Grundriß der Kulturgeographie von Argentinien [Reprint 2021 ed.] 9783112398920, 9783112398913

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Grundriß der Kulturgeographie von Argentinien [Reprint 2021 ed.]
 9783112398920, 9783112398913

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Franz Kühn Grundriß der Kulturgeographie von Argentinien

Grundriß der Kulturgeographie von Argentinien Untersuchung eines südamerikanischen Lebensraumes nach anthropogeographischen und geopolitischen Gesichtspunkten von

Dr. Franz Kühn ehem. argentinischen Univ.-Prof

Mit 38 Abb. und 25 Karten und Plänen

Hamburg Friederichsen, de Gruyter & Co. m. b. H. 1933

Alie Kechte vorbelialten Copyright 1933 by Friederichsen, de Gruyter & Co. Reservados los derechos de reproducción y traducción.

u

Druck und Einband von J. J. Augustin in Oittckstadt und Hamburg

ERNESTO QUESADA, dem großen Argentiner, dem Soziologen und Amerikanisten, dem Freunde D e u t s c h l a n d s im 75. Jahre seines reich gesegneten Lebens verehrungsvoll gewidmet

Vorwort. Die geographisch-genetische Erfassung und Deutung derjenigen Erscheinungen und Verhältnisse in Argentinien, die der Besitzergreifung, der Erschließung und dem progressiven Schaffen seitens der Bewohner dieses Raumes ihr Bestehen verdanken, darf deshalb als eine besonders reizvolle und aufschlußreiche Aufgabe bezeichnet werden, weil es sich dabei um ein Neuland mit einer noch jungen Organisation handelt, bei deren Wechselwirkungen Probleme auftauchen, die der Kulturgeographie ein bisher fast noch gar nicht beachtetes Studienobjekt bieten. Eine solche Darstellung in Angriff zu nehmen lag mir besonders nahe als Ergänzung zu meiner physischen Landeskunde von Argentinien 1 ). Denn neben der Physiographie hatte mich natürlich auch das anthropogeographische Bild in jenem Lande gefesselt wie eine Anzahl von Abhandlungen aus den letzten 10 bis 12 Jahren zeigen2). Freilich einer Gesamtdarstellung der Kulturgeographie dieses noch unfertigen Landes stellten sich weit größere Schwierigkeiten in den Weg, als der Ausarbeitung seiner physischen Geographie, bei der man sich doch auf ein Beobachtungsmaterial von i. a. unveränderlichen Naturerscheinungen stützen kann. Hier hingegen befindet sich gar manches noch im Fluß, in erster Linie die Formung des Argentiners selbst als Rassetypus, vieles in der Wirtschaftsstruktur, dem Verkehrswesen u. a. m. Aber selbst so einfache Dinge wie Statistiken zur Demographie stehen o f t nicht zu Gebote: man muß sich vielfach mit der Tatsache abfinden, daß der letzte staatliche Zensus in Argentinien schon weit zurück liegt (1. Juni 19143) und somit fast nur noch historischen Wert hat. Zuverlässige Quellen über aktuelle statistische Feststellungen zu erschließen ist aber durchaus nicht leicht. Gegenüber solchen Schwierigkeiten wäre die Inangriffnahme eines solchen Werkes wohl gewagt gewesen, wenn nicht eine andere Erwägung dagegen in die Wagschale geworfen werden konnte: meine persönliche Kenntnis aus der Erfahrung eines Argentinien. Handbuch zur physischen Landeskunde. Breslau 1927. 2 Bände. s ) Verzeichnis am Schlüsse des Vorwortes. 3) Tercer Censo Nacional levantado el 1° de Junio de 1914. (Vgl. mein Referat in Ztschr. Ges. f. Erdk. Berlin 1919, S. 445—450).

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zwanzigjährigen Lebens im Lande selbst, wobei ich mit den verschiedensten Sphären des argentinischen Lebens und seiner Umwelt in so nahe Berührung treten konnte, wie sie einem gelegentlichen Besucher des Landes sonst wohl nicht leicht geboten werden könnte. Und so glaube ich den nötigen Überblick über die anthropogeographischen Verhältnisse Argentiniens gewonnen zu haben, um nun mit dieser Kulturgeographie das Gesamtwerk einer Monographie jenes Landes abzuschließen, in dem ich die schönsten und reichsten Jahre meines Lebens verbracht habe. Ich erfülle mit dieser Darstellung aber auch gleichsam eine moralische Verpflichtung meiner zweiten Heimat gegenüber: nämlich durch eine objektive Darstellung der kulturgeographischen Verhältnisse dieses zukunftsreichen Landes, des wichtigsten Staates von Lateinamerika, beizutragen zum Verständnis seiner Bewohner. Der Argentiner als Produkt einer rassischen, nationalen und sozialen Genesis in der besonderen Umwelt seines Landes ist ja — das darf man ruhig behaupten — der großen Mehrheit unserer Gebildeten absolut fremd, ebenso wie die Art und Weise seiner Einrichtung in dem ihm zugefallenen Lebensraum. Hier galt es also eine Lücke auszufüllen: die für das Verständnis des Kulturbildes von Argentinien grundlegenden anthropogeographischen Faktoren in Vergangenheit und Gegenwart zu analysieren und auf diesem Material fußend die Kulturgeographie des Landes so aufzubauen, daß auch der Fernerstehende einen tieferen Einblick in diese komplizierten Verhältnisse gewinnen mag. Für ein solches tieferes Eindringen in das Wesen eines uns bisher nur sehr oberflächlich bekannten Volkes ein Führer zu sein, das sehe ich als die vornehmste Aufgabe meiner hier niedergelegten Arbeit an. Möchte dieses Buch nicht nur einen Beitrag zur wissenschaftlichen Anthropogeographie darbieten, sondern möchte es auch meinen Freunden, den Argentinern, viele verständnisvolle Freunde in Deutschland erwerben! Seine Herausgabe wäre bei der heutigen Lage des wissenschaftlichen Büchermarktes unmöglich gewesen ohne finanzielle Beihilfe. Es ist mir eine angenehme Pflicht, an dieser Stelle der N o t g e m e i n s c h a f t der D e u t s c h e n W i s s e n s c h a f t , dem Verw e n d u n g s a u s s c h u ß der H ä n e l - S t i f t u n g an der U n i v e r s i t ä t Kiel und dem Kommerzienrat Dr. ing e. h. Senator F r i t z B e i n d o r f f in Hannover für die als Druckkosten-Beihilfe gespendeten Beträge meinen aufrichtigsten Dank zu sagen. Weiter aber muß ich dankbar der Firma J. J. A u g u s t i n in G l ü c k s t a d t gedenken, die mich mit Rat und Tat bei der Drucklegung aufs Beste unterstützt und keine Mühe gescheut hat, trotz VIII

knappster Mittel das Buch doch so auszustatten, wie es sich dem Leser zeigt, und dem Verlag F r i e d e r i c h s e n , de G r u y t e r & Co. gebührt das Verdienst, die Herausgabe des Buches ungeachtet einer voraussichtlich beschränkten Absatzmöglichkeit übernommen zu haben. Kiel, im September 1933. Franz Kühn.

V o r b e r e i t e n d e E i n z e l s t u d i e n des V e r f a s s e r s 1914—1933. 1. Buenos Aires. Eine siedlungskundliche Studie. Mitt. Deutsch-Siidamerik. Inst. 1914, S. 267—287 Aachen. 2. Die patagonischen Häfen Argentiniens. Ztschr. Deutsch. Wiss. Ver. Buenos Aires, 1915. 3. Das argentinische Zensuswerk von 1914. Ebenda, 1918, S. 293ff. 4. Die atlantische Küstenschiffahrt Patagoniens. Mitt. Deutsch-Südamerik. u. Iber. Inst. Köln, 1920, S. 39—48. 5. Daten zur Wirtschaftsgeographie Argentiniens. Weltwirtsch. Arch. XVII, 1922, S. 1—24. 6. Physiognomie argentinischer Wirtschaftslandschaften. Peterm. Geogr. Mitt. 1924, S. 224 u. 271 ff. 7. Material de observación para la ecogeografía argentina. Publ. Inst. de Invest. Geogr. Univ. de Buenos Aires, 1924, No. 8. 8. Beiträge zur Siedlungskunde Argentiniens (Ländliche Siedlungen autochthonen Charakters) C. R. X X I I . Congr. Intern, des Américanistes. Göteborg 1924, S. 565—571. 9. Die Großstadt Rosario. Ein Beitrag zur Siedlungskunde Argentiniens. Ibero-Amerik. Arch. Bonn, 1926, S. 334—343. 10. Die Verteilung der Gemeinden im Siedlungsgebiet Argentiniens. Eine geopolitische Analyse. Ztschr. f. Geopolitik, 1926, S. 33—-44. 11. Capítulos de Geografía Económica Argentina. Anales Fac. Paraná, III, Parana 1928. Univ. Nac. del Litoral. 12. Eine neue Wirtschaftskarte von Argentinien. Peterm. Geogr. Mitt. 1930, S. 31—34 u. Tafel 3. 12. Argentiniens Vormachtstellung im Handel von Südamerika. Erde u. Wirtschaft, 1932, S. 6—9. 14. Ländliche Siedlungen in der argentinischen Pampa. Die ländlichen Siedlungen in verschiedenen Klimazonen, herausg. F. Klute. Breslau 1933 (F. Hirt). 15. Verschiedene Artikel in Handwörterbuch des Grenz- und AuslandDeutschtums, herausg. C. Petersen und O. Scheel. Breslau 1933 (F. Hirt).

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knappster Mittel das Buch doch so auszustatten, wie es sich dem Leser zeigt, und dem Verlag F r i e d e r i c h s e n , de G r u y t e r & Co. gebührt das Verdienst, die Herausgabe des Buches ungeachtet einer voraussichtlich beschränkten Absatzmöglichkeit übernommen zu haben. Kiel, im September 1933. Franz Kühn.

V o r b e r e i t e n d e E i n z e l s t u d i e n des V e r f a s s e r s 1914—1933. 1. Buenos Aires. Eine siedlungskundliche Studie. Mitt. Deutsch-Siidamerik. Inst. 1914, S. 267—287 Aachen. 2. Die patagonischen Häfen Argentiniens. Ztschr. Deutsch. Wiss. Ver. Buenos Aires, 1915. 3. Das argentinische Zensuswerk von 1914. Ebenda, 1918, S. 293ff. 4. Die atlantische Küstenschiffahrt Patagoniens. Mitt. Deutsch-Südamerik. u. Iber. Inst. Köln, 1920, S. 39—48. 5. Daten zur Wirtschaftsgeographie Argentiniens. Weltwirtsch. Arch. XVII, 1922, S. 1—24. 6. Physiognomie argentinischer Wirtschaftslandschaften. Peterm. Geogr. Mitt. 1924, S. 224 u. 271 ff. 7. Material de observación para la ecogeografía argentina. Publ. Inst. de Invest. Geogr. Univ. de Buenos Aires, 1924, No. 8. 8. Beiträge zur Siedlungskunde Argentiniens (Ländliche Siedlungen autochthonen Charakters) C. R. X X I I . Congr. Intern, des Américanistes. Göteborg 1924, S. 565—571. 9. Die Großstadt Rosario. Ein Beitrag zur Siedlungskunde Argentiniens. Ibero-Amerik. Arch. Bonn, 1926, S. 334—343. 10. Die Verteilung der Gemeinden im Siedlungsgebiet Argentiniens. Eine geopolitische Analyse. Ztschr. f. Geopolitik, 1926, S. 33—-44. 11. Capítulos de Geografía Económica Argentina. Anales Fac. Paraná, III, Parana 1928. Univ. Nac. del Litoral. 12. Eine neue Wirtschaftskarte von Argentinien. Peterm. Geogr. Mitt. 1930, S. 31—34 u. Tafel 3. 12. Argentiniens Vormachtstellung im Handel von Südamerika. Erde u. Wirtschaft, 1932, S. 6—9. 14. Ländliche Siedlungen in der argentinischen Pampa. Die ländlichen Siedlungen in verschiedenen Klimazonen, herausg. F. Klute. Breslau 1933 (F. Hirt). 15. Verschiedene Artikel in Handwörterbuch des Grenz- und AuslandDeutschtums, herausg. C. Petersen und O. Scheel. Breslau 1933 (F. Hirt).

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Inhalt. Einleitung Kurzer Abriß der historisch-geographischen Entwicklung Die Conquista Die Kolonialzeit Independencia und politische Konsolidierung Neue Dynamik seit der freien Einwanderung

1 1 1 5 10 12

Teil I. Genesis der Bevölkerung Spuren des prähistorischen Menschen Die prähispanische Bevölkerung und ihre Reste Die Mestization während der Kolonialzeit Neue Blutmischung durch die freie Einwanderung Rassisch-soziologische Charakterisierung der Argentiner

16 16 22 31 85 40

Teil II. Geographische Analyse der spontanen Verteilung der Bevölkerung 1. Die natürlichen Grundlagen Einleitende Betrachtungen über den Siedlungsraum Argentinien Klima und Mensch Bodenbeschaffenheit und Besiedlung Beziehungen zwischen Pflanzenwelt und Besiedlung . . . Geopolitische Bedeutung der argentinischen Meeresküste 2. Die wirtschaftlichen Grundlagen Bergbau Ausbeutung von Pflanzenstoffen Hochwertige Kulturen durch Bewässerung Billiges Siedlungsland Das Kerngebiet der Pampa Teil III. Demographische Morphologie als Synthese von 1 u. 2 Dichte der einzelnen Provinzen und Territorien Der regionale Einwanderungskoëffizient Stadt- und Landbevölkerung Die territoriale Verteilung der städtischen Siedlungen . . . Gründe für das zahlenmäßige Überwiegen der Stadtbewohner X

47 47 47 48 50 58 56 58 59 61 64 68 72 76 76 78 82 87 89

Teil IV. Die Siedlungen Vorbemerkung und Quellennachweis Autochthone Wohnstätten der Indianer mit nomadischer Lebensweise Siedlungen in Waldgebieten Hütten der Kanu-Nomaden im Feuerlandarchipel Siedlungen im offenen Steppenland Autochthone Siedlungen bei seßhafter Lebensweise Im Waldgebirge Patagoniens (Araukaner) In den trockenen Gebirgen des Nordwestens Die „Ramada" Die europäisch beeinflußten Siedlungen Ländliche Siedlungen des Pampagebietes Die Estancia Der Puesto Die Chacra Die Boliche Patagonien Die Städte Buenos Aires als Sondertypus Anhang: Improvisierte Wohnstätten

92 92 96 97 101 102 104 104 106 111 112 113 114 115 115 118 119 121 131 135

Teil V. Das Staatswesen Grenzen und Grenzfragen Verfassung und Verwaltung Bildungsstand Das Unterrichtswesen Die Presse Bildungsschichten. Sozialpolitische Strömungen Nationalismus und Assimilation Die fremden Nationalitäten Das Deutschtum in Argentinien

138 138 142 147 147 152 154 157 162 162

Teil VI. Das Verkehrswesen Abriß der historischen Entwickelung Die Wege Der Kraftwagen in Argentinien Die Eisenbahnen Der Wasserverkehr Großschiffahrtswege Flußschiffahrt Küstenschiffahrt Der Nachrichtenverkehr Das Flugwesen Der Verkehr in der Stadt Buenos Aires

169 169 175 178 180 189 190 195 198 200 201 208 XI

Schlußwort Karten und Pläne 1—25

207 209—231

Sachregister

232

Autorenverzeichnis

238

Abbildungen 1—38

Tafel 1—17

Wirtschaftskarte

XII

am Schluß

Verzeichnis der Karten und Pläne 1. 2. 8. 4. 5.

Karte zur Besitzergreifung der Pampa und des Chaco Paläanthropologische Fundstätten Verteilung der Urbevölkerung zur Zeit der Conquista Stammtafel der Argentiner Territoriale Verteilung der Bevölkerung nach rassischen Gesichtspunkten 6. Stand der Besiedlung 7. Hydrographie der Pampa und der Provinz Entre Rios 8. Siedlungen und Eisenbahnen im Zwischenstromlande 9. Die Pampabahnen und -häfen 10. Bewässerungszone von Mendoza, nördliche Hälfte 11. Ausbreitung von Ackerbau und Viehzucht in der Pampa 12. Dichtekarte 18. Verteilung der Einwanderer 1918—1927 14. Dichtigkeit der Gemeindesiedlungen 15. Verbreitung endemischer Wohnstätten 16. Pläne von Estancia-Häusern 17. Das argentinische Patagonien 18 a. Normalplan einer Stadtsiedelung mit Ejido 18 b. Normalschema des Zentrums einer Stadt 19. Plan der Stadt Tucum&a 20. Typen argentinischer Wohnhäuser 21. Ältester Stadtplan von Buenos Aires 22. Plan von Buenos Aires 28. Wasserscheide und Grenze zwischen 48° und 45° s. B 24. Politische Einteilung 25. Hauptverkehrslinien Wirtschaftskarte am Schluß

209 210 211 212 213 214 215 216 217 218 219 220 221 222 223 223 224 225 225 226 227 228 229 229 280 281

XIII

Verzeichnis der Abbildungen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 18. 20. 21. 22. 28. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38.

Tafel 1—IT Atacameños Nachkommen der Diaguiten Chaco-Indianer Halbzivilisierte Chiriguanos Araukanerinnen vor ihrer Bambushütte Wandernde Tehuelche-Familie Gaucho-Domador Argentinerin aus der „Sociedad porteña" Estanciero vom reinen Criollo-Typus China mit Mulatteneinschlag Gaucho-Profil Arriero Hafen Puerto Deseado (Patagonien) Petroleumfeld von Comodoro Rivadavia Chaco-Hütten Zweighütte der Yaghan Toldo der Tehuelche Ruinen von Tilcara Puesto la Cueva Hirtenpuesto im Hochgebirge von Humahuaca Adobe-Häuser bei Cafayate Puesto María Josefa Estancia Isla Verde Wohnhaus der Estancia Mamuil Malal Luftbild von La Plata Wohnhaus der Kolonialzeit in Salta Straße in Santa Fe Straßenbild aus Yacuiba Bauweise in Buenos Aires City von Buenos Aires mit Hochhäusern Beginn einer Kolonistensiedlung im Chaco Fahrweg in Gestalt einer „Rastrillada" Mensageria (Personenpost) Catanga-Karren Ochsen-Carreta in der Pampa Landstraße in der Pampa Der Río Paraná bei der Stadt Paraná Straßenverkehr in Buenos Aires

XIV

Tafel 1 1 2 2 3 3 4 4 5 5 6 6 7 7 8 8 8 9 9 9 10 10 10 11 11 12 12 13 18 14 14 15 15 15 16 16 17 17

Einleitung. Kurzer Abriß der historisch-geographischen Entwicklung. Überblickt man die vierhundertjährige Vergangenheit der Gebiete, die das heutige Argentinien bilden, so kann man unschwer vier Hauptabschnitte erkennen, in denen die politische, soziale und ökonomische Entwicklung verläuft: 1. Die Zeit der Entdeckung und Eroberung („La Conquista") im 16. Jahrhundert. 2. Die Zeit der spanischen Kolonialherrschaft („La Colonización") im 17. und 18. Jahrhundert. 3. Die Unabhängigkeitserklärung und Zeit der Bürgerkriege („La Independencia y consolidación política") 1810—1852. 4. Die Zeit der Einwanderung und der Exportwirtschaft („La Inmigración y la producción agropecuaria") seit 1852 zögernd zuerst, seit 1880 ungefähr dann intensiv einsetzend. Wenn wir einen Blick auf diese Zeiten werfen wollen, so geschieht dies nicht, um die Geschichte des La Platagebietes im Sinne des Historikers hier zu entwickeln, sondern es soll nur das W e s e n t l i c h e zusammengefaßt werden, s o w e i t es als Grundlage und für das V e r s t ä n d n i s einer a n t h r o p o g e o g r a p h i s c h e n B e t r a c h t u n g von B e l a n g ist 1 ). 1. D i e Conquista. (Hierzu Karte 1.) Die Entdeckung und Eroberung desjenigen Teiles von Südamerika, der heute Argentinien umfaßt, also die erste Festsetzung der Spanier daselbst, erfolgte auf drei Wegen: a) von Spanien unmittelbar aus („hispanische Unternehmungen) b) von Asunción aus („litorale Unternehmungen") c) von Perú aus (,,Dorado"-Unternehmungen). *) Ausführlicheres zur Geschichte der La Plata-Staaten findet man z. B. bei K. A n d r e e : Buenos Ayres und die argentinischen Provinzen. Leipzig 1856, 1.—3. Buch; M. de M o u s s y : Description géographique et statistique de la Conféderation Argentóle, Bd. III, S. 537—740: Chronologie de l'Histoire du Bassin de La Plata. Paris 1864; H. B u r m e i s t e r : Physikalische Beschreibung der argentinischen Republik. Bd. I: Die Geschichte der Entdeckung und die geogr. Skizze enthaltend. Buenos Aires 1875. 1

a) im Jahre 1515 entdeckte J u a n Diaz de S o l i s das große Süßwasser-Ästuar „Mar dulce", heute Río de la Plata, ohne dort Fuß zu fassen; er selbst wurde auf uruguayischer Seite von den Indianern erschlagen und seine beiden Schiffe kehrten sofort nach Hause zurück. Kurz darauf wurden auch die Küsten Patagoniens bekannt, denn es handelte sich damals um die Auffindung einer Durchfahrt durch den neu entdeckten Kontinent nach den Molukken. Magelhaens landete auf seiner denkwürdigen Fahrt an verschiedenen Stellen der patagonischen Küste und gab ihnen Namen, die heute noch bestehen: Bahía de San Julián, Santa Cruz und Rio Gallegos. Niederlassungen wurden aber an dieser unwirtlichen, öden Küste nicht gegründet und Patagonien bleibt vorerst einmal in der Geschichte der Kolonisation ganz ausg e s c h l o s s e n ; verschiedene im Jahre 1780 von den Spaniern aus strategischen Gründen angelegte Küstenplätze wurden bald wieder aufgegeben und in der z w e i t e n H ä l f t e des 19. Jahrh u n d e r t s t r i t t P a t a g o n i e n erst s o z u s a g e n in den Ges i c h t s k r e i s A r g e n t i n i e n s . — Doch kehren wir zu den Unternehmen des 16. Jahrhunderts zurück, so treffen wir 1527 die erste spanische Niederlassung im La Platagebiet: das Lehmfort „Sancti Spiritus", von S e b a s t i a n G a b o t o angelegt, nachdem er den Río de la Plata erreicht und den Paraná hinaufgefahren war, bis zur Einmündung des Rio Carcarañá (etwa 50 km nördlich von dem heutigen Rosario), wo er also mitten in der Wildnis mit einem kleinen Häuflein von Spaniern diesen festen Punkt anlegte, der aber bald zerstört wurde, nachdem der Gründer selbst nach Spanien zurückgekehrt war. Von der Beobachtung Gabotos und seiner Leute auf Rekognoszierungsfahrten den Paraná hinauf, daß die Indianer Silberschmuck trugen, schreibt sich der spätere Name des „Rio de la Plata" her. Von Sancti Spiritus ist keine Spur geblieben, aber der Name jenes Seefahrers ist in dem neueren kleinen Hafenplatz „Puerto Gaboto" erhalten, der ungefähr an der gleichen Stelle liegt. Es folgt nun die dritte und letzte hispanische Unternehmung in dieser Gegend: die Expedition des P e d r o de Mendoza, der am 2. Februar 1585 Buenos Aires erstmalig gründete als „Ciudad de la Santísima Trinidad y Puerto de Nuestra Señora de los Buenos Aires". Aus diesem etwas langatmigen Namen hat sich das Epitheton der von den Seefahrern besonders verehrten Heiligen Jungfrau „der günstigen Winde" als Stadtname erhalten (er hat also gar nichts zu tun mit „guter Luft"1) und weiter auch das Wort „Puerto", denn alle in Buenos Aires Geborenen heißen in l ) Der betr. Ausspruch, der dem Pedro de Mendoza bei der Landung in den Mund gelegt wird: „Ah, que ,Buenos Aires' soplan aquí" ist Legende.

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Südamerika und nennen sich mit Stolz „Porteños", d. h. „Hafener". Bekannt ist das unglückliche Schicksal dieser ersten Gründung und ihr tragisches Ende 1541, besonders auch durch die Berichte unseres Landsmannes U l r i c h S c h m i e d e l aus Straubing, der sich unter den Soldaten Mendozas befand. Seine Aufzeichnungen, die ihn zum e r s t e n G e o g r a p h e n des La P l a t a stempeln, sind leicht zugänglich1), weshalb ich hier nicht näher darauf einzugehen brauche. Es verdient erwähnt zu werden, daß die von den Spaniern bei ihrer schließlichen Flucht zurückgelassenen Pferde andalusischen Ursprunges den Grundstock für die riesigen Pferdeherden bildeten, die später die Pampa bevölkerten. b) Abenteuerer aus Buenos Aires unter Juan de Ayolas fuhren den Paraná und Paraguay hinauf und gründeten 1587 A s u n c i ó n , das nun, nach dem Falle von Buenos Aires, der H a u p t s t ü t z punkt der Spanier im La P l a t a g e b i e t wurde, zugleich der Ausgangspunkt neuer Gründungen, die sich stromabwärts richteten : denn Santa Fe und Buenos Aires II verdanken ihren Ursprung diesen Unternehmungen, deren Führer Juan de Garay war. Im Jahre 1578 entstand an der Mündung des Río Salado S a n t a Fe de la Vera Cruz und dies Jahr und dieser Ort sind insofern bemerkenswert, als hier mit den „ L i t o r a l " U n t e r n e h m u n g e n des J u a n de Garay die von P e r ú herkommenden c) „ D o r a d o " - Sucher z u s a m m e n t r a f e n . Ihre Züge nach S und SO hatten die Entdeckung der sagenhaften Goldstadt „Ciudad de los Césares"2) zum Gegenstande und führten unter fortwährenden Kämpfen und unter unsäglichen Schwierigkeiten im Verlauf von 80 Jahren durch die Punawüste, durch die Urwälder von Tucumán und des Chaco, durch die Calchaqui-Täler und die Sierra de Córdoba mit vielen Unterbrechungen hin und her durch den Nordwesten Argentiniens*), wobei wichtige Stütz*) Vgl. u. a. L a n g m a n t e l : U. Schmiedels Reise nach Südamerika 1584—54 nach der Münchener Hdschr. herausg. Tübingen 1889. E. H e g a u r : Wahrhaftige Historie einer wunderbaren Schiffahrt, welche U. Schmiede von Straubing 1584—54 in Amerika oder Neuewelt bei Brasilien und Rio della Plata getan. München 1914. M o n d s c h e i n in Wiss. Beil. Jahresbericht Realschule Straubing, 1880/81 und 1892/98. — U. Schmiedel, Abenteuer in Südamerika 1585—54. Bearb. v. C. Cramer (Alte Reisen und Abenteuer, F. A. Blockhaus, Leipzig, Nr. 2). *) H. S t e f f e n : Los fundamentos histórico-geográficos de la leyenda de „Los Césares" (Gaea, Anales Soc. Arg. de estudios geogr. III, Buenos Aires 1928, S. 16—35.) a ) R. J a i m e s F r e y r e : Historia del Descubrimiento de Tucumán. Publ. de la Universidad de Tucumán. Buenos Aires 1916. 2

Kühn, Argentinien

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punkte gegründet wurden: Santiago del Estero 1558, Tucumán 1565, Córdoba 1578. Immer weiter schoben sich diese Expeditionen nach SO ins Unbekannte vor, bis eben von Córdoba aus, im Jahre seiner Gründung und unter Führung des Gründers Gerónimo Luis de Cabrera auf einem Vorstoß nach Osten das eben entstandene Santa Fe erreicht wurde, wo er dem Juan de Garay die Hand reichen konnte. Dieses Zusammentreffen der beiden Conquistadorenführer bedeutet g e o p o l i t i s c h den Z u s a m m e n s c h l u ß d e r j e n i g e n T e i l e A r g e n t i n i e n s , in denen sich die K o l o n i a l z e i t unter spanischer Herrschaft a b s p i e l t . Es waren die „Provincias" oder Statthalterschaften des Vizekönigreichs Perú unter den Namen „Paraguay" (Litoralgebiet) und „Tucumán" (Nordwesten), wozu noch der von Chile aus besiedelte Westen, „Provincia de Cuyo" kam (Mendoza und San Juan 1559, San Luis 1596 von Chile aus gegründet). Als Schlußakt der eigentlichen Conquista können wir die zweite und definitive Gründung von Buenos Aires betrachten, die von Santa Fe aus 1580 durch denselben J u a n de G a r a y erfolgte. Er war erstaunt über die riesige Menge von verwilderten Pferden, die die umliegende Pampa bevölkerten und schätzte ihre Anzahl, soweit seine Kenntnis 1581 reichte, auf 80 bis 100000 Stück. Sie hatten sich also in den 48 Jahren von 1587 her ungeheuer vermehrt1). Die anderen Haustiere kamen ein wenig später ins Pampagebiet: Schafe und Ziegen von Perú aus 1550, Rinder von Paraguay her 1558. Dies sind die drei für die spätere Entwicklung der Wirtschaft wichtigen Daten der Einführung europäischer Haustiere ins La Platagebiet. Wenn so am Ende des 16. Jahrhunderts das Vizekönigreich Perú bis an den Río de la Plata reichte, so war doch keineswegs damit die regionale Beherrschung aller der Landesteile erreicht, die heute Argentinien bilden, ja gerade das heutige Kerngebiet fiel damals noch völlig aus, denn die weiten Gebiete der P a m p a , sowie der riesige Landkomplex des C h a c o wurden erst viel später den Indianern entrissen, ganz zu schweigen von P a t a g o n i e n (s. oben). Die Gründung von Buenos Aires I I zeigte sich diesmal als glücklicheres Unternehmen: die neue Siedlung aus 63 Soldaten und deren Troß, im ganzen etwa 300 Menschen, begann in der Kolonialzeit trotz aller der lästigen Handelsbeschränkungen, denen sie zunächst unterworfen war, allmählich aufzublühen. *) Ch. Darwin in Reise eines Naturforschers um die Welt, übers, von Carus, Stuttgart 1875, S. 267 erwähnt dies als besonders bemerkenswert.

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2. D i e K o l o n i a l z e i t 1 ) . Die Kolonialherrschaft Spaniens bedeutet für unser Gebiet ein i. a. retardierendes Moment: erstens wegen der Sucht nach Edelmetall, die die Augen von der Pampa weg nach der „Sierra de Plata", den Silbergebirgen, des W und N W lenkten; zweitens wegen der kurzsichtigen wirtschaftlichen Politik, die die Kolonie seitens des Mutterlandes unter unbegreiflichen Beschränkungen ihrer Entwicklungsmöglichkeit zu erdulden hatte. So war zunächst einmal die La Plata-Ebene nur D u r c h g a n g s l a n d für den „Camino al Perú", der uralten Straße nach N W und für den „Camino a Chile" durch die Provincia de Cuyo nach Westen: ein nicht allzu breiter Streifen Pampagelände, auf dem man ohne ständige Gefahr vor Indianerüberfällen diese weite Wildnis durchqueren konnte2). Diese beiden wichtigen Wege gingen von Buenos Aires aus zunächst etwa 500 km gemeinsam in 80 bis 40 km Entfernung vom Paraná (um die eingeschnittenen Bachtäler zu vermeiden, die zwar nicht tief sind, aber steile Böschungen haben, die für Ochsenkarren beschwerlich sind, während in größerer Entfernung vom Paraná diese kurzen Täler ganz wenig eingeschnitten sind) über Luján, San Antonio de Areco, Melincué zur Vereinigung von Río Tercero und Cuarto und an ersterem bis zum heutigen Orte Villa Maria (s. die Karte). Hier gabelte sich der Weg: der „Camino al Perú" ging von da über Córdoba, Santiago del Estero nach Tucumán3), wo der obligate Eintritt von der Ebene ins Gebirge stattfand, weiter über Jujuy, durch das Valle de Humahuaca4) auf die„Puna" hinauf; der „Camino a Chile" kreuzte vom obigen Punkte nach SW hinüber zum Río Cuarto bei dem heutigen Orte Río Cuarto, ging dann um die Südspitze der Sierra de Córdoba herum nach San Luis, zum Rio Tunuyán (eine wasserlose „Travesía") und nach Mendoza, wo der Eintritt in die Cordillère be1 ) Georg F r i e d e r i c i : Der Charakter der Entdeckung und Eroberung Amerikas durch die Europäer (in: Allgem. Staatengeschichte, herausg. von H . Oncken, Stuttgart-Gotha 1025) enthält in einem riesigen Apparat von Belegen die gesamte Literatur über Conquista und Colonización. Ein wichtiges Quellenwerk! Ferner: R e i n : Erläuterungen zur Geschichte der Eroberung und Besiedelung der L a Plata-Länder sowie der Einführung von Pferden und Rindvieh und deren Verwilderung. (Geogr. Ztschr. VI, 1900, S. 279—312) ; vgl. ferner die kulturgeschichtlichen Ausführungen von O. S c h m i e d e r , Länderkunde Südamerikas (Enzyklopädie d. Erdkunde, herausg. v. O. Kende) Leipzig u. Wien 1932, in den auf Argentinien bezüglichen Abschnitten, u. a. S. 99, 111, 125 ff. u. Karten 28, 30, 34. 2) Vgl. P. D e n i s : L a République argentine. Paris 1920. S. 211 ff. 3) O. S c h m i e d e r : The historie geography of Tucumán. Publ. in Geogr. Univ. of California, II, Nr. 12, p. 359—396. Berkeley Cal. 1928. 4) F. K ü h n : Algunos rasgos morfológicos de la región omaguaca. Anales Facultad Paraná, I, 1923, S. 177—196. (Univ. del Litoral.)

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ginnt. Diese beiden alten Wege spielen im modernen Verkehr ebenfalls noch die wichtigste Rolle, auf ihnen verlaufen die internationalen Bahnlinien nach Bolivien und an den pazifischen Ozean. Zwischen den beiden Salado-Flüssen im N und im S der Pampa, zwischen dem Gebiet der Chaco-Indianer im N und der PampaIndianer im S liegt also dieser schmale, in der Kolonialzeit allmählich und zunächst unzulänglich gesicherte Streifen Landes, der die K e i m z e l l e der P a m p a darstellt und der durch seinen wachsenden Viehreichtum auch ökonomisches Interesse zu gewinnen begann (Ausfuhr von Häuten). Die Urbewohner jener Gegend, Fußnomaden, Sammler und Jäger, die an und für sich nicht sehr zahlreich gewesen sein können, entbehrten einer Organisation, die langen Widerstand hätte leisten können und gehen bald in der Mestization auf, dagegen wurden die I n d i a n e r der s ü d l i c h e n P a m p a d u r c h die B e k a n n t s c h a f t m i t dem P f e r d e sehr b a l d aus F u ß n o m a d e n zu R e i t e r s t ä m m e n und k ü h n e n V i e h r ä u b e r n , die die Sicherheit südlich des (südlichen) Rio Salado noch bis in das letzte Drittel des vorigen Jahrhunderts bedrohten; und ähnlich gewannen auch die B e w o h n e r des s ü d l i c h e n C h a c o diese r a s c h e B e w e g l i c h k e i t z u m S c h a d e n v o n S a n t a F e , das noch um die Mitte des 18. Jahrhunderts überfallen wurde. Anders waren die Verhältnisse im NW. Hier saßen in den Gebirgstälern s e ß h a f t e S t ä m m e der D i a g u i t e n (Calchaqui), mit Bewässerungskulturen, volkreich, kriegerisch, mit ihren an strategischen Punkten trefflich angelegten Festungen („Pucará"). Hier fanden die Spanier längere Zeit starken Widerstand, ehe sie sich festsetzen konnten, aber nach der Unterwerfung bildeten diese auf einer höheren Kulturstufe stehenden Indianer, neben den vermuteten Schätzen von Silber und Gold, den Hauptreichtum dieses Gebietes, nämlich durch ihre Arbeitskraft. Den Führern und verdienstvollen Beamten, sowie den tapfersten Soldaten wurden vom König von Spanien „Encomiendas" oder „Mercedes Reales" verliehen, d. h. S t ü c k e L a n d e s mit der d a r a u f l e b e n d e n E i n g e b o r e n e n b e v ö l k e r u n g zu eigen gegeben, die damit zu A r b e i t s s k l a v e n des B e s i t z e r s wurden, Land-, Bergwerks- oder sonstige Arbeit für ihn ohne besonderen Entgelt verrichten mußten. Kein Zweifel, wo damals der größere Wert lag, wohin es den Abenteurer trieb. Von den drei genannten Statthalterschaften spielte zunächst T u c u m á n die wichtigere Rolle, auch wirtschaftspolitisch wurde Tucumán vom Mutterlande her begünstigt, es war nämlich die Zollstelle für das La Platagebiet, da Buenos Aires damals europäische Erzeugnisse nur ü b e r P a n a m á , L i m a u n d T u c u m á n b e z i e h e n d u r f t e . 1620 wurde das Litoralgebiet in 6

zwei Provinzen geteilt, „Paraguay" und „Buenos Aires"; aber letztere litt unter den strengen Handels- und Niederlassungsbeschränkungen 1 ), die freilich auch einen umfangreichen und gewinnbringenden Schmuggel hervorriefen, der bis 1778 andauerte, als endlich liberalere Handelsgesetze erlassen wurden, die allerdings nur für das Mutterland galten. Die k a t h o l i s c h e K i r c h e war inzwischen auch nicht müßig gewesen und zeigte außer der Bekehrungsarbeit auch eine wichtige zivilisatorische und Kolonisierungsarbeit, ganz besonders unter den Guaranistämmen des NO (Paraguay und Alto Paraná). Der Name des argentinischen Territoriums „Misiones", und die dort im Urwalde versteckten Ruinen von Kirchen und Missionssiedelungen erinnern noch heute an jene Zeit des „Reiches der Väter Jesu" oder der „Republik der 80 Städte" (1610—1768)2). Dieser „Staat im Staate" (nämlich in der spanischen Kdlonie) flößte den weltlichen Behörden dann aber solche Besorgnis ein, daß 1768 durch Gesetz die Jesuiten vertrieben wurden, und damit wurde ihre bewundernswerte Kulturarbeit zerstört und verfiel. Und noch eine Erinnerung an die Jesuiten aus der frühesten Kolonialzeit dürfen wir nicht vergessen: die e r s t e U n i v e r s i t ä t a u f a r g e n t i n i s c h e m B o d e n ist ihr Werk, denn von ihnen wurde 1618 die Universität Córdoba gegründet. Auch der geistige Schwerpunkt lag also, wie man hieraus ersieht, im NW und nicht im Litoralgebiet. Die Verschiebung des Schwerpunktes nach Buenos Aires ist keineswegs ein Verdienst der Spanier, etwa ihrem politischen oder ökonomischen Weitblick zu verdanken, der ja im Gegenteil völlig fehlte, sondern ein Erzeugnis der modernen Zeit: der Einwanderung, des Ackerbaues, der modernen Transportmittel, wodurch erst die hervorragende Verkehrslage von Buenos Aires, der natürlichen Pforte des plötzlich wertvoll gewordenen Hinterlandes, zur Geltung kam, während der NW zum entlegen stagnierenden Binnenlande wurde, wohin der befruchtende Strom der Einwanderer nimmer reichte. Ein Schulbeispiel einer geopolitischen Verschiebung von weittragender Bedeutung. Doch wir waren erst im 17. Jahrhundert angelangt und können uns kurz fassen: es war ausgefüllt mit Kämpfen zur Sicherung Einwanderung nur Spaniern gestattet und nur mit besonderer königlicher Lizenz. Auf unberechtigter Niederlassung stand Todesstrafe. ») Pater Martin D o b r i z h o f f e r : Historia de Abiponibus. Viennae 1784, 3 Bände, ist ein klassisches Werk über die Zustände in den Missionen, zugleich eine Quelle naturhistorischer und ethnographischer Beobachtungen. Auszug daraus: Auf verlorenem Posten bei den Abiponern (Alte Reisen und Abenteuer, F. A. Brockhaus, Nr. 21, bearbeitet von W. von H a u f f ) . 7

des Besitzes und mit Gründungen von weiteren Stützpunkten im Innern 1 ). Im NW die Diaguiten, im N die Chacovölker, im S die Pampa-Indianer erhoben sich wiederholt gegen die spanische Herrschaft, auch im 18. Jahrhundert gab es noch fortwährend Zusammenstöße an den Grenzen der Pampa und des Chaco, während die Diaguiten nach tapferem Widerstande 1664 endgültig besiegt worden waren. Die Kolonie am La Plata bestand immer noch aus einem schmalen Landstreifen, der sich von Buenos Aires aus nach NW hinzog und dessen Nord- und Südgrenze ewig bedroht war. Santa Fe war bis ins 18. Jahrhundert eine wahre Grenzstadt, die Wildnis mit den Indianerhorden der Abiponer, Mocovi usw. begann wenige Kilometer nördlich der Stadt, denn die Grenze verlief im 17. Jahrhundert ganz im Süden des Dreiecks zwischen Paraná und Rio Salado, wo die Forts Cayasta, San Pedro und Esquina die Sicherung bildeten, dann weiter nach Westen über Fort Súnchales nach Quebracho herrado auf dem Wege nach Córdoba (s. die Karte); 1740 wurde San Javier angelegt und damit der unterste Zipfel des genannten Dreiecks mit gesichert, nachdem die Indianer noch 1780 bis in die Straßen der Stadt eingedrungen waren. Um dieselbe Zeit wurde mit den Pampa-Indianern ein Vertrag abgeschlossen, daß sie den (südlichen) Río Salado als Grenze anerkennen sollten, tatsächlich gesichert wurde diese Grenze aber erst 1815, und um die Mitte des 18. Jahrhunderts lief die „Frontera" zwischen Zivilisation und Wildnis bei Buenos Aires auch noch recht nahe der Stadt: etwa von San Nicolas über San Antonio de Areco, Luján nach Magdalena. Damals hatte die Stadt Buenos Aires rund 10000 Einwohner4), von denen 357 Europäer waren, 2550 Farbige, der Rest, also rund 7000, Mestizen. Die „Farbigen", d. h. Neger und Mulatten bilden ein neues ethnisches Element in der Rassenmischung auf argentinischem Boden — der bis dahin nur Spanier (mit dem maurischen Einschlag natürlich dabei) und Indianer zu einer Mestizenrasse verschmolzen hatte — denn 1702 war die Einfuhr von N e g e r s k l a v e n aus Afrika gesetzlich erlaubt worden, ein Handel, der sich von 1718 bis 1728 als Monopol in der Hand Englands befand, von da ab dann von Spanien selbst in die Hand genommen 1 ) 0 . Schmieder: Alteration of the Argentine Pampa in the Colonial period. Publ. in Geogr. Univ. of California II, Nr. 10, S. 803—821. Berkeley Cal. 1927. *) Über das alte Buenos Aires vgl. die Angaben in F. K ü h n : Buenos Aires. Eine siedelungskundliche Studie. (Mitt. Deutsch-Südamerik. Inst. 1914, S. 267—287); B. Kulicke: Buenos Aires und Rio de Janeiro. Versuch einer vergleichenden Verkehrs- und siedlungsgeographischen Charakteristik. Diss. Frankfurt a. M. 1926.

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wurde. Die wachsende Bedeutung von Buenos Aires wurde nun auch von Spanien anerkannt und erhielt ihren Ausdruck durch die Schaffung des neuen V i z e k ö n i g r e i c h s L a P l a t a , mit Buenos Aires als Hauptstadt, womit die bis dahin bestehende administrative Abhängigkeit von Lima aufgehoben und die Provinzen Buenos Aires, Paraguay, Cuyo und Tucumán vereinigt wurden (1776). Aber trotzdem war die Pampa noch immer unbewohnte Wildnis, denn der immerhin schon ansehnlichen Stadtbevölkerung standen nur 186 Landbesitzer in der Kolonie gegenüber, eben wegen der Beschränktheit des gesicherten Raumes. So war die Okupation von Neuland notwendig und wagemutige Siedler schoben sich trotz der Indianergefahr nach Süden vor, was dann eine neue Grenzsicherung notwendig machte, deren Linie 1779 von Melincué über Rojas, Salto, Carmen de Areco, Navarro, Lobos, Monte, Ranchos, Chascomus bis an den Unterlauf des Salado führte (s. die Karte). Und noch an einer anderen Stelle war man in das unbekannte Indianerterritorium vorgedrungen : auf dem nach SW führenden „ S a l z w e g e " nach den Salinas Grandes bei Carhué (nordwestlich von der Sierra de la Ventana), von deren Existenz man durch die Indianer wußte. Diese Expeditionen wurden deshalb unternommen, weil der Wucher mit dem aus Spanien eingeführten Salz (das in großen Mengen zum Konservieren von Häuten und Fleisch gebraucht wurde) unerträglich geworden war. Diese Salzexpeditionen dauerten zwei Monate und bestanden meist aus einem ungeheuren Troß von Menschen, Tieren und Wagen (z. B. 500 Karren, 2600 Pferden, 12000 Ochsen, 1500 Menschen)1). Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Festlegung der Grenzen im neuen Vizekönigreich begonnen und bei der hiermit beauftragten Kommission befand sich auch der Spanier D. F é l i x de A z a r a , der 1781 bis 1802 unser Gebiet bereiste und dem wir die e r s t e w i s s e n s c h a f t l i c h e D u r c h f o r s c h u n g des L a P l a t a L a n d e s verdanken. Seine Darstellung der physischen Geographie, Zoologie und Ethnographie zeigen ihn uns als einen sorgfältigen Beobachter 2 ). Als Azara 1802 nach Spanien zurückkehrte, befand sich Alexander von Humboldt bereits in Ecuador. So begegnen sich um die Jahrhundertwende die ältere und die neuere Zeit in der Erforschung Südamerikas. Patagonien spielte auch im Vizekönigreich La Plata noch keine R. Muñiz : Los Indios Pampas. Buenos Aires 1929, S. 82ff. (vgl. S t i e l e r , 1925, Blatt 108, H. 5). *) Voyage dans l'Amérique méridionale, 4 Bände und Atlas. Paris 1809; Descripción e historia del Paraguay y del Rio de la Plata. 2 Bände. Madrid 1847.

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Rolle. Weit südlich der „Frontera" hatte der englische Jesuit T h o m a s F a l k n e r im Jahre 1747 eine Mission unter den PampaIndianern gegründet, die bei Cap Corrientes und dem heutigen Mar del Plata lag, in dessen Nähe der Name der „Laguna de los Padres" noch die Erinnerung daran bewahrt1). Er hatte auch mancherlei Nachrichten über die großen Ströme im Süden, den Rio Colorado und Río Negro eingezogen und veröffentliche fast 80 Jahre später in England ein Werk über Patagonien8), das die spanische Regierung veranlaßte, eine nähere Erforschung dieses weiten Gebietes anzuordnen, was mehrere Unternehmen zur Folge hatte, wie die Fahrt von Villarino den Río Negro und Limay hinauf bis zum Lago Nahuel Huapi, und die Erforschung des Rio Santa Cruz weit im Süden durch die Brüder Viedma, wo Antonio de Viedma den nach ihm benannten großen Cordillerensee entdeckte8) (1782). Von ihnen rührt auch die Gründung von Carmen de Patagones an der Rio Negro-Mündung her. Von Chile aus durchquerte zum ersten Male das nördliche Patagonien und die südliche Pampa L u i s de l a C r u z , vom Passe von Antuco aus (87° s. B.) bis nach Melincué an der Frontera, mitten durch die Indianergebiete (1805—06) — aber nun begann ja bald die Zeit der großen politischen Umwälzungen und damit hörten weitere Kolonisationsbestrebungen vorläufig auf. Ein Ereignis muß aber noch kurz erwähnt werden, welches zeigt, daß das koloniale Buenos Aires bereits eine Bedeutung als Handelsplatz hatte, die es als erstrebenswerten Besitz für E n g l a n d erscheinen ließ. 1806 und 1807 versuchten die Engländer tatsächlich die gewaltsame Eroberung der Stadt, die auch vorübergehend in ihren Besitz kam, jedoch wurden sie 1807 unter Führung von Liniers endgültig vertrieben („La Reconquista", 5. Juli 18074)). Ihre Schiffe mußten das La Platagebiet räumen und die englische Regierimg mußte feierlich auf alle weiteren Eroberungsversuche verzichten. 8. I n d e p e n d e n c i a , Anarchie und p o l i t i s c h e K o n s o l i d i e rung (1810—1852). Die politischen Ereignisse dieser bewegten Zeit, die ihre Quelle einesteils in den Ereignissen in Spanien (Fall der Regierungsjunta ») Vgl. S t i e l e r 1925, Blatt 108, L 6, unmittelbar nördl. von 88° 8. Br. *) Th. F a l k n e r : Description of Patagonia. Hereford 1774. a ) Vgl. B e h m : Reise im sw. Patagonien von J. T. Rogers und E. Ibar 1877 nebst den Tagebüchern von A. de Viedma 1782 und J. H. Gardiner 1867. Peterm. Mitt. 1880, S. 47—64. *) An dieses Ereignis erinnern die Straßennamen Reconquista und Victoria. 10

in Sevilla und Absetzung des Königs) andernteils aber auch in den sozial-philosophischen Ideen der französischen Revolution und im Unabhängigkeitskampfe Nordamerikas hatten, brauchen hier nicht im einzelnen erörtert zu werden, da hier ja nicht die Geschichte Argentiniens behandelt werden soll: sie führen bekanntlich über die Unabhängigkeitserklärung und Absetzung des letzten Vizekönigs Cisneros in Buenos Aires (25. Mai 1810, „Revolución de Mayo") und den konstituierenden Kongress von Tucumán (9. Juli 1816, „Junta de Independencia") zu dem großen Befreiungskriege in ganz Südamerika unter San Martin im Süden und Simón Bolívar im Norden — aber auch zu den endlosen Bürgerkriegen in der neuen Republik, zwischen demPrincip derCentralisten und Föderalisten, zwischen der Regierung von Buenos Aires (Directorium) und den politischen Führern der Provinzen („Caudillos"), wobei die Ideen der letzteren triumphierten, nämlich die Autonomie der Prozinzen zu bewahren, wobei aber außer der Eifersucht auf Buenos Aires auch interprovinzielle Streitigkeiten eine Rolle spielten und mit bewaffneter Hand ausgetragen wurden. Kurz: ein Chaos. Doch wurde 1828 von U. S. A. und 1825 von England die Unabhängigkeit der „Provincias Unidas de la Plata" anerkannt. Mitten in diese unruhige Zeit fällt auch die Gründung der Universität von Buenos Aires, das damals bereits an 50000 Einwohner zählte. Unter der Präsidentschaft von Rivadavia wurde 1826 in Buenos Aires die u n i t a r i s c h e (d. h. zentralistische) K o n s t i t u t i o n proklamiert, aber von einigen föderalistischen Provinzen nicht anerkannt, die sich allmählich immer mehr politisch durchzusetzen wußten, und 1829 bricht erneut ein Bürgerkrieg aus, und als Anführer der Föderalisten begegnen wir hier dem J u a n Manuel de R o s a s , dessen Heer sich besonders durch die irreguläre Gaucho-Kavallerie der „Montoneros" unter F a c u n d o Quiroga furchtbar machte und schließlich triumphierte1). Der General Rosas wurde Gouverneur von Buenos Aires und zum „Beschützer der Gesetze" erklärt. Inzwischen hatten sich die Pampa-Indianer, diese Zwietracht im Lande benutzend, erhoben und zahlreiche Raubzüge über die Frontera in den Süden von Buenos Aires, Córdoba und San Luis unternommen, wobei sie die Estancias zerstörten und stets viele tausend Stück Rinder und Pferde wegführten, bis 1888 Rosas eine militärische Expedition in die südliche Pampa unternahm und die Indianer bis zum Río Negro zurücktrieb. In einem Lager am Rio Colorado fand im August jenes Jahres die Begegnung *) Hierüber lese man das hervorragende Werk von Domingo F. S a r m i e n t o : „Facundo o Civilización y Barbarie" (erste Ausgabe 1845) — eines der Meisterwerke der argentinischen Literatur.

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zwischen dem G a u c h o - G e n e r a l und dem j u n g e n Ch. D a r w i n statt, die letzterer sehr anschaulich in seinem Tagebuch beschreibt 1 ). Mit Darwins Namen kommen wir aus den Bürgerkriegen wieder einmal auf die weitere geographische Erforschung des Landes zurück, bei der natürlich die Einheimischen, absorbiert von den immerwährenden Zwistigkeiten, überhaupt nicht in Frage kamen, während trotz der großen und allgemeinen Verwirrung und Unsicherheit gerade wissenschaftlich höchst bedeutsame Unternehmen stattfanden. Außer den klassischen Ergebnissen der großen Reise Darwins, die ja z. T. grundlegend für die Geologie wurden, müssen wir hier noch einen anderen Ausländer namhaft machen, der um diese Zeit (1827—29) die La Plata-Staaten bereiste, den Franzosen A l c i d e d ' O r b i g n y , der seine glänzenden Beobachtungen in einem monumentalen Werke von sieben Foliobänden niedergelegt hat 2 ). 1885 wird Rosas zum Diktator mit unumschränkter Gewalt ernannt, und die Kämpfe zwischen Föderalisten (Partei Rosas') und Unitariern, zwischen brutalen Gauchos und europäisch Gesitteten, oder wie Sarmiento 3 ) sagt zwischen „Poncho und Frack", zwischen „Barbarei und Zivilisation", wurden immer erbitterter und nahmen bald die Form einer Schreckensherrschaft des Tyrannen Rosas an unter dem Motto : „Mueran los inmundos, asquerosos y salvages Unitarios", d. h. „Tod den unflätigen, ekelhaften, rohen Unitariern!" — Diese Zeit der Tyrannenherrschaft dauerte bis 1852, als endlich in der Person des Gouverneurs der Provinz Entre Rios, J u s t o J o s é de U r q u i z a , der Befreier erstand, von dem Rosas in dem eben erwähnten Jahre bei Monte Caseros so entscheidend besiegt wurde, daß er fliehen mußte. Er ging sofort an Bord eines englischen Schiffes, fuhr nach England und lebte dort bis zu seinem Tode (1876) in der Verbannung. 4. D i e neue D y n a m i k s e i t der f r e i e n

Einwanderung.

Mit dem Sturze des Tyrannen Rosas beginnt das eigentliche Leben der argentinischen Republik, die bis dahin ihrer Freiheit und Selbständigkeit nicht hatte froh werden können, zerrissen von blutigem Parteihader, erschüttert von unendlichen inneren ) Reise eines Naturforschers a. a. O. S. 80ff. („. . . die Soldaten waren beinahe sämtlich Cavalleristen ; und ich glaube, daß eine so schurkische, banditenartige Armee noch niemals zusammengebracht worden ist"). ') Voyage dans L'Amérique méridionale. Paris 1834—47. (Teile von Argentinien in Bd. I—III). ») a. a. O. x

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Kämpfen. Zwar hörten letztere nicht unmittelbar mit dem Verschwinden Rosas' auf, denn die Partei der Föderalisten war noch stark, aber sie flauen unter der Präsidentschaft Urquizas allmählich doch ab, wenn auch militärische Maßnahmen noch immer notwendig waren. Urquiza zeigte sich aber seiner Aufgabe doch gewachsen; als Truppenführer, Politiker und Präsident in jener schweren Zeit verdient er größte Anerkennung. Er begriff auch, daß Argentinien nun in der Welt und besonders in Europa bekannt gemacht werden müsse, damit nun, nach dem Aufhören der inneren Wirren, sein reicher Boden besiedelt würde. Er erteilte also dem französischen Arzte und Naturforscher M a r t i n de Moussy 1854 den Auftrag, ein möglichst vollständiges geographisches Kompendium über Argentinien zu schreiben. Letzterer war wohl geeignet dazu, denn er hatte schon jahrelang im La Plata-Gebiet sich aufgehalten und unternahm nun noch eine vierjährige Bereisung des Landes innerhalb der damaligen Frontera. Sein Werk veröffentlichte er in französischer Sprache in Paris 1860—64 in drei Bänden mit einem Atlas1), gewidmet «A son excellence le capitaine général D. José Justo de Urquiza, premier président constitutionel de la Confédération Argentine — pacificateur de ces vastes contrées, organisateur de la noble Confédération». Damals war, da in Buenos Aires die Partei Rosas' noch am Ruder war, Paraná, die Hauptstadt der Provinz Entre Ríos, auch die Bundeshauptstadt der argentinischen Conföderation, und hier treffen wir 1858/59 auf H e r m a n n B u r m e i s t e r 2 ) , den späteren Direktor des Museums in Buenos Aires und ersten Präsidenten der Akademie der Wissenschaften in Córdoba, an dessen Namen sich der B e g i n n der w i s s e n s c h a f t l i c h e n E r f o r s c h u n g Argent i n i e n s s e i t e n s d e u t s c h e r G e l e h r t e r knüpft, die seitdem ununterbrochen am Werke gewesen ist und durch die die wissenschaftliche Landeskunde Argentiniens auf allen Gebieten hervorragend gefördert worden ist. Wenn also auch noch jahrelang nach 1852 die letzten Flammen des Parteikampfes immer wieder einmal aufflackerten, so wurde doch unter der Präsidentschaft von Bartolomé Mitre 1864 schließlich Friede im Lande. Die Eröffnung der Bahnlinien Rosario— 1)

Description géographique et statistique de la Confédération Argentine. In seinem Werke: Reise durch die La Plata-Staaten, Halle 1861, Bd. I, S. 368 ff. findet sich die sehr lesenswerte Beschreibung von Paraná und dem Leben, das dem damaligen Städtchen von 6000 Einwohnern seine Eigenschaft als Bundeshauptsadt verlieh. (In dem damaligen Regierungsgebäude war das Geographische Institut der Universidad Nacional del Litoral untergebracht, das Verf. 1920—1927 leitete.) 2)

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Córdoba (1868) und der Südbahn (1864) zeigen deutlich, daß nun eine neue Ära einsetzt: die der friedlichen Erschließung und Besiedelung der weiten, noch menschenleeren Länderstrecken der Pampa. Trotzdem mit der Unabhängigkeitserklärung Argentiniens die Beschränkungen der Einwanderung aus der spanischen Zeit sofort vollkommen aufgehoben wurden, so konnte doch vorläufig noch kein Erfolg der äußerst liberalen neuen Einwanderungsgesetze verspürt werden, denn die ewigen Wirren und Bürgerkriege hatten Argentinien nicht als verlockendes Ziel für europäische Auswanderer erscheinen lassen. Nun, nach Herstellung von Ruhe und Frieden, änderte sich dies aber sehr bald, und in rasch ansteigender Kurve sehen wir den Strom der Einwanderer sich ergießen in das weite Land, das nur Arbeitskräfte und Siedler erwartete, um zu erwachen. Zwar war der Zustrom natürlich zu Anfang noch nicht sehr groß, aber die 27 000 Einwanderer, die in den 6 J a h r e n von 1854 bis 1859 ins Land kamen, stellen eine größere Zahl dar als a l l e w ä h r e n d d e r 2 0 0 j ä h r i g e n s p a n i s c h e n H e r r s c h a f t angelangten Europäer. Nun, da die politische Konsolidierung vollzogen war, ging die Regierung auch daran, dem Lande endlich R u h e v o r d e n I n d i a n e r n zu verschaffen, die natürlich während der vorhergehenden Wirren eines 80 jährigen Bürgerkrieges ziemlich ungestraft ihre Raubzüge über die „Frontera" hinaus ausdehnen konnten, aus dem Chaco nach Süden, aus der südlichen Pampa nach Norden, wo seit dem Zuge von Rosas nichts Ernstliches mehr unternommen worden war. Sie waren eine Geißel der Estancias und der kleinen Siedlungen im Süden von Buenos Aires geworden, und noch 1875 hatten diese Ranqueles, 4000 Lanzen stark, die Gegend von Azul und Tandil verwüstet und 200 000 Stück Vieh fortgetrieben. Aber eine Expedition, die sogleich unternommen wurde, endete mit der Unterwerfung der Ranqueles und der Sicherung der Linie Puán—Carhué—Trenque Lauquén 1876 (s. Karte). Drei Jahre später unternahm dann G e n e r a l R o c a den großen Feldzug gegen die Bundesgenossen der Ranqueles, die Araukaner (18791), die er bis über den Río Negro zurückwarf und ihre Macht für immer brach. Damit war Patagonien der Besiedlung geöffnet, nachdem schon 1869/70 der englische Kapitän ') Diese Expedition war auch wissenschaftlich von Bedeutung, da dem Generalstabe eine Comisión científica beigegeben war, zu der die deutschen Gelehrten A. Doering, L o r e n t z und N i e d e r l e i n gehörten. (Vgl. Informe oficial de la Comisión agregada al Estado Mayor General de la Expedición al Río Negro bajo las órdenes del General D. Julio A. Roca, Buenos Aires 1881). 14

Musters seine denkwürdige Reise mit den Tehuelchen von Punta Arenas bis zum Río Negro ausgeführt und sichere Nachrichten über das Innere dieses riesigen Landes gebracht hatte1). 1884 endlich drangen die argentinischen Truppen unter General V i c t o r i c a durch den Chaco nach Norden bis an den Bermejo vor und säuberten den südlichen Chaco von den räuberischen Stämmen, die in den Provinzen Santa Fe, Santiago del Estero und Salta immer wieder die Ansiedlungen bedroht hatten8). Inzwischen war die Einwanderung schon erheblich stärker geworden, Bahnbauten dehnten sich als Pioniere der Kultur immer weiter über die Pampa aus, ihnen folgten die Kolonisten und mit ihnen der Ackerbau — aus dem reinen W e i d e g e b i e t von ehemals wurde allmählich eine der reichsten K o r n k a m m e r n der Erde. Nur kurz seien hier die Zahlen der Einwanderungsstatistik angeführt für die ersten 50 Jahre von 1860 bis 1910, dem Zentenarjahr der Unabhängigkeit, nebst Entwicklung der Eisenbahnen und des Kulturlandes: Jahr

Einwanderung

1861—70 1871—80 1881—90 1891—1900 1901—1910

159570 260885 841122 648 326 1764103

Jahr

Eisenbahnlänge

1872

800 km

1888 1895 1910

8000 „ 14000 „ 28600 „

Kulturland 580000 ha 2500000 4900000 19000000

„ „ „

Der sprunghafte Fortschritt zwischen den Jahrzehnten 1871/80 und 1881/90 ist auffallend, und man kann das Jahr 1880 als A n f a n g des m o d e r n e n A r g e n t i n i e n s betrachten. Es zeigt einen gewaltigen Schritt vorwärts in der Einwanderung, im Bahnbau und in der Ausdehnung des bebauten Landes, wie aus der Tabelle ersichtlich; außerdem bedeutet es den B e g i n n der W e i z e n a u s f u h r (zum ersten Male 1879) und der G e f r i e r f l e i s c h i n d u s t r i e im Lande, d. h. also den ersten Schritt auf dem Wege zur W e l t m a r k t p r o d u k t i o n . 1) G. Ch. M u s t e r s : At home with the Patagonians, London 1871; deutsche Übersetzung: Unter den Patagoniern. Wanderungen auf unbetretenem Boden von der Magelhäes-Straße bis zum RioNegro von J. E. A. Martin, Jena 1873. ') Campaña del Chaco para la exploración, ocupación y dominio de todo el Chaco argentino. Publ. Oficial Buenos Aires 1885 (ebenfalls mit Berichten der wissenschaftlichen Kommission und Übersichtskarte). Vgl. Ztschr. Ges. Erdk. Berlin X X I , 1886, S. 5»—82.

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I. Genesis der Bevölkerung. 1. S p u r e n

des

prähistorischen

M e n s c h e n (Karte 2).

Die Kenntnis vom Vorzeitmenschen auf argentinischem Boden steht noch in ihren Anfängen, und mehrere Umstände vereinen sich, die dahingehende Studien erschweren. Zunächst sind über Funde und die wichtigsten Umstände dabei meist nur unsichere Grundlagen vorhanden, die Veranlassung gegeben haben zu ebenso unsicheren, häufig willkürlichen oder gezwungenen Deutungen solcher Knochenreste. Die Pampa war ja auch die Grabstätte der modernen Indianer, man hat aber im Übereifer fast jeden in einiger Tiefe unter der Oberfläche gefundenen Schädel für fossil gehalten, besonders wenn er kalkige Inkrustationen zeigte. Letztere sind aber in diesem Falle gar kein Zeichen eines wirklichen fossilen, mineralisierten Zustandes, da der kalkreiche Lößlehm der Pampaformation solche Inkrustationen leicht und schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit erzeugen kann, ohne daß die organische Substanz der Knochen verändert wird, was an Knochen von rezenten Pferden und Kühen, die ja nicht älter als höchstens 400 Jahre sein können, oft beobachtet werden kann. Es kommt weiter hinzu die Unsicherheit in der geologischen Abgrenzung der Pampaformation nach unten, d. h. gegen das Tertiär und die Sucht des bedeutendsten argentinischen Paläontologen, F l o r e n t i n o A m e g h i n o , aus A r g e n t i n i e n die W i e g e der M e n s c h h e i t zu m a c h e n , d. h. Skelettfunde möglichst zurückzudatieren, als aus dem Tertiär stammend, wobei dieser Hypothese zuliebe die exakte wissenschaftliche Beobachtung vernachlässigt wurde. Auch die menschlichen Artefakte sind wenig geeignet, Licht in die Frage des Vorzeitmenschen in Argentinien zu bringen, denn die europäische Einteilung in Paläolithikum, Mesolithikum und Neolithikum, in die Stufen des Chelléen, Acheuléen, Moustérien usw. ist hier chronologisch nicht zutreffend, da zwar entsprechende Typen wohl existieren, aber nebeneinander, nicht als Evolution 1 ). Es gibt z. B . Steinwerkzeuge vom paläo*) Vgl. E. B o m a n : Antiquités de la région andine de la Rép. Arg. et du désert d'Atacama. Paris 1908, II, S. 569; ders.: Vorspanische Wohnstätten, Steinwerkstatte u. Petroglyphen in der Sierra de Famatina. Ztschr. Deutsch. Wiss. Ver. Buenos Aires, 1920, S. 30; H. Obermaier : Der Mensch der Vorzeit, Bd. I von: Der Mensch aller Zeiten. Berlin, München, Wien, S. 176; W. H. Holmes: Handbook of American Indians north of Mexico. Bur. Amer. Ethnol. Bull. 30, II, S. 193, Washington 1910. 16

lithischen Typ, ganz ähnlich den Moustérienformen, die über das relative Alter ihrer Verfertigungszeit gar nichts aussagen, da e b e n s o l c h e F o r m e n z. T. noch in h i s t o r i s c h j u n g e r Z e i t a n g e f e r t i g t wurden. Die aufsehenerregenden Funde von Mir a m a r , Stein Werkzeuge, Bolas, aus unterem, hartem Pampalehm, wurden als tertiär angesehen, als Artefakte des primitiven Tertiärmenschen (Ameghino) 1 ) oder als Fälschungen (Boman) 2 ). Wahrscheinlich ist die Schicht („chapalmalense") ziemlich alt, an der Grenze zwischen Pliozän und Pleistozän — aber ob die Funde von einwandfreier primärer Lagerstätte stammen, darüber gehen die Meinungen auseinander3). Das Problem, das sich hier darbietet, besteht darin: Alle die Steinartefakte aus dem „Chapalmalense" von Miramar sind durchaus gleich den Steinwerkzeugen, die aus den oberflächlichen archäologischen Fundstätten in der Nähe stammen, deren Alter bis zur Conquista hinaufgehen kann, also X V I . Jahrh. Kann man sich vorstellen, daß Menschen vom Pliozän ab in der Pampa gelebt hätten, die bis zur Zeit der Eroberung keinerlei Fortschritt in der primitiven Technik ihrer Steinindustrie gemacht hätten? J a , die Bola wurde noch 1869/70 von den Patagoniern genau so angefertigt, wie sie uns Musters 4 ) als „Yatschiko" und „Chumé" beschrieben hat. Ein solcher Mangel an Entwicklung der Industrie vom obersten Tertiär bis zur Gegenwart scheint schwer glaubhaft zu sein. Was nun die Funde von menschlichen Skelettresten anlangt, so sind die wichtigsten, bisher bekannten Fundstellen auf Karte 2 eingetragen, und, da es sich dabei z. T. um Deduktionen handelt, die s. Z. das Interesse aller Anthropologen in Anspruch nahmen und eine große wissenschaftliche Polemik erzeugten, so seien den Funden noch einige Worte gewidmet6). (Die Numerierung stimmt mit der auf der Karte überein.) ') Une nouvelle industrie lithique: L'industrie de la pierre fendue dans le tertiaire de la région littorale du Sud de Mar del Plata in Anales Mus. Nac. Buenos Aires X X , 1911 S. 189—204. 3) Los vestigios de industria humana encontrados en Miramar y atribuidos a la époea terciaria in Estudios, X X I I , S. 428—445, Buenos Aires 1922; Encore l'homme tertiaire dans l'Amérique du Sud in Journal Soc. des Américanistes de Paris, Nouv. Sér. X I , 1919, S. 657—664. 3 ) Vgl. hierzu: F r e n g u e l l i y O u t e s : Posición estratigráfica y antigüedad relativa de los restos de industria humana en Miramar. Physis, VII, Buenos Aires 1924, S. 277—398. Vgl. hierzu noch O. Aichel a. a. O. (S. 18, Anm. 1). «) M u s t e r s , a. a. O. (Anm. 1, S. 15) S. 177 u. 180, Abb. 9 , 1 0 , 1 1 . 5 ) Gesamtbibliographie in A. H r d l i ë k a : Early man in South America. Bur. of America. Ethnology, Bull. 52, Washington 1912. Ferner bes. noch R . L e h m a n n - N i t s c h e : Nouvelles recherches sur la formation pampéenne et l'homme fossile de la Rép. Argentine. Rev. Mus. La Plata, XIV, 17

1. Die fossilen Knochen von Monte H e r m o s o , ein Atlas und ein Femur, wurden von Ameghino als einem miözänen Vorläufer des Menschen zugehörig gedeutet, einem nur wenig über 1 m großen, inferioren Wesen, doch näher dem Menschen als den Menschenaffen stehend, das ist sein T e t r a p r o t h o m o argent i n u s = H o m o n e o g a e u s von L e h m a n n - N i t s c h e . Der Atlas ist in der Tat kleiner und massiver, als der dem Menschen zukommende Mittelwert, jedoch nicht so stark abweichend, wie in den ersten Beschreibungen und Vergleichungen dargestellt wurde, sondern eben doch äußerst ähnlich dem menschlichen Atlas. Die zunächst erstaunliche Mischform zwischen Mensch und Affe kommt bei näherem Studium zustande durch eine doppelte Deformation, wie A i c h e l erwiesen hat1). Der Femur stellte sich bei näheren Vergleichen als einem fossilen Feliden zugehörig heraus. Das miozäne Alter der „Hermosense"-Schicht steht ebenfalls durchaus nicht fest — alle Voraussetzungen für die hypothetische Konstruktion dieses uralten Vorläufer sdes Menschen sind also hinfällig. 2. Der D i p r o t h o m o p l a t e n s i s (Amegh.) wurde als ein etwas jüngerer Vorläufer aufgestellt auf Grund des Fundes einer Schädelkalotte beim B a u des H a f e n d o c k s in B u e n o s Aires, aus 12,86 m Tiefe unter dem Wasserspiegel, angeblich aus pliozäner Schicht unter massiver Tosca. Dies Wesen sollte auch noch nicht zur Spezies Homo gehören, jedenfalls viel tiefer stehen als die Neandertalrasse. Das geologische Alter ist absolut unbewiesen, Pliozän aber höchst unwahrscheinlich. Der Fund wurde beim Ausschachten von Arbeitern gemacht, ging durch viele Hände und wurde zunächst gar nicht beachtet, die mehrere Jahre später gemachten Angaben über die Umstände bei der Entdeckung sind voller Widersprüche. Aber außerdem ist Ameghino dabei noch eine Entgleisung unterlaufen, indem er die Kalotte f a l s c h orient i e r t aufstellte, d. h. viel zu weit nach hinten geneigt, wodurch ein kleines, äußerst flaches Schädeldach vorgetäuscht wird, zu welchem Ameghino einen Inhalt von nur 1100 ccm berechnete. Diese etwas affenartigen Merkmale verschwinden aber, wenn die Kalotte richtig orientiert wird, d. h. mit einer entsprechenden Hebung der Inionpartie2). Dann kommen statt der berechneten S. 143—488, Buenos Aires 1907 (mit mehreren Mitarbeitern) Partie anthropologique, S. 191—410. Neuer ist: M. B o u l e : Les hommes fossiles. Eléments de paléontologie humaine. Paris 1923. (S. 424ff.) l ) O. A i c h e l : Die Bedeutung des Atlas für die Anthropologie unter Berücksichtigung des Fundes von Monte Hermoso. Verh. Anatom. Ges. XXVIII. Vers, zu Innsbruck, 1914, S. 274—278. *) Vgl. G. S c h w a l b e : Studien zur Morphologie der südamerikanischen Primatenformen. Ztschr. f. Morph, u. Anthropol. XIII, 1910, S. 209—258. 18

1100 ccm Schädelinhalt etwa 1400 bis 1500 ccm heraus und man kann an dem „Diprothomo"-Schädel nur ganz geringfügige Abweichungen gegen Normalformen von Homo sapiens erkennen, die innerhalb der noch heute vorkommenden Varianten liegen. „Jede größere Schädelsammlung enthält Dutzende von rezenten Schädeln, aus denen ein gleiches Kalottenstück herausgeschnitten werden könnte" (v. L u s c h a n in Ztschr. f. Ethnol. 1910). Dieser tertiäre Vorläufer des Menschen ist also ein Phantasieprodukt. 3. Ebenfalls eine Zufallsentdeckung, ohne Kenntnis näherer Umstände brachten die Schädel von N e c o c h e a und M i r a m a r zum Vorschein, die einen etwas fossilen Eindruck machen. Sie zeigen eine für Südamerika charakteristische absichtliche Deformierung, die aber nicht als solche erkannt, sondern als geringe Gehirnentwicklung gedeutet wurde; daneben wurde das vollkommene Fehlen des Kinnes als Zeichen einer inferioren Rasse angenommen, während es, wenn auch nur schwach ausgeprägt, doch vorhanden ist, in einer auch heute noch vorkommenden rudimentären Form. Es waren Oberflächenfunde aus einer Ablagerung, die Ameghino für unteres Pliozän hielt. Dies im Verein mit den von ihm angenommenen Zeichen der Inferiorität bestimmten ihn, auf Grund dieser Funde seinen „ H o m o P a m p a e u s " aufzustellen, als a l l e r ä l t e s t e n V e r t r e t e r d e s H o m o a u f d e r E r d e , wenn nicht sogar noch ein Prothomo. Leider fällt dies alles zusammen, sowohl die Anatomie wie die Geologie können diese Hypothese nicht stützen, denn die Schicht ist obere Pampaformation, also junges Quartär und es handelt sich wohl um Grabstätten. 4. An der gleichen Küste der Provinz Buenos Aires, bei der L a g u n a M a l a c a r a , fand 1909 ein Seemann zwei Schädel, von denen einer, ziemlich klein, von Ameghino als einer inferioren Pygmäenrasse zugehörend angesehen wurde, sein „ H o m o s i n e m e n t o " . Der Unterkiefer hat freilich nur eine schwache Kinnandeutung, ist aber nicht kinnlos, die Zähne denen des heutigen Menschen absolut gleich, die Knochen zeigen noch organische Substanz. Es handelt sich um einen unternormalgroßen weiblichen Indianerschädel, mit infantilem Kinn, wie es auch heute noch vorkommt, und zwar um Gräberfunde, denn Stückchen weißer und roter Ockererde, zum Bemalen von den Indianern verwandt, lagen dabei. 5. Der „ H o m o c a p u t i n c l i n a t u s " , der einer zwerghaft kleinen Rasse mit einer zur Erde geneigten Kopfhaltung angehören soll, wurde von Ameghino gegründet auf ein kleines, etwas mineralisiertes Skelett, das am A r r o y o S i a s g o i n einer dünenartigen Bildung 1,80 m unter der Oberfläche gefunden war. Der Schädel 3

KOhn, Argentinien

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sollte besonders klein, fast affenartig, jedenfalls äußerst primitiv sein. Es handelt sich hier um ein Kinderskelett mit künstlich deformiertem Schädel, keineswegs um eine besondere, primitive Pygmäenrasse. 6. Das in Zürich befindliche S k e l e t t v o n B a r a d e r o , 1887 aufgefunden und sehr schlecht erhalten, wurde für tertiär gehalten, da es in einer Schicht gefunden war, die einer für tertiär gehaltenen Austernbank äquivalent sein sollte, welche eben dort vorkommt. Die nähere paläontologische Untersuchung ergab jedoch für die fossilen Austern ein ziemlich modernes Quartär und die geringe Tiefe unter der Oberfläche, wohl nur 1 m, aus der der Fund stammt, läßt eher ein Grab vermuten, als einen so alten fossilen Rest. Besondere Merkmale sind nicht zu erkennen, außer daß die Zähne ziemlich groß sind, ein häufiges Merkmal der amerikanischen Rasse. Das bisher erwähnte Knochenmaterial stellt die Basis dar, auf der der „tertiäre Mensch" Ameghinos aufgebaut ist. Er kam nun weiter in seinem Gedankengange zu der Überlegung: Das südliche Südamerika (nämlich besonders die Pampa Argentiniens) besitzt ältere und differenziertere geologische Dokumente für den ältesten Menschen und sogar seine stammesgeschichtlichen Vorläufer (die Prothomines), als sonst bisher bekannt geworden. A r g e n t i n i e n , das den sonst nirgends angetroffenen Tertiärmenschen teils aus fossilen Skelettresten, teils aus seinen „eolithischen" Werkzeugen (s. o. bei Miramar) nachweisen kann, m u ß d e m n a c h als Wiege des Menschengeschlechtes und Z e n t r u m s e i n e r A u s b r e i t u n g a u f E r d e n angesehen werden. Leider kann dieser Anschauung Ameghinos und seiner Schule, da sie teils auf ganz unsicheren, teils sogar auf sicherlich irrigen Interpretationen aufgebaut ist, k e i n e w i s s e n s c h a f t l i c h e B e r e c h t i g u n g zuerkannt werden. Gehen wir nun zu denjenigen Skelettfunden über, die ohne Zweifel aus den obersten Pampaschichten stammen und die z. T. als diluvial angesehen werden, so ist ganz allgemein zu bemerken, daß die Fundstellen meist n i c h t e i n w a n d f r e i sind, denn Aufschlüsse gibt es ja in der Pampa nur an den Fluß- und Bachbetten, die natürlich Überschwemmungszonen darstellen und auch Regenschluchten einschließen, also keineswegs immer p r i m ä r e Lagerstätten vorstellen, wie die in gleichen Schichten, oft erheblich unter dem Oberflächenniveau gefundenen Knochen von modernen Pferden und Kühen zur Genüge dartun. Die weicheren Ausfüllungen solcher von der Natur erodierter Stellen wurden natürlich von den Indianern mit ihren primitiven, metallosen Grabwerkzeugen gerade b e s o n d e r s a l s G r a b s t ä t 20

t e n b e v o r z u g t ; und wenn man Knochen der fossilen Pampafauna mit menschlichen Knochenresten vergesellschaftet vorfand, so ist das an sekundärer Lagerstätte ja nicht schwer zu erklären. Bei dem besonders berühmten F o n t e z u e l a s - S k e l e t t (Nr. 7), das unter einem Panzerstück eines Glyptodon gefunden wurde, handelt es sich wahrscheinlich um ein Grab, dem dieses Panzerstück als Deckplatte diente — andere Knochen dieses Tieres fand man nämlich nicht dabei. Auch die Funde von G r a m i l l o , R i o H o n d o , O v e j e r o i n d e r Provinz Santiago del Estero (Nr. 8) entstammen sicherlich einer ziemlich rezenten indianischen Begräbnisstätte. Sie befanden sich alle in modernen Wasser- oder Windalluvionen, in geringer Tiefe. Die Knochen besitzen z. T. einen kalkigen Überzug (vgl. das oben Gesagte) und Einschnitte, die Ameghino als von Menschenhand herrührend deutete, während sie in Wirklichkeit Spuren der Nagezähne von Vizcachas sind, aus deren Höhlen die Knochen z. T. unmittelbar herausgefördert wurden. Die von Ameghino postulierte P r i m i t i v e P y g m ä e n r a s s e d e s „ O v e j e r o - M e n s c h e n " , von höchstens 1,80m Höhe, verwandt den Negritos in Südasien entbehrt der wissenschaftlichen Grundlage. Die aus den Fundstätten 9 bis 15 stammenden Knochenreste stammen aus rezenten Gräbern mit Ausnahme vielleicht von Nr. 18 (Samborombön-Skelett), das sich im Museum von Valencia befindet. Burmeister erwähnt diesen Fund zuerst 18841). Leider fehlt der Schädel und auch sonst sind die Daten über diesen Fund recht unsicher, so daß das diluviale Alter des Skelettes doch zweifelhaft bleibt, obwohl es in der Nachbarschaft des Unterkiefers eines Scelidotherium und zwar etwas tiefer, aufgefunden wurde. Zusammenfassend ist demnach zu sagen, daß ein besonders hohes Alter des Menschen, oder die Existenz seiner Vorläufer auf argentinischem Boden noch durchaus unbewiesen ist, daß wohl aus der oberen Pampaformation stammende d i l u v i a l e Reste vorhanden sind, die aber anatomisch mit den Merkmalen der modernen indianischen Rasse übereinstimmen, so daß durch sie kein Anhalt für die Evolution der Rasse gegeben wird. Allerdings befinden sich einige zweifelhafte Stücke unter den mehr oder weniger fossilen Knochen, die aber zu vereinzelt sind, um eine sichere Basis für weitgehende Schlüsse zu bilden 2 ). Bemerkungen in Bezug auf die Pampasformation. Verh. Ges. Anthropol. Ethnogr. u. Urgesch. Berlin 1884, S. 247. *) Vgl. hierzu O. A i c h e l : Zur Frage des Alters der Besiedelung Amerikas in Tagungsbericht 50. Allgem. Vers. Deutsch. Anthropol. Ges. Hamburg

8*

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2. Die p r ä h i s p a n i s c h e

Bevölkerung und ihre Reste. (Karte 8.) Von der autochthonen Bevölkerung unseres Gebietes sind heute nur noch spärliche Reste vorhanden. Zwar haben uns die Berichte der Conquistadoren eine sehr große Zahl von Namen von Indianerstämmen überliefert, mit denen sie in Berührung gekommen sind, aber von vielen ist meist nur wenig mehr überliefert als eben der Name und günstigenfalls Reste ihrer materiellen Kultur in den Museen, dagegen steht es mit der linguistischen Kenntnis, die wir heute haben, im allgemeinen sehr schlecht, denn ihre Dialekte sind größtenteils völlig oder fast völlig verloren gegangen. Überblicken wir in Kürze einmal das bunte Bild der Indianerbevölkerung, wie es sich den Spaniern bei ihrer Ankunft darbot, so können wir als Hauptgruppen von Stämmen, die ethnologischlinguistische Einheiten bilden, folgende unterscheiden: I. Norden : a) Gebirgsindianer des Nordwestens b) Indianer der Chaco-Ebene c) Tupí-Guaraní-Stämme im Nordosten. II. Zentrum : a) Indianer der Pampa b) Anwohner der großen Ströme. III. Süden: a) Araukaner b) Patagonische Indianer (Tehuelche) c) Onas im Feuerlande. Daneben finden sich noch einige isolierte Stämme, deren Gruppenzugehörigkeit nicht feststeht. Die wenigen heute im Bereich Argentiniens lebenden Indianer, die noch von europäischer Zivilisation verhältnismäßig unberührt sind, beschränken sich auf die äußersten Enden des Landes im Norden (Chaco) und Süden (Feuerland und Beagle-Kanal), d. h. auf die entlegensten, unzugänglichsten Gebiete ; die meisten sonst noch ziemlich rein erhaltenen Reste der Urbevölkerung sind „zivilisiert", „cristianos" und wollen nicht mehr „Indios" sein, sondern nennen sich lieber „paisanos" (Landleute). Auch sie bilden aber nur einen ganz geringen Teil der Bevölkerung und von den allermeisten Stämmen aus der Zeit der Conquista ist eben nur noch der Name vorhanden, die Träger desselben dagegen sind längst verschwunden, vernichtet oder aufgegangen in der neuen Mischbevölkerung der criollos, die sich bald bildete. In dem hier folgenden Überblick 1 ) sind die Namen der völlig

1928. Er stimmt Obermaier bei, der zu dieser Polemik sagt, daß die heutigen argentinischen Forscher eine Mittelstellung einnehmen zwischen dem Optimismus eines Ameghino und dem absoluten Skeptizismus Hrdliökas. x ) Näheres findet man z. B. bei G. Buschan : Illustrierte Völkerkunde in zwei Bänden. 2. Aufl. Stuttgart 1922, Bd. I, S. 411 ff., oder bei Outes y Bruch : Los aborígenes de la República Argentina. Buenos Aires 1910. 22

verschwundenen Stämme kursiv, die der in Resten erhaltenen gesperrt gedruckt. 1. Unter den G e b i r g s i n d i a n e r n des N o r d w e s t e n s 1 ) nehmen die Di a g ü i t e n den wichtigsten Platz ein. Sie bewohnten hauptsächlich das Gebiet der Calchaqui-Täler (Salta, Tucumán, Catamarca) und werden daher häufig auch „Calchaqui-Indianer" genannt, doch war ihre Verbreitung viel größer, denn ihre Spuren weisen ebenfalls nach La Rioja und bis nach San Juan hin. Die Diaguiten stellen die am höchsten stehende Kultureinheit unter der gesamten argentinischen Urbevölkerung dar, deren eigene Kultur freilich durch den Einfluß der Inca-Herrschaft in diesem Teile des Landes, die die Elemente des peruanischen Kulturkreises brachte, stark überdeckt wurde. Es war eine seßhafte Bevölkerung, die in eng zusammengedrängten Siedelungen aus niedrigen Steinhäusern wohnte, deren Mauern, die „pircas" ohne Bindemittel zusammengesetzt waren. Sie trieben Landbau (besonders Mais) in künstlich bewässerten Terrassenkulturen und besaßen an den strategischen Punkten besondere Festungen („Pucará"). Außer Steinwerkzeugen und hochstehender Töpferei hatten sie auch die Kenntnis der Bronze und verfertigten Schmucksachen aus Gold. Das Llama wurde von ihnen als Haustier gehalten. Merkwürdig sind die an vielen Stellen gefundenen Felsschriften oder „Petroglyphen", deren Deutung allerdings noch problematisch ist. Zahlreich sind die Ruinenstätten und Begräbnisplätze in dem Diaguitengebiet2), deren Mauern trotz des Mangels eines Bindemittels den Jahrhunderten noch Trotz geboten haben, und überaus reich sind die archäologischen Sammlungen in amerikanischen und europäischen Museen (Urnen, Stein- und Bronzearbeiten). Im Norden (Salta und Jujuy) schlössen sich die Omaguacas an, von denen das Tal von Humahuaca seinen Namen hat, und auf dem Hochplateau der Puna de Atacama die A t a c a m e ñ o s , ebenfalls Llamazüchter; im Süden, im Bereiche der Sierra de Córdoba und der Sierra de San Luis lebten die Comechingones, die in halbunterirdischen Höhlen wohnten, deren Wände z. T. mit einer Art Freskomalerei bedeckt sind8). *) Hauptquelle: E. B o m a n : Antiquités de la région andine de la Rép. Argentine et du désert d'Atacama. Paris 1908. 2 Bände. *) Hervorragende Bilder der Ruinen in C. B r u c h : Exploraciones arqueológicas en las provincias de Tucumán y Catamarca. Univ. de La Plata. 1911. *) F. de A p a r i c i o : Investigaciones arqueológicas en la región serrana de la Prov. de Córdoba. Anales de la Sociedad Geogr. „Gaea" Buenos Aires, 1925, S. 111—148. G. A. Gardner : The rock-paintings ofLa Quebrada. Jahrb. f. pr&hist. und ethnogr. Kunst „Ipek", herausg. von H. Kühn, Berlin 1980, S. 80—92.

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Die Atacameños haben sich noch ziemlich rein erhalten, armselige Bewohner des „Despoblado", genannt „Coyas" (Abb. 1), und auch in den Calchaquitälern findet man noch genug reine Abkömmlinge der Urbevölkerung, freilich nur in sozial tiefer Stellung, ohne Landbesitz, als „peone" (Knechte, Tagelöhner) und „puesteros" (Hirten) (Abb. 2 u. 19). Ihre Sprache, das „kaká", ist nicht erhalten, da mit der Incaherrschaft das Quichua offizielle Verkehrs- und Umgangssprache wurde, deren Einfluß sich in zahllosen geographischen Ortsnamen bis in die Provinz Santiago del Estero hinein1) zeigt. Es sind besonders Zusammensetzungen mit -pampa (Ebene), -yacu (Wasser), -orco (Berg), -huasi (Haus), -mayu (Fluß), -gasta, -marca (Ortschaft). Auch heute ist das Quichua im Nordwesten noch im Gebrauch, wenn auch nicht allgemein, und auch in Santiago del Estero bedienen sich die unteren Schichten der Bevölkerung dieses Idioms. Erinnerungen an alte Kulthandlungen bestehen ebenfalls noch, z. B. in den apachetas2) und acullicus3). 2. Die C h a c o - I n d i a n e r , auf niedriger Kulturstufe stehende Waldnomaden, Sammler und Jäger, am Bermejo und Pilcomayo ebenfalls Fischer, nahmen das riesige Wald- und Savannengebiet ein, das vom westlichen Ufer des Paraguay-Paraná sich bis an die Vorberge der Cordilleren im Westen erstreckt; im Süden reichten sie bis an eine Linie, die ungefähr von der Salado-Mündung über Mar Chiquita nach Córdoba zu geht. Hier im Süden des Chaco hatten die Abiponer ihr Gebiet, von denen wir ja durch Pater Martin Dobrizhoffer genaue Kunde haben, und die die Stadt Santa Fe häufig überfielen (s. oben S. 6). Ihre nördlichen Nachbarn, zwischen Salado und Bermejo, waren die Mokovies; am oberen und unteren Bermejo und zu beiden Seiten des Pilcomayo ist das Gebiet der T o b a (Abb. 8) und zwischen ihnen, mehr nach Westen zu leben die Mataco-Stämme (Choroti, Ashluslay), während am Gebirgsfuß weiter nach Norden und nach Bolivien hinein die Chiriguanos ihre Sitze haben, die nicht der linguistischen Guaycurú-Gruppe der sonstigen Chaco-Indianer angehören, sondern einen versprengten Zweig der Guaraní bilden, die auch eine seßhaftere Lebensweise führen. Nur noch kleine Reste dieser Urbevölkerung sind vorhanden und von diesen ') J . C h r i s t e n s e n : Toponimia de la Prov. de Santiago del Estero in J . F e r n a n d e z : Centros más importantes de la población de Santiago del Estero en 1916, Buenos Aires 1917 (S. 85—138). ') Steinhaufen an Paßübergängen, entsanden durch die Sitte, an solchen Stellen einen der Pacha-mama, der großen Göttin, geweihten Stein niederzulegen, um glückliche Reise zu erlangen. *) Ansammlungen ausgespuckter Kokaballen an Felswänden und auf apachetas, ebenfalls eine Weihgabe an die Gottheit in derselben Absicht.

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wiederum befindet sich nur ein kleiner Teil noch im primitiven Kulturzustand, natürlich weit abseits von den bereits von Weißen besiedelten Gebieten an den Bahnlinien und an den Uferstreifen der beiden großen Chacoströme, wo sie in der Wildnis ein verstecktes Nomadenleben führen und i. a. den Weißen feindlich gesonnen sind, was ja nicht Wunder nehmen kann. Dort leben auch noch ihre Dialekte, dort findet man die für den steinlosen Chaco bezeichnenden Hartholzspitzen für Pfeile und Speere, das Blasrohr mit Giftpfeilen, die schönen Knüpfarbeiten aus der Caraguatá-Faser, die hölzernen Tabakspfeifen usw. sowie eine primitive Töpferei1). Ganze Stämme haben sich an ein Sachsengängerdasein gewöhnt (besonders Matacos, Chorotis und Chiriguanos), indem sie mit Kind und Kegel jedes Jahr im Winter zu der Zuckerrohrernte nach Ledesma und San Pedro ziehen, wodurch natürlich rasch ihr eigener Kulturbesitz zugrunde geht (Abb. 4). Zwischen die eigentlichen Chaco-Stämme und die das Gebirge bewohnenden Diaguiten schoben sich, in dem Gebiet der heutigen Provinz Tucumán und den angrenzenden Teilen von Santiago del Estero, waldbewohnende und volkreiche Indianer ein, mit denen die Spanier auf ihren Eroberungszügen von Perú her nach der Pampa häufig in Berührung kamen; schwere Kämpfe mit diesen wilden, kriegerischen Urbewohnern werden uns berichtet*). Es waren die hules und die Juries, Nomaden und Sammler, auch unter sich in ewigen Kämpfen begriffen, wohl auch Antropophagen. Der Name „Tonocotés", der auch begegnet, bezeichnet nur die Sprache der Juries, von der aber, ebensowenig wie von der der Lules, nichts erhalten ist. Der Rio Lules südlich von Tucumán hält noch die Erinnerung an diese vollkommen verschwundene Urbevölkerung aufrecht. Einen weiteren besonderen Stamm, der auch verschwunden ist, treffen wir nach den alten Berichten am Fuß der Cordillere von *) E. N o r d e n s k j ö l d : Indianlif i El Gran Chaco, Stockholm 1910; deutsch: Indianerleben im Gran Chaco von C. Auerbach, Leipzig 1912; ders. Eine geogr. u. ethnogr. Analyse der materiellen Kultur zweier Indianerstämme im Gran Chaco. Göteborg 1918; H. K r i e g : Indianerland. Bilder aus dem Gran Chaco. Stuttgart 1929. Eine ausgezeichnete Bildersammlung von Chaco-Indianern (hauptsächlich aus Paraguay) stammt von Guido B o g g i a n i , herausgegeben von R. L e h m a n n - N i t s c h e unter dem Titel: Die Sammlung Boggiani von Indianertypen aus dem centralen Südamerika. Buenos Aires 1904. H. B a l d u s : Indianerstudien im nordöstlichen Chaco. Forschungen zur Völkerpsychologie und Soziologie, herausg. von R. Thurnwald, Band XI, Leipzig 1931. *) R. J a i m e s F r e y r e : Historia del Descubrimiento del Tucumán. Publ. de la Universidad de Tucumán. Buenos Aires 1916.

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San Juan und Mendoza, hauptsächlich in dem großen Becken der Lagunas von Guanacache an, die Hnarpes1). Sie waren nomadisierende Jäger und Fischer, besaßen auch Fahrzeuge auf den Lagunen in Gestalt von Flößen aus Binsen, deren Gebrauch sich noch heute dort erhalten hat. 8. Im Nordosten des Landes stoßen wir wieder auf eine große Indianergruppe, die der weitverbreiteten linguistischen Familie der Tupí angehören, die G u a r a n í e s . Von diesen Indianern stammt die mehr oder weniger rein erhaltene Landbevölkerung sowie die dienende Klasse der Städte in der Provinz Corrientes ab, sowie auch noch primitive kleine Reste im Urwald von Misiones, fern von der besiedelten Zone am Paraná (wie die Kainguá, Guayakí u. a.). Ursprünglich halbseßhafte Hackbauer, Jäger und Fischer, die mit dem Grabstock („macana") kleine Rodungsfelder bearbeiteten, wo sie Mandioca, Bataten, Kürbisse anbauten, wurden sie bekanntlich von den Jesuiten im 17. und 18. Jahrhundert in den „Misiones" angesiedelt, wie bereits erwähnt, wo sie in theokratisch-kommunistischen Gemeinwesen vereint und zivilisiert wurden (erste Gründung am oberen Paraná: Encarnación 1615). Dieser Beginn einer höheren Kultur unter den Waldindianern, von deren Blüte die Architektur- und Skulpturarbeiten jener Guarani-Indianer zeugen, wurde aber durch die Vertreibung der Patres im Keime wieder erstickt und alle diese bewundernswerte Arbeit war umsonst gewesen: so wie die Bauwerke zu Ruinen verfielen, so zerstreuten sich die Indianer wieder und kehrten zu ihrem früheren primitiveren Leben zurück. Charakteristisch für diese Indianer war der Lippenpflock, „tembetá" genannt, oft schön verziert. Die heutigen Correntiner Guaraníes sind bekannt als vorzügliche Waldarbeiter, sie gehen in großer Anzahl in die Quebracho-Distrikte des Chaco, sowie zu Rodungsarbeiten nach Misiones und sind noch wenig von europäischer Kultur beleckt (die Provinz Corrientes hat noch mehr als 50 Prozent Analphabeten). Die Guaraní-Sprache ist noch heute die allgemein gebrauchte Umgangssprache unter dieser Bevölkerung, ebenso wie bei den Marktfrauen, Waschweibern, Kutschern usw. selbst in der Hauptstadt Corrientes (und in ganz Paraguay) 2 ). Zahlreiche geographische Ortsnamen, Bezeichnungen einheimischer Tiere und Pflanzen entstammen dieser Sprache, u. a. häufige Zusammen-

') A. M e t r a u x : Contribution à l'ethnographie et à l'archéologie de la province de Mendoza. Revista del Instit. de Etnologia, Univ. de Tucumàn, I, Tucumàn 1929, S. 5—78. ') Mit spanischen und portugiesischen Brocken untermischt ist das Guarani die sog. „lengua geral" im südl. Brasilien.

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Setzungen mit y = Wasser, mini — klein, guazú = groß, itá = Stein, Fels, caá = Wald, ypá = See. 4. Der Einfluß des guaranitischen Kulturkreises erstreckte sich aber noch weiter nach Süden, bis zu den Bewohnern des Ufergebietes der großen Ströme Paraná und Uruguay, ihrer Inseln und des weiten Deltagebietes, also im heutigen Entre Ríos und im Ufergelände der Santa Fe-Seite, die man unter dem Namen der Charrúas zusammenfaßt und von denen die Stammesbezeichnungen der Minuanes (Delta und Entre Ríos) Chanás, Corondas und Timbúes auf der Westseite des Paraná überliefert sind, während auf der Südseite des Paraná-Unterlaufes und des Río de la Plata die Querandíes ihre Sitze hatten. Alle diese Stämme sind völlig verschwunden, doch hat uns Ulrich Schmiedel in seinem obengenannten Werke (vgl. S. 8, Anm. 1) Kunde von ihnen gebracht („Zechuruas", „Tiembus", „Carendies", „Corondas" und noch andere Namen von Uferbewohnern meldet er). Sie lebten hauptsächlich von Fischfang, Jagd und den Früchten des Algarrobo, hatten Dörfer und waren kriegerisch. In der Entdeckungsgeschichte spielen die Charrúas eine Rolle, denn im Kampf mit ihnen fiel der Entdecker des Rio de La Piata, Juan Diaz de Solis bei seinem ersten Landungsversuch (s. oben); die Querandíes dagegen eroberten und zerstörten das ältere Buenos Aires 15851). 5. Die weiten Ebenen der Pampa waren das Gebiet der nomadisierenden Jäger- und Sammlervölker, die man unter dem Namen der „Pampa-Indianer" oder „Puelche" zusammenfaßt*), noch bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts der Schrecken der Neusiedler in der südlichen und westlichen Pampa, heute völlig verschwunden. Die Pampa-Indianer gehörten einesteils der ,,-het"-Sprachengruppe an8) und zerfielen in die Talu-het im Nordwesten und Norden, zwischen den Huarpes im Westen, den Abipones im Norden und den Querandíes im Osten, die Dihui-het in der heutigen Provinz Buenos Aires und die Cheche-het weiter im Süden, an den Flüssen Colorado und Negro. Andernteils waren auch Vertreter der ,,-che"-Sprache unter den Pampa-Indianern vorhanden, d. h. Verwandte der Araukaner, der südlichen Gebirgsbewohner. Dies waren die Ranquelche oder Ranqueles im Innern der Pampa, dem 1) H. B u r m e i s t e r : Sur les crânes, les moeurs et l'industrie des anciens indiens de La Plata. C. R. VI. Congr. Intern. Anthropol. et Archéol. Brüssel 1878; L. M. Torres : Los primitivos habitantes del delta del Paraná. Bibliotèca Centenaria Univ. de La Plata, IV, Buenos Aires 1911; F. F. Outes : Los Querandies. Buenos Aires 1907; ders. : Segunda contribución al estudio de los indios Querandíes. Bòi. Inst. Geogr. Arg. X I X , 1908. *) R . Muñiz : Los indios Pampas. Buenos Aires 1929. 8) R. L e h m a n n - N i t s c h e : El grupo linguistico -het de la Pampa argentina. Rev. Museo de La Plata.

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heutigen Territorium Pampa Central etwa entsprechend 1 ), während es bei ihnen selber „Mamúllmapú", d. h. Land des Buschwaldes hieß, und ihr eigener Name von den Schilfdickichten an den Lagunen herkommt, an denen sie ihre Zeltlager hatten (ranquel = eine Art Binse). Nachdem die Pampa-Indianer in den Besitz des Pferdes gelangt waren und sich zu typischen Reiterstämmen umgewandelt hatten, waren sie bei ihrer den Spaniern weit überlegenen Ortskenntnis in diesen ungeheuer ausgedehnten Wildnissen zu einem äußerst gefährlichen Gegner geworden und durch die erbitterten Kämpfe sind sie schließlich ganz und gar ausgerottet worden, aber noch leben frisch im Gedächtnis die Namen ihrer großen Kaziken fort, wie Catriel, Calfucurá und dessen Sohn Namuncurá der sich als letzter Chef der Pampa-Indianer 1885 mit 9 Unterkaziken, 187 Kriegern und 185 Weibern und Kindern den argentinischen Truppen ergab. 6. An den langen Kämpfen in der südlichen Pampa nahmen außer den eigentlichen Pampa-Indianern oder „Puelche" auch ihre Nachbarn und Sprachverwandten aus der Cordillere, die „ M a p ü - c h e " ( A r a u k a n e r ) teil, deren Wohnsitze sich von Chile her über die Anden bis weit in die Ebenen am Rio Colorado und Rio Negro nach Osten hin erstreckten, etwa vom Río Diamante im Norden bis zum Quellgebiet des Rio Senguerr im Süden 2 ). Durch die Bekanntschaft mit dem Pferde wurden sie zu Reiternomaden, tapferen und wohldisziplinierten Lanzenreitern und verwegenen Viehräubern, deren Taktik der plötzlichen Überfälle den weißen Ansiedlern sehr viel Schaden tat und den argentinischen Truppen sehr viel zu schaffen machte. Aus der Pampa wurden sie zwar nach tapferer Gegenwehr mit ungleichen Waffen — Rohrlanze gegen Feuerwaffen — durch den Kriegszug 1879 gänzlich vertrieben, haben sich aber in der Cordillere von Neuquen als seßhafte Ackerbauer und Viehzüchter erhalten, wo die Stämme der P i k ú n - c h e (pikún = Norden, -che s. o.), P e h u é n - c h é (pehuén = die Araukarie, Araucaria imbricata) und H u i I i i - c h e (huilli = Süden) noch an vielen Stellen unvermischt leben und ihre klangvolle Sprache bewahrt haben (Abb. 5). Auch ihre alten Gebräuche, Feste, Spiele, Opferfeiern sind noch nicht verschwunden 3 ), ebenso wie man noch ihre charakteristischen Manuel J. O l a s c o a g a : Estudio topogräfico de la Pampa y Rio Negro. Buenos Aires 1881. Vgl. Peterm. Mitt. 1881, Tafel 5, wo man zahlreiche Ortsnamen der Ranquel-Sprache findet. *) Vgl. F. W e n z e l : Zur Anthropogeographie der chillenischen Kordillerenländer u. des argentinischen Pampagebietes. Diss. Marburg 1029, Kap. XIV. s ) P. Groeber y E. P a l a v e c i n o : Un nillatün en el Lago Lacar (Anales de la Sociedad de Est. geogr. „Gaea", III, Buenos Aires 1828, S. 291—314). 28

Schmuckstücke aus Silber, z. T. prächtige Arbeiten, im Gebrauch findet1). Die Araukaner sind meist kräftige, untersetzte Gestalten, von oft sympathischen Gesichtszügen, ihre Webereien, wie Ponchos, Satteldecken, Gürtel u. a. zeigen in Farben und Mustern einen ausgezeichneten Geschmack. Überaus häufig sind im Süden von Mendoza, in Neuquen und Río Negro die araukanischen Ortsnamen, zusammengesetzt z. B. mit leuvú (Fluß), lavquén (See), mahuida (Berg), -có (am Wasser), -hué (Ort, wo sich etwas befindet), -tué (Gegend, Gelände), -malál (Umzäunung) usw. in Verbindung mit charakteristischen Merkmalen, die von guter Naturbeobachtung der Eingeborenen zeugen2) und jedenfalls weit sinnvoller sind als die modernen, farblosen, meist dem Heiligenkalender entnommenen Bezeichnungen. 7. Die weiten Hochflächen Patagoniens südlich vom Río Negro bis zur Magellanstraße waren das Gebiet der nomadisierenden Tehuel-che (tehuel unsicher = Süden?), in ihrer eigenen Sprache, „Tsönneka" genannt, die heute fast völlig verschwunden sind. Aus den Berichten der ersten Seefahrer an der patagonischen Küste sind sie in Europa zunächst als Riesen bekannt geworden, eine starke Übertreibung der Körpergröße dieser Indianer, die freilich oft einen stattlichen Wuchs aufweisen, so daß sie wohl die mittelgroßen Spanier und Portugiesen ziemlich überragten und so Anlaß zu der Fabel von dem Gigantenvolk in Patagonien gaben. Auch die Tehuelchen waren zu Reitern geworden, die Jagd auf Guanaco und Strauß mittels der „Bolas" war ihre Hauptbeschäftigung; aus Guanacofellen, mit Straußensehnen genäht und auf der Hautseite bunt bemalt, bestand ihre Kleidung („quillango" = Fellmantel), aus einer großen Anzahl zusammengenähter Guanacofelle stellten sie ihre geräumigen Familienzelte („Toldos") her. Durch den englischen Kapitän Musters, der im Jahre 1869/70 als erster Weißer mit den Tehuelchen von Punta Arenas bis zu den ersten argentinischen Ansiedlungen am Rio Negro zog3), kennen wir viele Einzelheiten vom Leben dieser l ) F . San M a r t i n : Neuquen. Buenos Aires 1919. Vgl. ferner: R . L e n z : Estudios Araucanos. Materiales para el estudio de la lengua, la literatura y los costumbres de los indios Mapuche o Araucanos. Anales de la Universidad de Santiago, 1895—97. E . Z e b a l l o s : Viaje al pais de los Araucanos (Descripción amena de la Rep. Argentina, Buenos Aires 1881, Band I). *) P. G r o e b e r : Toponimia araucana (Anales de „ G a e a " , II, Buenos Aires 1926, S. 1—195). 3) a. a. O., vgl. S. 15 Anm. 1. Ferner F. P. M o r e n o : Viaje a la Patagonia. Austral 1876/77. Buenos Aires 1879. S. B e n i g n u s : In Chile, Patagonien und auf Feuerland. Berlin 1912, S. 195ff.; Reports of the Princeton University Expeditions to Patagonia, 1896—99. Princeton und Stuttgart 1903.

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Reiternomaden, denen einstmals das ganze gewaltige Gebiet der Mesetas als Jagdgefilde gehörte, wo heute die großen Schaffarmen ihre Drahtzäune gezogen haben, wo statt Strauß und Guanaco die Schafherden weiden — nur selten kann man noch den Anblick einer wandernden Tehuelche-Familie einmal haben (Abb. 6). 8. Im Feuerland schließlich wohnten die Onas 1 ), vermutlich ein abgesprengter Zweig der Tehuelche, Jäger und Sammler in den welligen Ebenen nördlich der mit undurchdringlichem Urwald bedeckten feuerländischen Cordillere und in dem parkartigen Hügellande an ihrem Fuße. Zum Unterschiede von den Tehuelchen sind sie keine Reiter geworden, statt der Bolas benutzen sie Pfeil und Bogen. Da sie auch die von den Kolonisten eingeführten Schafe, ebenso wie früher die Guanacos jagten, wurden sie schonungslos verfolgt und einfach niedergeknallt, so daß sie fast ausgerottet sind; einige spärliche Reste sind in den SalesianerMissionen angesiedelt, vereinzelt leben sie dann noch als Knechte auf den Schaffarmen — aber das ursprüngliche Jägerleben in der Wildnis führen nur noch sehr wenige. Dem Meere sind sie stets ferngeblieben, dies war der Bereich der K a n a l i n d i a n e r 2 ) an der Südspitze von Südamerika, jener Bootsnomaden, die in dem Gewirr der Inseln und Kanäle des feuerländischen Archipels ihr elendes Dasein als Fischer und Muschelsammler fristeten. Zu Argentinien gehören nur Angehörige des Yaghan-Stammes am Nordufer des Beagle-Kanals, höchstens noch ein paar Familien, die dort in abgelegenen Winkeln kümmerlich leben, nur selten sieht man einmal eines ihrer Boote oder ihre primitiven Hütten am Strande. Was nun die äußere Erscheinung der Eingeborenen anlangt, so sind sie i. a. etwas unter Mittelgröße, mit Ausnahme der Tehuelche; ihre Hautfarbe ist dunkel, mit Schattierungen von hellbraun bis dunkelbraun, oft mit olivenfarbigem Ton; die Haare tiefschwarz, schlicht und auffallend stark und dicht, Bartwuchs immer spärlich. In den Gesichtszügen ist auffallend und fast stets zu finden: breite, oft vorstehende Backenknochen, verbreitertes unteres Nasenende, volle, manchmal wulstige Lippen, stets C. R. G a l l a r d o : Los Onas. B. Aires 1910; Th. B r i d g e s : La Tierra del Fuego y sus habitantes. Bol. Inst. Geogr. Arg. XIV, 1898; J. M. Cooper: Analytical and critical bibliography of the tribes of Tierra del Fuego and adjacent territories. Bur. Am. Ethnol. Bull. 63, Washington; D e A g o s t i n i : Zehn Jahre im Feuerland. Leipzig 1924, S. 253ff; W. K o p p e r s : Unter den Feuerlandindianern. Stuttgart 1923. ') Ch.Darwin: Reise eines Naturforschers um die Welt, deutsch von Carus, Stuttgart 1875, S. 284ff; Mission Scientifiquedu Cap Hoorn, Bd. VII (Anthropologie, Ethnographie). Paris 1891.

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dunkle, meist schwarze Augen mit gelblicher Hornhaut. Hände und Füße sind meist auffallend zierlich gebildet. Der allgemeine Habitus der Physiognomie weist unzweifelhaft mongoloide Züge auf, doch findet sich bei den Gebirgsindianern des Nordwestens (Diaguiten) vorherrschend länglich, schmale, hagere Gesichtsbildung, oft mit ausgeprägter Adlernase, es sind Gesichter mit ernsten, melancholischen Zügen in ihrem Gesamtausdruck. Unter den Eingeborenentypen Argentiniens machen die Physiognomien dieser Indios vielfach einen würdigen, z. T. sogar stolzen Eindruck; auch unter den Araukanern gibt es, trotz ihrer breiten, runden Gesichter sympathische Erscheinungen, besonders auch unter den Mädchen, die mit ihren zwei langen, schwarzen Flechten und dem schönen Silberschmuck oft eine gewisse Eleganz zeigen, gepaart mit natürlichem Anstand. 3. D i e M e s t i z a t i o n w ä h r e n d der K o l o n i a l z e i t (Stammtafel bei Karte 4). Daß gleich von der Conquista-Zeit ab und durch die ganze Kolonialzeit hindurch eine Vermischung zwischen Spaniern und Indianerinnen stattfand, ist durchaus verständlich. Der Zuzug aus Spanien blieb ja überhaupt gering, da die Niederlassung in den neuen Kolonien am La Plata verboten oder mindestens sehr erschwert war und europäische Frauen traten fast überhaupt nicht die beschwerliche, lange Segelschiffreise an — mit Ausnahme etwa der Gattinnen von höheren königlichen Beamten. Schon durch eine real cédula vom 14. Januar 1514 waren für das spanische Südamerika Mischehen ausdrücklich für erlaubt und gesetzlich erklärt worden, und da den Spaniern, die ja selber in den mit Maurenblut durchsetzten Schichten schon recht dunkelhäutig waren, der angelsächsische Widerwille gegen, ,coloured people'' und die Idee gesellschaftlicher Ächtung der „half cast" ganz und gar fremd war, so f a n d in S ü d a m e r i k a s t a t t A u s r o t t u n g eine g a n z a l l g e m e i n e V e r m i s c h u n g s t a t t , der sich nur das kleine Beamten-Patriziat der höheren Funktionäre in den Städten entziehen konnte, da es ständig Zuzug vom Mutterlande erhielt und in den gehobenen Stellen eben auch spanische Frauen leben konnten. Abgesehen von dieser exklusiven Klasse überwog aber gleich von Anfang an die in Amerika geborene Mestizenbevölkerung mit spanischem Vater und indianischer Mutter. Das sieht man deutlich aus der Statistik schon bei den frühen Stadtgründungen: so wurde z. B. Santa Fe 1573 gegründet von 84 Soldaten, darunter befanden sich nur 9 in Spanien Geborene („peninsulares"), gegenüber 75 in Amerika geborenen Kreolen, d. h. Mestizen; desgleichen 31

befanden sich unter den 63 Mann, mit denen Juan de Garay 1580 Buenos Aires I I gründete, nur 10 in Spanien geborene Männer, die übrigen hatten Indianerinnen als Mütter. Die Spanier sind mit den eingeborenen Weibern außerordentlich fruchtbar gewesen, denn es blieb ja nicht bei der Einehe, was bei der geringen Zahl von Männern und infolge der Sitte des Weiberraubes bzw. des Weibertributes während der Conquista begreiflich ist. Soldaten, Offiziere, Beamte, Priester, Mönche — mit einem Worte alles, was bei den Abenteuerzügen mit dabei war, verhielt sich in diesem Punkte ganz gleich, und stets begleiteten große Weibertrupps — „camareras", d. h. Kammerfrauen, oder noch deutlicher „mujeres de cama", Bettweiber genannt — die Züge der Eroberer. Folgen wir hier der quellenmäßigen Darstellung von G. F r i e derici 1 ), so hören wir darüber: „ in den La Plata-Ländern ging es besonders toll zu, die Christen übertrafen die Gepflogenheiten der ungläubigen Moslims um das Dreifache, denn man hielt sich mehr als 20 Beischläferinnen, diese aber nie mehr als 7. Manche hatten mehr als 15 Kinder von ihnen, während sie ihre rechtmäßigen Frauen in Spanien gelassen hatten. Alle diese Mischlingsnachkommen wurden nach Sprache und Kultur Spanier, die sog. „Criollos" (Kreolen). I n den L a P l a t a - L ä n d e r n ü b e r w o g e n die M i s c h l i n g e ganz u n g e h e u e r und die eingeborene Bevölkerung wurde so vor der vollkommenen Ausrottung gerettet. Die Spanier brachten den neuen Ländern ihre Herrschaft, Kultur und Sprache — aber ihre R a s s e vermochten sie gegenüber der Masse der Bevölkerung nicht durchzusetzen: wenn auch durch die Mischung beeinflußt und durchsetzt, blieb doch der Grundstock der eingeborenen Bevölkerung auf weite Strecken hin im wesentlichen der ursprüngliche." Zu Anfang des 18. Jahrhunderts beginnt eine weitere Blutmischung in die Erscheinung zu treten: die M u l a t t i s i e r u n g a l s Folge der Einfuhr von Negern, die ungefähr 100 Jahre andauerte, trotzdem aber im La Plata-Gebiete längst nicht die Bedeutung erlangte wie z. B . in Brasilien oder Mexiko. Da es sich ganz ausschließlich um Sklaven für die häuslichen Dienste und die niederen Erwerbszweige der Lastträger, Tagelöhner, Straßenhändler u. dergl. handelte, in denen die Neger verwandt wurden, so war ihr Wirkungskreis fast ganz auf die größeren Städte beschränkt, d. h. damals eben nur Buenos Aires und Córdoba, wo auch die Mulattisierung auch bis heute noch ihre Spuren in den niederen sozialen Schichten hinterlassen hat. Im Jahre 1770 z. B . befanden ») a. a. O. (Anm. 1 S. 5) S. 502 ff. 32

sich in Buenos Aires unter 22000 Einwohnern 6000 „Farbige", d. h. Neger, Mulatten und Zambos, 1778 in Stadt und Land Buenos Aires unter 38 000 Einwohnern 4745 Neger und 4178 Mulatten, in der Provinz Córdoba zur gleichen Zeit unter 44 000 Einwohnern 7000 „Farbige"1). Im Ganzen darf man für die Bevölkerung des Litoralgebietes und von Córdoba, rund 800 000 Köpfe damals, etwa 10°/0 Neger und Mulatten annehmen — das ist ja nur ein geringer Anteil, verschwindend gegen das Überwiegen des indianischen Blutes im ganzen Lande, mit Ausnahme des Litoralgebietes, wie eine spanische Statistik vom Ende des 18. Jahrhunderts zeigt, die folgende Ziffern gibt: Litoralgebiet Anteil des indianischen Blutes: 36°/0 der Bevölkerung Prov. Córdoba „ „ „ „ : 67°/0 „ „ Tucumán „ ,, ,, ,, : 74°/0 >» >> Jujuy „ „ „ „ : 95°/„ „

So trat unser Land in das 19. Jahrhundert ein mit einer Bevölkerung von etwa 1/2 Million Menschen, deren ganz überwiegende Mehrheit aus Indianern und Mestizen bestand, den „Criollos", die aber durchaus ohne Einfluß auf die Geschicke des Landes blieben, beherrscht von jener Minorität der Spanier und ihrer reinblütigen Deszendenz in den Städten mit Regierungssitzen („Cabildo"). Ihnen gehört auch, von den „mercedes reales", den „encomiendas" und „repartimientos" her, der Grund und Boden; und zu diesem Patriziat gesellte sich noch als zweite neue Schicht der Oberklasse eine Plutokratie von Handelsherren, Reedern und Großkaufleuten in dem aufstrebenden Buenos Aires, das allmählich dem früheren Schwerpunkt des Landes, Córdoba, den Rang abläuft: von der gelehrten Stadt der Klöster und der Universität, dem binnenländischen Mittelpunkte höherer Kultur im Vizekönigreich geht die Hegemonie auf das Litoralgebiet mit seinem merkantilen Zentrum Buenos Aires über. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts noch waren die inneren Provinzen doppelt so volkreich als das Litoralgebiet: Buenos Aires (60 000) und Santa Fe (15 000) = 75 000 gegen Córdoba (90 000) und Santiago del Estero (60 000) = 150 000! Eine gewaltige soziale Kluft bestand zwischen dem weißen Patriziat der Herren und der Masse der farbigenMestizenbevölkerung, die in Armut und Unwissenheit, aber nicht etwa unzufrieden, dahinlebte, praktisch rechtlos, aber nicht etwa schlecht behandelt: zwischen „Patrón" und „Peón" bestand ein patriarchalisches Verhältnis. Unter der farbigen Landbevölkerung der Pampa entwickelte sich der G a u c h o als Erzeugnis einer bestimmten Umwelt zu ») Nach M. de Moussy a. a. O. (S. 13 Anm. 1) Bd. II, S. 287ff. 33

einem besonderen Typus. Ende des 18. Jahrhunderts kommt dieses Wort im La Plata-Gebiet in Gebrauch, nach L e h m a n n - N i t s c h e eine Entlehnung aus der Zigeunersprache1). „Gacho" = Stammesfremder bezeichnet ursprünglich einen vagabundierenden Nichtstuer, den man sich freilich nicht als den tippelnden Landstreicher Europas vorstellen darf, sondern beritten. Ein Pferd kostete ja damals in der Pampa sozusagen nichts, ebensowenig wie sein Unterhalt. Besitzlos und genügsam, mit fatalistischer Lebensauffassung, Verächter jeder Arbeit, die nichts mit den Viehherden zu tun hatte, fand er sein Betätigungsfeld auf den unbegrenzten Weiten der Pampa als galoppierender, lassoschwingender Viehjäger (zum Zweck der Häutegewinnung), und sein höchster Ehrgeiz bestand darin, ein „Domador" zu sein, das heißt ein Zähmer wilder Pferde (Abb. 7). In ärmlichsten Verhältnissen lebend, in primitiven Lehmranchos ohne Mobiliar bei frugalstem Lebensunterhalt, der fast ganz auf Fleischnahrung eingestellt ist, nebst etwas Mais und dem unentbehrlichen Mate, war Pferd, Sattelzeug, Lasso, Bolas (Wurfkugeln) und Messer sein einziger Besitz, und sein ganzer Stolz bestand darin, recht viel Silberbeschlag an seinem Reitzeuge zu haben®). Konservativ in seinem Wesen, verachtete er die Zivilisation als Freiheitsberaubung und wurde allmählich durch die Besiedlung und den Ackerbau an die Ränder der Pampa verdrängt, oder zu einer Änderung seiner ursprünglichen Lebensweise gezwungen, d. h. er wurde regelrechter Angestellter auf den Viehestancias; mußte die Einengung zwischen die Drahtzäune über sich ergehen lassen und das Vieh nunmehr als fremdes Eigentum betrachten. So wurde er aus dem „wilden" zum „zahmen" Gaucho, zum Peön, der aber immer noch mit stolzer Verachtung auf den im Schweiße seines Angesichts arbeitende Ackerbauer herabblickt. Noch trifft man aber in den entlegenen Gegenden des Innern, in der Wildnis des „Monte" prächtige Vertreter dieser halbindianischen Zentauren an, dunkelbraun, schwarzhaarig, mit blitzenden Augen und freiem, stolzem Wesen voll ritterlichen Anstandes, mit einem lebhaften Gefühl für „point d'honneur" („pundonoroso"), persönliche Beleidigungen durch Messerduelle austragend, zur Guitarre abends in der Boliche (dem Schankladen der Pampa) Taten berühmter Gauchos in improvisierten Strophen besingend. *) Das Wort Gaucho. Bundeskalender des Deutschen Volksbundes f. Argent. 1929, Buenos Aires. S. 77/78. *) Vgl. F. Kühn : Beiträge zur Kenntnis des argent. Reitzeuges. Ztschr. f. arg. Volkskunde, II, Buenos Aires 1912, S. 33—41; W. G i e s e : Lateinamerikanisches Reitzeug. Arch. f. Anthropol. N. F. X X I , S. 70—89, mit wertvollem Illustrationsmaterial.

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Ein Vergleich mit Arabern, Beduinen, drängt sich da leicht auf, besonders auch in Hinsicht auf den fatalistischen Zug ihrer Denkweise, und es ist interessant, ein spontanes Zeugnis S a r m i e n t o ' s darüber zu vernehmen, von seiner Reise in Algier: „En Argel, me ha sorprendido la semejanza de fisonomía del gaucho argentino y del árabe" 1 ) (In Algier hat mich die Ähnlichkeit in der Physiognomie zwischen dem argentinischen Gaucho und dem Araber überrascht). Mit großer Wahrscheinlichkeit darf man annehmen, daß die Entstehung des Gaucho-Typus gerade auf das maurische Element im südspanischen Blute zurückzuführen ist. Von seinem ursprünglichen nomadisierenden Leben, ähnlich dem der Indianer, schreibt sich seine hervorragende Ortskenntnis und sein Orientierungssinn her, Eigenschaften, die ja in der ungeheuren unbewohnten Weite unentbehrlich waren. So ist der Gaucho „ B a q u e a n o " , d. h. Orts- und Wegekundiger, und „ R a s t r e a d o r " , d. h. Spurenleser, und ohne die Dienste solcher Leute wären die Unternehmen gegen die Indianer seitens argentinischer Truppen im vorigen Jahrhundert ganz und gar unmöglich gewesen*). Kein Wunder, daß ein solch eigenartiger Rassetyp auch in der argentinischen Literatur Beachtung gefunden hat; schon Félix de Azara widmete ihm eine eingehende Schilderung 3 ), und Figuren wie Facundo Quiroga, der große Gauchohäuptling aus der Revolutionszeit, den S a r m i e n t o meisterhaft dargestellt hat 4 ), oder der berühmte Cordobeser Gaucho Chañilao®), den M a n s i l l a schildert, und das große Heldengedicht des M a r t i n F i e r r o und S a n t o s V e g a verdienen auch bei uns bekannt zu werden. 4. D i e n e u e B l u t m i s c h u n g d u r c h d i e

Einwanderung.

Die Loslösung der „Provincias Unidas del Río de la Plata" von der Herrschaft Spaniens brachte als einen der wichtigsten Punkte für die Neugestaltung den Grundsatz, daß Argentinien allen, die *) D. F. S a r m i e n t o : Recuerdos de Provincia. (La Cultura Argentina, 1916, S. 47.) *) Eine gute Charakteristik des Gaucho findet sich bei K. A n d r e e : Buenos Ayres u. die argentinischen Provinzen. Leipzig 1856, S. 170—184. In der Kunst fand er hervorragende Interpreten in den argentinischen Malern Bermudez und Cesáreo Bernardode Quirós. Vgl: Chr. B r i n t o n : An Exhibition of Paintings of Gaucho Life in the Prov. of Entre Ríos, Argentina, 1850—70 at the Hispanic Society of America. New York 1932. (mit 25 Reproduktionen). *) F. de Azara : Memoria sobre el estado rural del Río de la Plata en 1801. Madrid 1848. *) D. F. S a r m i e n t o : Facundo o Civilización y Barbarie. Erste Ausgabe (Chile) 1845, seither zahlreiche Neuausgaben und Übersetzungen. *) L. V. Mansilla : Una excursión a los Indios Ranqueles. 4

Kühn, Argentinien

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dorthin kommen sollten, offen stehe, daß den Einwanderern die gleichen Rechte eingeräumt wurden wie den Eingesessenen: Landerwerb, Handel, Staatsstellen in Verwaltung und Lehre, freie Religionsübung, leichte Möglichkeit die Staatsangehörigkeit zu erwerben — alles dies stand denen, die nach Argentinien wollten, uneingeschränkt in Aussicht. Daß die Menschenleere des Landes gebieterisch jede Erleichterung der Einwanderung forderte, daß Europäer kommen mußten, hat vor fast 100 Jahren der Staatsmann Alberdi in einem kurzen Satze prägnant zum Ausdruck gebracht, als er sagte: „Gobernar es poblar — poblar con Europeos" (Regieren heißt bevölkern und zwar mit Europäern). Doch nach der Losreißung 1810 vergingen noch Jahrzehnte, ausgefüllt mit Bürgerkriegen, ehe die Einwanderung wirklich einsetzte. Dann aber, mit dem Sturze Rosas' 1852, beginnt — erst zaghaft, dann rasch anschwellend — der Strom der Einwanderer sich nach den neueröffneten großen fruchtbaren Ebenen am La Plata zu ergießen und damit beginnt eine n e u e P e r i o d e in der Genesis der a r g e n t i n i s c h e n R a s s e , gekennzeichnet durch den Einfluß von Zahl und Herkunft der neuen Siedler. Da die Einwohnerzahl des Landes um 1860 noch äußerst niedrig war, nämlich nur rund eine Million, so spielte die Einwanderung proportional betrachtet eine sehr bedeutende Rolle, trotz anfänglich faktisch niedriger Ziffern, zumal der Strom sich nicht über das ganze große Land verteilte, sondern ganz und gar innerhalb der Pampa des Litoralgebietes blieb. Es ist aber bezeichnend, daß allein in in den sechs Jahren von 1854 bis 1859 bereits 27 000 Einwanderer nach Argentinien kamen, mehr als während zweier Jahrhunderte unter spanischer Herrschaft. In der ersten Dekade unseres Jahrhunderts erreichte die Einwanderungsziffer aber l 3 / 4 Millionen: das ist ein gewaltiges Anwachsen in 50 Jahren. Neben der Zahl spielt aber eine überaus wichtige Rolle dieHerk u n f t der Neuankömmlinge. Das ehemalige Privileg für die Spanier war ja nun aufgehoben, und wenn auch in dem neuen Menschenstrome die Angehörigen der mediterranen Rasse weit überwiegen, so darf man doch nicht vergessen, daß im Laufe der Jahrzehnte auch eine beträchtliche Zahl von Angehörigen anderer Rassen nach Argentinien gelangten und daß ihre besonderen rassischen Elemente als nicht unwichtige Zutat in den großen Schmelztiegel einer neuen Nation kamen, aus dem eine komplizierte Legierung entstehen mußte. Wie bunt das Völkergemisch in der Tat zur Zeit des letzten offiziellen Zensus (1914) war, zeigt folgende Statistik von damals im Lande lebenden Nicht-Argentinern (nach der Anzahl geordnet in runden Ziffern, unter Weglassung kleinerer Kontingente:) 36

Italiener Spanier Russen Uruguayer Franzosen Österreicher Brasilianer Chilenen Paraguayer Engländer Deutsche Bolivianer Schweizer Portugiesen Griechen Belgier

980 000 880 000 98 000 86 000 79 000 88 000 86 000 84 000 28 000 27 700 27 000 18 000 14 000 14 000 6 000 5000

zusammen rund 2 y2 Millionen Ausländer gegen rund 5 Millionen Argentiner, unter denen auch die nationalisierten Ausländer mit inbegriffen sind. Mindestens also 83 Prozent der Bevölkerung waren damals Fremde. Aber auch bei der neuen Einwanderung wiederholt sich, wenn auch in abgeschwächtem Maße ein Umstand, der schon bei der Blutmischung der Kolonialzeit eine große Rolle gespielt hatte: E i n s t a r k e s Ü b e r w i e g e n der M ä n n e r g e g e n ü b e r den F r a u e n . Nach obigem Zensus befanden sich unter den 2 % Millionen Fremden 1,6 Millionen Männer und nur 0,9 Millionen Frauen. Infolgedessen fanden und finden andauernd überaus zahlreiche Ehen von ausländischen Männern mit Argentinerinnen statt, die Kinder solcher Ehen 1 ) sind nicht nur gesetzlich, wie alle im Lande geborenen Kinder, sondern durch die Mutter, Sprache, Hauswesen, Schule auch durchaus in ihrem Fühlen und Denken Argentiner, unter Ablehnung der Nationalität des Vaters. Diese intensive Blutmischung des neuen argentinischen Menschen trat aber durchaus nicht im ganzen Gebiet des Landes in dem gleichen Grade ein, ganz im Gegenteil: die P a m p a , das große Produktions- und Arbeitsgebiet a b s o r b i e r t e f a s t ganz eins e i t i g das neue Menschenmaterial, denn 87 Prozent aller Fremden sind dort ansässig, in einem Räume, der nur etwa ein Sechstel des gesamten Territoriums umfaßt (s. Karte 5). Und da seit mehreren Generationen bereits ein Strom europäischer Menschen ununterbrochen sich dorthin ergießt, so ist ohne weiteres erklärlich, !) Wobei noch zu bemerken ist, daß die Argentinerin mit einer Durchschnittszahl von 4 Geburten als sehr fruchtbar zu bezeichnen ist. 4*

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daß im Gebiet der Pampa das rassische Bild der Bevölkerung sich gegenüber dem Stand von 1850 stark verändert, d. h. e u r o p ä i s i e r t hat. So zeigt die Statistik des Jahrzehnts 1914—1924, daß von dem Gesamtüberschuß der Einwanderung verblieben: 8 3 % in der Stadt Buenos Aires(!) 33 ,, „ „ Provinz Buenos Aires 10 „ „ „ „ Santa Fe 8 , , ,, ,, ,, Córdoba 6,, „ „ „ Entre Ríos also 9 0 % innerhalb des Pampagebietes. Das bodenständige Element der eigentlichen südamerikanischen „Nativos" ist dort stark in den Hintergrund gedrängt; im genannten Gebiet, und besonders noch unter der Stadtbevölkerung, herrscht durchaus ein neuer Typus vor, der „ E u r o - A r g e n t i n e r " , der europäische, und zwar vorwiegend südeuropäische, Rassenmerkmale zeigt, mit den romanischen Völkern durch Sprache, Religion und kulturelle Tradition zwar eng verbunden ist, jedoch als „Criollo" von Europa sich zu emanzipieren strebt und stark nationalistisch eingestellt ist. Es ist in diesem Zusammenhange bemerkenswert, daß seit dem letzten Jahrzehnt der große Vorsprung, den die beiden romanischen Haupteinwandererströme der Italiener und Spanier vor den übrigen Nationen besaßen, allmählich zurückgeht; denn während bis 1920 diese beiden Nationalitäten zusammen rund 80 Prozent der Gesamteinwanderung eines Jahres ausmachten, und innerhalb dieser 80 Prozent wieder die Italiener an der Spitze standen, zeigt die Entwicklung weiterhin ein allmähliches Wachsen der Ziffern bei anderen Nationen jenen beiden gegenüber, so daß 1928 z. B . nur noch ungefähr die Hälfte der Gesamteinwanderimg aus Spanien und Italien herkam und die übrigen Völkergruppen von einem Fünftel der Gesamtzahl auf fast die Hälfte angewachsen sind, wie nachstehende Tabelle zeigt1). Spanier u. Italiener Jahr

Anzahl

%

Andere Nationalitäten Anzahl

/o

1921 80 000 18 000 18,8 81,7 1922 101 000 21,8 78,2 28 000 1928 140 400 54 600 28,1 71,9 1924 118 800 41 000 25,8 74,2 27,2 1925 91 300 34 000 72,8 1926 92 000 68,2 42 900 81,8 39,4 1927 98 000 63 500 60,6 1928 47,4 67 700 61 300 52,6 l ) Nach Revista de Economia Argentina, Buenos Aires, 1929, I. Halbband, S. 93/94 (Zahlen abgerundet).

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Unter den beiden Hauptkontingenten haben die Spanier jetzt die Italiener überholt, ein Umstand, der mit der Erschwerung der Auswanderung aus Italien unter der faschistischen Regierung zusammenhängt. Im Jahre 1928 zeigte die Verteilung im einzelnen folgendes Bild 1 ): Anzahl

Nationalitäten Spanier Italiener Polen Jugoslaven Deutsche Tschechoslovaken Portugiesen Rumänen Sonstige

88 861 28 878 21 744 7 865 4 165 3 396 3 361 2 495 18 287 Total

/o 30,10 22,80 16,85 6,09 3,32 21 44

129 047

Wenn man hiermit das Bild aus den vorhergehenden Zeiten vergleicht, so erkennt man einen sehr beachtenswerten Unterschied in der Zusammensetzung der Ankömmlinge; z. B. in dem Jahrzehnt 1891—1900 trafen ein im ganzen 129 700, darunter Italiener und Spanier 111 000, d. h. 85 Prozent der Gesamteinwanderung, und Italiener allein 85 000. Die Polen haben jetzt die dritte Stelle erobert und erreichen bald die Italiener, die an die zweite Stelle gerückt sind; in dem einen Jahre 1928 (s. o.) kamen so viel wie früher in 10 Jahren. Auch bei der deutschen Einwanderung ist ein merkbares Anwachsen zu verzeichnen, denn gegenüber der Ziffer von 1880 Köpfen in dem genannten J a h r z e h n t stehen jetzt über 4000 in einem Jahre. Verlassen wir aber das Haupteinwanderungsgebiet der Pampa, so bietet das übrige Argentinien ein ganz anderes Bild: dort stellt der h i s p a n o - a m e r i k a n i s c h e dunkle C r i o l l o noch die herrschende Klasse dar und die Landbevölkerung zeigt stark indianisch beeinflußtes Mestizentum, z. T. noch mit einheimischer Sprache (wie Guarani in Corrientes, Quichua in Santiago del Estero und im Nordwesten). Nur in den beiden Industriezentren des Inneren, Tucum&n (Zucker) und Mendoza (Wein) begegnet man wieder Europäern und deren Abkömmlingen, so wie neuerdings in den Territorien Chaco und Misiones, seit dort nach dem Weltkriege sich europäische Siedler in beträchtlicher Zahl, darunter auch viele Deutsche, niedergelassen haben (Karte 5). Schließlich zeigt der Süden des Landes, nämlich die unter dem Namen „Patagonien" zusammengefaßten Nationalterritorien Rio *) S. Anm. S. 38.

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Negro, Neuquen, Chubut und Santa Cruz, wieder andere Verhältnisse. Dieses weite Land, ungefähr von der doppelten Größe Deutschlands, ist seiner natürlichen Verhältnisse wegen kein Einwanderungsgebiet für Siedler, es ist überhaupt erst sehr spät wirtschaftlich erschlossen worden, war vorher fast eine Art „no man's land", denn der echte Criollo hatte niemals für den entlegenen Süden besonderes Interesse gezeigt. Hier hat der Argentiner am wenigsten dem Lande seinen Stempel aufgedrückt, eher glaubt man in einem Kolonialgebiet zu sein, mit internationalem Charakter und stark gemischter, äußerst dünn gesäter Bevölkerung, unter der — des rauheren Klimas wegen — die Nordeuropäer: Engländer, Skandinavier, Deutsche, Holländer, proportional eine größere Rolle spielen als sonstwo in Argentinien. In der Nähe der Cordillere kommt dazu noch ein a u f f a l l e n d s t a r k e r chil e n i s c h e r E i n s c h l a g , der stellenweise bis 80°/ 0 der Bewohner ausmacht. 5. R a s s i s c h - s o z i o l o g i s c h e C h a r a k t e r i s i e r u n g gentiner.

der

Ar-

Die moderne Einwanderung hat jedoch nicht nur eine r a s s i s c h e Veränderung in die Bevölkerung Argentiniens getragen, sondern auch eine Umwälzung der s o z i a l e n Verhältnisse im Gefolge gehabt, insofern als in die selbstverständlichen traditionellen Verhältnisse patriarchalischen Charakters der ganz neue Zug des Wirtschaftskampfes, des Wettbewerbes gebracht wurde. Es entsteht nun, besonders in Verbindung mit dem überaus raschen Anwachsen der Handelsstädte, ein n e u e r M i t t e l s t a n d , der der Erwerbstätigen und Unternehmer, der sich zwischen die beiden bis dahin fast allein vorhandenen sozialen Stände der Aristokratie, d. h. der Großgrundbesitzer, und der Heloten, der besitzlosen, abhängigen Landbevölkerung, einschob und sich mit einer dem Kreolen unbekannten und unverständlichen Energie, mit Arbeitseifer und Zähigkeit sein Betätigungsfeld, seinen Lebensraum schuf. Damit erfuhr die bisherige unkomplizierte ökonomische und soziale Struktur Argentiniens, ein Erbteil der Kolonialzeit, eine tiefgehende Änderung: mit dem bequemen Dahindämmern im beruhigenden Gefühl eines gesicherten Besitzes war es auf einmal aus; das moderne Argentinien erwachte. Dieser Umwälzung stand der echte Criollo, wie zu erwarten war, zunächst passiv gegenüber, denn weder nach seinen Charaktereigenschaften, noch nach seiner Lebensauffassung war er ursprünglich auf Wirtschaftskampf eingestellt. Der nach Verdienst 40

jagende Europäer, der von der Arbeit für sein Emporkommen absorbiert wurde, nötigte ihm eher ein mitleidiges Lächeln ab als etwa Bewunderung oder Neid, im Sinne eines sehr bekannten spanischen Sprichwortes: „El vivo vive del sonzo, y el sonzo de su trabajo", d. h. der Schlaue lebt vom Dummen und der Dumme von Arbeit. Die Mischung Spanier-Indianer hat dem Kreolen einige Charaktereigenschaften verliehen, die in der Tat nicht nach energischer, zielbewußter Arbeit hindrängen, sondern eher zum Gegenteil. Nach Carlos Octavio B u n g e 1 ) , dem vielleicht etwas zu scharfen Kritiker seiner Landsleute sind es besonders folgende Eigenschaften, die dem südamerikanischen Criollo eigentümlich sind: „ p e r e z a " (Trägheit, Mangel an Tätigkeitsdrang), „ t r i s t e z a " (Mangel an Heiterkeit, Resignation), „ a r r o g a n c i a " (selbstbewußtes, stolzes Wesen), zu denen man aber auch noch, um nicht ungerecht zu sein, hinzunehmen muß: eine hohe Intelligenz, natürliches Taktgefühl und gewinnende Höflichkeit, Familiensinn, eine wahrhaft großartige Gastfreundlichkeit und Genügsamkeit in der Lebenshaltung. In unserem Zusammenhang interessiert natürlich hier vor allem die „pereza", ein Erbteil der altspanischen Hidalgo-Ansicht, daß Arbeit der Würde schade und nur für die andere Hälfte der Menschen („Ilideputa") da sei (vgl. obiges Sprichwort), genährt und gefördert nun weiter durch die angeborene Trägheit des Indianers, der ja systematische Arbeit überhaupt nicht kannte, weil er sie auch nicht nötig hatte. Es ist bereits oben gesagt worden, daß der Großgrundbesitz schon von der Kolonialzeit her (encomiendas, mercedes reales) in Argentinien herrschte und nach der Loslösung von Spanien setzte der Gewalthaber Rosas, der selber Estanciero war, die alte Tradition fort, indem er mangels anderer Mittel seine Anhänger und Truppenführer mit Land belohnte, das er ihnen als Eigentum gab. Weiter spielt auch die Emphytheusis bei der Entwicklung der Latifundien eine Rolle, da sie dazu diente, Landbesitz in den Familien zu festigen. Bis Mitte des vorigen Jahrhunderts blieb das Prinzip der alten Kolonialwirtschaft gewahrt: Austausch von den Produkten der Herden gegen europäische Erzeugnisse und Getreide. Verhältnismäßig nur wenige waren da, die sich in den Reichtum des Landes teilten, als die herrschende Kaste der mühelosen Nutznießer seiner ungeheuren natürlichen Weidegründe, und als solche selbstverständlich konservativ eingestellt 8 ), mit geringer Neigung gegenüber den neuen Einwanderern, — bezeichnenderweise „Juan sin ropa" genannt (Hans Lumpig) — Vgl. Literatur am Kapitelschluß. ») Vgl. H. L u f f t : Lateinamerika. Leipzig 1930, S. 120. 41

die Zahl dieser mühelosen Nutznießer selber zu vermehren dadurch, daß sie jenen von ihrem Lande abgaben. Der durch die Tradition geheiligte Egoismus, der Kastengeist der Estancieros blieb vorläufig bestehen, der sich zwar die Arbeit des Einwanderers gerne gefallen lassen wollte, ihm aber gutwillig eigentlich kein Stück argentinischen Bodens gönnte. So fanden die Neuankömmlinge nicht genügend freies Land vor, wo sich etwa größere Massen hätten ansiedeln können und es beginnt im Zusammenhang damit einerseits das Pachtwesen in der Landwirtschaft, andrerseits das Anwachsen der Hafenstadt Buenos Aires und anderer größerer Städte 1 ), in denen nun Handel und Industrie einen neuen Impuls erhalten und wo auch der Fremde als Exporteur den Gewinn von den Produkten der Landwirtschaft der Eingesessenen einheimst, wo dann weiterhin mit ausländischen Kapitalien die Aktiengesellschaften des Großhandels, der Mühlen, der Gefrierfleischanstalten entstehen, als notwendige Folge der größeren wirtschaftlichen Initiative und Energie der Fremden gegenüber dem traditionellen bequemen Dahinleben der alten Argentiner, unterstützt noch besonders durch die viel größere Kapitalskraft und den Anlagemut ersterer. Denn die Argentiner waren niemals kapitalistische Unternehmer gewesen, da die einfach konstruierte Wirtschaft solche Eigenschaften nicht heranzüchten konnte, sie auch nicht benötigte. Derartige Unternehmen in der Industrie, im Großhandel, im Bank- und besonders im Verkehrswesen brachten erst die Europäer ins Land, und so hat sich in den letzten 50 Jahren eine völlige Umgestaltung der Wirtschaftstruktur vollzogen, der Beginn einer neuen Zeit in Argentinien, gekennzeichnet durch den Sieg der modernen Auffassung des "time is money" gegenüber dem klassischen kreolischen „mañana" (morgen) und „paciencia" („nur keine Eile"), Begriffe, die freilich außerhalb des gesteigerten Wirtschaftslebens der Pampa auch noch heute unter den echten Criollos in schönster Blüte stehen. Vergangen*) Wachstum von Buenos Aires und Rosario (gegründet 1780) 1778 25 000 1842 1 500 1810 46 000 1852 3 000 1852 76 000 1858 10 000 1887 488 000 1000 113 000 1904 950 000 1910 200 000 1914 1 500 000 1925 300 000 1930 2 800 000 1930 466 000 (Nach F. K ü h n : Buenos Aires. Eine siedlungskundliche Studie (Mitt. deutsch-südamerik. Inst. 1914, S. 268—287, und von dems.: Die Großstadt Rosario. Ein Beitrag zur Siedlungskunde Argentiniens (Ibero-amerik. Archiv, I, 1926, S. 384—343). Das plötzliche Steigen der Einwohnerzahl in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tritt deutlich hervor. 42

heit und Gegenwart berühren sich nämlich noch heute innerhalb desLandesganzunausgeglichen.es b e s t e h e n n e b e n e i n a n d e r zwei A r g e n t i n i e n : das alte, kreolische im Innern, mit seinem einfachen, mehr oder weniger stagnierenden Wirtschaftsleben der Bequemlichkeit, und das moderne europäisierte Argentinien, d. h. das Pampagebiet des Litorals, Exponent des Fortschrittes und der sozialen Differenzierung, aus dem die beschauliche Ruhe des Daseins mehr und mehr geschwunden ist. 1 ) Aus dem früher Gesagten geht ohne weiteres hervor, daß dem politischen Begriff „Argentiner" eine Vielheit von Typen entspricht, die ebenso äußerlich, wie ihrem Wesen nach recht beträchtliche Unterschiede aufweisen, so daß man von einem N a t i o n a l c h a r a k t e r von allgemeiner Gültigkeit nicht wohl sprechen kann. Die Einheit der Sprache, der Religion, der Sitten und Gebräuche sowie der Begriff des „Ciudadano argentino" (argentinischen Bürgers) ohne landsmannschaftlichen Einschlag hält aber dieses Menschenmosaik doch zu einer festgefügten Einheit zusammen, und diese A s s i m i l i e r u n g s k r a f t der U m w e l t i s t so g r o ß , d a ß a u c h die N e u a n k ö m m l i n g e , w e l c h e r N a t i o n a l i t ä t auch i m m e r , sich ihr n i c h t e n t z i e h e n k ö n n e n . Die folgende Einteilung von Haupttypen der Argentiner nach genetischen und soziologischen Gesichtspunkten stellt nur einen Versuch dar, die Bestandteile des Mosaiks, das doch innerhalb des Rahmens seiner Umwelt wenn man es aus größerer Entfernung betrachtet, ein B i l d darstellt, einmal aus größerer Nähe zu analysieren. Unter diesem Gesichtspunkte würde man folgende Typen erkennen : 1. Der alteingesessene C r i o l l o e s p a ñ o l mit rein oder fast rein bewahrtem spanischen Blut 2 ), „la gente" oder „las familias de abolengo" (mit Stammbaum), seit der Kolonialzeit ansässig, entweder wohlhabende Großgrundbesitzer (estanciero, hacendado), aber in der Stadt lebend, oder in der Staatsverwaltung und Politik in den maßgebenden Stellungen tätig. Hochgebildet, weltgewandt, Anhänger der französischen Kultur, selbstbewußt, elegant; die Frauen hervorragend schön (s. Abb. 8). Sie bilden in jeder Stadt die tonangebende Oberschicht, „la Sociedad". 2. Der alteingesessene C r i o l l o s u d a m e r i c a n o , ebenfalls seit Unvermeidlich damit verknüpft war die Infiltration politischer Ideologien marxistisch-kommunistischer Richtimg, deren für Argentinien „exotische" Tendenzen zu schweren Kämpfen führen mußten. ä ) Die im letzten Falle gelegentlich auftretenden somatischen Spuren von fremder Blutzufuhr werden sehr ungern gesehen und als „patadas de ultra tumba" (Fußtritte über das Grab hinaus) bezeichnet.

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Menschenaltern im Lande ansässig, mit Indianerblut aus den Anfängen der Kolonialzeit. Entweder Estanciero, und zwar vielfach als patriarchalischer kleiner Herrscher auf seinem Riesenbesitztum lebend (Abb. 9) oder „Mayordomo" solcher Estancien, oder politische Chefs („caudillos") der Provinzial-Regierungen. Durch europäische Bildung und z. T. durch europäische Blutmischung modernisiert, Staats- und Provinzialbeamte, Offiziere, freie Berufe. 3. Der stark mit Indianerblut durchsetzte C r i o l l o m e s t i z o z. T. mit Zambo-Beimischung („Chino" — „China", Abb. 10) ohne Besitz, ohne Bildung, oft Analphabet, bescheiden und meist ziemlich indolent, überall auf dem Lande im Dienste der Estancieros als Knechte, Arbeiter, Hirten, Karrenführer, in bescheidensten Verhältnissen und anspruchslos lebend. Hierzu gehören als besondere Kategorie die „ G a u c h o s " (vgl. oben S. 33—35 u. Abb. 11) und die ihnen verwandten „Arrieros", d. h. die Leiter von Maultieroder Viehtransporten (Abb. 12). Die besser Gebildeten findet man häufig im Polizei- und Unteroffiziersstande, sowie als Schreiber, Bürodiener in den Ämtern. Die „Chinas" bilden überall im Lande Hauspersonal, Waschfrauen, Marktweiber. 3 a. Durch die Berührung mit der PseudoZivilisation in den Vorstadtvierteln der größeren Städte, besonders Buenos Aires, entsteht ein bastardisierter Gaucho-Ableger im sog. „ C o m p a d r i t o " (unübersetzbar, von compadre Gevatter), mit dem Firnis einer angenommenen Talmi-Kultur, etwa dem spanischen „Majo" Typus vergleichbar: herausforderndes und dabei geziertes Wesen bei völliger Unbildung, Eitelkeit im Anzug, Arbeitsscheu, ständiges Blickeschmeißen. Neben diesem bodenständigen „Kavalier" der Vorstädte entwickelte sich aus ähnlich orientierten Elementen der Einwanderer der sog. „ G u a r a n g o " als imitierter Compadre, jedoch ohne dessen Selbstbewußtsein — ein süßlicher, unaufrichtiger und feiger Bursche. 4. Der S e m i - C r i o l l o , abstammend von der Verbindung eingewanderter Väter und argentinischer Mütter. Hauptträger des im alten Argentinien fast ganz unbekannten erwerbstätigen Mittelstandes mit dem Streben nach wirtschaftlicher Unabhängigkeit, im Handel, Handwerk, Kleinindustrie, Gastgewerbe, landwirtschaftlichen Unternehmen, („Administrador") sowie in den unteren und mittleren Beamtenstellungen, vielfach Lehrer; bei besserer sozialer Stellung der Famile natürlich auch in allen höheren Berufen zu finden. 5. Der C r i o l l o n u e v o oder „ E u r o a r g e n t i n e r " im engeren Sinne. In Argentinien geboren und aufgewachsen, aber von ein44

gewanderten Eltern (meist derselben Nationalität) stammend, 1 ) durch Schule und Umwelt mit Leib und Seele Argentiner, aber mit dem Erbteil europäischer Initiative und somit dem Alteingesessenen an Energie und Arbeitsleistung überlegen, nach gehobenen Stellungen strebend, entweder technisch-industricll eingestellt oder den freien Berufen als Arzt, Rechtsanwalt usw. angehörend ; auch in den höheren Beamtenstellungen zu finden, desgleichen als Offizier. 6. Der — durch Erwerbung des Bürgerrechtes — zum Argentiner im gesetzlichen Sinne gewordene eingewanderte Europäer ( „ B i n d e s t r i c h - A r g e n t i n e r " ) . Nach Bildungsstand und Vermögen kann man drei große Kategorien unterscheiden: a) die Klasse der mittellosen Ungebildeten (z. T. Analphabeten), d. h. also der Einwanderer im eigentlichen Sinne, sie leben als Tagelöhner, Gelegenheitsarbeiter, Handarbeiter jeden Berufes in den Städten, ferner auf dem Lande als Landarbeiter, Kolonisten, Almaceneros, umherziehende Kleinhändler u. ä. b) Die Klasse der mittellosen Gebildeten ist zu finden unter den Angestellten in Handel und Industrie, als Techniker, Handwerker, Lehrer, kleinerer Unternehmer, Kaufmann usw. c) Die Klasse der Kapitalisten betätigt sich in der Großindustrie, dem Großhandel, Verkehrs- und Bankwesen, der Technik sowie auch bei Farm-Großbetrieben und sonstigen Aktiengesellschaften. Diese Skizze dürfte genügen, um zu zeigen, wie weit verschieden die Elemente sind, die unter dem Begriff des Argentiners zusammengefaßt werden. K r a f t der merkwürdigen Assimilation der Umwelt lind dank eines einheitlichen nationalen, patriotischen Empfindens wird das ethnisch doch ziemlich heterogene Material aber zu einer e r s t a u n l i c h e n E i n h e i t gemodelt, bei deren Betrachtung die rassischen Verschiedenheiten gegenüber den gemeinsamen Zügen an Bedeutung verlieren.

Literatur zu Abschnitt 4—6. D e n i s , P . : L a nationalité argentine (in: L'Argentine moderne, Pubi, de la Université de Tucumán. Buenos Aires 1910, S. 7—22). I n g e n i e r o s , J.: Die Bildung einer argentinischen Rasse (in: Ztschr. Deutsch. Wiss. Ver. Buenos Aires, 1915, S. 249—264). l) Daher meist nicht von eigentlichen „Immigranten" im engeren Sinne, die überwiegend unverheiratete Männer sind und meist Töchter des Landes heiraten. Bei „Einwanderer"-Familien (d. h. Kolonisten) aber erschwert die Isolierung im Inneren im Verein mit der Heranziehung der aufwachsenden Kinder zur Landarbeit den sozialen Aufstieg sehr erheblich.

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B u n g e , C. O.: Nuestra América. Buenos Aires 1918. T e r á n , J . B.: El nacimiento de la América española. Tucumán 1927. H a a s , A.: Die Entstehung des argentinischen Volkes (in: Phoenix, Ztschr. Deutsch. Wiss. Ver. Buenos Aires, 1921, S. 80—52). H a a s , A.: Argentinien (in: Perthes' kleiner Völker- u. Länderkunde. Stuttgart-Gotha 1928). R a u e n b u s c h , L. : Zur Rassenfrage in Argentinien. (Bundeskalender für Argentinien. Herausg. vom Deutschen Volksbund f. A. Buenos Aires 1927, S. 86—44.) B r a n d t , B . : Der lateinamerikanische Mensch in: „Iberica" (Ibero-Amerik. Institut) Hamburg, Jahrg. V, S. 105—113) und Karten in „Südamerika" (Jedermanns Bücherei) S. 60, 78. M a n n , W. : Volk und Kultur Lateinamerikas. Hamburg 1927. J e f f e r s o n , M.: Peopling the Argentine Pampa. (American. Geogr. Soc. Res. Ser. Nr. 16. S. 5, 23 ff. New York 1926.) K ü h n , F . : Der Mensch in Argentinien (in: Handbuch der geographischen Wissenschaft. Herausg. von Klute, Südamerika, Lieferung 6, Heft 3, Die La Plata-Länder, S. 87ff.). Q u e s a d a , E. : San Martin als Symbol und Ideal Lateinamerikas (in IberoAmerik. Archiv. Berlin 1980, S. 148). B u n g e , A. E . : La raza argentina (in: Revista de Economía Arg. XXIV, 1980, S. 119—125). A y a r r a g a r a y , L. : Cuestiones y problemas argentinos contemporáneos. Buenos Aires 1980. (u. a. : Constitución étnica argentina y sus problemas, S. 14ff.).

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II. Geographische Analyse der spontanen Verteilung der Bevölkerung1) (Karte 6.) 1. Die natürlichen Grundlagen. Einleitende

B e t r a c h t u n g über den Argentinien.

Siedlungsraum

Argentinien gehört zu den großräumigen Ländern der Erde, denn mit seinen rund 2,8 Millionen Quadratkilometern erscheint es als Koloß gegenüber den europäischen Staaten. Diese Fläche entspricht fast genau der sechsfachen Größe Deutschlands und würde, auf Europa projiziert, so ziemlich den Rumpf des Erdteils überdecken, von der iberischen Halbinsel bis zur Linie Leningrad—Odessa, oder, wenn man die Projektion im meridionalen Sinne vornehmen würde, so würde Argentinien vom Nordkap bis Sizilien reichen. Es ist gelegen zwischen den Breitengraden 22° und 55° s. B., würde also in entsprechender Breite unserer Hemisphäre eingeordnet, sich etwa von Königsberg bis Assuan erstrecken. Aus diesen Betrachtungen geht leicht hervor, daß die natürlichen Verhältnisse in einem so ausgedehnten Räume, zwischen den Tropen und den kühlen gemäßigten Breiten gelegen, besonders hinsichtlich der Gunst oder Ungunst der klimatischen Bedingungen für die Niederlassungen des Menschen, große Unterschiede aufweisen müssen, Gegensätze, wie sie auf dem weit beschränkteren Räume eines Landes wie Deutschland, undenkbar sind. Wenn man nun der Raumgröße die nur sehr geringe Anzahl der Bewohner, nämlich rund 11V2 Millionen gegenüberhält — woraus sich eine mittlere Dichteziffer von 4 ergibt — so darf man, in Anbetracht des schon beträchtlichen Zeitraumes von 80 Jahren für die unbeschränkte Einwanderung und der seither ständig gewachsenen Raumnot im industrialisierten Europa, von vornherein 1) Diese Fragen streift unter einem etwas anderen Gesichtspunkt (dem der „Attraktivität") das Werk von Prinz Louis F e r d i n a n d v. Preußen : Theorie der Einwanderung dargestellt am Beispiel Argentiniens. Berlin 1931 (E. Mittler u. Sohn), in dem die hier unter 1 behandelten Verhältnisse als das „Naturerbe", die unter 2 behandelten als das „Kulturerbe" bezeichnet werden.

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die Vermutung hegen, daß das große Land wohl innerhalb seiner Grenzen auch beträchtliche Gebiete enthalten dürfte, die für die Besiedelung mehr oder weniger ungeeignet sind. In der Tat ist Argentinien durchaus nicht etwa im ganzen als „ E u - ö k u m e n e " anzusehen, sondern neben solchen Landesteilen, die ohne weiteres Besitzergreifung und Niederlassung des Menschen gestatten, gibt es große Gebiete, die nur als b e d i n g t ö k u m e n i s c h zu betrachten sind und es fehlen nicht auch solche Räume, die man als a n ö k u m e n i s c h bezeichnen muß1). Während im ersten Falle die regionale Besiedelung stattgefunden hat, sind die bedingt bewohnbaren Landstriche nur selektiv, sporadisch besetzt und im letztgenannten Falle treffen wir auf fast oder ganz unbewohnte, d. h. eben auch unbewohnbare Gebiete (vgl. Karten 6, 14). Sehen wir einmal zu, welche natürlichen Verhältnisse diese Dreiteilung in der Bewohnbarkeit des argentinischen Erdraumes verursachen, wobei wir Klima, Bodenbeschaffenheit, Pflanzenkleid und Meeresküste in ihrer Wirkung auf die Verteilung der Bevölkerung kurz untersuchen wollen. K l i m a und Mensch 2 ). Da Argentinien zwischen den Breitengraden 22° und 55° liegt, d. h. innerhalb des subtropischen und gemäßigten Klimas, so ist von vornherein zu erwarten, daß die T e m p e r a t u r v e r h ä l t n i s s e günstig sein müssen und tatsächlich gibt es keine Gegend, in der auch der Nordeuropäer nicht leben und körperlich arbeiten könnte, im Gegensatz zu vielen Tropenländern. Denn selbst in den sehr sommerheißen Gebieten des Nordens (Chaco, Tucumán, Misiones) sind die Wintermonate verhältnismäßig kühl, so daß selbst Nachtfröste dort nicht selten sind und damit die in den Tropen fehlende Vgl. hierzu F. K ü h n : Die Verteilung der Gemeinden im Siedlungsgebiet Argentiniens in Ztschr. f. Geopol. III, 1928, Karte S. 39, ferner eine ältere Arbeit von E . D e l a c h a u x : La población de la Rep. Argentina in: Revista de la Universidad Buenos Aires, III, 1905. ') Das Klima Argentiniens als solches darzustellen, ist nicht Aufgabe dieses Abschnittes; zur näheren Information verweise ich auf Kap. IV meiner physischen Landeskunde (S. 188—205, wo auch die Literatur zu finden ist), ferner auf zwei Arbeiten von B. F r a n z e : Die Niederschlagsverhältnisse in Südamerika (Pet. Mitt. Erg. Heft 193, Gotha 1927, und: Die Temperaturverhältnisse in Südamerika (Pet. Mitt. 1929); besonders eingehend: K. K n o c h : Klimakunde von Südamerika (Handbuch d. Klimatologie, herausgeg.von Koeppen und Geiger) Berlin 1930 (Argentinien S. 212—240) Vgl. hierzu u. a. E . F r i e d r i c h : Der Einfluß des Klimas auf die anthropo-geographischen Verhältnises Chiles (Mitt. Ges. f. Erdk. Leipzig, 1915/16, S. 91—138).

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regelmäßige Erfrischung auch bei anstrengender körperlicher Arbeit während der heißen Jahreszeit gewährleistet ist. Anders verhält es sich aber mit der Wirkung der N i e d e r s c h l ä g e , insofern als ihre mittlere Jahresmenge auf großen Gebieten unter dasjenige Maß sinkt, das f ü r die Besiedlungsmöglichkeit erforderlich ist. Dieses T r o c k e n g e b i e t 1 ) von Argentinien, wenn man darunter diejenigen Teile versteht, die eine mittlere Regenhöhe von weniger als 400 mm besitzen, stellt eine große zusammenhängende Zone dar, die von der Hochpuna im Nordwesten als anfänglich schmäleres, allmählich breiter werdendes Band im Westen verläuft, immer mehr R a u m nach Südosten gewinnend, bis es im Bereich Patagoniens sich über das gesamte Mesetagebiet bis zur atlantischen Küste hin erstreckt, von der Rio Colorado-Mündung im Norden bis fast zur Magellanstraße. In diesem gewaltigen, etwa ein Drittel des Landes umfassenden Räume, der nur stark verkümmerte hydrographische Verhältnisse aufweist, ist die Besiedelung regional unmöglich und lokal durchaus an Wasservorkommen zum Zwecke der Berieselung gebunden (Piedmont-Oasen an den Gebirgsrändern im Norden, Flußoasen in Patagonien) (vgl. K a r t e 6). Ganz besonders lebensfeindlich sind die ausgedehnten S a l z p f a n n e n des Trockengebietes (Salinas, Salares), vollkommene Wüsten, unter denen die größte, die Salinas Grandes, eine Bodenfläche von 20 000 qkm ( = Württemberg) bedeckt, sowie die schuttbedeckten Gebirgsländer des Nordwestens, unter denen ja die Puna durch ihren spanischen Namen „El Despoblado" genügend gekennzeichnet ist. Doch auch das Gegenteil fehlt nicht: a l l z u g r o ß e r W a s s e r r e i c h t u m . Sei er eine ständige Erscheinung oder periodisch regelmäßig wiederkehrend, er stellt ein Hindernis für die Besiedelung dar. So fällt z. B. im Norden der Provinz Corrientes eine Fläche von mehr als 25 000 qkm als menschliches Wohngebiet aus, da sie von dem fast ununterbrochenen Sumpf- und Lagunengebiet der Esteros del Iberá, Maloya, Batel usw. eingenommen wird; ebenso verhindern die jährlichen Sommerschwellen des Paraná eine normale Besiedlung sowohl der niedrigen Uferlandschaften des Chaco als auch in dem ausgedehnten Deltagebiet, wo nur v e r e i n z e l t e P f a h l b a u s i e d l u n g e n vorhanden sind, denn diese niederen Landschaften werden jedes Jahr mehr oder weniger überschwemmt und zwar mehrere Monate lang (gewöhnlich Ende Januar bis Mitte April). !) Vgl. E. S o r g e : Die Trockengrenze Südamerikas. Berlin 1930 und: Ztschr. Ges. f. Erdk. 1930, S. 227—287 m. Karte (wo das aride Gebiete aber zu weit gefaßt ist). 49

Mit dem Reichtum an stehenden Gewässern bzw. Sümpfen hängt noch ein anderer Übelstand zusammen, der ein sonst begünstigtes Gebiet betrifft: das endemische Vorkommen der M a l a r i a im Nordwesten, die zwar i. a. in nicht allzuschwerer Form auftritt, aber wegen ihrer allgemeinen Verbreitung in dem betreffenden Gebiet (Provinzen Salta, Jujuy, Tucumán, Catamarca) doch einen stark hemmenden Einfluß auf die Entwicklung ausübt; denn wenn nach den Feststellungen der amtlichen Gesundheitsstatistik von den rund 650 000 Bewohnern dieser Gegend über 200000 malariakrank sind, mit einer jährlichen durchschnittlichen Sterbeziffer von 4001), d. i. 2°/00 der Erkrankten, so muß das Wirtschaftsleben dadurch stark beeinflußt werden. Es könnte auffallen, daß die Malariazone von dem regenreichen Gebirgsrand auch in das Trockengebiet übergreift: dies hängt mit der Bewässerung zusammen, die dort, ebenso wie in den Zuckerrohr- und Reisfeldern der Regenzone, ebenfalls die für die Entwicklung der der Anopheles-Mücke unentbehrlichen Wasserflächen schafft. Dies ist aber auch der einzige Fall in Argentinien, wo eine durch klimatische Verhältnisse verursachte Epidemie endemisch auftritt und leider muß festgestellt werden, daß die bisher in die Wege geleiteten Sanierungsmaßnahmen noch wenig Erfolg gehabt haben. Bodenbeschaffenheit und Besiedlung. Argentinien ist in der glücklichen Lage, eine r i e s i g e F l ä c h e f r u c h t b a r e r E r d e sein eigen zu nennen — nämlich kurz gesagt das gesamte La Plata-Gebiet östlich der Trockenzone, also die P a m p a , den C h a c o , das Z w i s c h e n s t r o m l a n d . Hier kann also die Bodenbeschaffenheit als solche kein Hindernis für die Niederlassung bilden und wenn wir — auch abgesehen von dem schon erwähnten Sumpfgebiet im Norden von Corrientes — auf der Karte 6 große weiße Flächen darin bemerken, so beruht diese mangelhafte Erschließung auf noch anderen Gründen, wie gleich zu erwähnen sein wird (s. nächster Abschnitt). Das T r o c k e n g e b i e t ist gegenüber dieser bevorzugten Zone sehr im Nachteil, denn fruchtbarer, humusreicher Boden kann hier entsprechend den natürlichen Verhältnissen nur unter ganz bestimmten örtlichen Bedingungen vorkommen, während ganz allgemein dürrer S a n d b o d e n (im Norden) und K i e s - u n d Ger ö l l d e c k e n (in Patagonien) verbreitet sind; auch die bereits ') Atlas Sanitario Argentino (Depart. Nacional de Higiene) Buenos Aires 1916, S. 59—65.

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erwähnten S a l z b ö d e n nehmen eine nicht unbeträchtliche Fläche ein. Diese inneren Ebenen können einen fast w ü s t e n h a f t e n Charakter annehmen, wie z. B. der äußerst sterile Landstrich, der den Süden von San Luis, den Westen der Pampa Central und den Osten von Mendoza umfaßt, wo riesige Ansammlungen von K o n t i n e n t a l d ü n e n , S a l z s ü m p f e und nackte B a s a l t wüste sich zu einer menschenfeindlichen Landschaft vereinen, durch die die berüchtigten „Travesias" (Durststrecken) führen1). Auch die Gebirge des Nordens sind Wüsten- oder Steppengebirge, in denen die unbedeutenden Kulturoasen der Längstäler die einzigen bewohnten Flecken darstellen, weit voneinander getrennt durch aride Schotterböden, gleichzeitig auch meist weit entlegen von den Verkehrswegen und zu einem stagnierenden Dasein verurteilt, ja z.T. auch wieder aufgegeben und verödet2). Die weit nach Südosten vorgeschobene Sierra de Córdoba hat etwas günstigere Verhältnisse aufzuweisen und ist in dem Längstal der Punilla dichter besiedelt; hier liegen viele Sommerfrischen, die von den Bewohnern des heißen Buenos Aires wegen des Gebirgsklimas aufgesucht werden und in den Schluchten befindet sich eine dichte Buschwaldvegetation, die neben den eigenartigen Felsbildungen des Gebirges zur Belebung des Landschaftsbildes beiträgt, ebenso wie einige Wasserfälle — kurz es ist deutlich, daß dies Gebirge bereits am Rande der feuchteren Zone liegt. Eine weit stärkere Ausnahme aber bildet der G e b i r g s r a n d gegen den Chaco, in T u c u m á n , Salta und J u j u y . Hier sind wir in einem Gebiet reichlicher Niederschläge durch Steigungsregen, statt der kahlen Felsrippen und riesigen Schutthalden finden wir hier üppigen subtropischen Wald und zahlreiche wasserreiche Bergströme, die zur Bewässerung der großen Kulturfläche (besonders Zuckerrohr) dienen, die sich am Fuß dieser Waldgebirge als der „Garten Argentiniens" erstreckt. Hier hat weit im Innern — und trotz der Malaria — eine besonders starke Verdichtung der Bevölkerung als ganz isolierter Fall im sonstigen Besiedlungsbilde stattgefunden, so daß die kleine Provinz Tucumán sogar die größte Dichteziffer von ganz Argentinien aufweisen kann (19 auf den qkm). Aber auch innerhalb der großen Lößfläche der La Plata-Ebene ') Vgl. H. G r e s l e b i n : Fisiografía y noticia preliminar sobre arqueología de la región de Sayape (Prov. San Luis) B . Aires 1924; J. F r e n g u e l l i : Observaciones geográficas y geológicas en la región de Sayape. Paraná 1931. ') Vgl. K. K. H o s s e n s : En las montañas riojanas al Oeste del Nevado de Famatina y en regiones limítrofes de la Prov. de San Juan. An. Soc. Cient. Arg. 1916, S. 11—56; W . P e n c k : Der Südrand der Puna de Atacama. Leipzig 1920, S. 58. D

Kühn, Argentinien

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spielt das Wasser eine große Rolle. Die Regenmenge nimmt ja bekanntlich vom äußersten Nordosten (mit 1800 mm) nach Südwesten und Westen, d. h. nach dem Trockengebiet kontinuierlich ab, so daß die inneren Teile der Pampa und des Chaco, in einem breiten, jenem Gebiete benachbarten Streifen zwar noch immer die gleiche Bodenbeschaffenheit, aber gegenüber den östlichen Gebieten mit 800 bis 1000 mm schon recht verminderte Niederschläge (unter 600 mm) aufweisen. Wenn man dazu sich die Tatsache vor Augen hält, daß.diese riesige Ebene äußerst f l u ß a r m ist (s. Karte 7) — denn zwischen den Chacoflüssen und dem Rio de La Plata erreichen nur zwei Flüsse aus dem Inneren den Paraná — so würde hier, in der westlichen und südlichen Pampa trotz fruchtbaren Bodens die Niederlassung des Menschen sehr erschwert, wenn nicht die Natur hier anders geholfen hätte. Einmal nämlich ist die innere Pampa reich an kleinen L a g u n e n , was sich bei ihrer Abflußlosigkeit durch die Oberflächengestalt erklärt, die viele sanfte Einsenkungen zeigt, in denen sich Regenwasser sammelt und lange erhält; zum anderen aber enthält der Boden selber einen großen Wasservorrat: das G r u n d w a s s e r . Durch oberflächliche Grabung oder tiefere Bohrung kann man fast überall gutes Wasser erschließen und die durch Windräder getriebenen Hebewerke der Brunnen oder einfachere Ziehbrunnen und Göpel werke sind überall anzutreffen. Da die Kenntnis der Grundwasserverhältnisse also für weite Gebiete von größter Wichtigkeit ist, hat die hydrogeologische Abteilung der geologischen Landesanstalt großzügige Untersuchungen hierüber angestellt1). Weniger günstig liegen die Verhältnisse im C h a c o , wo ebenfalls fließendes Wasser außer den beiden großen Strömen Pilcomayo und Bermejo fehlt, wenn man von der versumpften Uferzone des Paraguay—Paraná absieht, mit zahlreichen „Riachos" in häufig verlegten Betten, die sich in der Regenzeit in weite Lagunen und sog. „Bañados" verwandeln, ein bisher noch wenig erforschtes Gebiet. Das Innere des Chaco jedoch, zwischen dem Bermejo und dem Salado, diese riesige Ebene, entbehrt jedes Flußlaufes und auch Lagunen sind dort weit seltener als in der Pampa. Leider sind aber auch die Grundwasserverhältnisse viel ungünstiger, denn erstens ist die Grundwassermenge nicht reichlich und zweitens ist ihre Beschaffenheit ziemlich schlecht. S t a p p e n b e c k a. a. O. sagt: (S. 298): „Ganz besonders schlecht sieht es in der Beziehung im Chaco von Santiago aus. Zwar ist hier und da etwas trinkbares Wasser gefunden worden, aber die Regel ist Brack-, Salz- oder Bitterwasser. So traf man in Puno bis ') Vgl. R . S t a p p e n b e c k : Geologie und Grundwasserkunde der Pampa. Stuttgart 1926 (mit der ausgezeichneten Grundwasserkarte).

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66,7 m sechsmal Salzwasser, in Tobas bis 1212,7 m drei Salzwasserhorizonte und darunter noch achtmal Bitterwasser, in Aiiatuya bis 640,5 m neunmal sehr salziges Wasser, und die tiefen Bohrungen in Quimili bis 1168,75 m und in Alhuampa bis 2101 m ergaben nur salziges Wasser". Hier trifft also die Kolonisierung einer sehr großen Fläche (rund 260000 qkm) auf Schwierigkeiten, da die Regenfälle sehr unregelmäßig sind und häufig nicht ausreichen. Trotz ihrer reichen Vegetation an Wald, Savanne und Grasland, ist sie also vorläufig doch mehr oder weniger Wüste für den Menschen. Die spärliche Bevölkerung hat sich z. T. an den Gebrauch des Brackwassers gewöhnt, z. T. werden auch Zisternen, die sog. „Represas" zum Aufsammeln des Regenwassers angelegt, deren Inhalt bei längerer Trockenperiode aber natürlich sehr schlccht wird oder sogar austrocknet, so daß Mensch und Vieh zur Abwanderung gezwungen wird. Wasser ist also das große Problem für den trockenen Chaco, dessen fruchtbarer Waldboden in guten Regenjahren, wie die Erfahrung bereits gelehrt hat } glänzende Ernten ergibt, während in trockenen Jahren fast nichts gedeihen kann. Beziehungen zwischen P f l a n z e n w e l t und Besiedlung1). Wenn wir die V e g e t a t ion in ihrer Wirkung auf die Verteilung der Bevölkerung betrachten, so drängt sich sofort die Abhängigkeit des Siedlungsbildes von den natürlichen Pflanzenformationen auf, insofern als die offenen Landschaften der Gras- und Staudenfluren und der Savannen der Niederlassung des Menschen keinerlei Hindernis bieten und an solchen Stellen eine regionale Besiedlung Platz greifen konnte, während die Formationen der Holzgewächse (Wald, Buschwald, Dorngestrüppheiden) in der spontanen Wachstumsform der reinen Naturlandschaft durchaus s i e d l u n g s f e i n d l i c h sind. Denn sowohl die Dichte der Standart, im Verein mit wucherndem Unterholz und dem Flechtwerk der Lianen, als auch die meist große Härte des Holzes machen Rodungen größeren Maßstabes zu einer schwierigen, zeitraubenden und kostspieligen Aufgabe, und auch das meist geübte Abbrennen des Waldes befreit nicht von nachträglichen anstrengenden Arbeiten: Fortschaffen der halb verkohlten, Umhauen der noch stehengebliebenen Stämme, Beseitigung der Wurzelstöcke, kurz, das Urbarmachen von Naturwald geht nur sehr langsam vor sich2). ') Abb. hierzu in größerer Zahl finden sich in meinem Handbuch zur physischen Landeskunde a. a. O. Bd. II, S. 85ff. *) Dabei ist zu bedenken, daß das H o l z an sich nur dann wirtschaftlichen Wert haben kann, wenn es abtransportiert werden kann, was wegen der Ent5*

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Argentinien ist nun ziemlich reich an Holzformationen, wenn auch eigentlicher Hochwald darunter nicht so verbreitet ist. Aber die niedrigeren Buschwald- und Strauchheidenformationen sind wegen ihrer großen Dichte und ihres überaus dornigen Charakters ebenso menschenfeindlich. Außer den Gebirgswäldern des Nordwestens und in der patagonischen Cordillere, die als Siedlungsgebiete nicht in Frage kommen, besitzt Argentinien große Waldareale in Misiones, im Chaco und im Zwischenstromland, sowie dazu noch die riesige Wildnis der sog. ,,Monte"-Region, jene Formation von Buschwald, Dorngestrüppen und Kakteen, die sich im Westen und Nordwesten der Pampa bis an den Fuß der Cordillere hin erstreckt. Alle diese mit mehr oder weniger geschlossenen Gehölzformationen bedeckten Gebiete, treten auf Karte 6 als „Leerräume" deutlich in die Erscheinung; und wenn in der Monte-Region zum Buschdickicht noch die Wasserlosigkeit hinzukommt, wenn im Inneren des Chacowaldes die Wasserverhältnisse, wie oben erwähnt, ungünstig sind, so kann man die überaus dünne Bevölkerung dieser Landesteile ohne weiteres verstehen. Der C h a c o ist nun freilich kein g e s c h l o s s e n e s Waldland, sondern besteht außer dem typischen, dichten subtropischen Urwald mit kleinblättriger Belaubung (wegen der unregelmäßigen Regenfälle bereits den Xerophyten angeglichen!) auch aus Savanne und großen Flächen reiner Grasflur. Letztere Gebiete sind für extensive Viehzucht sehr geeignet, wenn genügend Wasser vorhanden ist, und die Rinderzucht ist dort schon sehr bedeutend: aber dieser Wirtschaftsbetrieb auf weit auseinanderliegenden Estancien von riesiger Größe, wo nur ein paar Hirten und Aufseher hausen, bedeutet ja keineswegs Kolonisation — es ist eine Besiedlung mit Vieh, aber nicht mit Menschen. Letztere hat bisher nur an den Rändern und an der Chaco-Querbahn (Santiago— Resistencia) Platz gegriffen (vgl. die Karten 6 u. 14). Neben der eigentlichen kolonisatorischen Niederlassung, die erst jüngeren Datums ist, hat auch die A u s n u t z u n g des Q u e b r a c h o b a u m e s zur T a n n i n f a b r i k a t i o n die Besiedlung eines bestimmten Chacogebietes herbeigeführt und zwar industrielle Siedlungen, Fabriken mit ihren großen Arbeiterkolonien. Sie sind auf einen schmalen Streifen in der Nähe des Paraná beschränkt, wegen des Vorkommens des besonders gerbstoffreichen „Quebracho chaqueño" in dieser Zone und wegen der Abhängigkeit der Fabrikation von reichlichem Süßwasser, das dort in der Nachbarschaft des Stromes gewöhnlich leicht erschließbar ist. Die sonst im Chaco vielfach betriebene Holznutzung (die sog. „obrajes") legenheit und des Fehlens der Verkehrsmittel gerade der Waldregionen nur selten der Fall ist, d. h. nur an Bahnlinien und Flußufern.

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hat dagegen keinen seßhaften, sondern ambulanten Charakter, wie es ja das System des s e l e k t i v e n R a u b b a u e s mit sich bringt. Dieser Betrieb führt also nicht zur Rodung von Flächen, wodurch etwa eine spätere Besiedlung erleichtert würde. Um noch kurz die „ m e s o p o t a m i s c h e " W a l d f o r m a t i o n zu charakterisieren, sei erwähnt, daß sie fast ausschließlich aus Mimosen-Arten von geringer Höhe besteht, untermischt hier und da mit Palmen. Wenn auch dieser Wald gewöhnlich nicht engständig ist, sondern mehr offen und unterholzfrei, ja oft parkartig entwickelt, so ist das Gebiet doch eben auch ohne Rodungsarbeit nicht besiedelbar und nur südlich der Linie Paraná—Tala—Concepción del Uruguay, wo der Wald verschwunden ist, besteht eine dichtere Bevölkerung und finden sich größere Gemeinden. Das Waldgebiet selbst ist nur spärlich bewohnt. Es bestehen hier ähnliche Verhältnisse wie im Chaco. Da nämlich der Waldboden, bei der offenen Standart der Bäume eine d i c h t e G r a s n a r b e trägt und das Vieh ohne Behinderung fast überall sich frei bewegen kann, so wird dieser Waldkomplex eben nur zur Viehzucht benutzt1). Sehr lehrreich ist ein Studium der Linienführung der Eisenbahnen in Entre Ríos und Corrientes, die deutlich das unbewohnte Waldgebiet abseits liegen lassen (Karte 8). Ebenso aufschlußreich ist das Aufhören der Pampabahnen an der Grenze gegen die Monte-Zone. Die Westgrenze des dichten Bahnnetzes fällt fast genau mit der Regenlinie von 550 mm zusammen, die die zwar unsichtbare, aber unverrückbare Grenze für den Ackerbau, d. h. also für dichtere Besiedlung, Produktion und somit für das Frachtgeschäft der Bahngesellschaften bildet. Wie ein Blick auf Karte 9 lehrt, besteht eine enge Beziehung zwischen der Lage der Endpunkte der Pampabahnen und dem Verlauf der beiden physiographischen Linien: Jährliche Regenmenge von 550 mm und Vegetationsgrenze zwischen Pampa und Monte. Statt der regionalen Erschließung im Osten sehen wir in letzterem Gebiete nur wenige Durchgangslinien zu den Oasen am Cordillerenfuße. Aus allen den vorstehenden Betrachtungen über die Beziehungen zwischen Vegetation und Besiedlung geht klar hervor, wie groß die anthropogeographische Bedeutung des Pflanzenkleides in der Naturlandschaft ist, denn von seiner Beschaffenheit hängt oftmals ganz allein der Grad der Erschließung durch Siedlung und Verkehr ab. *) Als ergänzendes, nahrhaftes Futter kommen noch die Schoten der Proaopis-Arten hinzu (ähnlich dem sog. „Johannisbrot"), sowie ihr Laubwerk; während ihr hartes Holz die Pfosten für die Zäune der Estancias liefert.

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G e o p o l i t i s c h e B e d e u t u n g der a r g e n t i n i s c h e n Meeresküste. Als i. a. sehr bedeutungsvoll für die Verteilung der Bevölkerung sind die Küstenlandschaften bekannt, und da Argentinien ein Land mit einer sehr ausgedehnten Küste an einem offenen Weltmeere ist, so müssen wir auch diese atlantische Küste in ihrer Einwirkung auf den Menschen näher betrachten1). Vom Kap San Antonio, der südlichen Landecke an der La PlataMündung bis zum Kap San Diego, der Ostspitze des Feuerlandes, gehört Argentinien eine Küste von einer Länge von rund 3800km, wozu noch etwa 150 km für die Südküste des Feuerlandes am Beagle-Kanal kommen. Schon der ä u ß e r e V e r l a u f der Küstenlinie in ungegliederten flachen Bogenschwingungen von großem Ausmaße, sowie die auffallende Inselarmut lassen da keine besondere Gunst für das Vorhandensein von natürlichen Häfen vermuten und wenn man dazu den Umstand nimmt, daß die Küstenform i. a. die einer e i n f ö r m i g e n S t e i l k ü s t e ist, so ergibt sich daraus eine Kombination, die als äußerst ungünstig für die Schiffahrt bezeichnet werden muß. In Patagonien erreichen die mauerartigen Steilabstürze der patagonischen Tafel im Mittel zwischen 50 und 100 m, an der Pampaküste der Provinz Buenos Aires tritt neben einer etwas niedrigeren Steilküste aus Pampalöß auch Dünenküste auf. Den einzigen besseren Naturhafen an der ganzen Küste stellt der große Golfo Nuevo auf der Südseite der Halbinsel Valdéz dar, und im Süden Patagoniens bemerkt man eine Anzahl von Ästuaren, die aber den Nachteil sehr bedeutender Gezeitenunterschiede besitzen, so daß sie bei Ebbe fast trocken laufen können (Fluthöhen 10 bis 14 m!). Aber noch nicht genug damit! Hinzukommt ja noch der Umstand, daß die ganze patagonische Küste ein w a s s e r a r m e s T r o c k e n g e b i e t ist, so daß sie ursprünglich völlig unbesiedelt und ohne ein einziges Fahrzeug war. Erst sehr spät wurde sie überhaupt in den Bereich des regelmäßigen Verkehrs gezogen, nämlich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nachdem man in Patagonien mit der S c h a f z u c h t begonnen hatte, die einen raschen Aufschwung nahm, so daß die V e r s c h i f f u n g d e r W o l l e notwendig wurde, während die Farmen 1 ) Genauere Angaben über die Natur der Küste finden sich im Handbuch der physischen Landeskunde des Verf., S. 176—188 nebst der Literatur; ferner wären zu vergleichen meine Abhandlungen: Die patagonischen Häfen Argentiniens (Ztschr. Deutsch. Wiss. Ver. Buenos Aires, 1915, S. 65—80) und: Die atlantische Küstenschiffahrt Patagoniens (Mitt. Deutsch- Südamerik. u. Iber. Inst., 1920, S. 39—48). Weiter: Derrotero Argentino (argent. Segelhandbuch), 2a. Edición, Min. de Marina 1917.

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alles zum Leben Notwendige, mit Ausnahme von Hammelfleisch, von Buenos Aires beziehen mußten. Es entstanden so eine Anzahl von Handelsplätzen, aber diese brachten weder eigene Schiffahrt noch irgendwie seemännisches Leben an die Küste Patagoniens, sie sind unbedeutende Siedlungen geblieben, ohne eigene Beziehung zum Meer, reine Stapelplätze für Wolle und für die Importwaren. Sie verdienen so fast nicht den Namen von Häfen, da auch keinerlei Vorkehrungen für die Sicherheit und Bequemlichkeit des Betriebes getroffen sind, sondern sich der Verkehr vom entfernt ankernden Schiffe zum Lande vermittels Leichtern abspielt, die auf den Naturstrand auflaufen (Abb. 13). Nur der Hafen von Madryn im Golfo Nuevo besitzt eine Lademole und in Comodoro Rivadavia, wo dicht an der Küste das größte argentinische P e t r o l e u m f e l d liegt, ist eine große Ladevorrichtung für die Tankschiffe vorhanden. Durch die Erschließung dieses Feldes ist dort eine besondere Entwicklung eingetreten, nämlich die industrielle, so daß Comodoro Rivadavia mit seinen 15000 Einwohnern alle anderen patagonischen Küstenplätze überflügelt hat. Die kurze Küste des Feuerlandes mit ihren steilen Felswänden und düsteren Wäldern ist gänzlich bedeutungslos und fast überall unnahbar; es sei nur erwähnt, daß in einer ihrer wenigen Buchten die s ü d l i c h s t e „ S t a d t " der E r d e , Ushuaia, liegt, die Hauptstadt des Territorio Tierra del Fuego (unter 55° s. B.), entsprechend der Breitenlage von Königsberg), mit 1000 Einwohnern. Ganz anders hat sich der S ü d h a f e n der P a m p a entwickelt, B a h i a B i a n c a . Hier liegt das natürliche Ausgangstor für den Süden und Südwesten der Pampa, ein Hinterland von großer Ausdehnung, das sich immer mehr zu einem Weizenanbaugebiet entwickelt hat, für welches der Transport nach Bahia Bianca näher ist als nach Buenos Aires. Zahlreiche Bahnlinien bedienen diese Zone und konvergieren nach diesem Exporthafen, der bei seiner steigenden Bedeutung mit ganz modernen Elevatoren ausgestattet wurde. Bahia Bianca wuchs entsprechend dieser Entwicklung ziemlich rasch von einem unbedeutenden Städtchen zu einer lebhaften Handelsstadt von 100 000 Einwohnern (1895: 9000 Einwohner) und mit einem lebhaften Überseeverkehr. Die Ausfuhr an Zerealien betrug 1924 2,5 Millionen Tonnen im Werte von rund 400 Millionen Goldmark. (Vgl. auf Karte 9 das Einzugsgebiet dieses Hafens). Mit Ausnahme dieses Punktes und des Petroleumshafen von Comodoro Rivadavia ist aber der ungeheuer langen Seeküste Argentiniens geopolitisch nur eine passive Rolle zugefallen. Unmöglich konnte Argentinien aus dem Besitz einer Meeresküste dieser Art einen besonderen Nutzen ziehen, besonders konnte es 57

deshalb nicht zur Entwicklung einer Handelsflotte kommen, denn die Gesamttonnage der argentinischen Handelsmarine, einschließlich der Flußschiffahrt, 297 000 Rt zeigt ihre Bedeutungslosigkeit. So ist das Land, trotz seiner Lage im offenen Ozean, nicht zu einer seefahrenden Nation geworden. Es fehlt auch fast völlig der Seefischereibetrieb, der nur in Mar del Plata (in der Mitte des Küstenbogens der Provinz Buenos Aires) in kleinem Maßstabe ausgeübt wird zur Versorgung von Buenos Aires. Als Endergebnis dieser Betrachtung ist also festzustellen, daß die Natur der Küste, ihre ungünstigen topographischen und klimatischen Verhältnisse, es mit sich bringt, daß sie keineswegs für den Süden des Landes Anlaß zu einer Verdichtung der Bevölkerung geben kann. Seemännische Bevölkerung, eigene Schiffahrt und alles was damit zusammenhängt, sind ihr versagt.

2. Wirtschaftliche Grundlagen Wenn die vorangehende Betrachtung der physiographischen Wesenszüge des Lebensraumes Argentinien ergeben haben, daß die Natur Gunst und Ungunst sehr ungleich über das große Land verteilt hat, indem die Niederlassung des Menschen teils leicht gemacht, teils erschwert und teils ausgeschlossen wird, wenn sich somit ohne Schwierigkeit das K e r n g e b i e t d e r S i e d l u n g herausschälen läßt, nämlich das durch seine Bodenbeschaffenheit und klimatischen Verhältnisse dazu prädestinierte Gebiet der P a m p a im engeren Sinne, so ist damit freilich schon ein wichtiger Schlüssel für das Verständnis der Verbreitung der Bevölkerung und ihre größere oder geringere lokale Dichtigkeit gegeben. Jedoch ist der Mensch als denkendes und erfinderisches Wesen ja nicht so ganz ausschließlich darauf angewiesen, nur die bevorzugten Teile der Erdoberfläche zu besetzen, er wird auch in einem neuen Lande ungünstigere Gegenden nicht verschmähen und dort mit Hilfe von Verbesserung der natürlichen Verhältnisse Möglichkeiten der Siedlung schaffen, w e n n es s i c h v e r l o h n t , d. h. wenn dabei irgend ein besonderer wirtschaftlicher Nutzen herauskommt, als Ausgleich für die aufgewendete Mühe bzw. für das Ertragen unbequemerer Lebensverhältnisse. In unserem Falle gilt es also nun zu untersuchen, ob die Möglichkeit besonderer Ausbeutung einen Einfluß auf die Verteilung der Bevölkerung Argentiniens insofern ausübt, als sie den nötigen Anreiz bieten kann zur Niederlassung und wirtschaftlichen Erschließung in weniger begünstigten Landesteilen. Hierbei muß aber berücksichtigt werden, daß das Kern-Wohngebiet in Ar58

gentinien noch keineswegs voll ausgenutzt wird, geschweige denn, daß Platzmangel dort vorhanden wäre; jener Anreiz muß also als n i c h t g e r i n g vorausgesetzt werden, um wirksam zu sein. Es kann sich da naturgemäß nur um Folgendes handeln: 1. Ausbeutung von Mineralien und ihre eventuelle industrielle Verwertung. 2. Ausbeutung von Pflanzenstoffen. 3. Anbau von hochwertigen Kulturgewächsen mittels künstlicher Bewässerung. Wozu 4. noch kommen kann die b e s o n d e r e W o h l f e i l h e i t von Land außerhalb der begünstigten Zone für einwandernde Kolonisten, die auch ohne Aussicht auf guten Verdienst nur ein una b h ä n g i g e s D a s e i n a u f e i g e n e r S c h o l l e suchen, was ihnen die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in der Heimat verwehren. Der B e r g b a u spielt in Argentinien keine bedeutende Rolle. In den großen Alluvionsebenen der La Plata-Tiefländer darf man von vornherein keine Bodenschätze erwarten1), sondern muß die Minengegend in den Gebirgen suchen. Wenn dort auch eine große Anzahl von Erzvorkommen nachgewiesen ist 8 ), so besteht doch keine irgendwie nennenswerte Ausbeute, denn die Entlegenheit und die Transportschwierigkeiten, im Verein mit der Sterilität der nördlichen Cordillere und der zentralen Sierren würden höchstens die Ausbeute ganz besonders wertvoller und reicher Minenschätze lohnen. Davon ist aber keine Rede. Trotzdem sind vereinzelt größere Unternehmen auf Kupfer versucht worden, verbunden mit Schmelzwerken, wie Capillitas (in Catamarca) oder Famatina (La Rioja), aber keines hat sich als lebensfähig erwiesen. Doch mag die M e j i c a n a - M i n e in der Sierra de Famatina erwähnt werden als Beispiel für eine menschliche Wohnstätte unter den denkbar ungünstigtsen natürlichen Verhältnissen, nämlich in einer absolut wüstenhaften Schuttregion des Hochgebirges, ohne trinkbares Wasser. Das Verwaltungsgebäude dieser Mine liegt in 4600 m Höhe (die Stollen bis 5000 m) und stellt somit die h ö c h s t e s t ä n d i g e S i e d l u n g Argentiniens dar; die Versorgung geschieht mittels einer großartig angelegten Drahtseilbahn vom Fuße des Mit Ausnahme der Salzlager („Salmas"), die aber nur zum geringen Teil abgebaut werden, wie z. B. Salinas Chicas bei Bahia Bianca. Tafelsalz wird immer noch aus Spanien eingeführt. ') Vgl. R. S t a p p e n b e c k : Karte der Minerallagerstätten von Südamerika in 1:3750000. Berlin 1926 (D. Reimer).

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Gebirges her, die längste und höchste Schwebebahn der Erde, ein deutsches Werk 1 ). Sie war angelegt worden, um das Erz zur Schmelze herab zu bringen und um alle Notdurft des Lebens hinauf in die Einöde zu schaffen. Die Anlage eines solchen kostspieligen Werkes konnte nur in der Voraussetzung eines gewinnbringenden Betriebes geschehen, doch hat sich diese Hoffnung nicht erfüllt und der ganze Betrieb ist so ziemlich eingeschlafen. Ebenfalls in einer wüstenhaften Gegend befinden sich die ungeheuer großen B o r a x l a g e r Argentiniens, nämlich in der Puna de Atacama, wo das Salz in den sogenannten Salaren offen zutage liegt, aber der Abbau würde kaum Gewinn bringen, da die Transportkosten zu viel verschlingen würden und der Hauptkonzessionär, das internationale Borax-Syndikat, läßt die Lager still liegen. Eisen und Kohle besitzt Argentinien überhaupt nicht in abbauwürdiger Menge, dagegen sind an verschiedenen Stellen E r d ö l l a g e r erschlossen worden und die P e t r o l e u m g e w i n n u n g stellt das einzige größere Unternehmen zur Ausbeute von Mineralschätzen im Lande dar2). Wenn Argentinien nun auch nicht zu den großen Petroleumproduzenten gehört — es ist nur mit 0,8% an der Welterzeugung beteiligt (rund 1,8 Millionen Tonnen 1931), so ist doch leicht ersichtlich, welche Bedeutung dem öl bei dem Mangel an Kohle in Argentinien zukommen muß. Daher hat auch die Lage der beiden besten in Betrieb befindlichen Petroleumfelder, Co. R i v a d a v i a und P l a z a H u i n c u l , im ariden Gebiet der patagonischen Mesetas kein Hindernis für den Menschen gebildet und hier haben wir Beispiele für die Anziehungskraft eines Bodenschatzes, der Leben und Tätigkeit in eigentlich unbewohnbaren, wüstenhaften Gegenden weckt. An den genannten Stellen sind industrielle Werksiedlungen entstanden, von denen die größere, Co. Rivadavia, bereits ein ansehnlicher Komplex geworden ist (15000 Einwohner), mit Quellwasserleitung, elektrischer Anlage, großen Verwaltungs- und technischen Betrieben, modernen Arbeiterkolonien usw. Dort sind z. Z. bereits über 2000 produktive Bohrungen in Tätigkeit (Abb. 14)3). ') Ausgangspunkt Chilecito in 1075 m Höhe, Endpunkt 4585 m, Länge 34 km. Vgl. F. K ü h n : Die Hochgebirgslandschaft der Sierra de Famatina (Phoenix, Ztschr. Deutsch. Wiss. Ver. Buenos Aires, 1922, S. 189—200). *) G. S. B r a d y : Argentina Petroleum (Trade inform. bull. Nr. 81, U. S. Dept. of Comm. Wash.); A. W i n d h a u s e n : Geologie der argentinischen Petroleumlagerstätten nebst Bemerkungen zur Geschichte ihrer bisherigen Erforschung und Aufschließung (Petroleum, Ztschr. f.d. gesamten Interessen d. P. Industrie, Berlin 1914). Ferner zahlreiche Berichte der „ Y P F " (Yacimientos Petrolíferos Fiscales). 3 ) Vgl. Peterm. Mitt. 1933, S. 92: Das Erdölfeld von Comodoro Rivadavia (Mitt. d. Verf.).

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A u s b e u t u n g von P f l a n z e n s t o f f e n . Nach der Schätzung des Landwirtschaftsministeriums beträgt das Areal der Gehölzformation (montes y bosques) in Argentinien rund 750 000 qkm oder 27°/0 der Gesamtfläche 1 ), woraus folgt, daß das Land durchaus nicht waldarm ist — nur sind diese Bestände nicht etwa immer zur Ausbeutung geeignet, man könnte eher sagen, daß die Waldnutzung in Argentinien i. a. gering ist. Das kann man schon daraus entnehmen, daß bei weitem nicht der eigene Bedarf gedeckt wird, indem die sehr bedeutende Holzeinfuhr (hauptsächlich Bau- und Möbelholz, im Werte von rund 190 Millionen Mark) ungefähr den Wert der eigenen Erzeugung erreicht. So muß man zu der Überzeugung gelangen, daß eine rationelle Ausbeutung der eigenen Wälder mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat. In der Tat sprechen zwei sehr wesentliche Faktoren zu Ungunsten der argentinischen Waldausnutzung mit. Der natürliche Urwald ist nämlich durchaus nicht etwa reich an gut brauchbaren Nutzhölzern. E s liegt im Wesen des Naturwaldes, daß er aus zahlreichen sehr verschiedenen Baumarten gebildet wird, sowohl in Bezug auf die Beschaffenheit des Holzes, als auf die Wuchsform und das Alter. Junge, dünne Stämme und überalterte Bäume sind mindestens ebenso häufig als nutzreife und unter letzteren sind wieder die langsam wachsenden Edelhölzer seltener, und unter dieser schon kleinen Anzahl sind wieder gesunde, tadellose Stämme gar nicht häufig. Es kann sich demnach bei der Waldnutzung nur um selektiven Schlag handeln; die betreffenden Individuen müssen gesucht und nach dem Fällen aus dem umgebenden Dickicht herausgeschafft werden, mühsame, zeitraubende Arbeit, die also selbstverständlich nur an wertvolle Bäume gehen kann, mit dem Fortschreiten der Ausbeutung aber immer weniger Gewinn verspricht, da die erreichbaren Bäume mit der Zeit verschwinden und für Nachwuchs bei diesem Raubbau natürlich nicht gesorgt werden kann. Dazu kommt zweitens der Umstand, daß die nutzbaren Wälder in Argentinien weit ab von den wichtigen Verbrauchszentren liegen, so daß noch bedeutende Frachtspesen hinzukommen, Karrentransporte zur Bahnstation und langer Bahntransport bzw. Schlepptransport auf dem Paraná, denn die Flößerei ist wenig entwickelt, was einesteils mit der ungünstigen Beschaffenheit des Strombettes zusammenhängt (Untiefen, Bänke, Inseln oft veränderlich), andererseits mit dem spezifischen Gewicht l ) Vgl. R. Zon : South American timber resources (Geogr. Rev. II, 1916 — Waldkarte von Südamerika S. 263).

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mancher Hölzer, die nicht schwimmfähig sind. So erklärt es sich, daß die importierten Hölzer (aus Nordamerika) sehr wohl in Wettbewerb treten können mit der eigenen Produktion, der häufig nur lokale Bedeutung zukommt. Ganz allgemein kann gesagt werden, daß aus den oben angeführten Gründen die argentinische Waldausnutzung mehr auf die Gewinnung von Brennholz und Holzkohle (Steinkohlenmangel!) 1 ) und die Herstellung von Pfosten (riesiger Bedarf zur Einzäunung der Estancien) eingestellt ist, als auf die Gewinnung von Bau- und Möbelholz. Es fehlt also die Lockung größeren Verdienstes und so erklärt sich die starke Abhängigkeit vom Auslande. Von diesem allgemeinen Bilde einer wenig lohnenden wirtschaftlichen Nutzung hebt sich aber die Ausbeutung eines Baumes wesentlich ab, die des Q u e b r a c h o Colorado (Schinopsis sp., Anarkadiazee), des wertvollsten argentinischen Waldproduktes, dessen Vorkommen auf den Chaco beschränkt ist4). Diesem Baum, dessen Holz mit zu den härtesten gehört, die es gibt, verdanken zwei Industrien größeren Umfanges ihr Dasein, eine für den Inlandsbedarf arbeitend, die andere ausschließlich für den Export, wie oben schon kurz erwähnt (S. 54). Hier sei etwas näher darauf eingegangen. Das wichtigste Produkt der inländischen Verarbeitung des Quebrachoholzes sind E i s e n b a h n schwellen für die 40000 km des argentinischen Netzes, dessen Bedarf natürlich sehr groß ist. Hierzu wird der Q u e b r a c h o „ s a n t i a g u e n o " (Schinopsis Lorentzii) mit nur etwa 10°/0 Tanningehalt verwendet und der Sitz dieser Industrie ist die Provinz Santiago del Estero, deren Hauptwirtschaftszweig die Waldnutzung bildet bei einem Waldareal von über 100000 qkm =70°/0 ihrer Bodenfläche. Die größte Jahresproduktion an Schwellen zeigte bisher das Jahr 1909 mit 3,5 Millionen Stück im Werte von 8 Millionen Pesos; hierzu kommt noch ein durchschnittlicher Wert von 4 bis 5 Millionen für Brennholz und Holzkohle und von 2 Millionen für Pfosten und Balken3). Man sieht aus diesen Ziffern, daß hier die Waldausbeutung, im wesentlichen auf diese eine Spezies eingestellt, einer großen Provinz des Inneren, *) Vielfach werden Lokomotiven und Dampfer im Norden mit Holz geheizt. ') Vgl. R. L ü t g e n s : Beiträge zur Kenntnis des Quebrachogebietes in Argentinien und Paraguay. (Mitt. Geogr. Ges. Hamburg, 1911, Heft 1) P. Denis : La République Argentine. Paris 1920 (L'exploitation des forêts, S. 98ff.); W . D. D u r l a n d : The Quebracho région of Argentina. Geogr. Review, X I V , Nr. 2, 1924, S. 227—241. *) Zahlen nach A. A l v a r e z : Flora y Fauna de la Prov. de Santiago del Estero. 1919. S. 185 u. 139.

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die außerhalb des bevorzugten Wohn- und Wirtschaftsgebietes liegt, eine ökonomische Grundlage schafft, die vielen Menschen Lebensunterhalt gibt. Wenn trotzdem die Bevölkerungsdichte dort nur die Ziffer 2,75 für den Quadratkolimeter aufweist, so beruht das darauf, daß erst ein kleiner Teil des riesigen Waldareals ausgenutzt werden kann wegen des noch wenig entwickelten Verkehrsnetzes, so daß der größte Teil der Provinz noch unberührte Urwaldwildnis ist. Die zweite, nur im Osten des Chaco, d. h. im Bereiche der Provinz Santa Fe heimische Varietät Q u e b r a c h o „ c h a q u e ñ o " (Schinopsis Balansae)1), mit 20 bis 25 Prozent Tanningehalt, wird nur zur Gewinnung der Gerbsäure verarbeitet und zwar in Form der großkapitalistischen (englischen) Fabrikindustrie, zum Zwecke der Ausfuhr. Der Wert des ausgeführten QuebrachoExtraktes (rund 200000 t) beträgt z. Z. etwa 60 bis 80 Millionen Mark im Jahre, d. h. also ein Vielfaches von dem Gewinn in Santiago del Estero. Die „Forestal Land, Timber and Railway Co. Ltd." beherrscht fast in Form eines Monopols diese Industrie, die dem Norden von Santa Fe ein eigenes wirtschaftliches Gepräge gibt und Veranlassung war zur Entstehung von großen Werksiedelungen (,,La Guillermina" z. B. mit 5000 Arbeitern) und großzügigen technischen Anlagen (Wasserversorgung, Elektrizität, Bahnlinien, Verschiffungshäfen am Paraná). Auch im Walde von Misiones kommt noch ein Baum vor, der das Ziel einer besonderen Ausbeutung ist: Y e r b a - m a t e (Ilex paraguariensis). Seine Blätter dienen, geröstet und gemahlen, zur Bereitung des Mate (Paraguay-Tee), eines Getränkes, das sich in Argentinien weitester Popularität erfreut, es ist sozusagen das dortige Nationalgetränk (Jahresverbrauch pro Kopf 8,2 Kilo, rund das Vierfache des Kaffees). Der i. a. niedrige Baum steht einzeln oder in Gruppen, den sog. „Yerbales" im Urwald und wird zur Aberntung der Blätter von den „Yerbateros" aufgesucht. Daneben hat man aber auch Y e r b a - P f l a n z u n g e n in Misiones angelegt, doch kann die argentinische Produktion noch nicht den großen Bedarf des Landes decken, da sie bisher nur 20 Millionen kg erzeugt, gegenüber 70 Millionen, die alljährlich aus Paraguay und Brasilien eingeführt werden, was dem Lande rund 65 Millionen Mark kostet. Es besteht also in Misiones noch die Aussicht auf eine weitere bedeutende Entwicklung der Yerba-Plantagen, wozu vorläufig sowohl Menschen wie Kapital fehlen, denn ehe die Yerba-Bäumchen erntereif werden, vergehen fünf Jahre, die Kosten verursachen ohne Gewinn abzuwerfen. 1 ) Verbreitungskarte bei L ü t g e n s , a. a. O., Karte 1, desgl. auf meiner Wirtschaftskarte von Argentinien, Pet. Mitt. 1980, Tafel 8.

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Anbau hochwertiger Kultlirgewächse vermittels künstlicher Bewässerung1). Die Trockenzone des Westens, nämlich die Längstäler und der Gebirgsfuß der Anden und der Pampinen Sierren ist das klassische Gebiet der O a s e n k u l t u r . Hier wurde schon z. T. von den Indianern vor der Conquista in beschränktem Maße Bewässerungskultur getrieben (Mais), deren technische Anlagen (Kanäle, Terrassen) an vielen Stellen noch als Ruinen erhalten sind. Mit der Einrichtung der „Encomiendas" und der Einführung europäischer Kulturpflanzen gewannen diese Oasen an manchen Stellen größere Bedeutung und wurden durch ihre Erzeugnisse immer wertvoller (Wein, Obst, Luzerne für „Invernada" usw.; ferner die italienische Pappel in dichter Reihenpflanzung an den Bewässerungsgräben —- besonders wichtig zur Holzgewinnung in dem holzarmen Gebiet!). Wenn nun auch die meisten von der großen Zahl solcher Oasenflecke nur für den eigenen Bedarf wirtschaften, so haben sich doch einige Distrikte zu ansehnlichen selbständigen Wirtschaftszentren entwickelt, besonders seit die Eisenbahnverbindungen mit diesen weit im Inneren liegenden Plätzen hergestellt war. Eine sehr intensive Kultur schafft hier bedeutende Werte für die Volkswirtschaft und mitten in einer sonst menschenleeren Einöde begegnet man dort einer starken lokalen Verdichtung der Bevölkerung. Es ist kein Zufall, daß die einzigen größeren Städte des Inneren: Cordoba (230000), Tucuman (120000) und Mendoza (90000) die Zentren von großen Bewässerungszonen sind2). Es ist weiter auch kein Zufall, daß die Provinzen Mendoza und Tucuman, wo die beiden wichtigsten Industrien des Innern ihren Sitz haben, die einzigen außerhalb der Pampa sind, in denen noch ein ins Gewicht fallender Prozentsatz von Europäern unter der Bevölkerung vorhanden ist; und wir wissen bereits, das Tucumän die Provinz mit der h ö c h s t e n D i c h t e z i f f e r von g a n z A r g e n t i n i e n — nämlich 19 — darstellt. Letztere ist der Hauptsitz der Z u c k e r i n d u s t r i e , deren Blühen beruht auf dem subtropischen Klima mit starken Sommerregen, der reichlichen natürlichen Bewässerung durch die zahlreichen Gebirgsflüsse und ihrer Verstärkung durch künstliche Bewässe. ') Vgl. u. a. D e n i s , a . a . O . Kap. II u. III, S c h m i e d e r , Südamerika a. a. O, S. 102ff. s ) Vgl. O. Q u e l l e : Die künstliche Bewässerung in Südamerika. IberoAmerik. Archiv Berlin V, 1931, S. 156—170 (Argentinien S. 166ff.); D. S i s s o n und R. H. W h i t b e c k : Irrigation in South America (Econ. Geogr. Clark Univ., Worcester, 1933, S. 198—210. Arg. S. 205ff.) ; E . A. S o l d a n o : La irrigación en la Rep. Argentina. Buenos Aires 1910; D e n i s , a. a. O. S. 27 ff. und Karte S. 44.

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rung, sowie dem tiefgründigen Verwitterungsbodén. Ursprünglich eine Heimindustrie mit primitiven Mühlen („Trapiche"), verdankt sie ihren Aufschwung den Bahnlinien, durch die erst das Heranschaffen moderner maschineller Einrichtungen ermöglicht wurde. Die erste Linie erreichte Tucumán 1876: damals gab es 2200 ha Rohrfelder, 1886 waren es bereits 14800 ha. 1891 gelangt eine zweite Bahnlinie dorthin und 1895 sind bereits 40000 ha kultiviert : die Produktion von Zucker wuchs von 3000 t in 1876 auf 135 000 t in 1895, während gleichzeitig die Anzahl der Zuckerfabriken von 82 auf 34 zurückging — aber jene 82 primitiven „Trapiches" erzeugten nur einen kleinen Bruchteil von dem, was in den modernen Großbetrieben hergestellt werden konnte. Heute besitzt Tucumán mehr als 100 00 ha Zuckerrohrplantagen, die52°/ 0 seines gesamten Kulturlandes ausmachen (Mais und Reis sind noch hauptsächlich angepflanzt) und die 30 großen Fabriken erzeugen in normalen Jahren 2 bis 300000 t Zucker, das sind 86°/0 der gesamten argentinischen Produktion. Der Rest kommt aus dem Valle de San Francisco in der Provinz Jujuy. Wie schon angedeutet, handelt es sich um Großindustrie, die selber große Plantagen besitzt und dazu noch die Ernte der kleineren Besitzer aufkauft. Sie ist die Arbeitgerin für die vielen Tausende von Arbeitern, die zur Erntezeit des Rohres (Handernte!) dort zusammenströmen aus der ganzen Provinz und aus den Nachbarprovinzen Santiago del Estero und Catamarca: im Mai ziehen sie hin und im Oktober spätestens erfolgt der Rückstrom. Dann stehen die langen Reihen der Arbeiterhäuser bei den Fabriken wieder leer bis zur nächsten Ernte; die Fabriken, die Tag und Nacht ununterbrochen arbeiteten, stehen still, kein strahlendes elektrisches Licht erhellt mehr den nächtlichen Himmel, kein Rauch entquillt den hohen Schornsteinen. So schwingt dort diese Saisonindustrie zwischen Hochbetrieb und Ruhe hin und her, aber während der Kampagne (,,Zafra") spielt sich in Tucumán, weit im Innern des Kontinents, das Leben eines modernen Industriebezirks ab, und der Reichtum der Provinz findet seinen Ausdruck in der Entwicklung ihrer Hauptstadt Tucumán mit ihren 120000 Einwohnern, lebhaftem Verkehr, drei Bahnhöfen, vielen Banken und einer kleinen Universität. Unter der Bevölkerung nehmen die Europäer 10% ein. In kleinerem Maßstabe wiederholt sich das industrielle Leben dÖ* Zuckerernte in der Provinz Jujuy, wo im Tale des Rio San Francisco bei San Pedro und Ledesma große Fabriken bestehen. Hier rekrutieren sich aber die Saisonarbeiter aus Indianern vom Chaco, die in ganzen Stämmen mit Kind und Kegel jahrein jahraus dorthin wandern — es sind ungefähr 6000. 65

Am Fuße der Cordillere, in den regenarmen, sonnigen Provinzen Mendoza und San Juan, liegen die H a u p t a n b a u g e b i e t e des W e i n e s in Argentinien, deren Ausdehnung so bedeutend ist, daß Argentinien unter den weinerzeugenden Ländern der Erde die fünfte Stelle einnimmt (hinter Frankreich, Italien, Spanien und Algier) mit einer Jahresmenge von 7,5 Millionen Hektolitern. Mendoza mit 90000 ha gut bewässertem Rebenland steht an der Spitze (Karte 10), San Juan besitzt 27000 ha, zusammen stellen diese beiden Provinzen 96,6% aller Rebenkulturen in Argentinien dar. Mendoza verfügt über 1616 Keltereien („Bodegas"), San J a n besitzt 426, zusammen macht das über 2000, eine Anzahl darunter von sehr bedeutender Größe. In der Hauptsache werden einfache, wohlfeile Faßweine hergestellt, die als volkstümliches Getränk im ganzen Lande getrunken werden, der Jahresverbrauch auf den Kopf der Bevölkerung beträgt 58,5 1 (gegen 6,6 1 in Deutschland). Es ist leicht einzusehen, welche wirtschaftliche Bedeutung der Weinindustrie in Argentinien zukommt und wie wichtig die Stellung des Weinbaues und der Kelterei für die argentinische Volkswirtschaft ist. Die drei größten Bewässerungsdistrikte liegen bei der Stadt Mendoza (im Osten und Süden), bei San Rafael (Süden der Provinz Mendoza) und um die Stadt San Juan, Gegenden, die man nicht mit Unrecht „La California argentina" genannt hat, denn auch vorzügliches Tafelobst wird dort gezogen — Mendoza besitzt 8 Millionen Obstbäume. Das bewässerte Land hat infolge seiner ausgezeichneten Produktivität einen sehr hohen Wert: während man in der Provinz Buenos Aires in der Getreidezone für einen Hektar in 150 km Entfernung von Buenos Aires im Durchschnitt 800 Mark, in 400 km Entfernung 400 Mark Kaupfpreis rechnet, ist der Wert eines Hektars bewässerten Weinlandes in Mendoza 2600 bis 7000 Mark, so daß damit schon ein Maßstab für den Gewinn aus diesen Kulturen gegeben ist. Wie in Tucumän, ist auch hier die Hauptstadt Mendoza ein Ausdruck für das bedeutende industrielle Leben und die Konzentration von Kapital: mit 90000 Einwohnern (1870 nur 8000) ist sie die zweitgrößte Stadt der inneren Provinzen. Europäer bilden hier 30°/0 der Bevölkerung, hauptsächlich Italiener und Franzosen, die sich in den Großbetrieben der Weinindustrie betätigen, aber es gibt auch einige bedeutende deutsche Keltereien. Aber nicht nur auf den Rebenpflanzungen und der Obstgewinnung beruht der Reichtum dieser Oasenkulturen, noch größer an Flächenausdehnung sind die unter Bewässerung üppig gedeihenden A l f a l f a f e l d e r , die einem besonderen Zwecke dienen: der sog. 66

„ I n v e r n a d a " (wörtlich Überwinterung). Es bedeutet dies das Aufmästen von mageren Rindern aus dem Monte-Gebiet vor dem Verkauf an die Schlachthäuser oder vor dem Abtrieb nach Nordchile, wohin jedes Jahr große Herden über die Anden getrieben werden, da die Salpeterwüste überhaupt kein Schlachtvieh halten kann. Da in den Wintermonaten im Monte Futter- und Wasserknappheit herrscht, ist der Betrieb der Invernada-Weide ein gutes Geschäft und die „Alfalfares" spielen in der Landwirtschaft aller Oasengebiete des Innern eine große Rolle. In Mendoza machen die Weinfelder 28 %, die Alfalfares dagegen 46 °/0 (ca. 150000 ha) des bewässerten Kulturlandes aus; die benachbarte Provinz San Luis, ein Hauptzentrum der Invernada-Wirtschaft, besitzt sogar über 350000 ha. Neben der Versorgung des großen Landbedarfes an Wein hat aber in Mendoza in der letzten Zeit auch das Exportgeschäft Fuß gefaßt, indem bereits 0,5 Millionen hl Wein ins Ausland verschickt wurden (im Jahresdurchschnitt) und allein nach den Vereinigten Staaten 1 Million kg Tafeltrauben ausgeführt wurden, die ja gerade in derjenigen Jahreszeit auf die Nordhemisphäre gelangen, in der dort keine frischen Trauben erhältlich sind. Hier liegt also ein Keim zu weiterer aufsteigender Entwicklung. Verlassen wir nun diese „Piedmont"-Oasen des Nordwestens, die schon eine lange Entwicklung hinter sich haben, so treffen wir weit im Süden, in Patagonien, noch auf zwei große Bewässerungszonen neueren Datums. Hier handelt es sich aber nicht um Flächenberieselung auf den flachen Schuttkugeln am Gebirgsfuß, sondern die Kulturflächen nehmen hier die Alluvialböden von breiten Flußtälern ein, die durch Stauwerke und Kanäle bewässert werden. Es sind das obere R í o N e g r o - T a l (mit ungefähr 50 000 ha Kulturboden) und das untere C h u b u t - T a l (rund 20000 ha). Letzteres erzeugt Weizen und Alfalfa, das Rio Negro-Tal außerdem noch vorzügliches Obst und Wein. Mit seinen grünen Fluren auf dem 12 bis 20 km breiten Talboden zwischen kahlen Felsbarrankas, der eingesenkt ist in die wüstenhafte Tafel der patagonischen Mesetas, weist es eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Niltal auf und zeigt innerhalb der patagonischen Territorien die größte Verdichtung der Bevölkerung. Da das Tal von der Südbahn durchfahren wird, besteht auch der Vorteil einer guten Verbindung mit Bahía Blanca und Buenos Aires. Bei weiterem Ausbau der Bewässerungsanlagen, die erst verhältnismäßig jungen Datums sind1), ist hier noch Raum für bedeutende Kolonisation gegeben. *) Vgl. M. A l e m a n n : Am Rio Negro. Drei Reisen nach dem argentinischen Rio Negro-Territorium. Berlin 1907 (D. Reimer); C i p o l e t t i : Estu6

Kühn, Argentinien

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Das Río Negro-Tal stellt die Südgrenze des Weinbaues, das Chubut-Tal die des Weizenbaues in Südamerika dar. I m ganzen verfügt Argentinien über rund l 1 / , Millionen ha bewässertes Land. Billiges

Siedlungsland.

Einerseits die Aufteilung der Ländereien in Latifundien und das von den Großgrundbesitzern vorzugsweise geübte Pachtsystem f ü r Ackerbaulose s t a t t des Verkaufs, andrerseits das beträchtliche Ansteigen der Bodenpreise im Ackerbaugebiet 1 ) infolge der besseren Erschließung und der Erleichterung des Verkehrs — ein Vorgang, der parallel mit der Steigerung der Einwanderung verlief — drittens schließlich die selbstverständlich einsetzende Bodenspekulation seitens Privater, Gesellschaften und Banken, machte es den zum Zweck des Siedeins eintreffenden Einwanderern immer schwerer, Eigenland im Hauptanbaugebiet zu erwerben. Es blieb f ü r sie, wenn sie nicht über Kapital verfügten, nur die Wahl, entweder in der abhängigen Stellung eines nomadisierenden Pächters zu verbleiben oder fiskalisches Neuland zu erwerben. Staatsländereien sind nur in den der Nationalregierung unmittelbar unterstellten „Territorios" oder „Gobernaciones" vorhanden, von denen die vier südlichen Territorien in Patagonien: Rio Negro, Neuquén Chubut und Santa Cruz von vornherein ausscheiden, da sie nur Land f ü r ganz extensive Schafzucht enthalten, eine Wirtschaftsform, die ohne Kapital unmöglich ist und ganz außerhalb des f ü r einen Kolonisten gezogenen Rahmens liegt. Eine Ausnahme bildet die „subandine Zone" (Näheres w. u.) sowie dios de irrigación en los Ríos Negro y Colorado. Buenos Aires 1899; Molin s : El Alto valle del Río Negro. Buenos Aires 1919. *) Preissteigerung für den Hektar in der Getreidezone 1901—1917: Provinz

Durchschnittspreise 1901/05 (in Pesos m/n)

1906/10

1917

Steigerung-%

Buenos Aires 42,10 148,70 241 88,40 Santa Fe 19,10 44,90 74,90 292 Córdoba 19,70 39,60 73,60 274 Entre Ríos 22,30 44,50 64,10 187 (nach E. W. S c h m i d t : Die agrarische Exportwirtshaft Argentiniens. Probleme der Weltwirtschaft, herausg. B. Harms, Nr. 33, Jena 1920, S. 189. Vgl. auch die heutigen Preise oben S. 66 (Vergleich mit Mendoza). Ferner E. P f a n n e n s c h m i d t : Die landwirtschaftlichen Produktionsverhältnisse Argentiniens. Schriften Ver. f. Sozialpolitik, Bd. 141, München u. Leipzig 1923, S. 38.

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das eben erwähnte Bewässerungsgebiet am Río Negro und Rio Chubut, wo aber die Bodenpreise natürlich für einfache Kolonisten zu hoch sind. Da ferner im Territorium der Pampa Central der Großgrundbesitz schon vor der Erschließung durch Bahnbauten sich festgesetzt hatte, so blieben als eigentliches Staatsland für Neusiedlung nur die nördlichen Territorien Chaco, Formosa und Misiones übrig, da das im Nordwesten gelegene Territorio de los Andes wegen seiner Lage auf der Hochpuna ausfällt. Durch das Landgesetz von 1876 stellte der Staat Fiskalland zu Besiedlungszwecken zu sehr liberalen Bedingungen zur Verfügung, die auch dem Mittellosen die Erwerbung eines Grundstücks gestatten sollte. Ursprünglich war ein Grundpreis von $ 2,50 für den Hektar festgesetzt und ein Landlos sollte 100 ha groß sein, völlig ausreichend um eine Familie zu ernähren. Die 250 Pesos brauchten aber nicht sogleich erlegt zu werden, sondern nur 10°/0 oder sogar gar nichts und erst nach 6 Jahren sollte mit der Abzahlung begonnen werden, nach deren Abtrag der Betreffende seinen definitiven Besitztitel erhalten sollte. Niemand sollte zunächst mehr als ein Landlos erwerben dürfen und es war gesetzlich vorgeschrieben, daß der Käufer selber dort wohnen mußte, sein Land einzäunte, ein Haus mit zwei Räumen darauf errichtete und mindestens ein Viertel des Landes bearbeitete. Man muß zugeben, daß diese Bedingungen sehr verlockend waren. Leider wurde die Absicht der Regierung, fleißige, mittellose Kolonisten in größerer Zahl auf den ferngelegenen Fiskalländereien anzusiedeln nicht erreicht, hauptsächlich aus zwei Gründen. Erstens bemächtigte sich sofort die S p e k u l a t i o n dieser Ländereien, unter Umgehung der Vorschriften des Selbstbewohnens, Selbstkultivierens und der in einer Hand erlaubten Grundstücksgröße, was bei der weiten Entlegenheit, den schlechten Verkehrsmitteln und dem daraus folgenden Mangel an Kontrolle, ferner aber auch unter stillschweigender Duldung von geschäftlich Interessierten bei den amtlichen Stellen nicht allzu schwer war. Diese Landgesellschaften brachten große zusammenhängende Parzellen in ihren Besitz und diktierten nun ihre eigenen Preise den kauflustigen Siedlern. Zweitens aber zeigte die Regierung selber für die Kolonisten auf Fiskalland einen u n b e g r e i f l i c h e n M a n g e l an I n t e r e s s e , sie war nämlich äußerst saumselig in der Erfüllung ihrer Zusage des B e s i t z t i t e l s , nachdem der Kolonist seine Verpflichtungen willig und pünktlich erfüllt hatte, und nicht etwa eben erfüllt hatte, oder im Laufe des Jahres, sondern bereits vor 5, 10 Jahren und noch länger1). Es war ihm eben einfach unmög*) z. Zt. (1980) sind nach amtlichem Ausweis noch rund 30000 Gesuche 6*

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lieh, vom Landamt in Buenos Aires dieses wichtige Dokument zu erhalten, ohne das er ja kein Recht auf das Land hatte, von dem er jeden Tag vertrieben werden konnte, wenn jemand mit Beziehungen zu den amtlichen Stellen den betreffenden Titel erhielt. Diese Unsicherheit auf der einen Seite und die Preissteigerung auf der anderen (heutiger Preis für den Hektar Neuland 30 bis 50 Pesos, meist nicht mehr unmittelbar dem Staat, sondern den mittlerweile in immer größerem Umfange autorisierten „Konzessionären für Kolonisation" zu zahlen1) haben bisher der Besiedlung preiswerten Fiskallandes hindernd im Wege gestanden, so daß die Kolonisation in den besonders in Frage kommenden Gebieten (Misiones, Chaco, subandine Zone) verhältnismäßig noch schwach geblieben ist. Das Territorium der P a m p a Central gehört in seinem östlichen Drittel noch der Weizenzone der eigentlichen Pampa an und hat infolgedessen, parallel mit dem Herankommen der Pampabahnen von Osten her, in diesem Gebietsteil eine ständige Zunahme der Besiedlung erfahren, wie folgende Zahlen zeigen: 1. Zählung 2. „ 3. „ Schätzung

1869 1895 1914 1930

unbewohntes Indianergebiet (Nomaden) 26 000 100 000 180 000—200 000.

Somit steht es an Bevölkerung an der Spitze sämtlicher Territorien. Aber die Dichteziffer beträgt doch nur 1,2, da der Westen ja ein arides Gebiet mit Kontinentaldünen, Basaltwüsten und ausgedehnten Salzsümpfen ist, wo nur ganz sporadisch extensive Viehzucht getrieben werden kann. Die größte Bevölkerungsdichte unter den Territorien besitzt das kleine M i s i o n e s (80 000 qkm) mit fast 3, während alle sonstigen Territorien unter 1 bleiben. Misiones hat den großen Vorteil, daß es an dem Verkehrsweg des Río Paraná gelegen ist und somit eine gute Verbindung mit dem Süden besitzt. Die Kolonisation an dem Uferstreifen hat immer mehr Fuß gefaßt: Hackbau (Mais, Tabak, Bohnen, Mandioka, Melonen, Bananen u. a.) und Holzgewinnung (Sägereien für die wertvollen Hölzer Lapacho, Jakarandá, Zeder usw.) sind die Grundlagen der Wirtschaft, wozu sich in immer steigendem Maße die P f l a n z u n g e n der Y e r b a - M a t e gesellen2). Posadas, der erst 1886 gegründete Regierungssitz, zählt schon 25 000 Einwohner um Ausstellung des Titels unerledigt, von denen einige bis 18 Jahre zurückliegen ! l ) Mitunter kauft die Regierung Land von einer Konzessionsgesellschaft zurück, um es Kolonisten zu erschwinglichem Preise anbieten zu können! *) Die ersten Pflanzungsversuche gehen zurück bis 1903, gaben aber 70

Einen besonderen Aufschwung versprach auch das Territorium C h a c o , als längs der neuen Staatsbahnlinie, die den Chaco von Santiago del Estero bis zum Paraná-Hafen Resistencia-Barranqueras (gegenüber von Corrientes) durchquert, die B a u m w o l l k u l t u r einsetzte, die in einem Zeitraum von 10 Jahren, 1915 bis 1925, sich rasch von 3000 ha über 110 000 ha ausdehnte. Damals strömten die Kolonisten dorthin, denn die Baumwolle warf guten Gewinn ab. Die Hoffnungen, die man auf die Zukunft dieser Plantagen gesetzt hatte, und die mit allzu großem Optimismus und zu geringer Kenntnis der meteorologischen Verhältnisse des Chaco propagiert wurden, haben sich nicht in dem Maße erfüllt, wie man annahm. Es stellte sich bald heraus, daß die Baumwollernte ein reines L o t t e r i e s p i e l war, gegründet auf Regen zu rechter Zeit und Ausbleiben von Nachtfrösten vor der Ernte. In den oben genannten Jahren erfüllten sich diese Bedingungen zufällig einmal durch eine Reihe von Jahren — ausnahmsweise —, dann aber setzte die für den Chaco typische Unregelmäßigkeit der Regenfälle, nach Verteilung und Menge, ein, es folgten mehrere trockene Jahre hintereinander, in denen die Ernte verloren ging, und damit war bewiesen, daß der Baumwollbau für einen Kolonisten ohne Kapital mit einem zu g r o ß e n R i s i k o verbunden war. Seitdem ist die Anbaufläche zurückgegangen und es erfolgte eine beträchtliche Abwanderung der Kolonisten. Es sei zum Schluß noch der s u b a n d i n e n Z o n e in den patagonischen Territorien Río Negro und Chubut gedacht. Dort erstreckt sich vom Lago Nahuel Huapi nach Süden bis zum Rio Carrenleofú (48°30') durch das Cordillerengebiet nahe an seinem Ostrande eine zusammenhängende Reihe von breiten Senken, die alle ziemlich meridional verlaufen. Diese großen, flachen ,,Valles" sind von Nord nach Süd folgende: Valle de Foyel, Valle Nuevo oder Bolsón, Hoyo de Epuyen, Valle de Maitén, Valle de Cholila, Valle 16 de Octubre und Valle Frío. Hydrographisch gehören sie alle zum Pazifischen Ozean, da die sie durchfließenden Gewässer durch die Cordillere nach Westen gehen; politisch wurde dies von Chile gemäß dem Prinzip der Wasserscheide beanspruchte Gebiet aber Argentinien durch Schiedspruch bekanntlich zuerteilt (vgl. Karte 23). Die breiten, mit natürlichem Graswuchs bedeckten Talböden sind nicht nur vorzügliches Weidenur geringe Resultate, da man noch keine Erfahrung hatte über die Behandlung dieses Baumes in Kultur. 1910 wurden z. B. nur 90000 kg geerntet und erst von 1923 ab gewinnt die Kultur größere Bedeutung, so daß die Statistik für 1928 angibt 30000 ha Pflanzungen mit rund 29 Millionen Bäumen, mit einer Produktion von 20 Millionen kg Yerba (Revista de Economia Argentina, 1928, 1. Hälfte, S. 220—225). 71

land, sondern gestatten sogar Anbau von Weizen, Hafer, Gerste, Gemüse, Obst, und dazu enthält das Gebiet noch überall fließendes Wasser und an den Berghängen Wald — also ein ideales Gebiet für Siedler. Aber es krankt an einer großen Unbequemlichkeit: es besitzt k e i n e V e r b i n d u n g m i t der A u ß e n w e l t , liegt abseits aller Verkehrswege und entbehrt also der Absatzmöglichkeiten. Erst wenn die geplanten patagonischen Bahnen von der Küste her diese zukunftreiche Zone erreicht haben werden, wird sie zu Leben erwachen, während jetzt noch die Besiedlung in den Anfängen steht 1 ). D a s K e r n g e b i e t der P a m p a 2 ) . Die U m w a n d l u n g der P a m p a aus e i n e m r e i n e n Nat u r w e i d e - G e b i e t in ein W o h n g e b i e t im Verlauf des letzten Drittels des vergangenen Jahrhunderts ist der b e d e u t u n g s v o l l s t e g e o p o l i t i s c h e V o r g a n g , den der argentinische Staat zu verzeichnen hat. Wie die Tabelle S. 15 schon erkennen ließ, verdankt Argentinien die Erschließung dieses wertvollen Neulandes dem Synchronismus von Einwanderung, B a h n b a u und A c k e r b a u . Ein Erdraum trat plötzlich in den Gesichtskreis Europas, der von der Natur durch Boden und Klima prädestiniert war für die Aufnahme einer zahlreichen Bevölkerung, nachdem er bis dahin einzig und allein der Tummelplatz von halbwilden Viehherden gewesen war, deren Zahl niemand angeben konnte und die früher mehr oder weniger Gemeingut der wenigen Menschen gewesen waren, die auf sie Jagd machten nur zur Gewinnung der Häute. Noch Ende des 18. Jahrhunderts wird berichtet, daß jeder Spanier das Recht hatte, bis zu 12000 Stück Vieh aus den Beständen für sich zu fangen und zu verwerten. Die Pampa liegt zwischen dem „Litoral", d. h. unterem Paraná, und Río de la Plata mit der anschließenden Meeresküste im Osten und Süden, der ,,Monte"-Region im Westen und dem Chaco im Norden, und ihr Gebiet kann annähernd abgegrenzt werden, wenn man von Buenos Aires als Zentrum einen Halbkreis mit 600 km Radius schlägt, von Bahía Blanca im Süden nach Westen herum und Norden bis zum Paraná in etwa 30° s. B . (Karte 9,11). Diese Landfläche umfaßt die Provinz Buenos Aires mit Ausl ) Vgl. B a i l e y Willis : El Norte de la Patagonia (Minist, de Obras Publ.) New York 1914, S. 241 ff., Bilder, Karten; ferner H. S t e f f e n : Westpatagonien. Berlin 1919 (D. Reimer) 2 Bde. (mit Spezialkarten dieser Zone); F. K l u t e : Argentinien—Chile von heute. Land, Volk, Kultur. Lübeck 1925 S. 119 ff. 3) Vgl. S c h m i e d e r , Südamerika, a. a. O. S. 171 ff.; K ü h n , a. a. O. Peterm. Mitt. 1924, S. 224 ff. u. Karte Tafel 16.

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nähme des südlichsten Zipfels, den Osten des Territorio Pampa Central, den Südosten der Provinz Córdoba und den Süden von Santa Fe, wozu noch der wirtschaftlich ähnliche Süden von Entre Rios jenseits des Paraná zu rechnen ist, im ganzen eine Fläche von rund 560000 qkm oder ein Fünftel des Landes. Dieses Fünftel ist das H e r z und die S c h a t z k a m m e r Argentiniens, in der sein Reichtum und seine wirtschaftliche Macht konzentriert ist, denn die Pampa ist eine der wichtigsten Fleischund Kornkammern für den Weltmarkt. Wie beherrschend die Rolle der Pampawirtschaft innerhalb der argentinischen Volkswirtschaft dasteht, geht aus folgenden statistischen Feststellungen hervor: Die Pampa enthält vom gesamten argent. Kulturland: 90% „ ,, Rinderbestand: 73% ,, ,, Schafbestand: 56% ,, Industriewesen: 80% ,, „ Bahnnetz: 70% Volke: 70% ,, ,, Automobilbest. 84% Da die Bevölkerung des Landes (1980) ungefähr 11V2 Millionen beträgt, kommen also auf das Pampagebiet allein rund 8 Millionen, was eine mittlere Dichte von 14 ergäbe, eine Ziffer, die, bezogen auf ein Kerngebiet der Wirtschaft, niedrig scheint. Aber sie ist sogar noch zu hoch, wenn man das wahre Bild der Besiedlung des Pampabodens gewinnen, also die eigentliche Landbevölkerung erfassen will. Dann muß man nämlich die Großstädte in Abzug bringen: Buenos Aires mit dem benachbarten Avellaneda, Rosario, Santa Fe, La Plata und Córdoba, die zusammen allein schon 8,4 Millionen Stadtbewohner aufweisen, so daß als Pampabevölkerung, einschließlich der kleineren Städte nur noch 4,6 Millionen übrig bleiben und daß als mittlere Dichte nur 8 heraus-

Größe

Provinz

(qkm) Buenos Aires Santa Fe Córdoba Entre Rios Pampa Central

306 135 168 78 144

800 000 000 000 000

Zur eigentl. Pampa gehörend (qkm) 300 80 100 35 50

000 000 000 000 000

Ackerland (Weizen, Mais, Hafer, Leinsaat, qkm) 60 28 34 12 12

000 000 000 000 000

565 000 146 000 (Statistik 1930, Zahlen abgerundet.)

/0

20 35 30 30 24 | 27%

73

kommt. D i e P a m p a i s t a l s o a u c h h e u t e n o c h l e e r , weil auch heute noch der weitaus größte Teil ihrer Fläche nur als Viehweide dient. Die vorstehende Übersicht (S. 73) zeigt deutlich, wie verhältnismäßig gering tatsächlich der Anteil des Ackerlandes am Pampaboden ist. Also nur wenig mehr als ein Viertel des für Ackerbau geeigneten Bodens befindet sich tatsächlich unter Pflugkultur und zwar meist nur als P a c h t l a n d , vom Großgrundbesitzer zu diesem Zweck bestimmt und zwar mit dem Endziel, nach einigen Jahren dieses Getreideland seiner Estancia in Alfalfa-Koppeln zu verwandeln, d. h. es wieder der Viehzucht zu widmen. Über 60 000 qkm sind in der Pampa mit Luzerne bestellt. Das W a n d e r p a c h t - S y s t e m ist schuld daran, daß der Ackerbau in der Pampa nur sehr langsam an Fläche wächst, da sich eben unter den obwaltenden Verhältnissen k e i n b o d e n s t ä n d i g e r B a u e r n s t a n d entwickeln kann — nur 20 Prozent der Ackerbauer sind Eigentümer. Damit ist die Erklärung für die noch so dünne Besiedelung des Landes gegeben. Den 4,6 Millionen menschlicher Pampabewohner stehen aber gegenüber 25 M i l l i o n e n R i n d e r und 18 M i l l i o n e n S c h a f e ! Die Estancien, die Viehzuchtgroßbetriebe, nehmen drei Viertel des Pampabodens ein, und eine Estancia besitzt eine riesige Landfläche mit Tausenden Stück Vieh, aber mit s e h r w e n i g m e n s c h l i c h e n B e w o h n e r n ; denn da kein Stallbetrieb herrscht, genügen ein paar berittene Hirten zur Beaufsichtigung der Herden; man rechnet im Durchschnitt für 3000 Stück Großvieh nur 8 Peone. In schroffem Gegensatz zu der m e n s c h e n l e e r e n W e i d e p a m p a steht die s t a r k e V e r d i c h t u n g der B e v ö l k e r u n g im „ L i t o r a l " - G e b i e t , in einem Streifen Land zwischen La Plata und Rosario, mit einer Millionenstadt und drei Großstädten sowie zahlreichen kleineren städtischen Siedlungen, mit intensivem Wirtschaftsbetrieb (Milchwirtschaft, Mais- und Gemüsebau) und starker industrieller und kommerzieller Betätigung (Gefrierfleischanstalten, Großmühlen, Gerbereien, Brauereien, Zigarettenfabriken usw.). Hier lebt über ein Drittel der gesamten Bevölkerung Argentiniens (Karten 5 u. 6). Außerdem ist nur noch einmal in dem Bereich der a l t e n A c k e r b a u k o l o n i e n in der Provinz Santa Fe eine größere Verdichtung auf der Pampa anzutreffen, in den Departamentos Las Colonias, Castellanos, San Jerónimo 1 ), wo intensiver Weizenbau auf e i g e n e m G r u n d b e s i t z *) Vgl. M. J e f f e r s o n : Peopling the Argentine Pampa. American Geogr. Soc. Research. Series Nr. 16. New York 1926. 74

getrieben wird, besonders von Deutsch-Schweizern, Deutschen und Italienern (erste Kolonie Esperanza gegründet 1854) (Karte 11). Aber wenn auch die Pampa heute noch menschenarm ist, so ist doch der relative Fortschritt in der Besiedlung bedeutend, wenn man sich gegenwärtig hält, daß sie noch vor 60 Jahren eine fast unbewohnte Wildnis war, im Süden und Westen noch unbestrittenes Indianerland. Ein Vergleich zwischen der Zählung des ersten argentinischen Zensus von 1869 mit den Zahlen von 1980 zeigt deutlich dieses bemerkenswerte Anwachsen der Bevölkerung : Provinz

Bevölkerung 1869

Buenos Aires (ohne Stadt Buenos Aires) Santa Fe Cordoba Entre Rios Pampa Central Summa

300 000 90 000 200 000 135 000 —

720 000 (Dichte: 1,3)

Bevölkerung 19301) 3 000 000 1 300 000 1 000 000 600 000 180 000 6 000 000 (Dichte: 10,7)

Die Bevölkerung der Pampa hat sich also in 60 Jahren um das A c h t f a c h e vermehrt, ein Zuwachs, der nur zum kleinsten Teile der natürlichen Vermehrung zu verdanken ist und nur durch die E i n w a n d e r u n g erklärt werden kann, die gerade um 1870 in größerem Maßstabe einzusetzen begann. Stellen wir einmal die Pampa in Parallele mit denjenigen Teilen Deutschlands, in denen der Großgrundbesitz noch eine Rolle spielt und die Dichte der Bevölkerung infolgedessen weit unter dem deutschen Durchschnitt bleibt, z. B. Mecklenburg, das die Dichteziffer 50 aufweist, und nehmen wir diese Ziffer als künftigen Durchschnittswert für die Bevölkerung der Pampa an, so würde das eine Bewohnerschaft von fast 30 M i l l i o n e n Menschen ergeben. Man sieht aus diesem einfachen Vergleich, daß dort noch eine große geopolitische Entwicklung für die Zukunft zu erwarten ist, denn diese riesige fruchtbare Ebene mit gesundem Klima kann ja nicht nur eine W o h n s t ä t t e d e r H e r d e n bleiben, sondern ist berufen, g r o ß e n M e n s c h e n m e n g e n aus den ü b e r v ö l k e r t e n G e b i e t e n u n s e r e r E r d e zum W o h n s i t z zu d i e n e n , wenn erst die soziale und ökonomische Struktur der Gegenwart, die die Besiedlung der Pampa hindert, nämlich Latifundien und Pachtsystem, die einmal doch unausbleibliche Wandelung durchgemacht haben wird. Es besteht wohl kaum ein Zweifel, daß die Pampa nicht nur 30, sondern 50 bis 60 Millionen Menschen ernähren kann. J) Schätzung nach den fortlaufenden Statistiken der Revista de Economia Argentina.

75

Teil III. Demographische Morphologie als Synthese der Abschnitte 1 und 2. D i c h t e der e i n z e l n e n P r o v i n z e n und T e r r i t o r i e n 1 ) . Auf den im Vorhergehenden erörterten Grundlagen ist nun die graphische Darstellung der statistischen Ergebnisse leicht verständlich, da sie ja nur der zahlenmäßige Niederschlag geographischer Vorbedingungen für die Bewohnbarkeit und Bewohntheit der verschiedenen Landesteile sein kann. Die hier wiedergegebene Dichtekarte von Argentinien (Karte 12) ist nach den neuesten Quellen hergestellt, wobei zu berücksichtigen ist, daß die Dichteziffern nur für die großen politischen Einheiten (Provinzen und Territorien) bekannt sind, daß also, da diese nicht mit den natürlichen Landschaften übereinstimmen kein Bild der tatsächlichen lokalen Verteilung der Bevölkerung entsteht. Die zu dessen Darstellung notwendigen Berechnungen für die kleinsten administrativen Einheiten (Departamentos, Partidos) stehen nicht zur Verfügung. So kann also z. B. bei Santa Fe nicht hervortreten, daß nur der südliche (Pampa-)Teil dicht bewohnt ist, während der dem Chaco zugehörige Norden eine weit geringere Dichte aufweist oder daß in den westlichen Oasen-Provinzen die Bevölkerung nur an bestimmten Punkten enge zusammengedrängt sitzt, während der Rest fast menschenleer ist u. s. f. Trotzdem gibt die Karte aber einen guten Gesamtüberblick. Man sieht deutlich sich das K e r n g e b i e t der P a m p a p r o v i n zen herausschälen mit Dichteziffern zwischen 7 und 10 und unter ihnen wieder die wichtigsten, B u e n o s A i r e s und S a n t a F e mit mehr als 9, während die Pampa Central, die ja überwiegend eine sterile Halbwüste ist, deswegen nur zu einer geringen Mitteldichte gelangt. Von den extrapampinen Provinzen steht das kleine T u c u m á n an erster Stelle, nicht nur unter diesen, sondern überhaupt in Argentinien, wie wir bereits wissen; auch Mendoza, Santiago del Estero und Corrientes zeigen noch eine Dichte zwischen 5 und fast 3, die übrigen Provinzen jedoch nur 1 bis 2, und die Territorien, mit Ausnahme von Misiones, nur Bruchteile von 1. Nach dem Bilde der Karte ist also Argentinien, mit einer Gesamtdichte von rund 4, ein noch sehr schwach besiedeltes Land und gewisse recht ausgedehnte Landesteile müssen so sein, wie l ) R. A r d i s s o n e : Población aglomerada y dispersa de la Argentina in: Gaea, An. Soc. de Estudios Geogr. II, 1927, Buenos Aires, S. 456—468.

76

das aus den oben besprochenen Verhältnissen erklärlich ist; sie werden auch nie dicht besiedelt werden können. Aber andere Gebiete lassen eine weit dichtere Bevölkerung zu als die, die sie heute tragen, so daß Argentinien noch vor einer bedeutenden Weiterentwicklung steht. Die beiden folgenden Tabellen geben die einzelnen Staaten (,,Provincias",=P.) und Territorien („Territorios Nacionales",=T.) in der Reihenfolge ihrer Einwohnerzahl und ihrer mittleren Dichte wieder, nach dem Stande vom 31. Dezember 1932, gemäß der Berechnung der Dirección General de Estadística de la Nación (in abgerundeten Ziffern). Die Länder Argentiniens geordnet: A. N a c h d e r B e v ö l k e r u n g s z a h l B. N a c h d e r B e v ö l k e r u n g s d i c h t e P. Tucumán 19,3 über 10 3 200 000) P. Buenos Aires 1 400 000i 1 Million ,, Santa Fe u 1 100 000í ° darüber Buenos Aires 10 ,, Córdoba bis 10 Santa Fe 640 000 „ Entre Ríos 470 000 300 000 Entre Ríos 7,6 ,, Tucumán 450 000 Córdoba 6,3 4 bis 8 bis „ Corrientes 420 000 650 000 Corrientes 4,8 ,, Mendoza 380 000 ,. Santiago del E. T. Pampa Central P. Salta „ San Juan San Luis .. Catania rea

190 000 180 000 100 000 180 000 bis 173 000 200 000 130 000

T. P. ,, „ .,

,, „ T. „

La Rioja Jujuy Misiones Chaco

100 000 100 000 50 000 bis 87 000 100 000 81 000

T. „ „ ,,

Río Negro Chubut Neuquén Formosa Santa Cruz

î San Juan Catamarca Salta T. Pampa Central p. La Rioja

,, Los Andes ,, Tierra del Fuego

50 000 44 000 10 000 41 000 bis 27 000 50 000 22 000 3 300 unter 3 000 ' 10 000

Misiones 2,9 Mendoza 2,8 Santiago del E. 2,7 Jujuy 2,2 San Luis 2,1

y

2 bis 3

1,9 1,6 1,4 1,2 1

T. Chaco 0,8 Neuquén 0,4 Formaosa 0,3 Río Negro 0,28 Chubut 0,2 Tierra del Fuego 0,14 „ Santa Cruz „ LosAndes

0,091 . 0,05 f u n t e r

0,1

Distrito Federal (Stadt B. Aires) 2,200 000 Gesamtbevölkerung rund 11 y2 Millionen Gesamtdurchschnitt 4 (1982)

77

Die Provinzen Buenos Aires (ohne den Distrito Federal), Santa Fe, Córdoba und Entre Rios beherbergen zusammen auf einem Fünftel der Landesfläche rund 6 Millionen Bewohner, d. h. mehr als die Hälfte und mit der Stadt Buenos Aires zusammen sogar über 8 Millionen, d. h. mehr als zwei Drittel der gesamten Bevölkerung. Dagegen fallen die südlichen Territorien(Patagonien) durch eine ungeheure Leere auf, denn auf ihrer Fläche von zusammen 767000 qkm leben nur rund 160000 Menschen, so daß dort im Durchschnitt erst auf eine Fläche von ungefähr 5 qkm je ein Mensch kommt. Dagegen leben in Patagonien fast 7 Millionen Schafe, ein deutlicher Hinweis auf die für Patagonien typische Wirtschaft der extensiven Schafzucht. Dieselbe Fläche, die im Mittel nur einen menschlichen Bewohner enthält, beherbergt 45 Schafe. Der regionale

Einwanderungs-Koeffizient.

Unter Berücksichtigung der großen Verschiedenheit der natürlichen Grundlagen für wirtschaftliche Betätigung darf man von vornherein eine sehr ungleichmäßige Verteilung der Einwanderer über die einzelnen Landesteile annehmen. Schon bei früherer Gelegenheit (S. 88) wurde auf das ganz überwiegende Verbleiben der Einwanderer im Pampagebiet und die damit zusammenhängende rassische Europäisierung dortselbst hingewiesen, hier wollen wir jetzt die zahlenmäßige Ausbreitung der Einwanderer auf die einzelnen Gebiete Argentiniens betrachten, als geopolitische Auswirkung der bestehenden Verhältnisse. Es wird die Statistik des Jahrzehntes 1918—1927 zugrundegelegt, in dem rund 300000 Einwanderer nach Argentinien kamen. Die Karte 13 zeigt graphisch die Verteilung an, die folgende Liste bringt die einzelnen Landesteile in der Reihenfolge der aufgenommenen Einwanderermengen, stellt also gleichzeitig einen Gradmesser für die Anziehungskraft der Gebiete dar. Da diese Verteilung der Einwanderer nicht Sache des Zufalls oder der Laune, sondern des praktischen Wirtschafts-Instinktes ist, so wird man in der nebenstehenden Stufenfolge eine ziemlich gute Übereinstimmung mit der oben dargelegten Bewertung Argentiniens nach dem Grade der natürlichen Begünstigung seiner Landschaften finden. Als Auswanderungsziel zeigt das Land eine s t a r k a u s g e p r ä g t e r e g i o n a l e D i f f e r e n z i e r u n g , die zum Ausdruck kommt in dem Kontrast zwischen einer Aufnahme von 90 000 Menschen und überhaupt niemand im Verlauf von 10 Jahren. Die Pampa nebst dem Weinbaudistrikt von Mendoza absorbieren allein 81°/0 des Zustromes (Gruppe I u. II), ein schwacher 78

Gruppe I. V über 50 000 3 (in 10 Jahr.) O

ao

Region

Anzahl der Einwanderer (in 10 Jahren)

Buenos Aires (Stadt u. Prov.)

91 480

Santa Fe

71 230

>

£ II. T3 10—50000 e o •J! 1> £i

III. 5—10 000

Córdoba Mendoza Pampa Central

48 270 24 000 10 520 Sa. 245 520 = 81%

Tucumán Entre Ríos

8000 7 700

Chaco San Juan Misiones

7.470 6 000 5 800

Río Negro

5 400

Wirtschaftl. Grundlage 1 Hauptstadt | Welthafen 1 Pampagebiet Hauptackerbauzone Ackerbaugebiete Weinindustrie Weizenbaugebiet

Zuckcrindustrie Ackerbau (nur im Süden) Baumwolle, Mais Weinindustrie Kleinsiedelungen für Hackbau nur die Taloase des Rio Negro

40 370 Ges.-Sa. 285 870 = 95% £ 3

IV. 1000—5000

Unter 1000 60 73 e Ie

s •se £

Salta Santiago d. E. Chubut San Luis Jujuy Neuquén Santa Cruz La Rioja Catamarca Formosa Corrientes Tierra d. Fuego Los Andes

3 100 3 000 2 800 1 800 1000 900 800 520 460 300 297 13 0

Zuzug wird noch nach den Gegenden der Gruppe III gelenkt, wo ebenfalls noch die Möglichkeiten wirtschaftlicher Betätigung für den Einwanderer gegeben sind; der Rest dagegen zeigt eine so schwache Einwanderung, daß von irgend einem wirtschaftlichen Einfluß dort keine Rede sein kann, trotzdem sich unter diesen Landesteilen auch fruchtbare Gebiete finden, wie Corrientes, Salta, Jujuy. Ganz besonders auffallend ist die 79

niedrige Ziffer von Corrientes, wohin in 10 Jahren nur 297 Einwanderer gelangten, verglichen mit den Nachbargebieten Entre Ríos (7700), Chaco (7470) und Misiones (5800). Freilich ist der Süden von Entre Ríos noch der Ackerbauzone der Pampa zuzurechnen, und in den beiden Territorien ziehen die Siedlungsunternehmen Kolonisten an. Corrientes dagegen war bisher nicht imstande, Einwanderer anzulocken, trotzdem es an dem großen Verkehrswege des Rio Paraná liegt. Das liegt zum großen Teil an der Indifferenz auf Seiten der betreffenden Verwaltung, an mangelhafter Organisation, Fehlen von Propagandamaßnahmen und von vernünftigen Angeboten. Daß unter diesen Umständen die entfernteren Provinzen — wobei auch solche sind, in denen die Natur selbst nicht etwa schon einen Riegel vor die Einwanderung schiebt — bei der Zerteilung des Einwandererstromes mehr als notwendig benachteiligt werden, steht außer Zweifel und ist den maßgebenden Kreisen in Argentinien wohl bekannt, wie nachstehende Worte des argentinischen Nationalökonomen Alejandro E. B u n g e zeigen 1 ): „Das Problem der Einwanderung kann nicht mehr dem individuellen Entschluß der Einwanderer überlassen bleiben, es müssen Maßregeln ergriffen werden, um die Immigranten in passender Weise über das Land zu verteilen. Nur eine verständige Organisation, d i e u n s e r e W i r t s c h a f t s g e o g r a p h i e zu R a t e z i e h t , kann hierzu führen. Ich glaube, daß einer der wichtigsten Grundsätze für unsere zukünftige Einwanderungspolitik der sein muß, die Einwanderer im Verhältnis zur eingeborenen Bevölkerung im ganzen Lande zu verteilen; die größten Anstrengungen müssen gemacht werden, um die Ausländer in den Provinzen seßhaft zu machen." Als eine bemerkenswerte Tatsache ist noch hinzuzufügen, daß von 91 000 Einwanderern für Stadt und Provinz Buenos Aires ungefähr die Hälfte auf die H a u p t s t a d t a l l e i n fielen und dies nicht etwa nur gerade in dem angeführten Jahrzehnt, sondern dieser große Zustrom in die Stadt Buenos Aires ist eine ständige Erscheinung, die dazu führt, daß unter der Bevölkerung der Hauptstadt die Nichtargentiner einen sehr großen Anteil haben, nämlich 49°/0. Ja, als man bei dem letzten staatlichen Zensus von 1914 die Nationalität der männlichen Bevölkerung von über 20 Jahren statistisch erfaßte, ergab sich die merkwürdige Tatsache, daß auf e i n e n A r g e n t i n e r f a s t d r e i A u s l ä n d e r kamen 2 )! 1

) Varios problemas de la Economía Nacional. Universidad de Tucumán, Extensión universitaria, Nr. 15, Buenos Aires 1919, S. 26ff. ») Nach B u n g e , a. a. O. S. 29. 80

Daß die Anziehungskraft von Buenos Aires groß sein muß, ist ja leicht einzusehen 1 ), aber für die Besiedlung des Landes ist es geopolitisch ausgesprochen — ein f a t a l e s Z u s a m m e n t r e f f e n , d a ß d i e H a u p t s t a d t a u c h g l e i c h z e i t i g der o b l i g a t e E i n w a n d e r e r h a f e n ist. Buenos Aires, das Eingangstor für Argentinien, ist für allzuviele der Neuankömmlinge wie durch ein Spinnennetz umschlossen, in dem sie hängen bleiben, eine Beute der Spinne Weltstadt. Wie faszinierend muß aber auch das Wesen dieser Kosmopolis am La Plata auf die einfachen Arbeiter und Tagelöhner wirken, die vielfach vom platten Lande aus rückständigen Gegenden Europas herkommen! Viele von ihnen ziehen einen improvisierten und unsicheren Kampf ums Dasein in diesem vielgestaltigen, prächtigen Rahmen der anstrengenden einförmigen und primitiven Arbeit auf dem Kamp oder im Urwald vor. Es ist in diesem Zusammenhang lehrreich, eine Statistik des Einwandereramtes von Buenos Aires zu betrachten (Dirección de Inmigración) aus der hervorgeht, wieviel Nichtstuer bzw. Gelegenheitsarbeiter in Buenos Aires jährlich hängen bleiben. Die Einwanderer werden dort bekanntlich von Staatswegen fünf Tage lang frei in dem tadellos geführten Heim am Hafen beherbergt, wobei ihnen Arbeitsgelegenheit nachgewiesen und Freifahrt nach den im Innern gelegenen Arbeitsplätzen gewährt wird. Wer nach fünf Tagen keine Arbeit genommen hat, wird hinausgesetzt und ist sich selbst überlassen. Die folgenden Zahlen sind mit Absicht aus Jahren genommen, in denen nicht etwa Arbeitslosigkeit herrschte bzw. Überangebot von Arbeitswilligen vorhanden war, eher das Gegenteil. Jahr 1905 1906 1907 1908 1909

Beherbergt im Heim 92 127 97 129 100

319 372 111 304 982

Arbeit genommen 84 114 86 116 90

820 889 688 069 557

Ohne Arbeit entlassen 6 13 11 13 10

000 000 000 000 000

% 6,5 10 11,3 10 10

Wie ersichtlich, ist der Prozentsatz der ausfallenden Arbeitskräfte im Durchschnitt 10 °/0 und in den 5 Jahren der Statistik sind über 50000 Einwanderer in Buenos Aires hängen geblieben, ohne bestimmte Beschäftigung. Jedem Besucher von Buenos Aires wird es auffallen, wie viele schäbig gekleidete müßige Eckensteher *) Vgl. auch B . K u l i c k e : Buenos Aires und R i o de Janeiro. Versuch einer vergleichenden Verkehrs- und siedlungsgeographischen Charakteristik. Diss. Frankfurt a. M. 1926. S. 47—49.

81

in den Straßen in der Nähe des Hafens anzutreffen sind, die weiter nichts tun, als geduldig auf eine „changuita" warten, d. h. auf einen kleinen Lohn für einen kleinen Zufallsdienst. Unterzieht man die Masse der Einwanderer einer Berufsstatistik, so fällt sogleich die große Anzahl von ungelernten Berufslosen und gewöhnlichen Tagelöhnern auf (worunter auch immer viel Analphabeten), die das Hauptkontingent der Einwanderer, die Landarbeiter, sogar noch übertreffen, gelernte Arbeiter spielen demgegenüber eine bedeutend geringere Rolle. Berufsstatistik 1926/27 nach Dirección General de Inmigración: 38,6% Tagelöhner und ungelernte Berufslose 36,2% Landarbeiter 13,7% gelernte Arbeiter und Handwerker 5,4% Handelsangestellte 1,7% Hauspersonal 4,4% andere.

S t a d t - und L a n d b e v ö l k e r u n g . Wenn man die Verteilung der Bevölkerung nicht nur nach den beiden statistischen Karten studiert, sondern auch die Darstellung der territorialen Verteilung der rassischen Elemente (Karte 5) und des Standes der Besiedlung (Karte 6) hinzuzieht, wird aus dieser Synthese ein Überblick über die Anthropogeographie Argentiniens gewonnen werden, der die wesentlichen Züge im Bevölkerungsbilde erfaßt. Zur Vervollständigung dieser statistischen Betrachtung erübrigt nun noch eine Untersuchung über die Vert e i l u n g der B e v ö l k e r u n g auf S t a d t und Land. Man könnte von vornherein annehmen, daß in einem so ausgesprochenen Agrarlande wie Argentinien ein Überwiegen der Landbevölkerung über die Bewohner der Städte außer Zweifel stehe, allerdings würde man unter Berücksichtigung der allgemeinen sehr geringen Dichte und des schnellen Wachstums einiger Großstädte seit Beginn des Jahrhunderts keine besonders starke Mehrheit der Landbevölkerung voraussetzen können: in Wirklichkeit kommt aber auf letztere nur 40 Prozent der Gesamtheit, so daß tatsächlich in diesem ganz auf Landwirtschaft eingestellten Lande die Stadtbewohner nicht unerheblich in der Überzahl sind. Wie sich im Laufe der Zeit dieser Zustand aus dem umgekehrten Verhältnis entwickelt hat, zeigt nachstehende Tabelle, aus der zu entnehmen ist, daß um 1900 herum der Umschwung eingetreten sein muß. 82

Jahr 18691) 18951) 19141) 1930»)

Bevölkerung

Stadtbewohner 0,6 Mill. 1,7 „ 4,5 „ 6,6 „

1,7 Mill. „ 4 7,9 „ 11 „

/.

Landbewohner

°/o

Anzahl der GroQ-Stfidte mit mehr als 100000 E.

85 48 58 60

1,1 Mill. 2,3 „ 3,4 „ 4,4 „

65 57 42 40

1 1 3 8

4

Es ist bezeichnend, daß von den 8 Großstädten mit über 100000 Einwohnern, die Argentinien zur Zeit aufweist, 6 Hafenstädte des Pampagebietes sind, nämlich folgende: 1980 Buenos Aires . . . . mit rund 2 180 000 E. a ) Rosario 470 000 „ Avellaneda (neben Buenos Aires). . 200 000 „ La Piata 170 000 „ »» ?» 125 000 „ Santa Fe >> >? Bahia Bianca . . . . 110 000 „ nur zwei liegen im Inneren : mit rund Córdoba 286 000 E. Tucumân 125 000 „ Í9

))

1895 668 800 E. 1 ) 91 000 „ 10 000 „ 45 000 „ 22 000 „ 9 000,,

Zusammen stellen diese8 Großstädte allein schon58 P r o z e n t d e r s t ä d t i s c h e n B e v ö l k e r u n g dar, ein Zeichen einer auffallenden Hypertrophie gegenüber den übrigen argentinischen städtischen Siedlungen, deren man z. Z. rund 350 zählen mag. Vergleicht man bei den Überseehäfen (zu denen auch Rosario und Santa Fe gehören) die heutige Einwohnerzahl mit dem Stand von 1895, so tritt bei allen ein bemerkenswert rasches Wachstum hervor als Ergebnis des riesigen Aufschwungs im Überseehandel, der um die Jahrhundertwende einsetzte. Nachdem 1884 zum ersten Male argentinischer Weizen auf dem europäischen Markte erschienen war und um dieselbe Zeit die Gefrierfleischindustrie sich zu entwickeln begann, dauerte es nur wenige Jahre bis zu der gewaltigen Produktionssteigerung, die sich in dem energischen Anstieg der Exportziffern für den Weltmarkt wiederspiegelt. So erlebten also gerade die Hafenstädte um diese Zeit eine neue Ära in ihrer Handelstätigkeit: Neben den zwei älteren GroßStaatlicher Zensus. ') Schätzung seitens der Dirección de la Revista de Economía Argentina, 1980. 7 Kühn, Argentinien

83

Städten von 1900 (Buenos Aires und Rosario) stehen jetzt vier neue, die vor 80 Jahren noch gänzlich bedeutungslos waren. Deutlich tritt besonders bei Buenos Aires der Parallelismus seiner Bevölkerungskurve mit der Kurve der Exportwerte in die Erscheinung, wie beistehende Figuren zeigen, und auch bei Rosario ist, wenn auch in schwächerem Grade, das Gleiche zu beobachten und ähnlich bei den übrigen Hafenstädten. Mffdr Augühr 1000

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Eine ganz besondere Bedeutung ist dem Flugverkehr in Argentinien für die Zukunft aber auch deshalb noch zuzusprechen, weil das Straßennetz sich in einem derart rückständigen Zustande befindet (vgl. oben), daß dessen sachgemäßer Ausbau geradezu ungeheuerliche Riesensummen erfordern würde, die aufzubringen wahrscheinlich gar nicht möglich sein würde, ganz zu schweigen von der Schwierigkeit der Überwachung und sachgemäßen Erhaltung solcher viele tausend Kilometer langen Kunststraßen — einfach schon aus Mangel an Personal. So scheint es fast ökonomischer, nur die allerwichtigsten Automobilverkehrsstraßen auszubauen, im übrigen aber lieber den Flugverkehr zu fördern, als idealen Schnellverkehr für Post und Personen gerade unter den in Argentinien herrschenden Verkehrsbedingungen . Der erste internationale Postflugdienst wurde von der französischen Compagnie Générale Aéropostale Latécoeur eingerichtet, als eine kombinierte Beförderung mit Flugzeug bis Natal (in Brasilien), von dort mit Spezialdampfer hinüber nach Dakkar (5 Tage), und von dort wieder Flugzeug über Toulouse bis Paris. Gesamtdauer 8 Tage, d. h. nur den dritten Teil der gewöhnlichen Schiffspost. Eine argentinische Tochtergesellschaft Sociedad Anônima „Aeroposta Argentina" bedient die Linie nach dem Süden, längs der patagonischen Küste bis Puerto Gallegos, nach Norden bis Ansunciôn und nach Westen bis Santiago de Chile. Die einzige Flugverbindung mit Europa für Passagiere ist seit 1982 durch die regelmäßigen Zeppelinfahrten hergestellt. Zwar erreicht das Luftschiff nicht Argentinien, sondern endet seine Fahrt in Pernambuco, aber zwischen diesem Hafen und Buenos Aires besteht die regelmäßige Anschluß-Flugverbindung des 202

„Condor-Syndikats" ( Junkers-Dornier), so daß man von Buenos Aires nach Zentraleuropa in 5 bis 6 Tagen gelangen kann. Mit Nordamerika steht Buenos Aires durch zwei nordamerikanische Post- und Passagierlinien in Verbindung: die Panamerican Grace Airways Inc. („Panagra") über Mendoza, Santiago, Antofagasta und die Westküste (zweimal wöchentlich) und die Panamerican Airways Inc. („Panair") einmal wöchentlich über die Ostküste (Montevideo—Rio Grande—Santos—Río de Janeiro etc.). Beide Linien erreichen als ersten nordamerikanischen Flughafen Miami in 7 bis 8 Tagen. Die drei großen internationalen Flughäfen von Buenos Aires (Aërôdromos) sind vollkommen modern eingerichtet — nur einer von ihnen liegt im Stadtgebiet selbst, nämlich „Puerto Nuevo", zwischen dem neuen Hafen und der Bahnstation Retiro (für die Panair-Gesellschaft); die „Panagra" benutzt den Flughafen von Morón, 20 km westlich von der Stadt, der Eigentum der Dirección General de la Aeronáutica Civil ist. Die Compagnie Générale Aéropostale schlielich besitzt in General Pacheco, etwa 80 km nordwestlich von Buenos Aires ihren eigenen Flugplatz. 8. D e r V e r k e h r in B u e n o s Aires Das Verkehrsleben in Buenos Aires verdient noch eine Sonderbetrachtung, denn wegen der riesigen Ausdehnung der Stadt und wegen der Engigkeit gerade der Hauptverkehrsstraßen des „Zentrums" stellt es ein schwieriges Problem dar, dessen Anforderungen die heutigen Verkehrsmittel nicht mehr gewachsen sind. Ohne Zweifel stellt Buenos Aires eine der verkehrsreichsten Städte der Erde dar, besonders in Bezug auf den Personen-Fährverkehr. Bei einem Durchmesser von 18 km in Nord—Süd-, 25 km in O—W-Richtung bildet das Fahren eine unumgängliche Notwendigkeitfür jedermann, undallein die Tatsache, daß die Straßenbahn in einem Jahre (1930) 600 Millionen Fahrgäste beförderte, wozu noch 100 Millionen Benutzer von Autobuslinien kommen, zeigt die riesige Inanspruchnahme der öffentlichen Beförderungsmittel. Aber mit diesem Verkehr steht die Kapazität der Straßenzüge in seinem Hauptkonzentrationsgebiet, dem Geschäftsviertel, durchaus nicht im Einklang, denn wie sollten wohl die engen Straßen der ehemaligen spanischen Kolonialstadt, die ja mit verschwindenden Ausnahmen (vgl. oben S. 128, 182) unverändert geblieben sind, imstande sein, den Riesenstrom des modernen Verkehrs zu bewältigen? Wenn man sich auch schon seit längerer Zeit damit ausgeholfen 203

hat, sämtliche Straßen des Hauptverkehrsgebietes zu Einbahnstraßen zu machen, wenn auch durch jede dieser Straßen (außer Florida und Avenida de Mayo) die eingleisige Straßenbahn — ebenfalls im Einbahnsystem — läuft (womit, wie leicht einzusehen, viele Unbequemlichkeiten mit in Kauf genommen werden müssen), so sind diese Straßenzüge doch ständig überlastet und zu den Hauptverkehrszeiten einfach verstopft, so daß dann der Fußgänger tatsächlich am raschesten vorwärts kommt (Abb. 38). N

W

O

Das umständliche Einbahnsystem im Zentrum von Buenos Aires. Um beispielsweise aus der Rlohtung a kommend nach dem Punkte g zu fahren, sind die Wege b—c—d—e—f—g oder (Die b — h — 1 — k —t—g notwendigStraBenbrelte Ist der Deutlichkeit halber um daB Fünffache übertrieben.)

Die Stadt hat sich durch das ungeahnte Wachstum und den damit plötzlich übermäßig anschwellenden Verkehr überrumpeln lassen, ohne beizeiten durchgreifende und großzügige Abhilfe zu schaffen. Wenn auch an eine rechtzeitige und besonders gleichzeitige Korrektur der Straßenenge d. h. Änderung der Baufluchtlinie, wegen der allzu hohen Kosten in der Innenstadt nicht wohl gedacht werden konnte 1 ), wenn eben die Enge der Straßen auch keine Hochbahn zuließ, so hätte doch das U n t e r g r u n d b a h n s y s t e m i n weit größerem Umfange angelegt und ausgebaut werden müssen, als es z. Z. besteht, mit nur zwei Linien, noch dazu beide nach Westen laufend, anfangs parallel, dann etwas divergierend. Leider ist dies verabsäumt worden und so muß die l ) In bestimmten Straßen (nach der Intensität des Verkehrs festgelegt) wird allerdings eine a l l m ä h l i c h e V e r b r e i t e r u n g stattfinden, denn jeder Neubau muß mehrere Meter aus der bestehenden Bauflucht zurückgerückt werden, doch ist leicht zu begreifen, daß das eine Verbreiterung auf sehr lange Sicht bedeutet. Einen weiteren Schritt zur Verkehrserleichterung bilden die beiden D i a g o n a l - A v e n i d a s , die von den beiden Westecken der Plaza de Mayo nach NW und SW durchgelegt werden und schon eine Anzahl von Blöcken durchschnitten haben — ebenfalls ein langsam fortschreitendes und sehr kostspieliges Unternehmen.

204

Straße heute noch den bei weitem überwiegenden Anteil des Verkehrs bewältigen, so gut oder so schlecht sie es eben vermag. Daher ist das Straßenbahnnetz mit 182 Linien und einer Schienenlänge von rund 850 km wirklich großartig ausgebaut und besitzt eine große Leistungsfähigkeit, wie die oben zitierte Jahresziffer der Menschenbeförderung zeigt. Daneben dienen dem öffentlichen Verkehr noch etwa 100 Autobuslinien mit ungefähr 1800 Fahrzeugen und die „Automóviles públicos colectivos", d. h. größere Personenautos, die zu niedrigen Einheitspreisen ebenfalls bestimmte festgelegte Strecken fahren (die sog. „Microbus"). Ferner verkehren in Buenos Aires noch rund 9000 Autotaxen (1931). Was nun den E i s e n b a h n v e r k e h r innerhalb des Stadtgebietes anlangt, so ist er sehr bedeutend, denn 8 Endbahnhöfe liegen darin und ihre Zufahrtslinien durchziehen das Häusermeer z. T. auf recht lange Strecken (i. g. 125 km). Die Anlage dieser Bahnlinien innerhalb der Stadt fordert allerdings zur schärfsten Kritik deshalb heraus, weil fast die gesamten Strecken im S t r a ß e n n i v e a u geführt sind, ein für eine moderne Großstadt ungeheuerlicher Zustand, der freilich darin seine Erklärung findet, daß die Privatbahnen die riesigen Kosten für solch eine technische Änderung schwerlich übernehmen können und auch kein gesetzliches Mittel besteht, sie dazu zu zwingen, nachdem es verabsäumt war, von vornherein diese Forderung zu stellen. Der Übelstand ist deshalb besonders lästig, weil an den genannten Strecken eine Anzahl von „Vorortstationen" liegen mit ziemlich rascher Zugfolge, so daß der Straßenverkehr sehr häufig durch geschlossene Bahnschranken aufgehalten und mitunter unglaublich aufgestaut wird. Der eben genannte Vorortverkehr (größtenteils elektrischer Zugbetrieb) ist, da eine eigentliche Stadtbahn fehlt, von großer Bedeutung. Die Zentralbahn bedient z. B . innerhalb der Capital Federal 11 Stationen 1 ), die Westbahn 5, die Pazifikbahn 4, die Provinzbahn 3, u. s. w., insgesamt 35 Stationen mit Vorortverkehr, der auf den beiden erstgenannten Linien sehr lebhaft ist. Die Endbahnhöfe liegen mit Ausnahme desjenigen der Westbahn alle mehr oder weniger randlich und sind in der neuesten Zeit zu großen Monumentalbauten umgewandelt worden, die auch jeder europäischen Großstadt zur Ehre gereichen würden. Die Frage des öffentlichen Schnellverkehrs in Buenos Aires, d. h. eines von der Straße gelösten Transportmittels, ist bisher noch nicht ernstlich in Angriff genommen worden, da das einzig in Betracht kommende Netz von Untergrundbahnen erst, wie Mit 500 Zügen täglich, mit einem Jahresverkehr von 43 Millionen Passagieren. 205

oben erwähnt, in seinen Anfängen vorhanden ist 1 ). Wer also in Buenos Aires nicht über ein Automobil verfügt, muß i. a. eine für unsere Begriffe unerträgliche Zeitvergeudung in Kauf nehmen — in den Mittagsstunden des überaus heißen Sommers mitunter eine wahre Pein. Die Anzahl der Privatkraftwagen in der Stadt ist infolgedessen ziemlich bedeutend, nämlich 40000 — soviel wie ganz Österreich. Es herrscht also, wenn man die öffentlichen Kraftwagen dazu nimmt, ein recht lebhafter Autoverkehr. Da aber trotzdem erst auf je 50 Einwohner ein Privatkraftwagen kommt, so ist leicht ersichtlich, daß der allergrößte Teil der Bevölkerung sich vorläufig noch mit den oben geschilderten Unzuträglichkeiten des Straßenverkehrs abfinden muß. In diesen, trotz aller Anstrengungen doch für eine solche Weltstadt rückständigen Verhältnissen tritt mit größter Deutlichkeit zutage, daß die Stadt a l l z u p a s s i v e i n e f r e i l i c h u n v o r h e r g e s e h e n e r a s c h e E n t w i c k l u n g h i n g e n o m m e n h a t , deren aufsteigende Kurve plötzlich so steil wurde, daß eine Korrektur in normale Bahn nicht mehr möglich war. Daß hierbei die sprichwörtliche kreolische „paciencia" sowohl bei der Stadtverwaltung wie beim Publikum eine große Rolle spielt, ist unleugbar. Aber ehe sich die Bewohner von Buenos Aires über die zu bewältigenden Probleme im Stadtverkehr im Klaren waren, war er ihnen mittlerweile bereits über den Kopf gewachsen. Jetzt ist freilich jeder von der Unhaltbarkeit der Zustände überzeugt und der Ausbau eines großen Netzes von Untergrundbahnen ist eine unabweisbare Notwendigkeit für den Verkehr geworden. *) Buenos Aires ist aber die einzige Stadt in Südamerika, die überhaupt „Subterráneos" besitzt. Während der Drucklegung dieses Buches ist übrigens die Konzession für eine dritte „Subte"-Linie erteilt worden (Retiro-Constitución, N-S-Richtung). Ausfuhrung durch Siemens-Bauunion.

206

Schlußwort. Zur Kulturgeographie eines Landes Landes im weiteren Sinne gehört ja wohl auch seine Wirtschaft. Wenn ich meine Arbeit abgeschlossen habe, ohne dies Gebiet in einem b e s o n d e r e n Abschnitt behandelt zu haben, so sind dafür mehrere Gründe maßgebend gewesen. Erstens ist das argentinische Wirtschaftsleben wohl derjenige Teil der Landeskunde, der wegen seiner praktischen Bedeutung überhaupt am meisten und gründlichsten in vielen Kultursprachen behandelt worden ist und gerade in der deutschen Literatur sind soviel ältere und aktuelle Arbeiten über dieses Thema vorhanden 1 ), daß es sich erübrigt, hier das Wirtschaftsleben noch einmal darzustellen. Zweitens mußte bei den heutigen überaus schwierigen Publikationsverhältnissen alles einigermaßen Überflüssige durchaus vermieden werden, um an den Kosten der Drucklegung zu sparen und mit den zur Verfügung gestellten Mitteln auszukommen. Schließlich aber darf gesagt werden, daß auch ohne einen besonderen wirtschaftsgeographischen Teil dies wichtige Gebiet in dem vorliegenden Buche ja keineswegs etwa leer ausgeht, denn in vielen Abschnitten ist naturgemäß das Wirtschaftliche sehr stark mit in den Rahmen der Betrachtung einbezogen worden, wobei besonders auf die kulturgeographisch so wichtigen Punkte der Wechselwirkung und der Strukturwandlung in der Wirtschaft mehrfach eingegangen wurde.*) Daß Argentinien sowohl in seinem Boden wie in seinem werdenden Volke starke vitale Kräfte birgt, die heute noch z. T. schlummern, die aber diesem Staate für die Zukunft eine recht bedeutende Rolle in der Ökumene zuweisen werden, steht wohl außer allem Zweifel. Es sind ja erst etwa 75 Jahre verstrichen, seit Argentinien als politisch gefestigtes Staatsgebilde auf dem 1 ) Ich erwähne z. B. nur die Werke von K a e r g e r , E. W. S c h m i d t , Pfannenschmidt, L u f f t , Schmieder, Prinz Louis Ferdinand von P r e u ß e n , meine eigenen Arbeiten in Peterm. Mitt. 1924 und 1930. 2 ) Außerdem ist eine verkleinerte Wiedergabe meiner a. a. O. veröffentlichten Wirtschaftskarte am Schluß beigefügt, die einen Gesamtüberblick ermöglicht. Die Reproduktion und die Erlaubnis zur Wiedergabe an dieser Stelle verdanke ich dem Entgegenkommen der Geographischen Anstalt Justus Perthes in Gotha.

207

Plan erschienen ist, es befindet sich also noch im Jugendstadium und hat in dieser Zeit mit Riesenschritten seinen Einzug in die Welt gehalten. Diese erste Zeit einer oftmals allzu überstürzten, unruhigen „Sturm- und Drangperiode" ist aber vorbei, der politische und wirtschaftliche Gärungsprozeß hat sich allmählich beruhigt, gefestigt steht Argentinien unter den Kulturnationen da, der „Argentinismus" hat seine Daseinsberechtigung erwiesen. Eine kulturgeographische Betrachtung seines heutigen Zustandes ist also durchaus angebracht und ihre hier niedergelegten Ergebnisse, abgeleitet von den Einwirkungen der Vergangenheit und dargestellt unter ständiger Berücksichtigung der naturgegebenen Eigenarten von Land und Volk, dürften deshalb nicht nur den Wert eines Augenblicksbildes der gegenwärtigen Zeit besitzen, sondern auch für das Verständnis künftiger Verhältnisse von Belang sein. J e weiter aber in Zukunft die Entwicklung des Landes fortschreiten wird, um so differenzierter wird das kulturgeographische Bild werden, um so mehr wird die wissenschaftliche Erkenntnis zur monographischen Behandlung von Einzelproblemen übergehen. Dafür werden, so hoffe ich, besonders die zahlreichen, bis 1938 reichenden Quellennachweise — etwa 300 — eine zuverlässige Grundlage abgeben. Der Wunsch, mit dem ich schließe, ist, daß die deutsche Wissenschaft, hervorragend beteiligt bei der physiographischen Erforschung Argentiniens, auch der Anthropogeographie dieses e r s t e n und w i c h t i g s t e n L a n d e s von S ü d a m e r i k a , m i t u n s e rem V a t e r l a n d e d u r c h l a n g j ä h r i g e , nie g e s t ö r t e v i e l s e i t i g e B e z i e h u n g e n v e r b u n d e n , stets ein besonderes Interesse widmen möge, zur Förderung unserer Kenntnis und zum Nutzen beider Nationen! Mskr. abgeschlossen den 12. Febr. 1033.

208

1. Karte zur Besitzergreifung der Pampa und des Chaco. Sancti Spiritus Erste spanische Niederlassung am Rio de la Plata, 1527 Die wichtigsten Stadtgründungen des 16. Jahrh. sind mit den Jahreszahlen eingetragen. Alte Verkehrswege der Kolonlaizeit. o o Befestigte Sicherungslinien gegen die Indianer Im Süden und Norden, mit den Forts, in ihrem langsamen Vorrücken.

2. Paläanthropologische Fundstätten in Argentinien, angebliche Vorläufer des Menschen 1. Tetraprothomo argentinus Homo Neogaeos 2. Dlprothomo platensis angeblicher TertlArmensoh S. a) b) Homo pampaeus 4. Homo sinemento 5. Homo oaputlnollnatus 6. Baradero-Skelett Diltivlalmensch( ») 7, 8, 13, 11 Rexente Or&ber 9, 10, 11, 12, 15, z. T. auoh 8 7 zeigt vielleicht Beziehungen zu der aog. „Lagoa-Santa-Rasse" Brasiliens.

Nummer-Erklärung der Fundstätten: 1. Monte Hermoso 5. Arroyo Siasgo 11. Saladero 2. Buenos Aires (Dock-Aus- 6. Baradero 12. Arreclfea schachtung) 7. Fontezuelas (Pontlmelo) 13. Samborambön 3. a) Neooohea 8. Ovejero 14. Ohocori 3. b) Mlramar B. CarcarafiA 15. Bio Negro 4. Malaeara 10. Arroyo Frias

Gebirgsindlaner des NW. Seflhaft, Kulturkrelii der brau (Qnlohna). Chaco-Indianer: nomadisierende JA«er, Sammler, Fischer. Guarani-Indlaner: halbnomadische Waldbewohner des NO. Charrüas an den groBen Strömen und auf deren Inseln. Fischer, z. T. seßhaft. Pampa-Indianer. Jager-Nomaden. Araukaner: JAger und Landbauer mit periodischen Wanderungen. Tehuelehe (Patagonler): Nomaden, J&ger und Sammler. Kleinere Gruppen. Die mit einem + bezeichneten Gruppen sind ganz oder fast ganz ausgestorben.

3. Ungefähre Verteilung der Urbevölkerung zur Zeit der Conquista.

15 Kühn, Argentinien

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Entworfen von F. Kühn. 4. Schematische Stammtafel der Argentiner. selbständige ethnische Elemente

212

Mischungen

Hello Criollos („Euro-Argentlner") und Ausländer. Regional in der Pampa, lnstd&r Im Innern (T. = Tnonmán; M. = Mendoza ; R = San Rafael; J = San Juan). Dunkle Criollos, (,.Hispano-Amerikaner'') und Mestizen. Europäische Kolonisten im Misiones.

Chaco

und

in

Patagonische Mischbevölkerung mit geringem Criollo-Einschlag. Chilenische Bevölkerung am CordillerenfuO. ++ ++

Indianer (Reste). Co. = Coyas, Qebirgsindianer des Nordwestens. Ch. — Chaoo-Indianer. M. — Waldindianer von Misiones. Ar. = Araukaner. O. = Onas.

5. Territoriale Verteilung der Bevölkerung Argentiniens nach rassischen Gesichtspunkten.

15*

213

Dicht besiedelte Kerngebiete

Mittl. Dlohte über 10

Regional besiedelte Gebiete

3—10 unter 3, größtenteils unter 1

Sporadisch besiedelte Gebiete Pledmont-Oasen des Nordens

eS>

Salzpfannen R. N. = Rio Negro-Taloase Ch. = Rio Chubut-Taloase S. A. = Siedlungszone der subandinen Täler

6. Stand der Besiedlung Argentiniens.

— — — — Grenz* der Pampa Oreme dea abfiussJoaen «8 Lagunen v. kleine Lagunen G? Satzpfanne

mBßn Gebietes

Gebirge Überaehwemmungazone des Parani «,«.» Hohes Ufer (.Barrancal d. Paraná-Bettes Ar Grenze der Überseeschiffahr/ im Paraná und Uruguay

7. Hydrographische Karte der Pampa und der Prov. E n t r e Ríos (nach des Verf. K a r t e in Handbuch der Geogr. Wiss. herausg. F . Klute, Band Südamerika, S. 81).

215

Größen* Waldbestände Sumpf- u. Überschwemmungszonen GroOst&dte Mittelstädte Flecken Eisenbahnen

F. = Fahren

" km

8. Siedlungen und Eisenbahnen im Zwischenstromlande.

216

9. Die Pampabahnen und Häfen (nach des Verf. Karte in Peterm. Mitt. 1924, Taf. 16).

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Zeichenerklärung. 9. Urwald von Misiones, fast tropisehen Charakters. Waldnutzung durch R a u b b a u (Hölzer, YerbaMate). H a c k b a u auf Rodungen (Mais, Tabak, Mandioca, Bohnen). Plantagen von Yerba und Bananen. 10. Buchenwaldzone der patagonisehen und feuerländischen Cordillere. Holzausbeutung für 12. 11. Subtropische Bergwälder des Nordwestens. Selektiver R a u b bau in der Waldausnutzung (besonders „Cedro", „Nogal"). 12. Subandine Zone Patagoniens. Gemischte Viehzucht, etwas Feld- u. Gemüsebau in KleinSiedlungen. Sägewerke (Wasserkraft). 13. Verbreitung des Quebracho „chaqueño", der zur Tanninfabrikation dient. Fabriken an der Bahnlinie, Seitenbahnen zum P a r a n á , nach Verschiffungshäfen. 14.* Versumpfte Uferzone des Paraná, 20—50 k m breit, bei Hochwasser überschwemmt. Sumpfund Lagunendistrikt im Norden von Corrientes. 15. Paraná-Delta. Weidenund Pappelpflanzungen zur Holzgewinnung, auch Obstkulturen. Zum größten Teil Schilf- u. Riedwildnis („Pajonal") mit Galeriewäldern. Als Viehweide bei Niederwasser benutzt, bei Hochwasser überschwemmt. 16. Piedmont-Oasen des Nordwestens, abhängig von Gebirgs flüssen. Intensive Kulturen von Wein, Obst, Mais, Luzerne (für ,,Invernada"-Weide). GroßeKel-

tereien in Mendoza, San Rafael, San J u a n . 17. Zuckerrohrplantagen u. ZuckerfabrikenvonTucumán,Ledesma; auch etwas Reisbau, 18. H a u p t z o n e der Baumwollplantagen in Chaco, zu beiden Seiten der Bahnlinie auf Rodungen. Daneben Maisbau, Köhlerei, 19. Taloasen in Patagonien. Rio Negro: 40000 ha K u l t u r l a n d (Weizen, Luzerne, Wein, Obst); Rio Chubut (15000 ha Weizenund Luzernefelder). Südgrenze des Weizenbaus in Argentinien. 20. Salzpfannen im „Monte" („Salinas") u n d in der P u n a de Atacama („Salares" mit Boraxlagern). 21. Salzausbeutung in Salinas, 22. Boraxausbeutung in der Puna, 23. Petroleumfelder. 1932: Co. Rivadavia 2000 prod. Bohrungen; Challaco 300 id. 24. W e l t s t a d t von über 2 Millionen Einwohnern, 25. Großstädte von mehr als 100000 Einwohnern (5). 26a. Weltfunkstation „Transradio" in Monte Grande bei Buenos Aires. 26 b. Funkstationen, 27. Eisenbahnen. 1932: 41025 km, davon 70 v. H . in der P a m p a . 28. Internationale Bahnlinien, 29. Patagonische Küstenschiffahrt mit den regelmäßig angelaufenen Häfen. 30. F ü r große Überseedampfer befahrbare Flußstrecken im Paraná u n d Uruguay. 31. Flußschiffahrtsstrecken.

mit einem * bezeichneten Regionen sind ökonomisch minderwertig.

Landeskunde von Chile von Dr. m e d . C a r l M a r t i n

P u e r t o Montt.

Umgearbeitet von verschiedenen Autoren und dem Herausgeber Dr. C h r i s t o p h M a r t i n in Concepción. Zweite vermehrte und verbesserte Auflage 1925. Gr. 8°, XXIX und 786 Seiten, 141 Abb. u. 1 Karte von Chile 1923. Preis brosch. RM. 18.—, in Leinen geb. RM. 21.60. Aus einer Besprechung in „Petermann's Geogr. Mitteil." Heft 11/12, 1923: „Der allgemeine Teil bebandelt in gründlichster Weise die geographischen, biologischen und wirtschaftlichen Grundlagen. . . Der spezielle Teil schildert die einzelnen Provinzen und die landfernen Inseln. Eine unendliche Fülle von Material geographischer, historischer und wirtschaftlicher Art wird g e b o t e n . . . Martins Landeskunde wird auf lange Zeit das Standwerk sein."

Das Mar Chiquita in Argentinien, Prov. de Cördoba von Helmut

Kanter

(Abhandlungen a. d. Gebiet der Auslandskunde, Bd. 19.) 40, 31 Abbildungen, Karten u. Profile. 1925.

RM. 10.80.

Aus einer Besprechung in der „Geographischen Zeitschrift" 32. Jg. 1926. Heft 10. „Das 1000 qkm große, salzige, abflußlose Mar Chiquita erfährt mit seinen Randgebieten eine landschaftskundliche Bearbeitung. Verfasser, der seine Untersuchungen an Ort und Stelle gemacht hat, unterscheidet Kulturlandplatten, Grasflurplatten, Überschwemmungsgrasebenen, Buchwaldplatten, Buschwaldsumpfebenen und Salzpflanzenniederung. Die Unterscheidung der einzelnen Landschaften, die in der Natur durchaus nicht einfach ist, gibt gerade für die Beziehung zwischen Mensch und Boden die beste Unterlage für jede Weiterarbeit. Der ausführliche erklärende Teil geht auf die Probleme der Entwicklung der Formen, des Bodens, die so wichtigen Wasserverhältnisse ein, nachdem das Klima beschrieben worden ist. Die Probleme sind einer Lösung nähergebracht oder bei ihrer Mannigfaltigkeit wenigstens klar aufgedeckt. Der letzte Abschnitt der wertvollen Monographie behandelt die Beziehung des Menschen zu den einzelnen Landschaften. Die eigenartige Schönheit dieses Gebietes, von der nichtfarbige Photographien auch nichtentfernt einen Eindruck geben können, ist lobenswerterweise in einem, wenn auch nur kurzem Abschnitt geschildert." F. K l u t e .

Friederichsen, de Gruyter & Co. m. b. H., Hamburg I

Die Indianer Nordost-Perus von

Günther Tessmann GrundlegendeForschung für eine systematischeKulturkunde (Veröffentl. d. Harvey-Baessler-Stiftung.) XI u. 856 S., 6 Textabb., 150 Tafeln, 1 Karte. 1930. Brosch. RM. 79,20, geb. RM. 86,40. Aus einer Besprechung in Petermann's Geogr. Mitteil. 1930, Heft 11/12. „Dieses außergewöhnlich gut ausgestattete und mit hingegebenem Fleiß abgefaßte Buch enthält im ersten Hauptteil, der fast zwei Drittel des Werkes einnimmt, die Schilderung von 31 Stämmen bis Kolumbien und Ekuador hinein, denen meistens je etwa 16 Seiten gewidmet sind. Zu diesen Stämmen gehören auch die Tschama am Ucayali, die das bereits erschienene Buch „Menschen ohne Gott", Stuttgart 1928, behandelt. Besonders hervorzuheben sind die eingehenden Studien über Hausbau und Zauberei, die botanischen und zoologischen Angaben und die einheimischen Bezeichnungen. Gewissenhaft hat der Verfasser selbst das Nichtvorkommen vieler Geräte festgestellt. Es finden sich aber auch zum Erstaunen des Lesers Angaben über das Nichtvorhandensein der Ehe und Zauberei (beides bei den Mayoruna), der Vorstellung einer Gottheit einer Seele usw. Andererseits hören wir sehr schwer festzustellende Nachrichten über geschlechtliche Potenz und Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs, über Gleichgeschlechtlichkeit u. dgl. mehr. Den Hauptwert legt der Verfasser aber nicht auf das, was das Buch an neuem Material bringt, sondern auf das, was es erstrebt. Dieses Letztere, eine neue Art systematischer Kulturforschung, nimmt den anderen Hauptteil des Werkes ein. Dazu wird zunächst eine Reihe von Kulturfamilien auf Grund der sorgsam ausgearbeiteten Kartogramme über die Verbreitung der Kulturgüter aufgestellt. In diesen sind nicht nur die materiellen, sondern auch die „geschlechtssozialen" und geistigen Kulturgüter dargestellt, und da sie sich durchaus nicht gleichmäßig verbreiten, sondern untereinander stark verschoben haben, werden sie einzeln verfolgt und sorgsam gegeneinander abgewogen. Geschichtliche Erwägungen über dss Entstehen der heutigen Verhältnisse treten hinzu, gestüzt auch auf eine Analyse von 33 Worten einer jeden Sprache, die der Verfasser selbst für provisorisch erklärt, aber doch zu weitgehenden Schlußfolgerungen verwendet. Die dadurch gewonnenen Kulturfamilien werden besonders auf Grund einer Bewertung der geistigen Kulturelemente möglichst in ein Nacheinander gebracht, so daß hier z. B. der Verfasser in der „Altkulturfamilie", die u. a. mit Promiskuität, Couvade und Mehrfamilienhäusern ausgestattet ist, einen Nachklang der ältesten Kultur entdeckt zu haben glaubt. Verfasser zeigt sich in diesem Versuch beherrscht von einem „Vorverständnis" für die religiöse Entwicklung und äußert daraufhin seine harte Meinung über die „zurückgebliebenen Indianer in ehrlicher Überzeugung. Indessen ist sein religiöses Entwicklungsschema nicht als Grundlage zu verwenden, da es selbst Endziel bleibt und eine Einigung darüber von vornherein nicht zu erreichen ist. Andererseits ist seinem Versuche, Kulturfamilien in der angegebenen Weise zu sondern und psychologisch zu verstehen, im allgemeinen zuzustimmen, falls kein psychologisch-evolutionistisches, sondern nur ein historisches Nacheinander soweit möglich, erstrebt wird, vorausgesetzt, daß die Tatsachen genügend umfangreich und gesichert sind." K. T h . P r e u ß . Die dem vorstehenden Buch beigefügte Karte ist auch einzeln erhältlich

Karte von Mittel- und Nord-Peru und Ekuador Mit besonderer Berücksichtigung des amazonischen Waldlandes. Entworfen und gezeichnet von E d u a r d P a p e . 1 =3000000. 46 X 47 cm. RM. 4,50.

Friederichsen, de Gruyter & Co. m. b. H., Hamburg I