse, umweltund entwicklungspolitische Überlegungen, aber auch ökonomische Motivationen. Dementsprechend öffneten sich die Vertreter der jetzt mit dem eher neutralen Überbegriff des „biologischen Anbaus“ zu charakterisierenden Wirtschaftsweise zunehmend auch den Ergebnissen der allgemeinen Agrarwissenschaften, die sich ihrerseits auch ökologische Methoden nicht mehr wie in den vorhergehenden Jahrzehnten völlig verschloss und etwa im Konzept der „integrierten Landwirtschaft“ eine Anbaupraxis mit minimiertem Chemieeinsatz entwickelte.27 Der zunächst vor allem auf der Weitergabe von Erfahrungswissen, den Ergebnissen praktischer Versuche, direktem Austausch über Erfolge und Misserfolge basierende, häufig in Arbeitskreisen und Verbänden organisierte Wissentransfer im ökologischen Sektor wurde seit den 1970er Jahren zunehmend durch die Veröffentlichung wissenschaftlicher Forschungen und den Aufbau eines Beratungssystems ergänzt.28 Bis in die neunziger Jahre bewegte sich der ökologische Landbau quantitativ auf niedrigem Niveau. Nur ein Prozent aller Betriebe bewirtschaftete 1994 1,6% der landwirtschaftlichen Fläche, bis 1999 hatte sich der Anteil der Betriebe verdoppelt, bis 2009 war er auf 5,6% angewachsen, der Flächenanteil ebenfalls auf 5,6%.29 25 Vogt 2000, S. 192. 26 Vogt 2000, S. 197–235 ; Inhetveen 2005, S. 186 f. 27 Vogt 2000, S. 237–266 28 Uekötter 2010, S. 421 29 Stat. Jahrbuch 2008, S. 44, 88, 169, Stat. Jahrbuch 2010, S. 91.
Ökologische Landwirtschaft
War bereits in der Vorkriegszeit die Differenz zwischen den Erträgen der ökologischen und der konventionellen Landwirtschaft deutlich, so vergrößerte sich die Diskrepanz durch den enormen Ertragsanstieg in den 1950er und 1960er Jahren. Trotz aller Fortschritte auch in der Produktionstechnik der ökologisch wirtschaftenden Betriebe bleiben Unterschiede. So ernteten im Wirtschaftsjahr 2006/2007 ausgesuchte ökologische Buchführungsbetriebe im Vergleich mit den entsprechenden konventionellen Betrieben nur die Hälfte des Weizens und etwa zwei Drittel der Kartoffeln pro Hektar und hatten einen um ein Drittel geringeren Milchertrag. Ihr Personalaufwand lag mit 166 Euro pro Hektar um das Vierfache höher. Trotzdem erzielten sie aufgrund höherer Preise und höherer Zuschüsse aus Agrarumweltmaßnahmen mit 435 Euro pro Hektar einen um 14% höheren Gewinn.30
30 Stat. Jahrbuch 2008, S. 169.
149
7 Ertragssteigerungen
Aus dem Zusammenwirken der verschiedenen Produktionsfaktoren resultierte ein seit dem späten 19. Jahrhundert kontinuierlicher, nur in Kriegs- und Nachkriegszeiten unterbrochener Anstieg der landwirtschaftlichen Produktivität. Am Beispiel der Hektarerträge von Roggen, Weizen und Kartoffeln kann das verdeutlicht werden. Zwischen 1881/85 und 2004/06 stiegen die durchschnittlichen Ernteerträge von Roggen von 9,9 auf 54,1 Doppelzentner (dt), von Weizen von 12,9 auf 76,5 Doppelzentner und von Kartoffeln von 84,3 auf 415,8 Doppelzentner an. Tabelle 6 : durchschnittliche Hektarerträge 1881–2006 Wert von 1881/85 = 100 Roggen
Weizen
Kartoffeln
1881–1885
100,0
100
100
1898–1902
150,5
143
154
1909–1913
184,9
165
162
1924–1928
179,8
168
181
1929–1933
194,9
184
208
1935–1938
194,9
201
221
1946–1948
161,6
138
194
1949–1951
234,3
212
260
1952–1954
248,5
210
258
1955–1957
253,5
236
270
1957–1961
261,6
247
270
1964–1966
280,8
259
293
1969–1971
333,0
326
328
1974–1976
343,4
350
329
1979–1981
376,7
391
355
1984–1986
419,2
479
421
1989–1991
486,9
519
421
1994–1996
514,1
545
415
1999–2001
566,6
591
488
2004–2006
546,5
593
493
(Quelle : Berechnet nach : Stat. Jahrbuch 2008, S. 99, Daten 1946–1991 früheres Bundesgebiet.)
151
Ertragssteigerungen
Besonders auffällig ist der Anstieg der Produktivität um 50% zwischen 1881/85 und 1898/1902, der vor allem auf verbesserte Düngemöglichkeiten und besseres Saatgut zurückzuführen war, und der sprunghafte Zuwachs in den 1960er Jahren, hier dürfte neben technischen Verbesserungen vor allem der chemische Pflanzenschutz ursächlich sein. Die Produktivitätsfortschritte in der tierischen Erzeugung können beispielhaft an der Milchleistung je Kuh und an der Legeleistung je Henne dargestellt werden. Wie in der Statistik zur pflanzlichen Erzeugung können auch hier die großen Schwankungen nach Region und Betriebsform nicht mit abgebildet werden. Tabelle 7 : Milchleistung je Kuh Jahr
kg/Jahr
1900 (geschätzt)
1900
1913 (geschätzt)
2200
1922
1600
1932
2372
1935/38
2480
1948/49
2017
1950/51
2560
1954/55
2910
1960
3368
1975
4011
1980
4542
1985
4684
1990
4919
1995
5427
2000
6122
2005
6761
(Quelle : Stat. Jahrbuch 1956, S. 96 ; Stat. Jahrbuch 2008, S. 145 ; Eckart 1998, S. 52, 96 ; homepage aidinfodienst : http://www.aid.de/downloads/eier_und_milchleistung.pdf [Zugriff : 17.3.2012])
152
Ertragssteigerungen
Tabelle 8 : Legeleistung je Henne Jahr 1935/38
Eier/Jahr 100
1948/49
90
1950/51
111
1954/55
118
1960
140
1970
206
1975
237
1980
242
1991
259
2000
276
2005
278
(Quelle : Stat. Jahrbuch 1956, S. 97 ; Stat. Jahrbuch 2008, S. 147 ; Eckart 1998, S. 236 ; homepage aidinfodienst : http://www.aid.de/downloads/eier_und_milchleistung.pdf [Zugriff : 17.3.2012])
In der Legeleistung ist die sprunghafte Steigerung in den sechziger Jahren auffällig, die mit der Industrialisierung der Legehennenhaltung einherging. Die Steigerung der Milchleistung verlief – in Friedenszeiten – kontinuierlicher, lediglich in den achtziger Jahren verlangsamte sich die Zuwachsrate – eventuell bedingt durch die Einführung der Milchquote im Jahr 1984 und der dadurch verminderten Motivation zur weiteren Leistungssteigerung. Ob Hektarerträge, Milchleistung, Legeleistung, Schlachtgewicht – in allen landwirtschaftlichen Sparten ist der Prozess der Leistungssteigerung nicht abgeschlossen, sondern scheint unaufhaltsam fortzuschreiten. Auch die erzeugten Gesamtmengen wachsen weiterhin an : steigende Tendenz bei Getreide, zumindest Stagnation bei Kartoffeln und Zuckerrüben trotz zurückgehender Anbauflächen, massive Zunahmen der Öl- und Futterpflanzenernten, eine vor allem durch die Zunahme von Schweine- und Geflügelfleisch anwachsende Fleischproduktion und eine trotz Reduzierung der Kuhbestände um ein Drittel innerhalb von zwanzig Jahren stagnierende Milchmenge. Lediglich die Eierproduktion ist aufgrund von Verlagerungen hin zur Masthähnchenzucht rückläufig.1 Weiterhin gilt : Immer weniger Landwirte produzieren auf immer weniger Flächen mit immer mehr Kapitaleinsatz immer mehr.
1 Stat. Jahrbuch 2008, S. 98, 144–147.
8 Agrarmarkt
8.1 Konsumverhalten Angebot und Nachfrage landwirtschaftlicher Erzeugnisse stehen in einem Wechselverhältnis. Änderungen im Konsumverhalten hatten Umstellungen in der landwirtschaftlichen Produktion zur Folge wie auch agrarwirtschaftliche Entwicklungen sich auf Verbraucherverhalten auswirken. Neben dem steigenden Nahrungsmittelbedarf aufgrund des Bevölkerungswachstums in der Zeit des Deutschen Kaiserreichs ist für Veränderungen in der Nachfrage vor allem ein sich seit dem späten 19. Jahrhundert abzeichnender Wandel der Konsumgewohnheiten verantwortlich zu machen. Während der Anteil von Getreide, Kartoffeln und Hülsenfrüchten rückläufig war, stieg der Verzehr von Fleisch, Eiern, Fetten, Gemüse, Obst und Zucker – außer in Zeiten von Kriegs- und Nachkriegskrisen – kontinuierlich an.1 Bis um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wuchs der Verbrauch von Kartoffeln und Getreide zunächst noch. Regionale Unterschiede im Verbraucherverhalten sind noch deutlich auszumachen. So wurde in Süddeutschland und in Städten ein höherer Anteil von Getreideprodukten konsumiert. Nach wie vor dominierte Roggenmehl, das zu einem großen Teil noch privat zu Brot verbacken wurde. Bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg war der Mehlbedarf in privaten Haushalten deutlich gesunken, da Brot jetzt zum größten Teil in Bäckereien gebacken wurde. Der Anteil von Roggen und Weizen hatte sich fast angeglichen. In der süddeutschen „Mehlspeisenküche“ blieb der Mehlverbrauch weiterhin auf überdurchschnittlichem Niveau. Anders als im 19. Jahrhundert finden sich kaum noch Hinweise auf fast ausschließlichen Kartoffelverzehr, so dass auch für ärmere Bevölkerungsschichten von einer verbesserten Ernährungssituation ausgegangen werden kann. Schon seit der Jahrhundertmitte war ein – im letzten Viertel sich beschleunigender –Anstieg des Fleischkonsums zu beobachten, der vor allem auf der Zunahme des Schweinefleischverbrauchs basierte, aber im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ins Stocken kam. Mit der Verbesserung der Konservierungsmethoden und der Transportmöglichkeiten gelang im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der Übergang zu einer Milchwirtschaft, in der die Ausdifferenzierung von Produktion, Weiterverarbeitung und Distribution auch die städtische Versorgung ermöglichte. Nach 1900 wurde der Milchkonsum vor allem in den Städten und Industrieregionen deutlich ausgeweitet. Bei Eiern war der Anteil des Selbstverbrauchs auch im städtischen Milieu noch sehr hoch. Auf 50 bis 80 Stück wird der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch für die Jahrzehnte vor 1900, auf 100 um 1910 eingeschätzt. Etwa sechs Kilogramm Butter und Käse wurden durchschnittlich pro Person und Jahr verzehrt. Bei der Butter ist ein überdurchschnittlicher Verbrauch in Berlin, Westfalen, Niederschlesien und Thüringen beobachtet worden, 1 Teuteberg/Wiegelmann 21995, S. 67.
154
Agrarmarkt
wo die Mode des „Butterbrotes“ offenbar schon verbreitet war. In Industrieregionen wurde Butter seit dem Ende des Jahrhunderts von der billigeren Margarine verdrängt. Die auffälligste Veränderung im Ernährungsverhalten in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts stellt die Verdoppelung des Zuckerverbrauchs dar. Zwischen 1900 und 1913 stieg der Pro-Kopf-Verbrauch noch um weitere 58% auf 20 Kilogramm. Der besonders hohe Verbrauch in Städten und Industrieregionen kann als typisch für das mit Urbanisierungsund Industrialisierungsprozessen einhergehende Bedürfnis nach schneller Energiezufuhr verstanden werden.2 Regionale Unterschiede in den Ernährungsgewohnheiten blieben auch noch in den späten 1920er Jahren sichtbar. Weiterhin blieb der Kartoffelkonsum in Süddeutschland unterdurchschnittlich, der von Getreide aufgrund der Mehlspeisentradition überdurchschnittlich. Der insgesamt für die späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre zu beobachtende rückläufige Weizenkonsum dürfte mit den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise zu erklären sein. Nach dem Rückgang der Fleischnachfrage im und nach dem Ersten Weltkrieg wurde um 1927/28 das Vorkriegsniveau wieder erreicht. Der Eierverbrauch stieg bis 1930 auf geschätzte 150 Stück pro Person. Im Milchverbrauch näherten sich die Regionen einander an, verbesserte Transportbedingungen sorgten für einen erhöhten Zuwachs in der städtischen Nachfrage.3 Die Wirtschaftskrise ließ das wieder erreichte Ernährungsniveau schnell absinken. Wie an einer Berliner Familie – die noch zu den privilegierten gehörte, da beide Elternteile eine Beschäftigung hatten – gezeigt wurde, bestanden die täglichen Mahlzeiten aus Kartoffeln, Gemüse, Schmalzbroten und Malzkaffee, Fleisch und Wurst waren dem schwer arbeitenden Vater vorbehalten.4 Die durch Propaganda, Reglementierungen und Zwangsmaßnahmen bestimmte Konsumlenkung der NS-Zeit war nur bedingt erfolgreich. Um aus devisenpolitischen Gründen Importe zurückzudrängen und sich dem Autarkieziel anzunähern, wurde die Umkehr des sich seit dem 19. Jahrhundert abzeichnenden Konsumtrends propagiert : weniger tierische, mehr pflanzliche Produkte, eine eher kohlenhydrat- statt eiweiß- und fettreiche Kost. Dennoch stieg der Fleischverbrauch weiter an, auf durchschnittlich 52,8 Kilogramm pro Person in den Jahren 1935–1938. Dass der Butterverbrauch sich zwischen 1930 und 1938 nur wenig von 8,1 auf 8,8 Kilogramm erhöhte, dürfte schon eher mit der Reglementierung des Bezugs von Butter und tierischen Fetten ab November 1935 zu erklären sein.5 Erst das über Lebensmittelkarten organisierte Rationierungssystem während des Zweiten Weltkrieges führte zu einem massiven Einschnitt : von 49,2 kg auf 75 Kilogramm stieg der jährliche durchschnittliche Gemüseverbrauch zwischen 1936 und 1943 an, der Kartoffelkonsum verdreifachte sich fast, während die Fleischversorgung von 41,6 Kilogramm 1939/40 auf 28,2 Kilogramm 1943/44 zurückfiel.6 2 3 4 5
Lesniczak 2003, S. 43–74. Ebenda, S. 75–92. Briesen 2010, S. 187. Corni/Gies 1997, S. 353–363 ; Statistisches Jahrbuch über Landwirtschaft und Ernährung der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg/Berlin 1956, S. 139 f. 6 Corni/Gies 1997, S. 555–575.
155
Konsumverhalten
Tabelle 9 : Verbrauch von Nahrungsmitteln pro Kopf in kg je Jahr in der Bundesrepublik7 1935/38
1948/49
1950/51
1960/61
1970/71
Getreide
110,5
123,9
99,9
79,8
66,0
Kartoffeln
176,0
219
186
132,0
102,0
Zucker
25,5
19,5
28,1
30,3
34,3
Gemüse
51,9
59,4
49,9
48,8
63,8
Obst*
36,3
21,7
40,7
81,4
93,0
Rind- und Kalbfleisch
18,0
7,9
13,3
19,5
24,0
Schweinefleisch
29,2
7,1
19,4
30,2
38,6
1,7
0,6
1,2
4,4
8,4
126,0
67,6
111,2
112,7
93,8
Geflügel Frischmilch Butter Eier (Stück)
Getreide
6,4
7,0
8,6
133
6,7
45
3,6
136
229
275
1980/81
1990/91
2000/01
2005/06
2008/09
67,8
72,9
76,0
90,3
91,6
Kartoffeln
80,5
75,0
70,0
63,0
57,8
Zucker
35,6
35,1
35,3
35,9
35,2
Gemüse
64,2
81,0
83,7
86,4
92,2
Obst*
84,0
60,8
75,2
78,6
70,9
Rind- und Kalbfleisch
23,1
22,1
14,0
12,1
12,5
Schweinefleisch
58,2
60,1
54,9
54,1
54,1
Geflügel Frischmilch Butter Eier (Stück)
9,9
11,7
16,0
17,5
18,8
84,5
91,5
89,9
92,8
85,2
7,1
7,3
6,8
6,4
5,9
285
253
223
205
211
(Quelle : Statistisches Jahrbuch über Landwirtschaft und Ernährung der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg/Berlin 1956, S. 139 f.; Statistik und Berichte des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, http://berichte.bmelv-statistik.de/SJT-4010500-0000.pdf [Zugriff : 15.2.2012]) * Die Werte variieren z. T. auch wegen veränderter statistischer Aufnahmekriterien.
7 Statistisches Jahrbuch über Landwirtschaft und Ernährung der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg/Berlin 1956, S. 139 f.; Statistik und Berichte des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, http://berichte.bmelv-statistik.de/SJT-4010500-0000.pdf, 15.2.2012.
156
Agrarmarkt
Nach den Hungerjahren der Nachkriegszeit wurde in Westdeutschland erst in den frühen fünfziger Jahren das Vorkriegsniveau in der Versorgung mit pflanzlichen Produkten sowie mit Butter und Eiern erreicht, während der Fleisch- und Milchkonsum noch deutlich unter dem Level der Jahre 1935–38 blieb. In den folgenden Jahrzehnten beschleunigte sich die seit dem späten 19. Jahrhundert beobachtete Entwicklung immens. Während Kartoffel- und Getreidekonsum bis in die achtziger Jahre rapide zurückging, wurden zunehmend mehr Fleisch, Zucker, Eier, Butter, Gemüse und Obst verzehrt. Die „Fresswelle“ der fünfziger Jahre lässt sich den quantitativen Sprüngen im Fleisch- und Eierverbrauch in diesem Zeitraum ablesen. Die regionalen Differenzen im Kartoffel- und Getreideverbrauch blieben noch weiter bestehen. In den sechziger und siebziger Jahren kündigten sich mit der Verbreitung von Kühl- und Gefrierschränken, einer zunehmenden Internationalisierung des Geschmacks und eines stetig wachsenden Anteils von Fertigprodukten, schließlich auch verschiedener Formen von „fast food“ neue Entwicklungen an, die die seit langem wirksamen Tendenzen eher verstärkten. Seit den achtziger Jahren ist eine Trendwende zu beobachten, die mit einem steigenden Bewusstsein für gesundheitliche Aspekte der Ernährung, aber auch der weiteren Ausdifferenzierung des Angebots an Fertig- und sogenannten „Convenience“-Produkten zu erklären ist.8 Der Verzehr von Rinder- und Schweinefleisch ist ebenso rückläufig wie der von Eiern und Butter, während der Pro-Kopf-Verbrauch von Geflügelfleisch weiter ansteigt, der Konsum von Getreide, Gemüse und Obst zunimmt, der Zuckerverbrauch stagniert. Weiterhin rückläufig ist der Kartoffelverbrauch. Tabelle 10 : Verbrauch von Nahrungsmitteln pro Kopf in kg je Jahr in der DDR 1960
1970
1980
1989
173,9
153,5
148,1
158,0
Rind- und Kalbfleisch
18,0
22,3
22,5
25,1
Schweinefleisch
33,3
38,7
57,8
63,8
3,7
5,1
8,9
10,4
Kartoffeln
Geflügel (Quelle : Poutrus 2002, S. 214)
Für die DDR wurde eine „stabile Traditionsbindung beim Ernährungsverhalten“ konstatiert. Ähnlich wie im Westen verdoppelte sich dort zwischen 1960 und 1989 der Konsum von Schweinefleisch, verdreifachte sich der von Geflügel und wuchs der Rinder- und Kalbfleischverbrauch – in geringerem Tempo – an. Der Kartoffelkonsum blieb allerdings trotz zeitweiligem Rückgang bis 1989 auf dem im Westvergleich doppelt so hohen Wert von 158 Kilogramm pro Person stehen. Der Obstverzehr war unterdurchschnittlich. 1987 wurde mit 58,8 Kilogramm Obst etwa ein Drittel weniger als im Westen konsumiert.9 8 Briesen 2010, S. 190–196. 9 Ebenda ; Dietrich 2003, S. 351.
Vermarktung der Agrarprodukte
8.2 Vermarktung der Agrarprodukte 8.2.1 Ausweitung der Marktbeziehungen und Entstehung der internationalen Konkurrenz
Die Ausdifferenzierung des Marktes für landwirtschaftliche Güter seit dem späten 19. Jahrhundert hatte mehrere Ursachen. In der Folge von Industrialisierung und Urbanisierung sank die Zahl der sich zumindest teilweise selbst versorgenden Personen, wenngleich Kleintierhaltung und Gartenbau auch in den Städten noch eine gewisse Rolle spielten. Die schnell wachsende Bevölkerung und das im Zuge der Industrialisierung steigende Arbeitseinkommen ließen die Nachfrage in die Höhe schnellen und traditionelle Formen des Austauschs zwischen landwirtschaftlicher und nicht-landwirtschaftlicher Bevölkerung in den Hintergrund treten. Die sich neu konstituierende Lebensmittelindustrie verlangte andere Formen der Distribution des nun als industrietauglicher Rohstoff qualitativ neubewerteten Agrarproduktes. Verkehrstechnische Entwicklungen, insbesondere der Warentransport mit Eisenbahn und Motorschiffen, und die Beschleunigung der Kommunikation durch Telegraphie führten zu Nationalisierung und Globalisierung des vordem überwiegend lokal, regional und interregional ausgerichteten Handels mit landwirtschaftlichen Produkten.10 Die Getreidevermarktung im klein- und mittelbäuerlich strukturierten Süden und Südwesten verlief am Ende des 19. Jahrhunderts zumindest teilweise noch in den hergebrachten Bahnen, also der direkten Belieferung des Marktes oder der verarbeitenden Gewerbe durch die Produzenten. In Bayern, der Pfalz oder in Schwaben wurde noch bis zur Jahrhundertwende, teilweise noch deutlich länger, Getreide über offene Märkte oder in den traditionellen Schrannen angeboten.11 Der Funktion, den stark steigenden Bedarf der industrialisierten Ballungsräume zu befriedigen und die neu entstehende Ernährungsindustrie, vor allem die großen Handelsmühlen und die Großbetriebe der Bierbrauerei, permanent mit den benötigten Mengen zu versorgen, konnten diese alten Institutionen aber nicht mehr gerecht werden. Es entstand ein mehrstufiges System, in dem Händler oder Makler den Bauern vor Ort oder auf den lokalen Märkten ihre Ernten abkauften und dem Großhandel zuführten. In den großen Städten bildeten sich Getreidebörsen, die allerdings nur einen Teil des Marktes abdeckten.12 Durch die Einbindung in den globalen Getreidehandel wurde die Tendenz zur Konzentration im Getreidegroßhandel, außer in Berlin etwa an den Standorten der Rheinhäfen Duisburg und Mannheim, weiter gefördert. Der Getreideeinkauf blieb allerdings weiterhin dezentral. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein hielt sich ein eng geknüpftes Netz von als Brücke zwischen Produzenten und Großhandel fungierenden Handelsfirmen, die mit der Lieferung von Betriebsmitteln, Dünge- und Pflanzenschutzmitteln, aber auch Bau- und Brennstoffen, zusätzliche Auf10 König 2000, S. 91, 139 ; Haupt 2003, S. 43. 11 Franz/Abel 1960, S. 94–96. 12 Heller 1901, S. 12–20.
157
158
Agrarmarkt
gaben übernahmen und sich so als ein in vielseitige Beziehungen mit den bäuerlichen Produzenten tretender Landhandel etablierten.13 Auf dem Fleischmarkt verlief die Entwicklung ähnlich. Auch hier nahm der direkte Kontakt zwischen Bauern und Metzgern seit der Mitte des 19. Jahrhunderts kontinuierlich ab und entstand zeitgleich mit der Zurückdrängung der dezentralen städtischen Verkaufsstände und Schlachtereien und der Installierung von Viehmärkten und Schlachthäusern ein Zwischenhandel, der den Aufkauf des Viehs im bäuerlichen Betrieb, den Transport und den Weiterverkauf an Schlachter organisierte.14 Waren Getreide- und Viehhandel klassische Felder der agrarischen Vermarktung, so entwickelte sich der Markt für Frischmilch als in großen Mengen konsumiertes, ernährungsphysiologisch für wertvoll erachtetes und propagiertes Lebensmittel erst seit dem späten 19. Jahrhundert. Zwar war der direkte Verkauf von Milch auch vorher üblich, aufgrund der Haltbarkeitsprobleme aber nur in geringem Ausmaß in der näheren Umgebung der Höfe möglich. Stattdessen wurde Milch in zu Käse und Butter verarbeiteter Form gehandelt. Am Beispiel des Ruhrgebietes wurde gezeigt, wie in den Jahrzehnten um 1900 Milch zunehmend durch Kleinhändler mit Pferde- oder Handkarren in die Haushalte gebracht wurde. Die Kleinhändler ihrerseits bezogen die Milch direkt von meist spezialisierten landwirtschaftlichen Betrieben oder – in den meisten Fällen – von Großhändlern, die sie von weiter entfernten Regionen an die Bahnstationen zur weiteren Verteilung liefern ließen.15 Die Ausweitung lokaler und regionaler zu überregionalen, nationalen und sogar internationalen Märkten begann nicht erst am Ende des 19. Jahrhunderts. Auf Viehzucht, Getreidebau oder Sonderkulturen spezialisierte Regionen führten bereits seit langem ihre Produkte weit über ihre Grenzen hinaus aus. Die Nivellierung der Getreidepreise in Preußen ist ein Zeichen dafür, dass, wohl auf der Grundlage des verbesserten Chausseebaus bereits im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ein flächendeckender überregionaler Markt entstanden war. Im Bereich der Fleischvermarktung lässt sich dieses, jetzt auf Eisenbahntransporten basierende Phänomen seit den 1860ern beobachten.16 Waren die ostelbischen Provinzen schon im frühen 19. Jahrhundert die wichtigsten Lieferanten des englischen Getreidemarktes, so erweiterten sie ihre Exporte nun auch um Vieh und Fleisch, das mit der Bahn nach West- und Mitteldeutschland und über den Hamburger Hafen auch nach England gebracht wurde. Mit der Verbilligung und Verbesserung der Transportbedingungen verschoben sich allerdings die Absatzwege.17 Die zunehmend die westeuropäischen Märkte erfassenden Getreideexporte aus Russland und Österreich-Ungarn wurden im letzten Jahrhundertviertel durch die vermehrte Zufuhr von billigem Getreide aus Nordamerika, seit den 1890er Jahren auch aus Argentinien und Indien, überlagert. Dem aufgrund 13 Franz/Abel 1960, S. 114–119. 14 Nonn 1996/1, S. 53–75, S. 57 f., 66. 15 Reif/Pomp 1996, S. 79, 88. 16 Nonn 1996, S. 65. 17 Nonn 1996, S. 71–73.
Vermarktung der Agrarprodukte
niedriger Bodenpreise und auf einer großflächigen Farmwirtschaft beruhenden Agrarpraxis billiger produzierten und angesichts stark sinkender Verkehrskosten auch günstig transportierten Überseegetreide konnten die west- und mitteleuropäischen Anbauer kaum ein konkurrierendes Angebot gegenüberstellen. Während Russland wegen seiner niedrigen Arbeitslöhne und aufgrund einer erheblichen Ausweitung seiner Anbauflächen auch bei sinkenden Preisen konkurrenzfähig blieb, verloren die deutschen Getreideregionen, die stattdessen aufgrund der Abwanderung von Arbeitskräften in die Industrie mit steigenden Löhnen zu kämpfen hatten, Absatzchancen. So schrumpfte der deutsche Anteil der Weizenimporte in Großbritannien bereits in den 1870er Jahren von 18,2% auf nur noch 2,9%.18 Auf dem Fleischmarkt machten sich die Vorteile der nordamerikanischen und der argentinischen Landwirtschaft ebenfalls schnell bemerkbar. Nachdem seit den 1870er Jahren Fleisch in gekühltem und gefrorenem Zustand transportiert werden konnte, verdrängten amerikanische Lieferanten die europäischen Konkurrenten (außer den Niederlanden und Dänemark, deren Landwirtschaft sich frühzeitig auf Veredelung spezialisiert hatte) rasch vom expandierenden englischen Markt. Dieser Prozess der Einbindung der deutschen Landwirtschaft in den entstehenden Weltagrarhandel hatte für den Binnenmarkt erhebliche Konsequenzen. Während es den Fleischproduzenten vorerst gelang, die Verluste angesichts der gleichzeitig auch stark ansteigenden Nachfrage im Inland auszugleichen und zudem über Zollerhöhungen und vor allem über Einfuhrbeschränkungen aus „seuchenpolizeilichen Gründen“ Fleischimporte weitgehend verhindert wurden, sah sich die getreideproduzierende Landwirtschaft stärker der Konkurrenz aus dem Ausland ausgesetzt.19 Die 1879 eingeführten Getreidezölle hielten den Preis zwar künstlich hoch, stoppten die Importe aus Übersee und Russland aber nicht. Der stetig wachsende, aus inländischer Produktion allein nicht mehr zufrieden stellende Bedarf hätte dem auch entgegengestanden. Trotz steigender Importe blieb Deutschland auch Ausfuhrland. So wurden in den Jahren 1909–1913 jährlich zwar rund 7,3 Millionen Tonnen Getreide eingeführt, aber weiterhin auch 1,9 Millionen Tonnen exportiert. Gewachsene Geschäftsbeziehungen, andere qualitative Ansprüche und eine dem innerdeutschen Austausch nicht förderliche Tarifpolitik der Bahn waren dafür verantwortlich.20 Nur schleppend reagierten die Agrarproduzenten auf die durch internationale Konkurrenz, neue Handelssysteme und neue Anforderungen des verarbeitenden Gewerbes veränderten Vermarktungsbedingungen. Der mit deutlich antisemitischer Färbung geführte Wucherdiskurs der 1870er Jahre, in dem von agrarischer Seite in Verkennung der globalökonomischen Vorgänge und der eigenen Defizite dem Zwischenhandel die Hauptverantwortung für die krisenhafte Situation zugeschoben wurde, dürfte zwar zur Verbreitung des seit der Mitte des 19. Jahrhundert aufkommenden ländlichen Genossenschaftswesens beigetragen haben. Gerade bei der Vermarktung von Getreide und Fleisch spielte diese 18 Aldenhoff-Hübinger 2002, S. 11–31 ; Torp 2005, S. 97–100. 19 Nonn 1996, S. 73 f. 20 Franz/Abel 1960, S. 115.
159
160
Agrarmarkt
für die Versorgung der ländlichen Gesellschaft mit Krediten wichtige Institution aber zunächst eine nur untergeordnete Rolle. Wohl wegen der meist besseren Preise der privaten Händler wurde in den Jahren vor 1914 nur ein bis zwei Prozent des Gesamtumsatzes am Vieh- und Fleischhandel über Genossenschaften erzielt. Ähnlich niedrig dürfte die Menge des genossenschaftlich gehandelten Getreides gewesen sein. Einzig in der Vermarktung von Milch und Milchprodukten waren die Genossenschaften schon früh erfolgreich. Bereits in den 1880er Jahren erfolgten viele Gründungen von Molkereien auf genossenschaftlicher Basis, in denen Milch gesammelt, zu Käse und Butter weiter verarbeitet oder als Frischmilch in die Städte verkauft wurde. Bis zum Ersten Weltkrieg wuchs der genossenschaftlich umgesetzte Anteil bei Milch auf ein Drittel, bei Käse und Butter auf je zwei Fünftel des Gesamtumsatzes an. Waren an der Gründung der fast flächendeckend verbreiteten südwestdeutschen Genossenschaften vor allem Klein- und Mittelbauern beteiligt, so nutzten in Ostdeutschland gerade die Inhaber von Großbetrieben diese neue Organisationsform. Das kann etwa an der abgelieferten Milchmenge pro Mitgliedsbetrieb abgelesen werden, die in Mecklenburg-Strelitz im Jahr 1911 das 20fache der württembergischen Betriebe betrug.21 8.2.2 Der Erste Weltkrieg als Zäsur
Die Zwangswirtschaft des Ersten Weltkriegs und der Nachkriegsjahre markiert eine scharfe Zäsur in der Geschichte der Vermarktung landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Eine „Reichsgetreidegesellschaft“, in der Kommunen, Genossenschaften, Mühlen und Reichsinstitutionen zusammengeschlossen wurden, sollte zunächst noch im Rahmen von Höchstpreisfestsetzungen, aber doch auf dem freien Markt Getreide zur Vorratsbildung aufkaufen. Nach dem Scheitern dieses Vorhabens ging man aber schon 1915 zu Beschlagnahmungen über. Ähnliches wurde mit der Installierung etwa einer „Reichsstelle für Vieh und Fleisch“ oder einer „Reichskartoffelstelle“ auch für andere landwirtschaftliche Produkte versucht. Das Ziel einer ausreichenden Versorgung der Bevölkerung konnte mit diesen Maßnahmen allerdings angesichts stark zurückgehender Erträge, ausbleibender Importe und einer zunehmenden Schattenwirtschaft nicht erreicht werden.22 Die auch nach Kriegsende nur sehr langsam wieder ansteigende Produktivität der deutschen Landwirtschaft bot den bereits vor dem Krieg starken Exportländern Gelegenheit, die Versorgungslücken zu schließen. Dabei kann nun die endgültige Verdrängung russischer und osteuropäischer Produkte durch Importe aus dem Westen beobachtet werden. Neben dem marktbeherrschenden amerikanischen Weizen fällt vor allem die Zufuhr von Eiern und Milch aus den Niederlanden, Belgien und Dänemark auf, Länder, die sich in Reaktion auf die sich verschiebenden Absatzbedingungen seit dem späten 19. Jahrhundert 21 Merl 1994, S. 298–301 ; Nonn 1996, S. 68 f.; Rüße 1996, S. 153 ; Schiller 2003, S. 447 f.; Troßbach/ Zimmermann 2006, S. 234–236. 22 Teichmann 1955, S. 252–254.
Vermarktung der Agrarprodukte
auf Veredelungsprodukte spezialisiert hatten. Betrug der Anteil der importierten Agrarerzeugnisse am Gesamtverbrauch in den Vorkriegsjahren 15,7%, so war er bis 1926/30 auf 23,2% angestiegen. Nachdem in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre die Leistungsfähigkeit der einheimischen Landwirtschaft wieder anzog, gingen die Importe keineswegs zurück. Mittlerweile von den ausländischen Konkurrenten erreichte Standards in der Einheitlichkeit und Qualität der Waren und in den Lieferungsmodalitäten, die den angesichts einer fortschreitenden Urbanisierung veränderten Konsumgewohnheiten und den Erfordernissen einer industrialisierten Ernährungswirtschaft eher entgegenkamen, konnten kaum aufgeholt werden, auch wenn erste Ansätze – etwa in der Schaffung von Handelsklassen für Kartoffeln, Eier, Milch oder von Markenbutter – realisiert wurden. Den bis 1928 ansteigenden Importen stand eine gleichzeitig gesteigerte Produktion im Inland gegenüber, die kein Exportventil zur Verfügung hatte und sich aufgrund zu geringer Marktorientierung und fehlender Vermarktungsstrategien vor dem Hintergrund eines sich verlangsamenden Bevölkerungswachstums erheblichen Absatzschwierigkeiten ausgesetzt sah. Erst die Schutzzölle ab 1929 und die stark zurückgehende Nachfrage infolge der Weltwirtschaftskrise ließen die Importe merklich zurückgehen. 23 Während der Konzentrationsprozess durch den Zusammenschluss zu Genossenschaften und Handelsgesellschaften auf der Einkaufsseite zu starken Verhandlungspositionen führte, hatten sich auf Seiten der Produzenten keine entsprechende Strukturen gebildet. Zwar waren bereits 1914 45% der Betriebe in Genossenschaften organisiert, aber anders als in den USA hatten sich keine Großorganisationen entwickelt, sondern war das stetig wachsende ländliche Genossenschaftswesen kleinteilig geblieben, was zwar eine höhere Partizipation der Genossenschaftsmitglieder ermöglichte, wodurch aber eben kein Gegengewicht im Marktgeschehen gebildet werden konnte. Das Fehlen eines einheitlichen Verbandes erschwerte zudem ein zielgerichtetes Vorgehen. Erst unter politischem Druck kam es 1928 und 1930 zu Fusionen der großen Verbände. Weiterhin konzentrierten sich die genossenschaftlichen Aktivitäten im Bereich des Handels auf Milch und Milchprodukte, bei denen bis 1927 ein Anteil von 64% erreicht wurde, während bei genossenschaftlichen Vermarktungsanteilen von 15% bei Getreide, sieben Prozent bei Rindern und Schweinen und sieben Prozent bei Eiern der private Handel weiterhin deutlich überwog.24 8.2.3 Gesteuerter Agrarmarkt in der NS-Zeit
Landhandel und Be- und Verarbeiter von Agrarprodukten wurden in der NS-Zeit durch ihre Übernahme in den Reichsnährstand den Interessen der Erzeuger unterworfen. Die Steuerung der Produktion durch die Regelung von Angebot und Nachfrage sei die Aufgabe des Reichsnährstandes, dem Handel bleibe nur noch die Funktion eines „ausübenden Organs“, so Reichsbauernführer Darré. Aus Händlern sollten „Verteiler“ werden. Dieser 23 Rüße 1996, S. 129–141. 24 Rüße 1996, S. 153–155.
161
162
Agrarmarkt
auf grundsätzlicher Abneigung der NS-Agrarpolitiker gegen den Handel basierenden Einstellung entsprach die Praxis der neu gebildeten Marktordnung, den Interessenskonflikt zwischen Erzeugern und Verbrauchern durch die Minimierung der Gewinnspanne von Handel und verarbeitendem Gewerbe zu lösen. Mit der Etablierung eines Festpreissystems sollte der Preis als Vermittler von Angebot und Nachfrage ausgeschaltet und stattdessen zu einem „Instrument der Führung“ in der Hand des Reichsnährstandes umfunktioniert, der Absatz inländischer Agrarprodukte garantiert und die Versorgungssicherheit erhöht werden. Das bedeutete die völlige Abkehr von marktwirtschaftlichen Prinzipien für den Bereich der Landwirtschaft. In der Praxis gestaltete sich dieses Vorhaben komplex. Konnten bei Grundnahrungsmitteln einigermaßen genaue Vorgaben gemacht werden, so konnten bei Produkten mit kurzer Haltbarkeit und großen Qualitätsschwankungen nur Richtpreise oder ein mögliches Preisspektrum markiert werden. Je nach Ertragslage und Jahreszeit mussten Preise variiert und auch den regionalen Bedingungen angepasst, zudem die Transportkosten berücksichtigt werden. Trotzdem bestehende Preisdisparitäten konnten durch Ausgleichsabgaben, etwa marktnaher zugunsten marktferner Produzenten, aufgelöst werden. All das erforderte einen immensen bürokratischen Aufwand, der durch die notwendige Mengenkontingentierung noch gesteigert wurde. Keinesfalls sollte das Festpreissystem zu nicht erwünschten Produktionskonzentrationen führen, andererseits die Landwirtschaft im Sinne der „Erzeugungsschlacht“ ihre Lieferverpflichtungen erfüllen. In der Konsequenz bedeutete das die umfassende Kontrolle von Produktion und Absatz eines jeden Betriebes. Verbote, zumindest starke Beschränkungen des Direktverkaufs, etwa von Eiern, Milch oder Milchprodukten, ergaben sich aus der mangelnden Kontrollierfähigkeit dieser Praxis, wobei die Selbstvermarktung über lokale Marktstände einigermaßen, der Verkauf in kleinen Mengen ab Hof aber nur schwer überprüft werden konnte. Selbst Ortsbauernführer wurden wiederholt beim heimlichen Verkauf von Butter und Käse erwischt. „Modernisierend“ wirkte sich der Zwang zur Vereinheitlichung des Angebots aus, der sich aus der Festpreispolitik ergab. Der Prozess der Produktstandardisierung, der in der Weimarer Zeit in Auseinandersetzung mit der ausländischen Konkurrenz begonnen hatte, erfuhr nun einen erheblichen Schub, freilich unter der Prämisse zunehmender Kontrolle und wachsenden Zwangs.25 Für Handel und verarbeitende Betriebe bedeuteten diese Maßnahmen erhebliche Eingriffe. Wollte ein Landwirt seine Produkte an Großhandel oder an Verarbeitungsbetriebe verkaufen, so musste das vom Reichsnährstand genehmigt werden. Verarbeitende Gewerbe konnten verpflichtet werden, bestimmte Kontingente zu übernehmen oder auch Vorräte anzulegen, auf die bei Versorgungsmängeln zurückgegriffen werden konnte. So hatten Zuckerfabriken zwölf Prozent ihrer Jahresproduktion als Vorrat vorzuhalten. Für einen Teil der Produktion, Milch, Eier, Kartoffeln, wurden regional bestimmte Sammel- und Verteilungszentralen vorgegeben, den Produzenten somit die Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Vermarktern entzogen. Zur Aufnahme einer Handelstätigkeit oder eines ver25 Münkel 1996, S. 106–108, 326–337 ; Corni/Gies 1997, S. 93 f., 325–345.
Vermarktung der Agrarprodukte
arbeitenden Gewerbes sowie zu Veränderungen und Erweiterungen dieser Betriebe waren Genehmigungen erforderlich, die vielfach verweigert wurden. Im Getreidehandel und der Weiterverarbeitung waren Mindestumsatzmengen Voraussetzung, während beim Viehhandel, in dem viele jüdische Geschäftsleute aktiv waren, rassistische Motive eine wesentliche Rolle spielten.26 Gerade aber an diesem Beispiel kann gezeigt werden, dass den Boykottaufrufen zum Trotz viele Bauern bis 1938 an den Geschäftskontakten festhielten.27 Dennoch sank die Zahl der Viehhändler infolge vom Reichsnährstand initiierter, so genannter „Berufsbereinigungen“ bis 1937 um ein Viertel. Dass die Zahl der Milchgeschäfte von 1938 bis 1943 von 80.000 auf 35.000 zurückging, mag mit Rationalisierung, sicher auch mit den Handel stärker als die Erzeuger und Verbraucher belastenden Maßnahmen zu erklären sein. Das Absinken der Zahl der Viehhändler von 43.000 auf 18.000 im gleichen Zeitraum muss aber vor dem Hintergrund der Verdrängung der Juden aus dem Wirtschaftsleben gesehen werden.28 Die politisch gewollte Belastung der Gewinnspannen von Handel und Verarbeitern machte sich allerdings auch in anderen Teilen der Lebensmittelbranche bemerkbar : Von 2000 Großschlächtern sollen 700 bis 1939 – in der Sprache der Nationalsozialisten – „ausgeschaltet“ worden sein, ebenso 3000 von 11.000 „Mehlverteilern“, die Hälfte der 5000 „Buttergroßverteiler“, 2000 von 3500 „Eiergroßverteilern“.29 Die landwirtschaftlichen Genossenschaften profitierten von diesen Entwicklungen. Seit April 1933 unter der Führung von Richard Walther Darré, agrarpolitischer Sprecher Hitlers und ab Mai/Juni 1933 Reichsbauernführer und Ernährungs- und Landwirtschaftsminister, und ab Dezember 1933 voll in den Reichsnährstand integriert, waren sie für die NS-Politik leichter lenkbar als der private Handel.30 Während die Betriebszahlen im privaten Bereich rückläufig waren, stieg die Zahl der Molkereigenossenschaften von Ende 1933 bis Ende 1936 von 5591 auf 8978 an. Die Ablieferungspflicht für Milch nach dem Verbot der Direktvermarktung und der Weiterverarbeitung auf dem Hof machte ein engmaschiges Sammelsystem notwendig, was zur – vom ursprünglichen Genossenschaftsgedanken her absurden – Situation führen konnte, dass der Genossenschaftsverband eine „Neubildung einer alle Dorfgenossen umfassenden Genossenschaft“ anordnete.31 Landwirtschaftliche Warengenossenschaften wuchsen von 13.590 im Jahr 1934 auf 16.474 vier Jahre später an, um in den Kriegsjahren nur leicht zurückzugehen.32 Nicht selten spielten Viehverwertungsgenossenschaften, denen bislang kein großer Erfolg in der Vermarktung beschieden gewesen war, eine aktive Rolle bei der Verdrängung jüdischer Viehhändler.33 26 Corni/Gies 1997, S. 346–352. 27 Broszat/Fröhlich 1977, S. 466 f.; Münkel 1996, S. 351–360 ; Hoffmann 1997, S. 382–384. 28 Zahlen nach Corni/Gies 1997, S. 96, 476. 29 Ebenda, S. 98. 30 Schubert 1989, S. 13 f. 31 Zitiert nach Schubert 1989, S. 403 f. 32 Lukas 1972, S. 37. 33 Hoffmann 1997, S. 382 ; einige regionale Beispiele : Klein 1985, S. 664 ; Baumann 2000, S. 222 ; Trost 2004, S. 239.
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Agrarmarkt
In den Bereichen Brotgetreide, Kartoffeln und Zucker war bis 1939 ein Eigenversorgungsgrad von über 100% erreicht worden, mit 97% ein hoher Wert auch bei Fleisch. Dadurch konnte der Importbedarf reduziert werden. Andererseits wurden neue Importbeziehungen insbesondere mit südosteuropäischen Ländern aufgebaut, um die Versorgungslücken von Fetten und Futtergetreide schließen zu können.34 Schon einige Tage vor Kriegsbeginn wurde der Reichsnährstand der Verwaltung des Ministeriums für Ernährung und Landwirtschaft unterstellt. Die Grundnahrungsmittel wurden rationiert, ihr Erwerb auf die Grundlage von Bezugsscheinen gestellt. Für die Vermarktung bedeutete das eine noch schärfere Kontrolle. So sollten ab 1940 über die bereits bestehenden Verbote der Weiterverarbeitung von Milch hinaus die in bäuerlichem Besitz befindlichen Butterfässer und Milchzentrifugen beschlagnahmt werden, um die Eigenproduktion zur Selbstversorgung, aber auch zur Direktvermarktung zu unterbinden.35 Zusätzlich zur seit 1937 zur statistischen Erfassung bereits eingeführten „Hofkarte“ sollte jeder Betrieb über „Marktleistungskarten“ seine Lieferverpflichtungen und Ablieferungen dokumentieren. In der Praxis wurden diese Angaben aber häufig verfälscht, um die Ablieferungsmengen zu minimieren. Über Prämien für Ablieferungen oberhalb des Durchschnitts sollte die Motivation zur höheren Abgabe gesteigert werden. Auch diese Maßnahme stieß auf Unmut der Bauern, die statt Zuschüssen für einige Produzenten eher höhere Preise forderten. Im Verlauf des Krieges stieg die Bereitschaft an, über falsche Angaben die Ablieferungspflichten zu umgehen und so den Selbstversorgungsanteil und die Quote für illegale Direktvermarktung zu erhöhen. „Schwarzbuttern“ und „Schwarzschlachten“ nahm trotz teilweise auch umgesetzter drakonischer Strafandrohungen zu. Der Schwarzmarkt für landwirtschaftliche Produkte wuchs seit 1942/43 kontinuierlich an. Andererseits wurde auch vermarktbares Vieh zurückgehalten, etwa in Bayern, wo die Fleischproduktion während des Krieges deutlich zurückging, die Viehbestände aber weitaus weniger reduziert waren, was zeigt, dass Vieh als Kapitalanlage gesehen wurde, die gegen alle Forderungen des Reichsnährstandes nur zögernd in den Gegenwert Geld verwandelt wurde.36 8.2.4 Landhandel und Genossenschaften nach 1945
Nach Kriegsende sahen die westlichen Besatzungsmächte für die Organisation der Erfassung und Verteilung der agrarischen Produktion keine schnell verfügbare Alternative zum Reichsnährstand, der daher bis 1948 beibehalten wurde. Lediglich besonders belastete Funktionsträger wurden ausgetauscht und das Führerprinzip abgeschafft. Auch die Zwangswirtschaft blieb weiterhin wirksam, so dass Erzeugung und Ablieferung der Agrarprodukte weiter überwacht wurden. Dennoch dürfte ein nicht unbeträchtlicher Anteil der landwirtschaftlichen Produktion – regional unterschiedliche Schätzungen gehen von 15% 34 Corni/Gies 1997, S. 395 ; Wehler 2003, S. 705. 35 Corni/Gies 1997, S. 413–415, 475. 36 Erker 1990, S. 25–28, 31 ; Bauer 1996, S. 91–103 ; Münkel 1996, S. 373–392.
Vermarktung der Agrarprodukte
bis einem Drittel aus – über den Schwarzhandel vermarktet worden sein.37 Der Wegfall der deutschen Ostgebiete, die fehlenden Einfuhren aus den ehedem besetzten Ländern und die schlechte Ertragslage der einheimischen Landwirtschaft infolge fehlender Betriebsmittel führten zu gravierenden Versorgungsproblemen, die nur über Hilfslieferungen aus dem Ausland einigermaßen gelöst werden konnten. 44% des verbrauchten Getreides, 77% der Hülsenfrüchte und 48% des Zuckers mussten 1947/48 in den Westzonen importiert werden.38 Nach der Währungsreform und dem langsamen Verschwinden des Schwarzmarktes gewannen die traditionellen Formen des Landhandels wieder an Bedeutung. Das Genossenschaftswesen in Westdeutschland erlebte einen spürbaren Aufschwung. Nach der Zerschlagung des Reichsverbands der landwirtschaftlichen Genossenschaften im Jahr 1945 war im November 1948 mit dem „Deutschen Raiffeisenverband“ wieder ein Spitzenverband für die etwa 23.000 Genossenschaften gegründet worden.39 Die Entwicklung der folgenden Jahrzehnte war geprägt durch einen kontinuierlichen Anstieg des Vermarktungsanteils landwirtschaftlicher Produkte und somit einer immer stärker mit dem privatwirtschaftlichen Handel konkurrierenden Position einerseits und einem starken Konzentrationsprozess andererseits. Bis 1961 halbierte sich der Vorkriegsbestand der Warengenossenschaften auf knapp 9000, während die durchschnittliche Mitgliederzahl pro Genossenschaft von 118 auf 185 anstieg. War so der direkte Einfluss der Mitglieder auf die Genossenschaftspolitik noch einigermaßen gewährleistet, so lösten sich die persönlichen Bindungen mit dem weiteren Fusionsprozess, der die Zahl der Besitz- und Absatzgenossenschaften und der Kreditgenossenschaften mit Warenverkehr bis 1989 – bei einer Vervierfachung des Umsatzes – auf 2500 sinken ließ. Auch im privaten Landhandel sank die Zahl der Betriebe zwischen 1960 und 1980 um 60% auf etwa 1900 ab. 2010 wurden noch 330 Bezugs- und Absatzgenossenschaften und 157 Kreditgenossenschaften mit Warenverkehr gezählt. Die Zahl der Mitglieder pro Genossenschaft war auf 449 gestiegen. Um 1990 elf, mittlerweile nur noch sechs Hauptgenossenschaften fungieren als „wichtigste Großhändler der Primärgenossenschaften“ mit der Aufgabe des zentralen Einkaufs und der überregionalen Vermarktung mit Anteilen von etwa zwei Dritteln bei Milch, 50% bei Getreide und zudem hohen Anteilen beim Bezug landwirtschaftlicher Produktionsmittel.40 Auch im ursprünglich eher mittelständischen privaten Landhandel fanden erhebliche Konzentrationsprozesse statt. Zudem werden Unternehmen des privaten Landhandels zunehmend von den großen Hauptgenossenschaften übernommen, die damit ihre Marktmacht steigern.41 Nur 14,4% des Getreides wurde im Wirtschaftsjahr 1996/97 von den Produzenten direkt an verarbeitende Betriebe verkauft. Auch im Viehhandel ist diese Ver37 Weisz 1973, S. 192–199 ; Erker 1990, S. 173–179 ; Fäßler 1996, S. 217–226 ; Albers 1999, S. 63–66. 38 Erker 1990, S. 62. 39 Lukas 1972, S. 38. 40 Albrecht 1965, S. 329 f.; Recktenwald 1991, S. 1 f.; statistische Angaben des Deutschen Raiffeisenverban des, http://www.raiffeisen.de/, 12.3.2012. 41 Klocker 2010.
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Agrarmarkt
marktungsschiene eher die Ausnahme, so lieferten in Niedersachsen um die Jahrtausendwende nur 7,4% der Betriebe ihre Schweine direkt an die Schlachthöfe, während 34,3% über private Viehhändler und 58,3% über Genossenschaften vermarkteten.42 Nachdem die Direktvermarktung an den Endverbraucher in den Nachkriegsjahrzehnten stark an Bedeutung verloren hatte, ist seit den 1990er Jahren der Trend zu erkennen, über Hofläden, ambulante Kundenkontakte und Wochenmarktstände zu dieser Vermarktungsform zurückzukehren. Allerdings ist der Anteil am Gesamtumsatz schwer zu quantifizieren, Schätzungen gehen von 14% der Vollerwerbsbetriebe aus, die zumindest einen Teil ihrer Produkte selbst anbieten, eine Statistik aus dem Jahr 2002 bezifferte den Anteil der selbst vermarktenden Betriebe allerdings nur auf 3,2%.43 8.2.5 Vermarktung in der SBZ/DDR
Auch in der SBZ wurde 1945 das System der Pflichtablieferungen beibehalten. Mit einem in Erfassungspreise für die Pflichtmengen und deutlich höhere Aufkaufpreise für die darüber hinaus gelieferten Waren gestuften Preissystem beabsichtigte die Sowjetische Militäradministration die desolate Versorgungssituation durch Anreize für die Produzenten zu verbessern. Die Aufgabe der Erfassung und Verteilung der Agrarprodukte an den Handel kam zunächst den landwirtschaftlichen Genossenschaften zu. Der private Landhandel wurde weitgehend ausgeschaltet. Die Vorstellungen von SED und sowjetischer Besatzungsmacht über die Rolle der Genossenschaften divergierten in den ersten Nachkriegsjahren. Mit den „Vereinigungen der gegenseitigen Bauernhilfe“ (VdgB) wurden funktional parallele, aber potenziell systemtreuere Organisationen mit ähnlichen Aufgabenfeldern installiert. Nachdem die Genossenschaften bereits im November 1948 mit der Gründung der „Verwaltung der Maschinen-Ausleihstationen“, der sie fast alle Maschinen überlassen mussten, erheblich geschwächt worden waren, verloren sie ab März 1949 durch den Zusammenschluss mit den VdgB und anderen Organisationen zum SEDdominierten „Zentralverband der landwirtschaftlichen Genossenschaften Deutschlands“ ihre Selbstständigkeit. Der Aufgabenbereich der Vermarktung wurde von der „Vereinigung Volkseigener Erfassungs- und Aufkaufbetriebe“ als zentraler Stelle für den gesamten Handel mit Agrarprodukten übernommen. Direktvermarktung war lediglich in einem geringen Umfang über Bauernmärkte gestattet.44 Nach Abschluss der Kollektivierung wurde die Erfassung des Getreides zum Großteil über Getreidekombinate bewerkstelligt, die es nach den Vorgaben der zentralen Planung an die verarbeitenden Betriebe weiterzuleiten hatten. Im Bereich der Fleischwirtschaft organisierten 16 volkseigene Fleischkombinate – abgesehen von Hausschlachtungen – die Schlachtung aller Schweine und Rinder in 76 Schlachtbetrieben. Die hiervon abgekoppelte Weiterverarbeitung und Vermarktung 42 Hollstein 2012 ; Voss/Theuvsen 2010, S. 11–14, S. 11. 43 Recke/Wirthgen 2012. 44 Schöne 2001, S. 157–174 ; Schevardo 2006, S. 83 f.
Verarbeitendes Gewerbe und Einzelhandel
war durch ein Nebeneinander von handwerklichen Produktionsgenossenschaften, selbstständigen Handwerksbetrieben mit Ladengeschäften und großen Zerlege- und Verarbeitungsbetrieben allerdings deutlich kleinstrukturierter geprägt.45 8.2.6 Importe und Exporte
Angesichts der steigenden Produktivität der Landwirtschaft war in der Bundesrepublik der Selbstversorgungsgrad von 100% bereits 1953/54 in den Bereichen Frischmilch, Kartoffeln, Zucker, Butter, Fleisch, Gemüse und Obst ganz oder annähernd erreicht worden. Der Bedarf an Eiern und Getreide konnte zu zwei Dritteln bis drei Vierteln abgedeckt werden. Lediglich bei Hülsenfrüchten und pflanzlichen Ölen konnte die eigene Produktion bei weitem nicht die Nachfrage befriedigen.46 Mit der sukzessiven Öffnung des europäischen Binnenmarktes und der weiteren Zunahme der landwirtschaftlichen Erzeugung gewann der Export agrarischer Güter an Gewicht, der allerdings immer unterhalb der Einfuhr blieb. So bewegte sich bei deutlichem Anstieg der Handelsmengen das Defizit der Agrarhandelsbilanz 1960–2005 zwischen fünf und zehn Milliarden Euro. Als Agrar importland lag Deutschland 2009 weltweit mit 7,25% des Gesamtumsatzes nach den USA und China und als Exportland mit 8,33% jeweils an dritter Stelle. Deutschland ist somit einer der wichtigsten Akteure im Weltagrarhandel, Nach wie vor sind Fleisch und Fleischwaren sowie Milch und Milchprodukte, deren Produktionsmengen den Selbstversorgungsgrad um ein Fünftel bis ein Viertel übersteigen, die am häufigsten exportierten Agrargüter. 80% der Ausfuhren gehen in EU-Länder.47
8.3 Verarbeitendes Gewerbe und Einzelhandel Vermittelt über den Groß- und Zwischenhandel, zu einem geringeren Anteil auch über den direkten Geschäftskontakt bestimmen die Ansprüche des verarbeitenden Gewerbes und des Lebensmitteleinzelhandels an Qualität und Preisniveau die landwirtschaftlichen Produktionsweisen zu einem erheblichen Teil mit. Das macht sich etwa bei der Ausbildung der Handelsklassen oder bei Produktionsverschiebungen aufgrund veränderter Nachfragesituationen bemerkbar. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die bis dahin vornehmlich handwerkliche Weiterverarbeitung agrarischer Produkte um industrielle Verfahren erweitert. Fleisch45 Bückenhoff 1993, S. 224, 231 ; Buchholz/Hülsemeyer 1993, S. 238. 46 Statistisches Jahrbuch 1956, S. 143. 47 Welthandel 2000–2010, http://berichte.bmelv-statistik.de/AHB-0011010-2010.pdf, 15.3.2012 ; Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (Hrsg.), Deutscher Agrar außenhandel 2009. Daten und Fakten, http://www.bmelv.de/SharedDocs/Downloads/Broschueren/ Deutscher-Agraraussenhandel-2009.pdf;jsessionid=35538A7ED9B40C969532FC42F286F12F.2_ cid238?__blob=publicationFile, 15.3.2012, S. 4, 7.
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Agrarmarkt
und Wurstfabriken, Großbäckereien, Molkereien, Brauereien und andere Sparten der neu entstehenden Nahrungsmittelindustrie kamen den Bedürfnissen der zunehmenden nicht-landwirtschaftlichen Bevölkerung nach schnell zu konsumierenden Lebensmitteln entgegen. Neue Methoden der Konservierung ließen neue zukunftsfähige Branchen entstehen : Konserven, Margarine, Teigwaren entwickelten sich so im frühen 20. Jahrhundert zu Massenkonsumartikeln.48 Bis 1914 dominierten eher Kleinbetriebe. Gerade aber in den älteren Sparten der verarbeitenden Gewerbe, der Zuckerproduktion, dem Mühlenwesen und dem Brauereiwesen entstanden – teilweise über Aktiengesellschaften organisierte – Großstrukturen. So traten große, mit Dampf betriebene Handelsmühlen neben die weiterhin kleinbetrieblich organisierte Lohnmüllerei. Obwohl man bereits im frühen 20. Jahrhundert über das „Mühlensterben“ debattierte, wurden 1909/10 noch 53,8% der Müllereierzeugnisse in Kleinbetrieben zum überwiegenden Teil für den lokalen und regionalen Markt produziert und nur 16% in Großbetrieben.49 Allerdings sank die Zahl der Mühlen : von 35.000 auf 27.700 zwischen 1925 und 1934, auf 18.935 im Jahr 1950. Bis 1980 halbierte sich ihr Bestand in jedem Jahrzehnt, wobei der stärkste Rückgang in der DDR bereits in den fünfziger Jahren stattfand. Beschleunigt wurde die Entwicklung in der Bundesrepublik durch Stilllegungsprämien und Neubauverbote im Rahmen des Mühlenstrukturgesetzes des Jahres 1957. Sprunghaft nach unten bewegte sich die Mühlenzahl im Westen in den 1980er Jahren. Der Mühlenbestand von 686 Betrieben in Ost- und Westdeutschland im Jahr 1990 sank bis auf 270 im Wirtschaftsjahr 2009/10. Die Menge des vermahlenen Getreides pro Betrieb stieg von durchschnittlich 455 Tonnen Weizen und Roggen 1950 auf 30.731 Tonnen 2009/10 an. Der Konzentrationsprozess ist unübersehbar : 2004 deckten 61 große Mühlen mit einer Jahresvermahlung von mehr als 25000 t 83% des Marktes ab. Nimmt man die hinter den einzelnen Mühlen stehenden Unternehmen in den Blick, wird das noch deutlicher : Zwei Mühlenkonzerne erwirtschafteten zwei Drittel des Gesamtumsatzes, sechs weitere Unternehmen mit jeweils etwa 5% Marktanteil fast den gesamten Rest.50 Ein ähnlicher Vorgang ist in der Fleischwirtschaft zu beobachten, in der in zehn Unternehmen 70% der Schweine geschlachtet werden.51 Die Aufhebung der Milcheinzugsgebiete der Molkereien im Jahr 1969 und die Fusionen vieler lokaler Molkereien seit den siebziger Jahren setzten die milchproduzierenden Bauern unter Rationalisierungsdruck, dem sich viele Landwirte durch Ausstieg aus der Produktion entzogen. 2009 verarbeiteten vier Unternehmen ein Drittel der angelieferten Milch und 48 König 2000, S. 157–160 ; Rossfeld 2009, S. 28–30. 49 Schmoller 1870, S. 397–400 ; Ellerbrock 1993, S. 155–158, 184–187, 310, 330–336, 382–385. 50 Schultze-Gisevius 1971, S. 27 ; Die Struktur der Mühlenwirtschaft in Deutschland. Wirtschaftsjahr 2009/10, hrsg. vom Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, 2011, http://www.ble.de/SharedDocs/Downloads/01_Marktangelegenheiten/09_Marktbeobachtung/04_ Getreide_Getreideerzeugnisse/Muehlenbericht09_10.pdf?__blob=publicationFile (Zugriff : 27.2.2012) ; Becker-Weigel 2005, S. 2–5. 51 Voss/Theuvsen 2010, S. 57.
Verarbeitendes Gewerbe und Einzelhandel
produzierten sechs Unternehmen 43% der Butter. 52 Trotz dieser enormen Konzentrationsvorgänge wird die Ernährungsindustrie insgesamt als heterogen beschrieben. Wenn auch – in den neunziger Jahren – zehn Prozent des weltweiten Umsatzes von Nahrungsmittel von 200 großen, als „multinationale Mischkonzerne“ agierenden Unternehmen erwirtschaftet wurden und 2007 der Marktanteil der zehn größten deutschen Unternehmen 19,5% betrug, ist doch die Mehrzahl der Betriebe als mittelständisch zu charakterisieren. Zudem ist auch der Anteil des Handwerks an der Weiterverarbeitung agrarischer Produkte noch sehr beträchtlich : 60 Milliarden DM Umsatz des Nahrungsmittelhandwerks standen 1993 200 Milliarden DM der Industrie gegenüber.53 Allerdings ist auch im Handwerk zu beobachten, dass selbstständige Betriebe mit nur einem Ladengeschäft zugunsten von Filialketten und Franchiseunternehmen rückläufig sind. Kleinere Unternehmen der Lebensmittelindustrie werden – häufig unter Beibehaltung ihres Firmennamens und ihrer Produktpalette – zunehmend von großen, oft multinational agierenden Firmengruppen übernommen.54 Der Konzentrationsprozess im Lebensmitteleinzelhandel gestaltete sich radikaler : die fünf größten Einzelhandelsunternehmen teilten sich im Jahr 2005 fast 70% des Gesamtumsatzes, die Tendenz ist weiterhin steigend.55 Neben Wochenmarkt und Straßenhandel hatte sich die ladengebundene Vermarktung in Deutschland erst seit dem späten 19. Jahrhundert etabliert. Die Vorteile der dezentralen und zeitlich unabhängigeren Versorgung, schließlich auch das wachsende Angebot industriell hergestellter Lebensmittel führten zu einem Boom der Einzelhandelsbetriebe, deren Zahl zwischen 1875 und 1917 um 129% anstieg. Bereits in den 1870er Jahren bildeten sich – zunächst lokale – Einkaufsgenossenschaften der Kleinhändler, die sich nach und nach auf regionaler und nationaler Ebene zusammenschlossen, 1907 etwa zum „Verband deutscher kaufmännischer Genossenschaften“, der ab 1911 als „Edeka-Verband“ („Einkaufszentrale der Kolonialwarenhändler“) langfristig erfolgreich wurde. Auf Verbraucherseite waren schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts Konsumvereine entstanden, die bis 1914 einen, allerdings regional sehr unterschiedlichen, Marktanteil von fünf Prozent erreichten, der in den Krisenzeiten der Weimarer Republik verdoppelt wurde.56 Trotz der Zusammenschlüsse und Filialbildungen überwogen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mittelständische, auf bestimmte Produkte beschränkte Ladengeschäfte.57 52 Müller 1998, S. 94–96 ; Statistik und Berichte des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz : Unternehmensstruktur der Molkereiwirtschaft in Deutschland 2009, http:// berichte.bmelv-statistik.de/SBB-9202009-2009.pdf (Zugriff : 15.3.2012). 53 Breitenacher/Träger 1990, S. 61 ; Breitenacher/Träger 1996, S. 5 f., 37 ; Branchenbericht 2009 einschließlich 1. Halbjahr 2010 des Ernährungsgewerbes, hrsg. von der Gewerkschaft Nahrung-GenussGaststätten, online unter : http://www.ngg.net/branche_betrieb/weitere_branchen/branchen_info/ branchen_info_ernaehrung_1/bb_info_ernaehrung_lang.pdf, 15.3.2012. 54 Ermann 2005, S. 30 f. 55 Oevermann 2008, S. 27. 56 Spiekermann 1999, S. 168–172, 189–191, 204 f., 238–274, 473–477 ; König 2000, S. 99. 57 Statistisches Jahrbuch 1956, S. 197.
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In den fünfziger Jahren setzte zum einen ein zunächst langsamer Konzentrationsprozess ein, andererseits schlossen sich etliche Händler Einkaufsgenossenschaften wie der Edekaoder der Rewe-Gruppe oder freiwilligen Handelsketten, Vereinigungen zwischen Großund Einzelhändlern wie etwa der in Deutschland seit 1949 aktiven SPAR-Gruppe, an, um im zunehmenden Wettbewerb bestehen zu können. Bis 1962 konnten diese Handelsketten einen Marktanteil von 40% erreichen.58 Mit dem Aufkommen von Selbstbedienungsläden nach amerikanischem Vorbild seit Ende der fünfziger Jahre beschleunigte sich der Konzentrationsprozess. Flächenanforderungen, zudem auch von den Handelsketten und Einzelhandelverbundgruppen geforderte Absatzmengen und technische Ausstattungen waren für die kleinen Läden nicht mehr zu erfüllen. Supermärkte mit genügend Parkflächen für die zunehmend motorisierte Kundschaft entstanden in den massiv ausgeweiteten städtischen und bald auch dörflichen Gewerbegebieten auf der „grünen Wiese“, in Innenstadtlagen setzten sich seit den frühen sechziger Jahren Discounter zur Nahversorgung mit einem begrenzten Warenangebot und niedrig gehaltenen Ausstattungs- und Personalkosten durch. Nicht in Handelsketten, Verbundgruppen oder als Filialen organisierte Einzelhandelsbetriebe lassen sich kaum noch finden.59 Durch die marktbeherrschende Stellung weniger Unternehmen haben die Handelsketten und Verbundgruppen eine erhebliche Macht gegenüber der Lebensmittelindustrie und somit auch gegenüber den Agrarproduzenten erlangt. Versteht man mit der neueren Wirtschaftswissenschaft die Beziehungen zwischen Produzenten, Verarbeitern und Handel als Netzwerk, so wird die stark „asymmetrische Machtverteilung“ innerhalb dieses Netzwerkes deutlich, die den landwirtschaftlichen Akteuren nur relativ geringe Handlungsspielräume belässt.60 So können Ankündigungen einzelner Discounterketten, den Milchpreis abzusenken, für massive Unruhe in der gesamten Milchwirtschaft führen.61
58 Lützenkirchen 2010, S. 163–173. 59 König 2000, S. 100–102 ; Wortmann 2003 ; Oevermann 2008, S. 17–27. 60 Vgl. am Beispiel der Getreidewirtschaft : Poignée 2007, S. 156. 61 Vgl. etwa Artikel „Bauern drohen mit neuen Milchstreiks“ in : „Der Spiegel“ vom 5. Mai 2009, http:// www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,622923,00.html (Zugriff : 16.3.2012).
9 Agrarpolitik
9.1 Agrarpolitische Maßnahmen Bevölkerungswachstum und Anstieg der Kaufkraft bei gleichzeitig höheren Erträgen sicherten der Landwirtschaft im 19. Jahrhundert den Absatz ihrer Produkte. Dieser langfristige Trend endete in den 1870er Jahren, als zunehmende internationale Konkurrenz die Preise sinken ließ.1 Mit der Diskussion über die Notwendigkeit von Schutzzöllen, die auch von Produzentenseite je nach Interessenlage durchaus unterschiedlich geführt wurde, und der Einführung der Getreidezölle 1880 begann das Zeitalter der Agrarprotektion, in dessen Verlauf die Schwierigkeiten der politischen Kräfte, eine der Transformation zur Industriegesellschaft entsprechende Orientierung an den Konsumenteninteressen durchzusetzen, offenkundig wurden.2 In einer ersten Phase 1880–1914 erwies sich der Agrarsektor noch als stark genug, um die Forderung notwendiger Anpassungsprozesse an die durch globale Prozesse veränderte Situation abzuwehren.3 Stattdessen wurden mit der Erhebung hoher Schutzzölle in den 1880er Jahren und 1902–1914 Preise über dem Niveau des Weltmarkts zulasten der städtischen Konsumenten garantiert.4 Ab 1915 war der Agrarmarkt kriegsbedingt reguliert, 1919–1925 wurden alle Zölle aufgrund alliierter Bestimmungen ausgesetzt.5 Die zweite Phase der Agrarprotektion wurde durch die durch Überproduktion und Unterkonsumtion verursachte Doppelkrise der späten 1920er Jahre ausgelöst, zu deren Bekämpfung der bloße Außenschutz durch Zölle als nicht mehr ausreichend angesehen wurde. Einer Phase – aufgrund der Exportinteressen der Industrie – noch niedriger Schutzzölle 1925–28 folgte zwar ab 1929 eine Hochschutzzollpolitik, durch die die inländischen Getreidepreise auf das Doppelte des Weltmarktniveaus stiegen. Gerade die dadurch provozierte Überschussproduktion und der Verbrauchsrückgang insbesondere bei Veredelungsprodukten führten zu Stützkäufen vonseiten des Staates, die den Preisverfall allerdings auch nicht mehr aufhalten konnten. In der Zollpolitik der Weimarer Zeit traten die Interessensgegensätze insbesondere zwischen der hohe Getreidezölle fordernden ostdeutschen Großlandwirtschaft und der an billigen Futterimporten interessierten Veredelungslandwirtschaft gerade in Nordwestdeutschland, deutlich zutage.6 Die Marktordnungspolitik der Nationalsozialisten zielte über die Festlegung der Preise auf ein sicheres Einkommen für die Landwirtschaft und die Preisstabilität für die Verbraucher. Mit dem Verbot der Selbstvermarktung und der eigenständigen Verarbeitung land1 2 3 4 5 6
Theine 1991, S. 12. Langthaler 2005, S. 11–15. Mai 2007, S. 478. Henning 21988, S. 114–127 ; Theine 1991, S. 12 ; Kluge 2005, S. 9–11. Böckmann 2000, S. 177. Theine 1991, S. 113–115 ; Böckmann 2000, S. 177–215 ; Langthaler 2005, S. 11 f.
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Agrarpolitik
wirtschaftlicher Produkte, zunehmenden Kontingentierungen und Ablieferungspflichten ab 1934 griff sie auf eine bis dahin unbekannte Weise in die bäuerliche Autonomie ein. Ab 1936 wurde die Landwirtschaft mit der Einbeziehung in den Vierjahresplan den Interessen der Rüstungswirtschaft untergeordnet, ab 1939 der Totallenkung durch die Kriegswirtschaft unterworfen.7 In der Nachkriegsperiode, in der der Interessenskonflikt zwischen Agrarwirtschaft und Industrie weitgehend entschieden war, behielt auch die westdeutsche Landwirtschaft ihre planwirtschaftliche Sonderstellung bei.8 Die nach der Zwangswirtschaft der ersten Nachkriegsjahre praktizierte Schutzpolitik zugunsten der Landwirtschaft sah ihre vornehmliche Aufgabe in der Sicherung des Nahrungsmittelbedarfs, die sie durch die Stabilisierung der landwirtschaftlichen Betriebsstrukturen erreichen wollte. Die sozialpolitische Zielsetzung, also der Erhalt einer breiten bäuerlichen Schicht, ließ in Verbindung mit der wirtschaftspolitischen Maßgabe, der ausreichenden Versorgung der nichtlandwirtschaftlichen Bevölkerung, nach Meinung der Gesetzgeber die Anwendung der Prinzipien der freien Marktwirtschaft auf die Landwirtschaft nicht zu. Bis zum Beginn der fünfziger Jahre wurde daher erneut eine Marktordnung installiert und durch die Garantierung von Mindestpreisen und die Abschottung vor internationaler Konkurrenz die Produktion angetrieben. Der Erfolg, dass innerhalb kurzer Zeit der Selbstversorgungsgrad mit den Grundnahrungsmitteln erreicht war, wurde allerdings mit einer Vervielfachung der benötigten Haushaltsmittel bezahlt. Das Landwirtschaftsgesetz von 1955, der „Grüne Plan“, verband das Ziel der Produktivitätssteigerung mit dem der Angleichung der Lage der in der Landwirtschaft Beschäftigten an die der vergleichbaren Berufsgruppen. Diese Ziele konnten nur durch fortlaufende Preisfixierung und – auf Dauer – durch Reduzierung der in der Landwirtschaft Beschäftigten erreicht werden. Der Zusammenschluss der Bundesrepublik mit Frankreich, Italien und den Beneluxländern zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957 setzte die deutsche Landwirtschaft zwar durch die Schaffung eines freien Binnenmarktes verschärfter Konkurrenz aus, garantierte aber durch die Übernahme der deutschen Marktordnung Richtpreise und Produktabsatz, was spätestens seit den siebziger Jahren zu einer strukturbedingten Überproduktion führte. Mit den Reformplänen des Agrarpolitikers Sicco Mansholt, über eine Steigerung der Agrarexporte vor allem den intensiv wirtschaftenden Großbetrieben Perspektiven zu öffnen, wurde 1968 das ohnehin stattfindende Prinzip des „Wachsens oder Weichens“ auch politisch nachhaltig festgeschrieben. Gleichzeitig wurde durch die Interventionspolitik ein eigenen Gesetzmäßigkeiten folgender Strukturwandel verzögert.9 Die Schwächen der europäischen Agrarpolitik wurden spätestens seit den siebziger Jahren überdeutlich wahrgenommen. Die über Absatz- und Preisgarantien subventionierte und vor Importen weitgehend geschützte Produktion führte zu steigenden Überschüssen, 7 Münkel 1996, S. 94, 106–120, 326–337. 8 Langthaler 2005, S. 14 ; Mai 2007, S. 475. 9 Ditt 2001, S. 36–67 ; Kluge 2005 (b).
Agrarpolitische Maßnahmen
die Kosten für die Aufrechterhaltung der Marktordnung stiegen ebenfalls. „Butterberge“ und „Milchseen“ machten als eingängige Begriffe der Öffentlichkeit die Auswüchse der Förderpraxis schlagartig bewusst. Neben den Kosten für die Absatzgarantien entstanden neue Ausgaben für die Lagerhaltung, die Exportsubventionierung oder die Vernichtung der Überschussproduktion. Der nicht-landwirtschaftlichen Bevölkerung war das kaum noch vermittelbar. Versuche, hohe Getreidepreise zu reduzieren, führten andererseits zu wütenden Bauernprotesten. Die Landwirtschaft wurde zum „politischen Problemfall“. Die Politik sah sich vor die Aufgabe gestellt, die immer größere Teile des Gesamtetats beanspruchende Subventionspraxis und die Überschussproduktion zu reduzieren, andererseits am Ziel des Abbaus der Einkommensdisparitäten festzuhalten. Die Lösung wurde weiterhin in fortschreitender Intensivierung durch leistungsstarke Betriebe bei gleichzeitigem Verschwinden unrentabler Produktionsstätten gesehen. Mit Ausstiegshilfen und „Produktionsaufgaberenten“ sollte das „Weichen“ attraktiver gemacht, gleichzeitig das „Wachsen“ in Richtung Großflächen- und Massenproduktion gefördert werden. Aber weder wurde die Einkommensangleichung erreicht noch die Überschussproduktion beseitigt. Im Gegenteil, die Produktion stieg weiterhin, zwischen 1973 und 1988 jährlich um zwei Prozent, der Verbrauch aber nur um 0,5%. Zusätzlich führte die Subventionierung zu Handelskonflikten, insbesondere mit den USA und Kanada, und zu Problemen für die Agrarpreisgestaltung in den Entwicklungsländern. Mit Preisreduzierungen, Kontingentierung der Milchproduktion, Extensivierungen, Flächenstilllegungen und Vorruhestandsregelungen versuchte man seit den achtziger Jahren, die Ausgaben der Gemeinsamen Agrarpolitik im Rahmen zu halten. Das Ziel der Angleichung der Einkommenszuwächse wurde damit aufgegeben.10 Ende der 1980er Jahre wurden die Überschussproduktion, die im globalen Vergleich fehlende Wettbewerbsfähigkeit, der weiterhin stattfindende technische Fortschritt, die Finanzierbarkeit der Agrarpolitik, die Umweltproblematik und die häufig ungeklärte Hofnachfolge als „Sachzwänge für weiteren Strukturwandel“ in der Landwirtschaft angesehen. In der Agrarpolitik bahnte sich ein Paradigmenwechsel an. Neben das lange Zeit die Agrarpolitik prägende Paradigma der „schutzbedürftigen Landwirtschaft“ traten nun andere Vorstellungen, in denen die anzustrebende Wettbewerbsfähigkeit, die Multifunktionalität, d.h. eine über die Erzeugung von Nahrungsmittel hinausgehende, soziale und ökologische Funktionen erfüllende Landwirtschaft und eine mehr an internationalen Zusammenhängen orientierte globale Landwirtschaft an Gewicht gewannen.11 Bereits in den 1990er Jahren wurden unter dem Druck der GATT-Verhandlungen die Stützpreise für Getreide und Rindfleisch gesenkt und Direktzahlungen an die Produzenten als Einkommensausgleich eingeführt. 1999 wurde eine weitere Senkung der Stützpreise bei einer die Einkommensverluste nicht ausgleichenden Anhebung der Direktzahlungen umgesetzt. Trotz Extensivierungsprogrammen stiegen aber die Erträge aufgrund züchterischen und 10 Kluge 2005, S. 40–45 ; Ditt 2001, S. 95 ; zusammenfassend Mahlerwein 2001, S. 112 f. 11 Feindt 2008, S. 67–93, S. 76–79.
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produktionstechnischen Fortschritts weiter an. 2003 beschloss der EU-Agrarministerrat unter dem Eindruck der WTO-Verhandlungen und der geplanten EU-Osterweiterung den Systemwechsel : die – allerdings von der Erfüllung einer Reihe von EU-Normen zur umweltschonenden und tiergerechten Agrarpraxis abhängige – Zahlung von Betriebsprämien, die von der Produktion entkoppelt werden. Dadurch entfällt der Anreiz, eine stetig wachsende Flächenproduktion zu erzielen. Bis 2015 sollen die Milchquoten aufgegeben werden. Die Auswirkungen dieser Agrarpolitikreform und der EU-Osterweiterung auf den weiteren Strukturwandel bleiben abzuwarten.12
9.2 Einfluss der landwirtschaftlichen Verbände auf die Agrarpolitik 9.2.1 Bäuerliche Interessensverbände im Kaiserreich
Die politischen Lenkungsmöglichkeiten innerhalb des Deagrarisierungsprozesses wurden seit dem späten 19. Jahrhundert erheblich durch die Partizipationsansprüche des agrarischen Sektors an den Entscheidungsfindungen vorbestimmt und eingeengt. Dabei können als Phasen besonders intensiver Einflussnahme die so genannten „Caprivijahre“, d. h. die Jahre der Niedrigzollpolitik unter Kanzler Caprivi ab 1891, und die Agrarkrise der späten 1920er Jahre gelten. Die Auseinandersetzungen um die Senkung der Getreidezölle ließ das sich gerade konstituierende agrarische Verbandswesen schnell anwachsen. Anders als die wohl auch schon wirtschaftliche Interessen formulierenden, aber staatsnahen und auf Verbesserung der landwirtschaftlichen Praxis und Ausbildung ausgerichteten Landwirtschaftlichen Vereine verfolgten die nach dem Vorbild des Westfälischen Bauernvereins von 1862/1871 in den 1880er Jahren vorwiegend in katholischen Regionen entstehenden „christlichen Bauernvereine“, in einigen Gegenden auch der „Deutsche Bauernbund“, als nicht staatlich geförderte Vereine wesentlich deutlicher konkrete Anliegen. Besondere Schlagkraft entwickelte aber der in der Auseinandersetzung um die Zollpolitik 1893 gegründete „Bund der Landwirte“ (BdL), der sich innerhalb kurzer Zeit zu einer Massenorganisation ausweitete. Um 1900 gehörten ihm 300.000 Mitglieder an, von denen die protestantischen ostelbischen Großgrundbesitzer nur ein Prozent stellten, die aber trotzdem die Verbandspolitik maßgeblich dominierten. Entgegen älteren Einschätzungen wird der BdL mittlerweile als „wirtschaftliche Interessengemeinschaft“ zwischen Großgrundbesitz und mittel- und großbäuerlichen Betrieben verstanden, da auch die bäuerlichen Mitglieder als Produzenten von Marktgetreide an Zöllen interessiert gewesen seien. Die Einflussnahme der Verbände auf die Agrarpolitik erfolgte über die Doppelfunktion ihrer führenden Mitglieder als Abgeordnete in Landtagen und im Reichstag und – gerade seitens des BdL – durch eine massive Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch professionalisierte Propaganda.13 In den nach konfessioneller Prägung und wirtschaftlichem 12 zusammenfassend : Mahlerwein 2007, S. 53–57. 13 Aldenhoff-Hübinger 2002, S. 87 f., 101–108 ; Henning 21988, 163–166.
Einfluss der landwirtschaftlichen Verbände auf die Agrarpolitik
Schwerpunkt unterschiedlichen nordwestdeutschen Regionen verlief die Durchsetzung der Agrarverbände differenziert. So konnte der „Bund der Landwirte“ einen starken Einfluss im späteren Niedersachsen erlangen, aber im überwiegend katholischen Westfalen nur in altpreußisch-protestantischen Gebieten gegenüber dem politisch der katholischen Zentrumspartei nahe stehenden Westfälischen Bauernverein Fuß fassen. Anders als der von den Großagrariern des Ostens dominierte BdL war der Westfälische Bauernverein an niedrigen Futterkosten – und somit niedrigen Getreidepreisen – für seine vornehmlich Veredelungswirtschaft treibenden Mitglieder interessiert.14 9.2.2 Agrarische Verbände in der Weimarer Zeit und im Nationalsozialismus
Ein an die Strukturen der Kaiserzeit anknüpfendes Verbandssystem konnte in der Weimarer Zeit zwar weiterhin – auch über die ihm nahe stehenden Landwirtschaftskammern – auf die Agrargesetzgebung einwirken, auf die großen Linien der Agrarpolitik blieb der Einfluss aber bis zum Ende der 1920er Jahre begrenzt. Der 1921 aus Landbünden und BdL zusammengeschlossene „Reichslandbund“ setzte – politisch an die Deutschnationale Volkspartei angelehnt und in Ablehnungshaltung gegenüber dem demokratischen System – die kämpferische Interessenpolitik des BdL fort. Weiterhin eng an die Zentrumspartei angeschlossen blieben die Bauernvereine. Auch wenn die Forderungen der Verbände, nach 1918 die Abschaffung der Nachkriegszwangswirtschaft, nach 1924 die Wiedereinrichtung eines Schutzzolls, im Nachhinein Erfüllung fanden, wird ihr Einfluss auf diese Entwicklungen insgesamt eher gering eingestuft.15 Auf die sich zuspitzende Krisensituation reagierten die Verbände auf Reichsebene 1929 mit dem Zusammenschluss zur „Grünen Front“, der allerdings regional, etwa in Westfalen, nicht immer nachvollzogen wurde. Unter Druck gerieten die Verbände auch durch eine von ihnen nur in geringem Ausmaß zu kontrollierende agrarische Protestbewegung, die nach erstem Aufflackern nach der Inflation 1925 dann 1928 voll zum Ausbruch kam und mit Massendemonstrationen, ab 1929 mit militanten Aktionen bis hin zu Bombenanschlägen auf Finanzämter und Beamtenwohnungen Einfluss auf die Agrarpolitik zu gewinnen suchte. Bezeichnenderweise hatte sich in Schleswig-Holstein, einem der Zentren des radikalen Widerstandes, keiner der etablierten Agrarverbände flächendeckend durchsetzen können, so dass die nur wenig organisierte „Landvolkbewegung“ in dieser von der Agrarkrise besonders stark betroffenen Region schnell um sich greifen konnte.16 Von Anfang an war die „Landvolkbewegung“ unter rechtsextremem Einfluss. Während Reichslandbund und auch die Landwirtschaftskammern schon früh nationalsozialistisch unterwandert wurden bzw. ihre Mitglieder sich dem Nationalsozialismus zuwandten, blieben die Bauernvereine weiterhin zentrumsnah. Die zunehmend nach rechts tendierende Politik des Zentrums und seiner 14 Albers 1999, S. 15 f.; Hohenstein 1990, S. 10. 15 Theine 1991, S. 141. 16 Bergmann/Megerle 1989, S. 211–228.
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landwirtschaftlichen Fraktion spiegelt sich allerdings auch darin, dass der Vorsitzende des Westfälischen Bauernvereins – anders als seine Vorgänger – die Kooperation mit dem NS-gesteuerten Landbund aufnahm. Das Scheitern der letzten Regierungen der Weimarer Republik ist auch mit ihrer erfolglosen Agrarpolitik und dem radikalisierten Widerstand des stark nationalsozialistisch beeinflussten agrarischen Sektors zu erklären.17 Die Übernahme der Forderungen der traditionellen Agrarverbände in das NS-Agrarprogramm ab 1930, das Engagement von Bauernvertretern im „agrarpolitischen Apparat“ der NSDAP ab 1931 und im „Reichsnährstand“, der berufsständischen NS-Agrarorganisation, in der alle Agrarproduzenten, Angehörige des verarbeitenden Gewerbes und des Agrarhandels, aber auch alle landwirtschaftlichen Verbände ab September 1933 zusammengeschlossen wurden, sowie die „Blut-und-Boden-Ideologie“, die auf eine Erhaltung und Stärkung des Bauernstandes abzielte, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Einfluss des agrarischen Sektors auf die NS-Politik schon bald nach der „Machtergreifung“ stark zurückgedrängt und die Agrarpolitik den machtpolitischen Interessen des Regimes angepasst wurde.18 9.2.3 Die Stellung des Deutschen Bauernverbandes im agrarpolitischen Diskurs
War der Reichsnährstand im Krieg und in den ersten Jahren der Nachkriegszeit eher als Ausführungsorgan der Zwangswirtschaft anzusehen, so nahmen die ab 1947 neu gegründeten Landwirtschaftskammern und Agrarverbände wieder die Interessenvertretung des Berufsstandes auf. Dass Kammern als halbstaatliche Institutionen, in denen aber eben teilweise dieselben Standesvertreter repräsentiert waren wie in den agrarpolitisch ausgerichteten Verbänden, auf die Agrargesetzgebung einwirkten, ist institutionell vorgegeben. Der 1948 gegründete „Deutsche Bauernverband“ (DBV) konnte von Anfang an einen großen Einfluss auf die Agrarpolitik gewinnen. Der (Allein-)Vertretungsanspruch als agrarischer Interessenverband gründet auf seinem hohen Organisationsgrad. 99% der Haupterwerbs- und mehr als zwei Drittel der Nebenerwerbslandwirte waren um 2005 noch Mitglieder eines der Landes- oder Fachverbände, aus denen sich der Deutsche Bauernverband zusammensetzt. Zudem konnten sich neben ihm kaum andere berufsständische Vereinigungen etablieren. Die 1956 gegründete SPD-nahe „Deutsche Bauernschaft-Gesamtverband landwirtschaftlicher Familienbetriebe“ als Vertretung der Kleinbauern kritisierte die mehr an den mittel- und großbäuerlichen Interessen orientierte DBV-Politik, löste sich aber bereits 1969 wieder auf. Aus Protest gegen die Eingliederung in die EWG bildeten sich in den 1960er Jahren v.a. in Norddeutschland „Notgemeinschaften“, aus denen in der Auseinandersetzung mit dem DBV die „Notgemeinschaft Deutscher Bauern“ hervorging, die aber, personell und finanziell schwach, weitgehend wirkungslos blieb. 17 Kluge 2005, S. 23–26, 82–88 ; Henning 21988, S. 208–212 ; Bergmann/Megerle ; Theine 1991, S. 141 f.; Böckmann 2000, S. 224–230 ; Albers 1999, S. 44–47. 18 Kluge 2005, S. 88–98.
Einfluss der landwirtschaftlichen Verbände auf die Agrarpolitik
Weniger als Konkurrenz denn als Ergänzung zum DBV versteht sich der 1974 gegründete „Bundesverband der Landwirte im Nebenberuf “, der in der Mitte der 1970er Jahre etwa 3000, 1996 9000 Mitglieder zählte.19 Die 1973 sich ursprünglich aus einem kirchlichen Arbeitskreis zur Entwicklungspolitik konstituierende „Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft“ (AbL) setzt sich für den Erhalt klein- und mittelbäuerlicher Strukturen und eine stärker auf ökologische und soziale Nachhaltigkeit ausgerichtete Landwirtschaft ein. Ihr gehören etwa 5000 konventionell und ökologisch wirtschaftende Landwirte an. Im Zuge der Erstarkung der Umweltbewegung und insbesondere in der Zeit der rotgrünen Bundesregierung nach 1998 ist ihr Einfluss auf agrarpolitische Debatten und Maßnahmen deutlich gewachsen.20 Den bislang erfolgreichsten Angriff auf den Repräsentationsanspruch des DBV unternahm der 1998 gegründete „Bundesverband deutscher Milchviehhalter“ (BDM), der mittlerweile etwa ein Drittel der Milchproduzenten vertritt und seinen Forderungen 2008 in einem sehr öffentlichkeitswirksamen Milchlieferungsboykott Nachdruck verlieh.21 Dass sich der DBV bis in die neunziger Jahre weitgehend unangefochten behaupten konnte und auch aktuell noch eine erhebliche Machtposition im agrarpolitischen Diskurs innehat, lässt sich auf verschiedene Ursachen zurückführen. Die wichtigste Machtbasis dürfte die enge Verflechtung zwischen Verband und Agraradministration sein. So wechselten DBV-Funktionäre auf Stellen in die Landwirtschaftsministerien oder waren alle Bundeslandwirtschaftsminister bis 2001 DBV-Mitglieder. Gleichzeitig waren Bauernverbandsfunktionäre stets in den Fraktionen der bürgerlichen Parteien zu finden, so dass etwa für die sechziger Jahre festgestellt wurde, der DBV habe „innerhalb der damaligen Regierungsfraktionen eine so starke personelle Vertretung (besessen), daß er eine Lobby im eigentlichen Sinne nicht mehr brauchte.“22 Gesetzesinitiativen gingen vom DBV aus oder wurden mit ihm abgestimmt, bevor sie im Bundestag beraten wurden. Druck zur Untermauerung der Forderungen konnte mit Verweis auf das zwar schwindende, aber doch noch existente Wählerpotenzial aufgebaut werden, ebenso durch Protestaktionen wie Straßendemonstrationen, Treckerkonvois, Briefaktionen, Vernichtung von Agrarprodukten, Grenzblockaden, die zwischen radikalisierter Basis und gemäßigter Verbandsspitze nicht immer unumstritten waren.23 Ein weiterer Grund für die lange Zeit unbestrittene Machtstellung des DBV war das Fehlen von schlagkräftigen Verbänden mit konkurrierenden oder gegenteiligen Interessen, etwa von Seiten der Verbraucher oder der Steuerzahler, was das oft kompromisslos erscheinende Auftreten des Verbandes, der sich wenig für die gesellschaftliche Vermittlung seiner Forderungen engagieren musste, 19 Eichmüller 2002, S. 228–230 ; Feindt 2009, S. 71–73. 20 Feindt 2009, S. 73. 21 Hinterberger 2010, S. 99–120, S. 113 f.; Homepage des Bundesverbandes Deutscher Milchviehalter : http://bdm-verband.org/html/index.php, 9.2.2012. 22 Ackermann 1970, S. 100. 23 Patel 2009, S. 474–478.
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erklärt.24 Die auf Produktpreisstabilisierung ausgerichtete Politik des Verbandes sorgte für den internen Ausgleich zwischen den Verbandsmitgliedern, wenn auch die Inhaber größerer Betriebe in der „innerverbandlichen Willensbildung“ dominierten und die bis 2003 gängige Subventionspraxis die Großbetriebe bevorteilte. Die zunehmende Interessensheterogenität der Mitglieder nach dem Ende der Preisstabilisierungspolitik wird als eine der wichtigsten Ursachen für den nachlassenden Einfluss des Verbandes benannt.25 Das Auftreten weiterer Akteure auf dem Feld der Agrarpolitik, Wirtschafts-, Verbraucherund Umweltverbände, der oppositionellen Agrarverbände wie AbL und BDM oder politischer, nicht dem DBV verbundener Kräfte, schmälert zudem die Einflussmöglichkeiten des Verbandes, der allerdings, wie sich in den Abwehrreaktionen gegenüber der nach der BSE-Krise 2001 regierungspolitisch geforderten „Agrarwende“ im Sinne einer stärkeren Ökologisierung der landwirtschaftlichen Praxis zeigte, seine Schlagkraft nach wie vor unter Beweis stellen kann.26 Im Zuge der Europäisierung der Landwirtschaftspolitik behielten die Agrarverbände ihren Einfluss durch die Abstimmung der Verhandlungspositionen der Mitgliedsstaaten mit den Interessen der jeweiligen nationalen Bauernverbände einerseits, andererseits durch Zusammenschlüsse zu europäischen Dachverbänden. Waren die Dachverbände bis in die neunziger Jahre noch erfolgreich in der Mitgestaltung der Gemeinsamen Agrarpolitik aktiv, so verloren sie bei der Abkehr von der Preisstützungspolitik und der Einführung des Systems der Direktzahlungen an Einfluss, da intern unterschiedliche Interessen nicht zu einer gemeinsamen Verhandlungsposition zusammengefasst werden konnten. Vielmehr konnten die nationalen Verbände in der „Renationalisierung“ der Agrarpolitik, wie sie sich etwa in der nationalen Entscheidungskompetenz über die konkrete Ausgestaltung der europäischen Beschlüsse äußerte, wieder an Gewicht gewinnen.27
24 Rieger 2007, S. 298. 25 Feindt 2009, S. 71, Rieger 2007, S. 302. 26 Weiland 2008, S. 139–156. 27 Michalowitz 2007, S. 120–126.
10 Globale Verflechtungen
Der mehrfach erwähnte Hunsrücker Bauer Peter Mayer, dessen Betriebsführung zwischen 1888 und 1915 gut dokumentiert ist, griff bei der Ausübung seines Berufs weitgehend auf Kontakte und Beziehungen zurück, die sich aus seinem engeren lokalen Umfeld ergaben. Mayer bearbeitete seinen Betrieb fast ausschließlich mit Hilfe seiner Familie, nur in den ersten Jahren, als die eigenen Kinder noch zu klein zum ständigen Mitarbeiten waren, unterstützt von aus der Region stammenden Knechten und Mägden. Auf seinen zehn Hektar Land wirtschaftete er mit Geräten und Werkzeugen, die wohl zum größten Teil von Wagnern und Schmieden der Umgebung hergestellt worden waren. Sein Vieh besorgte er sich auf den lokalen Viehmärkten, häufig unter Inanspruchnahme ihm gut bekannter Viehhändler, die auch die Vermarktung seiner Tiere übernahmen. Das Saatgut zog er zum größten Teil wohl selbst nach, jedenfalls fehlen in seiner Betriebsbilanz für 1910/11 entsprechende Ausgaben. Das Getreide, das er nicht zur Eigenversorgung und zum Verfüttern benötigte, verkaufte er an „Privatpersonen“ der näheren Umgebung. Dass es sich bei seiner Betriebsführung dennoch nicht mehr um eine überwiegend in Kreisläufen organisierte Wirtschaftsform handelte, zeigt der Zukauf von Dünge- und Futtermitteln. Zwar dominierte auch in diesem Bereich der Einsatz von hofeigenem Material und wurde das Vieh vor allem mit Heu, Getreide und Hackfrüchten aus eigener Ernte gefüttert und das Feld mit Jauche aus der eigenen Viehwirtschaft gedüngt, aber die Kosten für Thomasmehl, Chilesalpeter und Kalkasche sowie für Ölkuchen, Leinmehl, Mais und Kleie machten 1910/11 bereits ein Sechstel aller Betriebsausgaben aus. Viel mehr als der Bezug des aus Südamerika stammenden Chilesalpeters zeigt aber eine betriebliche Entscheidung Mayers, dass seine Wirtschaft längst in globale Zusammenhänge eingebunden war : seine Konzentration auf Viehwirtschaft, die auf der Erfahrung der zurückgehenden Getreidepreise seit den 1880er Jahren basierte.1 Mit dem Bezug einiger weniger Betriebsmittel und der durch internationale Preiskonjunkturen verursachten ökonomischen Umorientierung näherte sich der Hunsrücker Landwirt weltwirtschaftlichen Dimensionen an. In seinem regionalen Umfeld dürfte seine Generation die erste gewesen sein, die in diesen Prozess eintrat. In Sonderkulturregionen, in Gebieten mit traditionell starker Viehwirtschaft oder in den ostdeutschen Getreidelandschaften war die Landwirtschaft schon seit langem, teilweise schon seit Jahrhunderten in überregionale Austauschbeziehungen eingebunden. Die Einbeziehung auch weniger stark marktorientierter und spezialisierter Regionen und Produzenten in agrarwirtschaftliche Verflechtungen weltweiten Ausmaßes markiert nun aber den Beginn einer zunächst auf einer Verbesserung der Transportmöglichkeiten basierenden Globalisierungswelle. Abgesehen vom standortgebundenen Boden – und selbst der wird derzeit in Afrika, Asien und Südamerika zum Handelsobjekt international agierender Investoren – unter1 Bauer 2009, S. 361–393.
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lagen alle anderen Produktionsfaktoren zunehmenden Mobilisierungsprozessen.2 Guano und Chilesalpeter aus Südamerika, englische Landmaschinen, südamerikanische Viehfutterimporte und osteuropäische Arbeitskräfte sind schon aus der Agrarpraxis des späten 19. Jahrhunderts kaum wegzudenken. Eine durch eigene Forschungsabteilungen, Beratungswesen und enge Zusammenarbeit mit berufsständischen und staatlichen Institutionen auch den Wissensstand prägende, zunehmend multinational zugeschnittene Dünger-, Futtermittel-, Saatgut- und Pflanzenschutzindustrie übernahm seit dem frühen 20. Jahrhundert die Rundumversorgung der Landwirtschaft mit Betriebsmitteln. Die durch Fusionen sich nationale und internationale Aktionsräume erschließenden Genossenschaften und Handelsunternehmen steuern den Großteil der Vermarktung. Die Konzentrationen in der verarbeitenden Industrie und in noch stärkerem Ausmaß in den Einzelhandelsunternehmen führen zu erheblichen Machtpositionen im Marktgeschehen und erhöhen den internationalen Wettbewerbsdruck auch auf die Lieferanten der Agrarrohstoffe. Konnte die Agrarpolitik die Auswirkungen dieses Prozesses auf die landwirtschaftlichen Akteure seit Beginn des „Globalisierungszeitalters“ im späten 19. Jahrhundert stark abfedern, so gerät diese Möglichkeit mit der Verengung der Handlungsspielräume der Politik gegenüber einer sich der Regulierung von „Wirtschaftsabläufen und Finanzströmen“ widersetzenden globalisierten Wirtschaft zwar langsam, aber zunehmend unter Druck. Dass die Globalisierung in diesem ökonomischen Sinn auf eine – auch für die ökonomische Entwicklung selbst gefährliche – Reduzierung von Diversität unter mangelnder Berücksichtigung der sozialen, kulturellen und ökologischen Entwicklung hinausläuft, ist in seinen negativen Folgen nicht zuletzt auch im Weltagrarbericht des Weltagrarrats von 2008 formuliert worden.3
2 Hagedorn 2011, S. 86–92, S. 86. 3 Weltagrarbericht, http://www.agassessment.org/reports/IAASTD/EN/Agriculture%20at%20a%20 Crossroads_Global%20Summary%20for%20Decision%20Makers%20%28English%29.pdf, 23.3.2012 ; Langthaler 2010, S. 158–161 ; Hagedorn 2011, S. 87–89.
11 Demografie der ländlichen Gesellschaft
11.1 Begriffsbestimmung ländlicher Raum – ländliche Gesellschaft Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts partizipierten ländliche Gemeinden an Teilprozessen gesellschaftlichen und politischen Wandels, deren Ergebnisse in vielfacher Weise und von verschiedenen Akteuren als Verlust wahrgenommen werden : das Verschwinden der Bauern, der Landhandwerker, der kleinen Dorfläden, der Bedeutungsverlust von Verwandtschaft und Nachbarschaft, die schwindende Bindungskraft von Kirche und Vereinen, die Wegrationalisierung der Dorfschule, der Verlust von Autonomie durch Verwaltungsreformen und -professionalisierung sowie massive Veränderungen von Dorfbild und Gemarkung. Die Ansiedlung neuer Einwohnergruppen in vielen Regionen vor allem nach 1950 führte nicht nur zu einem Bevölkerungszuwachs (entgegen den Abwanderungsdiskursen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die eine „Entleerung“ des flachen Landes beschworen), sondern trug zu einer Pluralisierung von Lebensweisen und Lebensstilen bei. So entwickelten sich neue Formen sozialer Beziehungen, gelang die Integration des Großteils der agrarischen Bevölkerung in die Industrie- und Dienstleistungssektoren, sei es durch die Ansiedlung von Unternehmen im ländlichen Raum oder die Bereitstellung von Verkehrsinfrastruktur, und führte eine ausgeweitete Bildungsstruktur zu erhöhter Chancengleichheit. Verkehrs-, Kommunikations-, Konsumrevolution, Bildungsexpansion, aber auch der Aufstieg des Sozialstaats und der Ausbau der Sozialversicherungssysteme ermöglichten stärker individualisierte Lebensentwürfe in Stadt und Land. Aufgrund von Retardierungen der technologischen und infrastrukturellen Entwicklung, der Wirkmächtigkeit traditionaler Arbeits- und Wirtschaftslogiken im agrarischen Sektor und vor allem, da ein erhebliches Persistenzpotenzial in sozialen und kulturellen Bereichen bestand, wurde dieser Prozess im ländlichen Umfeld als besonders intensiv wahrgenommen. Trotz aller Nivellierungstendenzen blieb doch auch nach den massiven gesellschaftlichen Wandlungsprozessen des 20. Jahrhunderts eine Differenz zwischen Stadt und Land bestehen. Das lässt sich an den immer noch bestehenden Unterschieden in der Geburtenbilanz aufzeigen. Andererseits resultieren die Schwierigkeiten, ländliche Gesellschaft zu definieren, gerade auch aus den Auswirkungen der Wanderungsbewegungen. Die Darstellung der demografischen Entwicklung seit dem späten 19. Jahrhundert ist daher eine wichtige Voraussetzung für die Einschätzung der Bedeutung der ländlichen Gesellschaft im gesamtgesellschaftlichen Kontext. Da es sich bei dieser Teilgesellschaft um einen raumbezogen definierten Ausschnitt der Gesellschaft handelt, muss die Frage des Raumes, auf den sich diese Zuschreibung bezieht, ebenso geklärt werden wie die nach dem Wandel der räumlichen Bezüge der Angehörigen dieses gesellschaftlichen Segmentes.1 1 Die weiteren in diesem einleitenden Abschnitt angesprochenen Themen können im vorliegenden
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Ländlicher Raum = Gesamtraum minus Verdichtungsraum. Mit dieser einfachen Formel versuchen Raumordnungs- und Planungsbehörden die definitorischen Schwierigkeiten bei der Bestimmung ihres Untersuchungsgegenstandes zu umgehen. Die aktuellen Diskussionen in der Raumplanung als der Wissenschaft, die sich mit der Ordnung und Nutzung geografischer Räume beschäftigt, zeigen allerdings, dass auch diese scheinbar klare Beschreibung nicht zu zufriedenstellenden Ergebnissen führt. Bislang war von drei Grundtypen von Regionen ausgegangen worden, die sich in sieben Typen weiter differenzieren ließen. Je nach der Größe der Zentren und der Bevölkerungsdichte der Regionen spricht die Raumplanung von Agglomerationsräumen, verstädterten Räumen und ländlichen Räumen. Auf Kreisebene lassen sich innerhalb dieser Grundregionen jeweils ländliche Kreise ausmachen, die über ihre Bevölkerungsdichte pro Quadratkilometer definiert werden. In Agglomerationsregionen, in denen die Kernstädte mehr als 100.000 Einwohner, die ihnen angrenzenden hoch verdichteten Kreise mehr als 300 Einwohner pro Quadratkilometer haben, leben in den ländlichen Kreisen weniger als 300 Einwohner pro Quadratkilometer. Verstädterte Regionen unterscheiden sich von diesem Modell nur durch die an die Zentren grenzenden weniger verdichteten Kreise (> 150 E/km2). Ländliche Regionen werden nach Kreisen höherer (> 100 E/km2) und geringerer (< 100 E/km2) Dichte unterschieden.2 Zwar wird aus diesem Gliederungsversuch deutlich, dass ländliche Kreise in allen Grundtypen (Agglomerationsräume, verstädterte Räume, ländliche Räume) zu finden sind, die mitunter sehr heterogene räumliche Ausdifferenzierung unterhalb der Kreisebene wird allerdings ignoriert. Ein neuer Versuch der Raumtypenbildung des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung geht daher auf die Ebene von Gemeindeverbänden. Statt 439 Kreisen und kreisfreien Städten werden nun annähernd 4800 Gemeindeverbände analysiert, wodurch sich ein deutlich schärferes Bild ergibt. Zudem wird die ausschließliche Einordnung nach Bevölkerungsgröße und -dichte aufgegeben. Stattdessen wird nach Struktur- und nach Lagetypen gefragt. Aus den Strukturmerkmalen Siedlungsdichte und Siedlungsflächenanteil werden drei Klassen gebildet : städtisch, gemischt und ländlich geprägte Gebiete. Die Differenzierung nach der Lage, d. h. nach der Erreichbarkeit von Zentren mithilfe des motorisierten Individualverkehrs, führt zu vier Abstufungen : sehr zentral, zentral, peripher und sehr peripher. Die Kombination von Struktur- und Lagetypen ergibt zwölf, aufgrund der geringen Häufigkeit von sehr peripheren städtisch geprägten Gebieten und sehr zentralen ländlich geprägten Gebieten in der Praxis zehn Möglichkeiten. Mit dieser genaueren Einstufung lässt sich zeigen, dass um das Jahr 2000 ländlich geprägte Gebiete zwei Drittel der Bundesrepublik ausmachen, in denen aber weniger als ein Viertel der Bevölkerung lebt, während in den elf Prozent städtisch geprägten Gebieten mehr als die Hälfte der Bevölkerung ansässig ist.3 Buch nicht behandelt werden. Es kann allerdings auf die bereits vorliegende Darstellung von Clemens Zimmermann in seiner mit Werner Troßbach verfassten „Die Geschichte des Dorfes“ (Stuttgart 2006), S. 205–282, verwiesen werden. 2 Henkel 42004, S. 287–294. 3 Spangenberg/Kawka 2008, S. 27–31.
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Dass auch in der Geografie zunehmend auf eigene Definitionen zugunsten der Typisierungen der Raumplaner verzichtet wird, stößt zwar innerhalb des Faches auf Kritik, dennoch können sich über Bevölkerungsdichte und Zentralitätskriterien hinausgehende Bestimmungsfaktoren nicht durchsetzen. Die Umschreibung des ländlichen Raums als eines „naturnahe(n), von Land- und Forstwirtschaft geprägte(n) Siedlungs- und Landschaftsraum(s) mit geringer Bevölkerungs- und Bebauungsdichte und niedriger Wirtschaftskraft und Zentralität der Orte, aber höherer Dichte zwischenmenschlicher Beziehungen“ wird von dem für Fragen des ländlichen Raums führenden Vertreter des Fachs, Gerhard Henkel, als zu traditionell kritisiert. Er betont allerdings bei allen Schwierigkeiten, ländliche von städtischen Räumen abzugrenzen, die Wirkmächtigkeit des Bildes vom ländlichen Raum im Bewusstsein seiner Bewohner.4 Das verweist auf neuere Diskussionen in der Soziologie, in denen es weniger um die Definition von Raum aufgrund physischer Merkmale als vielmehr um die Raumkonstruktion durch verschiedene Akteure geht. Raum ist demnach nur als „sozial hervorgebrachter Raum“, als „Produkt gesellschaftlicher Prozesse“ vorstellbar. Raum wird durch Interaktionen, durch Handlungen und Kommunikation hergestellt, wirkt aber auch prägend auf die Akteure zurück. Für die Beschreibung von Raum – und eben auch die Definition des ländlichen Raums – erscheint daher neben der Bestimmung von Struktur und Lage die Zusammenschau der räumlichen Praxis der Akteure (d. h. ihre raumprägenden und vom Raum geprägten Handlungen und Verhaltensweisen), ihrer Wahrnehmung und der Imaginationen von Raum notwendig.5 Das gilt umso mehr für den historischen Rückblick über eine Zeitspanne, in der die Raumbezüge der Bewohner des ländlichen Raums sich in vielfältiger Weise aufspalteten und ausweiteten, so dass auch nach der Relevanz des Begriffes der ländlichen Gesellschaft zu fragen ist. Welche spezifischen Vergesellschaftungsprozesse lassen es auch heute – angesichts der eingangs skizzierten Entwicklungen – noch gerechtfertigt erscheinen, die Bewohner weniger verdichteter Räume als Angehörige einer ländlichen Gesellschaft und somit als deutlich wahrnehmbare Teilgruppe innerhalb der Gesamtgesellschaft zu bezeichnen ? Dieser Frage kann sich nur über die Analyse der Praktiken angenähert werden, etwa durch die Kennzeichnung der Anteile stärker raumgebundener oder raumunabhängiger Elemente der Lebensführung, die Untersuchung der alltagsorganisatorischen und biografischen Verknüpfung unterschiedlicher Räume und Lebensbereiche oder der Wirksamkeit von Lebensentwürfen und Selbstbildern.6 Erst der Nachweis merklich vom physischen und sozialen Raum geprägter Verhaltensweisen und Handlungen lässt die These von der weiterhin wirksamen Differenz zwischen ländlicher und städtischer Gesellschaft plausibel erscheinen. Wenn also zum Beispiel Person A aus der Stadt in das Dorf zugezogen ist, weiterhin in der Stadt arbeitet und familiäre und soziale Kontakte pflegt, ihre Kinder die Schule in der Stadt besuchen, gleichzeitig im dörflichen Vereinswesen aktiv 4 Henkel 42004, S. 17, 30–34. 5 Löw 2001, S. 152–158, 271–273 ; Geppert/Jensen 2005 ; Schroer 2008, S. 125–148. 6 Vgl. hierzu auch Beetz 2004, S. 45–48.
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sind, während sie selbst sich in der dörflichen Kommunalpolitik engagiert, eine andere Person B, deren Familie seit Generationen hier ansässig war und bis zur Vorgängergeneration Landwirtschaft betrieb, im gleichen Dorf lebt und als Gewerbetreibender vor allem auf die lokale Nachfrage angewiesen ist, eine Person C als Kind heimatvertriebener Eltern aus ursprünglich städtischem Umfeld in den sechziger Jahren in eine eingesessene Familie einheiratete, deren ehemals bäuerliches Anwesen als Wohnstätte übernahm, als Pendler in der nächst gelegenen Stadt arbeitete und nun als Rentner eher zurückgezogen lebt7, dann ist zu fragen, inwieweit trotz der individuell sehr unterschiedlichen Raumbezüge in der Alltagsbewältigung und in den Lebensläufen sich die Konstitution der ländlichen Gesellschaft über die Frage der Ansässigkeit hinaus durch raumprägendes und vom Raum geprägtes Handeln und Verhalten ihrer Angehörigen her definieren lässt.
11.2 Demografische Entwicklung 11.2.1 Die natürliche Bevölkerungsentwicklung
Anders als für die vorindustrielle Zeit liegen für die demografische Geschichte der ländlichen Gesellschaft nach 1870/80 nur wenige Detailstudien vor. Dennoch können Tendenzen eines in Stadt und Land differenzierten generativen Verhaltens angedeutet werden. Der demografische Übergang von hohen zu niedrigen Geburten- und Sterberaten lässt sich in verschiedenen Phasen beschreiben. Zunächst setzte ein Absinken der Mortalität ein, das vor allem mit dem Rückgang der Säuglings- und Kindersterblichkeit zu erklären ist. Starben vor 1900 in Deutschland 250 von 1000 geborenen Kindern noch im Säuglingsalter, verringerte sich diese Rate bis 1914 auf 160 von 1000, um bis 2005 auf 3,9 Promille abzusinken. Ursache des Rückganges war die Verbesserung der Ernährung, der Hygiene, der medizinischen Versorgung und allgemein ein verbesserter Lebensstandard. Der kurze Zeit später einsetzende Rückgang der Geburtenrate kann als Reaktion auf diese Entwicklung verstanden werden. Während die Frauen der 1850er Jahrgänge durchschnittlich fünf Kinder zur Welt brachten, sank die durchschnittliche Kinderzahl der zwischen 1860 und 1900 geborenen Frauen auf zwei. Diesem ersten Fertilitätsrückgang bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts – mit Schwankungen in Kriegs-, Nachkriegs- und Wirtschaftskrisenzeiten – folgte eine zweite Welle, in der nach dem „Babyboom“ der 1950er und frühen 1960er Jahre die Fruchtbarkeitsrate weiterhin absank. Sinkende Geburtenrate und steigende Lebenserwartung ließen das Durchschnittsalter der Bevölkerung kontinuierlich ansteigen.8 7 Vgl. den ähnlichen Gedankengang bei Becker 1997, S. 260. 8 Wehler 1995, S. 493–503 ; Wehler 2003, S. 231–234 ; Wehler 2008, S. 34–46 ; Ehmer 2004, S. 44 f.; eigene Berechnung nach : http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Statistiken/Bevoelkerung/GeburtenSterbefaelle/Tabellen/Content75/GeboreneGestorbene,temp lateId=renderPrint.psml, 10.10.2009.
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Diese allgemeinen Trends lassen sich regional und nach Stadt und Land differenziert darstellen. Die Grundannahme, dass die Entwicklung zu verringerter Säuglingssterblichkeit und geringerer Geburtenrate von den Städten ausging9, bestätigt sich aus regionaler Perspektive. So sank die Säuglingssterblichkeit in Preußen zwischen der Mitte der 1870er Jahre und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges in den Städten von einem allerdings höheren Niveau deutlich schneller als in den Landgemeinden und blieb die Fertilität auf dem Land zwischen 1875 und 1905 noch unverändert, während sie in den Städten um 20% absank.10 Auch im ländlich geprägten Ostpreußen blieben Geburten- und Sterberate bis zur Jahrhundertwende hoch, in Bayern sank die Geburtenhäufigkeit, obwohl die Sterberate auf weiterhin überdurchschnittlichem Niveau verharrte.11 Der mikrohistorische Blick in die Dörfer zeigt aber, dass die These der nachholenden ländlichen Entwicklung zumindest noch weiterer Untermauerung durch Fallstudien bedarf. Zum einen zeigte John Knodel an vierzehn Untersuchungsdörfern auf, dass bereits die Ausgangssituation differierte. So sind in drei bayerischen Dörfern bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die höchste Kindersterblichkeit und die höchste Fertilitätsrate des gesamten Samples nachzuweisen, während diese Werte in zwei ostfriesischen Gemeinden durchweg am niedrigsten lagen. Das dürfte auf unterschiedliches Stillverhalten zurückzuführen sein : Während in Bayern kaum gestillt wurde, die Säuglinge somit anfälliger gegen Krankheiten waren und der empfängnisverhütende Effekt des Stillens nicht genutzt wurde, wurden die ostfriesischen Kinder erst spät abgestillt.12 Andererseits lassen sich an Knodels Beispielgemeinden unterschiedliche Verlaufsmuster des demografischen Übergangs aufzeigen, die der „Diffusion vom Zentrum aus“ (Ehmer) widersprechen : Der Rückgang der Geburtenrate setzte in einigen Dörfern deutlich früher und somit parallel zur vergleichbaren städtischen Entwicklung ein.13 Am Beispiel des schwäbischen Kiebingen kann beobachtet werden, wie differenziert der demografische Übergang im Dorf ablief. In dieser von Carola Lipp untersuchten katholischen Gemeinde sank die Kinderzahl pro Familie von 1870 bis 1929 von 5,2 auf 3,7. Das entspricht trotz im Vergleich höherer Durchschnittswerte der allgemeinen Tendenz. Allerdings korrespondierte in Kiebingen die Entwicklung der Sterberate nicht in der gewohnten Weise mit der der Geburtenrate. Während die Säuglingssterblichkeit hier bis zum Ende des 19. Jahrhunderts im regionalen Vergleich sehr hoch blieb, setzte das Absinken der Geburtenrate bereits um 1875 ein. Erst ab 1895 sanken Geburten- und Sterberate gemeinsam. Ursache für die bis dahin hohe Sterblichkeit dürfte gewesen sein, dass nur etwa ein Viertel der Mütter ihre Kinder stillten, am wenigsten die Mütter der bäuerlichen Oberschicht, die auf das Stillen verzichteten, um schneller wieder bei der Feldarbeit 9 Henkel 42004, S. 47. 10 Wehler 2003, S. 497–499. 11 Hubert 1998, S. 118 f. 12 Knodel 1988, S. 250. 13 Knodel 1988, S. 458 ; Ehmer 2004, S. 105.
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einsetzbar zu sein. Erst eine Veränderung des Stillverhaltens ließ die Sterbequote sinken. Auch der Rückgang der Fertilität lässt sich sozial differenziert beschreiben. Carola Lipp führt die aufgrund vergrößerter Geburtenabstände zunächst vor allem bei Familien der Unterschicht vermutete Geburtenkontrolle auf die größere „Außenerfahrung“ der Handwerker-, Arbeiter- und Tagelöhnerfamilien zurück, die durch ihre höhere Mobilität früher in Kontakt mit „modernem Reproduktionsverhalten“ kamen und das „Idealbild der städtischen Kleinfamilie“ eher adaptierten.14 Für die 1930er bis 1950er Jahre kommt Peter Exner bei der Untersuchung drei westfälischer Dörfer zu ähnlich differenzierten Ergebnissen. Im agrarisch geprägten, katholischen Ottmarsbocholt wurden in den Familien der frühen dreißiger Jahre noch durchschnittlich fast fünf Kinder gezählt, in der Mitte der fünfziger Jahre, noch vor dem „Babyboom“, nur noch 1,3. Im protestantischen Rödinghausen mit einem hohen Anteil an in die Städte der Umgebung pendelnden Arbeiterbauern hatte sich die Zweikinderfamilie schon Anfang der 1930er Jahre weitgehend durchgesetzt.15 Wie in Kiebingen war also auch hier der Trend zu weniger Kindern zunächst von der Unterschicht ausgegangen. Die Interpretation Peter Exners, dass mit der Aufgabe der landwirtschaftlichen Subsistenzwirtschaft und mit dem Eintritt in die industrielle Lohnarbeit Kinder nicht mehr „als notwendige landwirtschaftliche Arbeitskraft und Garant der elterlichen Altersversorgung“16 angesehen wurden, mag allerdings bezweifelt werden. Eher dürften sich angesichts der stark gesunkenen Kindersterblichkeit und in der Kenntnis kontrazeptiver Methoden die Vorteile einer geringeren Kinderzahl für die mittel- und langfristige Versorgung der gesamten Familie als Argumente für eine Geburtenbeschränkung ausgewirkt haben. Die Anpassung der Lebensbedingungen in Stadt und Land, etwa bei der schulischen, akademischen und beruflichen Ausbildung und der Berufstätigkeit der Frauen und durch die sich verdichtende Kommunikation, über die neue Rollenbilder medial vermittelt wurden, beförderte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Angleichung des generativen Verhaltens. Dennoch werden nach wie vor zumindest für westdeutsche ländliche Räume die höchsten Geburtenüberschüsse konstatiert17, wenngleich auch hier die Kinderzahlen seit den sechziger Jahren deutlich gesunken sind.18 Vor allem in stadtnahen Gebieten sorgte der Zuzug junger Familien auch nach den sechziger Jahren für eine weiterhin höhere Kinderzahl. Dennoch kann am Beispiel Baden-Württemberg nachgewiesen werden, dass in eher peripher gelegenen Regionen die Geburtenrate immer noch höher ist als in verdichteten Regionen. So betrug die total fertility rate (TFR) in ländlichen Regionen im engeren Sinn zwischen 1980 und 1985 1,65, 2001–2005 nur noch 1,48, ge14 Kaschuba/Lipp 1982, S. 506–562. 15 Exner 1997, S. 303–384. 16 Exner 1997, S. 375. 17 Henkel 42004, S. 49. 18 Beetz 2006.
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genüber 1,28 in Verdichtungsräumen.19 Das lässt sich auf in diesen Räumen immer noch etwas frühere und vor allem häufigere Familiengründungen zurückführen. Vor allem die Abwanderung von Jugendlichen führt in ländlich-peripheren Gebieten in Ostdeutschland zu in Öffentlichkeit und Wissenschaft vielfach diskutierten demografischen Problemen. So belegt ein Vergleich der sieben raumplanerischen Haupträume aus dem Jahr 1998, dass die ländlichen „Räume geringer Dichte“, wie sie eben vor allem in Ostdeutschland zu finden sind, nach den „Agglomerationsräumen mit herausragenden Zentren“ die zweitniedrigste Geburtenziffer aufweisen.20 Allerdings zeigt Stephan Beetz diskurskritisch auf, dass die Fertilitätsraten in den ostdeutschen ländlichen Regionen nur leicht unter dem ostdeutschen Durchschnitt liegen und der Anteil der über 65jährigen Bewohner der ländlichen Räume dem Durchschnitt genau entspricht. Daher sei für den Raum der ehemaligen DDR, wo sich seit Mitte der 1980er Jahre die Geburtszahlen nach unten bewegten, bis sie bedingt durch den Zusammenbruch 1993 den Tiefpunkt erreichten, seitdem sich aber langsam den westdeutschen Daten annähern, eher von einer „Demografie der Transformation“ zu sprechen. Eine „Demografie der Peripherisierung“ mit all ihren diskutierten sozialen Problemen kann Beetz gleichwohl in Teilräumen, etwa in der Uckermark, erkennen, plädiert aber dafür, die unterschiedlichen demografischen Prozesse nicht vorrangig aus der Perspektive der Stadt-Land-Differenz zu analysieren.21 Insbesondere die höheren Geburtenraten in von Sub- und Periurbanisierung erfassten ländlichen Räumen und die niedrigen Raten in den ostdeutschen Regionen sind wanderungsbedingt, können also nicht für eine Konstruktion eines „typisch“ ländlichen generativen Verhaltens, das sich eben aus weiterhin wirksamen Stadt-Land-Unterschieden ableitet, herangezogen werden. Insofern muss nicht nur die Geschichte der „natürlichen“ Bevölkerungsentwicklung, sondern auch die der Wanderungsprozesse in den Blick genommen werden. 11.2.2 Wanderungsprozesse
Verschiedene Formen von Wanderungen mit zum Teil erheblichen Auswirkungen auf die Zusammensetzung der ländlichen Bevölkerung sind für den Zeitraum seit dem späten 19. Jahrhundert zu unterscheiden : die Abwanderung vom Land in die Stadt und in die Ballungsräume, die Zuwanderung von den Städten und Ballungsräumen in den ländlichen Raum, Wanderungen innerhalb der ländlichen Räume, die Staatsgrenzen überschreitende Zuwanderung. Gleichwohl alle Formen über den gesamten Untersuchungszeitraum parallel zu beobachten sind, sind doch zeitliche Konzentrationen der unterschiedlichen Wanderungsvorgänge unübersehbar. So bestimmen Abwanderungen das Bild vom späten 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, haben Staatengrenzen überschreitende Zuwan19 Ridderbusch 2008, S. 5–12. 20 Heilig 2002, S. 1–11. 21 Beetz 2007, S. 221–246.
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derungen verschiedene Konjunkturen (osteuropäische Landarbeiter im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, Heimatvertriebene und Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg, Arbeitsmigranten, politische Flüchtlinge und Aussiedler in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts) und gewinnen Stadt-Land-Wanderungen als Massenphänomen zunehmend seit den 1950/1960er Jahren an Gewicht. Wanderungsvorgänge innerhalb des ländlichen Raums stellen ohnehin ein Grundphänomen ländlicher Mobilität dar. Binnenwanderung/Abwanderung aus dem ländlichen Raum im Kaiserreich Die in der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende und sich in den 1880er/1890er Jahren stark intensivierende Binnenwanderung wird als die „größte Bevölkerungsbewegung der deutschen Geschichte“ angesehen22, eine Bewertung, die angesichts geschätzter 22–24 Millionen Menschen, die in Deutschland zwischen 1860 und 1925 ihren Heimatort verließen – andere Schätzungen gehen sogar von 60 Millionen aus – 23, gerechtfertigt ist. 1907 lebte bereits die Hälfte der deutschen Bevölkerung nicht mehr in ihrem Geburtsort, ein Drittel nicht mehr im Herkunftsstaat oder in der Herkunftsprovinz.24 Die Bewertung dieser Binnenwanderung erfuhr in der neueren Forschung einige Korrekturen. Die Konzentration der Migrationshistoriker richtete sich lange Zeit vorrangig auf die Bevölkerungsbewegungen von den ländlichen Räumen in verdichtete Räume und Städte. Die statistischen Aussagen schienen deutlich : Wenn auch die ländlichen Gemeinden angesichts des allgemeinen Bevölkerungswachstums in absoluten Zahlen nur wenig Einwohner verloren oder stagnierten, so ging doch ihr prozentualer Anteil an der Bevölkerung innerhalb von 40 Jahren von 64 auf 40% zurück.25 Der einzigartige Bevölkerungszuwachs während der Zeit des Deutschen Kaiserreichs (1871–1910 : Steigerung um 58% von 41 auf 65 Millionen Einwohner) kam demnach fast ausschließlich den städtischen und industrialisierten Räumen zugute. Auch die Wanderungsrichtung scheint eindeutig zu sein : von Ost nach West. Ostdeutschland verlor von 1885 bis 1907 865.107, Mitteldeutschland 177.438 Personen der „Geburtsbevölkerung“, das ebenfalls agrarisch strukturierte Süddeutschland aber nur 38.191 Menschen.26 Insbesondere die preußischen Provinzen Ostpreußen, Westpreußen, Pommern und Posen und die beiden Mecklenburg blieben weit unter dem Reichsdurchschnitt der Bevölkerungszunahme.27 Vorrangige Ziele der Wanderung waren die Industriegebiete an Rhein und Ruhr und in Sachsen sowie Berlin und Hamburg. Neuere Untersuchungen zeigen allerdings, dass durch die Konzentration auf Wechselwirkungen zwischen Binnenwanderung, Urbanisierung und Industrialisierung in diesen 22 Köllmann 1974, S. 37. Dieser Einschätzung schließen sich Wehler 1995, S. 503, und noch 2009 Thomas Mergel, S. 380, an. 23 Henkel 42004, S. 50, Ehmer 2004, S. 19. 24 Mergel 2009, S. 382. 25 Wehler 1995, S. 513. 26 Kiesewetter 2004, S. 134. 27 Kiesewetter 1989, S. 143.
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modernisierungstheoretisch aufgeladenen Ansätzen die Bedeutung der Mobilität innerhalb der ländlichen Räume unterschätzt wurde.28 Tatsächlich bewegten sich aber viele Migranten zwischen kleineren Gemeinden und Städten, ohne je in die Großstädte zu gelangen. So wurde der größte Anteil an Zuwanderern in Städten und Gemeinden unter 20.000 Einwohnern gezählt. Angesichts der in allen Gemeindegrößen zu beobachtenden hohen Zu- und Abwanderung erscheint die gestiegene Mobilität eher als soziales denn als urbanes Phänomen.29 Auch das Bevölkerungswachstum der Städte wird mittlerweile differenzierter gesehen. Es basierte nicht in erster Linie auf Migrationsüberschüssen, die angesichts hoher Abwanderungsraten eher gering ausfielen und erst auf lange Sicht zum Städtewachstum beitrugen. Vielmehr wuchsen die Städte vor allem wegen ihrer positiven natürlichen Bevölkerungsbilanz, die auf ihre – teilweise auch migrationsbedingt – junge Einwohnerstruktur zurückzuführen ist.30 Angesichts eines deutlich höheren Anteils von Nahwanderungen und der Herkunft der meisten Stadtzuwanderer aus dem Umland lässt sich die Binnenmobilität kaum mehr auf die ausgeprägte Ost-West-Wanderung reduzieren.31 Dennoch wird die Bedeutung dieses Wanderungsstroms innerhalb des gesamten Mobilitätsgeschehens weiterhin betont. Die geschätzte Zahl von vier Millionen Menschen, die zwischen 1860 und 1910 aus den preußischen Ostprovinzen in den Westen kamen32, verdeutlicht einerseits das Gewicht dieser Migrantengruppe vor allem in der Kategorie der Fernwanderer, hilft aber auch, die Bewegung in den Kontext der allgemeinen Mobilität (mit den erwähnten Schätzzahlen zwischen 20 und 60 Millionen Wanderern) einzuordnen. Bereits in der allmählich von der Binnenwanderung als Massenbewegung abgelösten Überseewanderung des 19. Jahrhunderts brach die überwiegende Zahl der Migranten aus Nordostdeutschland auf. Das deutet darauf hin, dass die Ursachen der Wanderung eher im Ausgangs- als im Zielgebiet zu suchen sind. Bevölkerungsdruck und eine extrem polarisierte Sozial- und Grundbesitzstruktur liegen der Entwicklung im Nordosten zweifellos zugrunde. Gerade die ostelbische Landwirtschaft war seit den 1880er Jahren stark von den durch zunehmende Getreideimporte ausgelösten Preisverfall für ihre Produkte betroffen. Zudem verstärkte die Auflösung der überkommenen gutswirtschaftlichen Agrarverfassung, d. h. die angesichts von Intensivierungen und Rationalisierungen reduzierte Bereitstellung von Dauerarbeitsplätzen und das stärker saisonalisierte Arbeitsangebot, die Abwanderungsbereitschaft der zunehmend proletarisierten Landarbeiter und ehemaligen Insten.33 Wie Oliver Grant an seiner Untersuchung von 720 preußischen Landgemeinden zeigen konnte, brachte erst die Kombination einer hohen Wachstumsrate der Bevölkerung und landwirtschaftlicher Unterbeschäftigung viele Menschen dazu, ihre Provinz 28 Ehmer 2004, S. 82. 29 Hochstadt 1999, S. 131, 134, 157. 30 Hochstadt 1999, S. 136 ; Ehmer 2004, S. 83 ; Matzerath 1985, S. 305. 31 Hochstadt 1999, S. 121. 32 Ehmer 2004, S. 20. 33 Bade 2004 ; Bade 2005, S. 244–259, 388–395.
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Richtung Westen zu verlassen.34 Die Anziehungskraft der industriellen Zentren speiste sich aus der Aussicht auf übersaisonale Arbeitsplätze mit besserer Bezahlung. Welche Rolle die in der Literatur genannten „sozial-psychologischen“ Motive spielten, ist schwerer zu erfassen als die quantitativen Dimensionen. Die Mehrheit der Abwanderer war zwischen 15 und 30 Jahre alt, ledig und stammte aus den unterbäuerlichen Schichten. Die Zahl der weiblichen Migranten stand der der männlichen kaum nach.35 Die Befreiung aus den „engen rechtlichen, sozialen, ökonomischen Bindungen“ der Gutswirtschaft, die Flucht „vor der dörflichen Sozialkontrolle“, das „Vergnügungs- und Kulturangebot“ der Stadt dürften gerade für die jungen Einzelwanderer die Entscheidung bestimmt haben.36 Andererseits führte die Wanderung der jungen Männer oft nicht in die Städte, sondern in industrielle Ballungsräume mit noch kaum städtisch zu nennendem Kulturangebot, die der jungen Frauen in Dienststellungen in städtische Haushalte mit neuen Abhängigkeiten. Bereits 1924 stellte Michael Hainisch in einer seitdem viel zitierten Einschätzung fest, dass die seinerzeit heftig diskutierte „Landflucht“ weniger eine Flucht vom Land als vielmehr eine Flucht aus der Landwirtschaft gewesen sei.37 Die einfache Zuschreibung von Wanderungsverlusten und -gewinnen zwischen Land und Stadt spiegelt die Wanderungspraxis vor dem Hintergrund der allgemein hohen Mobilität nur unzureichend wider. Seit langem hat sich die Migrationsforschung von der Vorstellung gelöst, die Abwanderung wäre zielgerichtet vom Land in die Stadt verlaufen. Vielmehr geschah sie häufig in Etappen, zunächst in kleinere regionale Zentren, von dort erst in die Großstadt oder die industriellen Ballungsräume. Temporäre Rückwanderungen in Krisenzeiten und saisonbedingte oder lebenszyklisch motivierte Wanderungsbewegungen ließen nicht nur das Wanderungsvolumen, also die Summe aller Zu- und Wegzüge, in manchen Regionen und Städten auf Werte steigen, die den dauerhaften Bevölkerungsgewinn um das bis zu Zehnfache übertrafen, sondern waren auch die Grundlage für einen intensivierten Austausch zwischen Stadt und Land.38 Trotz aller Relativierungen kann die Einschätzung Jürgen Reuleckes, mehr noch als die Überseewanderung habe die sie ablösende Binnenwanderung für die ländlichen Herkunftsregionen angesichts steigenden Geburtenüberschusses, sinkender Sterblichkeit und auf lange Sicht reduzierter Arbeitsmöglichkeiten im agrarischen Sektor und im Landhandwerk eine erhebliche Entlastung bedeutet, noch geteilt werden.39 Die unter dem Eindruck der massenhaften Abwanderung landwirtschaftlicher Arbeitskräfte und der Bekämpfung der jetzt konstatierten „Leutenot“ der Landwirtschaft mit Hilfe von osteuropäischen saisonalen Arbeitskräften in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit heftig geführte Debatte über die Folgen der „Landflucht“ entbehrte letztlich der 34 Grant 2005, S. 161, 249 f. 35 Bade 2004, S. 102 ; Ehmer 2004, S. 21 ; Grant 2005, S. 78. 36 Wehler 1995, S. 509 ; Henkel 42004, S. 52 ; Kiesewetter 1989, S. 136. 37 Hainisch 1924, S. 34. 38 Wehler 1995, S. 508–510 ; Beetz 2004, S. 33. 39 Reulecke, 1985, S. 72.
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empirischen Grundlage. Zwar war tatsächlich in überwiegend landwirtschaftlich ausgerichteten Regionen zeitweise ein Bevölkerungsrückgang zu verzeichnen. 1895–1900 etwa hatten 272 von 280 preußischen Kreisen mit überwiegend agrarischer Bevölkerung z. T. erhebliche Wanderungsverluste. Aber im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts war in keinem preußischen Regierungsbezirk ein tatsächlicher Bevölkerungsverlust zu beobachten.40 Letztlich ist in der Binnenwanderung der entscheidende Faktor für den Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft zu erkennen. Innerhalb weniger Jahrzehnte war aus einer agrarwirtschaftlich dominierten Gesellschaft eine „hochurbanisierte, hochmobile Bevölkerung“ hervorgegangen.41 Dabei können die Agrargebiete Nordostdeutschlands nicht nur als Verlierer der Entwicklung angesehen werden, trug doch ihr Bevölkerungsüberschuss maßgeblich zu Wachstum in anderen Regionen bei, das in der Folge auch zu Lohnsteigerungen in der Landwirtschaft führte.42 Neueren Forschungen zufolge hatte die Zuwanderung in die Städte bereits vor 1900 ihren Höchststand erreicht. Bereits nach der Jahrhundertwende war ein allgemeiner Rückgang der Mobilität zu verzeichnen, der sich nach einer nachkriegsbedingten Wanderungsspitze 1918/19 in den zwanziger Jahren beschleunigte.43 Andererseits stiegen die Zuwanderungsraten in ländlichen Gebieten auf Werte, die teilweise über denen der Großstädte lagen. Ursächlich hierfür dürften der Rückgang der saisonalen Arbeit in der Landwirtschaft und in der Industrie, wodurch temporäre Wanderungen überflüssig wurden, und eine wachsende Pendelmobilität, die den Abwanderungszwang in die Industriezentren verminderte, gewesen sein.44 Weitere Abwanderung in der Weimarer Zeit und in der NS-Zeit Gerade in der krisengeschüttelten Weimarer Zeit traten die konjunkturbedingten Wanderungs- und Rückwanderungsbewegungen deutlich zutage. So war in Westfalen die Rückkehr auf das Land in der Inflationszeit zu beobachten, der eine Abwanderungswelle nach 1924 und eine erneute Rückwanderung in den Jahren der Weltwirtschaftskrise folgten. Die höheren Löhne in der Industrie verleiteten allerdings vor allem weibliche Gesindepersonen zum Verlassen der Landwirtschaft, was auch durch staatlich initiierten Siedlungsund Wohnungsbau für Landarbeiter nicht verhindert werden konnte.45 Auch die erneute Massenabwanderung von Landarbeitern und Landarbeiterinnen, die zwischen 1933 und 1938 zum Verlust von sieben- bis achthunderttausend landwirtschaftlichen Arbeitskräften führte, ist durch das Lohngefälle zwischen landwirtschaftlicher und industrieller Arbeit zu erklären. Da jetzt aber vorrangig Rüstungsfirmen, die oft auf dem Land angesiedelt waren, 40 Matzerath 1985, S. 11, 304. 41 Wehler 1995, S. 513. 42 Kiesewetter 1989, S. 169. 43 Bade 2004, S. 102 ; Hochstadt 1999, S. 119, 125 ; Ehmer 2004, S. 21 f. 44 Hochstadt 1999, S. 230–238 ; Beetz 2004, S. 174. 45 Theine 1991, S. 343–353.
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die Arbeitsplätze schufen, lässt sich diese Abwanderungswelle entgegen der nationalsozialistischen Propaganda nur bedingt als „Landflucht“ bezeichnen.46 Veränderte Mobilität in der Nachkriegszeit In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sank die Migrationsrate – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – in beiden deutschen Staaten auf ein sehr geringes Niveau herab.47 Dabei überwog bis in die siebziger Jahre die Wanderungsrichtung von den ländlichen Regionen in die verdichteten Gebiete, weswegen die drei Nachkriegsjahrzehnte zum einen als Endphase der Land-Stadt-Bewegung seit dem späten 19. Jahrhundert verstanden werden können, andererseits aber dennoch deutliche Unterschiede zur Vorkriegsmobilität zu konstatieren sind. Für die Bundesrepublik ist das Wanderungsverhalten am Beispiel baden-württembergischer Regionen erforscht. Vor allem in den peripheren Regionen blieb die Abwanderung bis weit in die siebziger Jahre eine häufig genutzte Option. Seit der Mitte der sechziger Jahre fand ein Wandel der sozialen Zusammensetzung der Abwandernden und ihrer Motive statt. Während in zwei Ortenaugemeinden bis 1965 Arbeiter und einfache Angestellte und Beamte überdurchschnittlich abwanderten, konnten sie nach 1965 aufgrund der zunehmenden Motorisierung eher ihren Wohnort beibehalten.48 Die Abwanderung wurde also bis dahin vor allem von wenig qualifizierten Arbeitskräften, die in der Landwirtschaft nicht mehr benötigt wurden, praktiziert, stand also letztlich in einer Kontinuitätslinie zur Binnenwanderung des 19. Jahrhunderts. Eine Untersuchung der Hohenlohe-Tauber-Region und des Donau-AlbKreises in den siebziger Jahren zeigt, dass nun eher der Wunsch nach höherer Qualifikation oder nach einer der Ausbildung entsprechenden Position ausschlaggebend für die Wanderungsentscheidung wurde. Weiterhin verließen vor allem die 18–30-Jährigen die Dörfer. Neben dem Interesse an einer qualifizierten Ausbildung und an beruflichem Fortkommen dürfte bei dieser Altersgruppe aber auch der Wunsch nach Emanzipation vom dörflichen Umfeld mit ausschlaggebend gewesen sein. Ein deutlicher Zusammenhang besteht zwischen der Abwanderung und dem Ausbildungsstand : Mehr als die Hälfte der Abwandernden, aber nur knapp ein Zehntel der Wohnbevölkerung, verfügte über eine höhere Schulbildung. Arbeiter waren dementsprechend weniger mobil als Angestellte, Beamte, Lehrlinge und Studenten. Das ist allerdings auch mit der stärkeren sozialen Einbindung dieser Gruppe innerhalb ihrer Dörfer, ihrem Grund- und Hausbesitz und ihrem häufig ausgeübten landwirtschaftlichen Nebenerwerb zu erklären.49 Die Abwanderung ist also nun nicht mehr vorrangig als Abkehr von der Landwirtschaft, sondern tatsächlich als, manchmal auch nur lebenszyklische Abkehr vom Ausbildungs- und Berufschancen einengenden Land zu verstehen. 46 Meier-Kaienburg 1992, S. 86–88 ; Münkel 1996, S. 337 f. 47 Ehmer 2004, S. 84. 48 Schultz 1982, S. 273–278. 49 Dobberkau 1980, S. 113–211.
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Die Binnenmigration in der DDR, die sich in den fünfziger Jahren noch auf einem der bundesrepublikanischen Entwicklung vergleichbaren Ausmaß bewegt hatte, sank in den siebziger und achtziger Jahren auf etwa die Hälfte der westdeutschen Werte zurück.50 Dennoch verließen zwischen 1961 und 1989 904.000 Menschen, den ländlichen Raum, 92% davon im Zuge der Binnenwanderung. Stärker als im Westen ist diese Entwicklung auf politische Entscheidungen zurückzuführen. Während in den fünfziger und sechziger Jahren die beschleunigte Industrialisierung das Motiv für die Abwanderung in die neuen Industriestandorte lieferte, zog in den siebziger Jahren der Ausbau der Großstädte zu Verwaltungszentren mit entsprechendem Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften und verbesserter infrastruktureller Ausstattung die Menschen vom Land an. Trotz einer positiveren Bewertung des ländlichen Raums hatten in den 1980ern 84% der Landkreise der DDR Migrationsverluste zu verzeichnen.51 Die Mobilitätsrate erhöhte sich nach 1989 schlagartig. 1989/90 verließen eine halbe Million Menschen die DDR Richtung Westen. Am Beispiel Süd-Brandenburgs kann gezeigt werden, dass diese Bewegung eher von den Großstädten als vom Land ausging. Auch die verstärkt stattfindenden Binnenwanderungen hatten nur in einem Drittel der Fälle Städte als Ziel.52 Konnte in dieser Region in der Mitte der neunziger Jahre sogar ein positives Wanderungssaldo festgestellt werden, leiden vor allem die ländlichen Räume mit geringer Bevölkerungsdichte an der Abwanderung überwiegend junger Bewohner vornehmlich in Richtung westdeutscher Agglomerationsgebiete. Zuwanderung auf das Land : Saisonarbeiter im Kaiserreich Insbesondere Steve Hochstadt hat in seinen Untersuchungen darauf hingewiesen, dass Zuwanderungen in ländlich geprägte Regionen nicht unterschätzt werden sollten. Allerdings ist im Gegensatz zu den Städten die Zuwanderungsrate in den ländlichen Räumen vor der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts statistisch kaum fassbar.53 Nicht zuletzt deswegen ist die Zuwanderungsgeschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts lediglich für eine Gruppe von Migranten gut aufgearbeitet : die der vorwiegend aus Russisch-Polen und Galizien stammenden Saisonarbeiter in den preußischen Ostprovinzen.54 Nicht nur ihre Quantität – in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wurden rund 400.000 dieser Arbeiter erfasst, ihre Dunkelziffer dürfte allerdings deutlich höher sein –, sondern auch die durch sie entfachten innen- und wirtschaftspolitischen Diskussionen machten diese Wanderungswelle bereits zeitgenössisch zu einem publizistisch und wissenschaftlich intensiv behandelten Thema. Zur Bekämpfung des durch Aus- und Binnenwanderung 50 Ehmer 2004, S. 85. 51 Beetz 2004, S. 14, 17. 52 Beetz 2004, S. 62. 53 Hochstadt 1999, S. 127, 133. 54 Bade 2004, S. 144–158 ; Herbert 2003, S. 59–84.
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entstandenen Arbeitskräftemangels, der so genannten „Leutenot“, bei gleichzeitiger Intensivierung der Anbaumethoden hatten ostdeutsche Gutsbesitzer in den 1880er Jahren mit der Anwerbung ausländischer Landarbeiter begonnen. Aus politischen Gründen, der Angst vor der „Polonisierung“, wurden 1885 von der preußischen Regierung die Ausweisung der polnischen und galizischen Arbeiter und ein Zuwanderverbot beschlossen, das nach Protesten aus der Landwirtschaft ab 1890 zumindest in Teilen wieder zurückgenommen wurde. So durften nur unverheiratete Arbeitskräfte für die Sommerzeit angestellt werden. Bis 1914 wurde die ausländische Saisonarbeit weiterhin sehr restriktiv gehandhabt. Gleichwohl nur ein Drittel der in Deutschland arbeitenden Ausländer in der Landwirtschaft beschäftigt war, spitzte sich der politische Diskurs trotzdem auf den agrarischen Sektor zu. Insbesondere die Frage, inwieweit die ausländischen Arbeiter Einheimische aus dem landwirtschaftlichen Arbeitsmarkt verdrängten, denen dann nur die Abwanderung in die Industriegebiete des Westens übrig blieb, wurde – mitangestoßen durch Max Weber – erhitzt diskutiert. Mittlerweile gilt als sicher, dass die Zuwanderung Folge, nicht Ursache der Abwanderung war. Allerdings wurde durch das große Angebot ausländischer Arbeitskräfte der Übergang zu einer gerade im Bereich des Hackfruchtbaus saisonal sehr arbeitsintensiven Landwirtschaft beschleunigt, was sich negativ auf die Beschäftigungssituation der ganzjährig angestellten Landarbeiter auswirkte, so dass industrielle Arbeitsmöglichkeiten im Westen noch stärkere Anziehungskraft entwickelten.55 Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der ausländischen Saisonarbeiter müssen selbst gegenüber der bereits schlechten Situation der einheimischen Landarbeiter als sehr schwierig eingeschätzt werden. Insbesondere die miserablen Wohnverhältnisse, körperliche Misshandlungen, starke Abhängigkeit von Vorarbeitern und Vermittlern, sehr restriktive und Missbrauch durch Vorarbeiter und Gutsherren begünstigende Legitimationssysteme und eine rigorose Ausweisungspraxis nach Ablauf der Saison, die eine dauerhafte Zuwanderung selbst im Fall von Eheschließungen mit deutschen Partnern verhinderte, charakterisierten in vielen Fällen ihren Alltag.56 Kriegsgefangene, ausländische Arbeiter und Zwangsarbeiter seit dem Ersten Weltkrieg Nicht nur mehr oder weniger freiwillige, sondern auch erzwungene Mobilität gehört in diesen Themenzusammenhang. Insofern stellt der Erste Weltkrieg einen wichtigen Einschnitt in der Migrationsgeschichte dar. Zum einen ist die große Zahl der in der Landwirtschaft beschäftigten Kriegsgefangenen zu nennen. Waren im Frühjahr 1915 erst 27.000 Kriegsgefangene in preußischen landwirtschaftlichen Betrieben eingesetzt, so steigerte sich ihre Zahl bis zum Herbst auf 330.000, ein Jahr später waren es bereits 670.000, am Ende des Krieges 936.000. Drei Viertel der in der Agrarwirtschaft arbeitenden Gefangenen waren einzeln und ohne Bewachung auf den Höfen verteilt, wodurch sich ein enger 55 Bade 2004, S. 154–158. 56 Herbert 2003, S. 39–42.
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Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung entwickeln konnte. Wegen des Repatriierungsverbots blieben nach Kriegsende zunächst 300.000 russische Kriegsgefangene in der Landwirtschaft, in der sie wegen der Abwanderung vieler ausländischer Landarbeiter und einer geringen Zuwanderungsquote dringend gebraucht wurden. Etwa 20.000 von ihnen blieben dauerhaft in Deutschland. 57 Als zweite Gruppe der unter Zwang arbeitenden Personen sind die zivilen Arbeitskräfte anzusehen. Die etwa 300.000 Saisonarbeiter aus Russisch-Polen, die sich bei Kriegsausbruch in den preußischen Ostprovinzen befanden, wurden an der Ausreise in ihre Heimat gehindert, der Rückkehrzwang somit in ein Rückkehrverbot umgewandelt. Weitere 500.000–600.000 Arbeitskräfte wurden in den besetzten polnischen Gebieten rekrutiert, wobei die Grenzen zwischen freiwilliger und erzwungener Anwerbung fließend waren. Die schlechten Arbeitsbedingungen und die Fortsetzung der bereits in der Vorkriegszeit sehr restriktiven Politik ließen viele von ihnen flüchten oder nach November 1918 freiwillig das Land verlassen.58 Die Pläne, ausländische Landarbeiter durch arbeitslose Industriearbeiter zu ersetzen, erwiesen sich nach Kriegsende schnell als unrealistisch. Weder waren Arbeiter in größerer Zahl zur landwirtschaftlichen Arbeit zu gewinnen noch wollten die Betriebe die mit einer dann als nötig erachteten Verbesserung der Wohn- und Arbeitsbedingungen verbundenen Mehrkosten tragen. 1919 wurde daher nach Interventionen der landwirtschaftlichen Interessensverbände die Anwerbung von 50.000 Arbeitskräften aus Polen zugelassen. Das langfristige Ziel, den Anteil der ausländischen Arbeiter abzusenken, wurde in der Weimarer Zeit dennoch erreicht. Eine striktere Gesetzgebung, die einerseits das „Inländerprimat“ für Dauerarbeitskräfte einführte, Kontingentierungen durchsetzte, andererseits aber auch die Stellung der polnischen Arbeiter verbesserte, und die krisengeschüttelte Wirtschaftslage ließen die Zahl der jährlich zuwandernden Arbeiter stark schwanken. 1932 wurde mit 103.000 Personen der Tiefststand an ausländischen Beschäftigten im Reich gemessen, unter ihnen nur noch 3000 landwirtschaftliche Saisonarbeiter.59 Die Abwanderung von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft infolge der Rüstungskonjunktur führte zur verstärkten Nachfrage nach ausländischen Arbeitern für den Agrarsektor, so dass das Kontingent polnischer Landarbeiter, das trotz ideologischer und wirtschaftspolitischer Vorbehalte ab 1936 mit der polnischen Regierung vereinbart wurde, von 10.000 im Jahr 1937 auf 90.000 im Jahr 1939 hochschnellte.60 Hinzu kamen eine hohe Dunkelziffer illegal Einreisender und bis 1939 über 70.000 aus anderen Ländern stammende Arbeitskräfte.61 57 Oltmer 2005, S. 272–307. 58 Oltmer 2005, S. 329 ; Herbert 2003, S. 86–98. 59 Oltmer 2005, S. 419–484 ; Herbert 2003, S. 118–123. 60 Das Folgende nach Herbert 2003, S. 130–147. 61 Herbert 2003, S. 124 f.
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Der bereits seit 1937 geplante Einsatz von Zwangsarbeitern in der Landwirtschaft wurde nach Kriegsbeginn sofort realisiert. Schon Anfang 1940 arbeiteten 90% der 300.000 polnischen Kriegsgefangenen in landwirtschaftlichen Betrieben. Angesichts des Arbeitskräftemangels wurde im Januar 1940 der Einsatz einer Million polnischer Arbeiter in Deutschland geplant, von denen 750.000 in der Landwirtschaft arbeiten sollten. Der Frauenanteil sollte mindestens 50% ausmachen. Die Rekrutierung einer solchen Anzahl von Arbeitskräften war nur auf repressiver Basis durch Zwangsverpflichtungen im besetzten Polen möglich. Bereits im Land arbeitende Ausländer wurden nach Ablauf ihres Arbeitsvertrags nicht mehr in die Heimatländer entlassen, so dass auch hier von einem fließenden Übergang zur Zwangsarbeit gesprochen werden kann. Den ideologischen Bedenken gegen einen massiven Ausländereinsatz in der deutschen Wirtschaft wurde durch strenge Reglementierung der Arbeitskräfte – etwa Lagerzwang oder zumindest von deutschen Arbeitskräften getrennte Unterbringung, Kennzeichnung der Ausländer durch Aufschrift auf der Kleidung, Kontaktverbot außerhalb der Arbeit – Rechnung getragen. Noch rigoroser wurden die rassistisch motivierten Verhaltensvorschriften gegenüber den auf Grundlage der „Ostarbeitererlasse“ vom Februar 1942 zwangsrekrutierten russischen Zivilarbeitern und den russischen Kriegsgefangenen durchgesetzt. Bis zum Kriegsende wurde der Anteil der ausländischen Arbeitskräfte bis auf fast die Hälfte aller in der Landwirtschaft beschäftigten Personen gesteigert. Ein Drittel der 7,6 Millionen Ausländer arbeitete im Sommer 1944 im Agrarsektor, zusätzlich ist von einer großen Anzahl von Auslandsarbeitern in ländlich gelegenen Gewerbe- und Industriebetrieben auszugehen. Mehr und intensiver als in allen vorherigen Wellen der Ausländerbeschäftigung waren die Bewohner der ländlichen Räume mit Menschen aus dem Ausland konfrontiert. Insbesondere an den Standorten von Rüstungsindustrien überschritt ihr Anteil an der Bevölkerung die 50%.62 Während hier angesichts der Lagerunterbringung der ausländischen Arbeiter nur wenige Berührungsmöglichkeiten mit der einheimischen Bevölkerung bestanden, war der Kontakt im landwirtschaftlichen Bereich, insbesondere in kleinen und mittleren Betrieben, in denen Fremdarbeiter neben den betriebsleitenden Frauen oft die einzigen erwachsenen Arbeitskräfte waren, nicht selten sehr eng. Das Verhaltensspektrum der landwirtschaftlichen Bevölkerung gegenüber den ausländischen Arbeitskräften konnte sehr weit gefächert sein. Gleichwohl ein die Arbeitsbeziehungen überschreitender Umgang verboten war, sind unzählige Fälle überliefert, in denen die Vorschriften, etwa das Verbot, gemeinsam zu essen, missachtet wurden. Andererseits wurden auch die Möglichkeiten der Disziplinierung, bis hin zu Denunziationen, von den Betriebsleitern genutzt.63 Grundsätzlich in Frage gestellt wurde das Zwangsarbeitssystem kaum. Eher herrschte die Überzeugung vor, ein angesichts des kriegsbedingten Ausfalls von Arbeitskräften legitimes Angebot in Anspruch zu nehmen, 62 Woock 2004, S. 99. 63 Beispiele in : Grossmann 1986, S. 481–522 ; Hornung/Langthaler 2004, S. 13–40 ; Münkel 1996, S. 392–420.
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Abb. 18 : Junge Frauen im Arbeitsdienst im Umland von Berlin 1934.
dessen Zwangscharakter auch lange nach Kriegsende gerade vor dem Hintergrund eventuell humanerer Verhaltensweisen kaum reflektiert wurde. Tatsächlich waren im Vergleich mit anderen Sektoren die Lebensbedingungen und Überlebenschancen der Zwangsarbeiter in der Agrarwirtschaft aufgrund der besseren Lebensmittelversorgung und der häufig besseren Behandlung durch die Arbeitgeber meist deutlich günstiger.64 Junge dienstverpflichtete Deutsche stellten ein weiteres quantitativ nicht zu unterschätzendes Potenzial zur Abmilderung des durch Abwanderung oder Einberufung zum Militärdienst entstandenen Arbeitskräftemangels dar. Vor allem der ursprünglich nicht vorrangig für den Einsatz in der Landwirtschaft konzipierte Reichsarbeitsdienst und der zunächst freiwillige, 1938 in ein Pflichtjahr umgewandelte Arbeitsdienst für Mädchen und junge Frauen brachten seit den späten dreißiger Jahren mehrere hunderttausend junge Menschen zumindest temporär in engen Kontakt mit der landwirtschaftlichen Bevölkerung und trugen so neben der weit größeren Anzahl ausländischer Zwangsarbeiter zum Wandel der Personenkonstellationen innerhalb der ländlichen Gesellschaft bei.65 64 Herbert 2003, S. 155. 65 Schneider 1999, S. 308–322 ; Meier-Kaienburg 1992, S. 87 f.; Patel 2003, S. 352–363 ; Wunder 2004, S. 118–122.
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Die angesichts abwesender Söhne und Ehemänner und durch die Präsenz von Kriegsgefangenen, Fremdarbeitern und Dienstverpflichteten, nicht zuletzt auch durch den Wegzug oder die Deportationen jüdischer Familien und Einzelpersonen bereits alltäglich wahrnehmbaren Veränderungen im ländlichen Zusammenleben wurden durch die Aufnahme von Evakuierten und Flüchtlingen in den Kriegsjahren noch deutlich beschleunigt. Fast acht Millionen Evakuierte und eine halbe Million durch Verlagerungen von Industriebetrieben „umquartierte“ Personen wurden im November 1944 im gesamten Reichsgebiet gezählt. Nahezu jeder Haushalt außerhalb der städtisch-verdichteten Regionen musste eine evakuierte Person aufnehmen.66 Das bedeutete angesichts des städtischen Hintergrunds der weitaus meisten Evakuierten ein bis dahin in dieser Quantität nicht gekanntes Zusammentreffen städtischer und ländlicher Lebensstile mit den in der Ausnahmesituation des Krieges erwartbaren Problemen und Auseinandersetzungen. Darüber hinaus sorgten auch soziale und „landsmannschaftliche“ Differenzen für Konflikte.67 Vertriebene und Flüchtlinge in der Nachkriegszeit Die 14 Millionen in den Nachkriegsjahren aus ihren ostdeutschen und osteuropäischen Herkunftsregionen vertriebenen und fliehenden Menschen wurden wegen der verglichen mit der Lage in den Städten deutlich besseren Wohn- und Versorgungssituation vor allem in den ländlichen Gebieten untergebracht. Diese erzwungene Bevölkerungsbewegung führte zum nachhaltigsten Zuwachs der ländlichen Gesellschaft im 20. Jahrhundert. Die Einwohnerschaft des ländlich geprägten Schleswig-Holstein stieg innerhalb weniger Jahre um 73,1%, die von Niedersachsen um 51,9% und die von Bayern um 32,7% an.68 Auch die 4,4 Millionen Vertriebenen, die als „Umsiedler“ in der Sowjetischen Besatzungszone lebten, wurden überwiegend auf die – im Vergleich mit dem Westen teilweise wesentlich stärker von Kriegszerstörungen betroffenen – Dörfer verteilt. Dementsprechend stark veränderte sich die Zusammensetzung der Landbevölkerung. So waren 1947 38,9% der Einwohner Brandenburgs und 18,4% der Einwohner Bayerns Vertriebene. Bis zu ein Drittel der Einwohnerschaft vieler Dörfer stammte aus den Vertreibungsgebieten, mancherorts erreichten die Ortsfremden mit den in der ersten Nachkriegszeit noch in den Dörfern lebenden Evakuierten und Fremdarbeitern Anteile von über 50%.69 Die Fluktuation der Vertriebenen war hoch : In der oberbayrischen Gemeinde Holzhausen etwa wanderten zwischen 1946 und 1949 208 Evakuierte und Flüchtlinge ab und 199 zu, im fränkischen Mosbach zogen bis 1948 108 der 239 Flüchtlinge wieder weg, 90 der 750 Vertriebenen verließen zwischen August 1949 und Oktober 1950 das westfälische Dorf Ottmarsbocholt.70 Die Analyse 66 Klee 1999, S. 175, 179. 67 Krause 2003, S. 214 f. 68 Kossert 2008, S. 33. 69 Erker 1988, S. 369, 379 ; Bauerkämper 1996, S. 72. 70 Erker 1988, S. 385 ; Erker 1988 (b), S. 26 ; Exner 1997, S. 34.
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der Abwanderungsbewegungen in Mosbach zeigt, dass etwa ein Drittel der Flüchtlinge maximal nur zwei Jahre, ein Drittel zwei bis vier Jahre und ein Drittel langfristig in der Gemeinde blieb.71 Das dürfte in vielen anderen ländlichen Gemeinden ähnlich gewesen sein. In den Dörfern stießen die Ankommenden häufig auf offene Ablehnung. Nach den Kriegsgefangenen, Fremdarbeitern und Evakuierten wurden sie vielerorts als eine weitere Gruppe von Fremden72 und als Konkurrenten im Kampf um knappe oder als knapp empfundene Ressourcen wahrgenommen. Der traumatischen Erfahrung der Vertreibung folgte der „Schock der Ankunftserfahrung“.73 Insbesondere die oft durch Zwangszuweisungen organisierte Unterbringung der Flüchtlinge in den Wohnhäusern der eingesessenen Bevölkerung und das damit verbundene enge Zusammenleben sorgten für massive Konflikte. Aufgrund der Baustruktur vieler Bauernhäuser war eine Abtrennung der Wohnbereiche kaum möglich, so dass die Bereitstellung eines einzigen Zimmers für mehrere Personen bei gemeinsamer Nutzung der Küche und Sanitäreinrichtungen mit der eingesessenen Familie oder kaum für menschliche Wohnzwecke geeigneter, vordem als Ställe oder Schuppen genutzter Räume eher die Regel als die Ausnahme war.74 Mentalitätsunterschiede aufgrund des mehrheitlich städtisch-gewerblichen Hintergrunds vieler Flüchtlinge, kulturelle, konfessionelle und sprachliche Differenzen sowie unterschiedliche Erwartungen auf beiden Seiten erschwerten die Integration, an der auch viele Vertriebene aufgrund ihrer Hoffnung, in die Heimat zurückkehren zu können, nicht vorrangig interessiert waren. Erst seit dem Ende der vierziger Jahre und in den Aufschwungjahren nach 1950 entspannte sich das Verhältnis, als, nachdem die Rückkehrhoffnungen weitgehend aufgegeben worden waren, die Wohnungssituation durch Neubauten verbessert wurde, viele der eher an städtischen Lebensformen orientierten Vertriebenen die Dörfer wieder verlassen hatten und die wirtschaftliche Lage der Flüchtlinge insgesamt stabiler wurde. Ein Anzeichen dafür ist das gemeinsame Engagement in Vereinen, das nach einer Phase, in der Flüchtlinge in eigenen Vereinen unter sich blieben – so gehörten in Bayern noch 1950 nur 7,3% der Vertriebenen ostsansässigen Vereinen an75 –, eine Annäherung der beiden Bevölkerungsgruppen förderte. Dass sich vor allem Sportvereine den Fremden öffneten, während Traditionsvereine teilweise auch aus konfessionellen Gründen noch in Abwehrhaltung verharrten, hat Peter Exner für einige westfälische Gemeinden nachgewiesen.76 Wie auch am Beispiel der Sportvereine gut erkennbar, scheint die Integrationsbereitschaft der jüngeren Generationen auf beiden Seiten größer gewesen zu sein. Übernahmen die zugezogenen Jugendlichen schneller die örtlichen Lebensgewohnheiten, so war die ansässige Dorfjugend auch eher bereit, städtisch geprägte Verhaltensweisen der Flüchtlinge zu adaptieren.77 71 Erker 1988 (b), S. 26. 72 Erker 1988, S. 379. 73 Schwartz 2004, S. 626. 74 Wagner 1986, S. 410. 75 Erker 1988 (b), S. 41. 76 Exner 1999, S. 83 f. 77 Erker 1988, S. 409.
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Die zunehmende Integrationsbereitschaft auf beiden Seiten ist zudem am Heiratsverhalten zu bemessen. So stieg in Bayern der Anteil der „Mischehen“ an allen Eheschließungen von 17,2% im Jahr 1948 auf 24,8% 1952.78 Die Beobachtung, dass Verbindungen zwischen Flüchtlingen und Einheimischen vor allem in gewerblich-industriell geprägten Landgemeinden und deutlich weniger in mehr agrarisch geprägten Gemeinden eingegangen wurden, lässt sich am Beispiel der westfälischen Gewerbegemeinde Rödinghausen bestätigen, die ebenfalls einen deutlich höheren Prozentsatz an gemischten Eheschließungen aufweist, oder am seltenen Vorkommen von Mischehen im schleswig-holsteinischen Dithmarschen.79 Dass noch bis weit in die fünfziger und frühen sechziger Jahre Vorbehalte existierten, lässt sich auch an Details zeigen. So wurde das in einigen schwäbischen Dörfern übliche Duzen gegenüber den Vertriebenen nicht praktiziert.80 Erst gegen 1960 verzichteten Vertriebene auf das Fremdheitsempfinden artikulierende Formulierungen auf Grabsteinen („Hier ruht fern der Heimat“).81 Besonders kritisch wurde die Bautätigkeit der „Neubürger“ verfolgt, die zwar die hoch konfliktive Wohnsituation entspannte, andererseits aber zu Neidgefühlen und offener Missbilligung der staatlichen Hilfsangebote für Flüchtlinge, auf lange Sicht aber auch zu Anerkennung für deren Leistungen führte.82 Integrationserschwerend war zudem, dass nur eine Minderheit der Vertriebenen aus ländlich-agrarischen Verhältnissen stammte. Der Erwartung, ihren Quartiergebern bei der landwirtschaftlichen Arbeit gegen geringe Bezahlung oder Naturallohn zu helfen, kamen sie daher oft nur in den ersten Jahren entgegen. 1949 arbeiteten nur noch 15% der Flüchtlinge in Bayern in den agrarischen Betrieben mit.83 Stattdessen versuchten viele, eine selbstständige Existenz aufzubauen, als Dienstleister mit wenig Kapitalbedarf (Friseure, Schuhmacher, Fuhrunternehmer etc.) oder durch die Gründung von Betrieben, die sich teilweise noch auf altes Personal und einen Kundenstamm stützen konnten. Nur wenige Flüchtlingsbetriebe waren allerdings auf längere Sicht zukunftsfähig.84 Vertriebene Landwirte konnten nur sehr selten wieder in ihren alten Beruf zurückkehren. Trotz staatlicher Hilfe in den westlichen Besatzungszonen gelang es nur einer Minderheit, zu Land zu kommen. Bis 1951 konnten sich in Bayern nur 2800 Flüchtlingsbauernhöfe etablieren, zum größten Teil kaum überlebensfähige Klein- und Kleinstbetriebe.85 In den von Peter Exner untersuchten westfälischen Gemeinden gelang es nur fünf Prozent der geflüchteten Landwirte, sich eine vollbäuerliche Existenz aufzubauen.86 Auch in der SBZ, in der die Enteignung des Großgrundbesitzes im Rahmen der Bodenreform 1945 mit der Notwen78 Erker 1988, S. 401 f. 79 Erker 1988, S. 402 ; Exner 1997, S. 338 f.; Majewski/Walther 1996, S. 43. 80 Haug 2002, S. 62–87, S. 66. 81 Naumann 2002, S. 109. 82 Humm 1999, S. 67 ; Pelters 1998, S. 142. 83 Erker 1988, S. 390. 84 Erker 1988 (b), S. 75–82 ; Wagner 1986, S. 412. 85 Erker 1988 (b), S. 85. 86 Exner, Ländliche Gesellschaft, S. 135.
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digkeit, den „Umsiedlern“ Land zur Verfügung zu stellen, gerechtfertigt worden war, erhielten nur zwei Prozent der Vertriebenen die Chance, eine „Neubauernstelle“ zu besetzen. Lediglich in Mecklenburg-Vorpommern konnten Vertriebene überdurchschnittlich von der Bodenreform profitieren. Die wirtschaftliche Schwäche vieler Neubauernbetriebe war durch die gängige Praxis der Eingesessenen, den Flüchtlingen die schlechtesten Böden und Höfe ohne Inventar und Viehbestand zu überlassen, bedingt.87 Der weitaus größte Teil der in der Landwirtschaft beschäftigten Vertriebenen in der SBZ war vor der Kollektivierung als Landarbeiter tätig.88 Der großen Mehrheit der Vertriebenen gelang die wirtschaftliche Konsolidierung im sekundären und tertiären Sektor, entweder durch die Abwanderung aus den ländlichen Räumen oder als Pendler. Mit der Ankunft und der langfristigen Integration der Vertriebenen veränderte sich die ländliche Gesellschaft nachhaltig. Neben dem spürbaren Bevölkerungszuwachs sind vor allem die Auswirkungen auf die demografische, soziale und konfessionelle Situation in den Dörfern zu nennen. In vielen Gemeinden wurde der Übergang von der überwiegend agrarischen zur gewerblichen Erwerbsstruktur erst durch die Ansiedlung der Flüchtlinge vollzogen. Dementsprechend veränderte sich die Sozialstruktur, wobei die auf Grundbesitz basierende soziale Positionierung ohnehin an Bedeutung verlor, so dass der sozioökonomische Abstand zwischen Landwirten und Flüchtlingen sich innerhalb eines Jahrzehntes deutlich verringern oder sogar umkehren konnte. Durch die Lenkung der Flüchtlingsströme in den ländlichen Raum wurde „ausgerechnet den am wenigsten innovativen Sozialmilieus (…) die größte Integrationsleistung abverlangt.“89 Die dadurch in Gang gesetzten Prozesse wurden schon in den späten 1940er Jahren als Teil eines fundamentalen Umbruchs verstanden, den als „Revolution des Dorfes“ zu charakterisieren kaum übertrieben scheint.90 Zuwanderung aus den Städten : die Suburbanisierung Die Suburbanisierung ist als zweite den ländlichen Raum und die ländliche Gesellschaft grundlegend verändernde Zuwanderungsbewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verstehen. Gleichwohl dieser Prozess der „Expansion der Stadt in ihr Umland“91, der nicht nur die Dekonzentration von Bevölkerung, sondern auch von Industrie, Handel, Dienstleistungen und somit Arbeitsplätzen umfasst, seine Wurzeln bereits in der Frühen Neuzeit hatte und einen ersten Höhepunkt mit den Stadterweiterungen seit dem späten 19. Jahrhundert erlebte, gelten vor allem die 1960er und 1970er Jahre als die Jahrzehnte 87 Schwartz 2004, S. 1143–1148. 88 Schwartz 2004, S. 656. 89 Schwartz 2004, S. 637. 90 Erker 1988 (b), S. 367, 425. Erker zitiert die Bewertung der Veränderungen als „Revolution“ durch den Soziologen Ludwig Neundörfer aus dem Jahr 1948 91 Brake 2001, S. 16.
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der „klassischen Suburbanisierung“ in Westdeutschland.92 Flüchtlingssiedlungen entstanden am Rand etlicher Gemeinden in Industrienähe bereits in den fünfziger Jahren.93 Zunächst war diese Phase aber noch von einem schnellen Städtewachstum geprägt, das sich erst gegen Ende des Jahrzehnts durch den zunehmenden Abzug in die Randzonen verlangsamte. Die jetzt einsetzende Phase der Suburbanisierung, von Stadtsoziologen als einer der zentralen Trends der westeuropäischen Städteentwicklung nach 1945 bezeichnet94, wurde durch mehrere Faktoren beschleunigt : die durch Produktivitätssteigerungen und damit verbundene Lohnzuwächse ermöglichte Steigerung der Massenkaufkraft und des Konsumniveaus, der Beginn der Massenmotorisierung, politische Förderung der Randwanderung (steuerliche Förderung von Eigentumsbildung und privater Mobilität, Verkehrs- und Infrastrukturpolitik, sozialer Wohnungsbau).95 Zwischen 1950 und 1962 stieg der Anteil der westdeutschen Haushalte, die über Wohneigentum auf dem Land verfügten, bereits von 25% auf 38%.96 Die Situierung der Eigenheimgebiete im Umland der Städte war eher auf die Angebotspolitik der Umlandgemeinden als auf eine gezielte regionale Planung zurückzuführen.97 Von entscheidender Bedeutung bei der Standortwahl abwanderungswilliger städtischer Haushalte war die Verkehrsanbindung. Mit zunehmender individueller Motorisierung und dem nachfolgenden Ausbau des Straßensystems verloren die Bahnlinien, die bislang die Ausbreitungsrichtung suburbaner Siedlungen bestimmt hatten, – zunächst noch langsam – an Bedeutung. Die Verachtfachung des privaten Autobesitzes von einer halben Million im Jahr 1950 auf vier Millionen 1960 macht diese Dynamik deutlich.98 Das tägliche Pendeln zur Arbeit in der Stadt nahmen neben den Randwanderern auch zunehmend Angehörige der ländlichen Gesellschaft, die im Zuge des landwirtschaftlichen Strukturwandels neue Arbeitsmöglichkeiten suchen mussten, auf sich, was sich als eine wesentliche Annäherung der Dorfbewohner an suburbane Lebensweisen interpretieren lässt. Seit den sechziger Jahren wuchsen die Umlandgemeinden stärker als die Kernstädte, die zunehmend Bevölkerung in Richtung Peripherie verloren.99 Gegenüber der „klassischen“ Eigenheim-Suburbanisierung gewann nun auch der soziale Wohnungsbau an Gewicht, mit der Folge, dass der Anteil an Mietwohnungen insbesondere im Umland der Großstädte deutlich anstieg (bis in die siebziger Jahre teilweise auf bis zu 50%).100 Das relativiert die lange Zeit gängige These von der Randwanderung vorwiegend mittelschichtsangehöriger Haushalte. Das damit verbundene Bild der sozialen Segregation kann 92 Zusammenfassend : Kuhn 2006 ; Zimmermann 2009 ; Mahlerwein 2009, S. 13–29. 93 Für das Beispiel Baden-Württemberg : Mahlerwein 2007, S. 133 f. 94 Häussermann/Siebel 2004, S. 73. 95 Jessen 2001, S. 316 f. 96 Woyke 2008, S. 3. 97 Jessen 2001, S. 317. 98 Woyke 2008, S. 6. 99 Brake/Dangschat/Herfert 2001, S. 9. 100 Aring/Herfert 2001, S. 49.
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allerdings bezogen auf einzelne suburbane Viertel und eben nicht auf den suburbanen Raum in seiner Gesamtheit wohl aufrechterhalten werden. Zwischen der Mitte der sechziger und der der siebziger Jahre erreichte die Abwanderung aus den Städten ihren Höhepunkt. Seit der Mitte der 1970er leben – mit zunehmender Tendenz – mehr Menschen in den suburbanen Räumen als in den Kernstädten.101 In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts setzten zwei neue Tendenzen im Stadt-Umland-Verhältnis ein. Erstens nahm die Attraktivität des Umlandes auch für überregionale Wanderer zu, die nicht mehr den Umweg über die Ansiedlung in der Kernstadt machten, sondern sich direkt in den suburbanen Räumen ansiedelten („Counterurbanisierung“). Zweitens weitete sich der Radius der Wohnsuburbanisierung deutlich aus, nachdem das stadtnahe Umland bereits stark verdichtet war und somit an Anziehungskraft nicht nur wegen damit verbundener steigender Bodenpreise, sondern auch wegen der Einbuße an naturnaher Wohnqualität verlor.102 Gerade die „funktionale Anreicherung“103 des unmittelbar an die Kernstädte anschließenden suburbanen Raumes infolge der Gewerbe- und Industriesuburbanisierung, seit den siebziger Jahren auch der Dienstleistungs-Suburbanisierung (zunächst v. a. Bürogebäude), dürfte viele Randwanderer dazu veranlasst haben, den Wunsch nach dem „Leben im Grünen“ in immer weiteren Pendelentfernungen umzusetzen. In den achtziger Jahren verlief die Wohnsuburbanisierung in regional unterschiedlicher Dynamik. Während sich in Nordrhein-Westfalen eine Abschwächung abzuzeichnen schien, die möglicherweise auch mit der Krise der Montanindustrie und dementsprechend gebremster Stadtentwicklung in den betroffenen Regionen zu erklären ist104, erfuhr etwa das weitere Münchener Umland in 30 bis 60 Kilometern Entfernung zur Kernstadt einen erheblichen Bevölkerungszuwachs.105 Das politisch geplante Städtewachstum in der DDR ließ keine Suburbanisierung nach westlichem Muster zu. Stattdessen dominierten Großwohnsiedlungen in Plattenbauweise die Stadtränder, während eine begrenzte, unter Honecker leicht verstärkte Eigenheimförderung im ländlichen Raum bis 1980 zum Bau von weniger als 200.000 Privathäusern oder Doppelhaushälften führte.106 Der ab 1992/93 in den neuen Bundesländern einsetzende Suburbanisierungsschub bedeutete für die ostdeutschen Städte nach der Westwanderung 1989/90 eine zweite Welle massiven Bevölkerungsverlustes. Ursachen für die intensive „nachholende Suburbanisierung“ waren die nach der jahrzehntelangen Dominanz des staatlichen Wohnungsbaus besonders hohe Motivation, privates Wohneigentum zu erwerben, die aufgrund schlechter Bausubstanz und ungeklärter Eigentumsfragen in den Städten kaum zufriedenzustellen war, und die neuen politischen Rahmenbedingungen, insbesondere steuerliche Ab101 102 103 104 105 106
Jessen 2001, S. 321. Bleck 2005, S. 19. Aring 1999, S. 72. Bleck 2005, S. 23 ; Jessen 2001, S. 321. Kagermeier/Miosga 2001, S. 166. Jessen 2001, S. 323 f.; Zimmermann 2001, S. 340–342.
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Demografie der ländlichen Gesellschaft
schreibungsmöglichkeiten für Investoren. Getragen wurde der Bauboom einerseits von (westdeutschen) Kapitalanlegern, die mehrgeschossige Mehrfamilienhäuser zur Vermietung errichteten, und andererseits von privaten Bauherren und -frauen, die die klassische Variante – Einfamilien- und Reihenhäuser am Stadtrand – wählten. Ähnlich wie viele der Geschäftsräume und Ladenflächen der zeitgleich oder sogar noch vor der Wohnsuburbanisierung einsetzenden Gewerbe- und Dienstleistungssuburbanisierung „am Markt vorbei“ gebaut wurden, waren auch die Mietobjekte bald schon von Leerstand bedroht. Anders als in den westlichen Ländern war der Suburbanisierungs- und somit Dekonzentrationsprozess im Raum der ehemaligen DDR zeitgleich einher gegangen mit einem Prozess anhaltenden Bevölkerungsrückgangs. Die Aufhebung steuerlicher Sonderregelungen 1997/98 beendete die kurze Phase der beschleunigten Suburbanisierung.107 In den neunziger Jahren einsetzende „neue Tendenzen“ der Suburbanisierung werden seit dem Ende des Jahrzehnts in der Forschung angeregt durch die Beobachtung von drei Parallelentwicklungen verstärkt diskutiert : 1. Die Ausweitung der suburbanen Zone auf immer weiter von den Kernstädten entfernte Regionen ist als Konsequenz der bereits hohen Verdichtung der stadtnahen Umlandgemeinden, die aufgrund ihrer dementsprechend hohen Grundstückspreise nur noch geringes Wachstum oder sogar Bevölkerungsverluste in teilweise denen der Kernstädte vergleichbaren Größen aufzuweisen haben, zu sehen.108 Auch nicht an Hauptverkehrsachsen (Autobahnen, Bundesstraßen, S-Bahnhöfe) oder in den Achsenzwischenräumen liegende Gemeinden werden zum Zielgebiet. Wanderungen in mehrstufigen Wellen vom stadtnahen in das fernere Umland kennzeichnen diese Entwicklung, die durch die nun auf dem Wohnungsmarkt auftretenden Kinder der ersten Suburbanisierungsgeneration verstärkt wird.109 2. Die Rand-/Umlandwanderung nimmt an sozialer Heterogenität zu. Auch sozial schwächere und nicht-deutsche Haushalte wandern in einem deutlich höheren Maß als vorher in das Umland ab. Der Anteil der Mieter übertrifft den der Eigentumserwerber, die verstärkt Wohnungen und gebrauchte Immobilien aus der ersten Suburbanisierungsphase kaufen. Zudem ziehen mehr Ein- und Zwei-Personen-Haushalte in das Umland.110 3. Die deutlichste Veränderung findet allerdings im funktionalen Bereich statt. Mit der Suburbanisierung etlicher Funktionen gewinnt das Umland gegenüber der Kernstadt an Eigenständigkeit. Wenn nicht mehr zur Arbeit und Ausbildung in die Stadt gefahren werden muss, sondern in Wohnortnähe entsprechende Möglichkeiten wahrgenommen 107 Zusammenfassend : Emmelmann 2008, S. 5–8 ; Brake/Dangschat/Herfert 2001, S. 7–11, S. 8 ; Aring/ Herfert 2001, S. 43–45, 49 . 108 Bleck 2005, S. 23 ; Brake/Dangschat/Herfert 2001, S. 8. 109 Aring/Herfert 2001, S. 46. 110 Bleck 2005, S. 23 ; Blotevogel/Jeschke 2003, S. 21 f.
Demografische Entwicklung
werden oder Pendlerverflechtungen innerhalb der suburbanen Zone entstehen, der Freizeitwert der Umlandgemeinden durch auch für Kernstädter interessante Angebote zunimmt, Unterzentren städtische Funktionen übernehmen und Einkaufsmärkte nicht mehr nur für die Verbraucher der suburbanen Räume, sondern die gesamte Stadtregion konzipiert werden, und insgesamt die Infrastrukturkonkurrenz sich zugunsten des Umlandes verlagert, dann verliert das hierarchische Kernstadt-Umland-Verhältnis an Bedeutung.111 Die Unsicherheit der Suburbanisierungsforschung in der Bewertung dieser Entwicklung zeigt sich in den begrifflichen Anstrengungen, mit denen sich diesem neuen Raum zwischen Stadt und Land angenähert werden soll : „neue ökonomische Zentren“, „Zwischenstadt“, „Postsuburbia“, „neue spezialisierte Zonen in Suburbia“.112 Der Begriff der „Periurbanisierung“ beschreibt die Ausweitung urbaner/suburbaner Wohnformen und Lebensweisen über die engere suburbane Zone hinaus in periphere ländliche Räume.113 Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts scheint sich der Dekonzentrationsprozess abzuschwächen. Regional differenziert lassen sich rückläufige Abwanderungszahlen und zum Teil wieder vermehrter Zuzug aus dem Umland in die Zentren feststellen.114 Mitte der neunziger Jahre wurde in einer Studie zu zehn Dörfern anhand der Auswertung der Wohndauerdaten festgestellt, dass in keiner der Untersuchungsgemeinden mehr als 48% in den Dörfern Gebürtige leben. Von einer „bodenständigen ländlichen Bevölkerung“ in den Dörfern könne daher nicht mehr die Rede sein. 115 Flüchtlingszuwanderung und Suburbanisierung sind neben der Deagrarisierung als die grundlegenden Faktoren des Wandels der ländlichen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts anzusehen.
111 112 113 114 115
Brake/Dangschat/Herfert 2001, S. 7 f.; Aring 1999, S. 72–76. Aring/Herfert 2001, S. 43. Zimmermann 2006, S. 15. Grothues 2006, S. 36. Becker 1997, S. 49, 69.
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Abbildungsnachweis Abb. 1 : Liedtke, Herbert/Joachim Marcinek (Hrsg.), Physische Geographie Deutschlands, KlettPerthes, Gotha 2002, S. 274/275, mit freundlicher Genehmigung des Verfassers. Abb. 2 : Bundesarchiv Bild 183-R67154. Abb. 3 : Bundesarchiv Bild 183-18216-0)001. Abb. 4 : Bundesarchiv Bild 183-15844-0025. Abb. 5 : mit freundlicher Genehmigung von : information.medien.agrar e.V. (i.m.a). Abb. 6 : mit freundlicher Genehmigung von Herrn Dr. Michael Schimek, Museumsdorf Cloppenburg. Abb. 7 : mit freundlicher Genehmigung von Herrn Dr. Michael Schimek, Museumsdorf Cloppenburg. Abb. 8 : Bundesarchiv Bild 183-11221-0003). Abb. 9 : Bundesarchiv Bild 183-38475-0002). Abb. 10 : Landesmedienzentrum Baden-Württemberg. Abb. 11 : LWL-Medienzentrum für Westfalen. Abb. 12 : Landesmedienzentrum Baden-Württemberg. Abb. 13 : Bundesarchiv Bild 183-S83956. Abb. 14 : Bundesarchiv B 145 Bild-F001684-0001. Abb. 15 : Landesmedienzentrum Baden-Württemberg. Abb. 16 : Bundesarchiv B 145 Bild-F004601-0007. Abb. 17 : Bundesarchiv Bild 183–72095-0003. Abb. 18 : Bundesarchiv Bild 102–15674.
Register Orte
Altenweddingen 35 Arnsberg 122 Baden 21, 22, 25, 38, 40, 41, 46, 57, 72, 74, 88, 89, 90 Bayern 20, 26,, 28, 50, 87, 117, 143, 157, 164, 185, 198, 199, 200 Behrungen 22 Berlin 153, 154, 157, 188, 197 Brandenburg 26, 28, 32, 38, 39, 42, 46, 71, 72, 83, 113, 115, 193, 198 Bredentin 33 Dachau 147 Duisburg 157 Düsseldorf 49 England 45, 71, 73, 102, 158 Frankreich 106, 172 Gammelshausen 69 Göttingen 47 Gumbinnen 70, 114 Güstrow 45 Halberstadt 72 Hannover 38, 42, 46, 73, 88, 122 Hersbruck 23 Hessen 26, 28, 73 Hessen-Nassau 46, 47 Hohenzollern 46 Hunsrück 43, 70, 86, 87, 102, 113, 123, 124, 179 Kassel 22 Linswege 63 Löwendorf 68 Lüneburg 38, 50
Magdeburger Börde 14, 47, 48, 63 Malchin 45 Mannheim 88, 89, 94, 157 Mecklenburg 26, 33, 39, 45, 57, 60 f., 116, 118, 136, 137, 188 Mecklenburg-Strelitz 160 Mecklenburg-Vorpommern 28, 60, 201 Merxleben 66, 99, 144 Merzig 21, 39 Mestlin 67 Minden-Ravensberg 22, 90 Neenstetten 81 Neubrandenburg 18, 19, 99, 145 Niederbayern 49 Niedersachsen 50, 96, 97, 100, 166, 175, 198 Niederzimmern 66, 132 Nordrhein-Westfalen 26, 28, 100, 108, 203 Oberbayern 21, 23, 39, 42 Oldenburg 85, 16, 21, 22, 23, 25, 38, 39, 42, 43, 62, 63, 85, 86, 88, 90, 116, 124 Osnabrück 122 Paderborn 47 Pfalz 157 Pommern 21, 39, 46, 71, 72, 89, 115, 122, 136, 188 Posen 21, 30, 70, 85, 115, 124, 188 Preußen 30, 38, 40, 44, 46, 75, 106, 117, 143, 158, 185 Rheinland-Pfalz 26, 38 Rheinpfalz 22, 23, 39, 50, 124 Rhön 23, 39, 70 Rostock 19, 145 Rotenburg 65 Saarland 21, 26, 28, 41, 94 Sachsen 28, 31, 39, 43, 44, 46, 72, 106, 125, 137
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Register Sachsen-Anhalt 28, 32, 67, 97 Sachsen-Meiningen 22 Sachsendorf 83 Sauerland 59 Schlesien 38, 40, 46, 115 Schleswig-Holstein 26, 28, 38, 42, 46, 47, 48, 50, 88, 94, 100, 114, 115, 116,175, 198, 200 Soest 75 Stade 25, 41 Thüringen 26, 28, 32, 40, 47, 71, 72, 147, 153 Vechta 86, 90, 94, 96 Vorderpfalz 22
Wanzleben 67 Westerwald 46 Westfalen 17, 38, 40, 42, 46, 57, 59, 73, 74, 77, 79, 91, 94, 100, 106, 107, 114, 116, 125, 137, 153, 175, 191 Westfalen-Lippe 50, 107 Westpreußen 30, 39, 46, 47, 188 Womrath 22 Worin 37 Württemberg 21, 25, 40, 41, 46, 57 f., 73, 74, 88, 100, 104, 126, 160 Zeesen 77
Personen Richard Walter Darré (NS-Agrarpolitiker 1895– 1953) 147, 161, 163 Rudolf Hess (1894–1987) 147 Heinrich Himmler (1900–1945) 147 Edwin Hoernle (Agrarpolitiker, KPD, DDR, 1883–1952) 81 Erich Honecker (1912–1994) 82, 203 Hans Müller (Agrarwissenschaftler 1891–1988) 148
Maria Müller (Agrarwissenschaftlerin 1894–1969) 148 Hans-Peter Rusch (Bakteriologe 1906–1977) 148 Alwin Seifert (Landschaftsarchitekt 1890–1972) 147 Rudolf Steiner (1861–1925) 146 f. Walter Ulbricht (1893–1973) 36, 82
GRUNDZÜGE DER AGR ARGESCHICHTE (BAND 1–3) HERAUSGEGEBEN VON STEFAN BRAKENSIEK, ROLF KIESSLING, WERNER TROSSBACH UND CLEMENS ZIMMERMANN
Das vorliegende Werk erzählt in drei Bänden die Agrargeschichte vom Mittelalter bis in die Moderne neu. Es behandelt klassische wirtschaftsgeschichtliche Aspekte wie die Steigerung der Produktivität und setzt neue Akzente – etwa durch vielseitige Wechselbezüge zwischen Land- und Stadtökonomien oder durch kulturgeschichtliche Schwerpunkte. Umweltgeschichtliche Themen wie der Klimawandel und sozialgeschichtlichen Themen werden bis in die Gegenwart hinein verfolgt. BAND 1:
BAND 3:
ROLF KIESSLING, FRANK KONERSMANN,
GUNTER MAHLERWEIN
WERNER TROSSBACH
DIE MODERNE (1880–2010)
VOM SPÄTMITTELALTER BIS ZUM
2016. 230 S. 18 S/W-ABB. UND KT.
DREISSIGJÄHRIGEN KRIEG (1350–1650)
GB. | ISBN 978-3-412-22228-4
2016. 329 S. 54 S/W-ABB. UND KT. GB. | ISBN 978-3-412-22226-0
2016. 3 BDE. 804 S. 123 S/W-ABB. UND KT. GB. | ISBN 978-3-412-22225-3
BAND 2: REINER PRASS VOM DREISSIGJÄHRIGEN KRIEG BIS ZUM BEGINN DER MODERNE (1650–1880) 2016. 245 S. 51 S/W-ABB. UND KT. GB. | ISBN 978-3-412-22227-7
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