Grundrechtsschutz, technischer Wandel und Generationenverantwortung: Verfassungsrechtliche Determinanten des »Restrisikos« der Atomkraft [1 ed.] 9783428466405, 9783428066407


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Grundrechtsschutz, technischer Wandel und Generationenverantwortung: Verfassungsrechtliche Determinanten des »Restrisikos« der Atomkraft [1 ed.]
 9783428466405, 9783428066407

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CHRISTIAN LAWRENCE

Grundrechtsschutz, technischer Wandel und Generationenverantwortung

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 562

Grundrechtsschutz, technischer Wandel und Generationenverantwortung Verfassungsrechtliche Determinanten des „Restrisikos" der Atomkraft

Von Dr. Christian Lawrence

Duncker & Humblot * Berlin

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Lawrence, Christian: Grundrechtsschutz, technischer Wandel und Generationenverantwortung: verfassungsrechtliche Determinanten des „Restrisikos" der Atomkraft / von Christian Lawrence. — Berlin: Duncker u. Humblot, 1989 (Schriften zum Öffentlichen Recht; Bd. 562) Zugl.: Kiel, Univ., Diss., 1988 ISBN 3-428-06640-5 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1989 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin 61 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-06640-5

Vorwort Recht ist immer auch politisches Recht. Dies darf jedoch nicht dazu verleiten, politische Absichten bereits bei der Rechtsfindung einfließen zu lassen. Gerade der schillernde Begriff des „Restrisikos" der Atomkraft ist in besonderer Weise von der tagespolitischen Argumentation ge- und oft mißbraucht worden. Seine bisher ungeklärten verfassungsrechtlichen Grundlagen hinsichtlich Rechtsnatur und Wachstumsgrenzen zu untersuchen, ist wesentlicher Erkenntnisanspruch der vorliegenden Arbeit. Die Untersuchung wurde im Sommer 1988 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Dissertation angenommen. Die Arbeit wurde am 1. Januar 1987 abgeschlossen. Wichtige Literatur und Rechtsprechung konnte noch bis zum Sommer 1988 berücksichtigt werden. Meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Wilfried Fiedler, danke ich herzlich für die Betreuung der Arbeit auch nach Annahme eines Rufs an die Universität des Saarlandes. Sein Kieler Seminar über den Einfluß technischer Entwicklungen auf die Grundrechtsinterpretation hat meine Arbeit in maßgeblichen Punkten geprägt. Danken möchte ich ferner Herrn Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, der das Zweitgutachten angefertigt hat. Herrn Dr. Dr. Wolfram Zitscher danke ich für die zahlreichen abendlichen „Bibliotheksgespräche". Ohne seinen Rat und vielfältige Anregungen wären mir wesentliche Voraussetzlingen eines funktionierenden Rechtswesens verschlossen geblieben. Der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit hat die Veröffentlichung der Arbeit durch einen Druckkostenzuschuß gefördert. Ich bedanke mich bei ihm ebenso wie beim Verlag für die Aufnahme in die Schriftenreihe. Bedanken möchte ich mich ferner bei meinen Eltern, die mich während der Anfertigung der Arbeit unterstützt haben. Kiel/Reutlingen im Februar 1989

Christian

Lawrence

Inhaltsverzeichnis 1. Kapitel Themenbeschreibung und Methode 1. Teil Themenbeschreibung unter Berücksichtigung kernenergiespezifischer Besonderheiten A. Der Untersuchungsgegenstand

19 20

I. Grundrechtliche Einordnung „sozialadäquater Restrisiken" im Atomrecht II. Normative Steuerung der quantitativen Risikozunahme

20 21

ΙΠ. Rechtliche Bewertung des durch die Entsorgung aufgeworfenen Generationenproblems

22

B. Tatsächliche und rechtliche Besonderheiten der Energieerzeugung durch Atomkraft

23

C. Konsequenzen der atomtechnischen Besonderheiten für den Gang der Untersuchung

25

2. Teil Methode der Untersuchung

28

A. Die Bedeutung des Vorverständnisses und der Methodenwahl für die Betrachtung atomarer Risiken

28

B. Aussagekraft der vertretenen methodischen Ansätze für die Risikoproblematik

30

C. Eigener methodischer Ansatz

34

8

nsverzeichnis 2. Kapitel Grundrechtsdogmatische Einordnung der „sozialadäquaten Risiken" 1. Teil Ansätze der Risikodefinition und verfassungsrechtliche Einordnung der „sozialadäquaten Risiken" durch Literatur und Rechtsprechung

A. Gegenstand der „sozialadäquaten Risiken" I. Einleitung

37 37 37

II. Konzeption des atomrechtlichen Instrumentariums als Reaktion auf die Besonderheiten des Regelungsgegenstandes

38

1. Zweck des Atomgesetzes

38

2. Der Verweis auf den „Stand von Wissenschaft und Technik" im Sinne von § 7 I I Nr. 3 AtomG und daraus resultierender „dynamischer Grundrechtsschutz"

40

a) „Stand von Wissenschaft und Technik" im Sinne von § 7 I I Nr. 3 AtomG

40

b) „Dynamischer Grundrechtsschutz"

42

aa) Inhalt dieses Postulats

42

bb) Kritik am postulierten „dynamischen Grundrechtsschutz" . . . .

46

cc) Stellungnahme

47

ΙΠ. Die gesetzliche Erfassung nuklearspezifischer Gefahren und Risiken . . .

49

1. Herkömmlicher Gefahren-und Risikobegriff

49

2. Notwendigkeit einer Verfeinerung des Gefahrenbegriffs

50

3. Kategorien der Gefahrenabwehr, der Risikovorsorge und des Restrisikos

52

a) Definitionen

52

b) Methoden der Einteilung aller denkbaren Risiken in die Kategorien Gefahrenabwehr, Risikovorsorge und Restrisiko

55

aa) Postulat „absoluter Sicherheit" durch das VG Freiburg bb) Probabilistische Risikowertungen aufgrund naturwissenschaftlicher Risikoberechnung

55 56

(1) Inhalt

56

(2) Aussagekraft

57

cc) Deterministische Risikoabschichtung (1) Maßstab „praktischer Vernunft"

59 59

(aa) Inhalt, Ursprung

59

(bb) Unterschiedliche Anwendung des „Maßstabs praktischer Vernunft" durch das Bundesverfassungsgericht und Breuer

61

nsverzeichnis (cc) K r i t i k am „Maßstab praktischer Vernunft"; Stellungnahme (2) Trennung „erkannter" und „nicht erkannter" Risiken

9 62 64

(aa) Inhalt

64

(bb) K r i t i k

67

c) Konkrete Umsetzung der Einteilung Gefahrenabwehr, Risikovorsorge und Restrisiko im Genehmigungsverfahren

68

B. Staatsverantwortung für Kernenergierisiken und dogmatische Einordnung der „sozialadäquaten Restrisiken" in Rechtsprechung und Literatur

72

I. Begründung und Umfang der staatlichen Verantwortung für kerntechnische Risiken aus Art. 2 I I S. 1 GG

73

1. Konkurrenz zur Annahme grundrechtlicher Schutzpflichten

73

2. Ableitung einer unmittelbaren Staatsverantwortung aufgrund der Genehmigung atomarer Anlagen

74

3. Grundsätzliche Vorwürfe gegen die Kerntechnik allgemein

77

II. Aussagen des Bundesverfassungsgerichts und der Literatur zur Einordnung von Restrisiken

78

1. Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts

78

2. Stellungnahmen der Literatur und sonstiger Rechtsprechung

79

a) Situationsbedingtheit des Grundrechtsschutzes, Abhängigkeit von technologischer Rahmensetzung

80

b) Die Steuerungsfunktion der politisch-planerischen Ebene

81

c) Kritische Stimmen zur grundrechtlichen Situationsprägung und „Vorbestimmung" durch „sozialadäquate Risiken"

82

2. Teil Eigene Analyse der „sozialadäquaten Risiken"

85

A. Unterschiede in den Begründungen der „sozialadäquaten Risiken" durch das Bundesverfassungsgericht und Degenhart

85

B. Einordnung und Qualifizierung der „sozialadäquaten Risiken"

86

I. Theoretische Möglichkeiten der grundrechtsdogmatischen Einordnung von Restrisiken II. Analyse der theoretischen Möglichkeiten 1. Restrisiken als Ausdruck einer Ausgestaltung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit a) Überwiegende Auffassungen zur Grundrechtsausgestaltung

87 90 90 90

aa) Inhalt dieser Konstruktion

90

bb) Kritik, Anwendbarkeit auf die Risikoproblematik

92

(1) Spannungsfeld zu Art. 1 I I I GG, Gefahren der Eigendynamik

92

nsverzeichnis (2) Problem der Anwendbarkeit einer Ausgestaltungskompetenz auf Art. 2 Π S. 1 GG b) Institutionelle Grundrechtstheorie Häberles aa) Inhalt bb) Kritik, Stellungnahme

93 94 94 95

Restrisiken als Ausdruck einer „immanenten" Grundrechtsschranke

97

a) Terminologie

97

b) Dualismus von Tatbestands-und Schrankenlösung

98

aa) Außentheorie

98

bb) Innentheorie

99

cc) Resultierender Dualismus von enger Tatbestandstheorie und weiter Tatbestandstheorie 100 c) Relevanz des Immanenzgedankens im Atomrecht

101

d) Verschiedene Modelle immanenter Grundrechtsbegrenzungen

103

aa) F. Müllers Theorie der „sachspezifischen Modalität"

103

(1) Inhalt

103

(2) Kritik, Anwendbarkeit auf die Risikoproblematik

105

bb) Enge Tatbestandstheorien durch Ausgrenzung des Inhalts „allgemeiner Gesetze"

107

(1) Inhalt, Bedeutung

107

(2) K r i t i k an einer Restrisikoerklärung durch den Vorbehalt der „allgemeinen Gesetze" 109 cc) Legitimation der Restrisiken über die „Gemeinschaftsklausel" des Bundesverwaltungsgerichts 113 dd) Unmittelbare und mittelbare Anwendung der Schrankentrias aus Art. 2 I GG auf die nachfolgenden Grundrechte zur Legitimation von Restrisiken 113 ee) „Eigentliche" Immanenzlehre des Bundesverfassungsgerichts als Rechtfertigung „sozialadäquater Restrisiken" i m Atomrecht 115 (1) Einordnung

115

(2) Anwendbarkeit der „immanenten Schranken im eigentlichen Sinne" auf Grundrechte, die unter einem speziellen Einschränkungsvorbehalt stehen 115 (3) Inhalt der Immanenzlehre des Bundesverfassungsgerichts

117

(4) Kritik, Stellungnahme

119

(5) Anwendung der Immanenzlehre des Bundesverfassungsgerichts auf die Nutzung der Atomkraft 120 (aa) Grundrechte der Betreiber atomarer Anlagen

121

(bb) Art. 74 Nr. I I a GG als Verfassungsauftrag zur friedlichen Nutzung der Kernenergie; EURATOM »Vertrag 122

nsverzeichnis

11

(cc) Verfassungsrechtliches Wachstumsgebot (§ 1 S. 2 StabilitätsG) 123 (dd) Art. 74 Nr. I I a GG als risikolegitimierende Kompetenznorm 124 aaa) Vertretene Auffassungen i n Rechtsprechung und Literatur 125 bbb) Kriterien zur Bewertung des materiellrechtlichen Gehaltes von Art. 74 Nr. I I a GG i n bezug auf das Restrisiko der Atomkraft 127 ccc) Umsetzung der Kriterien auf das Verhältnis von Art. 74 Nr. I I a GG zu Art. 2 I I S. 1 GG C. Zusammenfassung

129 131

3. Kapitel Normative Steuerung und Entwicklung der „sozialadäquaten Risiken" 1. Teil Notwendigkeit

einer Steuerung, Regelungsdefizite

134

A. Problemansatz

134

B. Notwendigkeit einer Risikogesamtbetrachtung und Risikosteuerung

135

C. Analyse der Steuerungsfähigkeit bisherigen Rechts

139

I. Gesetzliche Steuerimgsinstrumente II. Verfassungsrechtliche Aussagen zur Risikosteuerung 1. Aussagen des Bundesverfassungsgerichts

139 141 141

a) Verhältnismäßigkeit, Güterabwägung, Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers 141 b) „Dynamischer Grundrechtsschutz" des Bundesverfassungsgerichts 2. Aussagen in der Literatur a) Inhalt

143 144 144

b) Rückführung dieser Auffassungen auf funktionell-grundrechtliche Aspekte 144 c) K r i t i k an den funktionell-rechtlichen Bezügen dieser Auffassungen 147 D. Zwischenergebnis

149

nsverzeichnis 2. Teil Steuerungsansätze

151

A. Unmöglichkeit einer gesetzlichen Festlegung des Restrisikos

151

B. Steuerung der Restrisiken durch „geordneten" Verfassungswandel

153

I. Verfassungsrechtlicher Ansatzpunkt

153

1. Gnindrechtskonkretisierung und Verfassungs wandel

154

2. Grundlagen des Verfassungswandels

155

a) Positivistische Betrachtung des Verfassungswandels

155

b) Moderne Auffassungen, Stellungnahme

157

II. Steuerungsfähigkeit dieses Prozesses (Grenzen des Verfassungswandels durch die atomare Nutzung) 161 1. Ansatzpunkte

161

2. Grenzen des Verfassungswandels

162

a) Materielle Grenzen

162

aa) Wortlaut der Verfassungsnorm

162

bb) Ausdrückliche Entscheidungen des Verfassungsgebers/Identität der Verfassung 164 cc) Normative Leitfunktion der Verfassung als Steuerungsminimum 165 b) Formelle Grenzen

166

aa) „Typus"-orientierte, prinzipiell rückschauende Entwicklung 166 bb) Kontinuität der Verfassungsentwicklung als Verfahrensvorgabe 168 3. Konsequenzen für die Restrisikoentwicklung C. Ergebnis

169 172

4. Kapitel Verfassungsrechtliche Aspekte der Zukunftswirkung nuklearer Technik, insbesondere der nuklearen Entsorgung 1. Teil Problemstellung, vertretene Auffassungen A. Problemstellung

174 174

1. Technische Vorgaben der Endlagerung

174

2. Konsequenzen und Fragestellungen

175

B. Die vertretenen Auffassungen und Ansatzpunkte im Überblick

177

Inhaltsverzeichnis

13

2. Teil Eigene Untersuchung

179

A. Relativität der Fragestellung

179

B. Methodische Vorfragen

181

C. Denkbare Anknüpfungspunkte

182

1. Vorüberlegungen

182

a) Gegenstand der Zukunf tsver antwortung

182

b) Rechtskonstruktive Möglichkeiten

183

2. Demokratie

183

3. Planungsgrundsätze

186

4. Pflicht zum Umweltschutz

189

D. Zeitliche Grenzen staatlicher Verantwortung, Ergebnis

191

Thesen

195

Literaturverzeichnis

198

Abkürzungsverzeichnis a.

=

auch

a.A.

=

anderer Auffassung

a.a.O.

=

am angegebenen Orte

a.F.

=

alte Fassung

amtl. Begr.

=

amtliche Begründung

Anm.

=

Anmerkung

AöR

=

Archiv des öffentlichen Rechts

Art.

=

Artikel

AT

=

Allgemeiner Teil

AtomG

=

Atomgesetz

ATRS

=

Atomrechts-Symposium

atw

=

Atomwirtschaft - Atomtechnik

Aufl.

=

Auflage

Ausg.

=

Ausgabe

BAnz

=

Bundesanzeiger

BauR

=

Baurecht

Ba.-Wü.

=

Baden-Württemberg

BayVBl.

=

Bayerische Verwaltungsblätter

BayVGH

=

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

BB

=

Betriebs-Berater

Bd.

=

Band

Beil.

=

Beilage

Bes.VerwR

=

Besonderes Verwaltungsrecht

BGBl.

=

Bundesgesetzblatt

BGH

=

Bundesgerichtshof

BGHZ

=

Bundesgerichtshof-Entscheidungen

BImSchG

=

Bundesimmissionsschutzgesetz

BK

=

Bonner Kommentar zum Grundgesetz

BMFT

=

Bundesminister für Forschung und Technologie

BMI

=

Bundesminister des Innern

BMU

=

Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

BT-Drs.

=

Bundestagsdrucksache

BVerfG

=

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

=

Bundesverfassungsgerichts-Entscheidungen

BVerfGG

=

Bundesverfassungsgerichtsgesetz

Abkürzungsverzeichnis BVerwG

= Bundesverwaltungsgericht

BVerwGE

= Bundesverwaltungsgerichts-Entscheidungen

CDU

= Christlich-Demokratische Union

CSU

= Christlich-Soziale Union

DB

= Der Betrieb

ders.

= derselbe

DIN

= Deutsche Industrienorm

DJT

= Deutscher Juristentag

DÖV

= Die Öffentliche Verwaltung

Dt.

= Deutsch, Deutsches

DVB1.

= Deutsches Verwaltungsblatt

E

= Entscheidung

Ebd.

= ebenda

Einl.

= Einleitung

EKD

= Evangelische Kirche Deutschlands

ET

= Energiewirtschaftliche Tagesfragen

EuGRZ

= Europäische Grundrechte-Zeitschrift

EURATOM

= Europäische Atomgemeinschaft

e.V.

= eingetragener Verein

Ev.

= Evangelisch

f.

= folgende; für

FAZ

= Frankfurter Allgemeine Zeitung

FG

= Festgabe

Fn.

= Fußnote

Forts.

= Fortsetzung

FS

= Festschrift

G

= Gesetz

GaU

= Größter anzunehmender Unfall

GewArch

= Gewerbearchiv

GG

= Grundgesetz

GMB1.

= Gemeinsames Ministerialblatt

GRS

= Gesellschaft für Reaktorsicherheit

GS

= Gedächtnisschrift

HGB

= Handelsgesetzbuch

h.M.

= herrschende Meinimg

Hrsg.

= Herausgeber

idF

= in der Fassung

insb.

= insbesondere

JuS

= Juristische Schulung

JZ

= Juristenzeitung

Kap.

= Kapitel

15

Abkürzungsverzeichnis

16 ΚΤΑ

= Kerntechnischer Ausschuß

Lit.

= Literatur

LS

= Leitsatz

M/D/H/S

= Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar

MDR

= Monatsschrift für Deutsches Recht

mNw

= mit Nachweis

mrem

= Millirem

mwN

= mit weiteren Nachweisen

NJW

= Neue Juristische Wochenschrift

Nr.

= Nummer

NuR

= Natur und Recht

Nw

= Nachweis

NZVwR

= Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

o.a.

= oben angeführten

OVG

= Oberverwaltungsgericht

PrOVG

= Preußisches Oberverwaltungsgericht

PTB

= Physikalisch-Technische Bundesanstalt

R

= Recht

RGBl.

= Reichsgesetzblatt

Rn.

= Randnummer

RSK

= Reaktorsicherheitskommission

Rspr.

= Rechtsprechung

s.

= siehe

S.

= Seite

s.a.

= siehe auch

Sp.

= Spalte

SPD

= Sozialdemokratische Partei Deutschlands

SSK

= Strahlenschutzkommission

StGB

= Strafgesetzbuch

StrlSchVO

= Strahlenschutzverordnung

SZ

= Süddeutsche Zeitung

TA

= Technische Anleitung

TÜV

= Technischer Überwachungsverein

u.

= unten

u.a.

= unter anderem

UPR

= Umwelt- und Planungsrecht

urspr.

= ursprünglich

v.

= von, vom

VDE

= Verband Deutscher Elektrotechniker

VDI

= Vereinigung Deutscher Ingenieure

VerwArch

= Verwaltungsarchiv

Abkürzungsverzeichnis VerwR

= Verwaltungsrecht

VG

= Verwaltungsgericht

VGH

= Verwaltungsgerichtshof

vgl.

= vergleiche

VO

= Verordnung

Vorb.

= Vorbemerkung

WDStRL

= Veröffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer

VwGO

= Verwaltungsgerichtsordnung

z.B.

= zum Beispiel

ZBR

= Zeitschrift für Beamtenrecht

Zeitschr.

= Zeitschrift

ZfP

= Zeitschrift für Politik

ZfParl.

= Zeitschrift für Parlamentsfragen

ZfU

= Zeitschrift für Umweltpolitik

Ziff.

= Ziffer

ZRP

= Zeitschrift für Rechtspolitik

zust.

= zustimmend

17

Die weiteren Abkürzungen entsprechen dem „Abkürzungs Verzeichnis der Rechtssprache" von H. Kirchner, 3. Aufl. Berlin/New York 1983.

2 Lawrence

1. KAPITEL

Themenbeschreibung und Methode 1. Teil

Themenbeschreibung unter Berücksichtigung kernenergiespezifischer Besonderheiten Die friedliche Nutzung der Kernenergie, wie sie gem. Artikel 74 Nr. l l a G G , dem verfassungsändernden Gesetz vom 23.12.19591 und dem Atomgesetz des gleichen Tages2 von Verfassungs- und Gesetzgeber institutionalisiert ist, steht in einem besonderen Spannungsverhältnis zum Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Artikel 2 I I S. 1 GG. Jüngste Zwischenfälle, wie der Reaktorbrand in Tschernobyl/Sowjetunion im Jahre 1986 oder die Entdeckung von Unregelmäßigkeiten bei der Zwischenlagerung radioaktiver Rückstände durch bundesdeutsche Unternehmen Ende des Jahres 19873 lassen den Streit um die Nutzung der Atomkraft immer neu aufflackern. Diese Auseinandersetzungen sind für die grundsätzliche verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Energiegewinnung aus Kernkraft allerdings ohne Bedeutung: Sie ist gegeben4, jedoch nur in dem Rahmen, in dem Grundrechte durch diese erst relativ junge Technik nicht verletzt werden. 5 Allerdings wird der sich in jüngster Zeit wieder häufende Vorwurf der Grundrechtswidrigkeit bzw. der Verletzung rechtsstaatlicher Strukturen gerade durch die Kernenergienutzung 6 durch einen weiteren, wenn auch 1 Art. 87 c GG, der die Möglichkeit der Schaffung einer Bundesauftrags Verwaltung bestimmt, s. BGBl. I, 1959, 813. 2 Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (Atomgesetz), BGBl. I, 1959, 814. 3 s. nur FAZ v. 14.1.1988, S. 1; Die Welt v. 15.1.1988, S. 1; Der Spiegel, Ausg. v. 11.1.1988, S. 20 f. 4 BVerfGE 49, 89f. - Kalkar - ; E 53, 30f. - Mühlheim-Kärlich - ; aus der Lit. s. stellvertretend für viele v. Münch, in: v. Münch, GG, Art. 2 Rn. 59, 60; Strickrodt, Staats- und völkerrechtliche Zulassungsprämissen der friedlichen Kernenergieverwendung, S. 23; Degenhart, Kernenergierecht, S. 7f.; Ossenbühl, Kernenergie im Spiegel des Verfassungsrechts, DÖV 1981,1 (2): „Eine Anrufung der Gerichte mit dem Argument, die Kernenergie sei schlechthin gefährlich, ist unzulässig". 5 BVerfGE 49, 89 (141/142); OVG Lüneburg, DVB1.1975,190 (195); de Witt, Genehmigung von Atomanlagen, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 138 (142). 6 Statt vieler Meyer-Abich, Was ist ein Atomstaat? in: Atomkraft - ein Weg der Vernunft? (Hrsg. Kreuzer / Koslowski / Low), S. 255f. (281 f.); Mayer-Tasch, A t o m k r a f t -

2*

20

1. Kap.: Themenbeschreibung und Methode

außerjuristischen, Angriff ergänzt: Zunehmend sieht sich die Kernenergie auch einer sog. „Sozialverträglichkeitsprüfung" ausgesetzt, welche ihre Vereinbarkeit mit den Zielen der gesellschaftlichen und politischen Ordnung untersucht. 7 Diesbezügliche Bedenken sind gleichfalls Ursache dafür, daß sich - nicht zuletzt aufgrund des sowjetischen Reaktorunglücks - die zweitgrößte Partei der Bundesrepublik, die SPD, von der Kernenergie distanziert hat. 8 In der folgenden Untersuchung soll daher auf die drei Fragenkomplexe der nuklearen Nutzung eingegangen werden, welche besonders oft in der rechtspolitischen Diskussion anzutreffen sind und vielleicht die wichtigsten Schnittstellen zwischen Verfassungsrecht und nuklearer Technik darstellen.

A. Der Untersuchungsgegenstand I. Grundrechtliche Einordnung »sozialadäquater Restrisiken" im Atomrecht Kernenergieanlagen bergen in sich Strahlungspotentiale, die hinsichtlich eines theoretisch möglichen Schadensausmaßes andere zivilisatorische Gefahren weit übertreffen. Die atom-, gewerbe- und polizeirechtlich gebotene Gefahrenabwehr vermag angesichts der Komplexität nuklearer Anlagen keinen „absoluten" Sicherheitsmaßstab zu gewährleisten, andernfalls die Nutzung dieser Technik unmöglich wäre. Der Rechtsprechung des BVerfG sowie der weit überwiegenden Literatur zufolge sind die Gefahren jenseits der gebotenen Gefahrenabwehr als sog. „sozialadäquate Risiken" von jedem Bürger zu tragen. 9 Diese verbleibenden, zwar extrem unwahrscheinlichen oder unbekannten, jedoch gleichwohl existenten „Restrisiken" sind in ihrer grundrechtlichen Bedeutung weitgehend ungeklärt. 10 Die bloße Bezeichnung als „sozialadäquat" ist Ergebnis einer vorweggenommenen Wertung und ersetzt nicht die genaue Einordnung in das System grundund sie bedroht uns doch, ZRP 1979, 59 (60); Roth-Stielow, Grundrechtsschutz beim Betrieb von Kernkraftwerken, EuGRZ 1980, 386ff.; nahezu vollständige Auflistung der Argumente bei Kimminich, Atomrecht, S. 31. 7 OVG Münster, NJW 1978, 439 (442); Roßnagel, Auf der Suche nach einem zeitgemäßen Verhältnis von Recht und Technik, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 13f. (16); ders., Bestandsschutz von Atomkraftwerken, JZ 1986, 716 (719); Weinberg, Kernenergie und Sozialordnung, in: Atomkraft - ein Weg der Vernunft? (Hrsg. Kreuzer / Koslowski / Low), S. 339f.; Spaemann, Kernenergie als Problem der praktischen Philosophie, ebd., S. 353f.; Kloepfer, Staatsaufgabe Umweltschutz, DVB1. 1979, 639 (640). 8 Vgl. Parteitagsbeschluß vom 29. August 1986 in Nürnberg, s. Protokoll vom Parteitag der SPD in Nürnberg S. 827 - 829. 9 BVerfGE 49, 89 (143) - Kalkar - mit Anm. Fiedler, JZ 1979, 184; E 53, 30 (59) - Mühlheim - Kärlich - ; für die Literatur sei stellvertretend Degenhart, Kernenergierecht, S. 148 genannt. 10 Rengeling, Probabilistische Methoden, S. 90; Hermes, Grundrecht, S. 238f., 241.

1. Teil: Themenbeschreibung

21

rechtlicher Gewährleistungen und den Numerus Clausus der Beschränkungsmöglichkeiten. Erster Hauptpunkt der nachfolgenden Untersuchung wird daher sein, eine derartige Präzisierung der „sozialadäquaten Risiken" anhand des grundrechtlichen Instrumentariums vorzunehmen. Π. Normative Steuerung der quantitativen Risikozunahme Der Anteil der Kernenergie an der öffentlichen Stromversorgung hat sich seit dem Jahre 1975 mehr als vervierfacht, seit 1982 verdoppelt. Während 1975 ca. 9% der elektrischen Energie aus Uran erzeugt wurde, lieferten Ende des Jahres 1985 19 Kernkraftwerke mit einer Gesamtleistung von 16 921 Megawatt zusammen 36% der überhaupt erzeugten Energie. 11 Auch von den Befürwortern einer solchen Entwicklung ist das generelle Phänomen anerkannt, daß eine zunächst verfassungsmäßige Situation Sachzwänge begründen kann, die eine Abschwächung grundrechtlicher Sicherungen ermöglichen. 12 Dieses Bedenken tritt gerade bei den der Langfristplanung unterliegenden Materien auf, da sich deren Änderungschancen proportional zum investierten Aufwand verkleinern. 13 Das hieraus resultierende allgemeine Kontrollproblem stellt sich bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie noch in einer weiteren Besonderheit. Da Atomkraftwerke im Verwaltungsverfahren und im - fast zur Regel gewordenen - anschließenden Verwaltungsprozeß immer nur alleine auf ihre Vereinbarkeit mit geltendem Recht untersucht werden, ist Behörden und Justiz ein Überwachungsdefizit hinsichtlich des quantitativen Risikowachstums vorgeworfen worden. 14 Es findet sich sogar die Befürchtung, daß über die wachsende Gesamtzahl von Anlagen das jeweils einzeln vorhandene Risiko über die bloße quantitative Zunahme in eine neue Qualität umschlagen könne. 15 Diese Kontrollproblematik, die sich bei der Kernener11 Quelle: FAZ vom 2. April 1986, S. 13; 3. Mai 1986, S. 13; ET 1987, Heft 12, S. 1046. 12 Degenhart, Kernenergierecht, S. 166; ders., Vollendete Tatsachen und faktische Rechtslagen, AöR 103 (1978) 163f.; Breuer, Umweltschutzrecht, in: v. Münch, Besonderes Verwaltungsrecht, S. 644/645; Dauk, Entsorgungsregelung, S. 1, 2; Hofmann, Atomenergie und Grundrechte, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 55 (57); Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, S. 34f., 42f.; vgl. auch Kloepfer, Staatsaufgabe Umweltschutz, DVB1. 1979, 639 (640). 13 Henseler, Verfassungsrechtliche Aspekte zukunftsbelastender Parlamentsentscheidungen, AöR 108 (1983) 489 (492); Würtenberger, Planung, S. 88; Lanz, Planimg, S. 18; Böckenförde, Planung zwischen Regierung und Parlament, Staat 11 (1972) 428 (441); Malz, Umweltplanung, S. 259; Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 21; vgl. auch Conrad / Krebsbach-Gnath, Sicherheit als gesellschaftlicher Wert, ZfU 1980, 824 (826). 14 Ernst, Staatliche Verantwortung, BauR 1978, 8 (11, 12): „der Gesetzgeber muß die Gesamtheit der zulässigen Anlagen bestimmen"; Listi, Die Entscheidungsprärogative des Parlaments, DVB1. 1978, 10 (12); de Witt, Genehmigimg von Atomanlagen, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 160; Roßnagel, Grundrechte und Atomkraftwerke, S. 68.

22

1. Kap.: Themenbeschreibung und Methode

gie womöglich stellvertretend auch für die gesamte technische Entwicklung überhaupt stellt, hängt eng mit der grundrechtlichen Einordnung von Risiken zusammen und baut auf diesbezüglichen Erkenntnissen auf. Sie wird daher im Anschluß an die Untersuchung der Risiken als solcher behandelt werden. ΙΠ. Rechtliche Bewertung des durch die Entsorgung aufgeworfenen Generationenproblems Nach § 9 a Abs. 1 AtomG ist bei Unverwertbarkeit der beim Spaltprozeß anfallenden Reststoffe eine „geordnete Beseitigung" vorzunehmen. Die Spaltprodukte, die nach bisheriger Planung in stillgelegten Salzstöcken bei Gorleben / Niedersachsen eingelagert werden sollen, besitzen eine Halbwertszeit 16 von bis zu 24 000 Jahren. 17 Durch diese naturwissenschaftlichen Vorgaben ergibt sich die latente Gefährlichkeit der endgelagerten Stoffe für zahlreiche nachfolgende Generationen, welche abgesehen von der Schonung fossiler Brennstoffe keinen Vorteil aus der Kernenergienutzung ziehen. Die sich ergebende Problematik der generationenübergreifenden Langzeitbelastung ist von den verschiedensten Disziplinen, sei es der Staatsphilosophie 18 , der Ethik 1 9 , der Theologie 20 oder in neuerer Zeit der Soziologie 21 beleuchtet worden. Die Vielfalt der Anknüpfungspunkte spiegelt sich auch in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung wider. In jüngster Zeit mehren sich jedoch ebenfalls Stimmen im juristischen Schrifttum, die das 15 Albers, Möglichkeiten und Grenzen gerichtlicher Überprüfung, in: Kernenergie und wissenschaftliche Verantwortung (Hrsg. Hülsmann / Tschiedel), S. 99. 16 Unter „Halbwertszeit" ist die Zeit zu verstehen, in der die Hälfte der Atomkerne einer radioaktiven Masse zerfällt. Nach Ablauf der Halbwertszeit ist nur noch die Hälfte der ursprünglichen Strahlung vorhanden; vgl. Kernenergie im Dialog (Hrsg. Betreiber und Hersteller von Kernkraftwerken), S. 19. 17 Renneberg, „Stand der Wissenschaft" und die „SchadensVorsorge" im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren, ZRP1986,161 (162) Fn. 10; Dauk, Entsorgungsregelung, S. 79/80; die Frist von 24 000 Jahren gilt für das stark strahlungsgiftige Element Plutonium 239, Hofmann, Nachweltschutz als Verfassungsfrage, ZRP 1986, 87 (87). 18 So die Verfassungsrevisionstheorie Thomas Jeffersons und Marie-Jean de Condorcet, s. ausf. Nw. bei Bühler, Verfassungsrevision und Generationenproblem, S. 19, 29 f. 19 Ryffel, Verantwortung als sittliches Phänomen, in: Staat 6 (1967) 275f.; Spaemann, Kernenergie als Problem der praktischen Philosophie, in: Atomkraft - ein Weg der Vernunft? (Hrsg. Kreuzer / Koslowski / Low), S. 353f.; Carl-Fr. v. Weizsäcker, Deutlichkeit, S. 34f.; Picht, Prognose, Utopie, Planung, S. 5f.; Muschg, Wohin mit der Kultur, in: Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht (Hrsg. P. Häberle), S. 370. 20 Denkschrift der EKD: „Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe", S. 36: „Das Lebensinteresse der künftigen Menschheit hat in der Gegenwart keinen unmittelbaren Anwalt"; zur herausragenden Rolle der kirchlichen Stellungnahmen als Indikator für das Sittengesetz s. v. Münch, in: ders., GG, Art. 2 Rn. 33; SchmidtBleibtreu / Klein, GG, Art. 2 Rn. 13; BVerfGE 6, 389 (434/435). 21 Conrad / Krebsbach-Gnath, Sicherheit als gesellschaftlicher Wert, ZfU 1980,824 (825/826); vgl. auch Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 165f.

1. Teil: Themenbeschreibung

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Problem der Generationenverantwortung nicht mehr nur diesen außerrechtlichen Methoden und Ansätzen überlassen wollen, sondern eine juristische Erfaßbarkeit auch dieses über die sonst vorherrschende Gegenwartsregelung hinausgehenden Bereichs annehmen. 22 Im dritten Teil der Arbeit soll untersucht werden, ob und gegebenenfalls welche rechtlichen Vorgaben das Grundgesetz dem in die Zukunft hineinragenden Staatshandeln setzt.

B. Tatsächliche und rechtliche Besonderheiten der Energieerzeugung durch Atomkraft Die Kernenergie unterscheidet sich in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht maßgeblich von anderen modernen Technologien. Neben der fächerübergreifenden hohen technischen Komplexität eines Systems „Atomkraftwerk" sowie der Konzentration auf nur einige wenige, dafür" sehr finanzintensive Anlagen 23 besteht bei der Kernenergienutzung ein besonders hohes latentes Gefahrenpotential. 24 Die besondere Gefährlichkeit der Kernenergie ergibt sich aus der unvergleichlich starken Strahlung im Innern eines Atomkraftwerks und aus der Schwierigkeit, den atomaren Spaltprozeß unter genauer Kontrolle zu halten. 25 Ungewöhnlich sind demnach sowohl die Schnelligkeit, in der sich ein Reaktorunfall ereignen kann, als auch das mögliche Schadensausmaß.26 Auch liegt die Gefährlichkeit ionisierender Strahlen in besonderem Maße darin, daß ihre Wirkung zunächst nicht wahrgenommen w i r d und körpereigene Abwehrmechanismen fehlen. 27 Neben der bereits angesprochenen Langfristproblematik 28 der Entsorgung unterscheidet sich die Kerntechnik von sonstiger moderner Großtechnologie ferner durch das Ausmaß staatlicher Mitwirkung bei Planung, Errichtung und Betrieb. Der Kernenergieausbau w i r d - nicht zuletzt wegen 22 So ausführlich Hofmann, Entsorgung, S. 258f.; ders., Nachweltschutz als Verfassungsfrage, ZRP 1986, 87f.; Benda, Zeitliche Dimension der Sozialstaatsklausel, in: Handbuch des Verfassungsrechts (Hrsg. Benda / Maihof er / Vogel), S. 547 f.; ders., Technische Risiken und Grundgesetz, S. 7; Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 70f.; Henseler, Zukunftsbelastende Parlamentsentscheidungen, AöR 108 (1983) 489 (490f.); vgl. auch Rehbinder, Umweltrecht, ZRP 1970, 250f. 23 Wagner, Neue Formen administrativer Entscheidungen, ZRP 1982,103. 24 VG Karlsruhe, DVB1. 1978, 856 (857). 25 Schindel, Haftung für Atomschäden, S. 13; vgl. ansonsten die einschlägige atomtechnische Literatur, s. hierzu ausführliche naturwissenschaftliche Nachweise in: Kernenergie im Dialog (Hrsg. Betreiber und Hersteller von Kernkraftwerken), S. 54 f. 26 Schindel, Haftung für Atomschäden, S. 14; s. zum befürchteten Schadensausmaß der Kernschmelz-Katastrophe im sowjetischen Kernkraftwerk Tschernobyl vom 25. April 1986 Stellungnahme der Gesellschaft für Reaktorsicherheit (Hrsg.), S. 49 f.; ferner FAZ v. 30.4.1986, S. 1; Die Welt v. 30.4.1986, S. 1. 27 Prasse, Rechtsprobleme der Endlagerung, S. 2; vgl. auch Dauk, Entsorgungsregelung, S. 69; Degenhart, Kernenergierecht, S. 163; Barthelmeß, Gesichtspunkte zur genetischen Beurteilung von Dosiswertgrenzen, 4. Dt. ATRS (1975) 309f. 28 s. o. 1. Kap. 1. Teil A.III, ausführlich unten 4. Kap.

24

1. Kap.: Themenbeschreibung u n d Methode

der f i n a n z i e l l e n D i m e n s i o n - v o n Staats wegen zugelassen, gefördert u n d sogar hervorgerufen. 2 9 D e r U n t e r s c h i e d z u o r i g i n ä r p r i v a t w i r t s c h a f t l i c h e r T ä t i g k e i t w i r d w e i t e r d a r a n d e u t l i c h , daß die Spaltstoffe i m europäischen öffentlichen E i g e n t u m stehen 3 0 , an i h n e n auch k e i n p r i v a t e r Eigentumserw e r b m ö g l i c h i s t . 3 1 D e r staatliche E i n f l u ß ergibt sich ferner aus den B e t e i l i gungsverhältnissen der öffentlichen H a n d a n den die K e r n a n l a g e n tragenden Energieversorgungsunternehmen 3 2 sowie aus der Forschungsförderung m i t t e l s S u b v e n t i o n e n . 3 3 N i c h t zuletzt ist f ü r die staatliche E i n b i n d u n g der K e r n e n e r g i e n u t z u n g auch die staatliche K o n t r o l l e über die zahlreichen Sachverständigen- u n d Beratergremien v o n B e d e u t u n g . 3 4 D i e o. a. tatsächlichen Besonderheiten setzen sich i n der besonderen r e c h t l i c h e n B e h a n d l u n g der Kernenergie fort. Das Atomgesetz u n d seine z a h l r e i chen ergänzenden Rechtsvorschriften s i n d d u r c h eine V i e l z a h l v o n unbes t i m m t e n Rechtsbegriffen gekennzeichnet, die z w a r ü b e r w i e g e n d als u n b e d e n k l i c h angesehen w e r d e n , 3 5 deren k o n k r e t e U m s e t z u n g jedoch Probleme a u f w i r f t . Hervorstechend ist hier, daß die g e r i c h t l i c h anerkannte v o l l s t ä n dige Ü b e r p r ü f b a r k e i t u n b e s t i m m t e r Rechtsbegriffe 3 6 eine Detailauseinan29 Degenhart, Kernenergierecht, S. 147 mit Hinweis auf die deshalb von BVerfGE 53, 30ff. - Mühlheim - Kärlich - angenommene „staatliche Mitverantwortung" für das nukleare Risikopotential (S. 58); Baumann, Grundrechtsvorbehalt der „sozialadäquaten technisch-zivilisatorischen Risiken", JZ 1982, 749 (754); Hemeler, Zukunftsbelastende Parlamentsentscheidungen, AöR 108 (1983) 489 (496); Hofmann, Atomenergie und Grundrechte, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 55 (59); Lerche, Kernkraft und rechtlicher Wandel, S. 28f. 30 s. Art. 86 des EURATOM-Vertrages, abgedr. in BGBl. II, 1957, 1014f.; zur Frage der Rechtsnatur dieses „Eigentums" s. Haedrich, AtomG, in: Dt. Bundesrecht, I I I E 50, S. 51 Rn. 12; Diel, die finanzpolitische Bedeutung, in: 2. Dt. ATRS (1974) 7. 31 Ausf. Hofmann, Entsorgung, S. 143; vgl. Wagner, Schadensvorsorge, DÖV 1980, 269 (270) in Fn. 4 mwN; Kimminich, Atomrecht, S. 194. 32 Im Jahre 1980 betrug nach Angaben der Arbeitsgemeinschaft Regionaler Energieversorgungsunternehmen e.V. (ARE) der Anteil der öffentlichen Hand am Grundkapital der ARE-Mitgliedsunternehmen 63%. 33 Jarass, Staatliche Einwirkung auf die Energiewirtschaft, Staat 17 (1978) 507 (514 f.) der darauf hinweist, daß die öffentliche Hand die Kerntechnik i m Zeitraum von 1956 bis 1976 mit 17 Mrd. D M subventionierte; zur Verflechtung zwischen Staat und Kernanlagenbetreiber s. ferner Winter, Bevölkerungsrisiko und subjektives Recht, NJW1979, 393 (399); Lerche, Kernkraft und rechtlicher Wandel, S. 28; de Witt, Urteilsanmerkung, DVB1. 1980, 1006 (1008); Pfaff, Planungsrechtsprechung, S. 52; Hof mann, Atomenergie und Grundrechte, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 55 (59); Löffler, Parlamentsvorbehalt, S. 22; Deiseroth, Großkraftwerke vor Gericht, S. 62. 34 Die an dieser Stelle nur kursorisch genannt werden sollen: Kerntechnischer Ausschuß (KTA), Reaktorsicherheitskommission (RSK), Strahlenschutzkommission (SSK); vgl. hierzu Degenhart, Kernenergierecht, S. 225; für die übernommene staatliche Verantwortung s. ferner unten 2. Kap. 1. Teil B.I. mwN. 35 BVerfGE 49, 89 (133); WagnerRisiken von Wissenschaft und Technik, NJW 1980, 665 (667); kritisch Lukes, Das Atomrecht im Spannungsfeld zwischen Recht und Technik, NJW 1978, 241 (243); zur Genehmigimg von Atomkraftwerken s. allgemein v. Mutius / Schoch, Die atomrechtliche „Konzeptgenehmigung", DVB1. 1983, 149f.; Degenhart, Kernenergierecht, S. 61; de Witt, Genehmigung von Atomanlagen, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 138 f.

25

1. Teil: Themenbeschreibung dersetzung

der

Verwaltungsgerichte

mit

primär

technischen

Fragen

b e d i n g t , 3 7 was z u z e i t l i c h e n Verzögerungen u n d F e h l i n v e s t i t i o n e n , 3 8 Ü b e r forderung der R i c h t e r 3 9 u n d u n e r w ü n s c h t e r M e h r f a c h t ä t i g k e i t v o n Sachverständigen40 führt.

C. Konsequenzen der atomtechnischen Besonderheiten für den Gang der Untersuchung I n A n b e t r a c h t der o. a. Unterschiede z u „ h e r k ö m m l i c h e r " T e c h n i k bestehen Meinungsverschiedenheiten h i n s i c h t l i c h der A n w e n d u n g h e r k ö m m l i cher Rechtsmaßstäbe auf die Kernenergienutzung. N a c h w o h l ü b e r w i e g e n d vertretener Auffassimg s i n d die Unterschiede zwischen A t o m - u n d k o n v e n t i o n e l l e n A n l a g e n n i c h t p r i n z i p i e l l e r A r t , der Kernenergie f ä l l t als w o h l s y m b o l t r ä c h t i g s t e m P r o d u k t der neuen E n t w i c k l u n g l e d i g l i c h eine Stellver36 BVerwG DVB1. 1972, 678 (681) - Voerde - ; OVG Münster, ET 1975, 220 (229); OVG Lüneburg, DVB1.1975,190 (195); DVB1.1978, 67 (69); VG Schleswig DVB1.1977, 358f.; VG Oldenburg, ET 1979, 652; s. aber auch ansatzweise K r i t i k bei VG Schleswig, NJW 1980, 1296; bejahend ferner Breuer, Rezeption technischer Regeln, AöR 101 (1976) 46 (72); ders., Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVB1. 1978, 591 (598); Winters, Zur Entwicklung des Atom- und Strahlenschutzrechts, DÖV 1978, 265 (269); Ipsen, Genehmigung technischer Großanlagen, AöR 107 (1982) 259 (290); Tettinger, Administrativer Prognosespielraum, DVB1. 1982, 421 (430f.); Albers, in: Kernenergie und wissenschaftliche Verantwortung (Hrsg. Hülsmann / Tschiedel), S. 90; Erichsen, Unbestimmter Rechtsbegriff und Beurteilungsspielraum, VerwArch 63 (1972) 337f.; einschränkend Mahlmann, Ermessen, Beurteilungsspielraum und Beweislastverteilung, 1. Dt. ATRS (1972) 269 (278); Fiedler, Beurteilungsspielraum „aus Sachnähe", ET 1982, 580 (582); zu allem Ossenbühl, Gerichtliche Überprüfung von Kernkraftwerken, DVB1. 1978, 1 (3, 4). 37 s. Fiedler, Beurteilungsspielraum „aus Sachnähe", ET 1982, 580 (580 Fn. 10); Weber, Regelungsdichte im Atomrecht, S. 18; Czajka, Stand von Wissenschaft und Technik, DÖV 1982, 99f.; ders., Richterliche Kontrollmacht, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 182 (182/183); zur Problematik richterlicher Kontrollbefugnisse im Atomrecht ferner Degenhart, Kontrollbefugnisse, ET 1981,203f.; Schmitt Glaeser, Planende Behörde, Der Landkreis 1976, 442; Ossenbühl, Gerichtliche Überprüfung von Kernkraftwerken, DVB1. 1978, 1 (2) mit anschaulicher Darstellung der technischen Fragen, die von den Gerichten überprüft werden; Hanning / Schmieder, Gefahrenabwehr, DB 1977, Beil. 14, 1 (3); Breuer, Entwicklung des Atomrechts, NJW 1977, 1121 (1126); ders., Rezeption technischer Regeln, AöR 101 (1976) 46 - 88 mwN; teilweise die Richterkompetenz bejahend v. Pestalozza, Energieversorgung unter Richtervorbehalt, Staat 18 (1979) 481f.; einschränkend BVerwG NZVwR 1986, 208f. - Whyl - ; Schmidt, Technische Berater für die Gerichte, in: FS Maunz, S. 296f.; Nolte, Rechtliche Anforderungen an die technische Sicherheit von Kernanlagen, S. 15. 38 s. Hanning / Schmieder, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DB 1977, Beil. 14, 1 (3); Scheuten, Kernenergie und Energieversorgung, 6. Dt. ATRS (1979) 29 (30, 31). 39 Rauschning, Staatsaufgabe Umweltschutz, W D S t R L 38 (1980) 167 (203). 40 Fiedler, Beurteilungsspielraum „aus Sachnähe", ET 1982, 580f.; Deppe, Verwaltungsgerichtliche Kontrolldichte, S. 15 mwN; Lukes, Atomrecht im Spannungsfeld zwischen Technik und Recht, NJW 1978, 241 (242); Schmitt Glaeser, Planende Behörde, Der Landkreis 1976, 442 (445); Richter, Umfang der gerichtlichen Kontrolle atomrechtlicher Genehmigungen, ET 1982, 140f.; Breuer, Entwicklung des Atomrechts, NJW 1977, 1121 (1126); Rauschning, Staatsaufgabe Umweltschutz, W D S t R L 38 (1980) 167 (202).

26

1. Kap.: Themenbeschreibung und Methode

treterrolle zu. 4 1 Ebenfalls in diese Richtung weisen die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts, welches allgemeine Grundsätze der Rechtsdogmatik auch auf die Kernenergie anwendet. 42 Jedoch haben die Besonderheiten der Atomtechnik auch Äußerungen in Literatur und Rechtsprechung hervorgerufen, die eine Nichtvergleichbarkeit dieser Technik in Hinblick auf die anzuwendenden grundrechtlichen Maßstäbe formulieren. 43 Häufig anzutreffen sind hier insbesondere zwei Arten der Argumentation: Einmal seien herkömmlich anerkannte Methoden der Entscheidungsfindung, wie z.B. das Prinzip der Güterabwägung oder das Verursacherprinzip, im Falle der Kernenergie nicht anwendbar. 44 Oder es werden bisher selten oder gar nicht vertretene Argumentationstopoi auf die Kernenergie angewandt, die durch ihre Fragestellung praktisch nur eine völlige Verwerfung der Atomkraft zulassen. Bestes Beispiel hierfür ist die Annahme einer Generationenverantwortung dahingehend, daß eine Belastung der Nachwelt durch die unabdingbar anfallenden Zerfallsstoffe unzulässig sei. 45 Es ist allerdings sehr zweifelhaft, aus einer „andersartig" gewerteten Risiko- und Gefahrenlage auch neue grundrechtliche Anforderungen ableiten zu wollen. 4 6 Zum einen ist nicht recht deutlich, wo genau die Kritiker einer herkömmlichen sicherheitsrechtlichen Bewertung der Kernenergie veränderte grundrechtliche Maßstäbe einsetzen wollen. Allein der Hinweis auf das hohe latente Gefahrenpotential beseitigt noch nicht die Relevanz einer herkömmlichen Grundrechtsprüfung, welche gleichfalls etwa im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung Nutzen und Gefahren miteinander abzuwägen hat. Zu beachten ist, daß die tatsächlichen Unterschiede zwischen „konventioneller" und nuklearer Technik auf mehreren, sich ineinan41 Benda, Technische Risiken und Grundgesetz, S. 5; Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 281; Wagner, Schadensvorsorge, DÖV 1980, 269 (270); ders., Risiken von Wissenschaft und Technik, NJW 1980, 665 (666); Wagner / Ziegler / Closs, Risikoaspekte der nuklearen Entsorgung, S. 158, 167; Degenhart, Technischer Fortschritt und Grundgesetz, DVB1. 1983, 926 (935); Lukes, Atomrecht im Spannungsfeld zwischen Technik und Recht, NJW 1978, 241. 42 s. insbesondere E 49, 89f.; vgl. auch Kramer, Die nach dem Atomgesetz erforderliche Schadensvorsorge, NJW 1981, 260 (264). 43 Hartkopf, Eröffnungsvortrag, in: 6. Dt. ATRS (1979) 3 (20); vgl. auch Renneberg, „Stand der Wissenschaft" und die „SchadensVorsorge" im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren, ZRP 1986, 161 (163). 44 Spaemann, Kernenergie als Problem der praktischen Philosophie, in: Atomkraft - Ein Weg der Vernunft? (Hrsg. Kreuzer / Koslowski / Low), S. 353 (366); Hennis, In der Menschheitsgeschichte kein Beispiel, FAZ v. 17.3.1977, S. 9. 45 s. Hofmann, Entsorgung, S. 263f.; ders., Nachweltschutz als Verfassungsfrage, ZRP 1986, 87 f.; Roth-Stielow, Grundrechtsschutz beim Betrieb von Kernkraftwerken, EuGRZ 1980, 386f.; Meyer-Abich, Was ist ein Atomstaat? in: Kernenergie - ein Weg der Vernunft (Hrsg. Kreuzer / Koslowski / Low), S. 255 (260f.). 46 Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 281: „Eine verfassungsrechtliche Sonderstellung der Kerntechnik gibt es nicht."

1. Teil: Themenbeschreibung

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der verschränkenden Ebenen verlaufen, und sich die Annahme eines wie auch immer gearteten qualitativen Übergewichtes als Ergebnis einer Wertung darstellt. Auch ist festzuhalten, daß die anerkannte 47 Gefahrenformel vom Produkt aus Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß gerade auf die Vereinheitlichung und Vergleichbarkeit verschiedenster Gefahrenquellen angelegt ist. Im Ergebnis beansprucht jede Art moderner Großtechnik die eine oder andere Besonderheit für sich. Um die Nichtanwendbarkeit bisheriger Maßstäbe begründen zu können, muß daher zwischen den unterschiedlichen tatsächlichen Aspekten eine Wertung vorgenommen werden. Gefragt werden muß, ob bestimmte Kriterien allein oder in Kombination mit anderen eine Art „Niveausprung" auf eine verfassungsrechtlich nicht mehr determinierte Ebene verursachen. Eine solche Wertung kann jedoch nur unter Anwendung gültiger grundrechtlicher Maßstäbe erfolgen. Diese Rechtmäßigkeitsprüfung führt dazu, die Kernenergie in ihrer Gesamtheit oder in Einzelpunkten als verfassungsgemäß oder verfassungswidrig zu qualifizieren. Unzulässig ist es demgegenüber, trotz vorhandener grundgesetzlicher Aussagen diese als nicht ausreichend abzuwerten und stattdessen auf externe und im übrigen beliebige Wertungen abzustellen. Der Blick auf einzelne Phänomene und deren rechtliche Bewertung anhand außerverfassungsrechtlicher bzw. unter Außerachtlassung verfassungsrechtlicher Gesichtspunkte erscheint daher problemverkürzend und den Normativitätsanspruch der Verfassung negierend. Eine andere Frage ist es, wie sich die atomrechtlichen Besonderheiten, insbesondere die staatliche Förderung und damit Mitverantwortung, auf den Grundrechtsschutz auswirken. 48 Diese Frage darf jedoch nicht mit der Problematik verwechselt werden, inwieweit die Grundrechtsdogmatik überhaupt auf die Kernenergie angewendet werden kann.

47 48

s. Nw. unten 2. Kap. 1. Teil A.III.2. s. dazu unten 2. Kap. 1. Teil B.I.2.

2. Teil

Methode der Untersuchung A. Die Bedeutung des Vorverständnisses und der Methodenwahl für die Betrachtung atomarer Risiken Das Bundesverfassungsgericht 49, die Verwaltungsgerichte 50 sowie die Literatur 5 1 sehen technische Risiken unterhalb der „Schwelle praktischer Vernunft" als sozialadäquate Lasten aller Bürger an. Es gibt demzufolge kein Grundrecht auf ein risikofreies Leben. Weder für eine grundrechtliche Einordnung dieses Risikos noch für die Grenzen seines Wachstums gibt es ausreichende Erklärungen. Straf- und zivilrechtlich meint „Sozialadäquanz" ein Verhalten, welches sich völlig im Rahmen der geschichtlich gewordenen Ordnung bewegt und daher allgemein anerkannt ist. 5 2 Wenn der Begriff der „Sozialadäquanz" als „Erklärung" der Restrisiken ernstgenommen werden darf, ist also eine Rückbindung an Gewohnheit und Konsens maßgebliches Kriterium für die Rechtmäßigkeit. Die Frage, die sich hieran anschließend sofort stellt, lautet: Reicht eine derartige Legitimation für die von Staats wegen zugelassenen Risiken aus, oder ist hier eine weitere, wenn ja: welche, Erklärung nötig. Die Beantwortung dieser Frage kann nur anhand des am ehesten in Sachzusam49 BVerfGE 49, 89 (143) - Kalkar - mit Anm. Fiedler, JZ 1979, 184; E 53, 30 (59) - Mühlheim - Kärlich. so BVerwGE 54, 211 (223); VGH Mannheim, NJW 1983, 63 (64); BayVGH DVB1. 1979, 673 (675); OVG Lüneburg, ET 1979, 293. 51 Degenhart, Kernenergierecht, S. 148; ders., Kontrollbefugnisse, ET 1981, 203 (203/204); ders., Technischer Fortschritt und Grundgesetz, DVB1. 1983, 926 (931); Schmidt-Assmann, Anwendungsprobleme des Art. 2 I I GG, AöR 106 (1982) 205 (208); Wagner, Bedrohen moderne Technologien die Grundrechte?, ZRP 1979, 54 (55); ders., Grundrechtsschutz und Technologieentwicklung, ZRP 1985, 192 (193); ders., Risiken von Wissenschaft und Technik, NJW 1980, 665 (669); Stober, Atomare Entsorgung, ET 1983, 585 (593); Ipsen, Genehmigung technischer Großanlagen, AöR 107 (1982) 259 (261); Straßburg, Juristische Aspekte eines künftigen Sicherungssystems, ZRP 1984, 299 (302); Lerche, Kernkraft und rechtlicher Wandel, S. 15; Marburger, Individualschutz gegen Umweltbelastungen, Gutachten C zum 56. DJT (1986) S. 74; Nicklisch, Wechselwirkungen zwischen Technologie und Recht, NJW 1982, 2633 (2635); s. ferner Nw. unten 2. Kap. 1. Teil, Fn. 260, 261. 52 Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos, 1969, (S. 28); Lackner, StGB, Vor § 32 Rn. 11; s. ferner Nw. unten 3. Kap. Fn. 21.

2. Teil: Methode der Untersuchung

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menhang stehenden Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit erfolgen. Das spezifisch staatsrechtliche Problem ist, daß Art. 2 I I S. 1 GG selbst nur einen sehr begrenzt subsumtionsfähigen, aber in hohem Maße subsumtionsbedürftigen Tatbestand beinhaltet. Dieser Mangel ist strukturelle Besonderheit des Verfassungsrechts, welches als Integrationsbasis eines Staatswesens nicht die Schärfe und Präzision eines einfachen Gesetzes bieten kann. 5 3 Speziell auf die Risiken der Kernenergie bezogen stellt sich das Problem des generalklauselartigen vagen Tatbestands („körperliche Unversehrtheit") zusätzlich deshalb, weil die sicherheitsrechtlichen Probleme der friedlichen Kernenergienutzung im Jahre 1949 noch weitgehend unbekannt waren. Die Frage des Verhältnisses einer „traditionellen" Grundrechtsnorm zu einer neuen technischen Entwicklung ist jedoch auch deshalb besonders interessant, da sie in Zusammenhang zu folgendem Spannungsfeld steht: Einmal w i l l die Verfassung oberster Maßstab allen staatlichen Handelns sein, andererseits hat sie sich, w i l l sie ihre Geltungskraft für die zu regelnde Wirklichkeit erhalten, wandelnden Gegebenheiten in gewissem Maße anzupassen. Beide Aufgaben stehen in Konkurrenz, wenn nicht sogar in Widerspruch zueinander. 54 Ihre Lösung ruft Folgeprobleme wie etwa die Frage der Entscheidungsfindungskompetenz hervor, die i n ihrer methodischen Abhängigkeit und Schwierigkeit der Grundfrage vom Verhältnis Recht/Wirklichkeit sowie der damit zusammenhängenden Zeitdimension als grundrechtsbedeutsamer Kategorie kaum nachstehen. 55 Die Schwierigkeit ist daher vor allem darin zu sehen, aus dem gegenüber neuer Technik erhöht anpassungsbedürftigen Grundrechtsteil des Grundgesetzes 56 konkrete Aussagen hinsichtlich Einzelphänomenen der Kernenergie abzuleiten. Die Frage nach grundrechtlichen Aussagen zum nuklearen Restrisiko verlagert sich demzufolge weitgehend auf die Ebene von interpretatorischem Vorverständnis und Methodenwahl. 57 Dieser Befund w i r d durch einen Blick auf die vertretenen Stellungnahmen in Literatur und Rechtsprechung bestätigt, welche in auffälligem Maße die Polarität von individuell-wertbezogenem und staatsorientiertem-funktionsbezogenem Denken 58 widerspiegeln, ohne diese präjudi53 Huber, Konkretisierung der Grundrechte, FS Imboden, S. 191 (195); Schenke, Umfang der Überprüfung, NJW 1979, 1321 (1322); Stern, StaatsR I, S. 65; Bull, Staatsauf gaben, S. 36; v. Pestalozzi Methoden der Grundrechtsauslegung, Staat 2 (1963) 425 (435). 54 Vgl. hierzu Richter, Bildungsverfassungsrecht, S. 20; Stettner, Kompetenzlehre, S. 128. 55 Fiedler, Fortbildung der Verfassung, JZ 1979, 417 (418). 56 Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 22. 57 So für jede interpretatorische Entscheidung bei geringer normativer Vorgabe Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 61; Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20 (1963) 53 (70); Müller, Juristische Methodik, S. 136; Larenz, Methodenlehre, S. 146f.; Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, S. 134; Grimm, Staatsrechtslehre, S. 60; Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 250f.; Dreier / Schwegmann, Verfassungsinterpretation, S. 13 f.; v. Pestalozza, Methoden der Grundrechtsauslegung, Staat 2 (1963) 425 (430).

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1. Kap.: Themenbeschreibung u n d Methode

zierenden Prämissen b e i m N a m e n z u n e n n e n . 5 9 Gerade diese grundlegende U n t e r s c h i e d l i c h k e i t g i b t G r u n d z u der A n n a h m e , daß die Ursachen - u n a b h ä n g i g v o n einzelnen M o t i v e n - i m methodischen V o r f e l d z u suchen sind. D i e B e u r t e i l u n g n u k l e a r e r Restrisiken k a n n daher n u r i n dem Maße r a t i o n a l sein, i n d e m es i h r gelingt, das Vorverständnis z u r a t i o n a l i s i e r e n . 6 0 D i e Erfassung des Vorverständnisses w i e d e r u m h ä n g t eng v o n der W a h l der Methode ab, die Methodenlehre versteht sich als I n s t r u m e n t

„richtiger"

r i c h t e r l i c h e r E n t s c h e i d u n g s f i n d u n g m i t d e m Ziel, den Entscheidungsvorgang d u r c h materielle Gerechtigkeit z u b e s t i m m e n . 6 1 I m folgenden soll die Aussagekraft der vertretenen methodischen Ansätze z u r R i s i k o p r o b l e m a t i k (B.) sowie der eigene methodische Ansatz (C.) vorgestellt werden.

B. Aussagekraft der vertretenen methodischen Ansätze für die Risikoproblematik A u s den vorangegangenen Aussagen ergibt sich bereits, daß die klassischhermeneutische M e t h o d e m i t der strengen Begrenzung auf die g r a m m a t i sche, systematische, teleologische u n d historische A u s l e g u n g 6 2 d a n n versa58 Vgl. dazu Aleocy, Theorie der Grundrechte, S. 251; Berg, Schrankendivergente Freiheitsrechte, S. 45, 46; Bühler, Verfassungsrevision und Generationenproblem, S. 34. 59 Vgl. hier die methodische „Ehrlichkeit" bei Kramer, Die nach dem Atomgesetz erforderliche Schadensvorsorge, NJW 1981, 260 (262), der die verfassungsmäßige Überprüfung der Atomtechnik ausdrücklich auf dem Boden einer liberalen Grundrechtstheorie vollzieht, als ansonsten krasse Beispiele entgegengesetzter Vorverständnisse seien hier stellvertretend für viele Meyer-Abich, Was ist ein Atomstaat? in: Atomkraft - Ein Weg der Vernunft? (Hrsg. Kreuzer / Koslowski / Low), S. 255f. einerseits sowie Wagner, Grundrechtsschutz und Technologieentwicklung, ZRP 1985, 192 f. andererseits genannt. 60 Diese Forderung stellen allgemein auf Grimm, Staatsrechtslehre, S. 60 mit der Forderimg nach einer „materialen" Verfassungstheorie, welche, da sie die herkömmlichen Vorverständnisse ersetzt, einer ideologischen Erhöhung der Verfassung entgegenstünde (S. 61); Wülfing, Gesetzesvorbehalte, S. 48; Bull, Staatsaufgaben, S. 36; Peine, Systemgerechtigkeit, S. 22; Malz, Umweltplanung, S. 267; Böckenförde, Verfassungsinterpretation, NJW 1976, 2089 (2098); Majewski, Auslegung der Grundrechte, S. 65; Forsthoff, Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: ders., Rechtsstaat im Wandel, S. 151; Würtenberger, Planung, S. 374; Larenz, Methodenlehre, S. 6; Aleocy, Theorie der Grundrechte, S. 306. 61 Larenz, Methodenlehre, S. 6, 7; Müller, Jur. Methodik, S. 98; Dreier I Schwegmann, Verfassungsinterpretation, S. 23; v. Pestalozza, Methoden der Grundrechtsauslegung, Staat 2 (1963) 425 (430). 62 Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: ders., Rechtsstaat im Wandel, S. 130f.; ders., Zur Problematik der Verfassungsauslegung, S. 39; Grundlegendes Anliegen dieser auf Savigny, System des heutigen römischen Rechts, I, S. 212, zurückgehenden Methode ist es, eine „Depossedierung der Rechtswissenschaft" im Sinne einer Abdankung an Soziologie, Philosophie und Politologie zu vermeiden, so Forsthoff, a.a.O., S. 135, 152; s.a. Ossenbühl, Interpretation der Grundrechte, NJW 1976, 2100 (2106); Böckenförde, Verfassungsinterpretation, NJW 1976, 2089 (2090); Heinze, Judicial restraint, JZ 1977, 52; vgl. auch Stein, in: GG-Alternativkommentar, Bd. I, A. Einl. I I 4.2. (S. 114).

2. Teil: Methode der Untersuchung

31

gen muß, w e n n es sich u m die B e u r t e i l u n g eines b e i Verfassungsentstehung u n b e k a n n t e n neuen technischen Phänomens h a n d e l t . 6 3 D o r t , w o ein G r u n d recht aus p r i n z i p i e l l anderer historischer S i t u a t i o n entstanden ist u n d p r i m ä r die A b w e h r zielgerichteter E i n g r i f f e des t o t a l i t ä r e n Staates bez w e c k t e , 6 4 k a n n eine l e d i g l i c h auf V o l l z u g eines feststehenden N o r m i n h a l t e s f i x i e r t e M e t h o d e 6 5 d a n n n i c h t z u m E r f o l g führen, w e n n es u m die B e u r t e i l u n g v o n Begleiterscheinungen moderner Daseinsvorsorge g e h t . 6 6 G ä n z l i c h anderen Bedenken, die weniger an die fehlende Aussagekraft als v i e l m e h r an der dogmatischen H e r l e i t u n g anknüpfen, unterliegen topischp r o b l e m o r i e n t i e r t e Ansätze, die u n t e r V e r z i c h t auf deduktives Vorgehen v i e l m e h r problembezogene Auslegungselemente als „ G e s i c h t s p u n k t e " der E n t s c h e i d u n g s f i n d u n g b e n u t z e n . 6 7 F o l g e r i c h t i g ist auch n i c h t die B i l d u n g abstrakter subsumtionsfähiger Obersätze Z i e l der Verfassungsauslegung, sondern v i e l m e h r die i n d u k t i v e P r o b l e m l ö s u n g . 6 8 D i e n o t w e n d i g e Suche n a c h einzustellenden „ G e s i c h t s p u n k t e n " w i r d h i e r b e i zunehmend a n h a n d des Konsenses der Betroffenen v o r g e n o m m e n , 6 9 w o f ü r als Rechtfertigung angesehen w i r d , daß der Staat n i c h t m e h r z u r F o r m u l i e r u n g eines e i n h e i t 63 Vgl. Hesse, Verfassungsrecht, § 2, Rn. 57; Bull, Staatsaufgaben, S. 36; Ossenbühl, Verfassungsauslegung, DÖV 1965, 649 (652). 64 ν . Münch, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 2 Rn. 38; Düng, in: M/D/H/S, GG, Art. 2 I I Rn. 8; vgl. auch BVerfGE 53, 30 (56). 65 s. die Darstellung dieses Prozesses bei Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 55f. 66 Auf den Wandel des Grundrechtsverständnisses sowie die neuartigen Probleme, die aus dem zunehmend gewährenden, leistenden und verteilenden Verhalten des Staates resultieren, weist Fiedler, Fortbildung der Verfassung, JZ 1979, 417 (422) hin (Grundrechtsprobleme der „Zweiten Generation"). 67 Grundlegend Viehweg, Topik und Jurisprudenz, S. 20f.; Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20 (1963) 53 (55, 62); Bäumlin, Staat, Recht, Geschichte, S. 27f.; Scheuner, Pressefreiheit, W D S t R L 22 (1965) 1 (60f.); s. ferner Würtenberger, Beitrag der Topik zur Rechtsfindung, MDR 1969, 626f.; Müller, Normstruktur, S. 56f.; zum philosophischen Hintergrund des Problem- bzw. Systemdenkens vgl. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 119 f. 68 Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20 (1963) 53 (72); ders., S. 55: „der Jurisprudenz sind die Probleme, nicht die Systeme vorgegeben"; eine extreme Sicht vertritt Gusy, Verfassungspolitik, S. 21, der die Verfassungsinterpretation als „soziale Verfassungsverwirklichung" versteht und daher zur Auflösung der „gefährlichen" juristischen Methodik rät. 69 Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974) 11 (116f.); ders., Normierende Kraft der Öffentlichkeit, in: Rechtsphilosophie und Rechtspraxis (Hrsg. Würtenberger), S. 36, 41; ders., Offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, 297f.; Ladeur, Konsensstrategien statt Verfassungsinterpretation, Staat 21 (1982) 391 (392); Steinberg, Verfassungspolitik und offene Verfassung, JZ 1980, 385f.; Grimm, Staatsrechtslehre, S. 55; Scheuner, Konsens und Pluralismus, S. 33 f., in: Rechtsgeltung und Konsens (Hrsg. Jakobs); Vorländer, Konsens, S. 333; Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20 (1963) 53 (71): „Konsens aller vernünftig und gerecht Denkenden, zu ersteren zählen die Rechtslehrer und Richter, zu letzteren das ganze Gemeinwesen"; Gusy, Verfassungspolitik, S. 22; der Zusammenhang einer topischen Erkenntnistheorie mit begleitendem Konsens wird insbesondere an den Urteilen des BVerfG deutlich, die unter Zuhilfenahme der Topik ergingen: E 36, I f . Grundlagenvertrag - ; E 39, 334 f. - Radikalenurteil - ; E 40,296 f. - Diäten - ; hier w i r d deutlich, daß Topik ohne Konsens zum Brennpunkt politischer Kontroversen wird.

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1. Kap.: Themenbeschreibung und Methode

liehen Gemeinwohles in der Lage sei und die Legitimität einer Entscheidung jeweils im Einzelfall hergestellt werden müsse.70 Diese Methode erscheint jedenfalls für die Einordnung von Kernenergierisiken - wenig geeignet. Der Vorrang des Problems vor dem System bewirkt einen Normativitätsverlust der Verfassung, die sich auf eine Gesamtheit von „Verfassungsmaterial" reduzieren würde. 7 1 Es findet hierdurch ein Umspringen der normativen Kraft vom Verfassungstext auf das konsensgetragene Vorverständnis statt, welches sich von seiner Funktion als Leitfaden, der sich im Lichte gefundener Ergebnisse kritisch zu bewähren hat, zu unmittelbar inhaltsbestimmender Kraft aufschwingen würde. 7 2 Die Wendung von ableitender Interpretation hin zur rechtsschöpfenden Konkretisierung, die von den konsensbildenden öffentlichen Kräften getragen würde, verkennt den richtungsgebenden Charakter der Grundrechte, die sich auch gegen schwankende und im übrigen problematisch zu ermittelnde Tagesmeinungen durchzusetzen hätten. 73 Eine solche normative Verbindlichkeit erscheint gerade im Bereich der Kernenergie besonders notwendig. Eine Bewertung nuklearer Risiken anhand der auf Smend zurückgehenden Integrationslehre 74 erscheint gleichfalls problematisch. Dieser von Wortlaut und Begrifflichkeit losgelösten Ansicht zufolge ist es primärer Zweck der Verfassung, Rechtsordnung eines Integrationsprozesses zu sein. 75 Die immer wieder notwendige Herstellung der „Lebenstotalität des Staa70 Vgl. Conrad / Krebsbach-Gnath, Sicherheit als gesellschaftlicher Wert, ZfU 1980, 824 (825); Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 51; ders., Grundrechte als Institution, S. 26f.; Benda, Rechtsstaat im sozialen Wandel, AöR 101 (1976) 497 (517); Ladeur, Konsensstrategien statt Verfassungsinterpretation, Staat 21 (1982) 391 (407); Ladeur weist auf S. 403/404 auf die bestätigende Rechtslage i n Frankreich hin, wo im Verhältnis Präsident/Parlament die konstitutionelle „Legalität" zugunsten eines konsensschaffenden Dialogs an Bedeutung verlöre, vgl. auch Gusy, Verfassungspolitik, S. 22; allgemein entspricht diese Ansicht der soziologischen Sicht der Grundrechte, welche deren Funktion primär als Ordnungsfaktor des staatlichen und gesellschaftlichen Kommunikationsprozesses sieht, vgl. Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 201 f. 71 Böckenförde, Verfassungsinterpretation, NJW 1976, 2089 (2093); kritisch ferner Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 132, 140f., 152f.; Diederichsen, Topisches und systematisches Denken, NJW 1966, 697 (699). 72 Böckenförde, Verfassungsinterpretation, NJW 1976, 2089 (2093); ähnlich J. P. Müller, Grundrechte i n der Demokratie, EuGRZ 1983, 337 (340), der die Gefahr einer ausufernden Grundrechtsinterpretation betont. 73 Isensee, Verfassungsgarantie ethischer Grundwerte, NJW 1977, 545 (550); Ossenbühl, Verfassungsauslegung, DÖV 1965, 649 (661); Böckenförde, Verfassungsinterpretation, NJW 1976, 2089 (2094). 74 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 119f.; s. dazu Bartlsperger, Die Integrationslehre Smends, passim; auf den Dualismus von Konflikts- und Integrationstheorien weist Benda, Rechtsstaat im sozialen Wandel, AöR 101 (1976) 497 (508), hin; ein konfliktbetonter Standpunkt wird von Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie, S. 235, vertreten. 75 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 136; Smend trennt zwischen persönlicher, funktioneller und sachlicher Integration, s. S. 142, 148, 160; s. hierzu auch Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 117; ähnlich Krüger, Verfassung als Programm der nationalen Integration, in: FS Berber, S. 247 f.

2. Teil: Methode der Untersuchung

33

t e s " 7 6 b e d i n g t einen u n m i t t e l b a r e n E i n b e z u g der V e r f a s s u n g s w i r k l i c h k e i t i n die I n t e r p r e t a t i o n , als Kehrseite leidet h i e r u n t e r die A u s g r e n z u n g s f u n k t i o n gegenüber r e c h t s w i d r i g e m H a n d e l n . 7 7 D e r I n t e r p r e t ist h i e r n a c h keine echte K o n t r o l l i n s t a n z , sondern h a t n u r n o c h faktische E n t w i c k l u n g e n n a c h v o l l ziehend z u erkennen u n d diese h a r m o n i s i e r e n d i n die Verfassung zu i n t e grieren. 78 E i n e demgegenüber erhöhte R a t i o n a l i t ä t b e i m n o t w e n d i g e n 7 9 E i n b e z u g der W i r k l i c h k e i t i n die N o r m versprechen di,e Ansätze einer k o n k r e t i s i e r e n den Verfassungsinterpretation, u n d Hesse

81

deren Vertreter insbesondere F. M ü l l e r 8 0

sind. I n d e m die W i r k l i c h k e i t n i c h t „ i r g e n d w i e " oder „ d i a l e k -

t i s c h " 8 2 m i t der N o r m i n Bezug gesetzt w i r d , sondern als integraler Bestandt e i l der ansonsten „ u n f e r t i g e n " N o r m selbst verstanden w i r d , 8 3 eröffnet sich 76 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 162, 189: „Die Verfassung ist die Normierung einzelner Seiten dieses Prozesses"; aufbauend auf die Integrationslehre Smends hat sich der moderne Grundrechtsfunktionalismus entwickelt, s. S. 182; wonach primärer Sinn der Verfassung die Ordnung des staatlichen Integrationsprozesses ist, s. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 171; Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 12f.; Schneider, Wesensgehalt, S. 119. 77 Böckenförde, Verfassungsinterpretation, NJW 1976, 2089 (2095); Vorländer, Konsens, S. 288; Koch, Die juristische Methode, S. 98. 78 Vorländer, Konsens, S. 289; Göldner, Integration und Pluralismus, S. 78; vgl. Heller, Staatslehre, S. 195; Leisner, Effizienz, S. 19; Richter, Bildungsverfassungsrecht, S. 26, 27. 79 Krawietz, Das positive Recht und seine Funktion, S. 16, 21; Lerche, Stiller Verfassungswandel, in: FG Maunz, S. 285 (285), Steinberg, Verfassungspolitik, JZ 1980, 385 (389, 392); Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung, S. 62: „gefordert ist eine Normtheorie, die die Offenheit gegenüber den Ergebnissen der außerrechtlichen Wissenschaftszweige i n optimaler Weise gewährleistet und das ,beziehungslose Gegeneinander von reiner Normwissenschaft und bloßer Wirklichkeitsbeschreibung' nicht lediglich auf eine quantitativ breitere wissenschaftliche Grundlage stellt"; ders., Fortbildung der Verfassung, JZ 1979, 417 (418); Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 20; Rupp, Wandel der Grundrechte, AöR 101 (1976) 161 (163); Kewenig, Kooperativer Föderalismus, AöR (1968) 433 (482); Scheuner, Wandlungen im Föderalismus, DÖV 1966, 513. 80 F.Müller, Jur. Methodik, S. 117f.; ders., Strukturierende Rechtslehre, S. 184, 225; ders., Normstruktur, S. 107, 194; ders., Recht - Sprache - Gewalt, S. 38. 81 Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 69; ders., Grenzen der Verfassungswandlung, in: FS Scheuner, S. 123 (139). 82 Insofern beinhaltet die Müllersche Normbereichsanalyse eine Konkretisierung und Präzisierung des bekannten Postulats vom „Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt", vgl. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 197, 203; t?. Pestalozza, Methoden der Grundrechtsauslegung, Staat 2 (1963) 425 (427); urspr. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, S. 15; vgl. auch Schenke, Verfassung und Zeit, AöR 103 (1978) 566 (577) sowie Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, in: FS Scheuner, S. 123 (139). 83 F. Müller, Jur. Methodik, S. 117, mit ausführlicher Beschreibung des Konkretisierungsvorgangs und Definition der verwendeten Begriffe, s.a. S. 55, 61, 107, 202, 265; ders., Strukturierende Rechtslehre, S. 184, 225; ders., Recht - Sprache - Gewalt, S. 38; Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 69; ders., Grenzen der Verfassungswandlung, in: FS Scheuner, S. 123 (139); vgl. auch Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung, S. 62; ders., Fortbildung der Verfassung, JZ 1979, 417 (418); Stein, Verfassungsgebung, Verfassungsanwendung und soziale Wirklichkeit, in: Lebendige Verfassung, S. 1 (10); kritisch etwa Wülfing, Gesetzesvorbehalte, S. 102/103.

3 Lawrence

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1. Kap.: Themenbeschreibung und Methode

die Möglichkeit, die Norm selbst über den von ihr einzubeziehenden Teil der Wirklichkeit entscheiden zu lassen. Ihr Wert hängt im Einzelfall davon ab, mit welcher Kraft die selektive Funktion des „Normprogramms" gegenüber dem Faktum wirkt. Hier können die von Hesse84 angebotenen „überpositiven" Konkretisierungshilfen wie etwa der Maßstab der Einheit der Verfassung oder das Prinzip praktischer Konkordanz eine drohende Abwägungsbeliebigkeit einschränken.

C. Eigener methodischer Ansatz Dem häufig beobachteten sog. „Methodenpluralismus" zum Trotze, vor dem auch die Rechtsprechung nicht haltmacht, 85 bleibt festzuhalten, daß die Methodenwahl selbst bereits eine normative, das Ergebnis präjudizierende Frage ist. 8 6 Interpretatorische Grenzen von Art. 2 I I S. 1 GG müssen, ob durch technischen oder sozialen Wandel offengelegt, gerade wegen des breiten Spektrums der Vorverständnisse in der Methodik abgesichert sein. Dennoch darf ein Ergebnis auch nicht nur von der Wahl des methodischen Standpunkts abhängen. 87 Gerade die beliebige, oft ergebnisorientierte Heranziehung verschiedener Methoden führt dazu, daß im Ergebnis keine gilt. 8 8 Darüber hinaus ist jede, nicht mit einer materialen Verfassungstheorie ausgefüllte Methodik mit dem Stigma des hermeneutischen Zirkelschlusses und der argumentativen Beliebigkeit behaftet. 89 Die Ausfüllung einer Methode mit einer (wie gewonnenen?) Verfassungstheorie bietet zwar den Vorteil der Offenlegung des methodischen Vorverständnisses, ist aber gleichfalls nicht rein normativ, sondern überwiegend dezisionistisch begründet. Eine materiale Verfassungstheorie wäre nur dann ein Ausweg aus dem normauflösen84

Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 70, 74, 75. So bekennt sich das BVerfG im Rahmen der „objektiven Theorie" zwar formell zur klassisch-hermeneutischen Auslegungsmethode, vgl. E 1, 299 (312); 11, 77 (85); 11, 126 (130); 40, 353 (365), wendet im Einzelfall aber auch andere Methoden an, vgl. z.B. E 2, 347 (374); 8, 210 (221); 9, 89 (104); zur Methodenpluralität s. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 25, 26; ferner Stein, in: GG-Alternativkommentar, Bd. I, A. Einl. I I (S. 106f.); H. J. Müller, Subjektive und objektive Auslegungstheorie, JZ 1962, 4711; Böckenförde, Grundrechtstheorie, NJW 1974, 1529 (1537); Ossenbühl, Verfassungsauslegung, DÖV 1965, 649 (653); Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 58f.; Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20 (1963) 53 (59); F. Müller, Jur. Methodik, S. 50. 86 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 254; Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, S. 125. 87 So richtig Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 255, für den Verfassungswandel. 88 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 26; Dreier / Schwegmann, Verfassungsinterpretation, S. 43. 89 Dieser Gefahr sind auch die vielfältigen grundrechtlichen Systemtheorien ausgesetzt, welche keine materiellen Vorgaben liefern, sondern lediglich die Abhängigkeit grundrechtlicher und sozialer Systeme aufzeigen und diese mit dem Ziel der Systemstabilisierung zu strukturieren versuchen; vgl. Willke, Grundrechtstheorie, S. 109, 241; Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 213; s. auch Canaris, Systemdenken, S. 12 f. 85

2. Teil: Methode der Untersuchung

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den Manko topischer Ansätze, wenn sie ein „Äquivalent des historisch-dogmatischen Ganzen" sein könnte. 90 Die Forderung nach einer derart „richtigen" Verfassungstheorie verkennt, daß es eine solche nicht gibt, ja nicht geben kann. Gerade im Verhältnis von Verfassung zu neuartiger Technologie w i r d offenbar, daß eine formelhafte Verfassungstheorie nicht ausreichen kann, im Gegenteil sogar gefährlich werden könnte, da sie den Einfluß gesellschaftlicher und technischer Neuerungen auf den Interpretationsprozeß verhindert. Demnach könnte ein solches materielles „Vorzeichen" der Interpretation einen entscheidenden Vorteil gegenüber scheinbar wertfreien, rechtsschöpferischen Interpretationsmethoden besitzen. Während rein topische Methodik unter dem Etikett scheinbar objektiver „Problemadäquanz" zu Ergebnissen gelangt, vermag eine materiell präjudizierte Methode jedenfalls durch argumentative Ehrlichkeit und damit verbundene größtmögliche Nachvollziehbarkeit und Rationalität zu überzeugen. 91 Eine materiale Verfassungstheorie kann daher jenseits des Bereichs hermeneutisch ableitbarer Aussagen durchaus zur Transparenz der Grundrechtsinterpretation beitragen, sie vermeidet die Transformation des Vorverständnisses vom hermeneutischen Hilfsmittel zur Quelle des Verfassungsinhalts. Zwar vermag in diesem normativ ungeregelten Bereich der Grundrechte keine inhaltliche Aussage den Vorrang vor einem anderen Vorverständnis zu beanspruchen, einer Kapitulation allein vor der „normativen Kraft des Faktischen" kann jedoch durch das Gegenübertreten mit normativem Anspruch begegnet werden. In der folgenden Untersuchung wird daher an den entscheidenden Stellen, etwa bei der Frage des Verfassungswandels durch technischen Wandel, ein tendenziell „konservativer" Standpunkt eingenommen, auf dessen materielle Wertausfüllung im einzelnen hingewiesen werden wird. Nicht vermieden werden soll mit diesem methodischen Vorgehen ein generell möglicher Einbezug der Wirklichkeit in die Norm, die oben angeführte Innovationsfeindlichkeit einer „statischen" Verfassungstheorie ist nicht zwingend. Denn gerade die Rückbindung der Norm i n der Wirklichkeit vermag die Normativität zu erhalten und einem allmählichen Auseinanderklaffen von Recht und zu regelnder Wirklichkeit vorzubeugen. Auch dieser Einbezug der Wirklichkeit hängt in seiner Überzeugungskraft von der Rationalität ab, mit der das zu konkretisierende Normprogramm 90 Böckenförde, Verfassungsinterpretation, NJW 1976, 2089 (2098) unter Hinweis auf Savigny, System des heutigen römischen Rechts, I, S. 215; materielle Inhalte betont auch Malz, Umweltplanimg, S. 152; die Notwendigkeit einer solchen umfassenden Verfassungstheorie ablehnend Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 290, der die Notwendigkeit einer Lösung von Sachproblemen hervorhebt, wofür der Methodeneklektizismus des BVerfG nicht prinzipiell falsch sei (S. 291 Fn. 244); kritisch zu materiellen Verfassungstheorien auch Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 31 f. 91 Böckenförde, Grundrechtstheorie, NJW 1974, 1529 (1537); ders., Verfassungsinterpretation, NJW 1976, 2089 (2098); auf die Übeprüfbarkeit stellen maßgeblich ab Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 51, 63; Aleocy, Theorie der Grundrechte, S. 306; Larenz, Methodenlehre, S. 6; Willke, Grundrechtstheorie, S. 117; Majewski, Auslegung der Grundrechte, S. 65.

3*

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1. Kap.: Themenbeschreibung und Methode

normrelevante von normirrelevanter Realität trennt. Hier erscheint die hermeneutisch-konkretisierende Verfassungsinterpretation Hesses als überzeugender Mittelweg zwischen normentbundener Topik und traditioneller, in positivistischer Tradition verfallener Hermeneutik. 92 Bei dieser Betrachtimgsweise behält der Grundsatz der Normativität der Verfassung seine hervorragende Bedeutung. Das Recht bleibt an die Sprache gebunden, damit erfordert die Sprache Achtung. 93 Die Rückkopplung der Verfassungsinterpretation an sozialen Konsens trägt hier zwar gleichfalls zur Normativität bei, bildet jedoch im Kern eine verfassungstheoretische Aussage. Demgegenüber besitzt das Postulat unbedingter Verpflichtungskraft der Verfassung eine verfassungsrechtliche Qualität. 9 4 Zwar darf sich der Interpret im Interesse der Normativität nicht aus dem Interpretationsprozeß ausblenden, doch sollte Konsens richtig verstanden nur entwicklungsbegleitenden, die Interpretation überprüfenden Charakter besitzen.

92 Eine Kombination topischen und systematischen Denkens in einem als offen verstandenen System halten für möglich Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 145; Schneider, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20 (1963) 1 (37); Esser, Vorverständnis, S. 152; Larenz, Methodenlehre, S. 472. 93 Schneider, Wesensgehalt, S. 27 mwN. 94 So Isensee, Verfassungsgarantie ethischer Grundwerte, NJW 1977, 545 (551) mit Hinweis darauf, daß sich verfassungstheoretische Erkenntnisse nicht unmittelbar i n verfassungsrechtliche Gebote ummünzen lassen, vgl. zu dieser Unterscheidung Malz, Umweltplanung, S. 264 Fn. 53.

2. KAPITEL

Grundrechtsdogmatische Einordnung der „sozialadäquaten Risiken" 1. Teil A n s ä t z e der R i s i k o d e f i n i t i o n u n d verfassungsrechtliche E i n o r d n u n g der „ s o z i a l a d ä q u a t e n R i s i k e n " d u r c h L i t e r a t u r u n d Rechtsprechung A. Gegenstand der „sozialadäquaten Risiken" I. Einleitung Technische Großanlagen verursachen Gefahren für Leben und Gesundheit von Menschen sowie für andere Rechtsgüter. 1 Die staatliche Zulassung von Gefahren und Risiken muß mit dem Grundgesetz vereinbar sein. Primärer Ansatzpunkt für die Bestimmung der Verfassungsmäßigkeit des Einsatzes der Kernenergie sind die Schutzgüter des Art. 2 I I S. 1 Grundgesetz. Der Maßstab dieser Vorschrift wird wegen der grundsätzlichen Vergleichbarkeit der atomtechnischen Phänomene, sei es die Nutzung oder die Entsorgung, auf das ganze Atomrecht in gleicher Weise angewandt. 2 Zentrale Frage des Atomrechts ist die nach dem hinzunehmenden Risiko, welches die atomare Nutzung - in welcher Größenordnung auch immer - unweigerlich mit sich bringt. 3 Differenzen bestehen sowohl hinsichtlich der prinzipiellen Rechtfertigung des hinnehmbaren Risikos als auch bezüglich dessen zulässiger Höhe.

1

Ipsen, Genehmigung technischer Großanlagen, AöR 107 (1982) 259 (260). Stober, Atomare Entsorgung, ET 1983, 585 (593). 3 Degenhart, Kernenergierecht, S. 7; Nolte, Rechtliche Anforderungen an die technische Sicherheit von Kernanlagen, S. 37/38; Ossenbühl, Kernenergie im Spiegel des Verfassungsrechts, DÖV 1981,1 (3). 2

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2. Kap.: Einordnung der „sozialadäquaten Risiken" Π. Konzeption des atomrechtlichen Instrumentariums als Reaktion auf die Besonderheiten des Regelungsgegenstandes 1. Zweck des Atomgesetzes

Das Genehmigungsverfahren nach dem AtomG und sonstigen Spezialgesetzen4 dient der Prüfung, ob hinreichend Maßnahmen gegen allgemeine und nuklearspezifische Gefahren und Risiken getroffen werden, und somit in erster Linie der Gefahrenabwehr. 5 Nach § 7 I I Nr. 3 AtomG „darf" eine Anlage 6 im Sinne dieser Vorschrift nur dann genehmigt werden, wenn „die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung und den Betrieb der Anlage getroffen ist". § 1 Nr. 2 AtomG bestimmt wiederum als Zweck des Gesetzes, „Leben, Gesundheit und Sachgüter vor den Gefahren der Kernenergie und der schädlichen Wirkung ionisierender Strahlen zu schützen". Diese Bestimmungen sind Ausdruck der aus objektiven Wertentscheidungen abgeleiteten Schutzpflicht des Staates für die Grundrechte. Die staatlichen Organe sind hiernach verpflichtet, sich schützend vor die in Art. 2 I I GG gewährleisteten Rechtsgüter zu stellen und sie vor rechtswidrigen Eingriffen Dritter zu bewahren. 7 Nach herrschender, allerdings rechtspolitisch umstrittener 8 Meinung ist die behördliche Anwendung der unbestimmten Rechtsbegriffe des Genehmigungstatbestandes § 7 I I Nr. 3 AtomG richterlich voll überprüfbar. 9 Angesichts des „durch die Kernenergie betretenen Neulands" 1 0 ist - abweichend von den herkömmlichen Grundsätzen des präventiven Verbots mit Erlaubnisvorbehalt 11 , welche etwa für Genehmigungen und Zulassungen 4 Zur begrenzten Konzentrationswirkung der §§7,8 AtomG vgl. Lecheler, Reform der atomrechtlichen Anlagenbau- und -betriebsgenehmigung, ZRP 1977, 241 (242); de Witt, Genehmigung von Atomanlagen, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 146. 5 Benda, Technische Risiken und Grundgesetz, S. 5; Bender, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, NJW 1979, 1425 (1425, 1427); Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVB1. 1978, 829 (833, 836); Ipsen, Genehmigung technischer Großanlagen, AöR 107 (1982) 259 (260); Nolte, Rechtliche Anforderungen an die technische Sicherheit von Kernanlagen, S. 49. 6 Zum Anlagenbegriff siehe Fischerhof, AtomG, § 7 Rn. 2. 7 Zur grundrechtlichen Schutzpflicht aus Art. 2 I I 1 GG s.u. 2. Kap. 1. Teil B.I. 8 Fiedler, Beurteilungsspielraum „aus Sachnähe", ET 1982, 580f. unter Betonung der Wissenschaftsabhängigkeit der Gerichte; Degenhart, Gerichtliche Kontrollbefugnisse, ET 1981,203 (205), der die Entwicklungsoffenheit und -bedürftigkeit des Atomgesetzes betont; vgl. ferner Richter, Umfang der gerichtlichen Kontrolle atomrechtlicher Genehmigungen, ET 1982, 140. Die Entscheidungsbefugnisse der Verwaltung neuerdings wieder betonend BVerwG NZVwR 1986, 208 f. - Whyl - . 9 s. Nw. oben 1. Kap. Fn. 36. BT-Drs. 759/3, S. 50; Fischerhof, AtomG, § 7 Rn. 24; Schattke, Wechselbeziehungen zwischen Recht, Technik und Wissenschaft, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 111; Haedrich, AtomG, in: Deutsches Bundesrecht, I I I E 50, S. 54 c). 11 s. Schmidt, Probleme des Verwaltungsrechts, Rn. 285; Bettermann, Anm. zum BGH-Beschl. v. 2.10.1972, DVB1. 1973, 186.

1. Teil: Risikobegriff, vertretene Einordnungsmodelle

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nach den §§ 3, 4, 6 AtomG, der StrlSchVO und RöntgenVO gelten 12 - die Behörde auch bei Vorliegen aller Genehmigungsvoraussetzungen nicht zur Erteilung der Anlagenerlaubnis 13 verpflichtet. 14 Kontroversen bestehen im einzelnen darüber, ob der Genehmigungsbehörde hiermit ein völlig freies Ermessen eingeräumt wurde 1 5 , dieses auch planerische Gestaltungsfreiheit umfaßt 16 oder eher als begrenzt anzusehen ist. 1 7 Hier erscheint die Lösung überzeugend, welche einen völlig freien Ermessensspielraum - nicht zuletzt wegen der Grundrechte des Antragstellers aus Artikel 12,14 GG - auf lediglich die Fälle beschränkt, wo zur Zeit der Verabschiedung des Atomgesetzes noch nicht vorhersehbare Umstände das Versagen der Genehmigung verbieten. 18 Auffällig ist ferner, daß der Gesetzgeber, anstatt die „Gefahr" in § 7 I I Nr. 3 AtomG namentlich zu erwähnen, den Begriff des „Schadens" verwendet. Diese atypische Gesetzesregelung findet ihre Ursache zum einen darin, daß die für die Gefahrenbeurteilung maßgebliche Situation zunächst nicht vorliegt, sondern erst mit Planung, Bau und Inbetriebnahme des Kernkraftwerks geschaffen wird. Zum anderen reicht die bisherige praktische Erfahrung nicht zur Beantwortung der Frage aus, welche Ereignisse objektiv zu erwarten sind und welche Schäden daraus resultieren können. 19 Unbestritten ist jedoch, daß das Atomgesetz, welches i n § 1 Nr. 2 den Begriff der „Gefahr" verwendet, auch mit der durch § 7 I I Nr. 3 gebotenen Scha12

Haedrich, AtomG, in: Deutsches Bundesrecht, I I I E 50, S. 53 Rn. 3. Zur speziellen Genehmigungserteilung durch Teilemchtungsgenehmigungen s. v. Mutiiis / Schock, Atomrechtliche „Konzeptgenehmigung", DVB1. 1983,149f. 14 BVerfGE 49, 89 (145); BVerwG DVB1. 1972, 678 (679); DVB1. 1982, 960 (961); Pfaffelhuber, Deutsches Atomrecht, in: 1. Dt. ATRS (1972) 10 (15); Fischerhof, AtomG, § 7 Rn. 24; Kimminich, Atomrecht, S. 79; Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVB1. 1978, 829 (833); ders., Entwicklung des Atomrechts 1974 - 1976, NJW 1977, 1121 (1125); ders., Umweltschutzrecht, in: v. Münch, Besonderes Verwaltungsrecht, S. 684; Lukes, Die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge, in: 6. Dt. ATRS (1980) 49; Wagner / Nobbe, Verfassungsrechtliche Bemerkungen zum Atomgesetz, NJW 1978, 1028 (1031); Winters, Anm. OVG Lüneburg, DÖV 1978, 294 (299); Schwerdtfeger, Drittschutz im Baurecht, NZVwR 1982, 5 (10); a.A.: Mahlmann, Ermessen, Beurteilungsspielraum und Beweislastverteilung, in: 1. Dt. ATRS (1973) 269 (274); Lecheler, Reform der Anlagenbaugenehmigung, ZRP 1977, 241 (244); Schmitt Glaeser, Planende Behörden, Der Landkreis 1976, 442 (443). 15 So Winkler v. Mohrenfels, Errichtung und Betrieb von Kernkraftwerken, ZRP 1980, 86 (89). 16 So Lecheler, Reform der Anlagenbaugenehmigung, ZRP 1977, 241 (244); Haedneh, Atomgesetz, in: Deutsches Bundesrecht, ΠΙ E 50, S. 140, mit dem Hinweis darauf, daß planerische Belange schon im Rahmen der Raumordnungs- und Bauleitplanung vor- bzw. nebengeschaltet sind. 17 Haedrich, Atomgesetz, in: Deutsches Bundesrecht, I I I E 50, S. 139; umstritten ist ferner, ob das Ermessen der Tatbestands- oder der Rechtsfolgenseite zuzuordnen ist, s. Haedrich, a.a.O., S. 56f. 18 So Haedrich, Atomgesetz, in: Deutsches Bundesrecht I I I E 50, S. 139, unter Bezugnahme auf BVerfGE 49, 89 (146). 19 Bochmann, Gefahrenabwehr und Schadensvorsorge, 7. Dt. ATRS (1983) 18/19; Benda, Technische Risiken und Grundgesetz, S. 5. 13

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2. Kap.: Einordnung der „sozialadäquaten Risiken"

densvorsorge eine präventive Gefahrenabwehr i m herkömmlichen Sinn bezweckt. 20 Diese Gefahrenabwehr setzt laut den „Sicherheitskriterien für Kernkraftwerke" 2 1 des Bundesministers des Inneren auf drei einander nachgeschalteten Ebenen ein, die in ihrer Summe die „Sicherheitsphilosophie" für Kernkraftwerke ausmachen: - Gewährleistung des möglichst störfallfreien Normalbetriebs durch qualitativ möglichst hochwertig konstruierte und verarbeitete Anlagenteile, die ihre Funktion möglichst zuverlässig erfüllen sollen. 22 - Frühzeitige Beherrschung möglicher Störfälle durch möglichst umfassende Maßnahmen, durch welche die Strahlenbelastung minimiert werden soll. Hier werden - aufgrund der deterministischen Betrachtungsweise 23 - alle überhaupt denkbaren Störfälle analysiert, deren Summe anschließend dann auf die maßgeblichen „Auslegungsstörfälle" reduziert wird, gegen die die Anlage baulich und technisch gesichert sein muß. 24 - Weitgehende Eindämmung von Unfallfolgen durch technische und organisatorische Maßnahmen wie etwa den Katastrophenschutz, um eine möglichst geringe Schädigung der Umwelt zu gewährleisten. 25 2. Der Verweis auf den „Stand von Wissenschaft und Technik" im Sinne von § 7 Π Nr. 3 AtomG und daraus resultierender „dynamischer Grundrechtsschutz"

a) „Stand von Wissenschaft und Technik" im Sinne von § 7 II Nr. 3 AtomG Das technische Sicherheitsrecht ist durch die Verwendung einer Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe 26 geprägt, die auf außerrechtliche Normen 20 s. o. 2. Kap. 1. Teil Fn. 5; vgl. auch Martens, Immissionsschutzrecht und Polizeirecht, DVB1. 1981, 597 (598), der Gefahrenabwehr und Schadensabwendung gleichsetzt. 21 Vom 21. Oktober 1977, abgedr. in BAnz Nr. 206 v. 3.11.1977, S. 1. 22 BAnz Nr. 206 v. 3.11.1977, S. 1; Bochmann, Gefahrenabwehr und Schadensvorsorge, 7. Dt. ATRS (1983) 19; Nolte, Rechtliche Anforderungen an die technische Sicherheit von Kernanlagen, S. 31. 23 s. dazu unten 2. Kap. 1. Teil A. III. 3. b) cc). 24 Smidt, Die erforderliche Vorsorge gegen Schäden, in: 6. Dt. ATRS (1979) 39 (40); Haedrich, Atomgesetz, in: Deutsches Bundesrecht, I I I E 50, S. 145. 25 Bochmann, Gefahrenabwehr und Schadensvorsorge, 7. Dt. ATRS (1983) 17 (28). 26 Vgl. § 3 I MaschinenschutzG: „allgemein anerkannte Regeln der Technik", womit die herrschende Auffassung unter den Praktikern gemeint ist, s. BVerfGE 49, 89 (135); der Begriff „Stand der Technik" gem. § 3 V I BImSchG umfaßt die Gesamtheit der unter Berücksichtigung neuester Erkenntnisse gefundenen sicherheitstechnischen Lösungen, s. Stich / Porger, BImSchG, § 3 Rn. 24; vgl. zu allem Breuer, Rezeption technischer Regeln, AöR 101 (1976) 6f.; Berg, Technische Regeln und Richtlinien, 3. Dt. ATRS (1974) 91f.; kritisch Rehbinder, Grundfragen des Umweltrechts, ZRP 1970, 250 (253); Haedrich, AtomG, in: Deutsches Bundesrecht, I I I E 50, S. 58.

1. Teil: Risikobegriff, vertretene Einordnungsmodelle

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verweisen. 27 Dies stellt einen Lösungsversuch dar, angesichts einer sich ständig fortentwickelnden Technik normative Regeln zu schaffen, welche die erforderliche Sicherheit ohne Normativitätsverlust in der Zeit und dennoch flexibel gewährleisten können. 28 Wenn § 7 I I Nr. 3 AtomG den „Stand von Wissenschaft und Technik" für maßgeblich erklärt, stellt er einen normativen Pflichtenmaßstab auf, der die gebotene Schadensvorsorge an die Front des wissenschaftlichen Fortschritts vorverlegt. 29 Unbestrittener Vorteil ist die Möglichkeit einer flexiblen Anpassung an die neuesten technischen Erkenntnisse, ohne daß der Gesetzgeber jedes Detail selbst zu regeln hätte und deshalb die gesetzliche Grundlage ständig geändert werden müßte. 30 Der Verweis auf den „Stand von Wissenschaft und Technik" fixiert somit eine Sicherheitsaussage auf einen bestimmten Zeitpunkt im Prozeß des Wissensfortschritts. 31 Der Verweis ist zulässig, da der Gesetzgeber nicht gehalten war, die möglichen Risikoarten oder feste Toleranzwerte zu bestimmen. 32 Es sind hiernach für den Bereich der Gefahrenabwehr die Maßnahmen erforderlich, welche den neuesten wissenschaftlichen und praktischen Erkenntnissen entsprechen, unabhängig davon, ob sie sich technisch verwirklichen lassen. 33 Unter dem „Stand der Wissenschaft" wiederum sind die jeweils neuesten theoretisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse zu verstehen. Eine Kontroverse besteht jedoch darüber, inwieweit alle wissenschaftlich vertretbaren Erkenntnisse oder nur die „gesicherten Erkenntnisse" zu berücksichtigen sind. 34 27 Zur Qualifikation derartiger Verweisungen im Atomrecht s. Benda, Technisches Risiko und Grundgesetz, S. 8; Schenke, Problematik dynamischer Verweisungen, NJW 1980, 743; Breuer, Rezeption technischer Regeln, AöR 101 (1976) 46f. mwN; de Witt, Genehmigung von Atomanlagen, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 138 (145). 28 de Witt, Genehmigung von Atomanlagen, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 138 (144), mit dem Hinweis, daß die Setzung normativ festliegender Sicherheitsstandards technischen Neuerungen entgegenstehen würde; Erichsen, Rechtsprechung zum Verwaltungsrecht, VerwArch 1979, 249 (256); Wagner, Risiken von Wissenschaft und Technik, NJW 1980, 665 (667); ders., Schadensvorsorge, DÖV 1980, 269 (271); s.a. Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 182. 29 BVerfGE 49, 89 (135); Dauk, Atomare Entsorgungsregelung, S. 52f.; ebenfalls die Strahlenschutzverordnung erklärt in den §§ 6 I Nr. 5, 10 I Nr. 3, 19 I Nr. 5 den Stand von Wissenschaft und Technik für maßgeblich; vgl. Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVB1. 1978, 829 (837). 30 Hanning / Schmieder, Gefahrenabwehr und RisikoVorsorge, DB 1977, Beil. 14, S. 1 (2). 31 Winter / Schäfer, Rezeption naturwissenschaftlicher Voraussagen über technische Systeme, NZVwR 1985, 703 (708). 32 BVerfGE 49, 89 (136); E 53, 30 (59); Nolte, Rechtliche Anforderungen an die technische Sicherheit von Kernanlagen, S. 41. 33 BVerfGE 49, 89 (136): „die erforderliche Vorsorge wird mithin nicht durch das technisch gegenwärtig machbare begrenzt"; VG Freiburg, NJW 1977, 1647; Lerche, Kernkraft und rechtlicher Wandel, S. 14; Lecheler, Reform der Anlagenbaugenehmigung, ZRP 1977, 241 (243); s.a. Dauk, Atomare Entsorgungsregelung, S. 54. 34 I m ersteren Sinne wohl das BVerfGE in E 49, 89 (136) sowie Roth-Stielow, Grundrechtsschutz im Atomrecht, DÖV 1979, 167 (168); im letzteren das überwie-

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2. Kap.: Einordnung der „sozialadäquaten Risiken" b) „Dynamischer

Grundrechtsschutz"

aa) I n h a l t dieses Postulats D u r c h den f l e x i b l e n Verweis auf den „ S t a n d v o n Wissenschaft u n d Techn i k " i n § 7 I I N r . 3 A t o m G ergibt sich der sog. „ d y n a m i s c h e G r u n d r e c h t s s c h u t z " . 3 5 D e r Z w a n g , sich dem jeweils a k t u e l l e n w i s s e n s c h a f t l i c h - t e c h n i schen F o r t s c h r i t t anzupassen, ist progressiv u n d h i l f t gegenüber einem festliegenden Sicherheitsstandard den Schutzzweck v o n § 1 N r . 2 A t o m G bestm ö g l i c h z u v e r w i r k l i c h e n . 3 6 Diesem Z w e c k d i e n t die i n s t i t u t i o n e l l e Verselbs t ä n d i g u n g der Sachverständigenebene, welche sich ihre eigenen Sicherh e i t s k r i t e r i e n i n F o r m v o n technischen Regelwerken schafft u n d auf diese Weise die D y n a m i k technischer E n t w i c k l u n g e n anstelle v o n statischen Rechtsnormen auffangen h i l f t . A n i n s t i t u t i o n e l l e n G r e m i e n der Sachverständigenebene nehmen h i e r insbesondere die Reaktorsicherheitskommission ( R S K ) 3 7 , der Kerntechnische Ausschuß ( K T A ) 3 8 sowie die S t r a h l e n -

gende Schrifttum, s. Smidt, die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge, in: 6. Dt. ATRS (1979) 39 (43); Wagner, Risiken von Wissenschaft und Technik, NJW 1980, 665 (667); ders., Schadensvorsorge, DÖV 1980, 269 (272); s. Haedrich, AtomG, in: Deutsches Bundesrecht, I I I E 50, S. 153 mwN; in diesem Zusammenhang ist auch der Streit um die „Bandbreite" der heranzuziehenden Wissenschaftler einzuordnen, die Berücksichtigimg auch „kritischer" Wissenschaftler wird gerade i n jüngster Zeit im Lichte der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zunehmend gefordert, vgl. allg. Haedrich, AtomG, in: Deutsches Bundesrecht, I I I E 50, S. 154; Czajka, Stand von Wissenschaft und Technik, DÖV 1982, 99 (108); Roß35 BVerfGE 49, 89 (137). nagel, Bestandsschutz von Atomkraftwerken, JZ 1986, 716 (717); BVerwG NZVwR 36 Benda, Technische Risiken und Grundgesetz, S. 8; Bettermann, Gefahren1986, Zust. 208 (212). bewertung i m technischen Sicherheitsrecht, S. 133f.; de Witt, Genehmigung von Atomanlagen, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 138 (143); Fiedler, Anm. zur Kalkar-Entscheidung i n BVerfGE 49, 89 f., JZ 1979,184 (186); vgl. auch Nicklisch, Wechselwirkungen zwischen Technologie und Recht, NJW 1982, 2633 (2634), mit kritischem Hinweis auf die Entstehung von Rechtsunsicherheit durch die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe; so auch Sendler, Grundprobleme des Umweltrechts, JuS 1983, 255 (259); zum Widerspruch zwischen Rechtsklarheit und -Sicherheit sowie der Notwendigkeit einer laufenden Anpassung an die Fortschritte von Wissenschaft und Technik s. Lukes, Das Atomrecht im Spannungsfeld zwischen Technik und Recht, NJW 1978, 241 (244); Ossenbühl, Bewertung technischer Risiken, DÖV 1982, 833 (835); Czajka, Stand von Wissenschaft und Technik, DÖV 1982, 99 (104); Sommer, W.-E., Dosisgrenzwertkonzept des § 45 Strahlenschutzverordnung, DÖV 1983, 754 (760); Albers, Verwaltungsgerichte - Hindernisse bei der Errichtung technischer Großanlagen? DVB1. 1983,1039 (1050). 37 Reaktorsicherheitskommission und Strahlenschutzkommission sind aus unabhängigen Fachleuten gebildete, nicht an Weisungen gebundene Beratungsgremien des BMU. Die RSK ist „Beirat" iSd Art. 62 der gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien. Sie berät den B M U i n allen Fragen der Reaktorsicherheit; zur Rechtsstellung der RSK s. Fischerhof, AtomG, § 20 Rn. 8; Berg, Technische Regeln und Richtlinien, 3. Dt. ATRS (1974) 91 f.; Bericht des Ausschusses für Forschung und Technologie „Zukünftige Kernenergiepolitik", S. 60; die RSK ist kein Sachverständiger iSv § 20 AtomG; Fischerhof, AtomG, § 20 Rn. 8. 38 Der KTA ist paritätisch aus Fachleuten der Hersteller, der Betreiber sowie Bundes- und Landesbehörden zusammengesetzt. In diesem Gremium soll vereinheitli-

1. Teil: Risikobegriff, vertretene Einordnungsmodelle

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schutzkommission (SSK) 39 eine herausragende Rolle ein. Ferner von Bedeutung ist die Gesellschaft für Reaktorsicherheit mbH 4 0 als Rechtsnachfolgerin des „Instituts für Reaktorsicherheit" der Technischen Überwachungsvereine. Diese Gremien und Verbände haben - entsprechend ihrem Zweck Leitlinien und Verwaltungsanweisungen geschaffen, die überwiegend ohne behördliche Formulierungshilfe entstanden sind, deren Anwendung und Funktion jedoch begleitender Kontrolle unterliegt. 41 Als derartige Richtlinien sind hier die „Sicherheitskriterien für Kernkraftwerke" des BMI, 4 2 deren Interpretation, 43 die Leitlinien der Reaktorsicherheitskommission, 44 die Empfehlungen der Strahlenschutzkommission, 45 die Regeln des Kerntechnischen Ausschusses46 sowie ferner überbetriebliche Normungen (VDI, VDE, DIN) zu nennen. Weiterhin zur Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe dienen die von öffentlichen Sachverständigenausschüssen formulierten sog. „technischen Anleitungen" wie die TA Luft, TA Lärm. 4 7 Bei fortwährender behördlicher Kontrolle w i r d diese Verselbständigung der Sachverständigenebene nicht als unzulässige Auslagerung wesentlicher Entscheidungsprozesse aus dem Kernbereich des politisch-administrativen Systems bewertet, sondern vielmehr als sachgerechte Form der Kooperation von beteiligten Kreisen gerade zur effizienten Realisierung der Gesetzesziele betrachtet. 48 Anderes gilt hinsichtlich der Verwendung dieser Sachver-

chend auf die Bildung sicherheitstechnischer Regeln hingewirkt werden, vgl. BAnz Nr. 193/1974 u. Vieweg, Atomrecht und technische Normung, S. 27f.; Kuhnt, Technische Regeln, in: 3. Dt. ATRS (1974) 107 (112); Fischerhof, AtomG, § 7 Anm. 17b); Lukes, Zukünftige Entwicklung des Kernenergierechts, NJW 1973, 1209 (1214); Haedrich, AtomG, in: Deutsches Bundesrecht, I I I E 50, S. 61. 39 Die SSK ist eine aus 15 Mitgliedern bestehende Kommission, welche den B M U in allen Fragen des Schutzes vor den Gefahren ionisierender Strahlen berät, s. BAnz Nr. 92/1974; Fischerhof, AtomG, § 20 Rn. 9; die SSK ist kein Sachverständiger iSv § 20 AtomG; Fischerhof, a.a.O.; s.a. Haedrich, AtomG, in: Deutsches Bundesrecht, I I I E 50, S. 61. 40 Die GRS hat vorrangig die Aufgabe, Material über die Sicherheit von Kernkraftwerken zu sammeln und hieraus sicherheitstechnische Richtlinien zu entwickeln. Sie ist Sachverständiger iSv § 20 AtomG, s. Fischerhof, AtomG, § 20 Rn. 10. 41 Degenhart, Kernenergierecht, S. 225. 42 Vom 21.10.1977, BAnz Nr. 206/1977; vgl. dazu Schattke, Wechselbeziehungen zwischen Recht, Technik und Wissenschaft, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 100 (115). 43 GMB1. 1981, 544. 44 Vom 6.9.1979, BAnz Nr. 167/1979, und vom 14.4.1982, BAnz Nr. 69/1982. « Vom 19.4.1974, BAnz Nr. 92/1974. 46 Vom 23.12.1983, BAnz Nr. 240/1981; vgl. dazu besonders Vieweg, Atomrecht und technische Normimg, S. 141 f.; s. Berg, Technische Regeln und Richtlinien, 3. Dt. ATRS (1974) 91 f.; Kuhnt, Technische Regeln, in: 3. Dt. ATRS (1974) 108 (112). 47 Marburger, Regeln der Technik im Recht, S. 92f.; BVerwG DVB1. 1978, 591f.; Vallendar, Ermittlung von Immissionen, GewArch 1981, 281 f. 48 Benda, Technische Risiken und Grundgesetz, S. 8; Vieweg, Atomrecht und technische Normung, S. 18, 19; Degenhart, Kernenergierecht, S. 225; Schenke, Verfassungsrechtliche Problematik dynamischer Verweisungen, NJW 1980, 743 (745f.); Lerche, Kernkraft und rechtlicher Wandel, S. 17, mit Hinweis auf die notwendige parla-

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2. Kap.: Einordnung der „sozialadäquaten Risiken"

ständigen-„normen" im Genehmigungsverfahren und Verwaltungsprozeß. Hier werden die Rieht- und Leitlinien der o. a. Gremien überwiegend als sog. „antizipierte Sachverständigengutachten" gewertet. 49 Dagegen w i r d geltend gemacht, daß technische Regeln überwiegend nicht zur Umsetzung gesetzlicher Schutzzwecke, sondern vorwiegend zur Lösung technischer Probleme aufgestellt würden. 5 0 Auch fehle den Richtlinien die für ein Sachverständigengutachten charakteristische Transparenz, Aktualität und Unabhängigkeit. 51 Sie seien vielmehr als Erfahrungssätze mit dem prozessualen Rang eines Anscheinsbeweises verwertbar. 52 Zuzugeben ist, daß technische Regelwerke ihrer primären Intention nach nicht zur Ausfüllung eines Gesetzes geschaffen werden. Zu beachten ist jedoch die von der Verfahrenskonzeption her ohnehin beschränkte Funktion von technischen Richtlinien. Die Gerichte sind bei ihrer Anwendung materiellrechtlich nicht an ihren Inhalt gebunden, technische Regelwerke gelten nur als Beweismittel. 53 Zur Beantwortung einer genehmigungsrechtlich relevanten Zweifelsfrage können sie deshalb insofern herangezogen werden, als es sich hierbei um einen technisch-naturwissenschaftlichen Sachverhalt handelt. Auch die technischen Regelwerke und Richtlinien sind Sachverständigenäußerungen. Sie weisen lediglich die Besonderheit auf, nicht speziell für diesen konkreten Prozeß geschaffen zu sein, sondern auch auf andere Genehmigungsverfahren anwendbar zu sein. Die im Unterschied zum konkreten (Einzel-)Sachverständigengutachten vorliegende abstrakte Formulierung der Regelwerke kann hier nicht zu deren Unanwendbarkeit führen. Auch der Vorwurf mangelnder Transparenz vermag nicht die dogmatische Unzulässigkeit von „antizipierten Sachverständigengutachten" zu begründen. Hier handelt es sich um ein Umsetzungsproblem, was nötigenfalls durch ein erneutes Sachverständigengutachten gelöst werden kann. Der Verdacht eines unzulässigen Einflusses bei der Erstellung von technischen Regelwerken läßt unberücksichtigt, daß zumindest die Reaktorsicherheits- und die Strahlenschutzkommission aus unabhängigen Fachleuten

mentarische Kontrolle; kritisch ferner Rehbinder, Grundfragen des Umweltrechts, ZRP 1970, 250 (253). « BVerwGE 55, 250 (256f.) - Voerde - ; VG Schleswig, NJW 1980, 1296 (1298); Breuer, Rezeption technischer Regeln, AöR 101 (1976) 46 (82); ders., Verwaltungsvorschriften, DVB1. 1978, 28 (34); Degenhart, Kernenergierecht, S. 140; Vieweg, Atomrecht und technische Normung, S. 194,195. 50 Rittstieg, Antizipierte Sachverständigengutachten, NJW 1983, 1098 (1099); dagegen ebenfalls BVerwG NZVwR 1986, 208 (212) - Whyl 51 Rittstieg, Antizipierte Sachverständigengutachten, NJW 1983, 1098 (1099); dem folgend Ossenbühl, Bewertung technischer Risiken, DÓV 1982, 833 (840); Ronellenfitsch, Genehmigungsverfahren, S. 203; Vallendar, Ermittlung von Immissionen, GewArch 1981, 281 f. (283). 52 Rittstieg, Antizipierte Sachverständigengutachten, NJW 1983,1098 (1100). 53 Haedrich, AtomG, in: Deutsches Bundesrecht, I I I E 50, S. 63; Czajka, Stand von Wissenschaft und Technik, DÖV 1982, 99 (106).

1. Teil: Risikobegriff, vertretene Einordnungsmodelle

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zusammengesetzt sind, 54 denen nicht pauschal eine größere Interessenabhängigkeit nachgesagt werden kann als etwa Gutachtern des TÜV. Gleiches muß, jedenfalls in nur leicht modifizierter Form, für die paritätische Zusammensetzung des Kerntechnischen Ausschusses gelten. Die geforderte „Unabhängigkeit" der Gutachter kann hier ohnehin nur als möglichst dichte Annäherung an das Optimum verstanden werden. Die Frage muß daher lauten, wie die Beweisproblematik im technischen Sicherheitsrecht ansonsten - d.h. unter Verzicht auf die Verwendung technischer Regelwerke gelöst werden kann. Ob hier eine größere Objektivität durch Heranziehung anderer Gutachter, die sich aus der Natur der Sache heraus ohnehin meist aus Kreisen interessierter Institutionen rekrutieren, erreicht werden kann, sei dahingestellt. Festzuhalten bleibt, daß die von RSK, KTA und SSK aufgestellten Regelwerke durchaus als „antizipierte Sachverständigengutachten" Eingang in den Verwaltungsprozeß gewinnen können, entsprechend den herkömmlichen Beweisregeln jedoch auch durch neuere oder überzeugendere Erkenntnisse widerlegt werden können. 55 Bei allen Vorzügen einer flexiblen Ausgestaltung unbestimmter Rechtsbegriffe durch technische Regelwerke darf nicht der Einfluß übersehen werden, den diese Systematik auf die Gewaltenteilung ausübt. Festzustellen ist der verfassungstatsächliche Nachteil einer zunehmenden Verlagerung der verbindlichen Konkretisierung und der dauernden Anpassung an die technisch-wissenschaftliche Entwicklung von der administrativen auf die judikative Ebene. 56 Das Regelungsdefizit des Gesetzgebers hat ferner, hervorgerufen durch das Postulat vollständig überprüfbarer unbestimmter Rechtsbegriffe, die Überfrachtung der Verwaltungsgerichte mit rein naturwissenschaftlichen Fragestellungen bewirkt. 5 7 Dies hat in der Literatur die Forderung entweder nach dem „sachverständigen Richter" 5 8 oder - überwiegend - nach einem größeren Entscheidungsspielraum der Genehmigungsbehörde 59 hervorgerufen. I n diesem Zusammenhang ist insbesondere das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Kernkraftwerk Whyl von 54

s. Nw. oben 2. Kap. 1. Teil Fn. 37 - 40. ss Czajka, Stand von Wissenschaft und Technik, DÖV 1982, 99 (106/107). 56 Fiedler, Beurteilungsspielraum „aus Sachnähe" ET 1982, 580. 57 Nolte, Rechtliche Anforderungen an die technische Sicherheit von Kernanlagen, S. 17, 18 mit dem Hinweis auf die gerichtliche Abhängigkeit von Sachverständigen und Angaben der Betreiber selbst. 58 Dieser Gedanke taucht bei Schmitt Glaeser, Planende Behörden, Der Landkreis 1976, 442 (450) auf, um aber wegen der hiermit verbundenen Schwierigkeiten wieder verworfen zu werden. 59 Fiedler, Beurteilungsspielraum „aus Sachnähe", ET 1982, 580f., unter Hinweis auf die allgemeine Bindung der Verwaltung aus Art. 20 I I I GG (S. 583) sowie der Forderung nach einer dem Mühlheim-Kärlich-Beschluß des BVerf G entsprechenden Verstärkung des Verfahrensschutzes; zust. Lerche, Kernkraft und rechtlicher Wandel, S. 18; Sellner, Technischer Fortschritt, in: 7. Dt. ATRS (1983) 265 (279); anderer Auffassung ist Fürst, Verdrängt die Justiz die Politik? ET 1981, 32 (36).

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2. Kap.: Einordnung der „sozialadäquaten Risiken"

Bedeutung, welches den exekutiven Gestaltungsspielraum zu Lasten der gerichtlichen Kontrolldichte betont. 60 Hier findet sich die obergerichtliche Bestätigung der Forderimg Fiedlers nach größeren Freiräumen der Genehmigungsbehörden, 61 dem dann jedoch entsprechend dem Mühlheim-Kärlich-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts ein ausgeprägtes Verwaltungsverfahren zu korrelieren hat. Angesichts zunehmender Bestätigung durch sonstige Rechtsprechung 62 und Literatur 6 3 erscheint es nicht verfrüht, hier von einer sich anbahnenden Rechtswandlung zu sprechen. bb) K r i t i k am postulierten „dynamischen Grundrechtsschutz" Roßnagel 64 zufolge schweigt das Postulat des „dynamischen Grundrechtsschutzes" zu der Frage, ob die (anzunehmende) Zunahme technischer Erkenntnisse zu einer Risikoverringerung eingesetzt werden muß, oder ob bei gleichbleibendem Individual- und Kollektivrisiko die quantitative Nutzung der Kerntechnik erhöht werden darf. Unabhängig von der momentan vorherrschenden Vorsicht gegenüber einem weiteren Ausbau der Kernenergienutzung bleibt diese Frage von Bedeutung, da sich der jeweils zugrundeliegende politische Konsens wie auch die technische Beherrschbarkeit grundlegend ändern können und auch ein weiterer Ausbau - wie in Frankreich 6 5 - in der Bundesrepublik durchaus möglich ist. Roßnagel betont die Offenheit dieser Fragestellung, da die Formulierimg der „laufenden Anpassung an den jeweils neuesten Erkenntnisstand" 66 für eine allein maßgebliche Konstanz des Gesamtrisikos, die Betonung der „bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge" 67 hingegen für eine Sicherheitserhöhungspflicht (= Risiko Verringerungspflicht) spräche. 68 Auch der entwicklungsleitende 60 NZVwR 1986, 208 f. - Whyl - ; dazu Breuer, Individualschutz gegen Umweltbelastungen, DVB1. 1986, 849 (851). 61 Fiedler, Beurteilungsspielraum „aus Sachnähe" ET 1982, 580f. 62 VG Schleswig, NJW 1980,1296 (1298): „das gerichtliche Verfahren ist kein zweites Genehmigungsverfahren". 63 Weber, Regelungs- und Kontrolldichte im Atomrecht, S. 165, 219; Marburger, Regeln der Technik im Recht, S. 417f.; Breuer, Individualschutz gegen Umweltbelastungen, DVB1. 1986, 849 (851). 64 Roßnagel, Wie dynamisch ist der „dynamische Grundrechtsschutz" des Atomrechts? NZVwR 1984, 137 (138). 65 In Frankreich befanden sich im August 1985 insgesamt 41 Kernkraftwerke in Betrieb und 22 in Bau (Bundesrepublik: 19 i n Betrieb, 7 i n Bau). Der Kernenergieanteil i n der französischen Stromerzeugung beträgt 58,5% gegenüber 36% i n der Bundesrepublik, s. Deutsches Atomforum, Kernkraftwerke i n der Bundesrepublik, S. 40f.; FAZ vom 3.5.1986, S. 13. 66 BVerfGE 49, 89 (139). 67 BVerfGE 49, 89 (139). 68 Roßnagel, Wie dynamisch ist der „dynamische Grundrechtsschutz"? NZVwR 1984, 137 (138) mit dem Hinweis auf die sprachliche Indifferenz der „Dynamik"; die Möglichkeit sowohl einer Risikoerhöhung als auch -Verringerung spricht auch Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 149, an.

1. Teil: Risikobegriff, vertretene Einordnungsmodelle

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„Stand von Wissenschaft und Technik" helfe hier nicht weiter, da er lediglich Risiken erkennen und aufzeigen, nicht jedoch die notwendigen Wertungen betreffs einer Risikoverringerung, -stagnation oder -erhöhung abgeben könne. Ferner sei die Aussage des Bundesverfassungsgerichts widersprüchlich, demzufolge die Schadenswahrscheinlichkeit so gering wie möglich, und zwar um so geringer sein müsse, je schwerwiegender die Schadensfolgen ausfielen. 69 Entweder müsse ein Schaden so gering wie möglich oder so gering wie erforderlich sein, eine Kombination beider Forderungen sei dagegen nicht möglich. 70 Als Ausweg wird statt dessen eine mathematisch gefundene „Risikonorm" gesehen, welche als politisch zu verantwortender Gesetzgebungsakt den Grundrechtsschutz dynamisiere und einer Eigendynamik sich ständig erhöhender Risiken vorbeuge. 71 Mit in diese Risikonorm einbezogen werden müßten auch „soziale Risiken" wie etwa der Verlust des kulturellen oder Erholungswertes einer unbewohnbar gewordenen Region. 72 Hierbei läßt Roßnagel jedoch die notwendigerweise mit einzubeziehende Frage offen, wie derartige „soziale Risiken" überhaupt berechnet und in ein rational vergleichbares Verhältnis zu technischen Risiken gebracht werden können. Kritisiert wird ferner der faktisch begrenzte Emflußbereich des „dynamischen Grundrechtsschutzes" im Bereich bereits errichteter Anlagen, die zwar bei Inbetriebnahme beim damals erreichten Erkenntnisstand als sicher galten, neueren Gefahrenanalysen jedoch nicht zu entsprechen vermögen. 73 Das Bundesverwaltungsgericht hat das Problem der „nachträglich erkannten Unsicherheit" zwar gesehen, es jedoch dabei bewenden lassen, daß für die Rechtmäßigkeit des Genehmigungsbescheids „grundsätzlich" der Stand von Wissenschaft und Technik im Zeitpunkt des Erlasses maßgeblich sei. 74 cc) Stellungnahme Roßnagels Vorwurf der Indifferenz des „dynamischen Grundrechtsschutzes" ist insofern zutreffend, als das Bundesverfassungsgericht keine Aussa69 BVerfGE 49, 89 (138) mit Verweis auf BVerwG DÖV 1974, 207 (209); VG Karlsruhe, DVB1. 1978, 856f. (858). 70 Roßnagel, Wie dynamisch ist der „dynamische Grundrechtsschutz"? NZVwR 1984,137 (139); ders., Rechtliche Risikosteuerung, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 198 (202). 71 Roßnagel, Rechtliche Risikosteuerimg, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 198 (216, 217) mit der Einschränkung, daß eine Risikonorm auch nur erkannte Risiken berücksichtigen könne, unbekannte oder unkalkulierbare Risiken wie Kriegsoder Terrorismusgefahr müßten weiterhin Behörden und Gerichten überlassen werden. 72 Roßnagel, Rechtliche Risikosteuerung, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 198 (210); ders., Bestandsschutz von Atomkraftwerken, JZ 1986, 716f. 73 Lerche, Kernkraft und rechtlicher Wandel, S. 15. 74 BVerwG DÖV 1972, 758 - Würgassen - .

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2. Kap.: Einordnung der „sozialadäquaten Risiken"

gen über eine Pflicht zur (Gesamt-)Risikoverminderung bei Erkenntniszuwachs trifft. Eine diesbezügliche Aussage ist demnach anderen Quellen zu entnehmen. Fest steht, daß sich das Gesamtrisiko aus dem Produkt von Einzelrisiko und Gesamtzahl von Kernanlagen, und zwar im In- und Ausland, ergibt. Sollte sich bei einer festliegenden Zahl von χ Atomkraftwerken aufgrund der Kombination von „dynamischem Grundrechtsschutz" und technischem Fortschritt das Gesamtrisiko verringern, stünde einer prinzipiellen Erhöhung der Kernanlagengesamtzahl bei substantiiert dargelegtem wachsenden Energiebedarf nichts entgegen. Gleiches würde jedoch auch bei gleichbleibendem Gesamtrisikopotential - etwa durch stagnierende Technikentwicklung - gelten, da hier der „dynamische Grundrechtsschutz" mangels Möglichkeit keine Risikoverringerung fordern kann. Die zulässige Gesamtzahl von Kernanlagen ist also nicht von einer Risikohöchstnorm abhängig, sondern vom Bedarf und der politischen Planimg. Die dogmatische Konstruktion des „dynamischen Grundrechtsschutzes" ist obendrein Konsequenz der gesetzlichen Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen wie des „Stands von Wissenschaft und Technik", die durch sich ebenfalls ändernde technische Regelwerke - im Genehmigungsprozeß als „antizipierte Sachverständigengutachten" geltend - ausgefüllt werden, ber geforderte „dynamische Grundrechtsschutz" kann aber keine Aussage hinsichtlich der Gesamtrisikobelastung geben, die in Abhängigkeit zur politisch zu verantwortenden Energieversorgungskapazität steht. Er vermag pro einzelnem Kernkraftwerk eine Risikoverringerungspflicht zu begründen, 75 die entsprechend dem sich ändernden „Stand von Wissenschaft und Technik" vorzunehmen ist. Aus diesem Grunde ist die fehlende Aussage des „dynamischen Grundrechtsschutzes" bezüglich einer Gesamtrisikoverringerungspflicht kein ihn widerlegendes Manko, da diese Frage von der Konzeption dieser Rechtskonstruktion her nicht beantwortet werden soll und kann. Nicht verkannt werden soll hier die Schwäche einer fehlenden Gesamtrisikobestimmung 76 gerade im Hinblick auf die sich möglicherweise langsam - linear und nicht sprunghaft erhöhenden nuklearen Risiken. Hier ist jedoch daran festzuhalten, daß über die von Roßnagel aufgeworfene Problematik die im technischen Sicherheitsrecht bewährte Figur des „dynamischen Grundrechtsschutzes" nicht widerlegt werden kann.

75 So Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 183, mit Ableitung aus dem Prinzip des „geringstmöglichen Eingriffs". 76 Dazu unten ausführlich 3. Kap.

1. Teil: Risikobegriff, vertretene Einordnungsmodelle

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ΠΙ. Die gesetzliche Erfassung nuklearspezifischer Gefahren und Risiken 1. Herkömmlicher Gefahren- und Risikobegriff

Der materielle Inhalt des Begriffs „Gefahrenabwehr" in § 7 I I Nr. 3 AtomG ist nach dem gegenwärtigen Stand der Diskussion noch nicht verbindlich festgelegt. Obwohl der Begriff der Gefahrenabwehr und seine Bedeutung in § 7 I I Nr. 3 AtomG Gegenstand eines weitgehenden Konsenses ist, herrscht über die konkrete Ausfüllung im Einzelfall der Beurteilung eines Atomkraftwerkes eine kontroverse Diskussion mit teilweise verwirrender Begriffsbestimmung. 77 Als Ursache hierfür wird der hohe Abstraktionsgrad der Vorschrift angesehen,78 kritisch wird daher angemerkt, daß je nach Art und Weise der Gefahrenbewertung und des „Stands von Wissenschaft und Technik" die Schlüsselnorm § 7 I I Nr. 3 AtomG offen sei für verschiedene, auch willkürliche Entscheidungen. 79 Positiv hervorzuheben ist, daß der Begriff der Gefahr immerhin ein Rechtsbegriff ist, das (Rest-)Risiko in der Gesetzessprache hingegen nicht vorkommt. Deshalb ist insbesondere von Ossenbühl 80 vorgeschlagen worden, ganz auf die Verwendung des Risikobegriffs zu verzichten, der Begriff der „Gefahr" sei auch für das komplexe technische Sicherheitsrecht ausreichend. Nach herkömmlicher polizeirechtlicher Definition, deren prinzipielle Anwendbarkeit unumstritten ist, 8 1 liegt eine Gefahr dann vor, wenn eine Sachlage bei objektiv zu erwartendem ungehindertem Geschehensablauf mit Wahrscheinlichkeit zur Beeinträchtigung eines polizeilichen Schutzguts führt. 8 2 Hiernach braucht der Schaden zwar nicht mit Sicherheit einzutreten, die bloße Möglichkeit einer Schädigung reicht jedoch ebenfalls nicht aus. 83 77 Haedrich, AtomG, in: Deutsches Bundesrecht, I I I E 50, S. 147f.; Renneberg, „Stand von Wissenschaft" und die „Schadensvorsorge" im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren, ZRP 1986, 161 (161). 78 Nolte, Rechtliche Anforderungen an die technische Sicherheit von Kernanlagen, S. 16. 79 Renneberg, „Stand der Wissenschaft" und die „Schadensvorsorge" im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren, ZRP 1986, 161 (161). 80 Ossenbühl, Bewertung von Risiken, in: Blümel / Wagner, Technische Risiken und Recht, S. 46; vgl. auch ders., Vorsorge als Rechtsprinzip, NZVwR 1986, 161 (163). 81 Haedrich, AtomG, in: Deutsches Bundesrecht, I I I E 50, S. 158. 82 BVerwGE 45, 51 (57); BVerwG NJW 1970, 1890 (1892); grundlegend PrOVG 77, 341 (345); Wolff / Bachof, Verwaltungsrecht III, § 125 I I I a); Friauf, Polizeirecht, in: v.Münch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, S. 215f.; Drews / Wache / Vogel / Martens, Gefahrenabwehr, Bd. II, S. 106; Martens, Immissionsschutzrecht und Polizeirecht, DVB1. 1981, 597 (597); Marburger, Schadensvorsorge, S. 9; Hansen-Dix, Gefahr, S. 19f.; Hanning / Schmieder, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DB 1977, Beil. 14, S. 1 (4). 83 Martens, Immissionsschutzrecht und Polizeirecht, DVB1. 1981, 597 (597); vgl. schon Jellinek, Gesetzesanwendung und Zweckmäßigkeitserwägungen, S. 286, zum sog. „Löwenbändiger-Fall".

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2. Kap.: Einordnung der „sozialadäquaten Risiken"

Unter „Risiko" soll demgegenüber rein deskriptiv die Möglichkeit des Eintritts eines Nachteils verstanden werden. Wie bei der „Gefahr" ist auch für das „Risiko" ein sich verändernder, zukunftsgerichteter Zustand konstitutiv, 8 4 die Gefahr ist zusätzlich durch das normative Element einer - wie auch immer zu bestimmenden - Wahrscheinlichkeit gekennzeichnet. 85 „Risiko" kann sich demnach wertfrei auf jeden beliebigen unerwünschten Erfolg beziehen, „Gefahr" dagegen nur auf ein rechtlich mißbilligtes Ereignis. 86 Risiken oberhalb der Gefahrenschwelle sind demnach Gefahren. 87 Die Gefahrenschwelle wertend zu bestimmen ist Gegenstand des sog. „technischen Sicherheitsrechts". 88 2. Notwendigkeit einer Verfeinerung des Gefahrenbegriffs

Einigkeit besteht über die Notwendigkeit einer Verfeinerung des Gefahrenbegriffs im technischen, besonders aber im nuklearen Sicherheitsrecht. 89 Der herkömmlichen Gefahrenbetrachtung lagen bestimmte, tatbestandlich fixierte Gefahrenlagen zugrunde, denen konkrete Eingriffsbefugnisse auf der Rechtsfolgenseite zugeordnet wurden. Diese Gegebenheiten bestehen im technischen Sicherheitsrecht nicht. Die Tätigkeit der Genehmigungsbehörden kann nicht mehr als allein reaktiv auf vorhandene Gefahrenlagen gesehen werden. Vielmehr handeln diese Behörden selbst situationsgestaltend, indem sie die risikobehafteten Anlagen aktiv über das Genehmigungsverfahren mit herbeiführen. 90 Aus diesem Grunde, aber auch um das extrem große latente Gefahrenpotential in eine Art „Rechnung" einstellen zu können, wurde die sog. „je - desto"-Formel entwickelt: Je größer der Wert eines Rechtsgutes und das mögliche Schadensausmaß, desto geringere Anforderungen werden an die Schadenseintrittswahrscheinlichkeit gestellt. 91 Dem 84

Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 81. Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 85, 149. 86 Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 85; Seilner, Technischer Fortschritt, 7. Dt. ATRS (1983) 265 (275). 87 Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 86. 88 Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 86. 89 Degenhart, Kernenergierecht, S. 32; Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVB1. 1978, 829 (833); Ossenbühl, Vorsorge als Rechtsprinzip, NZVwR 1986, 161 (163); Erichsen, Polizei- und ordnungsrechtliche Handlungsvollmachten, W D S t R L 35 (1977) 171 (186); Wagner, Schadensvorsorge, DÖV 1980, 269 (277); Plischka, Technisches Sicherheitsrecht, S. 106; Hansen-Dix, Gefahr, S. 15; Marburger, Verhältnismäßigkeit, in: 7. Dt. ATRS (1983) 45 (61); Seilner, Technischer Fortschritt, in: 7. Dt. ATRS (1983) 265 (275); de Witt, Genehmigung von Atomanlagen, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 138 (157); BayVGH DVB1. 1979, 673 (675). 90 Degenhart, Kernenergierecht, S. 33, mit dem Hinweis auf die Abwägung mit anderen Energiequellen, s.a. oben 1. Kap. 1. Teil B. 9 * BVerwG NJW 1970, 1890 (1892); BVerwG DÖV 1974, 207 (209); BayVGH DVB1. 1979, 673 (675); OVG Lüneburg, DVB1. 1977, 347 (351); VGH Ba.-Wü., DVB1. 1976, 538 (544); VG Karlsruhe, DVB1. 1978, 856 (858); VG Würzburg, NJW 1977, 1649 (1650); VG Freiburg, NJW 1977, 1645 (1646); Bender, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, NJW 1979, 1425 (1428); Benda, Technische Risiken und Grundgesetz, S. 5; 85

1. Teil: Risikobegriff, vertretene Einordnungsmodelle

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korreliert folgerichtig auch die quantitative Erfassung eines Risikos durch Berechnung des Produkts aus Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensumfang. 92 Daher handelt es sich bei der für eine Gefahr „hinreichenden" Wahrscheinlichkeit nicht um einen festen Wert, sie hängt vielmehr von der Wertigkeit des jeweils bedrohten Rechtsguts ab. 93 Das spezifisch kernenergierechtliche Problem, welches durch § 7 I I Nr. 3 AtomG aufgeworfen wird, liegt in der sicherheitsrechtlichen Bewältigung der Kombination eines komplexen Systems redundanter Sicherheitsvorkehrungen, welches eine extrem niedrige 94 Eintrittswahrscheinlichkeit begründet, mit einem extrem hohen Schadensausmaß für den Fall, daß sich dieser noch so unwahrscheinliche Unfall tatsächlich realisiert. Deshalb kommt es gerade im Kernenergierecht auf eine besonders exakte mathematische Analyse beider Komponenten an, nicht zuletzt durch den Einbezug des Zeitfaktors in die „Rechnung" können die verwendeten Risiko- und Gefahrenformeln sehr kompliziert werden. 95 Die Gefahrenproblematik wird weiter erschwert durch die wenigen Kriterien, welche die Verfassung für die Beurteilung des Schadensumfangs zur Verfügung stellt. Die Bedeutung gerade dieses Mangels zeigt sich insbesondere bei der immer noch diskutierten Frage, ob für die Gefahrenbeurteilung auf das Individuai-, das Kollektiv- oder auf ein Gesamtrisiko abzustellen ist. 9 6 Eine weitere, für die Anwendung der „je - desto"-Formel notwendige und allerdings noch weitgehend ungeklärte Voraussetzung ist die der Quantifizierbarkeit und gegenseitigen Abstufung verschiedener Rechtsgüter. 97 Albers, Atomgesetz und Berstsicherung, DVB1. 1978, 22; Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVB1.1978, 829 (833); Degenhart, Kernenergierecht, S. 25; Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 165f.; Lukes, Risikoanalysen, BB 1978, 317 (318); Nolte, Rechtliche Anforderungen an die technische Sicherheit von Kernanlagen, S. 54f.; Martens, Wandlungen im Recht der Gefahrenabwehr, DÖV 1982, 89 (93); sehr kritisch de Witt, Genehmigung von Atomanlagen, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 157; letztlich ist die „je - des£o"-Formel die Konsequenz aus der Feststellung des BVerwG, daß die Existenz einer „Wahrscheinlichkeit" auch dann noch zu bejahen ist, wenn „der Eintritt des Schadens . . . möglicherweise noch Jahre auf sich warten lassen . . . kann, s. BVerwG NJW 1970, 1890 (1892). 92 Haedrich, AtomG, in: Deutsches Bundesrecht, I I I E 50, S. 148; Ossenbühl, Vorsorge als Rechtsprinzip, NZVwR 1986, 161 (163); Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 165; Hofmann, Entsorgung, S. 331; Marburger, Schadensvorsorge, S. 32; Lukes, Gefahren, in: ders. (Hrsg.) Gefahren II, S. 90 f. 93 Nolte, Rechtliche Anforderungen an die technische Sicherheit von Kernanlagen, S. 54. 94 Der Rasmussen-Report, eine amerikanische Reaktorsicherheitsstudie, gibt die Versagensquote eines Reaktordruckbehältnisses mit 10"7 ( = 1 Unfall i n 10 Mio. Betriebs jähren) an, s. N. C. Rasmussen, Reactor Safety Study, WASH-1400, Entwurf August 1974, endgültige Fassung Oktober 1975, Deutsche Ubersetzung der Kurzfassung: „Der Rasmussen-Bericht, WASH-1400" in der Reihe „Stellungnahmen zu Kernenergiefragen" (Hrsg. Institut für Reaktorsicherheit der Technischen Überwachungsvereine e.V.) IRS-S-13 (Febr. 1976). 95 s. Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke, S. 10 f.; Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 167. 96 s. dazu Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 154f., 174; Winter, Bevölkerungsrisiko und subjektives Recht, NJW 1979, 393f.

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2. Kap.: Einordnung der „sozialadäquaten Risiken"

Hierauf soll in diesem Zusammenhang jedoch nicht näher eingegangen werden. 3. Kategorien der Gefahrenabwehr, der Risikovorsorge und des Restrisikos

a) Definitionen Die Gesetzeskonzeption des § 7 I I Nr. 3 iVm § 1 Nr. 2 AtomG geht von einer Trennung abzuwehrender Gefahren von sonstigen Schadenswahrscheinlichkeiten aus, die nach wertenden Kriterien hinzunehmen sind. Dies entspricht auch tatsächlichen Notwendigkeiten, da es theoretisch unendlich viele und umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen gibt, durch welche eine Atomanlage um jeweils einen bestimmten, mehr oder weniger großen Wert in ihrer Sicherheit erhöht werden kann. Der Verweis des Gesetzgebers auf den jeweils neuesten Stand von Wissenschaft und Technik ist daher als alleiniges Kriterium zur Bestimmung der zumutbaren Sicherheitsmaßnahmen nicht ausreichend. Es bedarf weiterer Kriterien, um die Schwelle zwischen abzuwehrender Gefahr und hinzunehmender Rest(-un)-wahrscheinlichkeit zu bestimmen. 98 Als kategorialen Rahmen, über dessen Bestandteile, nicht jedoch deren inhaltliche Ausfüllung weitgehende Einigkeit besteht, verwenden Literatur und Rechtsprechimg die Begriffe Gefahrenabwehr, Risiko Vorsorge und Restrisiko. 99 Diese Kategorien unterscheiden sich primär nach der Eintrittswahrscheinlichkeit eines bestimmten Schadens sowie einer darauf aufbauenden Wertung. Maßgeblichen Einfluß auf die für die Einteilung maßgeblichen Kriterien hat ferner der Vorrang des in § 1 Nr. 2 AtomG postulierten Schutzzwecks vor dem in § 1 Nr. 1 AtomG niedergelegten Förderzweck. 100 97

Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 167, 172 f. Aufgrund des methodisch begründeten Vorrangs der Verfassungsnormativität im Sinne einer größtmöglichen Verpflichtungskraft (s.o. l.Kap. 2. Teil C.) muß die hier zu entscheidende Frage lauten, wann eine Gefahr i n eine rechtlich unbeachtliche Schadens(-un-)wahrscheinlichkeit umschlägt, nicht umgekehrt. 99 BVerfGE 49, 89 (139); E 53, 30 (59); Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVB1. 1978, 829f.; Bender, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, NJW 1979, 1425f.; Benda, Technische Risiken und Grundgesetz, S. 5; Rauschning, Staatsaufgabe Umweltschutz, W D S t R L 38 (1980) 167 (203); Degenhart, Kernenergierecht, S. 30f.; Kramer, Die nach dem Atomgesetz erforderliche Schadensvorsorge, NJW 1981, 260 f.; Ipsen, Genehmigung technischer Großanlagen, AöR 107 (1982) 254 (261). 100 BVerwG DVB1. 1972, 678 (680); VGH Ba.-Wü., DVB1. 1976, 538 (541); OVG Lüneburg, DVB1. 1978, 67 (68); VG Freiburg, NJW 1977, 1645 (1646); Degenhart, Kernenergierecht, S. 33; Fischerhof, Atomgesetz, § 1 Rn. 5; Albers, Atomgesetz und Berstsicherung, DVB1. 1978, 22 (24); Wagner / Nobbe, Verfassungsrechtliche Bemerkungen zum Atomgesetz, NJW 1978, 1028 (1029, 1032); Wagner, Untätigkeit des Gesetzgebers, DVB1. 1978, 839 (841); Baumann, Der Grundrechtsvorbehalt der „sozialadäquaten technisch-zivilisatorischen Risiken", JZ 1982, 749 (753); Knemeyer, Schutz der Allgemeinheit, W D S t R L 35 (1977) 221 (271) Fn. 158; Lukes / Backherms, Berücksichtigung von Kriegseinwirkungen, AöR 103 (1978) 334 (345); differenzierend Pelzer, Opferschutz im Haftungsverband, 3. Dt. ATRS (1974) 251, 252 Fn. 4; Wagner, Schadensvorsorge, DÖV 1980, 269 (275); ders., Risiken von Wissenschaft und Technik, 98

1. Teil: Risikobegriff, vertretene Einordnungsmodelle

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Dem Grundsatz nach nimmt das Atomgesetz keinen anlagenspezifischen Rest- oder Mindestschaden irgendwelcher Art in Kauf, der im Lichte des Grundrechts aus Art. 2 I I S. 1 GG als Grundrechtsverletzung anzusehen wäre. 1 0 1 Dies ergibt sich schon rein formal aufgrund eines Umkehrschlusses aus dem verfassungsrechtlichen Zitiergebot. Würde das Atomgesetz Grundrechte beschränken, müßte es diese entsprechend Art. 19 I S. 2 GG ausdrücklich nennen. Eine solche Nennung findet sich im Atomgesetz jedoch nicht. Andererseits korreliert der atomaren Nutzung überhaupt, daß Schäden nicht mit völliger Sicherheit vermieden werden können, w i l l man nicht gänzlich auf Kernanlagen verzichten. 102 Solche Risiken, die aufgrund einer Wertimg dem Bereich der Gefahrenabwehr zuzuordnen sind, müssen unabhängig von ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit oder dem zu ihrer Beseitigung notwendigen Kostenaufwand 103 ausgeschaltet werden, andernfalls die Anlage nicht genehmigungsfähig ist. 1 0 4 Die tatbestandliche Genehmigungsvoraussetzung der „erforderlichen Schadensvorsorge" i.S.v. §711 Nr. 3 AtomG umfaßt somit (zumindest) den Bereich der Gefahrenabwehr, in welchem der Förderzweck des Atomgesetzes vollständig hinter dem Schutzzweck zurückzustehen hat. 1 0 5 Unter „RisikoVorsorge" wird zwar uneinheitlich, 106 aber tendenziell die Summe der Maßnahmen verstanden, die nicht der Abwehr einer erkannten Gefahr dienen, sondern zusätzliche Sicherheit unterhalb der Gefahrenschwelle schaffen. 107 Die Risikovorsorge schützt damit vor denkmöglichen NJW 1980, 665 (670); Schattke, Wechselbeziehungen zwischen Recht, Technik und Wissenschaft, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 100 (112); ders., Grenzen des Strahlenminimierungsgebots, DVB1. 1979, 652 (655); Hofmann, Entsorgung, S. 227; im wesentlichen betonen diese Kritiker der h.M. den Widerspruch zwischen dem Postulat des Schutzzwecks einerseits und der Hinnahme des Restrisikos andererseits. Der Schutzzweck sei daher nicht als absolutes Dogma, sondern als Element der Interpretation in § 7 I I Nr. 3 AtomG einzubeziehen. 101 BVerfGE 49, 89 (141); Sellner, Technischer Fortschritt, 7. Dt. ATRS (1983) 265 (274). 102 BVerfGE 49, 89 (143). 103 Jakobs, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 196. 104 Bender, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, NJW 1979, 1425 (1429); Ipsen, Genehmigung technischer Großanlagen, AöR 107 (1982) 259 (260); Bochmann, Gefahrenabwehr und Schadensvorsorge, in: 7. Dt. ATRS (1983) 17 (19f.); Marburger, Verhältnismäßigkeit, in: 7. Dt. ATRS (1983) 45 (63); Kramer, Die nach dem Atomgesetz erforderliche Schadensvorsorge, NJW 1981, 260 (262). 105 Bender, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, NJW 1979, 1425 (1429). 106 v g l z u den verschiedenen Begriffen Wagner, Schadens Vorsorge, DÖV 1980, 269 (274 Anm. 26); Bochmann, Gefahrenabwehr und Schadensvorsorge, in: 7. Dt. ATRS (1983) 17 (21). 107 Ipsen, Genehmigung technischer Großanlagen, AöR 107 (1983) 259 (261); Martens, Immissionsschutzrecht und Polizeirecht, DVB1. 1981, 597 (602); Bender, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, NJW 1979, 1425 (1429); Benda, Technische Risiken und Grundgesetz, S. 5; Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVB1.1978, 829 (836); de Witt, Genehmigung von Atomanlagen, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 138 (157); Marburger, Verhältnismäßigkeit, in: 7. Dt. ATRS (1983) 45 (61); OVG Lüneburg, DVB1. 1977, 340 (341, 343f.); BayVGH DVB1. 1979, 673 (674).

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2. Kap.: Einordnung der „sozialadäquaten Risiken"

Schäden, sie wehrt einen Gefahrenverdacht ab. 1 0 8 Auch in dem Bereich, in dem das Risiko sich umfangmäßig in dem vom Gesetzgeber an sich zugelassenen und daher grundsätzlich tolerablen Rahmen hält, muß der Errichter oder Betreiber einer Atomanlage so weit wie möglich weitere und zusätzliche Vorkehrungen zur Erhöhung der Anlagensicherheit treffen. 109 Anders als das Postulat der Gefahrenabwehr steht die Risikovorsorge unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit von Nutzen und Aufwand, 1 1 0 im übrigen geht hier der Förderzweck des § 1 Nr. 2 AtomG vor. 1 1 1 Bezüglich dieser gefahrenunabhängigen Risikovorsorge bestehen verschiedene Auffassungen darüber, inwieweit sie unter dem Gesichtspunkt der Genehmigungsvoraussetzung zu behandeln ist oder dem Bereich des behördlichen Ermessens zugeordnet werden kann. 1 1 2 Jenseits von Gefahrenabwehr und Risikovorsorge beginnt der Bereich des sog. „Restrisikos" oder „Risikorests", welcher als „sozialadäquate Last" von allen Bürgern zu tragen ist. 1 1 3 Auch hier ist wieder zwischen dem Restrisiko des Normalbetriebs und dem des Störfalls zu unterscheiden. Für den Normalbetrieb wird das Restrisiko in zulässiger Weise durch die Dosisgrenzwerte des § 45 S. 1 StrlSchVO festgelegt. Störfällen soll durch die sog. Störfall-Leitlinien des B M I begegnet werden, die mögliche Störfälle typisieren und standardisieren. 114 Zusätzlich beinhaltet § 28 I I I Strahlenschutzverordnung die sog. Störfallplanungsdosis (5 rem-Konzept), d.h., die für den Störfall höchstzulässige Strahlenexposition des Individuums. 1 1 5

108 Feldhaus, Vorsorgegrundsatz, DVB1. 1980, 133 (136); Jakobs, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 201; Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVB1. 1978, 829 (836); BayVGH DVB1. 1979, 673 (675). 109 Jakobs, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 201; Degenhart, Kernenergierecht, S. 31 f. 110 Hansmann, Sicherheitsanforderungen im Atomrecht, DVB1. 1981, 898 (902); Degenhart, Kernenergierecht, S. 31; Jakobs, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 200f.; Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVB1. 1978, 829 (837); Hofmann, Entsorgung, S. 338; Bender, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, NJW 1979, 1425 (1430); Schattke, Grenzen des Strahlenminimierungsgebotes, DVB1. 1979, 652 (657); Marburger, Verhältnismäßigkeit, 7. Dt. ATRS (1983) 45 (63); VGH Ba.-Wü., DVB1. 1976, 538 (544); VG Oldenburg, ET 1979, 652 (654). 111 Schattke, Grenzen des Strahlenminimierungsgebotes, DVB1. 1979, 652 (657); vgl. Bender, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, NJW 1979,1425 (1430) Fn. 29. Dazu s.u. 2. Kap. 1. Teil A. III. 3. c). "3 BVerfGE 49, 89 (143); s. ausf. unten 2. Kap. 1. Teü Β. II. i " Vom 18.10.1983, BAnz Nr. 245 v. 31.12.1983. 115 s. de Witt, Genehmigung von Atomanlagen, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 138 (144).

1. Teil: Risikobegriff, vertretene Einordnungsmodelle

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b) Methoden der Einteilung aller denkbaren Risiken in die Kategorien Gefahrenabwehr, Risikovorsorge und Restrisiko Um aus der theoretisch unendlich großen Summe zusätzlicher Sicherheitsmaßnahmen die für die Anlagengenehmigung erforderlichen Maßnahmen abzuschichten, müssen alle überhaupt denkbaren Schadenseintrittswahrscheinlichkeiten bzw. deren Abwendungsmöglichkeiten in eine der drei Kategorien Gefahrenabwehr, Risikovorsorge und Restrisiko eingeordnet werden. Diese Aufgabe stellt die eigentliche Schwierigkeit des behördlichen und gerichtlichen Genehmigungsverfahrens dar. § 7 I I Nr. 3 AtomG liefert keine inhaltliche Vorgabe dafür, ob etwa das Erfordernis eines fünften oder sechsten Kühlmittelkreislaufs unter die Gefahrenabwehr oder die Risikovorsorge fällt, bzw. das Fehlen eines solchen zusätzlichen Sicherheitssystems als Restrisiko von der Allgemeinheit zu tragen ist. Diese fehlende und wohl gesetzestechnisch auch unmögliche Normierung führt zu einem Einfluß der verschiedensten, oft konträren „Sicherheitsphilosophien" auf das atomare Genehmigungsverfahren. aa) Postulat „absoluter Sicherheit" durch das VG Freiburg Eine extreme Lösung stellt die Forderung nach „absoluter Sicherheit" dar, deren Vertreter konsequenterweise sämtliche denkbaren Schutzmaßnahmen unter die Gefahrenabwehr einordnen und damit fordern müßten. I n diese Kategorie ist das Urteil des VG Freiburg 1 1 6 zum Kernkraftwerk Whyl einzuordnen. Für solche sicherheitsrelevanten Bestandteile eines Kernkraftwerks, bei deren Versagen eine bestimmte Schadensgröße überschritten werden kann, fordert das Verwaltungsgericht „absolute Sicherheit". 1 1 7 Konkret wird dies für den zusätzlichen Einbau eines Berstschutzes bei Druckwasserreaktoren gefordert, welcher das Bersten des Druckgefäßes mit der Folge von Schäden nationalen Ausmaßes abwenden soll. Diese Forderung nach „absoluter Sicherheit" - wenn auch nur für einen Anlagenteil ist ansonsten nicht aufgegriffen worden und w i r d im übrigen zu Recht abgelehnt. Zum einen sprechen schon rein technische Gegebenheiten gegen die Erreichung absoluter Sicherheit durch den Einbau zusätzlicher Schutzmaßnahmen. Fraglos kann eine Kernanlage durch Verwendung eines neuen oder zusätzlichen Sicherheitssystems in mehr oder weniger großem Maße noch sicherer gebaut werden. Jedem technischen Sicherheitssystem ist jedoch auch wieder dessen Versagensmöglichkeit immanent, so daß gleichfalls ein Restrisiko verbleibt. 1 1 8 Dessen Abschätzimg und Akzeptanz müßte auch hier lie y e Freiburg, NJW 1977,1645f. 117

VG Freiburg, NJW 1977,1645 (1647). Nolte , Rechtliche Anforderungen an die technische Sicherheit von Kernanlagen, S. 37, 38. 118

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2. Kap.: Einordnung der „sozialadäquaten Risiken"

einer wertenden Beurteilung unterzogen werden. I m übrigen wäre, wie Breuer 119 richtig aufzeigt, ein Schadenseintritt nur dann mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen, wenn er naturgesetzlich unmöglich wäre. Diese Utopie völliger Sicherheit kann jedoch von überhaupt keiner technischen Einrichtung gewährleistet werden, es gibt schlechthin keine Technik ohne Risiko. 1 2 0 Den absoluten Schadensausschluß zu verlangen, hieße in der Konsequenz, die Abschaffung jeglicher Nukleartechnik zu fordern. Dies entspräche angesichts der Grundsatzentscheidung des Verfassungsgebers in Art. 74 Nr. I I a GG, die durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt ist, 1 2 1 nicht dem Grundgesetz. Ebenfalls der einfachgesetzlich in § 1 Nr. 2 AtomG niedergelegte Förderzweck wäre durch das Postulat absoluter Sicherheit obsolet. 122 bb) Probabilistische Risikowertungen aufgrund naturwissenschaftlicher Risikoberechnung (1) Inhalt Eine zweite Möglichkeit der Einteilung von Risiken in die o. a. Kategorien ist die der sog. Probabilistik, d.h., der Risikobewertung anhand von Wahrscheinlichkeitsrechnungen. 123 Probabilistische Aussagen sind Wahrscheinlichkeitsaussagen über die Zuverlässigkeit von Systemen in Abhängigkeit von den Versagensarten und -Verläufen der einzelnen Komponenten. 124 Ziel ist, durch die mathematische Erfassung von Wahrscheinlichkeiten 119 Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVB1. 1978, 829 (834); Blickle, Schutzbereich für Kernenergieanlagen, 1. Dt. ATRS (1972) 61 (62); der VGH Mannheim, NJW 1983, 63 f. hat das Urteil unter Hinweis auf den traditionellen Gefahrenbegriff wieder aufgehoben und wurde hierin durch das BVerwG NZVwR 1986, 208 f. bestätigt; s.a. Wagner, Risiken von Wissenschaft und Technik, NJW 1980, 665 (669) Fn. 31. 120 BVerwG NZVwR 1986, 208 (213/214); Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVB1.1978, 829 (834); Nicklisch, Wechselwirkungen zwischen Technologie und Recht, NJW 1982, 2633 (2635); Siebert, Überlegungen zum Restrisiko, ZfU 1980, 617 (621); Lukes, Risikoanalysen, BB 1978, 317 (319); Wagner, Bedrohen moderne Technologien die Grundrechte?, ZRP 1979, 54 (56); Fischerhof, AtomG, Rn. 5 zu § 1; Straßburg, Juristische Aspekte eines zukünftigen Sicherungssystems, ZRP 1984, 299 (302); Stober, Atomare Entsorgimg, ET 1983, 585 (593); Ossenbühl, Kernenergie im Spiegel des Verfassungsrechts, DÖV 1981,1 (3); Nolte, Rechtliche Anforderungen an die technische Sicherheit von Kernanlagen, S. 37; Hofmann, Entsorgung, S. 330; Winters, Atom- und Strahlenschutzrecht, S. 25. 12 1 BVerfGE 49, 89f.; E 53, 30f. 122 VG Karlsruhe, ET 1978, 609; Degenhart, Kernenergierecht, S. 33; Fischerhof, AtomG, Rn. 5 zu § 1. 123 zur Definition s. Stichwort „Probabilistik" bei Brockhaus, 1956, Band 9; Haedrich, AtomG, in: Deutsches Bundesrecht, I I I E 50, S. 145. 124 Winter / Schäfer, Rezeption naturwissenschaftlicher Voraussagen über technische Systeme, NZVwR 1985, 703 (707); Mathiak / Schütz, Methoden zur technischen Sicherheitsbeurteilung, in: Gefahren I I (Hrsg. Lukes), S. 3 f.

1. Teil: Risikobegriff, vertretene Einordnungsmodelle

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Schwachstellen herauszufinden und zugleich eine rationale Grundlage für die Anlagenbeurteilung zu finden. Kennzeichnend für die Probabilistik ist, daß sie alle überhaupt möglichen, auch die für völlig unwahrscheinlich erachteten Unfälle miteinbezieht. 125 Unbestrittener Vorteil derartiger Berechnungen ist der Eindruck größter Präzision 126 sowie die Möglichkeit, den Sicherheitsgewinn durch Verwendung zusätzlicher Sicherheitsvorkehrungen quantitativ zu erfassen. So hat sich etwa aufgrund der probabilistischen Möglichkeiten nahezu ein Konsens herausgebildet, wonach ein Reaktor ab einer Störfallquote von 10" 6 /Jahr (ein Störfall in 1 Mio. Betriebsjahren) als hinreichend sicher angesehen w i r d . 1 2 7 (2) Aussagekraft Auch die Probabilistik kann aus sich heraus nicht stringent nachweisen, von welcher Wahrscheinlichkeit an ein Risiko - verstanden als Möglichkeit des Schadenseintritts 128 - der Gefahrenabwehr, Risikovorsorge oder dem Restrisiko zuzuordnen ist. 1 2 9 Dies ist vielmehr aufgrund einer externen, wertenden Betrachtimg festzustellen. Diese kann ihre Kriterien nicht aus der probabilistischen Berechnung selbst beziehen und muß daher - weil rational nicht begründbar - willkürlich erscheinen. 130 Vielmehr wird durch eine immer größer werdende Unwahrscheinlichkeit jeweils wieder neu die Frage provoziert, ob nicht auch zur Abwehr dieser letzten Störfallmöglichkeit weitere Schutzvorkehrungen nötig sind. 1 3 1 Die geplante „Nachrüstung" sämtlicher bundesrepublikanischer Atomkraftwerke durch Sicherheitsventile im Druckbehälter 1 3 2 als Reaktion auf die sowjetische Kernschmelzkata125 Nolte , Rechtliche Anforderungen an die technische Sicherheit von Kernanlagen, S. 30, mit Hinweis auf die Ereignisbaum- und Fehlerbaumanalyse als Hilfsmittel der Probabilistik. 126 Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVB1. 1978, 829 (834); die Möglichkeiten der Probabilistik werden insbesondere im Rasmussen-Bericht, der amerikanischen Reaktorsicherheitsstudie, deutlich, s. Nw. 2. Kap. 1. Teil Fn. 94. 127 Schattke, Wechselbeziehungen zwischen Recht, Technik und Wissenschaft, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 100 (114); vgl. auch Degenhart, Technischer Fortschritt und Grundgesetz, DVB1. 1983, 926 (932) Fn. 83. 128 s.o. 2. Kap. 1. Teil A. III. 1. 129 Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVB1.1978, 829 (835); Degenhart, Kernenergierecht, S. 27, mit dem Hinweis darauf, daß sich der Störfall innerhalb der errechneten Wahrscheinlichkeit jederzeit ereignen kann, so auch Hof mann, Entsorgung, S. 329; Winter / Schäfer, Rezeption naturwissenschaftlicher Voraussagen über technische Systeme, NZVwR 1985, 703 (710); Lukes, Risikoanalysen, BB 1978, 317 (320); Roßnagel, Wie dynamisch ist der „dynamische Grundrechtsschutz", NZVwR 1984, 137 (141); ders., Bestandsschutz von Atomkraftwerken, JZ 1986, 716 (718). 130 s. Lukes, Risikoanalysen, BB 1978, 317 (318), der auf die wenigen der Genehmigungsbehörde zur Verfügung stehenden Entscheidungskriterien hinweist. 131 Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVB1. 1978, 829 (835). 132 Diese Sicherheitsventile sollen dazu dienen, den sich nach einer Kernschmelze aufbauenden Überdruck im Reaktorsicherheitsbehälter, der bei Untätigkeit der Betreiber nach ca. 5 Tagen zum Bersten des Behälters und dem Austritt radioaktiver

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2. Kap.: Einordnung der „sozialadäquaten Risiken"

strophe 133 zeigt, daß es immer eine letzte Wahrscheinlichkeit des Störfalls gibt, die noch bekämpft werden kann. Ein Wert probabilistischer Berechnungen liegt sicherlich darin, daß durch sie eine ausdrückliche Aufspaltung des anerkannten Gefahrenbegriffs in dessen beide Komponenten Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß vorgenommen w i r d , 1 3 4 was zur Transparenz einer Genehmigung beiträgt. Die Probabilistik kann jedoch ihrem eigenen Anspruch nach nicht mehr darstellen als ein Hilfsmittel zur Ermittlung „vernünftiger" Wahrscheinlichkeitsurteile. Obwohl Abgrenzungen nach der Wahrscheinlichkeit auch sonst dem Recht geläufig sind, 1 3 5 ist neben der quantitativen Erfassung zusätzlicher Sicherheitsmaßnahmen immer die Parallelwertung nötig, ob diese erreichte Sicherheit den Anforderungen von § 7 I I Nr. 3 AtomG genügt. Jedoch darf der praktische Wert probabilistischer Wahrscheinlichkeitsanalysen nicht unterschätzt werden. Ebenfalls eine normative Wertung beruht letztlich auf Wahrscheinlichkeitsurteilen, die - auch ohne gesetzliche Erwähnimg - jederzeit im Rahmen des Genehmigungsverfahrens berücksichtigt werden können und werden. 1 3 6 Diese Wahrscheinlichkeitsurteile und ihre Offenlegung sind wichtig für die Rationalität der Entscheidungsfindung, weil sonst der Sachverständige die Risikoquantifizierung dem Gericht nicht mehr mitteilt und damit selbst entscheidet, wann ein Risiko als hinreichend ausgeschlossen angesehen werden muß. Damit aber würde der Sachverständige die vom Gericht zu beurteilende Frage nach dem hinzunehmenden Risiko selbst beantworten. 137 Festzuhalten bleibt daher, daß der qualitative Sprung von der sehr geringen, aber beachtlichen Eintrittswahrscheinlichkeit zur noch geringeren, aber unbeachtlichen Eintrittswahrscheinlichkeit von der Probabilistik allein nicht beurteilt werden kann. 1 3 8 Hier ist vielmehr eine ergänzende, wertende Betrachtung nötig.

Stoffe führt, kontrolliert und womöglich strahlengefiltert abzulassen, vgl. Rengeling, Reaktorsicherheit, DVB1. 1988, 257 f. 133 s. FAZ v. 25.8.1986, S. 2; Der Spiegel, 25.8.1986, S. 19. 134 Lukes, Risikoanalysen, BB 1978, 317 (320). 135 Rauschning, Staatsaufgabe Umweltschutz, W D S t R L 38 (1980) 167 (192); Thieme, Zulässigkeit von Umweltschutzklagen, NJW 1976, 705 (706) w i l l die Zulässigkeit von Klagen von Wahrscheinlichkeitsurteilen abhängig machen. 136 Lukes, Risikoanalysen, BB 1978, 317 (320); Die Rückführung jeder wertenden Betrachtung auf die Probabilistik betont auch Roßnagel, Wie dynamisch ist der „dynamische Grundrechtsschutz"?, NZVwR 1984, 137 (140); ders., Bestandsschutz von Atomkraftwerken, JZ 1986, 716 (718); Lerche, Kernkraft und rechtlicher Wandel, S. 16 Fn. 28. 137 Neil, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S. 179. 138 Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVB1. 1978, 829 (835); vgl. Birkenstock / Gabriel, Technische Regeln und Richtlinien, 3. Dt. ATRS (1974) 117 (125).

1. Teil: Risikobegriff, vertretene Einordnungsmodelle

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cc) Deterministische Risikoabschichtung Die deterministische Methode unterscheidet sich von der probabilistischen grundlegend durch den notwendigen Einbezug von Wertungen. Unter Zugrundelegung von Wahrscheinlichkeitsaussagen untersucht sie, gegen welche überhaupt denkbaren Ereignisse Vorkehrungen getroffen werden müssen. 139 Anders als bei der Probabilistik werden somit nicht alle überhaupt denkbaren Störfälle in die Betrachtung einbezogen, die Bewertung beschränkt sich vielmehr von vornherein auf die als relevant erkannten Notsituationen. Eine herausragende Stellung nimmt hier der „Größte anzunehmende Unfall" (GaU) ein, gegen den ein Atomkraftwerk so gesichert sein muß, daß die Unfallfolgen beherrscht und insbesondere ein Entweichen von größeren Radioaktivitätsmengen verhindert werden kann. 1 4 0 Zusätzlich zum GaU, der etwa durch den Bruch der Hauptkühlmittelleitung beim Leichtwasserreaktor hervorgerufen werden kann, werden weitere, in ihrem Umfang geringere sog. „Auslegungsstörfälle" definiert, gegen die gleichfalls Vorkehrungen zu treffen sind. 1 4 1 Kennzeichnend für die deterministische Methode ist die Unterscheidung zwischen diesen Auslegungsstörfällen und sonstigen Störfällen, gegen die mit geringerem oder keinem Aufwand Vorkehrungen zu treffen sind. Innerhalb der deterministischen Methode sind demnach hauptsächlich zwei Wertungen vorzunehmen: Zum einen muß entschieden werden, gegen welche Störfälle Vorkehrungen getroffen werden sollen. Im Anschluß daran stellt sich die Frage, wie diese Vorkehrungen technisch auszusehen haben. Diese Wertungen benötigen einen Maßstab für die Entscheidungsfindung. Er liegt in Form des „Maßstabs praktischer Vernunft" vor. (1) Maßstab „praktischer Vernunft" (aa) Inhalt, Ursprung Anstatt die Einschätzung der Techniker (sog. engineering judgement) für die Beurteilung von Gefahrenquellen heranzuziehen, hat das Bundesverfassungsgericht 142 in weitgehender Rezeption der Vorarbeiten Breuers 143 einen sog. „Maßstab praktischer Vernunft" aufgestellt. Hiernach lassen die §§ 1 139

S. 28.

Nolte , Rechtliche Anforderungen an die technische Sicherheit von Kernanlagen,

140 Baumann, Grundrechtsvorbehalt der „sozialadäquaten technisch-zivilisatorischen Risiken" im Atomrecht, JZ 1982, 749 (750); Roßnagel, Bestandsschutz von" Atomkraftwerken, JZ 1986, 716 (717). 141 Smidt, Die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden, 6. Dt. ATRS (1979) 39 (41); Bochmann, Gefahrenabwehr und Schadensvorsorge, 7. Dt. ATRS (1983) 17 (25). i « BVerfGE 49, 89 (143); E 53, 30 (59). ι « Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVB1. 1978, 829 (835).

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2. Kap.: Einordnung der „sozialadäquaten Risiken"

N r . 2, 7 I I N r . 3 A t o m G eine G e n e h m i g u n g n u r d a n n zu, w e n n es n a c h d e m S t a n d v o n Wissenschaft u n d T e c h n i k „ p r a k t i s c h " ausgeschlossen ist, daß ein Schadensereignis e i n t r i t t . Dieser Maßstab, der u n m i t t e l b a r an die deterministische Risikoabschichtungsmethode a n k n ü p f t , 1 4 4 ist v o n der w e i t ü b e r wiegenden R e c h t s p r e c h i m g 1 4 5 u n d L i t e r a t u r 1 4 6 ü b e r n o m m e n worden. I n i h m w i r d angesichts der theoretisch u n e n d l i c h e n M ö g l i c h k e i t e n der R i s i k o bekämpfung ein Korrektiv i n Form von „sachlichen" u n d „vernünftigen" Maßstäben gesehen. I n h a l t l i c h fordert der „ M a ß s t a b p r a k t i s c h e r V e r n u n f t " gerade n i c h t den absoluten Schadensausschluß. Es genügt v i e l m e h r , daß n a c h d e m E r k e n n t n i s s t a n d der Wissenschaftler u n d T e c h n i k e r u n t e r E i n b e zug menschlichen Ermessens der Schadensfall als p r a k t i s c h ausgeschlossen erscheint. Diese „ p r a k t i s c h e V e r n u n f t " deren sprachliche A b l e i t u n g u n k l a r i s t , 1 4 7 strebt i m Gegensatz z u r theoretischen V e r n u n f t n i c h t bloße E r k e n n t nis v o n Ideen an, sondern w i l l H a n d l u n g s o r i e n t i e r u n g e n liefern. Ü b e r t r a g e n i n das technische Sicherheitsrecht, stellen insbesondere die Forderungen n a c h Redundanz u n d D i v e r s i t ä t der n o t w e n d i g e n Sicherungssysteme derartige H a n d l u n g s o r i e n t i e r u n g e n dar. U n t e r Redundanz ist die Ü b e r f ü l l e m e h rerer zuverlässiger u n d voneinander unabhängiger Sicherheitssysteme 1 4 8 z u 144

Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVB1. 1978, 829 (835); Nolte, Rechtliche Anforderungen an die Sicherheit von Kernanlagen, S. 62. BVerwGE 61, 256 (263); OVG Lüneburg, DVB1. 1979, 686 (687); DVB1. 1982, 32 (33); BayVGH DVB1. 1979, 673 (675); VGH Ba.-Wü, DVB1. 1976, 538 (544); s. bereits OVG Münster ET 1975, 220 (230). 146 Benda, Technische Risiken und Grundgesetz, S. 7; Kramer / Zerlett, StrahlenschutzVO, S. 27; Fiedler, Anm. zur Kalkar-Entscheidung, JZ 1979, 184f.; Siebert, Überlegungen zum Restrisiko, ZfU 1980, 617 (620); Jakobs, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 197 f.; Kramer, Die nach dem Atomgesetz erforderliche Schadens Vorsorge, NJW 1981, 260f.; Hoppe, Staatsaufgabe Umweltschutz, W D S t R L 38 (1980) 211 (308); Marburger, Verhältnismäßigkeit, 7. Dt. ATRS (1983) 45 (61); Ossenbühl, Kernenergie im Spiegel des Verfassungsrechts, DÖV 1981, 1 (3); ders., Vorsorge als Rechtsprinzip, NZVwR 1986, 161 (163); Schattke, Wechselbeziehungen zwischen Recht, Technik und Wissenschaft, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 100 (114) Fn. 132; Ipsen, Genehmigung technischer Großanlagen, AöR 107 (1982) 259 (261); Stober, Atomare Entsorgung, ET 1983, 585 (593); Wagner, Risiken von Wissenschaft und Technik, NJW 1980, 665 (672); Wagner / Ziegler / Closs, Risikoaspekte der nuklearen Entsorgung, S. 167; Winter / Schäfer, Rezeption naturwissenschaftlicher Voraussagen über technische Systeme, NZVwR 1985, 703 (704). 147 Zur sprachlichen Herkunft dieses Begriffs, der auch im Zusammenhang mit der Gesetzgebung verwandt wird (Dobiey, Politische Planung als verfassungsrechtliches Problem, S. 63), vgl. Bender, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, NJW 1979, 1425 (1428) Fn. 14; Kramer, Die nach dem Atomgesetz erforderliche Schadensvorsorge, NJW 1981, 260 (261): „Herkunft dunkel", der seinerseits die Formel aus einer Abwägung der Grundrechte betroffener Bürger mit denen des Antragstellers ableitet, S. 262 („praktische Konkordanz"); Nolte, Rechtliche Anforderungen an die technische Sicherheit von Kernanlagen, S. 64; de Witt, Genehmigung von Atomanlagen, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 138 (149); Henseler, Verfassungsrechtliche Aspekte zukunftsbelastender Parlamentsentscheidungen, AöR 108 (1983) 489 (542); Renneberg, „Stand der Wissenschaft" und die „SchadensVorsorge" i m atomrechtlichen Genehmigungsverfahren", ZRP 1986,161 (162). 148 Vgl. die „Sicherheitskriterien für Kernkraftwerke" des B M I vom 21.10.1977, BAnz 1977 Nr. 206; Degenhart, Kernenergierecht, S. 20 (Fn. 78) und 27; Hensener /

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verstehen, welche ihrerseits dem Stand von Wissenschaft und Technik entsprechen müssen. Bei Ausfall eines der Sicherungssysteme kann dann automatisch das zweite, dritte oder vierte Ersatzsystem die Funktion des ersten übernehmen. Sicherheitstechnisch ergänzt w i r d das System der Redundanz durch das Prinzip der Diversität, welches der Gefahr gleichzeitigen Versagens identischer Sicherheitssysteme dadurch vorbeugen soll, daß die verschiedenen redundanten Sicherheitssysteme nach unterschiedlichen Konstruktionsprinzipien gebaut werden. 149 (bb) Unterschiedliche Anwendung des „Maßstabs praktischer Vernunft" durch das Bundesverfassungsgericht und Breuer Trotz ausdrücklicher Bezugnahme des Bundesverfassungsgerichts 150 auf die Vorarbeiten Breuers 151 finden sich dogmatische Unterschiede hinsichtlich der zu trennenden Bereiche, zwischen denen der „Maßstab praktischer Vernunft" als Unterscheidungskriterium wirken soll. Breuer geht von der o.a. Dreiteilung von Gefahrenabwehr, Risikovorsorge und Restrisiko aus. Hierbei verwendet er den „Maßstab praktischer Vernunft" zur Abschichtung der Gefahrenabwehr von der Risikovorsorge. Jedoch nimmt er im Gegensatz zum Bundesverfassungsgericht eine weitere Trennung zwischen Risikovorsorge und Restrisiko dadurch vor, daß er den Anlagenbetreiber auch unterhalb des Maßstabs praktischer Vernunft, aber im Rahmen des technisch machbaren und zumutbaren, zu weiteren Maßnahmen der Risikovorsorge verpflichtet. 152 Ein weiterer Unterschied liegt in der Bezugnahme Breuers auf die „führenden" Naturwissenschaftler und Techniker 153 zur Ermittlung des „Stands von Wissenschaft und Technik", während das Bundesverfassungsgericht den Begriff der Wissenschaftler und Techniker allgemein verwendet. 154 Letztlich wendet Breuer im Unterschied zum Bundesverfassungsgericht den „Maßstab praktischer Vernunft" auch auf anlagenHüper, Schnelle Brutreaktoren, in: Perspektiven der Kernenergie (Hrsg. Kernforschungsanlage Jülich), S. 21 (28); Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVB1. 1978, 829 (835). 149 Vgl. Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke, S. 42; Hensener / Hüper, Schnelle Brutreaktoren, in: Perspektiven der Kernenergie (Hrsg. Kernforschungsanlage Jülich), S. 21 (28). 150 BVerfGE 49, 89 (143). 151 Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVB1. 1978, 829 (829f.). 1 52 Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVB1. 1978, 829 (836); s. Kramer, Die nach dem Atomgesetz erforderliche Schadensvorsorge, NJW 1981, 260 (261); s. hierzu ausf. unten 2. Kap. 1. Teil A. III. 3. c). 153 Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVB1. 1978, 837, 838. 1 54 BVerfGE 49, 89 (136f.); s. hierzu Fiedler, Beurteilungsspielraum „aus Sachnähe", ET 1982, 580 (584); Wagner, Risiken von Wissenschaft und Technik, NJW 1980, 665 (667); Roßnagel, Grundrechte und Kernkraftwerke, S. 31; Breuer, Rezeption technischer Regeln, AöR 101 (1976) 46 (67); Sommer, Praktische Vernunft beim kritischen Reaktor, DÖV 1981, 654 (656); s. auch die Nw. 2. Kap. 1. Teil Fn. 34.

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2. Kap.: Einordnung der „sozialadäquaten Risiken"

externe Gefahren wie Kriegsgefahr, Sabotage- und Terrorakte oder Erdbeben an. 1 5 5 Diese Ausweitung schränkt er jedoch insofern wieder ein, als diese Risiken nur bei rationaler Erfaßbarkeit zu berücksichtigen seien, ansonsten aber außerhalb des atomgesetzlichen Schutzzwecks blieben. 156 Bei Anwendung des „Maßstabs praktischer Vernunft" in seiner extensiven Fassung 157 verbleiben demnach folgende Arten des Restrisikos 158 : - Das Risiko kriegerischer Einwirkungen auf Atomkraftwerke sowie sonstige unberechenbare Einwirkungen von außen. - Das Risiko, daß sich eine Gefahrenvermutung bewahrheitet. - Das Risiko, daß die Gefahrenabwehr (und gegebenenfalls die Risikovorsorge) infolge von Fehlern in der statistischen Bewertung, aufgrund unzureichender Erfahrung oder menschlichen Versagens die Erwartungen nicht erfüllt. - Fehler der zugrundeliegenden Sicherheitsanalysen in der Weise, daß die Fülle konkurrierender Gefahrenquellen nicht erfaßt wird. (cc) Kritik

am „Maßstab praktischer Vernunft";

Stellungnahme

Der „Maßstab praktischer Vernunft" des Bundesverfassungsgerichts ist nicht unangefochten. Hauptargument gegen diese Formel ist der Vorwurf mangelnder Rationalität. Es ließe sich nicht nachvollziehbar begründen, ob eine Gefahr bei einer Störfallwahrscheinlichkeit von 10- 6 /Jahr oder 10~7/ Jahr beginne. 159 Von welcher Redundanz der Sicherheitsvorkehrungen ab 155 Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVB1. 1978, 829 (836); vgl. Mutschier, Auslegungsschutz, in: 1. Dt. ATRS (1972) 95f. 156 Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVB1. 1978, 829 (836); kriegerische Einwirkungen liegen nach h. M. außerhalb des atomgesetzlichen Schutzzwecks, s. VGH Ba.-Wü., DVB1. 1976, 538 (544); VG Würzburg, NJW 1977, 1649 (1653); Winters, Zur Entwicklung des Atom- und Strahlenschutzrechts, DÖV 1978, 265 (272); Lukes / Backherms, Berücksichtigimg von Kriegseinwirkungen, AöR 103 (1978) 334 (345f.); a.A.: OVG Rheinland-Pfalz, GewArch 1977,133 (138). 157 Nach Auffassung des BVerfG wäre der erste Punkt (Kriegsgefahr etc.) abzuziehen. 158 Hofmann, Entsorgung, S. 339; zur Rolle der Risikoeinteilung und -bewertung in der DDR siehe Pflügner / Seidel, Risiko, S. 16 mwN, welche das Restrisiko i n die Untergruppen a) vom Menschen unabhängige Ereignisse (z.B. Naturgewalten), b) subjektive Fehler (menschliches Versagen), c) objektive Fehler (z.B. technisches Versagen) einteilen. 159 Roßnagel, Wie dynamisch ist der „dynamische Grundrechtsschutz", NZVwR 1984, 137 (141); Benda, Technische Risiken und Grundgesetz, S. 7; Nolte, Rechtliche Anforderungen an die technische Sicherheit von Kernanlagen, S. 65, 67; de Witt, Genehmigung von Atomanlagen, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 138 (149): „ideologischer Begriff, der in besonderer Weise geeignet ist, die Tatsachen zu verschleiern"; Schattke, Wechselbeziehungen zwischen Recht, Technik und Wissenschaft, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 100 (114); Renneberg, „Stand der Wissenschaft" und die „Schadensvorsorge" im atomrechtlichen Genehmigungsver-

1. Teil: Risikobegriff, vertretene Einordnungsmodelle

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die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Schadens als genügend gering anzusehen sei, könne nur theoretisch betrachtet werden und hänge von zahlreichen subjektiven Komponenten des Beurteilenden ab. 1 6 0 Gerade angesichts der Willkürlichkeit einer gefundenen Grenze sei die Aussage über die Akzeptanz eines Risikos eine an Nutzungserwägungen orientierte politische Entscheidung, die in Form eines Gesetzes getroffen werden sollte. 1 6 1 Auch schweige der Kalkar-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts darüber, wessen und vor allen Dingen, welche Vernunftsgründe berücksichtigt werden sollen. 162 Der Rekurs auf die praktische Vernunft Kants, die ein Handeln vorschreibt, welches auch einer allgemeinen Gesetzgebung als Grundlage dienen könne, 163 w i r d abgelehnt. Das unstreitige Fehlen inhaltlicher Vorgaben zur Ausfüllung dieser Formel sei im Kernenergierecht um so gravierender, als es sich hier um eine relativ neue Konfliktsituation handele, bei der es an einer gemeinsamen Grundüberzeugung fehle. Die Bezugnahme auf die „für alle geltenden Gesetze" müsse daher letztlich einer Abhängigkeit vom individuellen Wertmaßstab weichen. 164 Im übrigen seien auch völlig unvorhersehbare Risiken existent. Ein Maßstab, der sie wegen ihrer Unvorhersehbarkeit als vernachlässigbar behandelt, vernachlässige dabei einen Teilbereich menschlicher Erfahrung und könne daher nicht die Vernunft als Geltungsgrund anführen. 165 Hof mann führt zur Stützung dieser Aussage fahren, ZRP 1986, 161 (162); Winkler-v. Mohrenfels, Errichtung und Betrieb von Kernkraftwerken, ZRP 1980, 86 (87). 160 Nolte, Rechtliche Anforderungen an die technische Sicherheit von Kernanlagen, S. 67; Bender, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, NJW 1979, 1425 (1428) Fn. 14: „Leerformel". 161 Roßnagel, Wie dynamisch ist der „dynamische Grundrechtsschutz?" NZVwR 1984,137 (141) mit dem Hinweis auf die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer derartigen Bestimmimg; Marburger, Regeln der Technik im Recht, S. 121, 126, 142, 172; s. auch Ossenbühl, Bewertung technischer Risiken, DÖV 1982, 833 (838). 162 Roth-Stielow, Grundrechtsschutz beim Betrieb von Kernkraftwerken, EuGRZ 1980, 386 (388) Fn. 21b; Sommer, Praktische Vernunft beim kritischen Reaktor, DÖV 1981, 654 (655); kritisch ferner de Witt, Genehmigung von Atomanlagen, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 138 (154), wonach die Formel „praktischer Vernunft" dem „strategischen" Ziel diene, die Rechtsprechung unmittelbar an Regelwerke der Exekutive zu binden. Da dies über eine Verweisung nicht möglich sei, würde der Begriff der „praktischen Vernunft" verwandt, der bevorzugt von Praktikern ausgelegt werde. 163 I. Kant, K r i t i k der praktischen Vernunft, S. 39; vgl. dazu Kriele, Recht und praktische Vernunft, S. 29; Huber, Maßnahmegesetz, S. 133 f. 164 Sommer, Praktische Vernunft beim kritischen Reaktor, DÖV 1981, 654 (657); Nolte, Rechtliche Anforderungen an die technische Sicherheit von Kernanlagen, S. 65; Hofmann, Entsorgung, S. 343; die Abhängigkeit vom Grundkonsens aus soziologischer Sicht beschreiben Conrad / Krebsbach-Gnath, ZfU 1980, 824 (829): „Was als Risiko angesehen wird, ist eine Frage von Werten, Übereinstimmung über Werte setzt gesellschaftlichen Konsens voraus". 165 Sommer, Praktische Vernunft beim kritischen Reaktor, DÖV 1981, 654 (660), der den möglichen Anwendungsbereich des Maßstabs praktischer Vernunft ohnehin auf manuell gesteuerte, nicht-automatisierte Anlagenteile begrenzt, da lediglich hier der menschliche Intellekt als eine von sittlicher Verantwortung geprägte Instanz eingreifen könne, S. 658; Mayer-Tasch, Atomkraft- und sie bedroht uns doch, ZRP 1979, 59 (60).

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den Beinahe-Unfall von Harrisburgh/USA an, den er als Realisierung des „praktisch ausgeschlossenen" Restrisikos bezeichnet. 166 Die geäußerte K r i t i k am „Maßstab praktischer Vernunft" vermag nicht zu überzeugen. Der Hauptvorwurf mangelnder rationaler Begründbarkeit der Gefahrenschwelle ist zwar zutreffend, kann die Dogmatik des Bundesverfassungsgerichts jedoch nicht widerlegen. Er verkennt, daß bei grundsätzlicher Anerkennung der deterministischen Vorgehensweise an irgendeiner Stelle ein wertender Grenzstrich gezogen werden muß. Hierbei ist sicherlich zuzugeben, daß es keine zwingenden Gründe für eine Gefahrengrenze gerade bei einer Unfallhäufigkeit von IO -6 /Jahr gibt. Sie kann je nach Sensibilität der öffentlichen und/oder Expertenmeinung darunter oder darüber liegen. Durch diese Art von Beliebigkeit kann der „Maßstab praktischer Vernunft" jedoch nicht widerlegt werden. Geht man sowohl von der Unzulässigkeit einer Forderung nach „absoluter" Sicherheit als auch von der Unzulänglichkeit probabilistischer Methoden aus, muß eine Wertung vorgenommen werden, die, in der Natur der Sache liegend, so oder anders ausfallen mag. In Anerkennimg dieser Notwendigkeit ist ein Rekurs auf die verfahrensleitende „praktische Vernunft" mit Sicherheit nicht die schlechteste Lösung. Die Formel drückt den Zwang zu einem fairen, gründlichen und umfassenden, eben vernünftigen, Erkenntnisverfahren aus, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Eine sicherlich unzulässige Form der Argumentation stellt die plakative Bezeichnung des Beinahe-Unfalls von Harrisburgh als „Realisierung des Restrisikos" dar. Hierdurch w i r d der vorauszusetzende Boden gemeinsamer Akzeptanz des Restrisikos überhaupt verlassen, da die selbstverständlich gegebene Möglichkeit der Risikorealisierung als Gegenargument für eine Erkenntnismethode mißbraucht wird. Sollte dieses Argument ernst genommen werden, wäre die Suche nach einem Verfahren der kompromißlosen Gefahrenbekämpfung bei gleichzeitiger Akzeptanz der Kernenergie überhaupt überflüssig. Es wären konsequenterweise die Restrisiken, und damit die Atomkraftwerke, vollends zu eliminieren. (2) Trennung „erkannter" und „nicht erkannter" Risiken (aa) Inhalt Bender 167 vertritt einen einheitlichen tatbestandlichen Gefahrenbegriff, indem er die Schadensvorsorge als Oberbegriff für Gefahrenabwehr und Risikovorsorge verwendet. Die von § 1 Nr. 2, 7 I I Nr. 3 AtomG gebotene Gefahrenabwehr bezieht er dabei auf Risiken mit erkannter Gefahrenquali166 167

Hofmann, Entsorgung, S. 345. Bender, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, NJW 1979, 1425 (1426).

1. Teil: Risikobegriff, vertretene Einordnungsmodelle

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tät, wohingegen er Risiken mit nicht erkannter Gefahrenqualität dem Bereich Risikovorsorge/Restrisiko zuordnet, je nachdem, ob zusätzliche Schutzmaßnahmen erforderlich sind oder nicht. 1 6 8 Unter Risiken mit erkannter Gefahrenqualität versteht er solche Risiken, bei denen zwischen einem bestimmten, in Betracht zu ziehendem Störfallereignis und einer bestimmten Schadensfolge ein konkreter Bedingungszusammenhang gegeben ist. 1 6 9 Hiernach sind etwa die Gefahren eines Flugzeugabsturzes auf ein Kernkraftwerk der Gefahrenabwehr zuzurechnen, da zwischen einem solchen Ereignis und der vorhersehbaren Schadensfolge ein erkennbarer Wirkungszusammenhang besteht. Auch bei extrem geringer Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines solchen Geschehens könne eine derartige Gefahr nicht über den „Maßstab praktischer Vernunft" abgeschichtet werden, hier habe der Förderzweck des Atomgesetzes vollständig hinter dem Schutzzweck zurückzustehen. 170 Jedoch läßt Bender ein wertendes Element insofern zu, als bei sehr geringer Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines „erkannten" Schadens das Postulat zwingender Abdeckung auch dessen Verursachungsmöglichkeiten nicht gilt. Vielmehr läßt Bender bei kaum noch zu steigernder Sicherheit und ohnehin vernachlässigbar kleinem Risiko aufgrund des verfassungsrechtlichen Übermaßverbots eine Hinnahme dieses „Restrisikos" im Bereich der Risiken mit erkannter Gefahrenqualität zu. 1 7 1 Risiken ohne erkannte Gefahrenqualität sind solche, bei denen wegen des lückenhaften Erkenntnisstands noch nicht bekannt ist oder wegen der Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens nicht erkannt werden kann, ob ein hypothetisch „postulierbarer" Störfallablauf mit Schadensfolge objektiv möglich ist, bei dem aber theoretisch die Möglichkeit eines zu einem Schaden führenden Kausalzusammenhangs nicht ausgeschlossen werden kann. 1 7 2 In diesem Bereich des Risikos ohne erkannte Gefahrenqualität sieht er Raum für den Förderzweck des Atomgesetzes, der eine Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gestatte. 173 Das Restrisiko setze sich demgegenüber aus der Summe der Risiken „ohne erkannte Gefahrenqualität" zusammen, gegen die eine weitere Risikovorsorge, sei es aus dem Übermaßverbot oder aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz heraus, nicht geboten sei. 174 168 Bender, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge NJW 1979, 1425 (1426); ders., Nukleartechnische Risiken als Rechtsfrage, DÖV 1980, 633 (634ff.). 169 Bender, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, NJW 1979,1425 (1426). 170 Bender, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, NJW 1979, 1425 (1429), mit dem Hinweis darauf, daß technische Machbarkeit und erst recht Wirtschaftlichkeit im Bereich der Risiken mit erkannter Gefahrenqualität keine Rolle spielen dürfen, s. a. ders., Nukleartechnische Risiken als Rechtsfrage, DÖV 1980, 633 (635). 171 Bender, Nukleartechnische Risiken als Rechtsfrage, DÖV 1980, 633 (635) Fn. 11, 14. 172 Bender, Gefahrenabwehr und Risiko Vorsorge, NJW 1979, 1425 (1429). 173 Bender, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, NJW 1979, 1425 (1430); ders., Nukleartechnische Risiken als Rechtsfrage, DÖV 1980, 633 (636).

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Eine Kontroverse besteht darüber, inwieweit das Bundesverfassungsgericht im Kalkar-Beschluß sich ausschließlich auf die Grenzziehung Breuers anhand des Maßstabs „praktischer Vernunft" stützt oder auch die Trennung Benders nach erkannten/nicht erkannten Gefahren vorgenommen hat. Bender 1 7 5 sowie Roth-Stielow 1 7 6 wenden sich gegen eine vollständige Rezeption der Auffassimg Breuers durch das Bundesverfassungsgericht. Sie interpretieren den Kalkar-Beschluß vielmehr so, daß der „Maßstab praktischer Vernunft" nur für die Risiken ohne erkannte Gefahrenqualität gelte, auf die Risiken mit erkannter Gefahrenqualität hingegen nicht anwendbar sei. Daher habe auch das Bundesverfassungsgericht eine Trennung von Gefahrenabwehr und Risikovorsorge anhand Benders Vorschlag der Unterscheidung erkannter/nicht erkannter Gefahren vorgenommen. Hierbei beruft sich Bender auf die Formulierimg des Bundesverfassungsgerichts „Ungewißheiten jenseits der Schwelle praktischer Vernunft haben ihre Ursache in den Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens". 177 Die wiederholte Betonung der „Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens" sei ein gewichtiges Indiz für die von ihm, Bender, vertretene Auffassung. 178 Angesichts der ausdrücklichen Bezugnahme des Bundesverfassungsgerichts 179 auf Breuer überzeugt diese Interpretation des Kalkar-Beschlusses jedoch nicht. 1 8 0 Der „Maßstab praktischer Vernunft" wird vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich als Abschichtungs- und nicht als Erklärungsmodell der Risikovorsorge und des Restrisikos verwandt. Eine Bezugnahme dieses „Filters" auf die Leistungsfähigkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens findet gerade nicht statt. Erst die aufgrund dieses Maßstabs abgeschichteten Risiken werden - insofern mißverständlich - als jenseits der Grenze menschlichen Erkenntnisvermögens liegend angesiedelt, dieser Maßstab wiederum erklärt die Restrisiken, schichtet sie jedoch nicht ab. Daher ist von einer ausschließlichen Trennung von Gefahrenabwehr und Risikovorsorge/Restrisiken des Bundesverfassungsgerichts anhand des „Maßstabs praktischer Vernunft" auszugehen. Demnach können auch erkannte Risiken wie technisches Versagen Gegenstand des Restrisikos sein.

174

Bender, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, NJW 1979, 1425 (1430). Bender, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, NJW 1979, 1425 (1428). 176 Roth-Stielow, Grundrechtsschutz beim Betrieb von Kernkraftwerken, EuGRZ 1980, 386 (389). 1 77 BVerfGE 49, 89 (143). 178 Bender, Gefahrenabwehr und Risiko Vorsorge, NJW 1979, 1425 (1428). «» BVerfGE 49, 89 (143). 180 So auch Haedrich, AtomG, in: Deutsches Bundesrecht, I I I E 50, S. 82 (Rn. 13); Nolte, Rechtliche Anforderungen an die technische Sicherheit von Kernanlagen, S. 64; Wagner, Risiken von Wissenschaft und Technik, NJW 1980, 665 (669); Breuer, Umweltschutzrecht, in: v. Münch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, S. 658. 175

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(bb) Kritik Benders Risikoabschichtungsmethode ist insbesondere von Wagner 1 8 1 und Smidt 1 8 2 kritisiert worden. Wagner, der eine konsequente und ausschließliche Verwendung der „je - desto "-Formel vorschlägt und die Unterscheidung zwischen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge für überflüssig hält, vermißt bei Bender eine überzeugende Begründung für die Trennung von Risiken mit erkannter Gefahrenqualität von solchen ohne erkannte Gefahrenqualität. 1 8 3 Vielmehr würde eine Verpflichtung zur Ausschaltung jeden erkannten Risikos dazu führen, daß die auf Sicherheitsgewinn bedachte naturwissenschaftlich-technische Sicherheitsforschung sich durch ihren zunehmenden Erkenntnisgewinn selbst „bestrafen" würde, da gleichsam „automatisch" die Pflicht zu dementsprechenden Sicherungsmaßnahmen nachfolge. 184 I m übrigen widerspräche eine Pflicht zur Abschaffung jedes erkannten Risikos der Erkenntnis, daß es gerade kein „Grundrecht auf ein risikofreies Leben" gibt. Auch würde hierdurch das paradoxe Ergebnis ermöglicht, daß bei Reaktoren mit am wenigsten bekanntem Sicherheitsrisiko die wenigsten Vorbereitungen getroffen werden müßten. 185 Gerade angesichts der etwa im Rasmussen-Bericht festgestellten Wirkungszusammenhänge seien praktisch alle Risiken erkannt, dies käme bei Befolgung Benders Auffassung einem totalen Risikoausschluß gleich. Demgegenüber bevorzugt Wagner eine strikte Trennung von Gefahr und Risiko, welche aufgrund einer am Gesetzeszweck orientierten Rechtsgüterabwägung, 186 dem Grundsatz der Ausgewogenheit und der Verhältnismäßigkeit sowie der vergleichenden Risikobetrachtung 187 zu erfolgen habe. Diese K r i t i k beruht maßgeblich auf einem Mißverständnis der Aussagen Benders. Dieser fordert gerade keinen absoluten Ausschluß aller Risiken mit erkannter Gefahrenqualität, unabhängig von der sonstigen Schwere des Risikos. Vielmehr nimmt er auch im Bereich der Risiken mit erkannter Gefahrenqualität eine Multiplikation von Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensumfang vor, deren Ergebnis er wertend betrachtet. Zwar sind bei Risiken mit erkannter Gefahrenqualität grundsätzlich Maßnahmen der 181

Wagner, Risiken von Wissenschaft und Technik, NJW 1980, 665 f. Smidt, Vorsorge gegen Schäden, in: 6. Dt. ATRS (1979) 39 (47). 183 Wagner, Risiken von Wissenschaft und Technik, NJW 1980, 665 (668). 184 Wagner, Risiken von Wissenschaft und Technik, NJW 1980, 665 (669): „da der Erkenntnisprozeß unendlich fortgesetzt werden kann, würde man nie das Ziel einer ausreichenden Schadens Vorsorge erreichen". iss Wagner, Risiken von Wissenschaft und Technik, NJW 1980, 665 f., mit dem Hinweis auf den in anderen technischen Bereichen hingenommenen Risikorest. 186 In der Wagner den Förderungszweck und den Forschungsförderungsgedanken einbringt, Risiken von Wissenschaft und Technik, NJW 1980, 665 (670). 187 Mit dem Hinweis auf die Nützlichkeit quantitativer Risikoanalysen, s. Risiken von Wissenschaft und Technik, NJW 1980, 665 (671). 182

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Gefahrenabwehr zu treffen, eine Ausnahme besteht jedoch in den Fällen kaum mehr zu erhöhender Sicherheit bzw. vernachlässigbaren Produktes aus Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß.188 Hier w i r d also das als „gefährlich" bezeichnete - weil erkannte - Risiko über die Produktformel doch wieder relativiert. Insofern handelt es sich bei Benders Vorschlag um eine Art Vermutungsregelung, welche deshalb nicht zwangsläufig die von Wagner befürchteten Konsequenzen nach sich ziehen muß. c) Konkrete Umsetzung der Einteilung Gefahrenabwehr, Risikovorsorge und Restrisiko im Genehmigungsverfahren Die obigen Ausführungen haben gezeigt, daß eine mit allen Mitteln abzuwehrende Gefahr nur vorliegt, wenn der Eintritt eines Schadens möglich und hinreichend wahrscheinlich ist. Dieser Grundsatz findet Anwendung sowohl im Normalbetrieb als auch hinsichtlich eines Störfalls. Der bloße Gefahrenverdacht, bei dem die Möglichkeit eines Schadenseintritts zwar theoretisch denkbar, aber nicht erwiesen ist, wird ebensowenig erfaßt wie solche Konstellationen, in denen die Möglichkeit eines Schadens als solche feststeht, die Wahrscheinlichkeit ihrer Realisierung jedoch nicht hinreicht. 1 8 9 Die Einteilung aller denkbaren Risiken in die drei Kategorien Gefahrenabwehr, Risikovorsorge und Restrisiko gibt nur Sinn, wenn zusätzlich zur Abgrenzung Gefahrenabwehr/Risikovorsorge auch ein sicherheitsrechtlicher Unterschied zwischen der Risikovorsorge und dem Restrisiko besteht. Diese Frage ist identisch mit der diskutierten Problematik, ob jenseits des „Maßstabs praktischer Vernunft" eine zusätzliche tatbestandliche Pflicht zur Risikovorsorge besteht, welche demzufolge das Restrisiko auch im „praktisch unvernünftigen" Bereich noch weiter reduziert. Bei Verneinimg einer solchen Pflicht sähe die Alternative derart aus, daß der Betreiber einer kerntechnischen Anlage direkt bis an die Gefahrengrenze herangehen dürfte. Die wohl herrschende Meinung in Rechtsprechung 190 und Literatur 1 9 1 hat sich dafür entschieden, der gebotenen Gefahrenabwehr eine zusätzliche 188 Dies wird bei Bender, Nukleartechnische Risiken als Rechtsfrage, DÖV 1980, 633 (635) Fn. 11, 14 klargestellt. 189 Nolte, Rechtliche Anforderungen an die technische Sicherheit von Kernanlagen, S. 49, 50. 190 BVerwG NZVwR 1986, 208 (212) - Whyl - ; BVerwG NJW 1981, 359 (360); BayVGH DVB1. 1979, 673 (674); OVG Lüneburg, DVB1. 1978, 67 (69); 1977, 340 (341); VG Oldenburg, ET 1979, 652 (654); VG Freiburg, NJW 1977,1645 (1646). 191 Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVBl. 1978, 829 (836); ders., Strukturen und Tendenzen des Umweltschutzrechts, Staat 20 (1981) 393 (407, 413); ders., Anm. zu BVerwG DVBl. 1978, 591 (601); ders., Individualschutz gegen Umweltbelastungen, DVBl. 1986, 849 (856); Winters, Atom- und Strahlenschutzrecht, S. 24, 26; Ipsen, Genehmigung technischer Großanlagen, AöR 107 (1982) 259 (264); Bender, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, NJW 1979, 1425 (1429); Schattke, Grenzen des

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Pflicht zur Risikovorsorge auch unterhalb der Gefahrenschwelle beizuordnen. Wenn nicht ausdrücklich, so aber doch mittelbar wird diese Auffassung durch den Kalkar-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts gestützt, das Gericht geht wie selbstverständlich davon aus, daß der Gesetzgeber grundsätzlich jede Art von anlage- und betriebsspezifischen Schäden in Bedacht genommen habe. 192 Ferner hat das Gericht ausdrücklich den Grundsatz der bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge hervorgehoben. 193 Auch im Bereich des an sich tolerablen Risikos hat der Errichter oder Betreiber einer kerntechnischen Anlage demnach „so weit wie möglich" zusätzliche Vorkehrungen zur Erhöhung der Anlagensicherheit vorzunehmen, um insofern das „non-liquet" in bezug auf Höhe und Schädlichkeit bestimmter naturwissenschaftlich-technischer Zusammenhänge aufzufangen. 194 Hauptargument für eine derartige tatbestandliche Fixierung ist einmal der oft geforderte „vorsichtige Gesamtcharakter" des Atomgesetzes sowie der wachsende Stellenwert des Vorsorgeprinzips im modernen Umweltschutzrecht. 1 9 5 Im übrigen w i r d angeführt, könne ein Gefahrenverdacht sich durch genügend viele Tatsachen derart verdichten, daß er wertungsmäßig einer Gefahr kaum nachstehe. 196 Alle, die Risikovorsorge als Tatbestandsmerkmal bejahenden Autoren stellen diese jedoch unter den Vorbehalt sowohl der technischen Realisierbarkeit als auch der Verhältnismäßigkeit von Aufwand und Nutzen, was bei der Gefahrenabwehr nicht gilt. 1 9 7 Festzuhalten ist ferner, daß die Grundsätze der Risikovorsorge der h. M. zufolge auf die Risiken des Normalbetriebs wie auf die des Störfalls gleichermaßen Anwendung finden. 1 9 8 Strahlenminimierungsgebots, DVB1.1979, 652f.; Nolte , Rechtliche Anforderungen an die technische Sicherheit von Kernanlagen, S. 49f.; Hansmann, Sicherheitsanforderungen im Atomrecht, DVB1. 1981, 898 (901); Hofmann, Entsorgung, S. 336; Marburger, Verhältnismäßigkeit, in: 7. Dt. ATRS (1983) 45 (61); ders., Individualschutz gegen Umweltbelastungen, Gutachten C zum 56. DJT, S.C1 (C73); neutral Degenhart, Kernenergierecht, S. 30 f. 192 BVerfGE 49, 89 (138); vgl. auch OVG Lüneburg, DVB1.1977, 340 (341). 193 BVerfGE 49, 89 (143); E 53, 30 (59). ι94 Jakobs, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 202; vgl. Seilner, Vorsorgegrundsatz im Bundesimmissionsschutzgesetz, NJW 1980, 1255 (1258). 195 Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVB1. 1978, 829 (836); Bender, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, NJW 1979,1425 (1429): „vorbeugender Grundrechtsschutz"; zum umweltrechtlichen Vorsorgeprinzip s. Ossenbühl, Vorsorge als Rechtsprinzip, NZVwR 1986, 161 f.; Sellner, Vorsorgegrundsatz im Bundesimmissionsschutzgesetz, NJW 1980, 1255 (1255). ι98 Nolte, Rechtliche Anforderungen an die technische Sicherheit von Kernanlagen, S. 52. ι 9 7 s. oben bereits 2. Kap. 1. Teil Fn. 110; etwas einschränkend Haedrich, AtomG, in: Deutsches Bundesrecht, I I I E 50, S. 155, der sich für eine Anwendimg des Verhältnismäßigkeitsprinzips auch i m Bereich der Gefahrenabwehr bei der Ermittlung und Bewertung des „Stands von Wissenschaft und Technik" ausspricht; für die im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung geltenden Maßstäbe der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Proportionalität, wobei über letztere Wirtschaftlichkeitserwägungen Berücksichtigung finden können, s. Marburger, Verhältnismäßigkeit, in: 7. Dt. ATRS (1983) 45 (68); ders., Individualschutz gegen Umweltbelastungen, Gutachten C zum 56. DJT (1986), S. C l (C74).

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Einige Autoren verneinen demgegenüber eine tatbestandliche Fixierung der gefahrenunabhängigen Risikovorsorge. Sie vertreten die Auffassung, § 7 I I Nr. 3 AtomG beinhalte nur die reine Gefahrenabwehr. Eine darüber hinausgehende Risikobekämpfung halten diese Autoren zwar ebenfalls für zulässig, diese könne jedoch lediglich über das behördliche Ermessen in das Genehmigungsverfahren einfließen. 199 Noch andere wiederum erkennen die Möglichkeit einer Risikovorsorge überhaupt nicht an. 2 0 0 Unter Betrachtung der vorgebrachten Argumente ist mit der neuesten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anzuerkennen, daß bereits der Wortlaut des § 7 I I Nr. 3 AtomG stark für ein gefahrenunabhängiges Vorsorgegebot spricht. 2 0 1 Die Vorschrift nennt allgemein „Schäden" und enthält keine Merkmale für eine Reduktion dieses Begriffs durch die für die Gefahr typische „Wahrscheinlichkeit". Das von den Gegnern einer tatbestandlichen Vorsorgepflicht hauptsächlich vorgebrachte historische Argument ist demgegenüber nicht überzeugend. Behauptet wird, daß die Entstehungsgeschichte des Atomgesetzes gegen den Vorsorgecharakter des § 7 I I Nr. 3 spreche, da der Gesetzgeber eine Parallelregelung zu § 16 GewerbeO a. F. habe schaffen wollen. Dieser Norm wiederum sei der Vorsorgegedanke fremd gewesen. 202 Obwohl der Beschränkimg des § 16 GewerbeO a.F. auf die reine Gefahrenabwehr zuzustimmen ist, 2 0 3 vermag diese Argumentation dennoch nicht zu greifen. Sie übersieht, daß § 7 I I Nr. 3 AtomG über den Inhalt von § 16 GewerbeO a. F. hinausgehen wollte und aufgrund der atomaren Besonderheiten in größerem Maße auch schadensvorbeugend wirken sollte. 204 Auch der Einwand, schon die extrem hohen Anforderungen an die Gefahrenabwehr heute ließen einer darüber hinausgehenden Risikovorsorge keinen Raum, 205 greift nicht durch. Er verkennt, daß es Fälle jenseits der „praktischen Vernunft" geben kann, wo Risikovorsorge dennoch möglich 198

Hansmann, Sicherheitsanforderungen im Atomrecht, DVBl. 1981, 898 (902). Hanning / Schmieder, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DB 1977, Beil. 14,1 (6, 7); Winters, Entwicklung des Atom- und Strahlenschutzrechts, DÖV 1978, 265 (271); Lukes / Backherms, Berücksichtigung von Kriegseinwirkungen im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren, AöR 103 (1978) 334 (335); Haedrich, AtomG, in: Deutsches Bundesrecht, I I I E 50, S. 159, 172; Ossenbühl, Vorsorge als Rechtsprinzip, NZVwR 1986, 161 (168); Wagner, Risiken von Wissenschaft und Technik, NJW 1980, 665 (668); Rengeling, Reaktorsicherheit, DVBl. 1988, 257 (258f.). 200 Hansen / Dix, Gefahr, S. 216f., 218; Martens, Wandlungen im Recht der Gefahrenabwehr, DÖV 1982, 89 (93); ders., Immissionsschutzrecht und Polizeirecht, DVBl. 1981, 597 (599). 201 BVerwG NZVwR 1986, 208 (212) - Whyl - ; Nolte, Rechtliche Anforderungen an die technische Sicherheit von Kernanlagen, S. 50; Bender, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, NJW 1979, 1425 (1429). 202 Hanning / Schmieder, Gefahrenabwehr und RisikoVorsorge, DB 1977, Beil. 14,1 (6, 7). 203 Vgl. amtl. Begr. BT-Drs. III/759, S. 24. 2 4 Vgl. amtl. Begr. BT-Drs. III/759, S. 24. 205 Ossenbühl, Vorsorge als Rechtsprinzip, NZVwR 1986,161 (168). 199

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und sinnvoll ist. Breuer 2 0 6 nennt hier einmal die Konstellation, in der kein drohender Schaden, sondern lediglich der Verdacht der Schädlichkeit vorliegt. Aber auch die Situation, in der trotz „praktischen" Schadensausschlusses eine weitere Risikominimierung durch technisch realisierbare Vorhaben möglich ist, läßt Risikovorsorge sinnvoll und geboten erscheinen. Gerade an dieser Stelle ist aus aktuellem Anlaß ein kritisches Licht auf die Anwender des „Maßstabs praktischer Vernunft" zu werfen. Wenn als Reaktion auf das sowjetische Reaktorunglück mit abgestrittener, aber dennoch wahrscheinlicher Kernschmelze zusätzliche Sicherheitseinrichtungen wie etwa Druckventile im Reaktorsicherheitsbehälter gefordert werden, 207 stellt sich zugleich die Frage, ob derlei Sicherheitsvorkehrungen nicht schon vor der Katastrophe aufgrund des „Maßstabs praktischer Vernunft" geboten waren. Wenn auch diese Frage, etwa aufgrund des damaligen Erkenntnisstandes verneint werden muß, wirft sie ein eindrucksvolles Licht auf die Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Sicherheitsforschung im vorsorgenden Bereich. Hier sei nochmals auf die Geltung von Verhältnismäßigkeits- und Ausgewogenheitsgrundsatz hingewiesen, wodurch überzogene Sicherheitsanforderungen jenseits der praktischen Vernunft gebremst werden können. Eine ausdrückliche Verankerung des Vorsorgeprinzips im Atomrecht, wenn auch nicht in § 7 I I Nr. 3 AtomG, findet sich obendrein in § 28 I S. 2 der 2. Strahlenschutzverordnung 208 , der das Strahlenminimierungsgebot enthält. Diese Norm erlaubt insofern einen Rückschluß auf eine Risikovorsorge auch in § 7 I I Nr. 3 AtomG, als keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß der Verordnungsgeber über den Sicherheitsstandard des Atomgesetzes hinausgehen wollte bzw. angesichts der Ermächtigungsnorm § 12 I Nr. 1 AtomG auch durfte. 2 0 9 Ebenfalls die Auffassung, der Vorsorgegrundsatz sei erstmalig im BImSchG normiert worden und könne nicht in das ältere Atomgesetz hineingelesen werden, 210 ist so nicht zutreffend. Sie verkennt, daß der Vorsorgegedanke durchaus älteren Ursprungs ist und etwa in der 1. Strahlenschutzverordnung von I960 2 1 1 aber auch im Viehseuchengesetz von 1909 212 enthalten ist. 2 1 3 Der systematische Einwand Wag206

Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVB1. 1978, 829 (836). s. Nw. 2. Kap. 1. Teil Fn. 132,133. 208 2. StrlSchVO v. 13.10.1976 (BGBl. I, 2905); diese Verortung erkennt auch Ossenbühl, Vorsorge als Rechtsprinzip, NZVwR 1986,161 (168) an. 209 Nolte, Rechtliche Anforderungen an die technische Sicherheit von Kernanlagen, S. 52 (Fn. 83); s.a. Bender, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, NJW 1979, 1425 (1429) (Fn. 28). 207

210 Hanning / Schmieder, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DB 1977, Beil. 14,1 (7); Haedrich, AtomG, in: Deutsches Bundesrecht, I I I E 50, S. 172; Lukes / Backherms, Berücksichtigung von Kriegseinwirkungen im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren, AöR 103 (1978) 334 (335). 2 " 1. StrlSchVO v. 24.6.1960 (BGBl. I, 430). 2 2 * Vom 26.6.1909 (RGBl. 1909, 519). 213 Nolte, Rechtliche Anforderungen an die technische Sicherheit von Kernanlagen, S. 51.

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ners 2 1 4 , aus ein- und derselben Norm (§ 7 I I Nr. 3 AtomG) ließen sich nicht sowohl unterschiedliche Tatbestandsvoraussetzungen als auch verschiedene Rechtsfolgen ableiten, verkennt, daß es sich i m Atomrecht um eine in hohem Maße durch Richterrecht ausgefüllte und ausfüllungsbedürftige Rechtsmaterie handelt, die sich in ungeregelten Bereichen durchaus fortbilden kann. Neben der Erkenntnis, daß § 7 I I Nr. 3 AtomG wegen des wesentlich höheren Schadenspotentials nicht hinter § 5 I I BImSchG zurückstehen darf, 2 1 5 wäre auch die ansonsten bestehende Diskrepanz zu anderen Bereichen des Umweltrechts auffällig, wo etwa im neuen Chemikaliengesetz 216 (§§ 4 VI, 17 I S. 3, 23 I I S. 2) ebenfalls der Vorsorgegrundsatz niedergelegt ist. 2 1 7 Im Atomrecht besteht die Notwendigkeit einer Risikovorsorge - zumindest im Normalbetrieb - um so mehr, als auch heute noch keine empirisch belegbaren Erkenntnisse über die Wirkimg kleiner und kleinster Strahlendosen vorliegen. 218 Deshalb ist, mit dem Bundesverwaltungsgericht 219 , die Vorschrift des § 7 I I Nr. 3 AtomG gerade nicht anhand eines vorgeformten polizeirechtlichen Gefahrenbegriffs, sondern mit Blick auf den Schutzzweck des Atomgesetzes, d.h., mit einer Risikovorsorge, auszulegen. Unzweifelhaft nicht weiter zu bekämpfen sind die atomaren Restrisiken.

B. Staatsverantwortung für Kernenergierisiken und dogmatische Einordnung der „sozialadäquaten Restrisiken" in Rechtsprechung und Literatur Die aufgrund des „Maßstabs praktischer Vernunft" abgeschichteten Restrisiken des Normalbetriebs und Störfalls werden unterschiedlich interpretiert. Ihr Stellenwert und ihre dogmatische Einordnung im Grundrechtsgefüge hängt maßgeblich von den Grundsätzen einer unmittelbaren staatlichen Verantwortung bzw. Schutzpflicht für die Rechtsgüter des Art. 2 I I S. 1 GG ab. Denn: Betreiber der Kernanlagen und damit Produzenten der Restrisiken sind nach wie vor Private, mag auch der finanzielle Anteil der öffentlichen Hand am Aktienkapital sowie das öffentliche Interesse an der Stromversorgung auch aus Kernenergie noch so groß sein. 220 Damit stellt 214

Wagner, Risiken von Wissenschaft und Technik, NJW 1980, 665 (668). Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVBl. 1978, 829 (836). 216 Vom 25.9.1980 (BGBl. I, 1718). 217 Nolte , Rechtliche Anforderungen an die technische Sicherheit von Kernanlagen, S. 52, 53. 218 Winters, Zur Entwicklung des Atom- und Strahlenschutzrechts, DÖV 1978, 265 (271). 219 BVerwG NZVwR 1986, 208 (212) - Whyl - . 220 Zur Verflechtung zwischen Staat und Betreibern s.o. 1. Kap. 1. Teil B. sowie Hofmann, Atomenergie und Grundrechte, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 55 (59) der auf den Charakter der Energieversorgungsunternehmen als sog. „öffentliche Unternehmen" hinweist; vgl. ferner Löffler, Parlamentsvorbehalt, S. 22. 215

1. Teil: Risikobegriff, vertretene Einordnungsmodelle

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sich die Frage, inwieweit die als staatsgerichtete Abwehrrechte verstandenen Grundrechte überhaupt als Maßstab zur Beurteilung von Kernenergierisiken dienen können (I.). Im Anschluß daran w i r d die Einordnung der Kernenergierisiken durch Rechtsprechimg und Literatur vorgestellt werden (II.). I. Begründung und Umfang der staatlichen Verantwortung für kerntechnische Risiken aus Art. 2 Π S. 1 GG 1. Konkurrenz zur Annahme grundrechtlicher Schutzpflichten

Seit den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zur Fristenlösung, 221 der Schleyer-Entführung 222 und zur Fluglärmbelästigung 223 ist anerkannt, daß aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit eine Pflicht des Staates abzuleiten ist, sich schützend vor dieses Rechtsgut zu stellen und es vor rechtswidrigen Eingriffen durch Dritte zu bewahren. 224 Gerade im Umweltrecht entspricht dies einem praktischen Bedürfnis, da hier Leben und Gesundheit des einzelnen ohne staatliches Eingreifen bedroht sein können und eine Sicht der Grundrechte als reine Abwehrrechte hier bestandsgefährdend sein kann. 2 2 5 Die neuen, noch nicht in langen Zeiträumen erprobten Techniken, insbesondere die Kerntechnik, geben zu einer derartigen Betrachtungsweise besonderen Anlaß. Der Inhalt einer staatlichen Schutzpflicht wird hierbei von der Größe der mit einem bestimmten Verhalten verbundenen Gefahr abhängig gemacht. 226 Dogmatische Begründung einer solchen Schutzpflicht ist die Sicht der Grundrechte als objektive Wertordnung, die neben den subjektiven Abwehrrechten in der grundrechtlichen Verbürgung mitenthalten ist. Hinzu kommt ein gewandeltes Verständnis der staatlichen Aufgaben, welches zunehmend auf die rechts- und sozialstaatliche Ausformung staatlicher Funktionen abstellt. 227 Indem der Staat nicht 221

BVerfGE 39,1 (48). BVerfGE 46, 160 (164). 223 BVerfGE 56, 54 (73). 224 Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 88f.; v. Münch, in: ders., GG, Art. 2, Rn. 59; Roßnagel, Grundrechte und Kernkraftwerke, S. 52; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 410, 412; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 239; ders., Pflichten des Staates, NZVwR 1983, 523 (525); Wagner, Grundrechtsschutz und Technologieentwicklung, ZRP 1985,192 (193); Ossenbühl, Kernenergie i m Spiegel des Verfassungsrechts, DOV 1981, 1 (4); Breuer, Umweltschutzrecht, in: v. Münch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, S. 656; Rauschning, Staatsaufgabe Umweltschutz, W D S t R L 38 (1980) 167 (182f.); Schmidt-Assmann, Anwendungsprobleme des Art. 2 I I GG, AöR 106 (1981) 205 (215); Hofmann, Entsorgung, S. 310. 222

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Roßnagel, Grundrechte und Kernkraftwerke, S. 52; Stein, Staatsrecht, S. 223; Götz, Verfassungsmäßigkeit der Dosisgrenzwerte, in: 4. Dt. ATRS (1975) 177 (181). 226 Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 118; s.a. BVerfGE 49, 89 (142). 227 Hesse, Problematik und Tragweite der Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft, DÖV 1975, 437 (441); Steinberg, Grundfragen des öffentlichen Nachbar-

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nur Verantwortung für die Bestimmung, sondern auch für die Verwirklichung der Grundrechte übernimmt, kommt es zunehmend nicht mehr auf einen bestimmten Modus der Grundrechtsverletzung an, sondern allein auf die Unversehrtheit der grundrechtlichen Schutzgüter überhaupt. 228 Dieser Schutzpflicht w i r d im Atomrecht insbesondere durch das formalisierte Genehmigungsverfahren Rechnung getragen. 229 2. Ableitung einer unmittelbaren Staatsverantwortung aufgrund der Genehmigung atomarer Anlagen

Eine teilweise Überdeckung dieser Schutzpflicht im Sinne einer inhaltlich weitergehenden, sogar unmittelbar - originären Staatsverantwortung findet sich i n den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts zu den Atomkraftwerken K a l k a r 2 3 0 und Mühlheim-Kärlich 2 3 1 . Das Bundesverfassungsgericht betont im Mühlheim-Kärlich-Beschluß, daß aufgrund der „staatlichen Mitverantwortung" für die Risiken der Kernenergie bei der verfassungsrechtlichen Prüfung der materiell- und verfahrensrechtlichen Genehmigungsvorschriften die gleichen strengen Maßstäbe anzulegen seien wie an ein Eingriffsgesetz. 232 Mit der Postulation dieser „Mitverantwortung" hat das Bundesverfassungsgericht jedoch nur scheinbar deutliche Worte zum Inhalt der darauf aufbauenden staatlichen Pflichten gefunden. 233 Nicht überzeugend ist hier die Interpretation Schwabes, der den „Verlegenheitsbegriff der Mitverantwortung" so deutet, daß eine Geltung der Grundrechte als Abwehrrechte ausgeschlossen sei und lediglich eine Schutzpflicht gemeint sein könne. 2 3 4 Ebenfalls unzulässig ist die - allerdings vordergründige - Ableitung einer Drittwirkung von Grundrechten zwischen Betreibern und Dritten allein aus der bundesverfassungsgerichtlichen Formulierung: „ . . . das Gesetz (schließt) die Genehmigung dann aus, wenn die Errichtimg oder der Betrieb der Anlage zu Schäden führt, die sich als Grundrechtsverletzungen darstellen." 235 Mit Murswiek 2 3 6 sind die Beschlüsse des Bundesverfassungsrechts, NJW 1984,457 (458); s. a. Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 129 f. 228 Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 129. 229 BVerfGE 53, 30 (59); s. auch VGH Ba.-Wü. DVB1. 1976, 538 (543). 230 BVerfGE 49, 89 (141). 231 BVerfGE 53, 30 (58). 232 s. Fn. 231. 233 So auch Schwabe, Pflichten des Staates, NZVwR 1983, 523 (525). 234 Obwohl Schwabe (a.a.O., S. 525f.) generell doch den negatorischen Charakter der Grundrechte i n Fällen staatlicher Genehmigungen annimmt, so auch i n ders., Grundrechtsdogmatik, S. 213 (Fn. 12), S. 214: „Es gibt keinen Grund, weshalb anderes gelten sollte, sobald der Staat das gesundheitsschädliche Verhalten nicht seinen Organen, sondern Privaten gestattet." 235 BVerfGE 49, 89 (141). 236 Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 89, 90; ders., Immissionsbedingte Waldschäden, NZVwR 1986, 611 (611/612); Schwabe,

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gerichts vielmehr so zu verstehen, daß in den Fällen, i n denen der Staat einen Privaten zu Grundrechtseingriffen ermächtigt, dies einer staatlichen Einschränkung des Grundrechts gleichkommt. Der durch den Privaten vorgenommene Grundrechtseingriff muß dem Staat unmittelbar dann zugerechnet werden, wenn er ihn genehmigt hat. Hofmann bezieht diese Grundsätze auch auf die atomare Anlagenerlaubnis, die deshalb weniger der gewerberechtlichen Genehmigimg, sondern vielmehr einem Rechtsinstrument nach Art der Konzession zuzuordnen sei. 237 Das Bundesverfassungsgericht hat mit der Annahme einer derart unmittelbaren Staatsverantwortung für die Risiken der Kerntechnik Neuland betreten, ohne diesen Schritt dogmatisch näher zu begründen. 238 Dieses Postulat ist insofern begründungsbedürftig, als es der - allerdings nicht kernenergiespezifischen - bisher herrschenden Auffassung widerspricht, wonach staatliche Beteiligung über den Genehmigungsvorgang nicht zur Annahme von Staatsverantwortung führt. 2 3 9 Auch ist näher darauf einzugehen, warum diese Grundsätze staatlicher Verantwortung nur und erst für Atomkraftwerke aufgestellt werden. Zum genaueren Verständnis vom Inhalt dieser Verantwortung ist jedoch zunächst darauf hinzuweisen, daß es sich bei der Genehmigungserteilung an den Betreiber nicht um eine Genehmigung privater Eingriffe handelt, sondern um die Auferlegung einer Duldungspflicht an die betroffenen Bürger. 2 4 0 Wenn aber der Staat - hier w i r d von einem Eingriff ausgegangen - die Selbstverteidigung gegen einen „ansich" rechtswidrigen Eingriff verbietet, kann dies nur als Einschränkung von Grundrechten gesehen werden. 2 4 1 Die tatsächliche Verletzung des Schutzguts „körperliche Unversehrtheit" beruht - wenn auch nur mittelbar auf staatlichem Verhalten, 242 damit ist der Staat verantwortlich. Diese für Grundrechtseingriffe geltende Dogmatik muß in gleicher Weise auch für bloße Grundrechtsgefährdungen gelten. Das Bundesverfassungsgericht selbst hat in wiederholter Rechtsprechung die Möglichkeit einer Gleichstellung von Grundrechtsverletzungen und Grundrechtsgefährdungen bejaht. 2 4 3 Dem entspricht insofern auch der eindeutige Wortlaut des Grundrechtsdogmatik, S. 213, 214; Degenhart, Technischer Fortschritt und Grundgesetz, DVBl. 1983, 926 (928) Fn. 24. 237 Hofmann, Entsorgung, S. 310. 238 Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 91. 239 Rauschning, Staatsaufgabe Umweltschutz, W D S t R L 38 (1980) 167 (184); ders., Anm. zu BVerfGE 53, 30f., in: DVBl. 1980, 831 (832); Kloepfer, Grundrecht auf Umweltschutz, S. 19, 29; vgl. auch Breuer, Individualschutz gegen Umweltbelastungen, DVBl. 1986, 849 (857, 858); Roßnagel, Grundrechte und Kernkraftwerke, S. 52, 53. 240 Schwabe, Pflichten des Staates, NZVwR 1983, 523 (525); Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 91; ders., Immissionsbedingte Waldschäden, NZVwR 1986, 611. 241 Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 93. 242 Murswiek, Staatliche Verantwortimg für die Risiken der Technik, S. 95.

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Mühlheim-Kärlich-Beschlusses. 244 Es wäre im übrigen unverständlich, warum eine staatliche Genehmigung die staatliche Mitverantwortung nur bei einer Realisierung der geschaffenen Risiken auslösen sollte, nicht jedoch schon bezüglich der „bloßen" Gefährdung, die einen notwendigen Zwischenschritt mit insofern unteilbarer Verantwortung für die dann eintretende Verletzung darstellt. Eine zusätzliche Begründung der Staatsverantwortung durch Genehmigung speziell für das Kernenergierecht findet sich in den Besonderheiten des geregelten Gegenstandes selbst. Anders als im herkömmlichen Gewerberecht ist es nämlich im Kernenergierecht gerade nicht so, daß der Staat eine gefahrenabwehrende Überwachung bereits vorgefundener wirtschaftlicher Betätigung vornimmt. 2 4 5 Statt dessen liegt hier eine unmittelbare Initiierimg und Förderung durch den Staat selbst vor, welche etwa im Förderungszweck des § 1 Nr. 1 AtomG ausdrücklich normiert ist. 2 4 6 Aber auch in § 9 a I I I AtomG findet sich für die Endlagerung nuklearer Stoffe eine ausdrücklich festgestellte Staatsverantwortimg. Die Bezugnahme des § 1 Nr. 1 AtomG auf das ganze Atomgesetz spricht stark dafür, nicht nur die nukleare Entsorgung, sondern auch die Betriebsgefahr und das Störfallrisiko staatlicher Verantwortung zu unterwerfen. Es finden sich somit maßgebliche Unterschiede zwischen Kerntechnologieanwendung und dem Gebrauch sonstiger umweltrelevanter Technologie. Hinzu kommt, daß das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich auf die Neuartigkeit der Materie sowie deren grundsätzliche Unvergleichbarkeit hingewiesen hat. 2 4 7 Diese nuklearspezifischen Besonderheiten gerade im Hinblick auf das Engagement des Staates führen dazu, die sonst allenfalls anzunehmende staatliche Schutzpflicht als nicht ausreichend anzusehen. Rechtsfolge einer unmittelbaren staatlichen Verantwortung ist, daß an die Genehmigungsvorschriften die gleichen strengen Anforderungen zu stellen sind wie an ein Eingriffsgesetz. 248

243 BVerfGE 49, 89 (141); BVerfG NJW 1984, 601; zust. Schmidt-Assmann, Anwendungsprobleme des Art. 2 I I GG, AöR 106 (1981) 205 (211); Rauschning, Staatsaufgabe Umweltschutz, W D S t R L 38 (1980) 167 (179). 244 BVerfGE 53, 30 (58). 245 Degenhart, Kernenergierecht, S. 147; Baumann, Der Grundrechtsvorbehalt der „sozialadäquaten technisch-zivilisatorischen Risiken", JZ 1982, 749 (754); Löffler, Parlamentsvorbehalt, S. 22; Hofmann, Atomenergie und Grundrechte, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 55 (59), der auf die Verflechtung Staat/Betreiber über das Aktienkapital, die erstmalige Erschließung der Kernenergie durch den Staat und die enge Zusammenarbeit von Behörden und Antragstellern hinweist; letztlich (S. 60) nimmt Hofmann dann aber auch „nur" eine Schutzpflicht an; s. auch oben 1. Kap. 1. Teil B. 246 Hofmann, Atomenergie und Grundrechte, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 55 (59/60). 247 BVerfGE 49, 89 (146). 248 BVerfGE 53, 30 (58).

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3. Grundsätzliche Vorwürfe gegen die Kerntechnik allgemein

Die Argumente gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie überhaupt sowie gegen die Normstruktur und -anwendung von § 7 I I Nr. 3, § 1 Nr. 2 AtomG sind vielfältig. 2 4 9 Insbesondere die Zweifel an der generellen Verfassungsmäßigkeit der Kernenergie sind durch eine große Bandbreite und oft anzutreffende rein außerrechtliche Argumentation gekennzeichnet. Letzteres erschwert die sachliche Auseinandersetzimg, reduziert die Argumentation auf Fragen des Vorverständnisses und vermag die eindeutige Entscheidung des Verfassungsgebers in Art. 74 Nr. I I a GG allenfalls rechtspolitisch in Frage zu stellen. Weitaus größere Bedeutung verdienen angesichts ihrer normativen Verwurzelung und speziellen Bezugnahme die Bedenken gegen die atomgesetzliche Struktur, die Dogmatik der „sozialadäquaten" Risiken sowie die Genehmigungspraxis. In diese Kategorie der verfassungsrechtlich ernstzunehmenden Gesichtspunkte ist auch das Problem der „Generationenverantwortung im Recht" einzuordnen. 250 Stichwortartig dargestellt beinhalten die Stellungnahmen gegen die atomare Nutzung - bei vielfältigen Überschneidungen - folgende Vorwürfe: - Es wird befürchtet, die Bundesrepublik könnte sich über die „Plutoniumwirtschaft" in einen „Atomstaat" verwandeln, welcher durch ein notwendigerweise ausgeprägtes Überwachungssystem die Bürger in Gefahr bringt, Objekte der Machtfaktoren Bürokratie/Technik zu werden. 2 5 1 Schon heute sei eine extensive Anwendung der Notstandsregelung des § 34 StGB zu beobachten. 252 - Mit zunehmender Technisierung vergrößere sich der Eindruck staatlicher Parteilichkeit 2 5 3 bei der Genehmigung von Kernkraftwerken, welche durch Verwendung voreingenommener Gutachter, materieller Unausgewogenheit zwischen Betreibern und Klägern und daraus resultierendem Informationsvorsprung noch unterstützt würde.

249

Ausführliche Nennung bei Kimminich, Atomrecht, S. 31 f. "ο s.o. 1. Kap. 1. Teil A. III., unten 4. Kap. 251 Roth-Stielow, Grundrechtsschutz beim Betrieb von Kernkraftwerken, EuGRZ 1980, 386 (387); Mayer-Tasch, Atomkraft - und sie bedroht uns doch, ZRP 1979, 59 (61); ders., Weg vom Rechtsstaat zum Atomstaat, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 67 (72); Saladin, Kernenergie und Verfassungsstaat, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 35 (46); OVG Münster, NJW 1978, 439 (442); Demokratiedefizite bei der Genehmigung von Kernkraftwerken stellt auch Roßnagel, Demokratische Kontrolle großtechnischer Anlagen, in: Kritische Vierteljahreszeitschrift 1986, Heft 4, 342 f. fest. 252 Hofmann, Atomenergie und Grundrechte, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 55 (57), mit Hinweis auf eine erste Anwendung dieser Norm durch den BGH im Kontaktsperre-Urteil (NJW 1977, 2173). 253 Meyer-Abich, Grundrechtsschutz heute, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 221 (228).

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- Angesichts langer Halbwertszeiten der Spaltprodukte und der Notwendigkeit eines sicheren Abschlusses von der Biosphäre würden nachfolgende Generationen auf unabsehbare Zeit in unverantwortlicher Weise belastet werden. 254 Aus der Notwendigkeit der Weitergabe nuklearspezifischer Kenntnisse entstünde die Abhängigkeit von einer „atomaren Hohepriesterschaft", d.h., einer technischen Funktionselite, welche, den Wechselfällen des politischen Lebens enthoben, die Kenntnisse der Atomwirtschaft auf unabsehbare Zeit bewahrt. 2 5 5 - Die nukleare Entsorgung sei ungeklärt und müsse als Genehmigungsvoraussetzung in § 7 I I Nr. 3 AtomG einbezogen werden. 256 - Die Untersuchung der politischen und sozialen Risiken sei bei der Ingriffnahme technischer Gefährdungen zurückgeblieben. 257 Die Kernenergieentwicklung sei daher i n ein umfassendes Technologieentwicklungsgesetz einzubinden, welches auch die Alternativen berücksichtige. 258

Π. Aussagen des Bundesverfassungsgerichts und der Literatur zur Einordnung von Restrisiken 1. Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesverfassungsgericht hat im Kalkar-Beschluß ausdrücklich zu den Restrisiken Stellung bezogen. Nach einer Erläuterung des „Maßstabs praktischer Vernunft" formuliert das Gericht: „Ungewißheiten jenseits dieser Schwelle praktischer Vernunft haben ihre Ursachen in den Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens; sie sind unentrinnbar und insofern als sozialadäquate Lasten von allen Bürgern zu tragen." 2 5 9

254 Hofmann, Entsorgung, S. 263f.; ders., Atomenergie und Grundrechte, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 55 (64); ders., Nachweltschutz als Verfassungsfrage, ZRP 1986, 87f.; Mayer-Tasch, Atomkraft - und sie bedroht uns doch, ZRP 1979, 59; Roth-Stielow, Grundrechtsschutz beim Betrieb von Kernkraftwerken, EuGRZ 1980, 386 (391); ders., „Recht" i m Sinne des Art. 20 I I I GG, NuR 1983, 113; als Problem sehen dies auch Benda, Technische Risiken und Grundgesetz, S. 5 (7); Henseler, Verfassungsrechtliche Aspekte zukunftsbelastender Parlamentsentscheidungen, AöR 108 (1983) 489f.; Stober, Atomare Entsorgung, ET 1983, 585f.; s. ferner ausführlich unten 4. Kap. 255 Hofmann, Entsorgung, S. 359; so auch die klägerische Auffassung in BVerfGE 49, 89 (113, 114); Meyer-Abich, Was ist ein Atomstaat? in: Kernenergie - ein Weg der Vernunft? (Hrsg. Kreuzer / Koslowski / Low), S. 255 (260, 261). 256 Roßnagel, Grundrechte und Kernkraftwerke, S. 98, 99; vgl. ausführlich Dauk, Atomare Entsorgungsregelung, S. 36f.; sowie unten 4. Kap. Fn. 31. 257 Zur sog. „Sozialverträglichkeitsprüfung" s. Nw. oben 1. Kap. Fn. 7. 258 de Witt, Genehmigung von Atomanlagen, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 138 (158, 159). 259 BVerfGE 49, 89 (143).

1. Teil: Risikobegriff, vertretene Einordnungsmodelle

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2. Stellungnahmen der Literatur und sonstiger Rechtsprechung I n der g r u n d s ä t z l i c h e n A k z e p t a n z der Restrisiken s t i m m t die ü b e r w i e gende L i t e r a t u r u n d sonstige Rechtsprechung m i t d e m Bundesverfassungsgericht w e i t g e h e n d ü b e r e i n . 2 6 0 A l s gesichert ist anerkannt, daß A r t . 2 I I S. 1 Grundgesetz k e i n e n „ a b s o l u t e n " Schutz gegen jegliches Lebens- u n d Z i v i l i sationsrisiko b i e t e t . 2 6 1 Das G r u n d r e c h t auf k ö r p e r l i c h e U n v e r s e h r t h e i t k a n n daher n i c h t schlechthin jedes lebensgefährdende R i s i k o aus d e m menschl i c h e n Zusammenleben h i n w e g d e f i n i e r e n , 2 6 2 die N o r m v e r m a g statt eines Grundrechts auf risikofreies L e b e n n u r einen A n s p r u c h auf R i s i k o m i n i m i e r u n g z u g e w ä h r e n . 2 6 3 Diesem A n s p r u c h d i e n t das a t o m r e c h t l i c h e G e n e h m i g u n g s i n s t r u m e n t a r i u m , es f i n d e t u. a. A u s d r u c k i m S t r a h l e n m i n i m i e r u n g s gebot des § 28 I Z i f f . 2 S t r a h l e n s c h u t z v e r o r d n u n g . 2 6 4 U n t e r h a l b dieser relat i v u n s t r e i t i g e n Feststellungen bestehen jedoch K o n t r o v e r s e n über das Wechselspiel zwischen der parlamentarischen G r u n d e n t s c h e i d u n g f ü r die friedliche N u t z u n g der Kernenergie u n d der i m E i n z e l f a l l z u beurteilenden Anlagenentscheidung. I n der Rechtsprechung u n d L i t e r a t u r f i n d e n sich n u r sehr sporadische Ansätze f ü r eine dogmatische E r k l ä r u n g der Restrisiken, welche über eine 260 Neben dem Nw. 1. Kap. Fn. 51 ferner Jakobs, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 189; Rauschning, Staatsaufgabe Umweltschutz, W D S t R L 38 (1980) 167 (192f.); Degenhart, Kernenergierecht i n der Entwicklung, ET 1983, 230 (232); ders., Bespr. von H. Hofmann, Staat 22 (1983) 293 (293, 294); Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVBl. 1978, 829 (835); Bochmann, Gefahrenabwehr und Schadensvorsorge, 7. Dt. ATRS (1983) 17 (19); Obenhaus / Kuckuck, Funktion und Strukturmerkmale des Begriffes „Stand der Wissenschaft und Technik", DVBl. 1980,154 (155); Ossenbühl, Kernenergie i m Spiegel des Verfassungsrechts, DÖV 1981, 1 (3); Wagner, Schadensvorsorge, DÖV 1980, 269 (274); Marburger, Verhältnismäßigkeit, 7. Dt. ATRS (1983) 45 (59); Neil, Wahrscheinlichkeitsurteile i n juristischen Entscheidungen, S. 178; Schattke, Grenzen des Strahlenminimierungsgebots, DVBl. 1979, 652 (657/ 658); ders., Wechselbeziehungen zwischen Recht, Technik und Wissenschaft, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 100 (108); Siebert, Überlegungen zum Restrisiko, ZfU 1980, 617 (621). 261 v. Münch, in: ders., Grundgesetz, Art. 2, Rn. 59; Murswiek, Staatliche Verantwortimg für die Risiken der Technik, S. 86, 133 Fn. 27; Stober, Atomare Entsorgung, ET 1983, 585 (593); HaedHch, Atomgesetz, in: Deutsches Bundesrecht, I I I E 50, S. 46; Hanning / Schmieder, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DB 1977, Beil. 14, 1 (9); Ossenbühl, Bewertung technischer Risiken, DÖV 1982, 833 (834); Götz, Verfassungsmäßigkeit der Dosisgrenzwerte, 4. Dt. ATRS (1975), 177 (183); Pelzer, Opferschutz im Haftungsverband, 3. Dt. ATRS (1974) 251 (252 Fn. 4); Fischerhof, Atomgesetz, S. 171; BVerwG NZVwR 1986, 208 (212, 213); VGH Ba.-Wü., DVBl. 1976, 538 (LS Nr. 3); BayVGH DÖV 1979, 801; VG Würzburg, NJW 1977,1649 (1650); VG Karlsruhe, DVBl. 1978, 856 (859). 262 Maunz / Düng / Herzog / Scholz, GG, Art. 2 Abs. 2, Rn. 8; Benda, Technische Risiken und Grundgesetz, S. 5; Sachverständigenkommission Staatszielbestimmungen, Rn. 133 (S. 86): „Zivilisationslast"; Marburger, Individualschutz i m Umweltrecht, Gutachten C zum 56. DJT, (1986) S. 74; Roßnagel, Grundrechte und Kernkraftwerke, S. 56. 263 Benda, Technische Risiken und Grundgesetz, S. 6; Stober, Atomare Entsorgung, ET 1983, 585 (593). 264 Dazu Schattke, Grenzen des Strahlenminimienmgsgebots, DVBl. 1979, 652 f.

2.

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der „sozialadäquaten Risiken"

allgemein gehaltene „Notwendigkeit" hinausgeht. Herausragend ist hier jedoch die dezidierte Stellungnahme Degenharts, 265 welche hier exemplarisch vorgestellt werden soll. a) Situationsbedingtheit des Grundrechtsschutzes, Abhängigkeit von technologischer Rahmensetzung Degenhart zufolge hängt die Grundrechtsgeltung des Artikel 2 I I S. 1 GG maßgeblich von der jeweils vorhandenen technischen Situation ab, in welcher der Grundrechtsträger sich befindet. Gerade im Bereich der Kernenergie wirkt die Grundsatzentscheidimg des Gesetzgebers für die Zulassimg der Kernenergie als verbindliche Bestimmung dieser technisch-zivilisatorischen Grundrechtssituation. 266 Diese Situation wird ihrerseits konkretisiert durch das strahlenschutzrechtliche Verordnungsrecht, welches eine verbindliche Rezeption des für das Ausmaß gebotener Schadensvorsorge relevanten technisch-naturwissenschaftlichen Sachverstands darstellt. 2 6 7 Es findet sich nach Degenhart demnach eine weitgehende Konkretisierungskompetenz der Exekutive, im Wege der Rechtsverordnung über das Ausmaß der Risikoschaffung zu befinden. Die „fördernde Intensivierung" 2 6 8 der Kernenergie bedeutet, bezogen auf den Schutzgehalt von Art. 2 I I S. 1 GG, die zivilisatorische Rahmensituation maßgeblich zu gestalten, um dann auf der Grundlage dieser Situation konkrete Gefährdungslagen zu kontrollieren. Die staatliche Gestaltungskompetenz der grundrechtsformenden Situation läßt hiernach bestimmte Risiken nicht mehr als Grundrechtseingriff erscheinen, sondern als sozialadäquate immanente Begrenzung grundrechtlicher Positionen. 269 Zur Begründung werden ferner auch ältere Systemgedanken sowie das Gebot der Rücksichtnahme angeführt. 270 Die begleitende Kontrollfunktion des Gesetzgebers würde sich hierdurch erst dann zu einer Handlungspflicht verdichten, 265 Degenhart, Kernenergierecht, S. 144 f. 266 Degenhart, Kernenergierecht, S. 148. 267 Degenhart, Kernenergierecht, S. 207, 208; s. dazu Schattke, Grenzen des Strahlenminimierungsgebots, DVB1. 1979, 652f.; Kimminich, Atomrecht, S. 135; Kramer, Die nach dem Atomgesetz erforderliche Schadensvorsorge, NJW 1981, 260 (264) weist auf den Widerspruch hin, daß einerseits Grenzwerte aufgestellt werden, die andererseits unterschritten werden müssen. 268 Degenhart, Kernenergierecht, S. 147; zustimmend Schmidt-Assmann, Buchbesprechung, AöR 107 (1982) 658 (660). 269 obwohl die für den Schutzbereich von Art. 14 GG entwickelten Kriterien, wie etwa i n BVerfG NJW 1976, 765 nicht auf Art. 2 I I GG anwendbar sind, kommt hier die Vorstellung vom Eingebundensein grundrechtlicher Positionen i n die bestehende außerrechtliche Situation zum Ausdruck, vgl. auch Schmidt-Assmann, Anwendungsprobleme des Art. 2 I I GG, AöR 106 (1981) 205 (214): „Die Maßstäbe des Art. 2 I I GG werden durch eine bestimmte Raumsituation greifbarer". 210

(214).

Schmidt-Assmann, Anwendungsprobleme des Art. 2 I I GG, AöR 106 (1981) 205

1. Teil: Risikobegriff, vertretene Einordnungsmodelle

81

wenn erheblich divergierende Risikobeurteilungen oder naturwissenschaftliche Erkenntnisse das Gewicht der Verwaltungsentscheidung maßgeblich steigern. 271 b) Die Steuerungsfunktion

der politisch-planerischen

Ebene

Degenhart zufolge w i r d die im Einzelfall vorzunehmende Anlagenerlaubnis bzw. -versagung durch vorgreifliche Entscheidungen auf der politischplanerischen Ebene gesteuert, hierdurch erfährt die spätere Situationsprägung unter Inkaufnahme einiger prognostischer Unwägbarkeiten ihre Zielrichtung. 2 7 2 Diese politisch-planerische Ebene determiniert die grundrechtliche Rahmensituation durch die Setzimg qualitativer und quantitativer Standards außerhalb der gesetzgeberischen Ebene. 273 Diese vollzieht sich nach Degenhart etwa durch die Schaffung technischer Regelwerke, der Grenzwertfestsetzung durch Rechtsverordnungen, aber auch durch die Bestimmung des Gesamtbedarfs an nuklear hergestellter Stromkapazität. 274 Die umfangreiche Regelungskompetenz der Exekutive, welche den Rahmen eigenverantwortlichen Handelns der letztzuständigen Genehmigungsbehörde absteckt, findet ihre Rechtfertigung in der fehlenden gesetzgeberischen Konkretisierung tolerabler Radioaktivitätshöchstgrenzen 275 und den nur sporadischen Aussagen zum Restrisiko. Konsequenz für Degenhart ist hiernach, daß in der Ausgestaltung dieser vorgegebenen Situation keine Beeinträchtigimg vorgegebener Grundrechtspositionen liegen kann. 2 7 6 In der zeitlichen Dimension erklärt dies auch den „dynamischen Grundrechtsschutz" des Bundesverfassungsgerichts, der in seinem Grundgedanken auch in anderen Entscheidungen zum Ausdruck kommt. 2 7 7 Demnach muß unterhalb des Bereichs eines tatsächlichen Grundrechtseingriffs die Garantie des Artikel 2 I I S. 1 GG sog. „faktischen Entscheidungskriterien" Rechnung tragen, die in jener vorgelagerten Ebene politisch-planerischer Entscheidungen 271

Degenhart, Kernenergierecht, S. 196. 272 Degenhart, Kernenergierecht, S. 117; ders., Technischer Fortschritt und Grundgesetz, DVBl. 1983, 926 (930); ders., Kernenergierecht i n der Entwicklung, ET 1983, 230 (232); ders., Kontrollbefugnisse, ET 1981, 203 (204); Wagner, Grundrechtsschutz und Technologieentwicklung, ZRP 1985,192 (193). 273 Degenhart, Kernenergierecht, S. 152 f. 274 Degenhart, Kernenergierecht, S. 122, 123; zu letzterem vgl. Blümel, Standortvorsorgeplanung, DVBl. 1977, 301 (310); ders., in: Emmerich / Lukes, Die Sicherheit der Energieversorgung, S. 67 f. 275 s. Schattke, Grenzen des Strahlenminimierungsgebots, DVBl. 1979, 652f.; zum kontroversen Meinungsstand über die Zulässigkeit einer solchen Delegation s. Fischerhof, Atomgesetz, § 11, 12 Rn. 2; Vieweg, Atomrecht und technische Normimg, S. 18. 276 Degenhart, Kernenergierecht, S. 155. 277 BVerfGE 49, 89 (140); VG Karlsruhe DVBl. 1978, 856 (858): „Die ,letzte' Sicherheit von heute wird die »vorletzte' von morgen sein"; s. hierzu oben 2. Kap. 1. Teil A. II. 2. b). 6 Lawrence

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2.

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der „sozialadäquaten Risiken"

zum Ausdruck kommen. 278 Gleichwohl haben sämtliche Einzelmaßnahmen sowohl der politisch-planerischen als auch der administrativen Ebene in Orientierung an die in Art. 2 I I S. 1 GG getroffenen Wertentscheidungen zu erfolgen, 279 worunter auch die Pflicht fällt, im Zweifel den Weg des geringeren Risikos zu beschreiten. Unterhalb dieser Ebene unmittelbarer Betroffenheit des Bürgers ist Degenhart zufolge die Kernenergie in Abwägung zu bringen mit gleichzeitig verfolgten Förderungszielen, 280 hier kommen auch rechtspolitische Erwägungen wie alternative Energieversorgungsmöglichkeiten sowie Technologiefolgenabschätzungen zum Tragen. 281 I m konkreten Anlagengenehmigungsverfahren ist demgegenüber die Berufung auf behauptete „Unvollkommenheiten nationaler Technologiepolitik" unzulässig. 282

c) Kritische Stimmen zur grundrechtlichen Situationsprägung und „Vorbestimmung" durch „sozialadäquate Risiken" Der vom Bundesverfassungsgericht geprägte Begriff der „sozialadäquaten" Risiken, welche von allen Bürgern zu tragen seien, ist insbesondere in Form seiner Rezeption durch Degenhart zum Gegenstand rechtlich qualifizierter K r i t i k geworden. Angriffspunkt ist hierbei insbesondere die konstruktive Vorstellung einer inhaltlichen „Situationsgebundenheit" der Grundrechte durch technisch-zivilisatorische Risiken. Die formulierte K r i tik an der Vorstellung von bereits im Schutzbereich „von vornherein" eingeschränkten Grundrechten verläuft dabei im wesentlichen auf zwei Ebenen: Zum einen w i r d die angebliche grundrechtliche Bedeutungslosigkeit der Restrisiken gerügt. Diese seien vielmehr selbst grundrechtseinschränkend, 2 8 3 was eine Verletzung des Zitiergebots aus Art. 19 I S. 2 GG durch das Atomgesetz zur Folge habe. 284 In der Zulassung einer über die natürliche 278

Degenhart, Kernenergierecht, S. 150. Degenhart, Kernenergierecht, S. 151; vgl. BVerfGE 49, 89 (142): „objektive Wertentscheidungen, die für alle Bereiche der Rechtsordnung gelten und Richtlinien für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung geben." 2 80 Degenhart, Kernenergierecht, S. 153, 157 mit dem Hinweis auf die hierdurch gebundene Standortbestimmung und auf die Maßgeblichkeit des Entscheidungsverfahrens, vgl. auch Hoppe, Staatsaufgabe Umweltschutz, W D S t R L 38 (1980) 211 (295). 281 Degenhart, Technischer Fortschritt und Grundgesetz, DVB1. 1983, 926 (927). 282 Wagner, Grundrechtsschutz und Technologieentwicklung, ZRP 1985, 192 (193). 279

283 Hof mann, Atomenergie und Grundrechte, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 55 (63); ders., Entsorgimg, S. 348; Mayer-Tasch, Atomenergie - und sie bedroht uns doch, ZRP 1979, 59 (60); Roth-Stielow, Grundrechtsschutz beim Betrieb von Kernkraftwerken, EuGRZ 1980, 386 (387, 390); Baumann, Der Grundrechtsvorbehalt der „sozialadäquaten technisch-zivilisatorischen Risiken", JZ 1982, 749 (754); ähnlich auch Roßnagel, Wie dynamisch ist der „dynamische Grundrechtsschutz", NZVwR 1984, 137 (141). 284 Hinsichtlich der Erfüllung des Zitiergebots aus Art. 19 I 2 GG rückt hier die Verordnungsermächtigung des § 12 I Nr. 1 u. 2 AtomG i n den Vordergrund: Hinz, Verfassungsmäßigkeit der Dosisgrenzwerte, 4. Dt. ATRS (1975) 165 (168) sieht i n der

1. Teil: Risikobegriff, vertretene Einordnungsmodelle

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Strahlenbelastung hinausgehenden zusätzlichen Belastung w i r d ein konkreter Eingriffs- bzw. Gefährdungstatbestand gesehen, der nicht mehr mit dem allgemeinen Zivilisationsrisiko gleichgesetzt werden könne. Es sei daher - auch im Normalbetrieb - eine Berührimg des Schutzbereichs von Art. 2 I I S. 1 GG festzustellen, 285 angenommen w i r d auch die Herantragung einer ungeschriebenen Grundpflicht an das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. 286 Zweitens wird die Gefahr einer technischen, insbesondere atomtechnischen, Ausuferung befürchtet, welche sich jenseits der grundrechtlichen Schranken abspiele und die Frage, inwieweit der mitverantwortende Staat eine weitere Erhöhung oder Vermehrung zivilisatorischer Risiken zulasse, unbeantwortet ließe. So sei insbesondere im Kalkar-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, dem die jüngste Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gefolgt sei, über eine letztverbindliche Bestimmungskompetenz der Verwaltung über das hinzunehmende Restrisiko nichts ausgesagt. 287 Baumann betont, daß nur das Vertrauen in die vollständige Rezeption naturwissenschaftlich-technischer Erkenntnisse durch die Verwaltungsbehörden dazu führen könne, kernenergiebezogene Entscheidungen abzuschichten und damit zu einem Teil der gerichtlichen Kontrolle zu entziehen. 288 Diese Konsequenz der zu akzeptierenden vorgreiflichen Entscheidung, welche eine Grundrechtsverletzung durch die Genehmigungsbehörde qua vorgelagerter Rechts-„Gestaltung" ausschließt, wird als Einfallstor für unannehmbare Gestaltungsspielräume der Exekutive angesehen. Sie führe im Endeffekt zu einer Umkehrung des seit dem Würgassen-Urteil 289 anerGrenzfestsetzung eine Schaffung von Gefährdungstatbeständen gemäß statistischer Wahrscheinlichkeitsberechnungen. Für diesen, Art. 2 I I S. 1 GG berührenden Eingriff müßte ein Hinweis auf das eingeschränkte Grundrecht in § 12 I Nr. 2 AtomG gegeben sein. Da eine solche Einschränkung in § 12 I I AtomG nur für § 121 Nr. 4 AtomG, nicht aber für § 12 I Nr. 2 AtomG genannt sei, könne § 12 I Nr. 2 nicht als Gefährdungsermächtigung angesehen werden. Anders Hofmann, Entsorgung, S. 88, der auf die fehlende empirische Faßbarkeit derartiger Schäden hinweist und daher eine Deklarationspflicht aus Art. 19 I 2 GG ablehnt; so auch Götz, Verfassungsmäßigkeit der Dosisgrenzwerte, in: 4. Dt. ATRS (1975) 177 (177f., 186). 285 Baumann, Der Grundrechtsvorbehalt der „sozialadäquaten technisch-zivilisatorischen Risiken", JZ 1982, 749 (754); Mayer-Tasch, Weg vom Rechtsstaat zum Atomstaat, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 67 (70); Hinz, Verfassungsmäßigkeit der Dosisgrenzwerte, 4. Dt. ATRS (1975) 165 (168); Hofmann, Entsorgung, S. 306 mit dem Hinweis darauf, daß es keinen Dosisgrenzwert gibt, unterhalb dessen eine radioaktive Strahlung als absolut unschädlich angesehen werden könne; vgl. Barthelmeß, Gesichtspunkte zur genetischen Beurteilung, 4. Dt. ATRS (1975) 309f. 286 Hofmann, Grundpflichten, W D S t R L 41 (1983) 43 (83). 287 Baumann, Der Grundrechtsvorbehalt der „sozialadäquaten technisch-zivilisatorischen Risiken", JZ 1982, 749 (752); Hofmann, Entsorgung, S. 352f.: „Zumutbarkeit von Restrisiken w i r d überwiegend sozialpsychologisch, nicht rechtlich begründet". 288 Baumann, Der Grundrechtsvorbehalt der „sozialadäquaten technisch-zivilisatorischen Risiken", JZ 1982, 749 (753). 289 BVerwG DVBl. 1972, 678 (680); s. ferner Nw. 2. Kap. 1. Teil Fn. 100.

6'

2.

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der „sozialadäquaten Risiken"

k a n n t e n Vorrangs des S c h u t z - v o r d e m F ö r d e r z w e c k . 2 9 0 Z u befürchten sei v i e l m e h r eine D e g r a d i e r u n g des g r u n d r e c h t l i c h e n Schutzauftrags z u einer f o r m a l e n B i n d u n g , die I n d i v i d u a l g r u n d r e c h t e k ö n n t e n auf der Basis einer vorformenden Situationsgestaltung n u r n o c h eingeschränkte W i r k u n g e n t f a l t e n . 2 9 1 D i e h i e r d u r c h m ö g l i c h e E i g e n d y n a m i k technischer R i s i k e n sieht e t w a Roßnagel d u r c h den Ü b e r g a n g der v o n i h m so b e n a n n t e n Phase „ K e r n energie I " zu „Kernenergie I I " b e s t ä t i g t . 2 9 2 H i e r u n t e r versteht er den Wechsel v o n der N u t z i m g „ k o n v e n t i o n e l l e r " Leichtwasserreaktoren, deren S p a l t p r o d u k t e endgelagert werden, z u r großtechnischen V e r w e n d i m g des „ S c h n e l l e n B r ü t e r s " (SNR 300) bei gleichzeitiger I n b e t r i e b n a h m e der geplanten W i e deraufbereitungsanlage

i m bayerischen W a c k e r s d o r f . 2 9 3 Dieser

Phasen-

wechsel fände a l l e i n d u r c h Genehmigungsakte der E x e k u t i v e ohne erneute gesetzgeberische L e i t e n t s c h e i d u n g statt, o b w o h l das Bundesverfassungsg e r i c h t die fortbestehende gesetzgeberische P f l i c h t z u m e n t w i c k l u n g s begleitenden erneuten T ä t i g w e r d e n a u s d r ü c k l i c h b e t o n t h a b e . 2 9 4

290 Baumann, Der Grundrechtsvorbehalt der „sozialadäquaten technisch-zivilisatorischen Risiken", JZ 1982, 749 (753); mit anderer Begründimg ebenso Lecheler, Reform der Anlagenbaugenehmigung, ZRP 1977, 241 (244), der aus der jetzt schon gegebenen und von ihm befürchteten weiteren Ausweitung behördlichen Spielraums im Rahmen von § 7 I I Nr. 3 AtomG einen Vorrang des Förder- vor dem Schutzzweck erblickt. 291 Sommer, Besprechung von Degenhart, Kernenergierecht, Zeitschrift für Wasserrecht 1982, 258; Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 148, 149: „Würde man damit ernst machen, dann stellte man die technische Entwicklung über die Verfassung." 292 Roßnagel, Nachbesserungspflichten des Gesetzgebers, JZ 1985, 714 (715). 293 Dieser „qualitative Sprung" ist auch von der Enquête-Kommission „zukünftige Kernenergie-Politik" des 8. Deutschen Bundestages festgestellt worden, der Unterschied des jetzt projektierten „geschlossenen Brennstoffkreislaufs" zum herkömmlichen System der direkten Endlagerung sei so gravierend, daß von zwei verschiedenen Systemen der Atomenergienutzung gesprochen werden müsse, vgl. dazu Roßnagel, Nachbesserungspflichten des Gesetzgebers, JZ 1985, 714f. 294 Roßnagel, Nachbesserungspflichten des Gesetzgebers, JZ 1985, 714 (715) unter Bezug auf BVerfGE 49, 89 (130); diese Auffassung spiegelt sich auch im Beschluß Nr. 17 der Umweltrechtlichen Abteilung des 56. DJT (1986) wider, wo die Abteilung mit knapper Mehrheit die Empfehlung ausgesprochen hat, eine Enquête-Kommission mit der Untersuchung zu beauftragen, inwieweit § 7 AtomG einer Novellierung bedarf. Auch findet sich der Gedanke der verfassungswidrigen „Plutoniumwirtschaft" i n der jüngst beim BVerfG anhängig gewordenen Klage der SPD-Bundestagsfraktion wieder, s. FAZ v. 8. November 1988, S. 5.

2. Teil

Eigene Analyse der „sozialadäquaten Risiken" Die vom Bundesverfassungsgericht ohne nähere konstruktive Begründimg eingeführte und von der Literatur in verschiedener Weise interpretierte Formel der von allen Bürgern hinzunehmenden sozialadäquaten Risiken wirft gerade im Lichte ihrer Kritiker besondere Zweifelsfragen auf. Hierbei rücken für die folgende Untersuchung zwei voneinander zu trennende Fragen in den Vordergrund: Zum einen die nach der „Erklärung" „sozialadäquater" Risiken im System der Grundrechtsgewährleistungen, zum anderen die nach der Steuerung und „Dynamisierung" jener Risiken innerhalb des technischen und sozialen Wandels. Beide Fragen stehen in Zusammenhang miteinander. Die erste soll in diesem Kapitel, die zweite im darauf folgenden 3. Kapitel beantwortet werden.

A. Unterschiede in den Begründungen der „sozialadäquaten Risiken" durch das Bundesverfassungsgericht und Degenhart Der Unterschied zwischen der Anerkennung „sozialadäquater" Restrisiken durch das Bundesverfassungsgericht und der Anerkennung grundrechtsprägender zivilisatorischer Rahmenbedingungen im Sinne Degenharts liegt zuvorderst in der vom Bundesverfassungsgericht jedenfalls nicht ausdrücklich betonten zeitlich-dynamischen Komponente. Wenn das Bundesverfassungsgericht den nach Ausschöpfung aller „praktisch vernünftigen" Sicherheitsvorkehrungen verbleibenden Risikorest eines Kernkraftwerks als verfassungsmäßig bezeichnet, hat es damit nicht automatisch den grundrechtlichen Freiheitsbereich von vornherein um dieses neugeschaffene Risiko reduziert. Die Anerkennung einer vorgreiflichen situationsgestaltenden Grundrechtsprägung durch administrative Einzelentscheidungen, Regelwerke und Bedarfspläne baut auf der Konstruktion „sozialadäquater" Risiken auf, verläßt diesen Rahmen jedoch durch die Annahme eines flexiblen, sich im Gefolge der technischen und politischen Änderungen laufend wandelnden Prüfungsmaßstabs. Zwar schaffen die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts, welches anläßlich der Einzelfallentscheidung „Kalkar" Grundsätze über die Anerkennung „sozialadäquater" Risiken im Kernener-

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2.

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der „sozialadäquaten Risiken"

gierecht schlechthin aufgestellt hat, zugleich Einordnungsmöglichkeiten für weitere, durch den zukünftigen Neubau von Kernenergieanlagen bedingte sozialadäquate Risiken. Der Unterschied in der Dynamik zur Auffassung Degenharts ist jedoch darin zu erblicken, daß hier das jeweils neu zu bewertende Risiko am Bestand der bisherigen sozialadäquaten Risiken zu messen ist, nicht jedoch durch seine eigene bloße Existenz selbst Bestandteil der vorhandenen Risiken wird und damit seinen eigenen Prüfungsmaßstab modifiziert. Insofern erscheint es angebracht, den Begriff des Bundesverfassungsgerichts in „sozialtypische" Risiken umzuformulieren. Hierdurch w i r d klar, daß neue Risiken am bekannten Stand der bereits vorhandenen gemessen werden müssen, wodurch ein zwar dynamisches, aber tendenziell normativ retardierendes Merkmal eingebracht wird.

B. Einordnung und Qualifizierung der „sozialadäquaten Risiken" Beim Versuch einer „Erklärung" sozialadäquater Risiken im Grundrechtsgefüge ist erneut auf die Notwendigkeit und Berechtigung einer solchen Maßstabsfindung am Grundgesetz selber hinzuweisen. Wie ausgeführt, 1 übernimmt der Staat kernenergiespezifisch aufgrund der hier gegebenen Besonderheiten eine spezielle Verantwortung für nukleartechnische Gefährdungen, der Mühlheim-Kärlich-Beschluß hat hierfür die gleichen strengen Maßstäbe aufgestellt wie für ein Eingriffsgesetz. 2 Damit aber ist der „qualitative Sprung" von der weitgehend ausfüllungs- und konkretisierungsbedürftigen bloßen Schutzpflicht zur immittelbaren Anwendung der Grundrechtsdogmatik für die von Dritten verursachten Grundrechtsverletzungen und -gefährdungen gegeben. Während eine Schutzpflicht aus Art. 2 I I S. 1 GG niemals die gleiche Intensität wie die abwehrrechtliche Dimension des Art. 2 I I S. 1 GG besitzen kann, 3 ist bei einer Gleichstellung staatlichen und privaten Handelns über das Medium der „Mitverantwortung" für einen weitgehenden staatlichen Ausgestaltungsspielraum hinsichtlich des dann gegebenen Abwehrcharakters des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit kein Raum. Ausgehend von einer unmittelbaren Anwendbarkeit des negatorischen Grundrechtsschutzes soll daher im folgenden versucht werden, die Restrisiken anhand dieses denkbar strengsten Maßstabs zu messen. Nicht zuletzt dient diese gegenüber einer bloßen Schutzpflicht gesteigerte Begründungsbedürftigkeit der im methodischen Teil geforderten größtmöglichen Rationalität und Nachvollziehbarkeit. Wenn hingegen 1 s. oben 2. Kap. 1. Teil Β. 1.1., 2. 2 BVerfGE 53, 30 (58). 3 Schmidt-Assmann, Anwendungsprobleme des Art. 2 I I GG, AöR 106 (1981) 205

(216).

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lediglich eine zur Disposition des Gesetzgebers stehende Schutzpflicht angenommen werden würde, wäre eine Einordnung der Restrisiken in wesentlich höherem Maße wertungsbedingt und -abhängig. Vor dem Hintergrund der oben 4 postulierten Rationalität gälte dies als Nachteil. I. Theoretische Möglichkeiten der grundrechtsdogmatischen Einordnung von Restrisiken Das vom Bundesverfassungsgericht und der Literatur als „sozialadäquat" bezeichnete Restrisiko 5 setzt sich sowohl aus dem eigentlichen Restrisiko als auch aus den Bestandteilen der Gruppe „Risikovorsorge" zusammen, gegen die aus Gründen der Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit gerade keine Risikovorsorge mehr geboten ist. 6 Wenn im folgenden vom Restrisiko gesprochen wird, ist hiermit die Summe beider Kategorien gemeint. Diese Restrisiken müssen in das System grundrechtlicher Gewährleistungen und Beschränkungen eingeordnet werden. Eine solche grundrechtliche Einklassifizierung ist kein zu vernachlässigender Formalismus, sondern Ausdruck rechtsstaatlicher Bestimmtheit und rationaler Überprüfbarkeit. Da diese Einteilung bislang nur sehr unvollkommen vorgenommen wurde, soll im folgenden der Versuch unternommen werden, einen im Hinblick auf diesen Problemkreis befriedigenden Lösungsweg aufzuzeigen. Unbestrittene Prämisse im Rahmen dieser Einordnung ist die Existenz „sozialadäquater" Risiken als solcher, mögen diese auch unvorstellbar klein, „praktisch" nicht bekämpfbar oder noch nicht einmal erkannt sein. Die Bezeichnung dieser Risiken als sozialadäquat setzt jedenfalls als Ergebnis einer Wertung die Existenz des Bewerteten voraus, so daß eine womögliche Gleichstellung von „vernachlässigbar" und „nicht vorhanden" unzulässig ist. Ebenfalls die dem Bundesverfassungsgericht 7 unterstellte Auffassung, ein „Eingriff" in die körperliche Unversehrtheit liege nicht vor, wenn er nur „geringfügig" und damit zumutbar sei,8 ist nicht überzeugend. Durch eine solche Dogmatik fände eine unzulässige Vermischung von Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranke statt. 9 Wenn das Bundesverwaltungsgericht feststellt, 10 daß es „schlechterdings nicht Sinn des Grundrechtsschutzes sein kann, die Menschen auch vor solchen Beeinträchtigungen der Kör4

s. oben 1. Kap. 2. Teil C. Zu den von Literatur und Rechtsprechung herausgearbeiteten Grundsätzen vgl. die Ausführungen 2. Kap. 1. Teil Β. II. 6 Vgl. dazu oben 2. Kap. 1. Teil A. III. 3. c). 7 BVerfGE 17, 108 (115). 8 v. Münch, in: ders., GG, Art. 2 Rn. 57; Kloepfer, Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken, in: FG BVerfG II, S. 405 (409) (ohne Bezugnahme auf das BVerfG); VGH Ba.-Wü., DVBl. 1976, 538 (543). 9 Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 193, 194. 10 BVerwGE 46,1 (7) - Haarerlaß - . 5

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persphäre zu schützen, die unwesentlich sind", so muß dies als Ergebnis eines Zusammenspiels von Grundrechtstatbestand und Eingriffsschranke verstanden werden. Unzulässig wäre es demgegenüber, das Ergebnis vorwegnehmend die Berührung schon des Grundrechtstatbestandes ganz zu leugnen. 11 Auch nur unwesentliche Beeinträchtigungen hören deshalb nicht auf, Beeinträchtigungen zu sein, weil sie als „sozialadäquat" hingenommen werden müssen. 12 Nötig ist daher eine exakte Einordnimg der Restrisiken in die Grundrechtsdogmatik, welche sich zunächst nicht von der Intensität der Beeinträchtigung beeinflussen lassen darf. Die Belastung des Individuums und der Gesamtbevölkerung mit so bezeichneten Restrisiken legitimiert sich dabei nicht aus sich selbst heraus. Wie Hofmann zutreffend ausführt, 13 bewirkt die Frage nach der sozialadäquaten Zumutbarkeitsschwelle ebensowenig direkt eine den Artikel 2 I I S. 1 GG einschränkende Norm wie aus der Frage nach finanziellen Zumutbarkeiten unmittelbar ein Steuergesetz entsteht. Ebenfalls der bloße Hinweis auf die Annehmlichkeiten der Zivilisation zur Legitimation von Restrisiken vermag einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht standzuhalten. 14 An dieser Stelle ist auf den engen Zusammenhang zwischen der rechtskonstruktiven Einordnung der Restrisiken und der Frage nach den Anforderungen an ihre Dynamik hinzuweisen: Je niedrigere Maßstäbe an zu beachtende rechtsstaatliche Sicherungen angelegt werden, desto höhere Anforderungen sollten für die Kontrolle der quantitativen Zunahme bzw. des Zunahmeprozesses 15 gelten, w i l l man nicht vor einem Umschlagen zunehmender Risikoquantität in eine neue Risikoqualität kapitulieren. Bei der grundrechtsdogmatischen Einordnung der Restrisiken ist zu berücksichtigen, daß das Grundgesetz den ranghöchsten Normenkomplex bildet. Jede grundrechtsrelevante Maßnahme, die durch den Staat selber oder ihm zurechenbare Handlungen verursacht wird, ist i n den Katalog der überhaupt denkbaren Grundrechtseinschränkungen bzw. -ausgestaltungen einzuordnen. 16 Liegt ein „Eingriff" in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit vor, darf dieser gem. Art. 2 I I S. 3 GG nur aufgrund eines Gesetzes erfolgen. Ein solches Eingriffsgesetz ist nur unter Beachtung der formellen Anforderungen des Art. 19 I GG und der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 I I GG rechtmäßig, ferner muß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt sein. 17 11

Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 193 (Fn. 12),

194 f. 12

Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 195. Hofmann, Entsorgung, S. 351. 14 Hofmann, Entsorgung, S. 348. 15 s. hierzu ausf. unten 3. Kap. 16 Den numerus clausus der Grundrechtseinschränkungen und -ausgestaltungen betont Schnapp, Grenzen der Grundrechte, JuS 1978, 729f. (729). 13

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Obgleich das Atomgesetz ein formelles und materielles Gesetz darstellt, hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich festgestellt, daß es keinen Rest- oder Mindestschaden irgendwelcher Art in Kauf nimmt, der als Grundrechtsverletzung anzusehen wäre. 18 Dies wäre, wie das Gericht ausführt, 1 9 auch deshalb unmöglich, da das Atomgesetz in diesem Falle das entsprechende Grundrecht gemäß Art. 19 I S. 2 GG ausdrücklich hätte einschränken müssen. Ein solches Zitat findet sich im gesamten Atomgesetz jedoch nicht. Gerade dieses „formale" Argument ist bei der hier beleuchteten Materie und angesichts der Vorwürfe, die gegen die friedliche Kernenergienutzung erhoben werden, nicht zu unterschätzen. Das Zitiergebot soll gerade verhindern, daß der Gesetzgeber Grundrechte einschränkt, ohne sich hierüber Rechenschaft zu geben. 20 Bei den häufig nicht unmittelbar erfaßbaren und sich sukzessive steigernden technischen Risiken kommt dieser Verfassungsvorschrift daher eine besondere Bedeutung zu. Das Atomgesetz kann folglich verfassungsrechtlich nur bestehen, wenn die sich aus ihm heraus legitimierenden Restrisiken anders als ein „Eingriff" angesehen werden können, andernfalls es wegen Verletzung von Art. 19 I S. 2 GG als verfassungswidrig angesehen werden muß. Die folgende Untersuchimg geht von der anerkannten 21 Verfassungsmäßigkeit des Atomgesetzes aus, beleuchtet jedoch deren Bedingung, nämlich, ob sich die Restrisiken der friedlichen Kernenergienutzung rechtskonstruktiv anders als ein Grundrechtseingriff ansehen lassen. Für eine solche Sichtweise und damit Legitimation der Restrisiken bieten sich überhaupt nur zwei Wege an. Einmal könnten die als „sozialadäquat" bezeichneten Restrisiken als Ausdruck einer Schutzbereichsausgestaltungskompetenz des einfachen Gesetzgebers angesehen werden. Die zweite Möglichkeit wäre, die Restrisiken als „immanente" oder „inhärente" Schranke des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit anzusehen, worunter allgemein die einem subjektiven Recht wesensmäßig innewohnenden Grenzen verstanden werden. 22 Bei beiden Möglichkeiten wäre die fehlende Nennung des „ausgestalteten" bzw. 17

v. Münch, in: ders., GG, Art. 2, Rn. 72. BVerfGE 49, 89 (141). 19 BVerfGE 49, 89 (141). 20 Herzog, in M / D / H / S , GG, Art. 19 I, Rn. 48; Hofmann, Atomenergie und Grundrechte, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 55 (63). 21 BVerfGE 49, 89 (129); Ossenbühl, Kernenergie i m Spiegel des Verfassungsrechts, DÖV 1981, 1 (2); Stnckrodt, Staats- und völkerrechtliche Prämissen der friedlichen Kernenergieverwendung, S. 23; Wagner, Bedrohen moderne Technologien die Grundrechte? ZRP 1979, 54 (54); s. ferner die Nw. oben 1. Kap. Fn. 4. 22 Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 56; E. Hesse, Bindung des Gesetzgebers, S. 87; Scheuner, Grundrechtsinterpretation, DÖV 1956, 65 (69); ders., Grundrecht der Berufsfreiheit, DVB1. 1958, 845 (848); Zippelius, Artikel „Grundrechte", in: Ev. Staatslexikon, Sp. 1231; Dürig, Art. 2 GG, AöR 79 (1953/54) 57 (59, 81); Maunz, Staatsrecht, S. 155. 18

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„immanent begrenzten" Grundrechts aus Art. 2 I I S. 1 GG im Atomgesetz unerheblich. Die Grundrechtsausgestaltung ist schon begrifflich keine Einschränkung im Sinne von Art. 19 I S. 1, 2 Grundgesetz, das Zitiergebot findet mithin keine Anwendimg. Nach allgemeiner Auffassung ist der Gesetzgeber auch im Falle einer „immanenten" Schranke nicht dazu verpflichtet, das betreffende Grundrecht i m jeweiligen Gesetz zu zitieren. 23 Dieser Anwendungsausschluß ist insofern folgerichtig, als Art. 19 I S. 2 GG nur für solche Gesetze gilt, die ein Grundrecht über die in ihm selbst angelegten Grenzen hinaus einschränken. 24 Vom Ergebnis dieser Einordnungsproblematik hängt ferner auch die Bewertung sonstiger Vorschläge ab, etwa die Qualifizierung der Restrisiken als ungeschriebene, außerhalb des Gesetzesvorbehalts geschaffene Grundpflicht. 2 5

Π. Analyse der theoretischen Möglichkeiten 1. Restrisiken als Ausdruck einer Ausgestaltung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit

a) Überwiegende Auffassungen zur Grundrechtsausgestaltung aa) Inhalt dieser Konstruktion Viele Autoren betonen die normtheoretische Notwendigkeit der Annahme von Grundrechtsausgestaltungen. Speziell im Atomrecht wird die Annahme einer Ausgestaltung des Grundrechts aus Art. 2 I I S. 1 GG der Drittbetroffenen etwa von Breuer vorgenommen. 26 Prämisse dieser Auffassungen ist, daß nicht alle ein Grundrecht „berührende" Normen zugleich Schranken dieses Grundrechts sind. Es sind vielmehr zwei verschiedene Arten von Freiheit zu unterscheiden, die sog. „natürliche" und die „rechtliche" Freiheit. Unter Grundrechtsausgestaltung w i r d hierbei das primär gesetzgeberische Tätigwerden verstanden, durch welches eine nicht aus sich heraus handhabbare „natürliche" Freiheit auf das Niveau einer rechtlich gewährten und ausgeformten, zumeist in Institute 2 7 gekleideten Gewährleistung 23 BVerfGE 13, 97 (122); E 28, 36 (46); Schmidt-Bleibtreu / Klein, GG, Art. 19, Rn. 8; kritisch Herzog, in: M / D / H / S, GG, Art. 19 I, Rn. 57. 24 BVerfGE 28, 36 (46); Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 136,137. 25 Hofmann, Grundpflichten, W D S t R L 41 (1983) 43 (83). 26 Breuer, Individualschutz gegen Umweltbelastungen, DVBl. 1986, 849 (858). 27 Vgl. Darstellung bei Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 303: „Ehe und Familie, Vereinigungsfreiheit, Garantie des Eigentums und des Erbrechts"; ferner z.B. die Bestimmimg des „Erziehungsberechtigten" i n Art. 6 III, 7 I I GG oder die Definition der „Juristischen Person", vgl. dazu Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 129. Zur Definition der Institute s. Schmidt-Jortzig, Einrichtungsgarantien, S. 31.

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gehoben wird. 2 8 Auch Säcker 29 begründet die Notwendigkeit einer gesetzgeberischen Ausgestaltung von Grundrechten mit den in ihnen verwendeten „theoretischen" Ausdrücken, denen durch sog. „operationable Definitionen" ein empirisch erfaßbarer Gehalt verliehen werden soll. Wo auf der Tatbestandsseite vage Ausdrücke verwendet würden, könne ohne Normkonkretisierung 30 kein Ergebnis gefunden werden, diese Konkretisierung entstünde durch Normsetzimg und -anwendung. 31 Die grundrechtsausführende Funktion der einfachen Gesetze wird hierbei jedoch nur dann als rechtmäßig angesehen, wenn sie als „äquipollenter" Ausdruck der durch sie konkretisierten Grundrechtsnormen verstanden werden kann, d.h., den Freiheitsgehalt verfassungskongruent sicherstellt. 32 Nach allgemeiner Auffassung entbindet der Rollenwechsel des Gesetzgebers vom Feind zum Freund der Grundrechte daher nicht von der Orientierung an den grundgesetzlichen Schutzgehalten. Er beinhaltet folglich keine Ermächtigung zur Begrenzung von Grundrechten. 33 Eine Anwendung dieser Dogmatik auf das Verhältnis der Restrisiken zum Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit hätte zur Folge, daß die dem Atomgesetz entspringenden Restrisiken schon auf der Ebene des Schutzbereichs das Grundrecht aus Art. 2 I I S. 1 GG ausgestalten und insofern - ohne Bindung an die Schrankensystematik - keiner Begründung mehr bedürfen. Eine solche Sicht erscheint sowohl inhaltlich als auch speziell in ihrer Anwendung auf Artikel 2 I I S. 1 GG problematisch.

28 Rupp, Grundrecht der Berufsfreiheit, AöR 92 (1967) 212 (218, 227); Ridder, Soziale Ordnung des Grundgesetzes, S. 76; Scheuner, Pressefreiheit, W D S t R L 22 (1965) 1 (60) für die Pressefreiheit unter Berufung auf BVerfGE 12, 205 (263); Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, S. 248; Lerche, Übermaß, S. 106; Schaumann, Auftrag des Gesetzgebers zur Verwirklichung der Freiheitsrechte, JZ 1970, 48 (48); Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20 (1963) 53 (85); ausdrücklich niedergelegt findet sich die Grundrechtsausgestaltung in Artikel 63 I Hess. Verfassung. 29 Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 98. 30 Vgl. zur Normkonkretisierung bereits oben 1. Kap. 2. Teil B. 31 Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 103; teilweise verwendet Säcker soziologische Erkenntnisse, so verweist er etwa auf Zetterberg, in: Handbuch der empirischen Sozialforschung (Hrsg. R. König), Band I (1962) S. 89 f. (Thesen zur Modellbildung durch Sprache); ähnlich Zippelius, B K z. GG, Art. 1, Anm. 7 f. (zum Begriff der Menschenwürde). 32 Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 103; Abel, Einrichtungsgarantie, S. 52; Schaumann, Auftrag des Gesetzgebers zur Verwirklichung der Freiheitsrechte, JZ 1970,48 (53); „feste Einbettung i n ein freiheitliches Verständnis". 33 BVerfGE 12, 45 (53); E 28, 243 (259); Schaumann, Auftrag des Gesetzgebers zur Verwirklichung der Freiheitsrechte, JZ 1970, 48 (53); Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, S. 248; Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 103; Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 306.

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bb) Kritik, Anwendbarkeit auf die Risikoproblematik (1) Spannungsfeld zu Art. 1 I I I GG, Gefahren der Eigendynamik Wenn es um die Tätigkeit des einfachen Gesetzgebers als Konkretisierungssubjekt 34 geht, droht nichts weniger als ein Widerspruch zu Art. 1 I I I GG, wonach die Grundrechte die Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung unmittelbar binden. Die Normativität der Grundrechte muß dort in Gefahr geraten, wo der Gesetzgeber zum Schöpfer der ihn selbst bindenden Maßstäbe wird. 3 5 Die als normativ bindend angesehene Notwendigkeit einer verfassungsrechtlichen Orientierung des einfachen Gesetzes am auszugestaltenden Grundrecht erweist sich als ein Zirkelschluß. Denn gerade dieser Maßstab (das Grundrecht) soll durch das zu bewertende Gesetz ja gerade erst hergestellt bzw. modifiziert werden. Dieses Dilemma w i r d offenkundig i n der von Säcker selbst verwendeten Formulierung eines Verbots der „freiheitsausschaltenden Durchnormierung und Reglementierung, einer jeglichen Spielraum des Beliebens beseitigenden Totalregelung" 3 6 . Ein derartiges, lediglich den Bereich der evidenten Verfassungswidrigkeit umschreibendes Rechtmäßigkeitskriterium ist für die Beurteilung weniger eindeutiger Fälle, die fraglos auch unterhalb dieser Ebene verfassungswidrig sein können, ungeeignet. Nicht zuletzt ergeben sich aus dem Evidenzstandard heraus keine Anhaltspunkte zur Bewertung einer langsamen, in mehrere Gesetzesvorhaben aufgeteilten Entwicklung, welche aus der ganzheitlichen Betrachtung ihrer Einzelbestandteile heraus zu bewerten ist. Nach alledem scheint eine derart weitgehende Konkretisierungskompetenz des Gesetzgebers zu unscharf, eine solche Befugnis steht vielmehr primär dem Bundesverfassungsgericht zu. 3 7

34 In diesem Zusammenhang meint „Konkretisierung" des Grundrechts etwas anderes als die oben dargestellte Normkonkretisierung: Während es hier um das Wechselspiel mehrerer Normen (Grundrecht - einfaches Gesetz) geht, meint die „eigentliche" Normkonkretisierung etwa im Sinne Hesses oder F. Müllers die dialektisch-rationale Bewältigung des Spannungsfeldes Recht - Wirklichkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt, s.o. 1. Kap. 2. Teil B. 35 Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 131; Krüger, Persönlichkeitsentfaltung, NJW 1955, 201 (201); kritisch auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 302; unter Hinweis auf die verschiedenen Begriffe der Grundrechtsausgestaltung; Gallwas, Grundrechte, S. 6, der die Grundrechtsausgestaltung ausdrücklich auf Verfassungsnormen, etwa die Schrankenvorbehalte, bezieht. 36 Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 103. 37 Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 131.

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(2) Problem der Anwendbarkeit einer Ausgestaltungskompetenz auf Art. 2 I I S. 1 GG Selbst wenn der o. a. Ausgestaltungsdogmatik gefolgt werden sollte, stellen sich hier besondere Probleme der Anwendbarkeit speziell auf das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Während etwa das Grundrecht aus Art. 14 I GG in besonderer Weise - durch wen auch immer - konkretisierungsbedürftig ist, 3 8 erscheint eine derartige Ausgestaltungsnotwendigkeit bei Art. 2 I I S. 1 GG in hohem Maße fraglich. Wenn Hauptzweck und Legitimation der gesetzgeberischen Ausgestaltungskompetenz die „Definition" eines „theoretischen" Grundrechts sein soll, welche der Umsetzung einer natürlichen in eine rechtliche Freiheit zu dienen bestimmt ist, fragt es sich, wo dieses Bedürfnis gerade bei Art. 2 I I S. 1 GG besteht. Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit ist zwar in seinem wörtlichen Ausdruck vage und vermag über den Grad des Gesundheitsschutzes i n der modernen technischen Welt, in welcher faktisch größere Risiken und erhöhte zivilisatorische Vorteile einander korrelieren, nicht viel auszusagen. Die Legitimation sozialadäquater Risiken über die Behauptung einer erst dadurch möglichen Definition oder zumindest Präzisierung des Grundrechts aus Art. 2 I I S. 1 GG geht jedoch fehl. Zwar ist es möglich, als Bestand des Grundrechts dessen überhaupt möglichen Maximalumfang 39 abzüglich der sozialadäquaten Risiken zu sehen. Diese Betrachtimgsweise verkennt jedoch, daß es sich beim Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit zwar um eine natürliche Freiheit handelt, aber um eine solche, die auch ohne Transformation in eine rechtliche Freiheit operationabel ist. Dies w i r d insbesondere bei einem Vergleich mit den „klassischen" Domänen der Grundrechtsausgestaltung, den Instituten etwa der Ehe oder des Eigentums deutlich. Während diese nicht ohne parlamentarische Normsetzung handhabbar sind, ist das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit als status negativus in einem Maximalbestand vorgegeben, der als praktikabel oder nicht bewertet werden mag. Ansonsten bedarf dieses Grundrecht jedoch gerade nicht der Rechtsordnung, um zu existieren. Fraglos notwendige Begrenzungen und Einschränkungen sind daher als solche zu bezeichnen. Der hier auftauchenden Schrankenproblematik darf im Interesse anzustrebender Rationalität der Grundrechtsauslegung 40 nicht durch die Annahme einer relativ bindungslosen Ausgestaltung ohne Begründungszwang ausge38 Schneider, Wesensgehalt, S. 48; Bleckmann, Staatsrecht II, S. 294: „Das Grundrecht entsteht erst i n der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber". 39 D.h., die Abwesenheit jeglicher Beeinträchtigung und Gefährdung. 40 Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 63; Larenz, Methodenlehre, S. 6; Aleocy, Theorie der Grundrechte, S. 306; F. Müller, Jur. Methodik, S. 98,107; Dreier / Schwegmann, Verfassungsinterpretation, S. 43; Majewski, Auslegung der Grundrechte, S. 65; Lerche, Übermaß, S. 58; Wülfing, Gesetzesvorbehalte, S. 48; Ossenbühl, Verfassungsauslegung, DÖV 1965, 649 (654); s. ferner o. 1. Kap. 2. Teil C.

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wichen werden. Nach allem erscheint die hier diskutierte Variante der Grundrechtsausgestaltung sowohl generell-inhaltlich als auch in ihrer speziellen Anwendung auf das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit problematisch. b) Institutionelle

Grundrechtstheorie

Häberles

aa) Inhalt Eine weitergehende, auf die sozialadäquaten Risiken Anwendung findende Auffassung zur Grundrechtsausgestaltung w i r d von Häberle 41 vertreten. Hiernach sind nicht nur einige Grundrechte wie etwa Art. 6 oder Art. 14 GG der Ausgestaltung fähig und bedürftig, sondern alle. Aufbauend auf der Annahme einer Institutsqualität 4 2 der Grundrechte wird dem einfachen Gesetzgeber die doppelte Funktion der Grundrechtsausgestaltung und -begrenzung zugewiesen.43 Diese „institutionelle Grundrechtstheorie" beruht auf der Annahme einer äquivalenten Wertigkeit individueller und gemeinschaftsbezogener Grundrechtsaspekte, welche miteinander verknüpft sind und als im Regelfall nicht miteinander konfligierend aufgefaßt werden. 44 Die grundrechtlichen Freiheitsgewährleistungen als objektivrechtliche Normen sind hiernach zugleich Verbürgungen freiheitlich geordneter Lebensbereiche. Die grundrechtliche Ordnungsidee findet in jedem Grundrecht ihren spezifisch institutionellen Ausdruck. Häberle faßt die grundrechtsausgestaltende Komponente, die keiner ausdrücklichen Schrankenkontrolle unterliegt, 45 derart weit, daß sie schon in den Bereich der Begrenzung hineinragt. 46 „Formal" handele es sich zwar um Begrenzungen 41

Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 116, 181,191. Unter „Instituten" versteht Häberle, der sich auf die grundlegenden Arbeiten von M. Hauriou (Hauriou, Die Theorie der Institution, Dt. Übersetzung abgedr. in Schriften zur Rechtstheorie Heft 5, Hrsg. R. Schnur) beruft, „Bereiche, die durch Normenkomplexe angereichert sind", s. Wesensgehaltsgarantie, S. 165; s. auch Lipp, Stichwort „Institution", in: Ev. Staatslexikon, Sp. 1344f. 43 Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 116, 181; Rupp, Wandel der Grundrechte, AöR 101 (1976), 161 (172f.) mit dem Hinweis auf die Unzulänglichkeit der bloßen „Wahrung eines defensiven Besitzstandes" und der Betonung eines durch das institutionelle Verständnis erleichterten Einbezugs der Wirklichkeit (S. 174); Krebs, Vorbehalt des Gesetzes, S. 79; Scheuner, Pressefreiheit, W D S t R L 22 (1965) 96 (These 13); Lerche, Übermaß, S. 89, 107; ähnlich auch Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, S. 211, der eine dement sprechende Trennung von negativer und positiver Freiheit vornimmt; bedingt zustimmend ferner Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20 (1963) 85, 86; vgl. ferner Böckenförde, Grundrechtstheorie, NJW 1974, 1529 (1532). 44 Auf die Parallelen Häberles zur Smendschen Integrationslehre weist Willke, Grundrechtstheorie, S. 115, 116 hin, vgl. auch Forsthoff, Der introvertierte Rechtsstaat, Staat 2 (1963) 385 (392). 45 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 307. 46 Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 191: „Nicht nur die Grundrechte, sondern auch die Grundrechtsgrenzen sind Gegenstand einer ausgestaltenden Tätigkeit des 42

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individueller Freiheit, welche jedoch die der Mehrheit dienende Institution der Grundrechte aufrechterhalte, dieser zu sozialer Wirklichkeit verhelfe und daher nicht als Grundrechtseinschränkung gesehen werden könne. 47 Von einem Standpunkt aus, der die heute vorherrschende Bindimg des Parlaments hinsichtlich der gesetzlichen Freiheitsausgestaltung für überzogen ansieht, 48 ist dies nur folgerichtig. Bei Rezeption von Häberles Auffassung könnten die im Rahmen des Atomgesetzes, d.h., unterhalb der Gefahrenschwelle an Art. 2 I I S. 1 GG herangetragenen Restrisiken als „Ausgestaltung" des sozial umzusetzenden Instituts „körperliche Unversehrtheit" verstanden werden. bb) Kritik, Stellungnahme Häberles weiter Ausgestaltungsbegriff ist vielfältig kritisiert worden. 49 Angegriffen wird, neben dem unklaren Begriff der Institution, 5 0 die Verwendung der Ausgestaltungsmethodik sowohl für freiheitseinschränkende als auch nicht-einschränkende Tätigkeiten des Gesetzgebers. 51 In dieser Untersuchung soll die These vertreten werden, daß alleine der bloße „Programmsatzcharakter" der Grundrechte, welche durch rechtliche Regelungen ausgefüllt und konkretisiert werden müssen, noch nicht von der Notwendigkeit einer „ehrlichen" Bezeichnung der jeweils zu treffenden Einzelmaßnahme befreit. Anzuerkennen, jedoch auch nicht neu, 52 ist die Annahme einer Gesetzgebers" ; diese Ansicht findet ihren Ursprung nicht zuletzt i n dem von Häberle, a.a.O., S. 222, scharf abgelehnten traditionellen „Eingriffs- und Schrankendenken", ihm folgend Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20 (1963) 85f.; Rupp, Grundrecht der Berufsfreiheit, AöR 92 (1967) 212 (224); a.A. Schaumann, Auftrag des Gesetzgebers zur Verwirklichung der Freiheitsrechte, JZ 1970, 48 (53); Knies, Schranken der Kunstfreiheit, S. 33 f. 47 Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 117, 118, 184; Bäumlin, Staat, Recht, Geschichte, S. 11 f. 48 Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 210, 211. 49 Grundlegende K r i t i k an der ganzheitlichen Verfassungsauslegung bei Willke, Grundrechtstheorie, S. 115, mit dem Vorwurf der Überbetonung des Einheits- und Gleichgewichtsgedankens gegenüber dem Differenzierungs- und Gewichtungsgebot; anders etwa auch das BVerfG, welches im Mitbestimmungsurteil (E 50, 290, 337) den vorrangigen Wert der individuellen Grundrechtskomponente betont; grundlegend kritisch ebenfalls van Nieuwland, Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 59. 50 Den Vorwurf terminologischer Undeutlichkeit erheben Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 133; Podlech, Grundrechte und Staat, Staat 6 (1967) 341 (348); Willke, Grundrechtstheorie, S. 117; Schmidt, Freiheit vor dem Gesetz, AöR 91 (1966) 42 (63); Schnur, Bespr. von Häberle „Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG", DVB1. 1965, 489 (490); Schwabe, a.a.O., S. 135 deutet die Institutslehre als Identität von Grundrecht und rechtlich durchwirkter Faktizität; zum Unterschied zwischen Instituten und Institutionen s. C. Schmitt, Institutionelle Garantien, S. 140 (143); dazu auch v. Münch, in: ders., GG, Vorb. Art. 1 - 1 9 Rn. 23. 51 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 302; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 141; vgl. auch Schmidt-Jortzig, Einrichtungsgarantien, S. 63 f. 52 J. P. Müller, Persönlichkeitsschutz, S. 141 mwN.

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Ambivalenz der meisten grundrechtsrelevanten Maßnahmen, welche, wie z.B. die Straßenverkehrsgesetze, die Freiheit anderer schützen. Die Schrankensystematik würde aber in ihrer Bedeutung verkürzt werden, wollte man Grundrechte und deren Vorbehaltsgesetzgebung zusammen als den „Komplex Grundrechte" definieren. Die hierdurch bedingte Angewiesenheit auf die von der jeweiligen Parlamentsmehrheit „beschlossenen" Grundrechtsleitbilder verkennt den vor-staatlichen Charakter der Grundrechte, 53 deren Normativitätsanspruch hier gefährdet wird. Es erscheint jedenfalls verfehlt, aus dem Schutz des „Instituts" der Freiheit folgernd die Möglichkeit einer Grundrechtseinschränkung zu leugnen und alle Maßnahmen unter den Oberbegriff „Ausgestaltung" zu subsumieren. Der Schluß von der Notwendigkeit gesetzlicher Regelungen auf ihren freiheitsfördernden Charakter als solchen ist jedenfalls unzulässig. Für die Qualifikation eines Einzelgesetzes ist demnach ausschließlich auf das Verhältnis zwischen Gesetzgeber und Normadressat, nicht auf das Verhältnis zwischen Gesetzgeber und eventuell von der Freiheitsbeschränkimg profitierende Dritte abzustellen. 54 Würde die Möglichkeit der Ausgestaltung von Grundrechten auch durch deren Begrenzung anerkannt, w i r d zum einen die Trennung zwischen Ausgestaltung und Eingriff, zum anderen die normative Grenze der Ausgestaltung fraglich, da in diesem Bereich verfassungsrechtliche Grenzlinien nur schwer zu ziehen sind. Zusammenfassend ist daher festzuhalten, daß der punktuell einschränkende Charakter einer Maßnahme nicht dadurch aufgehoben wird, daß sie unter einem anderen Gesichtspunkt freiheitsausgestaltend oder -fördernd w i r k t . 5 5 In der institutionellen Grundrechtstheorie Häberles findet sich nach allem eine übermäßige Akzentuierung der verfassungsrechtlichen Harmonisierungsfunktion, für den Charakter der Grundrechte als Abwehrrechte bleibt für die rechtsschöpferische Funktion des Gesetzgebers unter Umgehung der Schrankensystematik kein Raum. 56 Häberles Modell einer Grundrechtsausgestaltung auch durch Begrenzung erscheint daher nicht überzeugend. Da diese Sichtweise Häberles generell nicht 53 Auf die damit verbundene Mißbrauchsgefahr weist Lerche, Bespr. von Häberle, „Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG", DÖV 1965, 212 hin; vgl. auch v. Münch, in: ders., GG, Vorb. Art. 1 - 1 9 Rn. 24. 54 Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 142. 55 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 302. 56 Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 142, 145, 146; sehr kritisch auch Willke, Grundrechtstheorie, S. 117, der Häberles Deduktion als Ausdruck einer abzulehnenden Betonung der sozialen Funktion der Grundrechte sieht, wodurch liberale und individualistische Grundrechtsgehalte völlig zurückgedrängt würden; kritisch ferner Schmidt, Freiheit vor dem Gesetz, AöR 91 (1966) 42 (64), der sich vor allem für das traditionelle Eingriffs- und Schrankendenken ausspricht; Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 56 Fn. 69; Forsthoff, Der introvertierte Rechtsstaat, Staat 2 (1963) 385 (392, 393); Denninger, Buchbesprechung zu Häberle „Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG", JZ 1963, 424; Lerche, Buchbesprechung zu Häberle „Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG", DÖV 1965, 212; Starck, Die Grundrechte des Grundgesetzes, JuS 1981, 236 (239).

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geteilt wird, soll hier offenbleiben, ob es sich der institutionellen Grundrechtstheorie zufolge bei den Restrisiken um eine Grundrechtsausgestaltung durch grundrechtsbegrenzende oder nicht-begrenzende Folgen der nuklearen Nutzimg handelt. Da vielmehr die Erkenntnis einer lücken- und vorbehaltlosen Einordnungsmöglichkeit der Restrisiken im Grundrechtsgefüge angestrebt wird, kann die Legitimation der Restrisiken auf dem Boden der institutionellen Grundrechtstheorie nicht vorgenommen werden. Generell scheidet damit die Möglichkeit einer „Erklärung" der nuklearen Restrisiken als grundrechtsausgestaltende Folgewirkung der atomaren Nutzung überhaupt aus. 2. Restrisiken als Ausdruck einer „immanenten" Grundrechtsschranke

Zu erörtern bleibt die Legitimation „sozialadäquater" Restrisiken über die Annahme einer „immanenten" Tatbestandsbegrenzung. a) Terminologie Der Ausdruck „Immanenz" entstammt der Philosophie, i m Gegensatz zum Begriff der „Transzendenz" meint er das Verbleiben in einem bestimmten Bereich. 57 In der grundrechtstheoretischen Literatur und Rechtsprechung wird er zur Herleitung einer internen Gewährleistungsgrenze des jeweiligen Grundrechts verwendet. Hervorzuheben ist hier die terminologische Undeutlichkeit 5 8 sowie die sich dahinter verbergenden verschiedenen dogmatischen Begründungen. Auf der terminologischen Seite finden sich bei im wesentlichen gleicher Bedeutung die Ausdrücke „immanent" 5 9 , „inhärent" 6 0 , „notwendig" 6 1 und „unvermeidlich" 6 2 . Bleckmann 63 wiederum verwendet den Ausdruck „immanente Schranken im engeren Sinne" um die hier getroffenen Begrenzungen des Grundrechts von den „äußeren" Schranken abzugrenzen. Eigentlich nicht bestehende Ungewißheiten über die Art der Begrenzung werden durch die Verwendung irreleitender Begriffe für die Rechtsfolge der immanenten Begrenzung hervorgerufen. Hier finden 57

Hoffmeister, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, S. 321; Brockhaus, Band V, Stichwort „Immanent" (S. 628). 58 Darauf weisen v. Münch, in: ders., GG, Vorb. Art. 1 - 19, Rn. 56; van Nieuwland, Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 8; Lerche, Ubermaß, S. 105 Fn. 30 hin. 59 Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 51; Schneider, Wesensgehalt, S. 166 f. 60 Scholtissek, Innere Grenzen des Freiheitsrechts, NJW 1952, 561 (562); Klein, in: v. Mangoldt / Klein, GG, Vorb. Β XV 2 a vor Art. 1; Krebs, Vorbehalt des Gesetzes, S. 113. 61 Klein, in: v. Mangoldt / Klein, GG, Art. 2 Anm. 4 vor 1. 62 Bachof, Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, JZ 1957, 334 (337). 63 Bleckmann, Staatsrecht II, S. 265. 7 Lawrence

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sich Ausdrücke wie „Beschränkung" 64 , „Einschränkung" 6 5 sowie „Eingrenzung" 6 6 . Allen Bezeichnungsversuchen gemeinsam ist, daß im Unterschied zum Eingreifen einer „äußeren" Schranke hier eine Grenzziehung „ i m " Grundrecht gemeint ist. Dies hat die wichtige Rechtsfolge, daß im Bereich einer immanenten Begrenzung des Grundrechts eine gesetzliche Legitimation der Hoheitsmaßnahmen entbehrlich ist, da keine Einschränkung des Grundrechts vorliegt. 67 Konsequenz ist, daß bis auf einen später zu erörternden Unterfall 6 8 die bei einem „Eingriff" in das Grundrecht ausgelösten rechtsstaatlichen Sicherungen wie etwa der Gesetzesvorbehalt 69 oder das Zitiergebot nicht eingreifen. Für die Frage, ob die „sozialadäquaten" Risiken Ausdruck einer derartigen Grenzziehung innerhalb des Grundrechts sind, und ob eine derartige Einordnung rechtmäßig ist, sind zunächst einige Vorüberlegungen zur Bestimmbarkeit der grundrechtlich geschützten Sphäre nötig. b) Dualismus von Tatbestands- und Schrankenlösung Bei der konstruktiven Darstellung eines Grundrechts sind zwei sich grundsätzlich unterscheidende Möglichkeiten denkbar. aa) Außentheorie Die eine, in Anlehnimg an die zivilrechtliche Dogmatik sogenannte „Außentheorie" sieht das Grundrecht als zunächst einmal in einem Maximalbestand vorhanden an, an welchen in einem zweiten Schritt eine 64 Guradze, Menschenrechte, S. 179f.; Kaufmann, Diskussionsbeitrag, in: W D S t R L 4 (1927) 77 (81). 65 Fechner, Soziologische Seite der Grundrechte, S. 3; F. verwendet gleichzeitig „Einschränkung" und „Grenze". 66 Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 56; Graf, Ungeschriebene Grundrechtsschranken, BayVBl. 1971, 55 (55); Wipfelder, Ungeschriebene Schranken der Grundrechte, BayVBl. 1981, 417 (419); Scheuner, Grundrechtsinterpretation, DÖV 1956, 65 (69). 67 Grundsätzliche Darstellung bei Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 154; Schneider, Wesensgehalt, S. 39f.; Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 87; ders., Mißbrauch von Grundrechten, S. 38; Rüfner, Grundrechtskonflikte, in: FG BVerfG II, S. 459; dem entspricht auch die Rechtsprechung von BVerfG und BVerwG etwa zu Art. 12 GG, wonach nur die „erlaubte" Tätigkeit geschützt sein soll; vgl. BVerfGE 7, 377 (397); BVerwGE 22, 286 (287); Scholtissek, Innere Grenzen des Freiheitsrechts, NJW 1952, 561 (562); Menger, Rechtsprechung, VerwArch 55 (1964) 73: „lediglich Bestimmung der immanenten Schranken von innen heraus" ; Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 134. 68 Den Fall einer immanenten Grundrechtsschranke, i n dem sich ein anderes Verfassungsgut nach Abwägung als vorrangig erweist, s.u. 2. Kap. 2. Teil Β. II. 2. d) ee). 69 Hierauf weisen insbesondere Knies, Schranken der Kunstfreiheit, S. 101; Menger, Rechtsprechung, VerwArch 55 (1964) 73; Bachof, Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, JZ 1957, 334 (338) hin.

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Schranke herangetragen wird. (Späteres) Resultat dieses Vorgangs ist das sog. „eingeschränkte Recht". 70 Prämisse dieser Konstruktion ist die prinzipielle Möglichkeit eines zunächst einmal schrankenlosen Rechts sowie die Vorstellung, daß zwischen dem vorhandenen Recht und dem Begriff der Schranke keine notwendige Beziehung besteht. 71 Interessant ist hier der Hinweis Alexys' 7 2 auf die der „Außentheorie" zugrundeliegende individualistische Staats- und Gesellschaftsauffassimg im Gegensatz zu einer - extrem formuliert - kollektivistischen Betrachtungsweise; auf genau diese in der atomrechtlichen Literatur verlaufende Trennungslinie wurde bereits oben 73 hingewiesen. bb) Innentheorie Die zweite grundrechtliche Konstruktionsmöglichkeit (sog. Innentheorie) vermeidet die von der Außentheorie vorgenommene Zweistufigkeit der Prüfung. Statt an ein zunächst maximal gewährtes Grundrecht Schranken heranzutragen, bezeichnet diese Auffassung von vornherein mit „Grundrecht" den verbleibenden Grundrechts „rest". Die Ambivalenz Recht/Schranke wird damit weitgehend vermieden, stattdessen wird von einem Recht mit einem von vornherein bestehenden Inhalt ausgegangen.74 Dieser Dogmatik zugrunde liegt die Trennung von grundrechtlicher und allgemein-rechtlicher Freiheit. Die grundrechtliche Freiheit kann, da das die Allgemeinheit störende Tun nicht zum Bestand des Grundrechts zählt, schon per definitionem nicht eingeschränkt werden. Als einziges Einschränkungsobjekt bleibt dann die allgemein-rechtliche Freiheit übrig, die von Art. 2 I GG geschützt wird. 7 5 Dieser Dogmatik, welche Schranken nicht „von außen" an das betreffende Grundrecht heranträgt, sondern Eingrenzungserwägungen schon zur Definition des Tatbestands verwendet, liegt die Auffassung des „Ineinanderstehens" von Recht und Freiheit zugrunde. 76 Die Freiheitsrechte

70 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 170f.; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 170f.; Bleckmann, Staatsrecht II, S. 265f.; Leisner, Sozialbindung des Eigentums, S. 167; Knies, Schranken der Kunstfreiheit, S. 36f.; Krebs, Vorbehalt des Gesetzes, S. 77, 113; im Atomrecht insbesondere Sommer, Bespr. von Degenhart, Kernenergierecht, Zeitschrift für Wasserrecht 1982, 258; Baumann, Der Grundrechtsvorbehalt der „sozialadäquaten technisch-zivilisatorischen Risiken", JZ 1982, 749 (753/754), der sich für eine „äußere" Schrankenkonstruktion ausspricht; vgl. ferner Bettermann, Grenzen der Grundrechte, S. 14. 71 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 250, 251. 72 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 251. 73 s.o. 1. Kap. 2. Teil Α.; vgl. hierzu auch Berg, Schrankendivergente Freiheitsrechte, S. 45, 46. 74 Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 179; s. Bettermann, Grenzen der Grundrechte, S. 14, der die Rückbindung des Streits im Zivilrecht aufzeigt, ihn als begriffsjuristisch bezeichnet und nicht entscheidet; dazu auch Säcker, Unbeachtlichkeit der Klagerücknahme, JZ 1967, 51 (54); Schwäble, Versammlungsfreiheit, S. 135. 75 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 253. i*

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reichen hiernach schon vom Tatbestand her nur so weit, wie sie nicht die Rechtsgüter anderer verletzen. Die grundrechtliche Gewährleistung läßt sich hiernach rechtslogisch auch als Konditionalsatz formulieren: Sie reicht nur so weit, wie die ihnen immanent beigefügten Ausnahmeregeln nicht eingreifen. Daß innerhalb dieser Operationalisierung die allgemeinen rechtsstaatlichen Schutzinstrumente wie der Gesetzesvorbehalt, das Zitiergebot oder der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht greifen, 77 w i r d aus der Sicht dieser Betrachtungsweise nicht als Manko empfunden, da der Gesetzgeber die Grundrechte weder verletzt noch relativiert, sondern sie vielmehr bestätigt und sichert. 78 Entsprechend dem Leitsatz: „Die Relation ist das Wesen der Substanz" 79 werden diese immanenten Tatbestandsgrenzen vielmehr als Konsequenz des Grundrechtsbegriffs überhaupt gedeutet. cc) Resultierender Dualismus von enger Tatbestandstheorie und weiter Tatbestandstheorie Entsprechend den aufgezeigten Möglichkeiten einer Schutzbereichs- und einer Schrankenlösung läßt sich i m technischen Sicherheitsrecht wie auch allgemein eine enge und eine weite grundrechtliche Tatbestandstheorie vertreten. Unter Tatbestand, Schutz- oder Normbereich soll hier das vom Grundrecht aus Art. 2 I I S. 1 GG geschützte Territorium verstanden werden, welches (zunächst) ohne Berücksichtigung von Schranken gewährt wird. 8 0 Eine etwas andere Konstruktion für den Fall der Abwehrgrund76 BVerwGE 9, 97 (99); Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 53, 56, mit dem Hinweis, daß deshalb nicht von immanenten Schranken, sondern von immanenten Grenzen gesprochen werden muß; Fechner, die soziologische Seite der Grundrechte, S. 3f.; E. Hesse, Bindimg des Gesetzgebers, S. 87; Geiger, Grundrechte und Rechtsprechung, S. 22f.; Dürig, Art. 2 des Grundgesetzes, AöR 79 (1953/54) 57 (59/81); K.Hesse, Rechtsstaat im Verfassungssystem, in: FG Smend, S. 87 Fn. 48; Guradze, Menschenrechte, S. 179; Rudolph, Eigentum, S. 16f.; Starck, Grundrechte, JuS 1981, 236 (245); Schneider, Buchbespr. zu Gallwas, Der Mißbrauch von Grundrechten, DVB1. 1968, 193 (194); Scheuner, Staatliche Intervention, W D S t R L 11 (1954) 1 (61); ders., Auswanderungsfreiheit, in: FS Thoma, S. 223; ders., Grundrechtsinterpretation, DÖV 1956, 65 (69); ders., Grundrecht der Berufsfreiheit, DVB1. 1958, 845 (848); Wintrich, Verfassungsgerichtliche Rechtsprechung, in: FS Laforet, S. 236; Kratzer, Art. 142 des GG, in: FS Laforet, S. 119; Zippelius, Stichwort: Grundrechte, in: Ev. Staatslexikon, Sp. 1231; Berg, Schrankendivergente Freiheitsrechte, S. 46, 47; Peters, Freie Entfaltung der Persönlichkeit, in: FS Laun, S. 672, der die „Abnutzung" des Persönlichkeitsrechts für „banale Zwecke" rügt; extrem Haas, Freie Entfaltung der Persönlichkeit, DÖV 1954, 70 (71); Säcker, Unbeachtlichkeit der Klagerücknahme, JZ 1967, 51 (54); Wipfeider, Ungeschriebene Schranken der Grundrechte, BayVBl. 1981, 417; Maunz, Staatsrecht, S. 149. 77 Darauf weisen Bleckmann, Staatsrecht II, S. 265; Leisner, Sozialbindung des Eigentums, S. 164f.; Knies, Schranken der Kunstfreiheit, S. 101,102 hin. 78 So insb. Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 57, aus der institutionellen Sicht der Grundrechte heraus; an dieser Stelle überschneidet sich die Annahme immanenter Schranken mit dem zur Grundrechtsausgestaltung ausgeführten, s.o. 2. Kap. 2. Teil Β. II.; s. auch Menger, Rechtsprechung, VerwArch 55 (1964) 73 (für Art. 12). 79 Dazu kritisch Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 59 Fn. 18.

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rechte wie Art. 2 I I S. 1 GG w i r d von Alexy vertreten. Bei Abwehrrechten erachtet er es als notwendige Aufgabe des Grundrechtstatbestandes, als Gegenbegriff zur Grundrechtsschranke eine vollständige Zusammenfassung der für den sog. „prima-facie-Rechtsschutz" nötigen materiellen Voraussetzungen zu liefern. 81 Aus diesem Grunde fordert Alexy die Aufspaltung des Grundrechtstatbestandes in zwei Elemente, das Schutzgut sowie den Eingriff. 8 2 Der grundrechtliche prima-facie-Schutz, der dann in Beziehung zur Schrankensystematik zu setzen sei, kann hiernach nur bei einem Eingriff in ein grundrechtliches Schutzgut gegeben sein. Für den hier aufzuzeigenden grundrechtlichen Dualismus von Tatbestand und Schranke ist diese Verfeinerung jedoch nicht von unmittelbarer Bedeutung. Die Aufnahme des Merkmals „Eingriff" schon i n die Tatbestandsdefinition stellt vielmehr einen Versuch dar, das notwendige Eingriffskriterium in die Struktur Tatbestand - Schranke einzuordnen, ohne eine dritte Kategorie eröffnen zu müssen. Ob die Zuordnimg dieses selbstverständlich notwendigen Eingriffskriteriums gerade zur Tatbestandsdefinition sinnvoll ist oder nicht, sei hier offengelassen. Festzuhalten bleibt, daß der grundrechtliche Schutz des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit in Form eines Abwehranspruchs dann eintritt, wenn in den Schutzbereich eingegriffen wird und sich dieser Eingriff nicht als Ausdruck der aufgrund der Kompetenzregelung 83 des Art. 2 I I S. 3 GG erlassenen einfachgesetzlichen Schranke darstellt. Dieser Korrelation von Schutzbereich und Schranke entspricht die Notwendigkeit einer um so weiteren Schranke, je weiter der Schutzbereich des Grundrechts ausgedehnt wird. 8 4 c) Relevanz des Immanenzgedankens im Atomrecht Für das Atomrecht sind die o. a. Grundrechtsmodelle insofern von Relevanz, als eine konsequent weite Tatbestandstheorie die Schaffung von „Restrisiken" ohne gleichzeitige Beachtung z.B. des Zitiergebots nicht toleriert. 80 Die Bezeichnungen für den Grundrechtstatbestand sind unterschiedlich, so spricht etwa F. Müller, Jur. Methodik, S. 117 von Normbereich, s. auch Müller / Pieroth / Fohmann, Leistungsrechte, S. 97 f.; Schwäble, Versammlungsfreiheit, S. 134. 81 Aleocy, Theorie der Grundrechte, S. 276. 82 Aleocy, Theorie der Grundrechte, spricht unter Berufung auf BVerfGE 32, 54 (68) von der Notwendigkeit einer isolierten Betrachtung des Eingriffs in einem im übrigen weiten Tatbestand, hieraus ergebe sich eine triadische Struktur der Grundrechtsprüfung (S. 275). 83 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 254/255 mit dem Hinweis darauf, daß die Schrankenvorbehalte der Grundrechte lediglich Schrankensetzungskompetenzen begründen. 84 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 279; Berg, Schrankendivergente Freiheitsrechte, S. 42; Scheuner, Grundrechte im Sozialstaat, DÖV 1971, 505 (508/509); Kloepfer, Grundrechte als Entstehenssicherung, S. 44; Schwäble, Versammlungsfreiheit, S. 135.

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Der weit überwiegende Teil der atomrechtlichen Literatur und Rechtsprechung spiegelt in auffälliger Weise eine Einordnung der sozialadäquaten Restrisiken schon auf der Tatbestandsebene wider, vertritt insofern eine enge Tatbestandstheorie. Obwohl das Bundesverfassungsgericht in den Beschlüssen zu den Kernkraftwerken Kalkar und Mühlheim-Kärlich hierzu nicht ausdrücklich Stellung genommen hat, 8 5 ergibt sich eine Einordnung der Restrisiken auf der Tatbestandsebene schon aus dem Sachzusammenhang und der Wortwahl. Wenn das Bundesverfassungsgericht und mit ihm die weit überwiegende Literatur 8 6 die Risiken jenseits des „Maßstabs praktischer Vernunft" als „sozialadäquat" bezeichnet, bedeutet dies vor dem Hintergrund der dargestellten theoretischen Einordnungsmöglichkeiten nichts anderes als eine unausgesprochene Betonung des Immanenzgedankens. „Sozialadäquanz" in diesem Sinne kann überhaupt nur die fehlende Notwendigkeit weiterer verfassungsrechtlicher Begründung und demzufolge auch den Verzicht auf die Absicherung durch rechtsstaatliche Instrumentarien wie das Zitiergebot aus Art. 19 I S. 2 GG ausdrücken. Letztlich verbirgt sich hinter der Bezeichnimg „sozialadäquat" die Vorstellung, daß das Grundsrecht auf körperliche Unversehrtheit schon tatbestandlich „nur" Schutz gegen die Summe aller denkbaren Beeinträchtigungen abzüglich der als sozialadäquat geltenden Belastungen bietet. 87 Diese Vorstellung des auf der Tatbestandsebene modifizierten Grundrechts entspricht exakt dem Immanenzgedanken auf dem Boden einer engen Tatbestandstheorie. 88 Auch die Annahme einer „Situationsbedingtheit" des Grundrechtsschutzes durch sich verändernde technische Entwicklungen stellt in geradezu typischer Weise eine Spielart der engen Tatbestandstheorie dar. Die Ausklammerung bestimmter technisch-zivilisatorischer Risiken aus dem „prima-facie" geschützten Bereich 89 läßt für die Anwendung der Schrankensystematik keinen Raum. Diese Problematik verschärft sich durch die folgende, spezifisch atomrechtliche Überlegung: Dem Immanenzgedanken folgend wird die Inhaltsbestimmung des Art. 2 I I S. 1 GG durch das Atomgesetz vorgenommen. Der Charakter dieser einfachgesetzlichen Norm ist jedoch durch die Verwendung zahlreicher unbestimmter Rechtsbegriffe 90 »s s. E 49, 89f.;53, 30f. 86 s. umfassend die Nw. 1. Kap. Fn. 51; 2. Kap. 1. Teil Fn. 260, 261. 87 Hofmann, Entsorgung, S. 323. 88 Ganz deutlich Degenhart, Technischer Fortschritt und Grundgesetz, DVB1.1983, 926 (928) Fn. 24: „gewisse Risiken, die mit der technisch-zivilisatorischen Entwicklung notwendig verbunden sind, sind als immanente Begrenzung des Schutzbereichs des Grundrechts aufzufassen"; ders., Kernenergierecht, S. 149; Rauschning, Probleme der Entsorgung, 7. Dt. ATRS (1983) 90. 89 s. auch Wagner, Bedrohen moderne Technologien die Grundrechte? ZRP 1979, 54 (56); Wagner / Ziegler / Closs, Risikoaspekte der nuklearen Entsorgung, S. 167: „Norm (Art. 2 I I GG) und Normadressat (Staat) können nur innerhalb einer geschichtlich gewachsenen, zeitlich begrenzten und damit halbwegs konkreten Situation aufeinander bezogen werden".

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derart modifiziert, daß sie ohne das Hinzutreten weiterer Normen- und Regelkomplexe, welche außerhalb der gesetzlichen Ebene etwa im Bereich der institutionell verselbständigten Sachverständigenebene angesiedelt sind, 91 überhaupt nicht anwendbar und vollziehbar ist. Das quantitative Ausmaß des Restrisikos findet seine den Schutzbereich des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit modifizierende Bestimmung somit in untergesetzlichen Bestimmungen und Empfehlungen, welche durch das Atomgesetz lediglich in die gesetzliche Ebene transformiert werden. Diese untergesetzlichen Bestimmungen stellen den eigentlichen „Motor" der Tatbestandsbestimmung von Art. 2 I I S. 1 GG dar. Es fragt sich, ob die festgestellte Einordnung der sozialadäquaten Risiken auf der Tatbestandsebene überzeugend ist. Es sind dafür die dogmatischen Erklärungsversuche einer engen Tatbestandstheorie auf ihre Eignung zu untersuchen, die Restrisiken aus dem grundrechtlichen Tatbestand „von vornherein" herauszunehmen. Nochmals sei hier auf die Relevanz dieser Fragestellung hingewiesen: Läßt sich die Einordnimg auf der Tatbestandsebene nicht mit der notwendigen Überzeugungskraft begründen, muß das Atomgesetz ohne einen dem verfassungsrechtlichen Zitiergebot genügenden Zusatz als verfassungswidrig gelten. Im folgenden sollen daher die verschiedenen Ausprägungen des Immanenzgedankens in Rechtsprechung und Literatur auf ihre Risikolegitimationsfunktion hin überprüft werden.

d) Verschiedene Modelle immanenter Grundrechtsbegrenzungen aa) F. Müllers Theorie der „sachspezifischen Modalität" (1) Inhalt F. Müller lehnt die sog. allgemeine Immanenzlehre ab, 92 versucht jedoch, die Grenze des jeweiligen Grundrechts durch Normbereichsanalyse zu ermitteln. 93 Aus der Rechtsqualität der Grundrechte folge, daß diese nicht ohne Grenzen garantiert seien, 94 als Bestandteile der Verfassung müßten sie unter dem Gesichtspunkt sachsystematischer Zugehörigkeit zur Gesamtverfassung als eingeschränkt betrachtet werden. Aus diesem Grunde bedürfe es 90

s. die Ausführungen dazu oben 2. Kap. 1. Teil Α. II. 2. a). s. zu den überbetrieblichen Regeln, technischen Anleitungen u. a. die Ausführungen oben 2. Kap. 1. Teil A. II. 2. b) aa). 92 Zuletzt F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, S. 416. 93 s. oben 1. Kap. Fn. 83. 94 F. Müller, Positivität der Grundrechte, S. 41; der Schluß von der Rechtsqualität auf die Begrenztheit der Grundrechte findet sich auch bei K. Hesse, Rechtsstaat i m Verfassungssystem, in: FG Smend, S. 87 Fn. 48; E. Hesse, Bindung des Gesetzgebers, S. 88. 91

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zu ihrer Inhaltsbestimmung keiner immanenten Schranken, Grenzen oder auch nur einer Güterabwägung. 95 Daher lägen auch keine ungeschriebenen Annexe, sondern lediglich geschriebene Norminhalte vor, Grenz- und Inhaltsbestimmungen sind hiernach identisch. 96 Auf die Grundrechte bezogen hat Müller die Theorie der sog. „grundrechtsspezifischen" oder „sachspezifischen" Modalität begründet. 97 Hiernach werden per Normbereichsanalyse nur solche Modalitäten zum Schutz-(= Norm-)bereich gerechnet, die eine „typische" Ausübungs-, Organisations- und Sachzustandsform des betreffenden Grundrechts darstellen. 98 Diese Spezifität der Ausübungsmodalität bestimmt Müller danach, ob ihr ein sachlicher Zusammenhang mit dem ermittelten Normbereich zukommt oder nicht. 9 9 Maßgebend für diesen Zusammenhang ist, ob die zu bewertende Handlung des Grundrechtsträgers als für die Grundrechtsausübung notwendig und wesentlich anzusehen ist. 1 0 0 Kurz gefaßt muß die konkrete Modalität mit der „typischen Ausübungsform" des Grundrechts übereinstimmen. Diese Typizität wiederum sei immer dann gegeben, wenn sie sich aus der Interpretation des objektiven Normgehalts ergebe, nicht, wenn sie dem Gesetzgeber hätte vorschweben müssen. 101 Müller versteht diesen Begriff der Typizität jedoch nicht inhaltlich-fixierend, sondern vielmehr strukturell-offenhaltend. Auch das inhaltlich atypische, solange es nur strukturell typisch sei, werde geschützt. 102 Jedenfalls nicht spezifisch für die Grundrechtsausübimg sei eine Modalität, welche austauschbar ist, d.h. genausogut zu anderer Zeit oder an anderem Ort vor sich gehen könnte. 1 0 3 I n derartigen Fällen stelle das nur verbal „einschränkende" Gesetz keinen Eingriff in den grundrechtlich geschützten Bereich dar, weil das atypische Tun schon nicht in den Normbereich des Grundrechts falle. 95 Müller, Freiheit der Kunst, S. 19, mit der Einschränkung, daß grundrechtsbegrenzende Generalklauseln unzulässig seien. 96 Müller, Positivität der Grundrechte, S. 32; der Müllerschen Normbereichsanalyse folgen etwa Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 76, 131; Majewski, Auslegung der Grundrechte, S. 68f.; ähnlich Berg, Schrankendivergente Freiheitsrechte, S. 137,138, 140; Schwäble, Versammlungsfreiheit, S. 135; Ridder, Soziale Ordnung des Grundgesetzes, S. 76. 97 Müller, Positivität der Grundrechte, S. 88, 64, 74, 93, 99. 98 Müller, Freiheit der Kunst, S. 64 mNw auf Erbel, Kunstfreiheitsgarantie, S. 127; Rüfner, Überschneidungen der Grundrechte, Staat 7 (1968) 41 (61). 99 Müller, Freiheit der Kunst, S. 64. 100 Müller, Positivität der Grundrechte, S. 99; deutlich auch auf S. 75, wo sinngemäß ausgeführt wird, daß eine austauschbare Aktionsmodalität keinen grundrechtlichen Schutz genießt (für die beleidigende Petition). 101 Müller, Freiheit der Kunst, S. 64; offenbar w i l l Müller hierdurch die normative Rückbindung sicherstellen. 102 Müller, Positivität der Grundrechte, S. 99; ders., Freiheit der Kunst, S. 64, 65; zum Begriff des „Typus" s. Selmer, Generelle Norm, DÖV 1972, 551 (552). 103 Müller, Freiheit der Kunst, S. 100, 124 mit dem anschaulichsten Beispiel des Malers auf der Straßenkreuzung. Hier sei zwar das abstrakte Malen von Art. 5 I I I 1 GG geschützt, nicht aber die nur akzidentelle Betätigung auf der Kreuzung. Dies stelle keine spezifische Aktionsform der Kunstfreiheit dar, weü das Grundrecht auch

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(2) Kritik, Anwendbarkeit auf die Risikoproblematik Die vielfältige K r i t i k 1 0 4 an Müllers Theorie der „sachspezifischen Modalität" führt so gewichtige und überzeugende Gegengründe an, daß von einer Legitimation der Restrisiken selbst dann nicht ausgegangen werden könnte, wenn sich die Freiheit von nuklearen Restrisiken als „nicht sachspezifische Modalität" der Grundrechtsausübung erweisen würde. Während der Vorwurf des normativ zu imbestimmten Begriffes „Typus" 1 0 5 angesichts dessen wirklichkeitswissenschaftlicher Ausfüllung 1 0 6 noch am leichtesten überwunden werden kann, sind die Einwände überzeugend, welche eine unzulässige Schutzbereichsreduzierung durch die Müllersche Dogmatik rügen. 107 In der Tat ist die aufgrund Normbereichsanalyse begründete Sachspezifität geeignet, im Bereich jenseits des Grundrechts„kerns" Abwägungsproblemen aus dem Weg zu gehen. Das bloße Hinzutreten einer unspezifischen Modalität zu einer „eigentlich" geschützten Grundrechtsausübung (Maler auf der Straßenkreuzung) vermag den Qualitätsverlust der grundrechtlich relevanten Handlung zu einem rechtlichen Nullum kaum zu begründen. Die ungeschriebene grundrechtliche Ausnahmeklausel ist darüber hinaus auch aus folgendem Grund abzulehnen: Jede Grundrechtsausübung würde mit dem Stigma der Unspezifität versehen werden, ließe sie sich in anderer Modalität, d.h., etwa an einem anderen Ort ausführen. 108 Diese Dogmatik ermöglicht vielmehr, bei zusätzlicher erhöhter Mißbrauchsgefahr den grundrechtlichen Tatbestand grundlos auf den Kern des „typischen" zu reduzieren. 109 Gerade das Argument des „es geht auch anders" ist dahingehend mißverständlich, daß bei bloßer Lästigkeit des Grundrechtsausübenden dieser auf eine andere Grundrechtsmodalität verwiesen werden kann. 1 1 0 Speziell die Beliebigkeit von Ort und Zeit der Grundrechtsausübung macht jedoch einen bedeutenden Teil des Grundrechtsschutzes überhaupt aus. 1 1 1 anderswo ausgeübt werden könne. Die Grundrechtsverwirklichung sei auf die Straßenkreuzung weder angewiesen noch beschränkt, Freiheit der Kunst, S. 100. 104 Ablehnend Bleckmann, Staatsrecht Π, S. 268; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 160; Schwacke, Grundrechtliche Spannungslagen, S. 124; Wülfing, Gesetzesvorbehalte, S. 100 f.; der wie auch Leisner, Sozialbindung des Eigentums, S. 164, den Begriff der Sachspezifität auf die „Natur der Sache" zurückführt, S. 101; Düwel, Bespr. von F. Müller „Freiheit der Kunst", DVBl. 1970, 750 (751); van Nieuwland, Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 87, 89. 105 Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 162. 106 s. u. 3. Kap. 2. Teil Β. II. 2. b) aa). 107 Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 163. 108 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 284, 285 mit dem Hinweis, daß aus Gründen der Rationalität grundrechtlicher Argumentation die hinter der Müllerschen Auffassung stehenden - zutreffenden - Erwägungen von der Tatbestands- auf die Schrankenebene gehoben werden müßten. 109 Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 160 f. 110 Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 160 f. 111 Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 161; Düng, in: M / D / H / S, GG, Art. 17a, Rn. 32 für die Religionsausübung, s.a. BVerfGE 42, 143 (150).

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Wie Schwabe zutreffend feststellt, 112 grenzt Müller nicht nur wie die anderen Immanenzlehren auch das sozialschädliche Verhalten aus dem Grundrecht aus, sondern darüber hinaus auch das (von wem zu beurteilende?) nebensächliche Tim. Es ist jedoch sehr zweifelhaft, ob die Anwendung der Müllerschen Normbereichsanalyse auf Art. 2 I I S. 1 GG zu dem Ergebnis führen würde, daß der Normbereich die durch das Atomgesetz an den Bürger herangetragenen sozialadäquaten Risiken nicht mit erfaßt. Bei Anwendung der o. a. Kriterien kann dies nur dann der Fall sein, wenn die Abwehr von Restrisiken nicht zum sachspezifisch geschützten, typischen Inhalt von Art. 2 I I S. 1 GG zählt. An dieser Stelle zeigt sich, daß die Müllersche Variante einer engen Tatbestandstheorie gerade im Falle von raumübergreifenden Risiken auf unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen muß. Weder dem einzelnen Grundrechtsträger, noch den Betroffenen vom Kollektivrisiko wird mit dem Argument begegnet werden können, sein/ihr Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit sei „ i n anderer Weise", d.h., an anderem Ort oder zu anderer Zeit, äquivalent ausübbar. Zwar sind die Restrisiken, was ihre Quelle angeht, räumlich an den Standort nuklearer Anlagen gebunden. I m Falle ihrer Realisierung haben sie jedoch, wie die Vorfälle in Tschernobyl beweisen, grenzüberschreitenden Charakter und weisen keine beachtenswerte räumlich unterschiedliche Qualität auf. Es bedarf keiner weiteren Begründung und würde sicherlich auch Müllers Zustimmung finden, daß es dem Grundrechtsträger nicht zugemutet werden kann, sich auf der Flucht vor nuklearen Risiken entsprechend dem Neubau atomarer Anlagen ständig an einem anderen Ort in der Bundesrepublik aufzuhalten. Angesichts des raumübergreifenden Charakters der Realisierung eines solchen Risikos wäre ein solches Verhalten obendrein sinnlos. Der Verweis auf eine „andere Modalität" der Grundrechtsausübung geht im Falle des nuklearen Restrisikos damit fehl. Die Theorie der „sachspezifischen Modalität" würde demnach nukleare Restrisiken als tatbestandlich relevant und damit verfassungswidrig ansehen. Zur Rechtfertigung einer „inneren Begrenzung" des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit kann dieses Modell daher gerade nicht herangezogen werden. Dies besagt jedoch noch nicht, daß nukleare Restrisiken nun als grundrechtseinschränkend anzusehen sind. Da diese Theorie beachtenswerten dogmatischen Zweifeln unterliegt, ist die Suche nach einer überzeugenden „internen" Begrenzung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit durch nukleare Restrisiken damit nicht abgeschnitten.

112 Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 163; van Nieuwland, Theorien der immanenten Gnindrechtsschranken, S. 87, 89.

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bb) Enge Tatbestandstheorien durch Ausgrenzung des Inhalts „allgemeiner Gesetze" (1) Inhalt, Bedeutimg Eine zweite, in sich aufgefächerte Variante der engen Tatbestandstheorie wird von den Autoren vertreten, die den ursprünglich nur für Art. 5 I I GG geltenden Schrankenbegriff der „allgemeinen Gesetze" auch auf andere Grundrechte, und zwar auf der Tatbestandsebene, ausdehnen möchten. Prämisse dieses Modells ist, daß ein unbegrenzter, gesetzesfreier Freiheitsschutz vom Grundgesetz nicht gewollt sei. 113 Einer weiten Tatbestandstheor i e 1 1 4 wird entweder eine Lähmung der Gesetzgebung 115 oder die Gefährdung anderer Rechtsgüter vorgeworfen. 116 Kritikpunkt einer prima-facieAusdehnung des Grundrechtsschutzes ist die angeblich fehlende Bindung an den Wortlaut der jeweiligen Grundrechtsnorm, da auch eine weite Tatbestandstheorie letztlich zu „vernünftigen" Ergebnissen kommen müsse. 117 Auch sei es unredlich, über einen dann notwendigerweise 118 auszudehnenden weiten Schrankenbegriff das zu entziehen, was vorher durch den Tatbestand gewährleistet worden sei. 119 I m Gefolge einer solchen Ausweitung fände sich vielmehr eine „Vergrundrechtlichung des Rechts", wodurch sowohl eine Kompetenzüberschreitung des Bundesverfassungsgerichts 120 als auch eine nicht hinnehmbare Zahl von Grundrechtskollisionen und -konkurrenzen 121 hervorgerufen würde. Kern dieser Auffassung ist demnach nicht die Annahme einer Kollision von Grundrecht und einfachem Recht, sondern vielmehr die Sicht von menschlichem Handeln außerhalb des Grundrechts, welches sich mit allgemeinen Gesetzen konfrontiert sieht und diese zu beachten hat. Nicht einheitlich beurteilt wird jedoch, was unter den tatbestandsbegrenzenden „allgemeinen Gesetzen" zu verstehen ist. Häberle 122 zufolge gelten als „allgemeine Gesetze" solche Normen, die von 113 Rüfner, Grundrechtskonflikte, in: FG BVerfG II, S. 456; Berg, Schrankendivergente Freiheitsrechte, S. 41,161. 114 Zum Inhalt der weiten Tatbestandstheorie s.o. 2. Kap. 2. Teil Β. II. 2. b) cc). 115 Rüfner, Grundrechtskonflikte, in: FG BVerfG II, S. 456. 116 Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 30. 117 Rüfner, Grundrechtskonflikte, in: FG BVerfG II, S. 456. 118 Zum Zusammenhang zwischen Schutzbereichs- und Schrankendefinition, s. o. 2. Kap. 2. Teil Fn. 84. 119 Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte? S. 31: „Gebot der Redlichkeit, nicht etwas auf der Ebene der Grundrechtsschranken zurückzunehmen, was vorher auf der Ebene des Schutzbereichs eingeräumt wurde." 120 Starck, Grundrechte, JuS 1981, 236 (245, 246): „solch ein Gedanke ließe sich nicht mit der Vernunft der menschenrechtlichen Tradition begründen". 121 Lepa, Grundrechtskonflikte, DVBl. 1972, 161 (163); Rüfner, Grundrechtskonflikte, FG BVerfG II, S. 453, 461. 122 Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 32; so auch Smend, Recht der freien Meinungsäußerung, in: Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 96, 97; ders., Freie Meinungsäußerung, W D S t R L 4 (1928) 44 (51, 52).

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der Verfassung gegenüber dem betreffenden Grundrecht als gleich- oder höherwertig ausgewiesen sind. Weit verbreitet ist ansonsten der im Rahmen von Art. 5 I I Grundgesetz diskutierte Begriff der „sachlichen Allgemeinheit". Diese liegt immer dann vor, wenn sich ein Gesetz nicht gerade gegen die Grundrechtsausübung und schon gar nicht gegen eine bestimmte Meinung richtet, diese vielmehr nur reflexiv erfaßt. 123 Folgerichtig bewirken diese Auffassungen einen tatbestandlichen Ausschluß der vom „allgemeinen Gesetz" verbotenen Tätigkeit aus dem Grundrecht, da es keiner Abwägung von Werten bedarf, um ein Phänomen als nicht grundrechtlich geschützt zu erklären. Konstruktive Differenzen bestehen jedoch in der Art des Tatbestandsausschlusses. Rüfner etwa w i l l den Schutzbereich der Grundrechte vom Einflußbereich der allgemeinen Gesetze derart isolieren, daß diese sich gar nicht berühren. Das Grundrecht wird folglich auch nicht eingeschränkt. 124 Unter „allgemeinen Gesetzen" versteht Rüfner daher auch nur solche, die zur Ausübung des einschlägigen Grundrechts keinen Bezug haben. 125 Eine andere Auffassimg schließt demgegenüber „sozialschädliches" Verhalten aus dem grundrechtlichen Schutzbereich aus, der „Mißbrauch" von Grundrechten, obwohl noch nicht von Artikel 18 GG erfaßt, solle nicht dem Schutz des Grundgesetzes unterfallen. 126 In Übereinstimmung mit der bereits oben 1 2 7 festgestellten Einordnung der „sozialadäquaten" Risiken innerhalb einer engen Tatbestandstheorie, welche auf ihre Rechtmäßigkeit hin untersucht werden soll, ist festzustellen, daß es sich beim Atomgesetz um ein derart „allgemeines" Gesetz handelt. Dieses ist kein Sondergesetz speziell gegen das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, es soll vielmehr primär der Institutionalisierung und begleitenden Verfahrensregelung der atomaren Nutzung dienen. Das Grundrecht aus 123 Selmer, Generelle Norm, DÖV 1972, 551 (558); Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 337; Schneider, Buchbesprechimg zu Gallwas, Der Mißbrauch von Grundrechten, DVB1. 1968,193 (194); Schwäble, Versammlungsfreiheit, S. 156f.; Bettermann, Grenzen der Grundrechte, S. 22, der die allgemeinen Gesetze als Allgemeinvorbehalt aber nur auf einige „kommunikative" Grundrechte anwenden will, S. 27; ders., Allgemeine Gesetze, JZ 1964, 601 (603); vgl. auch Schwark, Allgemeine Gesetze, S. 68f.; Scheuner, Grundrechte im Sozialstaat, DÖV 1971, 505 (510); Klein, Öffentliche und private Freiheit, Staat 10 (1971) 145 (155); Schmitt Glaeser, Meinungsfreiheit, AöR 97 (1972) 276 (279f.); aus der Rspr. vgl. BVerfGE 7, 198 (209) - Lüth - ; E 21, 271 (280, 286) - Südkurier 124 Rüfner, Grundrechtskonflikte, in: FG BVerfG II, S. 458. 125 Rüfner, Grundrechtskonflikte, in: FG BVerfG II, S. 458 f. unter ausdrücklicher Betonung, daß die allgemeinen Gesetze den Schutzbereich des Grundrechts nicht einschränken, sondern vielmehr ein Handeln außerhalb des Schutzbereichs treffen; s. hierzu Schneider, Buchbesprechung zu Gallwas, Der Mißbrauch von Grundrechten, DVB1. 1968, 193 (194); mit dem Hinweis auf die allenfalls eingeschränkte allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 I GG. 126 Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 85; ders., Mißbrauch von Grundrechten, S. 17f.; Fechner, Soziologische Grenze der Grundrechte, S. 4; Wolff / Bachof, Verwaltungsrecht I, § 33 Va 2; Graf, Ungeschriebene Grundrechtsschranken, BayVBl. 1971, 55 (56) für Art. 2 I als Ausdruck des jeden Grundrechts immanenten Mißbrauchsgedankens. 127 s. oben 2. Kap. 2. Teü B. II. 2. c).

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Art. 2 I I S. 1 GG wird demgegenüber nur reflexiv von Restrisiken erfaßt. Theoretisch wäre also die Verortung innerhalb der engen Tatbestandstheorie über die Vorbehaltsklausel der „allgemeinen Gesetze" möglich. (2) K r i t i k an einer Restrisikoerklärung durch den Vorbehalt der „allgemeinen Gesetze" Eine tatbestandliche Reduzierimg des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit durch den Gehalt der „allgemeinen Gesetze", hier des Atomgesetzes, ist in mehrfacher Hinsicht nicht überzeugend. Die Bedenken richten sich einmal schon gegen die Bestimmungskriterien der „allgemeinen Gesetze", aber auch gegen die Prämissen dieser Sicht überhaupt. Hierbei fallen zwei Varianten dieser engen Tatbestandstheorie aufgrund der unzutreffenden bzw. unpraktikablen Bestimmung der „allgemeinen Gesetze" von vornherein als Erklärungsmodelle für nukleare Restrisiken aus. Insbesondere der von Häberle vorgeschlagenen Bestimmung „allgemeiner Gesetze" kann nicht gefolgt werden. Die Berufung auf Normen, die von der Verfassung als gleich- oder höherwertig ausgewiesen sind, eröffnet die Gefahr eines Zirkelschlusses, soll die Verfassung - hier in Form des Art. 2 I I S. 1 GG - doch gerade selbst erst tatbestandlich ausgeformt werden. Auch die Frage der Ausfüllung von Artikel 2 I I S. 1 GG mit Hilfe eines Vergleichs des materiellen Inhalts dieses Grundrechts mit anderen Werten und Programmen der Verfassung beantworten zu wollen, ist zu ungenau. Hemmend ist hier die fehlende, weil unmögliche, genaue Bezeichnung der in diese „Saldierung" einzustellenden Gemeinschaftsgüter. Durch die dann aber gegebene Gefahr eines Verzichts auf materielle Vorgaben droht die Auswechslung der Objektivität der Verfassung durch die Subjektivität von Wertungen. 128 Auch der von Gallwas vertretene Mißbrauchsgedanke zur Bestimmung der „allgemeinen Gesetze" erscheint, abgesehen von sonstigen Einwänden, 129 gerade bei den Restrisiken ungeeignet, diese aus dem Tatbestand von Art. 2 I I S. 1 GG herauszudefinieren. Der Vorstellung, der Grundrechtsträger „mißbrauche" sein Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit bei Inanspruchnahme von Schutz vor Restrisiken kann nicht gefolgt werden.

128 Wülfing, Gesetzesvorbehalte, S. 30 mNw auf Bettermann, Grenzen der Grundrechte, S. 25; Knies, Schranken der Kunstfreiheit, S. 101,114, 284; v. Pollern, Immanente Grundrechtsschranken, JuS 1977, 644 (646); vgl. auch Willke, Grundrechtstheorie, S. 113; van Nieuwland, Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 63 mit dem Hinweis, daß das Prinzip der Güterabwägung (nur) ein formelles Prinzip darstellt, welches aus sich heraus keine inhaltlichen Vorgaben liefert. 129 Grundsätzliche K r i t i k bei van Nieuwland, Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 72; F. Müller, Positivität der Grundrechte, S. 31; Graf, Grenzen der Freiheitsrechte, S. 69f.; Schmitt Glaeser, Buchbespr. von Gallwas „Der Mißbrauch von Grundrechten", AöR 95 (1970) 320 (323).

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Von Relevanz für die Einordnung der Restrisiken bleiben demnach nur die Immanenztheorien, welche unter „allgemeinen Gesetzen" die nicht spezifisch gegen den Grundrechtsträger gerichtete Norm verstehen. Unzweifelhafter Verdienst dieser Immanenzlehre ist die konstruktive Möglichkeit eines Verzichts auf ungeschriebene Schranken, da schon der Grundrechtstatbestand aufgrund derartiger Erwägungen reduziert w i r d und nicht mehr extern durch Gesetze eingeschränkt werden muß. Auch trägt die Konzentration der subjektiven Freiheitsrechte auf einen thematisch streng umschriebenen, punktuellen Schutzbereich dazu bei, sie als speziell verdichtete Sicherungen individueller Lebensbereiche zu verstehen. 130 Dieses Korrektiv unbegrenzter Freiheit scheint perfekt dem „Menschenbild des Grundgesetzes" zu entsprechen, welches nicht ein isoliertes, souveränes Individuum beinhaltet, sondern sich für die Gemeinschaftsbezogenheit und -gebundenheit der Person entschieden hat. 1 3 1 Nicht zuletzt kann sich der Staat auch nur dann an den Grundrechten ausrichten, wenn er in ihnen eine allgemeingültige, identische Aussage findet. 1 3 2 Besondere Bedeutimg kommt dieser Überlegung beim festzustellenden Wandel der Grundrechte von bloßen Abwehrrechten zu Leistungs-, Teilhabe- und Schutzrechten zu. 1 3 3 Ob aber zur Bewältigung gerade dieser Notwendigkeiten gerade eine Grundrechtsbegrenzung durch „allgemeine Gesetze" in Betracht kommt, ist überaus fraglich. Einmal ist neben terminologischer Mehrdeutigkeit 1 3 4 zweifelhaft, ob das Grundgesetz, welches nur in Art. 5 I I GG den Vorbehalt „allgemeiner Gesetze" auf der Schrankenebene vorgesehen hat, durch eine derartige ungeschriebene Grenzziehung auf der Tatbestandsebene ergänzt werden darf. 1 3 5 Konsequenz eines solchen Modells wäre, daß gegen ein „allgemeines" Gesetz, welches etwa nicht dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatz genügt, nicht vorgegangen werden könnte. Da überhaupt kein Grundrecht durch ein solches Gesetz eingegrenzt würde, dürfte es, da „allgemein", auch an keinem Grundrecht gemessen werden. Die in diesem 1 30 Selmer, Generelle Norm, DÖV 1972, 551 (558). 131 s. BVerfGE 4, 7 (15, 16); Düng, in: M / D / H / S, GG, Art. 1 I, Rn. 46; Berg, Schrankendivergente Freiheitsrechte, S. 45. 132 Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 35. 133 Willke, Grundrechtstheorie, S. 222; Grimm, Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform, AöR 97 (1972) 489 (493); v. Münch, in: ders., GG, Vorb. Art. 1 - 19, Rn. 17; Scheuner, Grundrechte im Sozialstaat, DÖV 1971, 505 (510); zum Funktionswandel der Verfassung vgl. auch Vorländer, Konsens, S. 316. 134 Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 170; der Vorwurf der Konturenlosigkeit findet sich auch bei F. Müller, Positivität der Grundrechte, S. 62, Müller wendet sich i n Konsequenz seiner Normbereichsanalyse gegen Leerformeln, mittels derer Grundrechte für begrenzt erklärt werden sollen, a.a.O., S. 93; ebenso Scholler, Person und Öffentlichkeit, S. 359; Lerche, Übermaß, S. 105; Schneider, Wesensgehalt, S. 47, 48; Leisner, Sozialbindung des Eigentums, S. 164: „nicht praktisch handhabbar". 135 Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 171 mNw auf Schwäble, Versammlungsfreiheit, S. 182, der die i n Art. 5 I I GG bezeichneten Gesetze als den Normbereich (= Schutzbereich) kennzeichnend ansieht, die Bezeichnung als Schranke sei daher irreführend.

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Zusammenhang mögliche Berufung auf das allgemeine Freiheitsrecht 136 aus Art. 2 I GG kann hier nicht akzeptiert werden, da hierdurch eine Reduktion der vorgesehenen Prüfungsbandbreite auf ein einziges Grundrecht vorgenommen w i r d . 1 3 7 Neben diese mehr rechtskonstruktiv-technischen Schwierigkeiten tritt jedoch eine grundsätzliche Überlegung. Der wesentliche Kritikpunkt an der hier diskutierten Variante einer engen Tatbestandstheorie ist die nicht ausreichende Differenzierung zwischen dem sog. „prima-facie-Rechtsschutz" und dem Grundrechtsbestand, der nach Anwendung der Schranken übrigbleibt. Was primär zunächst einmal als bestehend angesehen wird, bedarf, um im Endeffekt als doch nicht bestehend erklärt werden zu können, einer zutreffenden Begründung. Diese Notwendigkeit mag als lästig oder unpraktikabel angesehen werden, sie trägt jedoch zur Rationalität einer grundrechtlichen Interpretation durch Abwägung von Grund und Gegengrund bei. 1 3 8 Diese, bereits oben 1 3 9 als Leitgesichtspunkt formulierte Rationalität der Normenkonkretisierung gerade im Verfassungsrecht gewinnt eine zusätzliche Bedeutimg durch die interpretatorische Beliebigkeit einer Tatbestandsbestimmung außerhalb des Gesetzes Vorbehalts, etwa des Art. 2 I I S. 3 GG. Ein rechtsstaatlicher Verlaß auf die Festlegung immanenter Grenzen im Grundrecht ist nur überzeugend, wenn verstehensgemäß, d.h. hermeneutisch, argumentiert wird. Der heute zu beobachtende Übergang von sinnvollem Verstehen zu naturwissenschaftlich-analytischem Verstehen etwa mittels Methoden der Kybernetik oder der modernen Kommunikationswissenschaften 140 offenbart einen Verlust an materieller Auffüllung der offenen Grundrechtsnormen. Die Preisgabe an konsensgebundene topische Methoden läßt eine hinreichende normative Sicherung in noch höherem Maße fraglich werden, hier droht nichts weniger als eine Opferung des Wertes für die Funktion. 1 4 1 Gerade aus diesen Gründen ist neben einer rationalen Begründung der Tatbestandsbegrenzung auch die Beachtung rechtsstaatlicher Sicherungen wie etwa des Gesetzesvorbehaltes, des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes 142 sowie der Grundsätze von im Großanlagenrecht besonders wichtiger Verfahrensteilhabe 14 < nötig. Durch eine abwä136

Schwäble, Versammlungsfreiheit, S. 177. Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 173 mit dem Hinweis auf die dadurch nivellierte Trennung von Ausländervorbehalten und Jedermanngrundrechten. 138 Aleocy, Theorie der Grundrechte, S. 290f.; Leisner, Sozialbindung des Eigentums, S. 165, vom Boden einer weiten Tatbestandstheorie aus. 139 s. o. 1. Kap. 2. Teil C. 140 Dazu Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 23. 141 Dazu Schneider, Wesensgehalt, S. 122; Krawietz, Das positive Recht und seine Funktion, S. 21. 142 Auf die besondere Bedeutung dieses Grundsatzes im technischen Sicherheitsrecht weist Ossenbühl, Bewertung technischer Risiken, DÖV 1982, 833 (837) hin; vgl. auch Jakobs, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 167 f. 143 Emst, Staatliche Verantwortung, BauR 1978, 8 (15); Steinberg, Standortplanung, ZRP 1982, 113 (117); Degenhart, Kernenergierecht, S. 191. 137

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gungsfreie Ausgrenzung des Inhalts allgemeiner Gesetze aus dem Grundrecht wird die Verhältnismäßigkeitsprüfung zumindest erschwert. Auch die Verfahrensteilhabe greift dann ins Leere, wenn bestimmte Nebenwirkungen einer Anlage von vornherein nicht zum Gegenstand des Verfahrens gemacht werden. Die abwägungsfreie Preisgabe dieser Sicherungen setzt ein Vertrauen in die allzeit gewährleistete Rechtsstaatlichkeit der technischen Entwicklung voraus, welche sich nicht in der Schrankenziehung, sondern i n Interpretationsproblemen „ i m " Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit ausdrückt. 144 Vor diesem Hintergrund wäre eine interne Begrenzung des Grundrechts aus Art. 2 I I S. 1 GG nur möglich, wenn in irgendeiner Weise eine kontrollierbare Abwägung stattfinden würde. 1 4 5 Diese Transparenzfunktion wird durch die Ausgrenzung des Inhalts allgemeiner Gesetze jedoch gerade nicht erfüllt. Ausdrücklich festgehalten werden soll, daß auch nach dem hier vorzuschlagenden Modell nur eine enge Sphäre grundrechtlich geschützt sein soll, und daß letztlich - wenn auch anders begründet - ein grundrechtlicher Schutz vor Restrisiken als solchen nicht besteht. Eine Dogmatik, die ohne Abwägungszwang im Vorwege grundrechtsrelevantes Handeln aus Art. 2 I I S. 1 GG herausdefiniert, kann jedoch nicht überzeugen. Somit kann auch der von Vertretern der Immanenztheorien 146 vorgebrachte Vorwurf einer „Vergrundrechtlichung" des Rechts mit gleichzeitiger Überlastung des Bundesverfassungsgerichts nicht greifen. Er beruht auf der irrigen Annahme der Identität von der abstrakten Maßstabstauglichkeit der Grundrechte mit später gewährleistetem effektiven Rechtsschutz. 147 Zu suchen ist nach wie vor nach einer Methodik grundrechtlicher Argumentation, welche entweder im Tatbestand oder auf der Schrankenebene zur Legitimation von Restrisiken führt.

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Knies, Schranken der Kunstfreiheit, S. 101, 102. Auf die Kontrolle auch durch das Zitiergebot (Art. 19 I S. 2 GG) geht in diesem Zusammenhang Schneider, Wesensgehalt, S. 47, ein, der als Hauptfunktion das Mißtrauen gegenüber dem Gesetzgeber sieht. Käme diesem generell die Aufgabe einer Grundrechtsausführung zu, müßte die Tätigkeit i m Grundrechtsbereich somit als Selbstverständlichkeit angesehen werden, wäre die Warnfunktion des Art. 19 I S. 2 GG obsolet. Kritisch gegenüber den Immanenzlehren allgemein daher Bleckmann, Staatsrecht II, S. 267; Leisner, Sozialbindung des Eigentums, S. 164; Knies, Schranken der Kunstfreiheit, S. 101, 116; Papier, Spezifisches Verfassungsrecht, in: FG BVerfG I, S. 453; Rupp, Berufsfreiheit, NJW 1965, 993 (995) Fn. 16; vgl. auch BGH DÖV 1955, 729 (730). 146 s. Nw. oben 2. Kap. 2. Teil Fn. 121. 147 Hier zutreffend Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 299: „wer vor dem Bundesverfassungsgericht klagt, ist an effektivem Rechtsschutz interessiert, nicht an der abstrakten Feststellung eines zwar bestehenden, aber eingeschränkten Rechts"; Alexy, a.a.O., weist ferner auf die Filterfunktion der §§93 a III, IV BVerfGG hin; s. ferner Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 152. 145

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cc) Legitimation der Restrisiken über die „Gemeinschaftsklausel" des Bundesverwaltungsgerichts Das Bundesverwaltungsgericht hat i n seinen ersten Entscheidungen ausgeführt, daß Grundrechte dann nicht in Anspruch genommen werden dürften, wenn dadurch die für den Bestand der Gemeinschaft notwendigen Rechtsgüter gefährdet würden. 1 4 8 Diese Auffassung ist überwiegend auf K r i t i k gestoßen, 149 sie w i r d vom Bundesverfassungsgericht unter Hinweis auf die Unzulässigkeit einer Relativierung grundrechtlicher Positionen durch derart unbestimmte Klauseln abgelehnt. 150 Unabhängig von der Frage, ob die Hineinnahme von Restrisiken in den Tatbestand von Art. 2 I I S. 1 GG den Bestand der für die Gemeinschaft notwendigen Rechtsgüter berührt, soll auf diese mittlerweile auch aufgegebene Position hier nicht näher eingegangen werden. dd) Unmittelbare und mittelbare Anwendimg der Schrankentrias aus Art. 2 I GG auf die nachfolgenden Grundrechte zur Legitimation von Restrisiken Es existieren zahlreiche Modelle, „immanente" Grundrechtsschranken aller Freiheitsrechte aus der Schrankentrias des Art. 2 I GG abzuleiten. Theoretisch denkbar wäre es demnach, die dem Atomgesetz entspringenden Restrisiken als Bestandteil der „verfassungsmäßigen Ordnung" an das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit heranzutragen. Die Annahme dieser unmittelbaren Anwendung der Schrankentrias rechtfertigt sich aus der Qualifikation des Art. 2 I Grundgesetz als eines „allgemeinen Freiheitsrechtsleitsatzes", welcher selbst kein Grundrecht sei, als objektive Auslegungsregel jedoch den nachfolgenden Grundrechten vorgehe. 151 Diese Auffassung w i r d von der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 1 5 2 abgelehnt. Die Literatur hat sich dem angeschlossen.153 Schon 148 BVerwGE 1, 48 (52); 1, 92 (94); 1, 269 (270); 1, 303 (307); 2, 85 (87); 4, 167 (171); 5,153 (158); 6, 13 (17). 149 Dürig, in: M / D / H / S, GG, Art. 2 I, Rn. 70: „frei erfunden"; Bachof, Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, JZ 1957, 334 (337): „so vage, daß sie jeglicher Mißbrauchsgefahr Tür und Tor öffnet"; v. Münch, in: ders., GG, Vorb. Art. 1 19, Rn. 58; v. Pollern, Immanente Grundrechtsschranken, JuS 1977, 644 (647); Schnapp, Grenzen der Grundrechte, JuS 1978, 729 (732, 733): „die differenzierte Schrankensystematik des Grundgesetzes wird verschüttet". 150 BVerfGE 7, 377 (411); 30, 173 (191). 151 ν . Mangoldt / Klein, GG, Vorb. Β X V 3 a; Anm. I I I 5 b zu Art. 2; Wehrhahn, Auslegung des Art. 2 I, AöR 82 (1957) 250 (272); Haas, Freie Entfaltung der Persönlichkeit, DÖV 1954, 70 (71). 152 BVerfGE 1, 7 (8); 1, 264 (273); 4, 7 (15); 6, 32 (36). 153 v a n Nieuwland, Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 21; v. Pollerà, Immanente Grundrechtsschranken, JuS 1977, 644 (645); Scheuner, Grundgesetz i n der Entwicklung, AöR 95 (1970) 353 (404); Dürig, in: M / D / H / S, GG, Art. 2 I,

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der Wortlaut von Art. 1 I I I („nachfolgende Grundrechte") entzieht dieser Theorie den Boden, sie kann für eine Tatbestandsbegrenzung daher nicht herangezogen werden. Demgegenüber wendet D ü r i g 1 5 4 die Schrankentrias des Art. 2 I GG mittelbar auf die nachfolgenden Freiheitsrechte, also auch Artikel 2 I I S. 1 GG, an. Art. 2 I GG w i r d als eigenständiges Grundrecht anerkannt, jedoch beinhalte es eine objektive Wertentscheidung, die als Auslegungsregel auf die nachfolgenden Grundrechte ausstrahle. Hiergegen spricht einmal, daß die nachfolgenden Spezialgrundrechte älteren Ursprungs sind 1 5 5 als das angebliche „Muttergrundrecht" 1 5 6 aus Artikel 2 I GG. Auch würde hierbei ein speziell für Art. 2 I GG geschaffener Schrankenvorbehalt durch Anwendimg auf alle Grundrechte i n verschiedene Strukturformen gezwungen. Für Art. 2 I GG wäre er als echter Gesetzesvorbehalt, für die nachfolgenden Grundrechte als tatbestandsmodifizierender Interpretationsvorbehalt anzusehen sein. 157 Nicht zuletzt wegen der auch vom Bundesverfassungsgericht anerkannten Gleichberechtigung der nachfolgenden Grundrechte, die durch eine umfassende Geltung der Schrankentrias des Artikel 2 I GG aus den Angeln gehoben würde, ist eine mittelbare Schrankenübertragung auf die Spezialfreiheitsrechte abzulehnen. 158 Die dritte vorgeschlagene Anwendungsmodalität in Form einer unmittelbaren Schrankengeltung bei gleichzeitig anerkannter Grundrechtsqualität des Art. 2 I GG überzeugt schon deshalb nicht, weil hierdurch der Satz: „lex specialis derogat legi generali" verletzt würde. 1 5 9 Auch stünden, würde man die „verfassungsmäßige Ordnung" mit dem Elfes-Urteil des BVerfG 1 6 0 als Gesamtheit der formell und materiell rechtmäßigen Normen verstehen, die Grundrechte in zu weitem Ausmaß zur Disposition des einfachen Gesetzgebers. 161 Eine Legitimation der nuklearen Restrisiken über eine wie auch immer geartete Anwendung der Schrankentrias aus Artikel 2 I auf Art. 2 I I S. 1 GG ist somit nicht denkbar.

Rn. 5; Berg, Schrankendivergente Freiheitsrechte, S. 112; BK-Wernicke, GG, Art. 2 Anm. I I l b . 154 Düng, in: M / D / H / S, GG, Art. 2 I Rn. 70, 71; ders., Art. 2 des Grundgesetzes, AöR 79 (1953/54) 57 (63); ders., Menschenwürde, AöR 81 (1956) 117 (121); ihm folgend Peters, Freie Entfaltung der Persönlichkeit, in: FS Laun, S. 674 f. (677). 155 υ. Münch, in: ders., GG, Art. 2 Rn. 77. "β Düng, in: M / D / H / S, GG, Art. 2 I Rn. 8. 157 v. Pollern, Immanente Grundrechtsschranken, JuS 1977, 644 (646). 158 s. BVerfGE 32, 98 (107); E 30, 173 (192). 159 υ. Pollern, Immanente Grundrechtsschranken, JuS 1977, 644 (646). 160 E 6, 32 (38). 161 Knies, Schranken der Kunstfreiheit, S. 91; Berg, Schrankendivergente Freiheitsrechte, S. 88.

2. Teil: Eigene Analyse der „sozialadäquaten Risiken"

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ee) „Eigentliche" Immanenzlehre des Bundesverfassungsgerichts als Rechtfertigung „sozialadäquater Restrisiken" im Atomrecht Eine zweite Möglichkeit, im Wege einer engen Tatbestandstheorie sozialadäquate Risiken in Art. 2 I I S. 1 GG zu inkorporieren, besteht in der Begrenzung des Schutzbereichs dieses Grundrechts durch überragende Verfassungsgüter gemäß der vom Bmidesverfassungsgericht vertretenen Immanenzlehre. (1) Einordnung Diese Lösung unterscheidet sich von den o. a. Immanenzgedanken (Sachspezifität, „allgemeine" Gesetze, Mißbrauch) dadurch, daß sie zwar wie diese auf der Tatbestandsebene eingreift, jedoch methodisch von einem bestehenden Grundrecht ausgeht, an welches in einem zweiten Gedankenschritt „formende" Werte herangetragen werden. 162 Es handelt sich somit weniger um einen interpretierenden Immanenzgedanken wie ihn die o.a. Auffassungen beinhalten, sondern vielmehr um eine Argumentationsweise, die von einer Antinomie Grundrecht/Verfassungswert ausgeht und derart dialektisch zu einem dann gleichwohl tatbestandsbegrenzenden Ergebnis gelangt. 163 (2) Anwendbarkeit der „immanenten Schranken im eigentlichen Sinne" auf Grundrechte, die unter einem speziellen Einschränkungsvorbehalt stehen Problematisch ist die Anwendbarkeit der vom BVerfG ursprünglich nur für die schrankenlosen Grundrechte entwickelten Immanenzlehre auf solche Grundrechte, die wie Art. 2 I I GG mit einem speziellen Einschränkungsvorbehalt, hier: Art. 2 I I S. 3 GG, versehen sind. Einer solchen 162 Dies erklärt, warum der Konflikt Grundrecht/Gemeinschaftsinteresse von Verfassungsrang bisweilen als Anwendungsfall der Grundrechtskollision angesehen wird, so etwa bei Lepa, Inhalt der Grundrechte, S. 23; Berg, Schrankendivergente Freiheitsrechte, S. 67, behandelt dieses Problem als Fall der Grundrechtskonkurrenz. 163 Auf diese Trennung zwischen „Immanenten Schranken im weiteren Sinne" und solchen „ i m engeren Sinne" weist etwa Bleckmann, Staatsrecht II, S. 265, 284 mit der Konsequenz hin, daß lediglich die - von ihm abgelehnten - immanenten Schranken i m engeren Sinne den Grundrechtstatbestand einengen. Ähnlich auch v. Pollern, Immanente Grundrechtsschranken, JuS 1977, 644 (646 r. Sp.) der eine Tatbestandsreduzierung durch immanente Schranken gleichfalls ablehnt („wertende und willkürliche Begriff s Verengung"), ähnlich lehnt auch Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 154, auf dem Boden einer weiten Tatbestandstheorie eine Schutzbereichsverkürzung durch den Immanenzgedanken ab. Es offenbart sich bezüglich der verschiedenen Bezeichnungen und Verortungen des Immanenzgedankens eine nicht näher begründete terminologische Unterschiedlichkeit im Schrifttum, welche der Autor durch die hier vorgenommene Unterscheidung verschiedener Immanenzmodelle zu klären versucht, vgl. auch v. Münch, in: ders., GG, Vorb. Art. 1 - 19, Rn. 56.

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Anwendung könnte entgegenstehen, daß die speziellen geschriebenen Vorbehalte jeweils spezielle öffentliche Interessen schützen, und damit eine zusätzliche Einschränkimg durch andere öffentliche Interessen ausschließen wollen. Nach überzeugender Ansicht ist dieser Gedanke jedoch so nicht haltbar. Es besteht immer die Möglichkeit, daß ein mit speziellen geschriebenen Vorbehalten versehenes Grundrecht, sofern diese Vorbehalte womöglich neu hinzutretende öffentliche Interessen nicht berücksichtigen, dann in dieser Hinsicht einem vorbehaltlosen Grundrecht gleichsteht. 164 Sicherlich wird durch diese Einsicht das Erkenntnisproblem akut, wann und vor allem welche „neuen" öffentlichen Interessen in der Lage sind, die prinzipiell gegebene Exklusivität des Schrankenvorbehalts aus Artikel 2 I I S. 3 GG zu beseitigen. Dies wiederum ist eine Frage rationaler methodischer Überlegung, deren unbestrittene Schwierigkeit und Komplexität nicht Anlaß zum völligen Ausschluß notwendiger immanenter Begrenzung sein darf. Nicht übersehen werden darf, daß der Verfassungsgeber bei Normsetzung unmöglich sämtliche öffentlichen Interessen übersehen konnte, es ihm im übrigen ohnehin nicht gelungen ist, die Schrankensystematik in sich widerspruchsfrei zu strukturieren. 165 Letztlich ist zu beachten, daß die öffentlichen Interessen, welche neu entstanden sind, oftmals selbst wieder durch das Grundgesetz geschützt werden, ihre Nichtbeachtung somit zu verfassungsinternen Widersprüchen führen würde. 1 6 6 Jedoch wäre hier der Grundsatz der Subsidiarität von ungeschriebenen Schrankenformeln gegenüber geschriebenen Schranken zu beachten, wonach der Immanenzgedanke nur dann zur Anwendung kommen darf, wenn ein Grundrechtskonflikt nicht mittels der positiv-rechtlichen Schrankenbestimmung gelöst werden kann. 1 6 7 Eine inhaltlich überzeugende Dogmatik immanenter Tatbestandsbegrenzung wäre somit zur Ausformung des Schutzbereichs von Art. 2 I I S. 1 GG geeignet.

164 Bleckmann, Staatsrecht Π, S. 282; Schnapp, Grenzen der Grundrechte, JuS 1978, 729 (735); Erichsen, Polizei- und ordnungsrechtliche Handlungsvollmachten, W D S t R L 35 (1977) 171 (192); van Nieuwland, Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 103, 138; i m Atomrecht nimmt Degenhart, Technischer Fortschritt und Grundgesetz, DVB1.1983, 926 (928 Fn. 24) eine Anwendbarkeit des Immanenzgedankens an: „gewisse Risiken, die mit der technisch-zivilisatorischen Entwicklung notwendig verbunden sind, sind als immanente Begrenzung des Schutzbereichs des Grundrechts aufzufassen"; ders., Kernenergierecht, S. 149; vgl. allgemein ferner Schnapp, a.a.O., mit dem Hinweis, daß die i n Art. 105 GG verankerten Finanzmonopole, welche i n dem von ihnen beanspruchten Bereich ein totales Berufsverbot bedeuten, wohl kaum dem vom BVerfG (E 7, 377 f.) verlangten Maßstab „nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut" standhalten. 165 Bleckmann, Staatsrecht II, S. 282; Bettermann, Grenzen der Grundrechte, S. 3: „Schrankenwirrwarr"; Hofmann, Entsorgung, S. 297. 166 Bleckmann, Staatsrecht II, S. 282. 167 v a n Nieuwland, Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 138.

2. Teil: Eigene Analyse der „sozialadäquaten Risiken"

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(3) Inhalt der Immanenzlehre des Bundesverfassungsgerichts In einer Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundrecht aus Art. 4 I GG findet sich die eigentliche Immanenzformel, wonach „nur kollidierende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte mit Rücksicht auf die Einheit der Verfassimg und die von ihr geschützte Wertordnung ausnahmsweise imstande sind, auch uneinschränkbare Grundrechte in einzelnen Beziehungen zu begrenzen". 168 Als hier sich möglicherweise gegenüberstehende Verfassungsbestandteile kommen Grundrechte, Kompetenzbestimmungen, verfassungsrechtliche Grundprinzipien, Staatsstrukturbestimmungen und verfassungsrechtlich vorgesehene Einrichtungen i n Betracht. 169 Die auftretenden Konflikte werden dadurch gelöst, daß durch Abwägung im konkreten Fall ein Rangverhältnis der konkurrierenden Verfassungsbestimmungen ermittelt w i r d . 1 7 0 Die kollidierenden 1 7 1 Verfassungswerte müssen nach Möglichkeit zum Ausgleich gebracht werden. Läßt sich dies nicht erreichen, muß unter Berücksichtigung der falltypischen Gestaltung entschieden werden, welches Interesse zurückzutreten hat. 1 7 2 Selbstverständlich darf die schwächere Norm hierbei nur so weit zurückgedrängt werden, wie dies logisch und systematisch zwingend ist. Ihr sachlicher Grundwertgehalt muß in jedem Fall respektiert bleiben. Diese Sicht des Bundesverfassungsgerichts beruht auf der Einsicht einer prinzipiellen Begrenztheit grundrechtlicher Freiheit als Konsequenz des grundgesetzlichen Menschenbildes. Während die Verfassung auf der einen Seite Eigenständigkeit, Würde und Selbstverantwortung des Menschen zu schützen hat, 1 7 3 kann auf der anderen Seite die Stellung der Person in der Gemeinschaft nicht ausschließlich liberal und individualistisch gesehen werden. 174 Miteinzubeziehen sind vielmehr die Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person; einem sich steigernden Sozialbezug korreliert eine verminderte Freiheitssphäre. 175 Daher muß sich der 168 BVerfGE 28, 243 (261); ferner E 1, 14 (32); 2, 1 (72/73); 30, 173 (193); 35, 202 (225f.). 169 Diese Unterscheidung - bis auf die Grundrechte - findet sich bei Schnapp, Grenzen der Grundrechte, JuS 1978, 729 (734); F. Müller, Einheit der Verfassung, S. 71, trennt zwischen Grundrechten und Nicht-Grundrechten. 170 So BVerfGE 28, 243 (261) für den Konflikt zwischen dem noch nicht anerkannten Kriegsdienstverweigerer und dem öffentlichen Interesse an Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr. 171 Zur Grundrechtskollision s. v. Münch, in: ders., GG, Vorb. Art. 1 - 19, Rn. 44f.; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 356f.; kritisch Graf, Ungeschriebene Grundrechtsschranken, BayVBl. 1971, 55 (55). 172 BVerfGE 35, 202 (225 f.). 173 BVerfGE 6, 32 (40); 7, 198 (204); 8, 274 (329). 174 BVerfGE 4, 7 (15); 8, 274 (328/329); 12, 45 (51); 27, 344 (351); 30, 1 (20); 30, 173 (193); 32, 373 (379); 45, 187 (227); 50, 290 (353). »» BVerfGE 6, 389 (433).

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einzelne diejenigen S c h r a n k e n seiner H a n d l u n g s f r e i h e i t gefallen lassen, die der Gesetzgeber z u r Pflege u n d F ö r d e r u n g des Gemeinwohls zieht, w e n n dabei die E i g e n s t ä n d i g k e i t der Person g e w a h r t b l e i b t . 1 7 6

Dogmatische

B e g r ü n d u n g dieses Sozialbezugs ist der Grundsatz der E i n h e i t der Verfassimg sowie das T o l e r a n z p r i n z i p . Das v o n L i t e r a t u r 1 7 7 u n d R e c h t s p r e c h u n g 1 7 8 anerkannte P r i n z i p der E i n h e i t der Verfassung b e i n h a l t e t die interpretatorische O p t i m i e r u n g der V e r fassungsbestimmungen i m E i n z e l f a l l . 1 7 9 O s s e n b ü h l 1 8 0 zufolge ist das P r i n z i p der E i n h e i t der Verfassung eine I n t e r p r e t a t i o n s r i c h t l i n i e , derzufolge die naturgegebenen S p a n n u n g s v e r h ä l t n i s s e 1 8 1 i n der Verfassung i n das r i c h t i g e Maß zueinander gebracht w e r d e n müssen. Hesse h a t diese materielle G e w i c h t u n g , die sich über die k o n s t r u k t i v e F i g u r der i m m a n e n t e n Schrank e n i n s t r u m e n t a l i s i e r t , als „ P r i n z i p der p r a k t i s c h e n K o n k o r d a n z " 1 8 2 bezeichnet, demzufolge jedem der k o l l i d i e r e n d e n Werte o p t i m a l e G e l t u n g z u verschaffen ist. I n h a l t l i c h e Maßstäbe f ü r die wechselseitige Z u o r d n u n g ergeben sich aus dem V e r h ä l t n i s m ä ß i g k e i t s p r i n z i p 1 8 3 u n d d e m Grundsatz der G ü t e r a b w ä g u n g . 1 8 4 I n einem zweistufigen Verfahren f i n d e t zunächst ein

176 s. Nw. 2. Kap. 2. Teil Fn. 174; zum Menschenbild des Grundgesetzes s. F. Müller, Einheit der Verfassung, S. 58; Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 116. 177 υ. Pestalozza, Methoden der Grundrechtsauslegung, Staat 2 (1963) 425 (438); Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 71; Schnapp, Grenzen der Grundrechte, JuS 1978, 729 (733); Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 98; Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 32; Lepa, Grundrechtskonflikte, DVB1. 1972, 161 (166); Peters, Freie Entfaltung der Persönlichkeit, in: FS Laun, S. 669 (671); Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20 (1963) 53 (77); Rüfner, Grundrechtskonflikte, in: FG BVerfG Π, S. 453 (466); Krebs, Vorbehalt des Gesetzes, S. 50; F. Müller, Einheit der Verfassung, S. 75; Henseler, Verfassungsrechtliche Aspekte zukunftsbelastender Parlamentsentscheidungen, AöR 108 (1983) 489 (504); Graf, Ungeschriebene Grundrechtsschranken, BayVBl. 1971, 55 (55). 178 BVerfGE 1, 14 (32); 19, 206 (220); 28, 243 (261); 30, 1 (19); 30, 173 (193); 60, 253 (267). 179 Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 69; Böckenförde, Religionsfreiheit, DÖV 1966, 30 (33). 180 Ossenbühl, Verfassungsauslegung, DÖV 1965, 649 (655); so auch Rüfner, Grundrechtskonflikte, in: FG BVerfG II, S. 453 (466). 181 Scheuner, Pressefreiheit, W D S t R L 22 (1965) 1 (52/53); Ossenbühl, Verfassungsauslegung, DÖV 1965, 649 (654). 182 Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 72; zustimmend Rüfner, Grundrechtskonflikte, in: FG BVerfG Π, S. 453 (467); Bäumlin, Gewissensfreiheit, W D S t R L 28 (1970) 3 (30/31); Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, S. 65; Lerche, Übermaß, S. 125f.; Würtenberger, Planung, S. 415; vgl. auch F. Müller, Einheit der Verfassung, S. 219; zum Verhältnis praktischer Konkordanz/Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vgl. H. Schneider, Güterabwägung, S. 203. 183 s. BVerfGE 19, 330 (337); 21,150 (155); 26, 215 (228); 27, 211 (219); 30, 292 (316); Grabitz, Verhältnismäßigkeit, AöR 98 (1973), 568f.; Jakobs, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (speziell für das Atomrecht), S. 14f.; Wittig, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, DÖV 1968, 817f.; H. Schneider, Güterabwägung, S. 205. 184 Als Güterabwägung w i r d die gedankliche Operation der Bewertung und Gewichtung von kollidierenden Rechtsgütern mit dem Ziel der Begründung einer Präferenzrelation bezeichnet; H. Schneider, Güterabwägung, S. 153; van Nieuwland,

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abstrakter Rangvergleich und nachfolgend eine einzelfallbezogene Interessenabwägung statt, 1 8 5 wodurch die Konfliktlösung erreicht werden soll. Neben dem Grundsatz der Einheit der Verfassimg ist auch der Toleranzgedanke als Grundlage einer immanenten Grundrechtsschranke bedeutsam. Unter dem verfassungsrechtlich nicht genau fixierten Toleranzgebot w i r d eine Pflicht zum gegenseitigen Nachgeben unter dem Korrektiv der Zumutbarkeit verstanden. 186 (4) Kritik, Stellungnahme Die Bestimmung immanenter Schranken durch das Bundesverfassungsgericht ist sehr weitgehend. Hiernach finden die formal uneinschränkbaren, aber auch die mit einem Schrankenvorbehalt versehenen Grundrechte der Verfassimg ihre Grenzen in allen öffentlichen und privaten Interessen, die sich in der Verfassung verankern lassen und die sich nach Abwägung als vorrangig erweisen. Diese strukturell weit angelegte Bandbreite war das Medium, über welches das Bundesverfassungsgericht nach Ansicht von Teilen der Literatur 1 8 7 in einigen Fällen vorschnell zur Annahme eines Rangverhältnisses zwischen Verfassungswerten gelangte. Gerade diese Weite des potentiell eingrenzenden „Verfassungsmaterials" ist es, welche besonders bei Anwendung auf die bereits mit Einschränkungsvorbehalt versehenen Grundrechte wie Artikel 2 I I S. 1 GG, das ohnehin dem diffusen Zusammenwirken gerade von Umweltgefahren recht schutzlos ausgeliefert ist, problematisch ist. Zu berücksichtigen ist jedoch, daß die Nachteile dieser scheinbar unbegrenzten „Werte" durch das in der Immanenzformel enthaltene Abwägungsgebot zumindest gemildert werden. 188 Auch wurde durch die Menschenbildformel, das Prinzip der Verfassungseinheit sowie den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und Güterabwägung ein gefestigtes Begriffs- und Entscheidungsinstrumentarium geschaffen. 189 Maßgebliche Vorteile gegenüber allen anderen Modellen einer immanenten Tatbestandsbeschränkung im Rahmen einer engen Tatbestandstheorie bietet die Immanenzformel des Bundesverfassungsgerichts deshalb, weil sie von der prinzipiellen Ranggleichheit von Grundrecht und freiheitsbeTheorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 131; Schlink, Abwägung, S. 15, 158. 185 H. Schneider, Güterabwägung, S. 153; van Nieuwland, Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 131. 186 BVerfGE 28, 243 (262); E 52, 233 (247); Eisenhardt, Begriff der Toleranz, JZ 1968, 214f.; Kempen, Staatsraison, JZ 1971, 452 (454); Rüfner, Grundrechtskonflikte, in: FG BVerfG II, S. 453 (468). 187 Der Vorwurf oberflächlicher Untersuchung findet sich bei van Nieuwland, Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 122 ; F. Müller, Einheit der Verfassung, S. 75 f.; Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, S. 100 f. 188 van Nieuwland, Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 129. 189 v a n Nieuwland, Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 147.

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schränkendem Gegengrund ausgeht. Die Annahme dieser Wertrangordnung in der Verfassung wird zwar allgemein unter Hinweis auf eine diesbezüglich fehlende Verfassungsaussage abgelehnt, 190 dies bedeutet im Ergebnis eine vom Rang her nivellierte Gesamtverfassimg. Deren Bestandteile sind damit nicht aus formellen, sondern aus inhaltlich-bewertenden Gesichtspunkten einander zuzuordnen. Die Notwendigkeit der Präferenz eines von mehreren Verfassungsgütern mit dem Ziel der Herstellung praktischer Konkordanz führt zu einem Begründungszwang, der bei ausschließlich formellen Immanenzkonstruktionen wie etwa jener der „allgemeinen Gesetze" nicht gegeben ist. Dieser Begründungszwang im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung und der Güterabwägung stellt überhaupt erst den Rahmen dar, innerhalb dessen sich das oben 1 9 1 aufgestellte Postulat rational begründeter Grundrechtsinterpretation verwirklichen kann. Der hier vertretene Vorrang einer materiellen Auffüllung gegenüber einer pauschalisierenden Argumentation aufgrund „allgemeiner Gesetze" hängt in seiner Überzeugungskraft von der Stringenz ab, mit der aus der nahezu alle Lebensbereiche abdeckenden Gesamtverfassung etwa die Grundrechte dem organisatorischen Teil zugeordnet werden. Die Berufung des Bundesverfassungsgerichts 1 9 2 auf streng verfassungsrechtliche Werte engt diesen Bereich nicht hinreichend ein, sondern klammert lediglich noch weitergehende Werte aus. Dennoch erscheint die vom Bundesverfassungsgericht vertretene Immanenztheorie zur Legitimation der nuklearen Restrisiken geeignet. Voraussetzung ist, daß die Suche nach legitimierenden Verfassungsbestandteilen sowie die dann notwendige Abwägung hinreichend rational nachvollziehbar geschieht. Im folgenden soll diese Immanenzlehre auf das Atomgesetz angewendet werden. (5) Anwendung der Immanenzlehre des Bundesverfassungsgerichts auf die Nutzung der Atomkraft Für eine mögliche Eingrenzung des Gehalts von Art. 2 I I S. 1 GG kommen mehrere verfassungsrechtliche Positionen in Betracht.

190 ρ Müller, Positivität der Grundrechte, S. 18; ders., Normstruktur, S. 62; Knies, Schranken der Kunstfreiheit, S. 40; Rüfner, Grundrechtskonflikte, in: FG BVerfG II, S. 453 (462); Graf, Grenzen der Freiheitsrechte, S. 62; Wendt, Garantiegehalt der Grundrechte, AöR 104 (1979) 414 (433); Scheuner, Grundrechte im Sozialstaat, DÖV 1971, 505 (509). 191 s. oben 1. Kap. 2. Teil C. 192 BVerfGE 30, 173 (193); 44, 37 (50); zust. v. Pollern, Immanente Grundrechtsschranken, JuS 1977, 644' (647); Wendt, Garantiegehalt der Grundrechte, AöR 104 (1979) 414 (432).

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(aa) Grundrechte der Betreiber atomarer Anlagen Als möglicherweise freiheitsbegrenzende Verfassungskomponenten kommen hier die Grundrechte der Kernanlagenbetreiber aus Art. 12 und 14 GG in Frage. 193 Gemäß Art. 19 I I I Grundgesetz können die meist in staatlicher Trägerschaft befindlichen 194 Energieversorgungsunternehmen alle auf sie anwendbaren Grundrechte in Anspruch nehmen. Hier kommen insbesondere die Grundrechte aus Art. 12 und 14 GG in Betracht. 195 Jedoch ist auch eine Berufung auf das Grundrecht aus Art. 2 I GG in Form der sog. „unternehmerischen Betätigungsfreiheit" möglich. 1 9 6 Überwiegend und zutreffend erweist sich die Betroffenheit unternehmerischer Grundrechtspositionen im Kernenergiesektor als wenig aussagekräftig. 197 Wie schon bei der Begründimg staatlicher Mitverantwortung tritt hier wieder die Sonderstellung gerade der Kernenergienutzung zutage, auf die sich das Bundesverfassungsgericht in den Beschlüssen Kalkar und Mühlheim-Kärlich ausdrücklich bezogen hat. 1 9 8 Erst durch die Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers ist die privatwirtschaftliche Gestaltung der Kernenergie überhaupt möglich geworden. Hieraus leitet das Bundesverfassungsgericht eine gesteigerte Dispositionsbefugnis gegenüber sonstiger wirtschaftlicher Betätigung ab. 1 9 9 Demnach muß die privatwirtschaftliche Nutzung der Kernenergie als immanent begrenzt durch womöglich steigende sicherheitstechnische Anforderungen gesehen werden. 200 Was ihre erstmalige Einrichtung angeht ist entscheidend, daß sich hier die privatwirtschaftliche Betätigung schritt-

193 Hierauf stellen ab Lukes / Backherms, Berücksichtigung von Kriegseinwirkungen im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren, AöR 103 (1978) 334 (346); Fischerhof, Atomgesetz, § 1 Rn. 3; Stober, Atomare Entsorgung, ET 1983, 585 (595); Wiedemann, Ermessen, 1. Dt. ATRS (1972) 298; Kramer, Die nach dem Atomgesetz erforderliche Schadensvorsorge, NJW 1981, 260 (262). 194 Deiseroth, Großkraftwerke vor Gericht, S. 62; Hofmann, Entsorgung, S. 295; Degenhart, Kernenergierecht, S. 113. 195 Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 233. ΐ9β vgl. BVerfGE 4, 7 (16); 9, 3 (11); 32, 311 (316); i n E 25, 1 (15) und 50, 290 (363) w i r d die unternehmerische Betätigungsfreiheit unter Art. 12 I GG gefaßt. 197

Degenhart, Kernenergierecht, S. 184; Dauk, Entsorgungsregelung, S. 162. E 49, 89 (146) zur Begründung des - systemwidrig vorhandenen - behördlichen Ermessensspielraums bei der Anlagengenehmigung; vgl. die weiteren Nw. bei Degenhart, Kernenergierecht, S. 183 Fn. 140; E 53, 30 (58). 199 BVerfGE 49, 89 (146) unter Hinweis auf das öffentliche Eigentum an den Kernbrennstoffen (Art. 86 EURATOM-Vertrag); Degenhart, Kernenergierecht, S. 184; Hofmann, Atomenergie und Grundrechte, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 55 (59); s. bereits oben 2. Kap. 1. Teil Β. I. 2. zoo Degenhart, Kernenergierecht, S. 185: „Auch die Rechtsposition der Betreiber ist situationsbedingt durch die technisch-zivilisatorische Entwicklung"; Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 260; auf die immanente Begrenzung der Betreibergrundrechte weisen Roßnagel, Grundrechte und Kernkraftwerke, S. 41; Baumann, Der Grundrechtsvorbehalt der „sozialadäquaten technischzivilisatorischen Risiken", JZ 1982, 749 (754); Hofmann, Entsorgung, S. 299, sowie Dauk, Entsorgungsregelung, S. 162, hin. 198

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weise im Rahmen begleitender staatlicher Kontrolle vollzogen hat. Es kann daher nicht von einem Verlust an bereits bestehenden wirtschaftlichen Betätigungsfeldern ausgegangen werden, sondern vielmehr von einer durch die staatliche Rechtssetzung ermöglichte und angeregte neuartige Risikolage. I n diesem Rahmen kommt den Betreibergrundrechten aus Art. 12 ,14, 2 1,19 I I I GG keine die Nuklearenergienutzung legitimierende Kraft zu. (bb) Art. 74 Nr. IIa GG als Verfassungsauftrag zur friedlichen Nutzung der Kernenergie; EURATOM-Vertrag Auf die strittige Frage, ob und inwieweit Zuständigkeitsvorschriften materielle Aussagen enthalten, bräuchte nicht eingegangen zu werden, wenn mit einer im Schrifttum 2 0 1 vertretenen Auffassung in Art. 74 Nr. I I a GG ein Verfassungsauftrag zur friedlichen Nutzung der Kernenergie gesehen werden könnte. Unter einem Verfassungsauftrag ist eine in einer Verfassungsurkunde fixierte Anweisung an die gesetzgebenden Organe zu verstehen, in eine bestimmte Richtung hin gesetzgeberisch tätig zu werden. Wesentlich ist, daß es sich hierbei um eine verbindliche Anweisimg handelt, 2 0 2 in welcher die von der Verfassung dann bezweckte freiheitslimitierende „Nebenwirkung", hier: das Restrisiko, verortet werden könnte. Hinsichtlich der Kompetenznorm des Art. 74 Nr. I I a GG wird vertreten, daß es sich um eine derart auftragshafte Verfassungsvorschrift handele. 203 Zweifel an der Richtigkeit dieser Ansicht bestehen vor allem deshalb, weil sich die Verfassung bei der Formulierung von Verfassungsaufträgen ansonsten anderer Ausdrücke bedient, 2 0 4 etwa in Art. 6 V GG („ . . . sind durch die Gesetzgebung . . . zu schaffen") oder in Art. 33 V GG („ . . . ist . . . zu regeln"). Auch würde bei einer derartigen Gesetzesinterpretation kein Unterschied mehr zu sonstigen Kompetenznormen bestehen. Dies hätte zur Folge, daß alle Gesetzgebungszuständigkeiten auch Verfassungsaufträge begründen würden. Da jedoch Gesetzgebungskompetenzen und Verfassungsaufträge nicht identisch sind, ist die ohne weitere Begründung vorgetragene Qualifizierung gerade der Atomenergie als Gegenstand eines Verfassungsauftrags nicht überzeugend. 205 Der Wortlaut von Art. 74 Nr. I I a 201 Strickrodt, Staats- und völkerrechtliche Zulassungsprämissen der friedlichen Kernenergienutzung, S. 27, mit Hinweis auf den allein dem Kernenergiewesen gewidmeten Art. 87 c GG sowie die internationale Verpflichtung zu einer bestimmten Energieerzeugungskapazität, S. 28; im Sinne eines Verfassungsaufträges ist auch Wagner, Bedrohen moderne Technologien die Grundrechte?, ZRP 1979, 54, zu verstehen: „Das Grundgesetz setzt die Nutzung dieser Energie grundsätzlich voraus." 202 Definition des Verfassungsauftrages bei Denninger, Verfassungsauftrag, JZ 1966, 767; Wienholtz, Normative Verfassung, S. 14f.; Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 86. 203 204 205

s. Nw. 2. Kap. 2. Teil Fn. 20. Stober, Atomare Entsorgung, ET 1983, 585 (590). Hofmann, Entsorgung, S. 82 f.

2. Teil: Eigene Analyse der „sozialadäquaten Risiken"

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GG enthält jedenfalls keinen Hinweis auf eine gerade hier bestehende Verpflichtung des Staates zur Kernenergienutzung. Gegen einen Verfassungsauftrag spricht weiterhin, daß die Grundentscheidung für die Kernenergie erst durch § 1 des Atomgesetzes 206 und nicht schon mit der Einfügung des Art. 74 Nr. I I a GG getroffen wurde. 2 0 7 Auch ist nicht zu übersehen, daß das Bundesverfassungsgericht die Aufgabe des Gesetzgebers betont, fortlaufend zu überprüfen, ob sich die ursprüngliche Entscheidung für die Kernenergie auch unter veränderten Umständen aufrechterhalten läßt. 2 0 8 Im Umkehrschluß folgt hieraus die latente Möglichkeit einer Rücknahme dieser Entscheidung ohne Verletzung von Artikel 74 Nr. I I a GG. 2 0 9 Ebenfalls dem EURATOM-Vertrag 2 1 0 läßt sich eine Verpflichtung der Bundesrepublik zur atomaren Nutzung nicht entnehmen. Der für eine Verpflichtung in Betracht kommende Art. 1 I I des Vertrags 211 enthält lediglich einen Programmsatz. 212 (cc) Verfassungsrechtliches

Wachstumsgebot (§ 1 S. 2 StabilitätsG)

Als diesbezügliche Legitimation käme hier das in § 1 S. 2 StabilitätsG 2 1 3 verankerte Wachstumsgebot in Betracht, welches eng mit dem verfassungsrechtlich geforderten Gebot eines gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts verknüpft ist. 2 1 4 Diese, in Art. 104a IV, 109 II, IV, 115 I S. 2 GG festgelegte Forderung hängt kausal mit der Kernenergienutzung zusammen, da die geforderte Preisstabilität um so eher erreicht ist, je preiswerter die Energieherstellung ist. 2 1 5 2oe BVerfGE 49, 89 (129); Vorlagebeschluß OVG Münster vom 18.8.1977, DVB1. 1978, 62 (64). 207

Hofmann, Entsorgung, S. 84 f. 208 BVerfGE 49, 89 (90, 130). 209

Hofmann, Entsorgung, S. 84: „ I m Falle des völligen Verzichts würde Art. 74 Nr. I I a GG dann als Liquidationsnorm fungieren." 210 BGBl. II, 1957, 1014, 1678. 211 Art. 1 I I des EURATOM-Vertrags lautet: „Aufgabe der Atomgemeinschaft ist es, durch die Schaffung der für die schnelle Bildung und Entwicklung von Kernindustrien erforderlichen Voraussetzungen zur Hebung der Lebenshaltung i n den M i t gliedsstaaten und zur Entwicklung der Beziehungen mit den anderen Ländern beizutragen." 212 Haedrich, in: Handbuch der Europäischen Wirtschaft (Hrsg. Groeben / Boeck / Thiesing), Band 12, III, A. 41 Anm. 4 zu Art. 1 EURATOM-Vertrag, S. 19; Hofmann, Entsorgung, S. 82 Fn. 18 mit dem Hinweis auf den bloßen Gestaltungscharakter auch der übrigen Normen. 213 Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8.6.1967 (BGBl. I, 582). 214 Stober, Atomare Entsorgung, ET 1983, 585 (596); vgl. zum Verfassungsauftrag zur Wachstumsvorsorge Badura, Wirtschaftsverfassung, S. 53; ders., Wirtschaftsverwaltungsrecht, in: v. Münch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht S. 273 (297); Rittner, Wirtschaftsrecht, S. 48, 75, 76; Bull, Staatsaufgaben, S. 250; Degenhart, Kernenergierecht, S. 173; kritisch für die Ableitung kernenergiespezifischer Forderungen aus dem Wachstumsgebot Baumann, Der Grundrechtsvorbehalt der „sozialadäquaten technisch-zivilisatorischen Risiken", JZ 1982, 749 (754). 215 Stober, Atomare Entsorgung, ET 1983, 585 (596).

2.

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Nach heute vorliegenden Gutachten würde ein Verzicht auf die Nutzung der Atomkraft eine Einbuße an Wirtschaftswachstum von ca. 2,5%, einen Preisanstieg von 0,6% und einen Beschäftigungsrückgang von 100 000 Personen bewirken. 2 1 6 Eine daraus resultierende zwingende Rückbindung der Kernenergie im Verfassungsrecht ableiten zu wollen 2 1 7 erscheint jedoch zweifelhaft. Der Grundsatz der Wachstumsvorsorge bedarf als Zielbestimmung für staatliches Handeln der Einengung auf einen von mehreren „Motoren" wirtschaftlichen Wachstums, er steht nicht auf gleicher Konkretisierungsstufe wie das betreffende Grundrecht. 218 Obwohl das Versorgungsinteresse der Allgemeinheit mit preiswerter Energie ein Gemeinschaftsinteresse höchsten Ranges darstellt, 2 1 9 kann gerade die Kernenergie niemals mehr als eine von mehreren Möglichkeiten der Energieversorgung sein. 220 Die Kernenergienutzung ist zwar unbestritten eine der heute preiswertesten Arten der Energiegewinnung, ihre konkrete Bewertung gerade im Verhältnis zu den diskutierten „Alternativenergien" aber auch zu herkömmlichen Energiequellen bleibt jedoch einer primär politischen Wertung vorbehalten. Eine Legitimation der Kernenergie aus dem Verfassungsgrundsatz zur Wachstumsvorsorge ableiten zu wollen, ist demnach verfehlt.

(dd) Art. 74 Nr. IIa GG als risikolegitimierende

Kompetenznorm

Eine Möglichkeit der grundrechtsimmanenten Begrenzung durch Restrisiken könnte in einer interpretatorischen Beeinflussimg durch Zuständigkeitsbestimmungen, 221 hier: Art. 74 Nr. I I a GG, gesehen werden. Wenngleich diese Verfassungsbestimmung keinen obligatorisch wahrzunehmen216 s. Energiebericht der Bundesregierung September 1986, FAZ v. 25.9.86, S. 2; die gleichen Zahlen finden sich im Gutachten des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI), s. FAZ v. 4.9.86, S. 1; SZ v. 4.9.86, S. 1; FAZ v. 9.7.88, S. 12; zu den von den verschiedenen Wirtschaftsinstituten unterschiedlich prognostizierten Umweltauswirkungen (erhöhte Menge von Schadstoffemissionen) s. SZ vom 4.9.86, S. 25. 217 Vgl. unter dem Aspekt des „Verfassungsauftrags" bereits oben 2. Kap. 2. Teil B. II. 2. d) ee) (5) (bb). 218 Degenhart, Technischer Fortschritt und Grundgesetz, DVBl. 1983, 926 (928); Baumann, Der Grundrechtsvorbehalt der „sozialadäquaten technisch-zivilisatorischen Risiken", JZ 1982, 749 (754). 219 BVerfGE 30, 292 (324); VG Karlsruhe, DVBl. 1978, 856 (859); OVG RheinlandPfalz, GewArch 1977,133 (139). 220 z u m energiepolitischen Konsens des Verbundes von Kernenergie und Steinkohle vgl. FAZ v. 17.10.86, S. 1. 221 Zur Rechtsnatur von Zuständigkeitsvorschriften s. BVerfGE 12, 45 (50); 14,105 (111); 28, 243 (260); 32, 40 (46); Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20 (1963) 53 (89); Stern, Staatsrecht I, § 4 I I 3a; Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 6, 33; E. Hesse, Bindimg des Gesetzgebers, S. 95; die weitere Möglichkeit von Grundrechtsbegrenzungen bzw. -einschränkungen aufgrund von Einrichtungsgarantien wie Schule, Bundeswehr und Universität setzt ein diesbezügliches Sonderstatusverhältnis voraus, welches hier nicht vorliegt, vgl. Wülfing, Gesetzesvorbehalte, S. 116, Fn. 64.

2. Teil: Eigene Analyse der „sozialadäquaten Risiken"

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den Auftrag zur friedlichen Nutzung der Kernenergie enthält, ist es immerhin möglich, daß sie diese mitsamt ihren Begleiterscheinungen jedenfalls legitimiert. Das sich hier stellende grundrechtliche Problem lautet, inwiefern Restrisiken auch dann an das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit herangetragen werden können, wenn sich das sie hervorrufende technische Medium „Atomkraftwerk" nicht aus einem grundrechtseinschränkenden Gesetz iSv Art. 2 I I S. 3 GG, sondern mittelbar aus Organisationsnormen des Staates ergibt. Diese Frage w i r d sicherlich dann positiv zu beantworten sein, wenn sich die zu beurteilende Materie als Gegenstand eines obligatorischen kompetenziellen Handelns, welches nur schwer vom Gesetzgebungsauftrag abzugrenzen ist, erweist. 222 Dies erlaubt jedoch noch nicht den Umkehrschluß bei lediglich fakultativ wahrnehmbaren Kompetenzen. In diesem Bereich, wie etwa dem der Kernenergienutzung, 223 erscheint eine materielle Aussagekraft immerhin möglich, muß jedoch im Einzelfall nachgewiesen werden. 224 Dieser Nachweis soll im folgenden versucht werden. aaa) Vertretene Auffassungen in Rechtsprechung und Literatur Das generelle Problem der Legitimationsfunktion von Kompetenznormen ist wenig bearbeitet. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht in einer der beiden Leitentscheidungen zur Kernenergie, dem Mühlheim-KärlichBeschluß vom 20. Dezember 1979, zu dieser Frage Stellung bezogen. Es hat ausgeführt: 225 „Dieses (das Bundesverfassungsgericht) hat davon auszugehen, daß die Verfassung selbst die »Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken' durch die Kompetenzvorschrift des Art. 74 Nr. I I a GG i m Grundsatz als zulässig gebilligt hat. Zwar wurde diese Vorschrift bereits i m Jahre 1959 in die Verfassung aufgenommen, also zu einem Zeitpunkt, i n dem die Problematik einer friedlichen Nutzung der Atomenergie noch wenig erörtert, diese vielmehr als grundsätzlich positiv der damals besonders umstrittenen militärischen Nutzung gegenübergestellt wurde. Das ändert aber nichts daran, daß auch aus Kompetenzvorschriften der Verfassung eine grundsätzliche Anerkennung und Billigung des darin behandelten Gegenstandes durch die Verfassung selbst folgt und daß dessen Verfassungsmäßigkeit nicht aufgrund anderer Verfassungsbestimmungen grundsätzlich i n Frage gestellt werden könnte. Kraft dieser Kompetenzzuweisimg ist vielmehr - wie bereits der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in der Kalkar-Entscheidung in anderem Zusammenhang dargelegt hat [BVerfGE 49, 89 (127ff.) = EuGRZ 1978, 553 (563)] zur Grundsatzentscheidung für oder gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie allein der Gesetzgeber berufen . . . " 222

Stettner, Kompetenzlehre, S. 331. s. dazu 2. Kap. 2. Teil Β. II. 2. d) ee) (5) (bb). 224 v. Pestalozzi Garantiegehalt der Kompetenznorm, Staat 11 (1972) 161 (171); Wülfing, Gesetzes vorbehalte, S. 131. 225 BVerfGE 53, 30 (56). 223

2.

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Dieser Beschluß ist in bezug auf die Legitimation gerade der Restrisiken der Atomkraft durch Art. 74 Nr. I I a GG nicht eindeutig, da er diese ausdrücklich jedenfalls nicht nennt. In der Literatur w i r d indessen teilweise vermutet, daß eine solche Aussage beabsichtigt war. 2 2 6 Sie stünde insofern in der Tradition früherer Urteile des Bundesverfassungsgerichts, in denen die materiellrechtliche Bedeutimg von Kompetenznormen grundsätzlich bejaht, im Einzelfall jedoch nach dem Stellenwert der jeweiligen Aufgabe differenziert wurde. So hat das Gericht in einer Leitentscheidung zur Kriegsdienstverweigerung 227 der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr, welche in den Artikeln 12 a I, 73 Nr. 1 und 87 a I S. 1 GG zum Ausdruck komme, Verfassungsrang zukommen lassen. Diese sei daher geeignet, das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung immanent zu begrenzen. Vorsichtiger argumentierte das Gericht in der Frage einer verfassungsmäßigen Rückbindung der Einrichtungen Sozialversicherungen 228 und Finanzmonopole 229 , deutlich dagegen im sog. „Abhör-Urteil" 2 3 0 : „Es kann nicht Sinn der Verfassung sein, zwar den verfassungsmäßigen obersten Organen im Staat eine Aufgabe zu stellen, . . . aber den verfassungsmäßigen Organen und dem Amt die Mittel vorzuenthalten, die zur Erfüllung ihres Verfassungsauftrags nötig sind."

In der Literatur wird die materielle Legitimationsfunktion von Kompetenznormen, speziell des Art. 74 Nr. l l a G G , uneinheitlich beurteilt. Die Teile der Literatur, die einen auch materiellen Gehalt von Kompetenznormen vorbehaltlos bejahen, stützen ihre Auffassung i m wesentlichen darauf, daß eine „reine" Kompetenzzuweisung ohne Möglichkeit der Ausübung sinnlos und daher vom Verfassungsgeber nicht gewollt sei. 231 Die Kompetenzbestimmungen werden vielfach als Ausdruck von Verfassungswerten verstanden, deren Aufnahme in das Grundgesetz die grundsätzliche inhaltliche Billigung durch den Verfassungsgeber belege. 232 Andere Auffassungen 226

Vgl. Bleckmann, Gehalt der Kompetenzbestimmungen, DÖV 1983, 129 (130). BVerfGE 28, 243 f. 228 BVerfGE 29, 302 (315). 229 BVerfGE 14, 105 (111); E 41, 205 (217), s. dazu Fiedler, Berufsfreiheit als Schranke der Verwaltungsmonopole, DÖV 1977, 390f. 230 BVerfGE 30, 1 (20); neuestens i n E 55, 274 (300), s. auch E 68, 1 (89, 97). 227

231 Stettner, Kompetenzlehre, S. 329, 330, 332; Bleckmann, Gehalt der Kompetenzbestimmungen, DÖV 1983, 129f.; F. Müller, Normstruktur, S. 206; v. Pollern, Immanente Grundrechtsschranken, JuS 1977, 644 (648); Schneider, Güterabwägung, S. 130f.; Lerche, Gesetzgebungskompetenz, JZ 1972, 468 (473); ders., Verfassungsdirektiven, AöR 90 (1965) 341 (347); Scheuner, Staatliche Intervention, W D S t R L 11 (1954) 1 (23) Anm. 55; ders., Einführung, S. 61, in: Die staatliche Einwirkung auf die Wirtschaft (Hrsg. Scheuner); Selmer, Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Eingriffe, in: Emmerich / Lukes (Hrsg.), Sicherheit der Energieversorgung, S. 1 (12); Leibholz / Rinck, GG, Art. 74 Anm. 4d; Maunz, in: M / D / H / S, GG, Art. 74 Rn. 22; v. Münch, in: ders., GG, Art. 74 Rn. 2; vgl. auch Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20 (1963) 53 (90). 232 Bleckmann, Gehalt der Kompetenzbestimmungen, DÖV 1983,129 (132), s. auch Stettner, Kompetenzlehre, S. 331; Wagner / Ziegler / Closs, Risikoaspekte der nuklearen Entsorgung, S. 95, 175; Fischerhof, Atomgesetz, Einführung, Rn. 36.

2. Teil: Eigene Analyse der „sozialadäquaten Risiken"

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in der Literatur billigen dieses Ergebnis zwar im Grundsatz, verweisen aber darauf, daß durch eine materiellrechtliche „Aufladung" der Kompetenzvorschriften die Gefahr bestünde, den abgestuften Schrankenvorbehalt der Grundrechte zu entwerten. 233 Durch den einfachen Schluß von der verfassungsrechtlichen Aufgabenzuweisung auf die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit der Materie werde die für jeden Katalogpunkt einzeln erforderliche Prüfung überspielt, 234 zumal Kompetenzen im Gegensatz zu Grundrechten eine bloß abgeleitete Befugnis ohne originären Rechtsgehalt vermittelten. 235 Eine spezielle Ausprägung dieser Kontroverse findet sich bezüglich des für die Legitimation von Restrisiken maßgeblichen Art. 74 Nr. I I a GG. Hier vertritt Bleckmann die These, daß aufgrund dieser Kompetenzbestimmung die Errichtung von Kernreaktoren selbst dann noch verfassungsmäßig sein soll, wenn auch bei Beachtung strengster Sicherheitsanforderungen noch eine Lebensgefahr für die Nachbarn bestehen bleiben sollte. 236 Dieser sehr weitgehenden Auffassung wird entgegengehalten, daß eine Kompetenznorm wie Art. 74 Nr. I I a GG - die auch durch Verbot ausgeübt werden könne selbst keine Aussage, zumindest aber keine pauschale Unbedenklichkeitserklärimg hinsichtlich einer echten Grundrechtseinschränkung beinhalte. 237 An dieser Stelle sei für den Gang der weiteren Untersuchung festgehalten, daß es lediglich um die materielle Rechtfertigung des Restrisikos der Atomkraft, nicht aber von Gefahren geht. bbb) Kriterien zur Bewertung des materiellrechtlichen Gehaltes von Art. 74 Nr. I I a GG in bezug auf das Restrisiko der Atomkraft Die wohl umfassendste Untersuchung der materiellrechtlichen Aussagekraft von Kompetenznormen findet sich bei v. Pestalozza. 238 Der Autor trennt zutreffend zwischen zwei Arten von Kompetenznormen. Einmal gibt es solche, deren Regelungsgehalt sich auf die „reine" Zuständigkeitszuord233 Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 135, 250; Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 275; Wülfing, Gesetzesvorbehalte, S. 118; Hamann / Lenz, GG, Vorb. vor Art. 1, Anm. 8; Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 12 Anm. 13; Erichsen, Polizei- und ordnungsrechtliche Handlungsvollmachten, W D S t R L 35 (1977) 171 (191); Wolff/ Bachof, VerwR, § 30 I I I a 3 , der zwischen materieller Kompetenz und dem Kompetenzbereich trennt; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 308; s. auch Rauschning, Staatsaufgabe Umweltschutz, W D S t R L 38 (1980) 167 (177); differenzierend v. Mangoldt / Klein, GG, Bd. II, Art. 70, Vorb. I I 6a, b. 234 Wülfing, Gesetzesvorbehalte, S. 120 f. 235

Goerlich, „Formenmißbrauch", S. 38. Bleckmann, Gehalt der Kompetenzbestimmungen, DÖV 1983,129 (130). 237 Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 250; A. Menzel, Gehalt der Kompetenzbestimmungen, DÖV 1983, 805 (806 / 807); Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 274f.; vgl. Goerlich, „Formenmißbrauch", S. 38f. 238 υ. Pestalozza, Garantiegehalt der Kompetenznorm, Staat 11 (1972) 161 f. 236

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2. Kap.: Einordnung der „sozialadäquaten Risiken"

nung beschränkt, weil eine Aussage zur materiellen Zulässigkeit der geregelten Materie sich bereits andernorts in der Verfassung findet (sog. deklaratorische Kompetenz). 239 Um eine solche „verweisende" Zuständigkeitsbestimmimg, wie etwa Art. 73 Nr. 3, der mit der „Freizügigkeit" auf Art. 11 GG zurückgreift, handelt es sich bei Art. 74 Nr. I I a GG nicht. Die Untersuchung befaßt sich folglich mit der konstitutiven Kraft einer Kompetenzvorschrift, deren Nachweis von Fall zu Fall je nach Besonderheit der Norm zu erfolgen hat. 2 4 0 Bevor aber auf das spezielle Verhältnis von Art. 74 Nr. I I a GG zu Art. 2 I I S. 2 GG eingegangen wird [dazu unten ccc)] sind jedoch noch einige allgemeine Ausführungen nötig. Zu berücksichtigen ist, daß sich das Grundgesetz nicht als ein hierarchisches Normsystem ansehen läßt, an dessen Spitze die Grundrechte und an dessen unterem Ende die Kompetenzvorschriften stehen. 241 Vielmehr müssen sämtliche Verfassungsbestandteile aus dem Gedanken der Einheit der Verfassung in systematischer Zusammenschau aufeinanderhin interpretiert werden, wobei anerkannt ist, daß die Bestimmung eines Mittels auch auf die Zulässigkeit des Ziels hinwirken kann. 2 4 2 Gerade der Grundsatz der Einheit der Verfassung, den auch das Bundesverfassungsgericht in seinen frühesten Entscheidungen anerkannt hat, 2 4 3 gebietet es, zwischen mehreren Verfassungsbestandteilen den schonendsten Ausgleich zu suchen. Auch die schwächere Norm darf hierbei nur soweit zurückgedrängt werden, wie es die Geltung der stärkeren Norm zwingend erfordert. 244 Ihr sachlicher Grundwertgehalt muß hierbei in jedem Fall erhalten bleiben. 245 Vor diesem Hintergrund sind daher Grundrecht und Kompetenznorm einander zuzuordnen. Wird hierbei zunächst die Kompetenznorm betrachtet, ergibt sich eine doppelte Zielrichtung. Einmal, und zwar primär, dienen Kompetenzvorschriften der organisationsrechtlichen Zuständigkeitszuweisung. Zugleich besitzen sie jedoch eine Sekundärfunktion, die im Einzelfall eine die Grundrechtsinterpretation beeinflussende Wirkung haben kann. 2 4 6 Diese Sekundärfunktion ist darin zu erblicken, daß die Kompetenznormen jedenfalls auch die verfassungsrechtliche Möglichkeit enthalten, die durch die Primärfunktion zugewiesene Zuständigkeit 239

v. Pestalozzi Garantiegehalt der Kompetenznorm, Staat 11 (1972) 161 (169). v. Pestalozza, Garantiegehalt der Kompetenznorm, Staat 11 (1972) 161 (171); Stettner, Kompetenzlehre, S. 333. 241 v. Pestalozza, Garantiegehalt der Kompetenznorm, Staat 11 (1972) 161 (172); s. ausf. bereits oben 2. Kap. 2. Teil Β. II. 2. d) ee) (3). 242 Bull, Staatsaufgaben, S. 133; s. bereits Myrdal, Zweck-Mittel-Denken, Zeitschr. f. Nationalökonomie IV, 1933, S. 305 f. 243 BVerfGE 1,14 (32); 19, 206 (220); 28, 243 (261); 30,173 (193); 60, 253 (267). 244 BVerfGE 28, 243 (261). 245 BVerfGE 28, 243 (261); v. Pestalozza, Garantiegehalt der Kompetenznorm, Staat 11 (1972) 161 (182). 246 Stettner, Kompetenzlehre, S. 331. 240

2. Teil: Eigene Analyse der „sozialadäquaten Risiken"

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überhaupt wahrnehmen zu können. 247 Erst diese Sekundärfunktion ermöglicht die sinnvolle und effektive Kompetenzwahrnehmung. Als „grundrechtsfestes Minimum" ergibt sich somit die Befugnis, die eingeräumte Kompetenz überhaupt, und sei es nur in äußerst kleinem Umfange, wahrnehmen zu dürfen. 248 Einen ähnlichen, mehr auf den Willen des Verfassungsgebers abstellenden Ansatz vertritt Wülfing. 2 4 9 Dieser Autor hebt zunächst hervor, daß die Grundrechte im Prinzip einer einschränkenden Auslegung außerhalb des Gesetzesvorbehalts nicht zugänglich seien. Eine Ausnahme gelte jedoch dort, wo der Verfassungsgeber dies selbst so gewollt habe. Ungeachtet der Schwierigkeit einer Motivforschung gerade im Bereich der Kompetenzen sei jedenfalls sicher, daß der Verfassungsgeber eben durch Aufnahme der Organisationsnormen in das Grundgesetz den dort geregelten Materien die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit bescheinigt habe. 250 Die Kompetenz impliziere die Zulässigkeit der Kompetenzausübung und damit die dazu unabweisbaren Freiheitsbeschränkungen. 251 Als Ergebnis dieses Untersuchungsabschnittes ist festzuhalten, daß Kompetenznormen insoweit auch eine materielle Berechtigung zur Ausübung der durch sie geregelten Materie enthalten. Diese reicht im Minimum so weit, wie es der „Wesensgehalt" der jeweiligen Zuständigkeitsnorm fordert, d.h. wie sie ansonsten leerlaufen würde. Obergrenzen der interpretationsbeeinflussenden Wirkung von Kompetenzvorschriften ergeben sich hierbei aus der im einzelnen festzustellenden Wertigkeit dieser Normen und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. ccc) Umsetzimg der Kriterien auf das Verhältnis von Art. 74 Nr. 11 a GG zu Art. 2 I I S. 1 GG Die notwendige Umsetzung der obigen Kriterien steht unter der Notwendigkeit, beiden Normen zur größtmöglichen Geltung zu verhelfen, ohne dadurch den Grundrechtsschutz unzulässig zu relativieren. Es ist daher nach einem Weg zu suchen, den zweifellos vorrangigen Grundrechtsschutz durchzusetzen, ohne dabei die Kompetenznorm Art. 74 Nr. I I a GG völlig 247 v. Pestalozzi Garantiegehalt der Kompetenznorm, Staat 11 (1972) 161 (183); vgl. auch Wülfing, Gesetzesvorbehalte, S. 129. 248 v. Pestalozza, Garantiegehalt der Kompetenznorm, Staat 11 (1972) 161 (184); Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 273f. läßt daher nur solche Grundrechtseinschränkungen durch Kompetenznormen zu, welche zwingend zur Verwirklichung der grundgesetzlich zugewiesenen Aufgabe notwendig sind und sich unterhalb der Gefahrengrenze bewegen, S. 275. 249 Wülfing, Gesetzesvorbehalte, S. 128f. 250 Wülfing, Gesetzesvorbehalte, S. 129. 251 Ebenda.

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2. Kap.: Einordnung der „sozialadäquaten Risiken"

leerlaufen zu lassen. 252 Wenn sich also als grundrechtsfestes Minimum die von der Verfassung zumindest als zulässig angesehene Existenz von Atomkraftwerken überhaupt ergeben hat, folgt hieraus zugleich eine Aussage bezüglich der Restrisiken. Diese wären nur dann nicht von Art. 74 Nr. I I a GG als „grundrechtsfestes Minimum" erfaßt, wenn sich eine Durchsetzimg des Sekundärzwecks dieser Norm (= „die Kernenergienutzung ist zulässig") auch ohne die begleitende Existenz von Restrisiken ergeben würde. Eine solche Vorstellung ist jedoch reine Utopie. Atomenergieerzeugung und Restrisiko lassen sich nicht trennen, moderne Technik schafft vielmehr in dem Maße technische und soziale Risiken, in dem sie selbst freiheitserzeugend und -vergrößernd wirkt. Den „Maßstab praktischer Vernunft" vor dem Hintergrund einer geforderten völligen Risikoausschaltung verschärfen zu wollen, käme - falls derartiges naturgesetzlich überhaupt möglich wäre - dem faktischen Verbot der Kernenergie gleich. Bei Annahme einer fehlenden Legitimation der Restrisiken wäre die Kernenergie insgesamt verfassungswidrig. Art. 74 Nr. I I a GG wäre in diesem Fall, wollte man die Norm nicht lediglich als Liquidationskompetenz weitergelten lassen, obsolet geworden. Es würde in diesem Falle eine Kompetenz formuliert sein, welche bei Ausübung einen verfassungswidrigen Zustand herstellen würde. Dieses Ergebnis stünde im Widerspruch zum Grundsatz der Verfassungseinheit. Die Autoren, die an der materiellen Aussage des Art. 74 Nr. I I a GG, so wie sie das Bundesverfassungsgericht anerkannt hat, 2 5 3 zweifeln, äußern ihre Bedenken ausschließlich hinsichtlich einer durch die Norm angeblich legitimierten Gefahr. Diese, auf dem Aufsatz von Bleckmann 2 5 4 beruhende Kontroverse trägt jedoch zur Klärung der Restrisiken nicht bei. Die Frage, ob bei einer nicht abwendbaren Gefahr die Kernenergie verfassungsrechtlich zulässig wäre oder nicht, ist rein hypothetisch. Sie braucht nicht entschieden zu werden. Hier soll lediglich die Grundrechtsfestigkeit von Risiken angenommen werden, die entweder unbekannt oder aber so klein sind, daß eine weitere Verringerung „vernünftigerweise" nicht verlangt werden kann. Dieser Befund w i r d dadurch bestätigt, daß auch die gegenüber Bleckmann kritischen Autoren die legitimierende Wirkung der Kompetenznormen hinsichtlich des durch sie geregelten Gegenstandes keinesfalls leugnen. 2 5 5

252 So ausdrücklich auch Goerlich, „Formenmißbrauch", S. 15. 253 BVerfGE 53, 30 (56). 254

Bleckmann, Gehalt der Kompetenzbestimmungen, DÖV 1983,129 (130). Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 135, der die legitimierende Wirkung für die genannte Materie ausdrücklich anerkennt; Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 275. 255

2. Teil: Eigene Analyse der „sozialadäquaten Risiken"

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Im Ergebnis ist festzuhalten, daß das Grundgesetz die Nutzung der Atomkraft - unter Einbeziehung der Restrisiken - nicht fordert, aber duldet. Die Konsequenz dieser These w i r d dadurch abgemildert, daß sie, solange jedenfalls grundrechtseinschränkende Gesetze fehlen, nur für die i n Art. 74 Nr. I I a GG erwähnte Kerntechnik gilt. Die vom Maßstab praktischer Vernunft definierten und über den Grundsatz praktischer Konkordanz legitimierten Restrisiken genügen ebenfalls den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Da das Restrisiko in seiner überwiegend vertretenen Ausformung die denkbar geringste Modifikation des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit durch Art. 74 Nr. l l a G G bewirkt, entspricht es notwendigerweise dem Kriterium der Erforderlichkeit. 256 Die Eignung der Kernenergie zur Herstellung praktischer Konkordanz zwischen Art. 2 I I S. 1 und Art. 74 Nr. I I a GG ergibt sich bereits aus deren Wortlaut. Angesichts der abstrakt nicht weiter zu verfeinernden Grenzziehung zwischen Gefahrenabwehr/Risikovorsorge einerseits und dem verbleibenden Restrisiko andererseits ist auch das dritte Merkmal des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, die sog. Proportionalität, 257 gewahrt. Solange sich das Restrisiko kontrollierbar im Bereich jenseits der praktischen Vernunft bewegt, bestehen für eine immanente Begrenzung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit keine Bedenken. Die jeweilige Angemessenheit des verbleibenden Restrisikos hängt in ihrer Bewertung von der stringenten Anwendung des Maßstabs „praktischer Vernunft" ab, der als Sicherheitsleitlinie nicht problematisch ist. Die Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Restrisiken als „interne" Eingrenzung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit ist damit positiv zu beantworten. Die freiheitslimitierende Funktion der Kompetenzzuweisimg aus Art. 74 Nr. I I a GG stellt eine unauflösbare Bedingung der Wahrnehmung dieser zugewiesenen Staatsaufgabe dar. Von einem staatlichen Eingriff in den Schutzbereich von Art. 2 I I S. 1 GG kann demnach nicht gesprochen werden. 258

C. Zusammenfassung Für die Gefahren und Risiken der staatlicherseits hervorgerufenen und geförderten Kernenergienutzung trägt der Staat eine originäre Verantwortung. Daher sind die nuklearen Restrisiken jenseits des „Maßstabs prakti256

Jakobs, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 66. Oder: Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, s. Grabitz, Verhältnismäßigkeit, AöR 98 (1973) 568 (575); Schneider, Güterabwägung, S. 206. 258 Insofern kann den Auffassungen, die eine Berührung des Schutzbereichs von Art. 2 I I S. 1 GG annehmen, nicht gefolgt werden, so aber Baumann, Der Grundrechtsvorbehalt der „sozialadäquaten technisch-zivilisatorischen Risiken", JZ 1982, 749 (754); Mayer-Tasch, Atomkraft - und sie bedroht uns doch, ZRP 1979, 59 (60). 257

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2. Kap.: Einordnung der „sozialadäquaten Risiken"

scher Vernunft" an den Grundrechten, speziell am Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 I I S. 1 GG) zu messen. In das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden, Art. 2 I I S. 3 GG. Unabhängig von materiellen Fragen kann das Atomgesetz schon deshalb kein derartiges „Eingriffsgesetz" sein, da es schon nicht dem Zitiergebot des Art. 19 I S. 2 GG genügt. Die atomaren Restrisiken sind demnach nur verfassungsgemäß, wenn sie sich nicht als Eingriff i n das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit darstellen. Zu ihrer Legitimation und damit zur Legitimation der Kernenergienutzung überhaupt bleiben deshalb nur zwei konstruktive Einordnimgsmöglichkeiten bestehen: Entweder sind die Restrisiken Ausdruck einer „Ausgestaltung" des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit, oder sie stellen eine sog. „Immanente Schranke" dar. In beiden Fällen wäre die fehlende Zitierung des eingeschränkten Grundrechts aus Art. 2 I I S. 1 Grundgesetz unschädlich. Abgesehen von der verfassungsrechtlich zweifelhaften Begründimg geht die Annahme einer „Ausgestaltung" des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit durch atomare Restrisiken hier fehl. Anders als bei Art. 6 oder 14 GG liegt bei Art. 2 I I S. 1 GG ein Bedürfnis für eine „Operationalisierung" nicht vor. Die institutionelle Auffassung Häberles, anhand derer eine Ausformung des „Instituts körperliche Unversehrtheit" erklärt werden könnte, ist aufgrund ihrer normativitätseinschränkenden Wirkung nicht überzeugend. Es bleibt folglich nur eine Erklärung der Restrisiken als „immanente Schranke" des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit. Unter einer solchen Figur ist keine von „außen" an das Grundrecht herangetragene Einschränkung, sondern vielmehr eine interne Grenzziehung „ i m " Grundrecht zu verstehen. Eine solche Konstruktion kann nur Ausdruck einer „engen Tatbestandstheorie" sein, welche im Gegensatz zu einer mit Schranken operierenden „weiten Tatbestandstheorie" von der Vorstellung eines bereits tatbestandlich reduzierten Rechts ausgeht. Zahlreiche atomrechtliche Stellungnahmen spiegeln eine derartige Ausklammerung der Restrisiken aus dem Schutzbereich des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit wider. Ihnen kann nur gefolgt werden, wenn die zugrundeliegenden Erklärungsmodelle verfassungsrechtlichen Anforderungen standhalten. Sollte dies nicht möglich sein, könnten Restrisiken nur auf der Grundlage einer „weiten Tatbestandstheorie" erklärt werden. Dies würde - schon formal wegen Art. 19 I S. 2 GG - zur Verfassungswidrigkeit des Atomgesetzes führen. Die von Friedrich Müller entwickelte „Theorie der sachspezifischen Modalität" vermag die Restrisiken nicht dem Schutzbereich des Art. 2 I I S. 1 GG zu entziehen. Die Abwehr von Risiken zählt vielmehr zum spezifisch geschützten Bereich von Art. 2 I I S. 1 GG, der Grundrechtsträger kann

2. Teil: Eigene Analyse der „sozialadäquaten Risiken"

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ihnen nicht durch eine andere Modalität der Grundrechtsbetätigung ausweichen. Eine Immanenzlösimg durch Ausklammerung des Inhalts „allgemeiner Gesetze" aus dem Schutzbereich von Art. 2 I I S. 1 Grundgesetz überzeugt gleichfalls nicht. Die rein formale Ausgrenzung grundrechtsrelevanten Handelns aus dem jeweiligen Schutzbereich entspricht nicht dem Postulat rationaler Grundrechtsinterpretation. Gleiches gilt für die „Gemeinschaftsklausel" des Bundesverwaltungsgerichts sowie für eine Anwendimg der Schrankentrias des Art. 2 I auf Artikel 2 Π S. 1 GG. Eine überzeugende Lösung stellt jedoch die vom Bundesverfassungsgericht angewendete Immanenzformel dar, wonach Grundrechte dann in ihrer Reichweite begrenzt werden können, wenn sie mit einem verfassungsrechtlich verankerten Wert kollidieren, der sich nach Abwägung als vorrangig erweist. Diese, auf dem Grundsatz der „Einheit der Verfassung" beruhende Idee gilt für alle, nicht nur für die schrankenlos gewährten Grundrechte. Sie gewinnt ihre Überzeugungskraft durch den ihr innewohnenden Abwägungszwang sowie die in der Rechtsprechung materiell ausgefüllten Begriffe des grundgesetzlichen Menschenbilds und des Toleranzgebots. Bei der Suche nach einem verfassungsrechtlich geschützten Wert zur Legitimation der Restrisiken erweisen sich die Grundrechte der Betreiber als unergiebig. Auch die Annahme eines Verfassungsauftrags zur friedlichen Nutzung der Kernenergie aus Art. 74 Nr. l l a G G ist nicht haltbar. Die Kompetenznorm des Art. 74 Nr. l l a G G beinhaltet jedoch zusätzlich zu ihrem formellen (Primär-)Gehalt eine materiell-rechtliche Sekundäraussage über die Zulässigkeit der Kernenergie schlechthin. Im Rahmen der Untrennbarkeit von Kernenergienutzung und Restrisiko bei Akzeptanz des „Standards praktischer Vernunft" stellen die Restrisiken einen Tribtit an den Grundsatz der Verfassungseinheitlichkeit bzw. praktischer Konkordanz zwischen den Verfassungsgehalten Artikel 2 I I S. 1 GG und Art. 74 Nr. l l a G G dar. Als derartige immanente Grundrechtsgrenze sind die nuklearen Restrisiken verfassungsgemäß. Sie können daher eine verfassungsrechtliche Erklärung auch auf dem Boden einer engen Tatbestandstheorie finden. Restrisiken stellen somit keine Grundrechtseinschränkung dar, ohne daß die Frage ihrer Expansionskontrolle und der Obergrenze ihres Wachstums hier beantwortet werden soll.

3. KAPITEL

Normative Steuerung und Entwicklung der „sozialadäquaten Risiken" 1. Teil

Notwendigkeit einer Steuerung, Regelungsdefizite A. Problemansatz Die friedliche Nutzung der Kernenergie hat sowohl in der Bundesrepublik als auch weltweit stark zugenommen. I m August 1986 befanden sich insgesamt 350 Kernkraftwerksblöcke in Betrieb, weitere 175 waren i n Bau. 1 In der Bundesrepublik arbeiten derzeit 19 Kernkraftwerke, noch in diesem Jahrzehnt sollen 7 weitere hinzukommen, darunter der „Schnelle Brüter" (SNR 300) in Kalkar. 2 Beachtlich ist die Steigerungsrate des Kernenergieanteils am Gesamtstromverbrauch: Während 1975 noch rund 9% des Stroms aus Uran gewonnen wurden, hat sich diese Quote im Jahre 1985 mit 36% vervierfacht. 3 Beim geplanten Ausbau der Kernenergienutzung w i r d sich dieser Anteil auf ca. 50% erhöhen. 4 Diese Quote w i r d von den Bundesländern Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Hessen, Bayern und Baden-Württemberg heute schon erreicht. 5 Festzustellen ist demnach eine starke Steigerung des nuklearen Anteils an der Primärenergieversorgung, welche sich vorbehaltlich einer politischen Abkehr von dieser Energiequelle noch weiter 1 Quelle: Kernkraftwerke in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg. Dt. Atomforum e. V.), S. 40; Der Spiegel, 19.5.1986, S. 23; allein i n Europa sind 191 Kernkraftwerke i n Betrieb und 90 in Bau, siehe Kernenergie im Dialog (Hrsg. Betreiber und Hersteller von Kernkraftwerken), S. 13. 2 Quelle: Kernkraftwerke i n der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg. Dt. Atomforum e.V.), S. 25f.; FAZ v. 3.5.1986, S. 13; FAZ v. 2.4.1986, S. 13; Der Spiegel, 19.5.1986, S. 22. 3 Kernenergie im Dialog (Hrsg. Betreiber und Hersteller von Kernkraftwerken), S. 41; FAZ v. 2.4.1986, S. 13; FAZ v. 3.5.1986, S. 13; Der Spiegel 19.5.1986, S. 37; über Kernenergie werden heute ca. 17 000 Megawatt Bruttoleistung erzeugt, s. FAZ v. 2.4.1986, S. 13; ET 1987, 1046. 4 Quelle: Der Spiegel, 19.5.1986, S. 22; schon 1985 hat die Kernenergie Braun- und Steinkohle bei der Herstellung von Strom überholt. 5 Quelle: Kernenergie im Dialog (Hrsg. Betreiber und Hersteller von Kernkraftwerken), S. 43; hiernach bezieht Schleswig-Holstein 75% des Stroms aus Kernenergie, Niedersachsen 64%, Hessen 70%, Bayern 62% und Baden-Württemberg 58%.

1. Teil: Steuerungsnotwendigkeit, Regelungsdefizite

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fortsetzen wird. Mit diesem quantitativen und über den Bau des „Schnellen Brüters" auch qualitativen Ausbau wächst zugleich das in jeder Anlage „immanent" vorhandene Restrisiko, die Wahrscheinlichkeit etwa eines Materialversagens steigt in dem Maße, in dem sich die Zahl seiner potentiellen Entstehungsquellen erhöht. Die hier zu untersuchende Frage soll sein, inwieweit diese Restrisiken einer quantitativen oder qualitativen Erfassimg durch einen Rechtssatz unterliegen. Eine solche Bestimmung würde sich, da das Restrisiko jenseits des „Maßstabs praktischer Vernunft" nicht mehr verringert werden kann, notwendigerweise auf die Gesamtzahl von Kernanlagen auswirken müssen. Um den möglichen Umfang dieses Problems deutlich zu machen, sei auch auf die besondere Dimension dieser Fragestellung hingewiesen. Angesichts des grenzüberschreitenden Charakters nuklearer Emissionen könnte eine solche Risikoobergrenze sowohl im nationalen als auch i m internationalen Bereich möglich und anwendbar sein. Zugleich stellt sich die Frage, ob ein Staat bei „Einkreisung" durch zahlreiche unsichere Kernkraftwerke, die sich außerhalb seiner Souveränität befinden, das dann vorhandene hohe „Grundrisiko" durch den Bau eigener, wenn auch noch so sicherer Atomkraftwerke noch erhöhen darf. 6 Die Begrenzung der bundesdeutschen Rechtsnormen auf den nationalen Bereich stünde einer solchen Betrachtung nicht entgegen, geht es doch um die Zulassung eigener Kernkraftwerke auf eigenem Boden unter Anwendung deutschen Anlagenrechts. Um die Fragestellung zu begrenzen, soll in diesem Rahmen die Untersuchung auf die Zulässigkeit, Möglichkeit und Erforderlichkeit einer quantitativen Risikoobergrenze für nationale Kernkraftwerke beschränkt werden. Angesichts unterschiedlicher Sicherheitsberechnungen und dem noch unvollkommenen Informationsaustausch auf internationaler Ebene scheinen die technischen Voraussetzungen zur Beantwortung der ersten Frage heute auch noch nicht vorzuliegen.

B. Notwendigkeit einer Risikogesamtbetrachtung und Risikosteuerung Sowohl die Verfassung als auch das Atomgesetz enthalten keine ausdrücklichen Hinweise auf eine Risikoobergrenze bzw. eine zahlenmäßige Begrenzung von Kernkraftwerken. Auch die sonst umfassende verwaltungsgerichtliche Überprüfung ist i m Hinblick auf diese Fragestellung beschränkt. Dies findet seinen Grund einmal darin, daß jede Anlagengenehmigung in zeitlich und sachlich oft weit auseinanderliegende Einzelgenehmigungen aufgestückelt ist. 7 Bedeutsamer für eine fehlende Gesamtbetrach6 s. dazu Kernenergie im Dialog (Hrsg. Betreiber und Hersteller von Kernkraftwerken), S. 45.

136 3. Kap.: Steuerung und Entwicklung der „sozialadäquaten Risiken" tung ist jedoch der Umstand, daß die Verwaltungsgerichte wegen § 42 I I VwGO nur die mögliche Rechtsverletzung eines Klägers durch ein Atomkraftwerk zum Gegenstand des Verfahrens machen dürfen. 8 Daher ist das Zusammenwirken von Restrisiken mehrerer, oft dicht beieinander liegender Kernkraftwerke keiner gerichtlichen Kontrolle unterworfen. Diese Tatsache ist jedoch allein noch keine Besonderheit gerade der Kernenergie. Auch bei sonstigen Großprojekten wie Flughäfen, Autobahnen etc. wird entsprechend der verwaltungsprozessualen Systematik der Streitgegenstand auf das jeweilige Einzelprojekt beschränkt. An diesem Punkt zeigt sich jedoch eine rechtliche wie tatsächliche Sonderstellung der Atomenergie, die Anlaß geben sollte, die Frage der Risikokumulation neu zu überdenken. Wie oben dargestellt, 9 werden atomare Anlagengenehmigungen maßgeblich und zunehmend auf der Basis probabilistischer Versagensberechnungen erteilt, die jedenfalls Grundlage für den zusätzlich greifenden deterministischen „Maßstab praktischer Vernunft" sind. 10 Die behördliche und gerichtliche Prüfung untersucht hierbei die Versagenswahrscheinlichkeit pro Reaktor, die sich aus der Versagenswahrscheinlichkeit seiner Einzelteile ergibt. Hierbei hat sich nahezu ein Konsens gebildet, einen Reaktor ab einer Versagensquote von 10" 6 /a (ein Unfall in einer Million Betriebs jähren) als hinreichend sicher anzusehen und damit als genehmigungsfähig iSv § 7 I I Nr. 3 AtomG zu betrachten. 11 Die hier vertretene These ist, daß die Kombination der Einzelprüfung gem. § 42 I I VwGO mit der probabilistischen Risikoanalyse ein Defizit für die rationale Risikobetrachtung und -wertung hervorruft. Diese Kombination bewirkt, daß sich die in der Einzelbetrachtung als hinreichend gering (d.h. kleiner als 10~6/a) erwiesene Unfallwahrscheinlichkeit in dem Maße unkontrolliert wieder erhöht, in dem die Zahl potentieller Risikoquellen wächst. Vereinfacht ausgedrückt besagt dies, daß bei einer Gesamtbetrachtung von 10 Kernkraftwerken, wovon jedes für sich alleine gesehen die probabilistischen Grenzwerte erfüllt, das Gesamtrisiko in der räumlich engen Bundesrepublik sich von einer Unf allwahrscheinlich7 Ossenbühl, Gerichtliche Überprüfung von Kernkraftwerken, DVBl. 1978, 1 (7); vgl. hierzu den Rechtsstreit um das Kernkraftwerk Mühlheim-Kärlich vor dem OVG Koblenz, wo es um die Frage ging, ob der Kühlturm des Kraftwerks mit durch das atomrechtliche Genehmigungsverfahren erfaßt wird oder ob eine gesonderte immissionsschutzrechtliche Erlaubnis notwendig ist, vgl. FAZ v. 10.10.1986, S. 5; sowie VGH Mannheim, NJW 1983, 63f. 8 Roßnagel, Grundrechte und Kernkraftwerke, S. 68, mit Verweis auf OVG Lüneburg, DVBl. 1978, 67 (69), wo dies im Ansatz doch berücksichtigt wird; de Witt, Genehmigung von Atomanlagen, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 160; Ossenbühl, Bewertung technischer Risiken, DÖV 1982, 833 (834) weist darauf hin, daß Risiken ohnehin stets anlagenbezogen sind und daher nur jeweils für ein Atomkraftwerk berechnet werden. 9 s. oben 2. Kap. 1. Teil A. III. 3. b) bb). 10 Dazu oben 2. Kap. 1. Teü A. III. 3. b) cc) (1). 11 Schattke, Wechselbeziehungen zwischen Recht, Technik und Wissenschaft, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 100 (114).

1. Teil: Steuerungsnotwendigkeit, Regelungsdefizite

137

keit in Höhe von 10~6/a auf eine Wahrscheinlichkeit von 10" 5 /a erhöht. l l a Nuklearspezifische Voraussetzung dieser Betrachtungsweise ist die Tatsache, daß es in der räumlich sehr begrenzten Bundesrepublik annähernd gleichgültig wäre, an welchem Ort sich ein nuklearer Unfall mit größerem Austritt nuklearer Stoffe ereignet. Noch anschaulicher w i r d dieses „immanente" Betrachtungsdefizit, wenn statt des Einzelkraftwerks die Gesamtzahl der Kernanlagen in die Wahrscheinlichkeitsberechnung eingestellt wird. Bei weltweit ca. 350 Kernanlagen entspricht jeder weltweit störfallfreie Tag in etwa einem Betriebs jähr. So ist es etwa zu erklären, daß die Menschheit schon heute über eine Erfahrimg von ca. 3160 Reaktorbetriebsjahren verfügt. 12 Mit jedem neu errichteten und betriebenen Kernkraftwerk verringert sich die Zeitspanne, in der ein Betriebsjahr abläuft, noch weiter. Auch in der Bundesrepublik mit derzeit 19 betriebenen Kernkraftwerken schlägt diese Betrachtung durch, der geringen Zahl von Kernkraftwerken steht hier eine hohe räumliche Konzentration entgegen. Aus diesen Gründen heraus empfiehlt es sich, die Risikobetrachtung nicht mehr isoliert pro Kernkraftwerk vorzunehmen, sondern den Blick auf die Gesamtzahl der Anlagen in der zeitlichen Dimension zu richten. Dem entsprechen Stimmen in der atomrechtlichen Literatur, die vor einem Umschlagen von zunehmender Quantität in eine neue Qualität warnen. 13 Auch findet sich mancherorten die Forderung nach einer gesetzgeberischen Aussage zur Gesamtzahl von Kernanlagen 14 bzw. nach einer gesetzlichen Risikohöchstnorm. 15 Im lla Diese Rechnung stellt die Abhängigkeit von Risikoquellen und Eintritts Wahrscheinlichkeit nur annäherungsweise dar. Statistisch gesehen hat eine Verdoppelung von Risikoquellen gleicher Versagenswahrscheinlichkeit nicht exakt eine Verdoppelung der Gesamteintrittswahrscheinlichkeit zur Folge. Beispiel: Beträgt bei einem Atomkraftwerk die Versagens Wahrscheinlichkeit 10 /a (1 Unfall in 1 Mio. Betriebsjahren), läge die Versagenswahrscheinlichkeit auch bei Einsatz von 1 Mio. Atomkraftwerken immer noch unter 1, da der Unfall auch dann noch ausbleiben könnte. 12 Kernkraftwerke in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg. Dt. Atomforum e. V.), S. 40. 13 Albers, Möglichkeiten und Grenzen gerichtlicher Überprüfung, in: Kernenergie und wissenschaftliche Verantwortung (Hrsg. Hülsmann / Tschiedel), S. 91 (99). 14 Listi, Die Entscheidungsprärogative des Parlaments, DVB1. 1978, 10 (12); Ernst, Staatliche Verantwortung, BauR 1978, 8 (11, 12); de Witt, Genehmigung von Atomanlagen, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 160; Albers, Möglichkeiten und Grenzen gerichtlicher Überprüfung, in: Kernenergie und wissenschaftliche Verantwortung (Hrsg. Hülsmann / Tschiedel), S. 91 (99); vgl. auch Lecheler, Reform der Anlagenbaugenehmigung, ZRP 1977, 241 (245): „für die Genehmigungspolitik von Atomkraftwerken ist ein Gesetz nötig"; Roth-Stielow, Luftverschmutzung und Waldsterben, NJW 1980,1942 (1942), der die isolierte Betrachtung jeweils eines Emittenten für unzulässig hält und eine Gesamtbetrachtung der sich gegenseitig verstärkenden Schadensursachen fordert (sog. „synergetische Wirkung"). 15 Roßnagel, Wie dynamisch ist der „dynamische Grundrechtsschutz", NZVwR 1984, 137 (141); ders., Nachbesserungspflichten des Gesetzgebers, JZ 1985, 714 (715/ 716); Däubler, Gestaltung neuer Technologien, ZRP 1986, 42 (47): „Es ist die Aufgabe des Gesetzgebers, über die Hinnehmbarkeit eines Risikos zu entscheiden"; vgl. auch Kimminich, Atomrecht, S. 95, der ebenfalls für eine globale Berücksichtigung von Gefahren plädiert. Nicht näher eingegangen werden soll i n diesem Zusammenhang auf die sog. „sozialen Risiken" der Kernenergie, welche sich einer rechtlichen Wer-

138 3. Kap.: Steuerung und Entwicklung der „sozialadäquaten Risiken" Lichte der obigen Erwägungen erscheinen diese Ansätze nicht a priori ungeeignet, mag die jeweilige Höchstgrenze im Einzelfall auch von einer wertenden, eventuell: beliebigen, Festsetzung abhängig sein. Begleitend zu der Frage, ob derartige Festsetzungen überhaupt möglich und bejahendenfalls sinnvoll sind, soll gefragt werden, inwieweit die Verfassimg über Steuerungsmechanismen verfügt, mittels derer einer möglichen Eigendynamik nuklearer Risiken vorgebeugt werden kann. Diese Notwendigkeit w i r d - abgesehen von den oben beschriebenen Kontrolldefiziten auf weltweiter Ebene - durch die Rechtsnatur der Restrisiken noch weiter erhöht. Da diese Risiken als „immanente Grundrechtsgrenze" und daher unter Verzicht auf die klarstellende Zitierung gem. Art. 19 I S . 2 GG auf das Grundrecht aus Art. 2 I I S. 1 GG einwirken, ist der derzeitige Ansatzpunkt für eine demokratisch legitimierte und bewußte Steuerung gering. Gerade weil die Restrisiken das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit „immanent" begrenzen, müßten sie wenigstens in ihrer quantitativen Zunahme vom Recht kontrolliert, besser: gesteuert, werden. Zu fragen ist, ob das Verfahren der Institutionalisierung von Risiken in irgendeiner Weise normativ gesteuert w i r d bzw. gesteuert werden könnte. Wohl unzulässig ist es, die Erhöhung eines bereits vorhandenen zivilisatorischen Lebensrisikos als grundsätzlich unbeachtlich zu bezeichnen, nur weil der Grundrechtsträger sich mit anderen Risiken abgefunden hat, in sie hineingeboren wurde bzw. sie gar nicht kannte. 16 Sicherlich ist anzunehmen, daß die Verfassung nicht überbeansprucht werden darf durch die Ableitung konkreter Aussagen, die Determination jeder Detailfrage ist abzulehnen. 17 Auf der anderen Seite würde eine wie auch immer geartete Steuerungsfähigkeit der Verfassung es ermöglichen, den Einfluß der reinen Faktizität zu verringern und der etwa von Forsthoff 18 befürchteten Dynamik der technischen Entwicklung entgetung aufgrund ihrer Ideologieanfälligkeit nur schwer erschließen und die diesbezüglich gegenüber anderen Technologien nur wenig Besonderheiten aufweisen, vgl. hierzu die Argumentation von Hofmann, Atomenergie und Grundrechte, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 55 (58); Mayer-Tasch, Atomenergie - und sie bedroht uns doch, ZRP 1979, 59 (61); ders., Der Weg vom Rechtsstaat zum Atomstaat, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 67 (72); Roth-Stielow, Grundrechtsschutz beim Betrieb von Kernkraftwerken, EuGRZ 1980, 386f.; ders., „Recht" i m Sinne von Art. 20 I I I GG, NuR 1983,113 (114); Meyer-Abich, Grundrechtsschutz heute, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 221 f.; kritisch zu diesen Ansätzen zu Recht Straßburg, Juristische Aspekte eines künftigen Sicherungssystems, ZRP 1984, 299 f. 16 Renneberg, „Stand der Wissenschaft" und die „SchadensVorsorge" i m atomrechtlichen Genehmigungsverfahren, ZRP 1986,161 (163). 17 So zu Recht Degenhart, Technischer Fortschritt und Grundgesetz, DVBl. 1983, 926 (927); Stern, Schlußbericht der Enquête-Kommission Verfassungsreform, ZRP 1977,12 (13); Steinberg, Verfassungspolitik und offene Verfassung, JZ 1980, 385 (389). 18 Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, S. 42, 75f.; so auch Breuer, Umweltschutz, in: v. Münch, Besonderes Verwaltungsrecht, S. 644, 645; Bericht der Sachverständigenkommission Staatszielbestimmungen, S. 14, der eine Zielbestimmung für den gesellschaftlichen Wandel fordert, vgl. auch Dauk, Entsorgungsregelung, S. 2.

1. Teil: Steuerungsnotwendigkeit, Regelungsdefizite

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genzuwirken. Festgehalten werden soll, daß es nicht genügt, auf eingetretene Schadens- und Gefahrenfälle zu reagieren. Umweltgestaltung hat vielmehr darauf abzuzielen, deren Entstehung zu verhindern. 19 Ebenfalls die Grundprämissen verfassungsrechtlicher Planimg beinhalten eine in die Zukunft gerichtete Gesamtschau, die Planung wandelt sich von der gegenwärtigen Ordnungsplanung zur zukunftsgerichteten konzeptionellen Planung. 20 Einen gewissen, allerdings begrenzten Aussagewert hat der Begriff der „Sozialadäquanz" selber. Er beinhaltet die Berufung auf eine vorhandene strukturell und typologisch ähnliche Lebenssituation. Die strafrechtliche Sozialadäquanzlehre schließt etwa solche Handlungen tatbestandlich aus, die sich „völlig im Rahmen der normalen, geschichtlich gewachsenen sozialen Ordnung des Lebens bewegen" 21 . Die spezifische Problematik der Anwendung dieser Leitlinie auf das nukleare Sicherheitsrecht liegt in der Frage begründet, was denn die „normale geschichtlich gewachsene soziale Ordnung", die ja auch Technik uiid damit Risiken enthält, zu den neu hinzutretenden Risiken aussagt. Ohne eine konkrete Antwort zu geben, soll bereits hier im Hinblick auf die folgende Untersuchung die Berufung auf die vorgefundene soziale Ordnung im Blickfeld bleiben.

C. Analyse der Steuerungsfähigkeit bisherigen Rechts I. Gesetzliche Steuerungsinstrumente Eine unmittelbare Gesamtrisikoberücksichtigung läßt sich i n den gesetzlichen Regelungen der Kernkraftwerksplanung, -genehmigung und -errichtung nicht finden. Gemäß § 24 I S. 1 Atomgesetz führen die Länder alle Überwachungsaufgaben, die nicht ausdrücklich Bundesbehörden vorbehalten sind, im Auftrag des Bundes aus. 22 Insbesondere sind die Länder für Errichtungs- und Betriebsgenehmigungen nach § 7 Atomgesetz 23 sowie für die Überwachung 24 der Anlagen zuständig. Oberste Fachaufsichtsbehörde 19 Feldhaus, Umweltschutzrecht, DÖV 1974, 613 (616); vgl. auch Degenhart, Kernenergierecht, S. 166. 20 Böckenförde, Planung zwischen Regierung und Parlament, Staat 11 (1972) 428 (433); Dobiey, Politische Planung als verfassungsrechtliches Problem, S. 129/130. 21 Baumann, Strafrecht AT, S. 182; Schönke / Schröder, StGB, Vor § 13 Rn. 68; Jescheck, Strafrecht AT, 3. A. 1978, S. 201; Welzel, Strafrecht AT, S. 56; vgl. Lukes, Risikoanalysen, BB 1978, 317 (319); Hofmann, Nachweltschutz als Verfassungsfrage, ZRP 1986, 87 (89). 22 Dem entspricht die Verwaltungskompetenz des Art. 87 c GG. 23 Gem. § 24 Π AtomG sind für Genehmigungen nach § 7 die jeweiligen obersten Landesbehörden zuständig, dies ist i n der Regel der zuständige Fachminister; zum Genehmigungsverfahren allgemein s. Degenhart, Kernenérgierecht, S. 62f.; Azizi / Griller, Rechtsstaat und Planung, S. 100 f.; v. Mutius / Schoch, Die atomrechtliche „Konzeptgenehmigung", DVB1.1983,149f.

140 3. Kap.: Steuerung und Entwicklung der „sozialadäquaten Risiken" für die in der Atomverwaltung tätigen Bundes- und Landesbehörden ist das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 25 als Nachfolger des Bundesministeriums für Forschung und Technologie. 26 Die ihm unterstellte Physikalisch-Technische Bundesanstalt sowie das Bundesamt für gewerbliche Wirtschaft überwachen gem. §§ 22, 23 Atomgesetz im wesentlichen die private Lagerung von Kernbrennstoffen, Bauartprüfungen sowie Ein- und Ausfuhrgenehmigungen. 27 Eine darüber hinausgehende bundesrechtliche „Energieaufsicht" besteht nicht. Eine solche w i r d auch nicht für nötig erachtet, da übergeordnete Gesichtspunkte der Energiepolit i k auch durch Konsultationen zwischen den zuständigen Landesbehörden berücksichtigt werden können. 28 Da sich weder aus dem Atomgesetz noch aus sonstigen Rechtsquellen eine Pflicht zur übergreifenden Risikobetrachtung ergibt, kann sich auch die Fachaufsicht des Bundes nicht auf eine solche beziehen. Auch mittelbar ergibt sich keine Risikoberücksichtigungspflicht aus den der Anlagegenehmigung zugrundeliegenden Rechtsvorschriften. Als solche käme hier § 4 I des Energiewirtschaftsgesetzes 29 in Betracht, wonach den zuständigen Bundesbehörden vom beantragenden Energieversorgungsunternehmen Anzeige vom geplanten Bauvorhaben erstattet werden muß. Diese, auch auf den Bau von Atomreaktoren anwendbare Vorschrift 30 statuiert insofern eine über das Atomgesetz hinausgehende Pflicht des Energieversorgungsunternehmens, als die Anzeigepflicht gem. § 4 iVm § 4 der 3. Durchführungsverordnung 31 zum Energiewirtschaftsgesetz auch solche Angaben erfaßt, welche die zuständige Behörde zur energiewirtschaftlichen Beurteilung des geplanten Vorhabens benötigt. 3 2 Eine herausragende Bedeutung hat hier der vom Energieversorgungsunternehmen prognostizierte Energiebedarfszuwachs, dessen behördlicher Prüfung eine vorwiegend politische Bedeutung zukommt. 3 3 Gemäß § 4 I I Energiewirtschaftsgesetz kann 24 Vgl. die Aufzählung der den Landesbehörden in den verschiedenen Strahlenschutzverordnungen zugewiesenen Überwachungsaufgaben bei Seif art, Atomenergierecht i n Bundesstaaten, S. 58 Fn. 213. 25 Vgl. Kloepfer, Stichwort „Umweltschutz", in: Ev. Staatslexikon, Sp. 3652. 26 Vgl. Seifart, Atomenergierecht in Bundesstaaten, S. 47. 27 Dank, Entsorgungsregelung, S. 16. 28 Tegethoff / Büdenbender / Klinger, Recht der öffentlichen Energieversorgung, Bd. I, EnergiewirtschaftsG, § 1 Rn. 10; zur Zusammenarbeit der Länder untereinander s. Seif art, Atomenergierecht in Bundesstaaten, S. 60. 29 Gesetz zur Förderung der Energiewirtschaft v. 13.12.1935 (RGBl. 1,1451) idF v. 19.12.1977 (BGBl. 1,2750). 30 Fischerhof, Atomgesetz, Einf. Rn. 8, S. 121. 31 idF v. 7.10.1970 (BGBl. I, 1370). 32 Vgl. Tegethoff / Büdenbender / Klinger, Recht der öffentlichen Energieversorgung, Bd. I, Energiewirtschaftsgesetz, § 4 Rn. 5. 33 So VG Hannover, DVBl. 1978, 74 (79); VG Karlsruhe, DVBl. 1978, 856 (860); vgl. ferner Ossenbühl, Gerichtliche Überprüfung von Kernkraftwerken, DVBl. 1978,1 (3); anderer Auffassimg sind etwa VG Berlin, DVBl. 1977, 353 (355); v. Pestalozza, Ener-

1. Teil: Steuerungsnotwendigkeit, Regelungsdefizite

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die Freigabeerklärung des Bauvorhabens aus Gründen des Gemeinwohls versagt werden. Für die Ausfüllung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs gelten primär Kriterien wie die Verhütung von Fehlinvestitionen, die Förderung einer planvollen Verbundwirtschaft oder die Sicherung der Energieversorgung. 34 Eine Gesamtrisikobetrachtung findet hier nicht statt. Ebenfalls die Strahlenschutzverordnungen und die in ihnen festgelegten Dosisgrenzwerte 35 vermögen nur Aussagen über die Strahlenexposition als Folge des Restrisikos zu treffen, nicht jedoch über eine Erfassung des Risikos als solches. Nach allem findet sich weder im Atomgesetz noch unmittel- oder mittelbar in den gesetzlichen Begleitvorschriften eine Aussage zur Quantifizierung von Restrisiken. Auf die Frage, ob eine gesetzestechnische Erfassimg der Risiken jenseits des „Maßstabs praktischer Vernunft" überhaupt möglich ist, soll an dieser Stelle noch nicht näher eingegangen werden, 36 festzuhalten ist zunächst der negative Befund als solcher.

Π. Verfassungsrechtliche Aussagen zur Risikosteuerung 1. Aussagen des Bundesverfassungsgerichts

a) Verhältnismäßigkeit, Güterabwägung, Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers Eine ausdrückliche Aussage zur Risikosteuerung findet sich beim Bundesverfassungsgericht nicht, 3 7 das Gericht qualifiziert lediglich die Risiken als solche. Als Konsequenz der Einordnung „sozialadäquater" Risiken in den Bereich der immanenten Grundrechtsbegrenzung muß jedoch jede zukünftige Risikoerhöhung dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und dem Gebot der Güterabwägung standhalten. Diese Begriffe alleine sind gerade im Bereich des schwer faßbaren Restrisikos, zu dem z.B. auch die Komponente „menschliches Versagen" zählt, 3 8 nicht sehr präzise. Dem korreliert die gieversorgung unter Richtervorbehalt, Staat 18 (1979) 481 (484); zur diesbezüglichen Kontroverse um das Atomkraftwerk Borken/Hessen s. FAZ v. 29.1.86, S. 4; 17.3.86, S. 4; 7.4.86, S. 3. 34 Tegethoff / Büdenbender / Klinger, Recht der öffentlichen Energieversorgung, Bd. I, Energiewirtschaftsgesetz, § 4d) Rn. 1 (S. 173). 35 s. § 45 StrlSchVO 1976 (Normalbetrieb) und § 28 I I I (Störfallplanungsdosis von höchstens 5 rem), s. bereits oben 2. Kap. 2. Teil Fn. 284; Degenhart, Kernenergierecht, S. 8; Schattke, Grenzen des Strahlenminimierungsgebots, DVB1. 1979, 652f.; de Witt, Genehmigung von Atomanlagen, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 138 (144). 36 Dazu unten 3. Kap. 2. Teil Β. II. 3. 37 Vgl. BVerfGE 49, 89 (142); Haedrich, AtomG, in: Deutsches Bundesrecht, I I I E 50, § 7, Rn. 89. 38 s. oben 2. Kap. 1. Teil Α. ΠΙ. 3. b) cc) (1) (bb).

142 3. Kap.: Steuerung und Entwicklung der „sozialadäquaten Risiken" Pflicht des Gesetzgebers, die einmal getroffene Entscheidimg für die Kernenergie fortlaufend zu überprüfen und notfalls rückgängig zu machen. 39 Diese Pflicht zur „Gesetzesoptimierung i n der Z e i t " 4 0 beinhaltet die Möglichkeit, daß der Gesetzgeber eine ursprünglich verfassungsgemäße Regelung im Wege der Nachbesserung neu zu gestalten hat. Derartiges kann vor allem dort in Betracht kommen, wo der Staat wie bei der Kernenergienutzung eine eigene Verantwortung für etwaige Grundrechtsbeeinträchtigungen übernommen hat. 4 1 Angesichts eines fehlenden qualitativen und quantitativen Maßstabs zur Beantwortung der Frage, wann denn die Kernenergienutzung in die Verfassungswidrigkeit umschlagen könnte, ist diese Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers noch konkretisierungsbedürftig. 42 Die fortlaufende Kontrolle der nuklearen Nutzung durch die Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und Güterabwägung im Rahmen des von Artikel 74 Nr. l l a G G aufgeworfenen verfassungsinternen Spannungsfelds vornehmen zu wollen, erscheint daher schwierig. Diese Maßstäbe sind nur dann tauglich, wenn sie das zugrundeliegende Abwägungsmaterial nicht bloß aus dem konkret zu beurteilenden Einzelprojekt, sondern aus einer Gesamtsicht des neuen mit den bereits vorhandenen Projekten beziehen. Angesichts der statistisch so gut wie nicht erfaßbaren Restrisiken 43 ist die Festlegung einer quantitativen Grenze hier unmöglich. Fest steht jedoch, daß sich das Problem der Risikoeinschätzung wegen der möglichen Risikokumulation, hervorgerufen durch den Neubau von Kernanlagen, immer wieder neu stellt. Den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts i m Mühlheim-Kärlich-Beschluß 44 läßt sich jedoch entnehmen, daß Restrisiken auch quantitativ insoweit legitim sind, wie dies durch die Verfassungsentscheidung des Artikels 74 Nr. I I a GG, die ihrerseits im Lichte des Art. 2 I I S. 1 Grundgesetz gesehen werden muß, gedeckt ist. 4 5 Eine Prüfung des Art. 74 Nr. l l a G G ergibt jedoch gleichfalls keine quantitative Obergrenze von Kernanlagen. Diese Norm w i r d im Gegenteil sinnvoll nur so auszulegen sein, daß sie eine gesamtwirtschaftlich bedeutsame, den Forschungs- und Investitionsaufwand lohnende Kernenergienutzung beabsichtigt. Zwischen 39 BVerfGE 49, 89 (130) mit Anm. Fiedler, JZ 1979,184 (185); ferner BVerfGE 25,1 (12/13); E 50, 290 (335, 377/378). 40 Fiedler, Anm. zur Kalkar-Entscheidung des BVerfG, JZ 1979,184 (185). 41 Vgl. oben 2. Kap. 1. Teil Β. I. 2.; BVerfGE 53, 30 (58); E 56, 54 (79) -Fluglärmfall - . 42 Roßnagel, Nachbesserungspflichten des Gesetzgebers, JZ 1985, 714 (715) sieht diese Pflicht durch den Bau des „Schnellen Brüters" und der Wiederaufbereitungsanlage schon heute ausgelöst. 43 Restrisiken können bislang nur i n ihren denkbaren Ursachen aufgezeigt werden, eine Bewertung fehlt, vgl. Hof mann, Entsorgung, S. 339. 44 BVerfGE 53, 30 (56). 45 Vgl. v. Pestalozza, Garantiegehalt der Kompetenznorm, Staat 11 (1972) 161 (183): „auch die schwächere der kollidierenden Normen darf nur so weit zurückgedrängt werden, wie dies logisch und systematisch zwingend erscheint", s. auch BVerfGE 28, 243 (261).

1. Teil: Steuerungsnotwendigkeit,

egelungsdefizite

143

diesem Minimum und der denkbar möglichen Höchstgrenze von Kernanlagen eine verfassungsrechtliche Grenze zu ziehen, ist mittels des auf die Einzelanlage zugeschnittenen Instrumentariums des Bundesverfassungsgerichts, zu dem auch der „Maßstab praktischer Vernunft" zählt, unmöglich. b) „Dynamischer Grundrechtsschutz"

des Bundesverfassungsgerichts

Ein spezifischer Zeitbezug, der sich auf die Kontrolle einer „Bewegimg" richtet, läßt sich jedoch in dem vom Bundesverfassungsgericht 46 postulierten „dynamischen Grundrechtsschutz" erkennen. Hinsichtlich einer Kontrolle der Risikoquantität bei mehreren Anlagen und mehreren Verwaltungsverfahren besitzt jedoch auch diese Formel nur eine geringe Aussagekraft. Zwar enthält sie eine Verpflichtung zur jeweils dem neuesten Stand von Wissenschaft und Technik angepaßten Gefahrenabwehr und Risikovorsorge. Sie ist insofern progressiv, als sie einen Zwang zur baldestmöglichen Umsetzung neuer Erkenntnisse in die Praxis ausübt. Wie Roßnagel 47 jedoch zutreffend bemerkt, sagt sie über eine mögliche Risikosteuerung jedoch wenig aus: nicht beantwortet w i r d die Frage, ob der naturwissenschaftliche Erkenntniszuwachs dazu benutzt werden darf, bei gleichbleibendem Gesamtrisiko die Anzahl der Kernanlagen zu erhöhen oder ob der technische Fortschritt zur Risikoreduzierung bei stagnierender Anzahl der atomaren Anlagen zu führen hat. Dieser Punkt jedoch ist wesentlich für die Steuerung von Restrisiken. Die Anbindung an den „Stand von Wissenschaft und Technik" iSv § 7 I I Nr. 3 Atomgesetz liefert keine Anhaltspunkte, da dieser Maßstab - ähnlich der Probabilistik - nur die Beurteilungsgrundlage, nicht aber das Maß einer Wertung liefern kann. 4 8 Mit der Formulierung „das allgemeine Lebensrisiko ist so gering wie möglich zu halten" vermag auch eine naturwissenschaftliche Betrachtungsweise 49 keine Aussage darüber zu bieten, ob der technische Fortschritt zu einer Nutzungserweiterung oder Risikoverringerung einzusetzen ist. Als Ergebnis ist festzuhalten, daß das Bundesverfassungsgericht eine Kontrolle des Gesamtrisikos und damit eine Steuerung nur mittels der Prinzipien von Verhältnismäßigkeit und Güterabwägung vornehmen kann, wobei der Begriff der „Sozialadäquanz" jedoch eine Orientierung an bisherigen Strukturen nahelegt. 46

s. oben 2. Kap. 1. Teü Α. II. 2. b). Roßnagel, Wie dynamisch ist der „dynamische Grundrechtsschutz"? NZVwR 1984, 137f.; ders., Rechtliche Risikosteuerung, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 198f.; kritisch auch Ossenbühl, Kernenergie im Spiegel des Verfassungsrechts, DÖV 1981,1 (8), der einen Widerspruch der Formel vom „dynamischen Grundrechtsschutz" zum verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot rügt. 48 Roßnagel, Wie dynamisch ist der „dynamische Grundrechtsschutz"? NZVwR 1984, 137 (139); ders., Grundrechte und Kernkraftwerke, S. 80/81; Sommer, Praktische Vernunft beim kritischen Reaktor, DÖV 1981, 654 (659); Winters, Zur Entwicklung des Atom- und Strahlenschutzrechts, DÖV 1978, 265 (270). 49 s. Siebert, Überlegungen zum Restrisiko, ZfU 1980, 617 (617). 47

144 3. Kap.: Steuerung und Entwicklung der „sozialadäquaten Risiken" 2. Aussagen in der Literatur

a) Inhalt Aussagen zur Kontrolle der Risikoentwicklung finden sich bei Degenhart 5 0 sowie einigen anderen Autoren. 51 Grundlage dieser Auffassungen ist die Annahme eines Gestaltungsspielraums der Exekutive, dem ein variabler Grundrechtsgehalt des Art. 2 I I S. 1 GG entspricht. 52 Da grundrechtliche Individualansprüche ihre Schutzwirkung nur auf der Grundlage einer vorgegebenen Grundrechtssituation entfalten könnten, läge allein in der Gestaltung dieser Situation keine Beeinträchtigung von Grundrechtspositionen. 53 Korrigierend fügt insbesondere Degenhart eine Pflicht der Exekutive hinzu, die Gestaltung der Rahmensituation nur in Orientierung am Schutzgehalt des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit vorzunehmen. 54 b) Rückführung dieser Auffassungen auf funktionell-grundrechtliche Aspekte Diese Vorstellung vom Verhältnis zwischen Grundrechten und der atomaren Nutzung spiegelt in auffälliger Weise ein funktionell-rechtliches Verständnis vom Wesen des Grundrechtsschutzes wider. Insbesondere Degenhart wurde dem Vorwurf ausgesetzt, entgegen der einhelligen Auffassung 55 den atomrechtlichen Schutzzweck des § 1 Nr. 2 Atomgesetz hinter dem Förderzweck aus § 1 Nr. 1 zurückstehen zu lassen. 56 Der maßgeblich auf die Smendsche Integrationslehre 57 zurückzuführende Grundrechtsfunktionalismus 58 betont den primären Sinn der Verfassung als Ordnung des staatlichen Integrationsprozesses. 59 Nicht das einzelne Rechts50

Degenhart, Kernenergierecht, S. 148f.; ders., Kontrollbefugnisse, ET 1981, 203 (203f.); ders., Technischer Fortschritt und Grundgesetz, DVBl. 1983, 926 (931); ders., Kernenergierecht in der Entwicklung, ET 1983, 230 (232). 51 Wagner, Bedrohen moderne Technologien die Grundrechte?, ZRP 1979, 54 (55); ders., Die Risiken von Wissenschaft und Technik, NJW 1980, 665 (669); ders., Grundrechtsschutz und Technologieentwicklung, ZRP 1985, 192 (193); Schmidt-Assmann, Anwendungsprobleme des Art. 2 II, AöR 106 (1981) 205 (214); ders., Buchbesprechimg von Degenhart, Kernenergierecht, AöR 107 (1982) 658 f. 52 Degenhart, Kernenergierecht, S. 151; vgl. bereits oben 2. Kap. 1. Teil Β. II. 2. a). 53 Degenhart, Kernenergierecht, S. 155. 54 Degenhart, Kernenergierecht, S. 156, unter Berufung auf BVerfGE 49, 89 (142). 55 s. ausführliche Nachweise oben 2. Kap. 1. Teil Fn. 100. 56 So Baumann, Der Grundrechtsvorbehalt der „sozialadäquaten technisch-zivilisatorischen Risiken", JZ 1982, 749 (753); Lecheler, Reform der Anlagenbaugenehmigung, ZRP 1977, 241 (244); Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 148,149; s. ferner oben 2. Kap. 1. Teil Β. II. 2. c). 57 Vgl. bereits oben 1. Kap. 2. Teil B. mwN; kritisch Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 45. 58 Schneider, Wesensgehalt, S. 118.

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subjekt, sondern die Funktionsfähigkeit des sozialen Systems ist Fixpunkt der Grundrechte, da erst diese die zum Überleben notwendige Sicherheit für die in der Gesellschaft organisierten Individuen bietet. 60 Luhmann zufolge sind die Grundrechte insofern funktionell, als sie das Kommunikationswesen im sozialen Verkehr überhaupt erst ermöglichen. 61 Auch der subjektivrechtlichen Komponente des Grundrechtsschutzes wird hier ein primär funktioneller Charakter zuerkannt. 62 Grundlage finden diese Auffassungen in einer Systemtheorie, derzufolge alle gesellschaftlichen Teilsysteme füreinander „Umwelt" sind, daher nicht nur ihre eigene Funktion adäquat erfüllen müssen, sondern auch zu anderen Systemen in ein sinnvolles Verhältnis zu bringen sind. 63 Schlaglichtartig läßt sich die Luhmannsche Systemtheorie, die aus der K r i t i k und Weiterentwicklung der Systemtheorie Parsons 64 hervorgegangen ist, so formulieren, daß die Frage der Legitimität durch die Feststellung des Funktionierens ersetzt werden soll, Ethik durch Sozialtechnik zu verdrängen ist. 6 5 Die Vorstellung von Grundrechtsnormen als strukturell inhaltsleere, ausfüllungsbedürftige „Vehikel", deren jeweilige Interpretation durch die vergangene und gegenwärtige Machtverteilung bestimmt wird, leugnet die Möglichkeit einer vor-gesellschaftlichen Inhaltsbestimmung. 66 Sie bezweckt eine systematische Rationalisierung von Grundrechten als System, wodurch ein relativ freier, unbeeinflußter Kommunikationsprozeß 67 mit dem Endziel des Systemerhalts erreicht werden soll.

59 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 189; vgl. dazu Bartlsperger, Die Integrationslehre Smends, S. 13. 60 Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 48: „Neben seiner Holle als Bürger hat der Mensch auch andere Rollen zu spielen. Er muß an mehreren Untersystemen der Gesellschaft teilnehmen.... Er muß im Wirtschaftssystem mitproduzieren"; vgl. Krawietz, Das positive Recht und seine Funktion, S. 16; vgl. Zippelius, Staatslehre, S. 18. 61 Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 12 f. (23). 62 Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, S. 56. 63 Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, S. 88 Fn. 108. 64 Parsons, Das Problem des Strukturwandels, in: Zapf, Theorien des sozialen Wandels, S. 35; ders., Einige Paradigmata zur Analyse sozialer Systeme, in: Soziologische Theorie (Hrsg. Mühlfeld / Schmid), S. 147 f.; zum Unterschied der Luhmannschen funktional-strukturellen Systemtheorie zur strukturell-funktionalen Theorie Parsons vgl. Willke, Grundrechtstheorie, S. 86. 65 Vgl. Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 198, wo der Zweifel an der Wahrheitsfähigkeit von Werten deutlich wird und die Grundrechte als Hemmnisse eines strukturell angelegten gesellschaftlichen Differenzierungsprozesses verstanden werden. 66 Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 160: „die systematische Rationalisierung des Problementscheidens nach eigenen Kriterien tritt an die Stelle einer Orientierung an rein externen Schranken des Handelns"; a.a.O., S. 198: „Werte sind als solche nicht wahrheitsfähig." 67 Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 158, 160 mit dem Beispiel des dann herrschaftsfrei auszuübenden politischen Wahlrechts als Konsequenz der auf S. 23 formulierten Kernthese („Grundrechte dienen dazu . . . als Kommunikationsnormen zu ordnen").

10 Lawrence

146 3. Kap.: Steuerung und Entwicklung der „sozialadäquaten Risiken" Besonders Degenharts Ansatz der unmittelbar situationsprägenden Kraft nuklearpolitischer Entscheidungen spiegelt nicht gänzlich, aber in einem Teilbereich funktionell-rechtliches Grundrechtsverständnis wider. Dieser Ansatz soll hier exemplarisch untersucht werden. Der enge Zusammenhang zwischen Recht und der zum Systemerhalt notwendigen Wirklichkeit ist maßgeblicher Inhalt auch des funktionellen Grundrechtsdenkens. 68 Wenn erst dann über die grundrechtsgeleitete Ingriffnahme von Risiken nachgedacht werden darf, nachdem diese als unausweichliche Konsequenz wirtschaftspolitisch unbestritten notwendiger Maßnahmen institutionalisiert wurden, und die Grundrechtsprüfung anhand eines sich normtheoretisch bereits veränderten Maßstabs erfolgt, w i r d hier eine funktional gelenkte „Zweck"-Richtung der Grundrechte offenbar. Kennzeichen einer funktionell-rechtlichen Denkweise ist hier nicht die Vorstellung eines variablen Grundrechtsschutzes. Der funktionelle Inhalt tritt vielmehr deutlich in dem Stellenwert zutage, welcher der Realität zugesprochen wird. Das funktionelle Modell geht über eine wechselseitige Beeinflussung von Norm und Wirklichkeit so weit hinaus, daß die Norm der Realität keinen nennenswerten Widerstand mehr entgegenbringt. Anstelle eines wechselseitigen Bezugs von Norm und Wirklichkeit tritt bei diesem Modell eine an strukturellem Funktionieren orientierte einseitige Beeinflussimg des Grundrechts durch geschaffene Fakten. Wenn ein risikobehaftetes Phänomen allein durch seine Existenz den für ihn anwendbaren Rechtmäßigkeitsmaßstab verändert, besteht latent die Gefahr, per Zeitablauf den Grundrechtsschutz zu einer formalen Bindung zu degradieren. 69 Theoretisch ist hier ein stetiges Entfernen vom ursprünglichen Grundrechtsgehalt möglich, indem neue technische Phänomene ihre eigenen rechtlichen Rückbildungen „dynamisieren". Wenn die grundrechtsprägenden Risiken über die politisch-planerische Ebene institutionalisiert sind und gleichzeitig nicht als „echte" Grundrechtseinschränkung angesehen werden, stellt dies den Inhalt des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit bis an die Grenze des Wesensgehalts zur Disposition der reinen Faktizität. Den Wesensgehalt von Art. 2 I I S. 1 GG wiederum in Hinblick auf Risiken unbekannter Art quantitativ zu fixieren erscheint ganz außergewöhnlich schwierig, wenn nicht unmöglich. Sicherlich ist eine derartige Betrachtungsweise vor dem Hintergrund eines gewandelten normtheoretischen Verständnisses i m Sinne eines Einbe68

Schneider, Wesensgehalt, S. 123. Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 148: „Würde man damit ernst machen, dann stellte man die technische Entwicklung über die Verfassung"; vgl. auch Renneberg, „Stand der Wissenschaft" und die „Schadensvorsorge" im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren, ZRP 1986, 161 (163) Fn. 27; Baumann, Der Grundrechtsvorbehalt der „sozialadäquaten technisch-zivilisatorischen Risiken", JZ 1982, 749 (751 f.). 69

1. Teil: Steuerungsnotwendigkeit, Regelungsdefizite

147

zugs der Wirklichkeit in die Norm 7 0 nachvollziehbar. Es fragt sich nur, ob die hier diskutierte Betrachtungsweise ausreichend rechtlich zurückhaltende Elemente enthält, um dem völligen Normativitätsverlust des Grundrechts, verbunden mit einer hiermit korrelierenden Eigendynamik der Technik, auszuweichen. Dies ist in mehrfacher Hinsicht fraglich. Die Vorgabe, „bestimmte" technisch-zivilisatorische Risiken könnten nicht als Grundrechtseingriff, sondern als „sozialadäquate" immanente Positionsbegrenzimg anzusehen sein, ist für eine genaue Bestimmung neuer Phänomene wenig fruchtbar. Denn Maßstab für eine solche „Bestimmung" kann nur eine vorgefundene normative Ordnung sein, soll das kernenergiespezifische Postulat des Vorrangs vom Schutzzweck vor dem Förderzweck überhaupt eine Bedeutung haben. 71 So ist es denn auch ein Zirkelschluß, wenn als K r i terium der Schutzbereichsbegrenzung etwa die „Sozialadäquanz" gelten soll. Denn diese beurteilt sich selbst wiederum nur anhand des vorhandenen, strukturell und typologisch festgelegten grundrechtskonformen Vorfelds. c) Kritik

an den funktionell-rechtlichen dieser Auffassungen

Bezügen

Gegen eine derartige Funktionalisierung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit spricht, daß die Rechtsordnung Werte wie etwa die Idee der Gerechtigkeit enthält. 72 Dies w i r d einmal aus der Präambel des Grundgesetzes abgeleitet. 73 Indiz ist aber auch schon die Anerkennung staatlicher Schutzpflichten, 74 bei deren Übernahme sich der Staat für gewisse Werte 70 F. Müller, Juristische Methodik, S. 107, 117; ders., Normstruktur, S. 147; ders., Strukturierende Rechtslehre, S. 225; Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung, S. 62; Krawietz, Das positive Recht und seine Funktion, S. 16; Machacek, Das Recht auf Leben, EuGRZ 1983, 453 (457); Schenke, Verfassung und Zeit, AöR 103 (1978) 566 (578); s. ferner bereits oben 1. Kap. 2. Teil B. 71 Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 149, hebt zu Recht hervor, daß dann der Gesetzgeber die Grenzen seiner Einschränkungsbefugnisse selbst bestimmt. Dieser drohende Wertverlust des Schutzzwecks wird auch nicht dadurch aufgehoben, daß sein Vorrang vor dem Förderzweck (s. Nw. 2. Kap. 1. Teil Fn. 100) mit der allgemeinen Auffassung lediglich als „Element der Interpretation" von Einzelvorschriften, nicht aber als Handlungsmaxime für den behördlichen Ermessensspielraum anzusehen ist, so Wagner, Grundrechtsschutz und Schadensausschluß, DÖV 1979, 708 (708); Schattke, Wechselbeziehungen zwischen Recht, Technik und Wissenschaft, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 100 (112). 72 BVerfGE 6, 55 (72); 18,121 (132); 30,173 (193); 33, 303 (330); 35, 79 (114); Schneider, Wesensgehalt, S. 124; Willke, Grundrechtstheorie, S. 24f. (34); Henkel, Rechtsphilosophie, S. 321; Isensee, Verfassungsgarantie ethischer Grundwerte, NJW 1977, 545 (547); Kägi, Verfassung als rechtliche Grundordnung, S. 39; Malz, Umweltplanung, S. 101, 119; Benda, Rechtsstaat im sozialen Wandel, AöR 101 (1976) 497 (516); Steinberg, Verfassungspolitik und offene Verfassung, JZ 1980, 385 (386); Ossenbühl, Verfassungsauslegung, DÖV 1965, 649 (650) (s. auch dort Fn. 12); Hanning / Schmieder, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DB 1977, Beil. 14, 1 (2); Bericht der Sachverständigenkommission Staatszielbestimmungen, Rn. 9/10. 73 Malz, Umweltplanung, S. 152. 74 s. dazu oben 2. Kap. 1. Teil B. I. 1.

10*

148 3. Kap.: Steuerung und Entwicklung der „sozialadäquaten Risiken" entscheidet und deren Ableitung sich aus einem rein liberalen Grundrechtsverständnis („Laissez-faire") nicht rechtfertigen ließe. So hat das Bundesverfassungsgericht 75 in seiner Rechtsprechung wiederholt von den Grundrechten als „objektive Wertordnung", als „Wertsystem" oder „Wertrangordnung" gesprochen. Sicherlich möglich ist es, auch diese Werte lediglich als Gegenstand eines vorherigen Konsenses zu bezeichnen. 76 Ihnen ist jedoch eigen, daß sie gerade nicht der Ermöglichung eines weiteren Endzwecks wie der „Funktion" dienen, sondern nur um ihrer selbst willen existieren. 77 Dies w i r d insbesondere i n solchen Grundrechten deutlich, die eine negative Freiheit formulieren, wie etwa die Religions-, Vereins- oder Versammlungsfreiheit. 78 Gerade diese wertbezogenen Grundrechte gelten ausschließlich im Verhältnis Staat - Bürger, die wie auch immer zu definierende Gesellschaft hat keinen Anspruch auf eine ihr zukommende Deutung der Grundrechte. 79 Ein derart ausschließlicher Dualismus jedoch w i r d von einer funktionell-rechtlichen Betrachtung in Zweifel gezogen.80 Sie verkennt, daß individuelle Freiheit heute sowohl gegen den Staat als auch gegen die Gesellschaft verteidigt werden muß. Eine funktionell-demokratische Sicht der Grundrechte würde einen politisch-öffentlichen Freiheitsgebrauch im Spannungsfeld mit einer „lediglich" privat orientierten Betätigung immer den Vorrang geben. Entscheidend wäre dann, von wem die Abgrenzung politisch/impolitisch letztlich zu treffen wäre. Neben der hier gegebenen Gefahr eines politischen Dezisionismus 81 w i r d auch der maßgebliche Bezugspunkt des grundrechtlichen Schutzes vertauscht: Der das System erhaltende demokratisch/kommunikative Prozeß w i r d an die Stelle der Freiheit gesetzt, diese w i r d Mittel zum Zweck. Sinnvoll allein ist daher die Diskussion über Werte, 82 die soziologische Frage der Systemerhaltimg und -Stabilität muß demgegenüber als Hilfsmittel zur Wertentfaltung dienen. Mag die Frage nach dem Inhalt von Werten oder nach den sog. „Grundwerten" auch schwierig sein, 83 dürfen diese 75

s. BVerfGE 2, 1 (12); 5, 85 (134); 7, 198 (215); 21, 362 (369). Isensee, Verfassungsgarantie ethischer Grundwerte, NJW 1977, 545 (546); Willke, Grundrechtstheorie, S. 69. 77 Schneider, Wesensgehalt, S. 124; Böckenförde, Grundrechtstheorie, NJW 1974, 1529 (1538); a.A. Häberle auf dem Boden der institutionellen Grundrechtstheorie, s. Wesensgehaltsgarantie, S. 98. 78 Schneider, Wesensgehalt, S. 125. 79 Böckenförde, Grundrechtstheorie, NJW 1974,1529 (1535); Schneider, Wesensgehalt, S. 126; vgl. auch Isensee, Verfassungsgarantie ethischer Grundwerte, NJW 1977, 545 (546f.); Stettner, Kompetenzlehre, S. 128. 80 Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 27, 72; Krawietz, Das positive Recht und seine Funktion, S. 56. 81 Böckenförde, Grundrechtstheorie, NJW 1974, 1529 (1535). 82 Willke, Grundrechtstheorie, S. 181. 83 Zur sog. Grundwertedebatte s. Isensee, Verfassungsgarantie ethischer Grundwerte, NJW 1977, 545f.; ders., Grundwerte, in: Werte, Rechte, Normen (Hrsg. A. Paus), S. 131; Meier, Grundwerte, in: Werte, Rechte, Normen (Hrsg. A. Paus), 76

1. Teil: Steuerungsnotwendigkeit, Regelungsdefizite

149

Schwierigkeiten jedenfalls nicht dazu führen, die normativ einzigen Einfallstore für Grundwerte, die Grundrechte, in ihrer Bedeutung auf eine rein funktionell-rechtliche Komponente zu reduzieren und damit den Erkenntnisanspruch aufzugeben. Keinesfalls darf Art. 2 I I S. 1 GG im Sinne einer absoluten Gesundheitsgarantie mißverstanden werden, es geht lediglich um seine Qualität als Norm und die daraus resultierenden Möglichkeiten der Beschränkung und Eingrenzung. Unabhängig von einer genauen Analyse der im Grundgesetz enthaltenen Werte ist nach einem überzeugenden Verfahren zu suchen, mittels dessen technische Veränderungen in Bezug zu den Grundrechten zu setzen sind. Die Funktionalisierung des Grundrechts aus Art. 2 I I GG durch vorgreifliche technisch-zivilisatorische Rahmenbedingungen erscheint nicht ausreichend normativitätsbezogen, um den leitbildartigen Grundrechtsgehalt hinreichend zur Geltung zu bringen. 84

D. Zwischenergebnis Die Verfassungsentscheidung für die friedliche Nutzimg der Kernenergie beinhaltet keine Aussage hinsichtlich einer Risikoobergrenze. Ansätze für eine Berücksichtigung der Gesamtzahl von Kernanlagen lassen sich weder aus dem Atom- noch aus dem Energiewirtschaftsgesetz entnehmen. Verfassungsrechtlich ist es jedoch notwendig, einer denkbaren Eigendynamik von „sozialadäquaten" Restrisiken vorzubeugen, um ein mögliches Umschlagen von zunehmender Quantität in eine neue Qualität zu verhindern. Den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts lassen sich hierzu wenig Anhaltspunkte entnehmen. Unbedeutende Aussagekraft bezüglich sich langsam vollziehender Veränderungen beinhalten die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Güterabwägung. Auch die vom Bundesverfassungsgericht formulierte Pflicht des Gesetzgebers zur „Nachbesserung" von Gesetzen ist lediglich ein Instrumentarium und enthält keine normative Vorgabe. Dies gilt auch für den sog. „dynamischen Grundrechtsschutz". Die insbesondere von Degenhart vertretene Auffassung einer Grundrechtsprägung durch vorgelagerte technisch-zivilisatorische Rahmenbedingungen entspricht teilweise einer funktionellen Grundrechtstheorie, welche den S. 87 f.; H. Schmidt, Ethos und Recht, in: Grundwerte (Hrsg. G. Gorschenek), S. 16, 17; Kimminich, Grundwerte, in: ders. (Hrsg.), Was sind Grundwerte?, S. 53f.; Bayertz, Funktion der Grundwerte-Diskussion, in: ders. (Hrsg.), Grundwerte-Diskussion, S. 9; Malz, Umweltplanung, S. 153 mwN; aus kirchlicher Sicht s. Wort der Bischöfe zu Orientierungsfragen unserer Gesellschaft, in: Grundwerte (Hrsg. G. Gorschenek), S. 133 f. 84 Wesentlich problemverkürzend daher Degenhart, Technischer Fortschritt und Grundgesetz, DVBl. 1983, 926 (930): „Verfassungsrechtliche Sperren mögen w i r t schaftlich-technologische Entwicklungen hemmen, verzögern; auf Dauer sie aufzuhalten vermögen sie nicht."

150 3. Kap.: Steuerung und Entwicklung der „sozialadäquaten Risiken" Systemerhalt und die Systemeffizienz vor den grundrechtlichen Wert stellt. Eine solche Betrachtungsweise negiert die Zweckfreiheit grundrechtlicher Werte und birgt darüber hinaus die Gefahr einer Eigendynamisierung der Technik bei sich automatisch veränderndem Rechtmäßigkeitsmaßstab in sich. Zu suchen ist daher nach einer Möglichkeit, das Verhältnis Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und wachsender Nuklearnutzimg in eine beide Seiten einander angleichende Beziehung zu setzen. Hierbei kann auf eine ohnehin nur kurzlebige Definition des „Wertes" aus Art. 2 I I S. 1 GG verzichtet werden. Die Norm muß jedoch in der Lage bleiben, ihren jeweiligen, dem Wandel unterworfenen Sinngehalt äquivalent gegenüber neuen technischen Entwicklungen bzw. deren quantitativen Steigerungen einzusetzen.

2. Teil

Steuerungsansätze Α. Unmöglichkeit einer gesetzlichen Festlegung des Bestrisikos Die obigen Untersuchungen haben gezeigt, daß bei einer Einordnung der Restrisiken im Bereich immanenter Grundrechtsbegrenzungen eine Steuerung nur über die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Güterabwägung vorgenommen werden kann. 8 5 Auch auf die Schwierigkeiten einer nachvollziehbaren Bewertimg von Restrisiken im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung wurde bereits oben hingewiesen. An dieser Stelle soll untersucht werden, ob die Restrisiken, die jedenfalls einer Eigendynamik möglichst entzogen werden sollen, im Rahmen der vorgeschlagenen gesetzlichen Regelung 8 6 mittels einer Höchstwertfestsetzung erfaßt werden können. Im Kalkar-Beschluß hat das Bundesverfassungsgericht eine Pflicht des Gesetzgebers zur Schaffung festliegender Toleranzwerte ausdrücklich abgelehnt. 87 Das Gericht hat sich hierbei auf die zahlreichen, dem Restrisiko zugrundeliegenden Wirkungszusammenhänge berufen, welche sich mit dem wachsenden wissenschaftlichen Stand - je nach Risikoquelle verschieden laufend veränderten. Aus praktischen Gesichtspunkten, insbesondere aus Gründen der Effizienz, sei hier eine jeweils laufende Anpassung an den neuesten Erkenntnisstand vorzugswürdig. 88 Dieser Auffassung ist angesichts der mit einer „Risikogrenznorm" verbundenen Schwierigkeiten zuzustimmen, wenn auch zusätzlich mit einer etwas anderen Argumentation. Vor der Frage, ob eine derartige Regelung zweckmäßig und praktikabel wäre, muß untersucht werden, ob sie überhaupt möglich ist. Bereits hier bestehen ernste Schwierigkeiten. Eine Bestimmung und Begrenzung des Restrisikos ist theoretisch überhaupt nur auf zwei Arten denkbar: Entweder w i r d versucht, es quantitativ pro nuklearer Anlage zu erfassen, oder es w i r d die Gesamtheit der Kernanlagen in Form einer Höchstgrenze bestimmt. Eigentlichen Sinn gibt nur die erste Lösung. Denn wenn die quantitative Restrisikobestimmung pro einzelner Anlage unmöglich ist, unterliegt eine 85 86 87 88

s. oben 2. Kap. 2. Teil Β. II. 2. d) ee) (3); (5) (dd) ccc). s. Nachweise oben 3. Kap. Fn. 15. BVerfGE 49, 89 (137/139). BVerfGE 49, 89 (139).

152 3. Kap.: Steuerung und Entwicklung der „sozialadäquaten Risiken" Bestimmung der Gesamtzahl von Kernanlagen dem Stigma der Beliebigkeit. Das Problem spitzt sich demnach auf die Frage zu, inwieweit eine quantitative Restrisikobestimmung pro einzelner Anlage überhaupt denkbar ist. Erst aufbauend auf einer solchen Festlegung kann auch die Gesamtzahl von Kernanlagen mit dem Anspruch rationaler Nachvollziehbarkeit bestimmt werden. Eine solche Restrisikobestimmung erscheint im Bereich jenseits des „Maßstabs praktischer Vernunft" außergewöhnlich schwierig, wenn nicht immöglich. Die Ursachen hierfür liegen weniger darin begründet, daß die Restrisiken äußerst gering sind, als vielmehr darin, daß ihre Entstehungsgründe und potentiellen Quellen nahezu unübersehbar sind und einer probabilistischen Wahrscheinlichkeitsanalyse wenig Ansatzpunkte bieten. Unter Zugrundelegung der oben 89 dargestellten vier Kategorien der Restrisikozusammensetzung (Kriegsgefahr, Gefahrenvermutung, menschliches Versagen und statistische Bewertungsfehler, falsche Bewertung konkurrierender Gefahrenquellen) besteht das Manko, daß über jeden dieser Punkte die nicht quantifizierbare Summe aller denkbaren Schadensmöglichkeiten in das Restrisiko einfließt. Da es keine Untergrenze der Wahrscheinlichkeit gibt, von der ab ein Risiko zum Nicht-Risiko wird, müssen dem Restrisiko alle überhaupt denkbaren Schadensquellen zugeordnet werden. Eine Erfassung wäre nur möglich, wenn die unendliche Menge dieser Restrisiken, selbst wenn sie berechnet werden könnte, entsprechend der jeweiligen „Sicherheitsphilosophie" des Anwenders 90 abgeschichtet wird. Spätestens diese wertende Entscheidung würde den Anspruch auf exakte Berechnung entfallen lassen, da sie nur einige Risikoquellen unter Vernachlässigung anderer erfaßt. Der rein dezisionistische Charakter einer solchen Abschichtung würde sich im Ergebnis der Berechnung widerspiegeln. 91 Selbst wenn eine derartige Risikoberechnung möglich wäre, würde sich wie bei jeder probabilistischen Vorgehensweise das Problem der Bewertung stellen. 92 Eine exakte Quantifizierung stünde der dann folgenden Frage, welche Risikogrenze akzeptabel wäre, neutral und ohne Aussagekraft gegenüber.

89

s. oben 2. Kap. 1. Teil A. III. 3. b) cc) (1) (bb). Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, DVBl. 1978, 829 (837) mit dem Hinweis, daß ein letzter Rest der Risikobeurteilung auf die jeweilige Sicherheitsphilosophie zurückgeführt werden muß, welche ein unumgängliches Entscheidungselement darstellt und den Technikern vorbehalten ist. Eine richterliche Kontrolle findet nur im Rahmen einer Plausibilitätskontrolle statt; ähnlich auch Hofmann, Entsorgung, S. 345. 91 Wohl aus diesem Grunde möchte Roßnagel, Rechtliche Risikosteuerung, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 208 die von ihm vorgeschlagene Übertragung des i n den USA erwogenen „probabilistic licensing" auf das Versagen von technischen Sicherheitseinrichtungen beschränken, andere Quellen des Restrisikos müßten weiter unnormiert bleiben. 92 Zu diesem Manko der Risikobewertung aufgrund von Wahrscheinlichkeitsberechnungen s. bereits oben, 2. Kap. 1. Teil A. III. 3. b) bb) (2); ferner insbesondere Lukes, Risikoanalysen, BB 1978, 317 (320, 321). 90

2. Teil: Steuerungsansätze

153

Zusätzlich zu diesen tatsächlichen Schwierigkeiten bestehen erhebliche Zweifel an der Zweckmäßigkeit einer solchen Restrisikogrenze. Nicht vergessen werden darf der permanente, durch den maßgeblichen „Stand von Wissenschaft und Technik" gem. § 7 I I Nr. 3 Atomgesetz ausgeübte Zwang zur fortlaufenden Optimierung aller Sicherheitsmaßnahmen. Dieser gewährleistet, daß unabhängig von statischen Grenzwerten fortlaufend Anstrengungen zu vergrößerten Schutzmaßnahmen vorgenommen werden. Die o.a. 93 Zweifel an der Wirkungsrichtung des erlangten Erkenntniszuwachses ändern nichts daran, daß dieser jedenfalls auch zu einer Sicherheitsverbesserung bei stagnierender Anzahl von Kernanlagen eingesetzt werden kann. Eine normative Festsetzung des Risikogrades würde demgegenüber unterhalb seiner vollen Ausschöpfung keinen Anreiz, geschweige denn einen Zwang zur erkenntnisbegleitenden Risikominimierung ausüben. Diesbezüglich wäre eine gesetzliche Regelung von Nachteil. 94 Im Ergebnis ist festzuhalten, daß eine quantitative Bestimmung der Restrisikogrenze unmöglich ist und selbst bei gegebener Berechenbarkeit nicht zweckmäßig wäre.

B. Steuerung der Bestrisiken durch „geordneten" Verfassungswandel I. Verfassungsrechtlicher Ansatzpunkt Die obigen Untersuchungen haben die Schwierigkeit einer gesetzlichen Steuerung des Restrisikos aufgezeigt. Bei Anerkennimg der Restrisiken als immanente Grundrechtsbegrenzung findet der einmalige parlamentarische Konsens von 1959 über das „ob" der Kernenergienutzung seine Grenze dort, wo die Gesamt-Restrisikobelastung unverhältnismäßig w i r d bzw. i n der Wertabwägung zu Art. 2 I I S. 1 GG unterliegt. Im folgenden soll untersucht werden, inwieweit nicht doch aus der Verfassung selbst zusätzliche Direktiven für die künftige Entwicklung der Kernenergienutzung entnommen werden können, die geeignet sind, die nukleartechnologische Entwicklung transparenter, weniger eigendynamisch und auch unterhalb der „Evidenzmaßstäbe" von Verhältnismäßigkeit und Güterabwägung bewertbar zu machen. Dabei wurde i n den methodischen Vorüberlegungen auf den gegenseitigen Einfluß von Recht und Wirklichkeit in der Verfassungskonkretisierung hingewiesen. 95 Die Analyse der Auffassung Degenharts zum sozialadäquaten Risiko hat auf die Gefahren aufmerksam gemacht, die in einer

93 s. oben 2. Kap. 1. Teil Α. II. 2. b) bb). 94 Lukes , Risikoanalysen, BB 1978, 317 (321); Nolte , Rechtliche Anforderungen an die technische Sicherheit von Kernanlagen, S. 172/173. 95 s. oben 1. Kap. 2. Teil C.

154 3. Kap.: Steuerung und Entwicklung der „sozialadäquaten Risiken" wirklichkeits- und zweckbetonten Überfunktionalisierung der Grundrechte liegen. Bei der Suche nach weiteren verfassungsrechtlichen Vorgaben für eine quantitative Obergrenze des Restrisikos sind, ausgehend von den gefundenen Ergebnissen, mehrere Lösungsansätze denkbar. Zum einen könnte anhand einer fiktiven Erhöhimg des Restrisikos eine gleichsam „antizipierte" Normbereichsanalyse im Sinne F. Müllers durchgeführt werden. Dieser Weg erscheint jedoch wenig praktikabel, da er von einer exakten Quantifizierung des Restrisikos ausgeht. Eine solche ist, wie bereits erwähnt, 9 6 unmöglich, so daß nach einer anderen Vorgehensweise gesucht werden muß. Hier bietet sich an, die Untersuchung der Restrisiken nicht an einem punktuell festliegenden Zeitausschnitt vorzunehmen, in dem dann feststehende Grundrechtsgehalte in Relation zu feststehendem Restrisiko betrachtet werden, sondern ausgehend von einer variablen Normbedeutimg den Blick auf die Dynamik des hierdurch überhaupt erst ermöglichten Prozesses zu werfen. Wenn schon die Technikentwicklung unmittelbar rechtlich schwer zu kontrollieren ist, könnten sich mittelbare Aussagen aus dem parallel ablaufenden Vorgang des Verfassungswandels ergeben, dessen rechtliche Grenzen wiederum auf seinen Auslöser, die technische Entwicklung, rückzuwirken hätten. Hier rückt zugleich die Prämisse der folgenden Untersuchung ins Bild, an der festzuhalten ist: Jede technische Entwicklung hat verfassungskonform zu bleiben, bei Überschreitung ihrer verfassungsrechtlichen „Dynamikgrenze" ist sie anzuhalten. 1. Grundrechtskonkretisierung und Verfassungswandel

Die Integration des Zeitmoments i n der Verfassungslehre hängt maßgeblich vom Einbezug der Wirklichkeit i n die Normkonkretisierung ab. 97 Jede Verfassung ist Produkt ihrer Zeit, nach Fertigstellung ist der Text nicht mehr flexibel. Der prinzipielle Widerspruch zwischen Normativität und Offenheit der Verfassung 98 zwingt zu einer Stellungnahme hinsichtlich der Einordnung neuer Technologien bzw. deren quantitativer Ausweitung. Hierbei bedingt die Frage der Grundrechtskonkretisierung unmittelbar die Frage des sogenannten Verfassungswandels, 99 worunter die Änderung des 96

s. oben 3. Kap. 2. Teil A. Vgl. hierzu insbesondere Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung, S. 10,12; Krawietz, Das positive Recht und seine Funktion, S. 31 f.; Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 45; ders., Grenzen der Verfassungswandlung, in: FS Scheuner, S. 124f.; Lerche, Stiller Verfassungswandel, in: FG Maunz, S. 285f.; v. Pestalozza, Methoden der Grundrechtsauslegung, Staat 2 (1963) 425 f.; Saladin, Grundrechte im Wandel, S. l f . ; Schenke, Verfassung und Zeit, AöR 103 (1978) 566 (578). 98 Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 45; Steinberg, Verfassungspolitik und offene Verfassung, JZ 1980, 385 (389); Richter, Bildungsverfassungsrecht, S. 20; Schenke, Umfang der Überprüfung, NJW 1979,1321 (1324). 97

2. Teil: Steuerungsansätze

155

materiellen Verfassungsinhalts bei gleichbleibendem Verfassungstext verstanden werden soll. 1 0 0 Zwischen Grundrechtskonkretisierung und Verfassungswandel besteht deshalb ein enger Zusammenhang, weil bedeutungsändernde Norminterpretation jeweils nur bis zur Grenze der überhaupt möglichen Interpretation reichen kann, jenseits dieser Grenze nur eine formelle Verfassungsänderimg neues Recht zu schaffen vermag. 101 Die normative Eingebundenheit eines solchen Verfassungswandels durch sich verändernde Realitäten könnte dabei mittelbaren Aufschluß über eine quantitative Grenze der Risikoentwicklung geben. 2. Grundlagen des Verfassungswandels

a) Positivistische

Betrachtung des Verfassungswandels

Dem Positivismus zufolge sind Rechtsnorm und Wortlaut der Norm identisch, die Verfassung w i r d auf das Verfassungsgesetz im formellen Sinn reduziert. 102 Verfassungsänderungen können folglich nur durch Veränderungen des Verfassungsgesetzes entstehen. Anliegen dieser Dogmatik war es, alle historischen, politischen und philosophischen Betrachtungen aus der Rechtswissenschaft herauszuhalten. 103 Als Teil einer Sollensordnung war die Verfassung nicht aus dem realen Sein ableitbar, 1 0 4 sie konnte vom Wandel der Wirklichkeit folglich nicht berührt werden. Hiernach sind der Geltung des Rechts keine zeitlichen Grenzen gesetzt, es gilt fort, bis es durch einen normativen A k t außer Kraft gesetzt wird. Konsequenz dieser Betrach99 Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), 111 (129/130); Rupp, Wandel der Grundrechte, AöR 101 (1976) 161 (164), Stein, Verfassungsgebung, Verfassungsanwendung und soziale Wirklichkeit, S. 21; Steinberg, Verfassungspolitik und offene Verfassung, JZ 1980, 385; Gusy, Verfassungspolitik, S. 22; Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 254; Hesse, Normative Kraft der Verfassung, in: Ausgewählte Schriften, S. 10; Scheuner, Grundgesetz in der Entwicklung zweier Jahrzehnte, AöR 95 (1970) 353 (406); Roßnagel, Verfassungsänderung und Verfassungswandel, Staat 22 (1983) 551 (554). 100 Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung, S. 23,105; ders., „Verfassungsentwicklung" und politischer Prozeß, JZ 1985, 18 (20); Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, in: FS Scheuner, S. 123 (137); Richter, Bildungsverfassungsrecht, S. 19, 34; Stern, Staatsrecht I, S. 131; Schenke, Verfassung und Zeit, AöR 103 (1978) 566 (585); Lerche, Stiller Verfassungswandel, in: FG Maunz, S. 285f.; Hsü Dau-Lin, Verfassungswandlung, S. 17f.; Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 254; Bericht der Sachverständigenkommission Staatszielbestimmungen, Rn. 38. 101 Hesse, Normative Kraft der Verfassung, in: Ausgewählte Schriften, S. 12; Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 215; Roßnagel, Verfassungsänderung und Verfassungswandel, Staat 22 (1983) 551 (555). 102 Vgl. Richter, Bildungsverfassungsrecht, S. 23; F. Müller, Jur. Methodik, S. 126. 103 Laband, Staatsrecht I, 5. Aufl. 1911, S. I X ; vgl. dazu Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, S. 24, mit umfangreichen Nachweisen des Problems „Verfassungswandel" i n der Weimarer Republik; dazu auch Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung, S. 34 f. 104 Kelsen, Staatslehre, S. 148, der das Ende der alten und den Beginn der neuen Rechtsordnung in einer siegreichen Revolution sah.

156 3. Kap.: Steuerung und Entwicklung der „sozialadäquaten Risiken" tungsweise für das Phänomen „Verfassungswandel" ist eine überwiegende Hilflosigkeit gegenüber faktischen Veränderungen. 105 Zwar haben auch die maßgeblichen Autoren dieser Richtung, Laband 1 0 6 und Jellinek 1 0 7 , ihre Augen vor der verfassungskonträren Tatsachenentwicklung nicht verschlossen, diese jedoch als pathologischen, außerrechtlichen Zustand angesehen. Jellinek etwa konzediert eine Verfassungswandlung durch unrichtige Verfassungsinterpretation der Parlamente, der Regierungen und der Richter. 1 0 8 Diese Verfassungswandlungen sind jedoch - konsequent - immer nur Wandlungen des sog. „Verfassungszustands". Die realen politischen Kräfte bewegen sich gleichwohl nach ihren eigenen Gesetzen, die von allen juristischen Formen unabhängig sind. 1 0 9 Ebenfalls Laband betrachtet tatsächliche Änderungen als Änderungen des „Verfassungszustands", die sich durchgesetzt haben, 110 und sich allein aufgrund ihrer Faktizität über die sachbetreffenden Bestimmungen hinwegsetzen. Eine Modifizierung im Sinne einer juristischen, d.h. nicht rein faktischen Durchsetzimg der Wirklichkeit wird von Smend vorgenommen. 111 Hiernach weicht der bisherige Norminhalt nicht der reinen Faktizität, sondern dem „politisch Notwendigen", welches zur Herstellung der Lebenstotalität des Staates im Sinne der Integrationslehre unentbehrlich ist. 1 1 2 Indem die Wirklichkeit als für den Integrationsprozeß politisch notwendig in die Verfassung inkorporiert wird, letztlich der „Sinn" der Verfassung erhalten werden soll, ist angesichts der Wandelbarkeit dieses „Sinns" letztlich auch wieder die faktische Durchsetzung Maßstab des Wandels. 113 Alle diese Ansätze vermögen die Trennung von Recht und Norm nicht zu überwinden, nehmen einen Wirklichkeitswandel vielmehr als selbstverständlich hin. Sie vermeiden einen Einbezug in den juristischen Interpreta105 Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung, S. 29; Schenke, Verfassung und Zeit, AöR 103 (1978) 566 (574). 106 Laband, Die Wandlungen der Deutschen Reichsverfassung, S. 3. 107 Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. 21. 108 Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. 8, 10f.; vgl. dazu Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, in: FS Scheuner, S. 129; Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung, S. 29. 109 Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. 72, S. 21: „das fait accompli, die vollendete Tatsache, ist eine historische Erscheinung von verfassungsbildender Kraft, gegen welche alles Ankämpfen der Legitimitätstheorien ohnmächtiges Beginnen ist". 110 Laband, Die Wandlungen der Deutschen Reichsverfassung, S. 15 f., 26, 31. 111 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 188; ihm folgend Hsü Dau-Lin, Verfassungswandlung, S. 17 f.; seit Smend w i r d von einem Einbezug der Zeit in das Verfassungsrecht gesprochen, s. Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung, S. 10; ders., Fortbildung der Verfassung, in: JZ 1979, 417 (421). 112 Hsü Dau-Lin, Verfassungswandlung, S. 164; kritisch speziell hierzu Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 262. 113 Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, in: FS Scheuner, S. 133,137; kritisch zum außerverfassungsrechtlichen Einbezug des „Politischen" ferner Roßnagel, Verfassungsänderung und Verfassungswandel, Staat 22 (1983) 551 (553).

2. Teil: Steuerungsansätze

157

tionsprozeß. 114 Die Wirklichkeit kann sich hiernach nur selbst in die Verfassung inkorporieren, eine Inhaltsänderung von Normen ist einzig über die „normative Kraft des Faktischen" möglich. 1 1 5 Konstruktiv könnte jedoch auch der Positivismus einen Verfassungswandel heutigen Verständnisses ermöglichen. Denkbar wäre, bei grundsätzlicher Trennung von Norm und Faktum, einige Normen ihrem Inhalt nach gerade so offen zu gestalten, daß sie als spezifische „Wandlungsnormen" eine Anpassung an die sich ändernde Realität ermöglichen. 116 b) Moderne Auffassungen, Stellungnahme Die modernen staatsrechtlichen Auffassungen erkennen einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Recht, Zeit und sich ändernder Wirklichkeit an. 1 1 7 Sie ermöglichen so die Fixierung des Problems „Verfassungswandel" unmittelbar in der jeweiligen Norm selbst. 118 Dies stellt einen Ausschnitt allgemeiner Methodenprobleme 119 dar, weil der Inhalt einer Verfassungsnorm zu einem bestimmten Zeitpunkt immer wieder neu durch Konkretisierung festgelegt w i r d und so in der zeitlichen Betrachtung „offen" ist. 1 2 0 Das Recht wird hiernach zutreffend als Mitbestandteil der sozialen Wirklichkeit erkannt. Es hat daher an der Geschichtlichkeit allen gesellschaftlichen Geschehens teilzunehmen. Die Rechtsanwendung kann aus 114

Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung, S. 29. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 337 f.; s. dazu Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung, S. 29/30. 116 Denkbar bei Normen, die auf außerrechtliche Phänomene verweisen, wie etwa § 346 HGB („Handelsbräuche"). 117 Häberle, Zeit und Verfassimg, in: ZfP 21 (1974) 111 (118); ders., Verfassungstheorie ohne Naturrecht, AöR 99 (1974) 437f.; Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung, S. 13/14, der auf die Beschleunigung des Wandels hinweist; ders., „Verfassungsentwicklung" und politischer Prozeß, JZ 1985, 18f.; Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 262; Kägi, Verfassimg als rechtliche Grundordnung, S. 53; Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, S. 127; Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, in: FS Scheuner, S. 123 (137); v. Pestalozza, Methoden der Grundrechtsauslegung, Staat 2 (1963) 425 (427); Isensee, Verfassungsgarantie ethischer Grundwerte, NJW 1977, 545 (548); Krawietz, Das positive Recht und seine Funktion, S. 31, 34, 35; Lerche, Stiller Verfassungswandel, in: FG Maunz, S. 285 (298); Schenke, Verfassung und Zeit, AöR 103 (1978) 566 (569); Stein, Verfassungsgebung, Verfassungsanwendung und soziale Wirklichkeit, S. 6f.; Steinberg, Verfassungspolitik und offene Verfassung, JZ 1980, 385f.; Bäumlin, Staat, Recht, Geschichte, S. 10f.; Gusy, Verfassungspolitik, S. 17f.; Ryffel, Verantwortung als sittliches Phänomen, Staat 6 (1967) 275 (286). ne Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974) 111 (123); F. Müller, s. Nw 1. Kap. 2. Teil B.; zust. Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, in: FS Scheuner, S. 123 (138). ι 1 9 Fiedler, „Verfassungsentwicklung" und politischer Prozeß, JZ 1985,18 (20); vgl. auch Schenke, Verfassung und Zeit, AöR 103 (1978) 566 (577). 120 Bäumlin, Staat, Recht, Geschichte, S. 15; ähnlich Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, S. 91; v. Pestalozza, Methoden der Grundrechtsauslegung, Staat 2 (1963) 425 (426). 115

158 3. Kap.: Steuerung und Entwicklung der „sozialadäquaten Risiken" diesem Grunde nicht an das gebunden sein, was mit einem Gesetz zum Zeitpunkt seiner Entstehimg gemeint w a r . 1 2 1 Dieser Befund w i r d durch rein pragmatische Überlegungen noch verstärkt. Das normative Sollen kann nur dann Geltung beanspruchen, wenn es die tatsächlichen Voraussetzungen, unter denen es wirksam werden soll, genau beschreibt. Damit überhaupt eine Umsetzungsmöglichkeit besteht, muß das Recht auf die Wirklichkeit zugeschnitten sein. 122 Ein unveränderter Verfassungstext würde eine immer größer werdende Sphäre der Wirklichkeit nicht mehr erfassen, die damit als illegitim erscheinen würde. 1 2 3 Gerade jedoch die Verfassung muß als eine Ordnung, welche vom Typus her „rigide" 1 2 4 angelegt ist, eine gewisse innere Flexibilität besitzen, um mit der Zeit mitgehen zu können. 125 Wer demgegenüber das Recht als statisch begreift, nimmt ihm seine Ordnungswirkung über den Entstehungszeitpunkt hinaus und ignoriert das Zeitmoment als Möglichkeit, sich verändern zu können. 126 So hat denn auch das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit einer Verfassungswandlung gelegentlich erwähnt: 1 2 7 „Allerdings kann eine Verfassungsbestimmung einen Bedeutungswandel erfahren, wenn in ihrem Bereich neue, nicht vorausgesehene Tatbestände auftauchen oder bekannte Tatbestände durch ihre Einordnung i n den Gesamtablauf einer Entwicklung in neuer Beziehung oder Bedeutung erscheinen." 128

Über die Tatsache des Zeiteinflusses auf die Verfassungsauslegung herrscht mithin Einigkeit, 1 2 9 lediglich die Bezeichnung dieses Phänomens als „Verfassungswandel" w i r d vereinzelt angegriffen. 130 Dem ist insofern 121

S. 10.

Stein, Verfassungsgebung, Verfassungsanwendung und soziale Wirklichkeit,

122 Rupp, Vom Wandel der Grundrechte, AöR 101 (1976) 161 (162/163); Benda, Rechtsstaat im sozialen Wandel, AöR 101 (1976) 497 (513); Hesse, Normativität der Verfassung, in: ausgewählte Schriften, S. 9. 123 Häberle, Wesensgehalt, S. 214; Lerche, Stiller Verfassungswandel, in: FG Maunz, S. 285; Schenke, Verfassung und Zeit, AöR 103 (1978) 566 (585); Gusy, Verfassungspolitik, S. 17: „Verfassungsrecht erschiene so als Herrschaft der Vergangenheit über die Gegenwart." 124 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 57; Krüger, Verfassungsänderung, DÖV 1961, 721; Richter, Bildungsverfassungsrecht, S. 19. i2& Schenke, Umfang der Überprüfung, NJW 1979, 1321 (1322). 126 Krawietz, Das positive Recht und seine Funktion, S. 31; Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974) 111 (117); vgl. auch Würtenberger, Planung, S. 118f., der auf den Einfluß von Planungsnormen auf den Verfassungswandel hinweist, vgl. hierzu auch Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung, S. 14; Schenke, Verfassung und Zeit, AöR 103 (1978) 566 (595). 1 27 BVerfGE 2, 380 (401); E 3, 407 (422); E 7, 342 (351). 128 v g l die Stellungnahme Fiedlers, in: Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung, S. 78 f. 129 Aus diesem Grund wird auch Art. 79 GG nicht als Verfassungswandlungsverbot angesehen, vgl. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 265. 130 Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974) 129f. lehnt den Begriff ab, da dieser ein differenziertes Interpretationsverständnis sowie die Erkenntnis, daß die Interpretationsmethoden selbst den Zeitfaktor in sich tragen, verdecke; kritisch auch Roß-

2. Teil: Steuerungsansätze

159

zuzustimmen, als der Begriff zu undifferenziert ist, ein Mangel, der jedoch wohl jeder Bezeichnung anhaften würde. Es ist nicht so, daß sich „die Verfassung" aufgrund „des sozialen Wandels" verändert, vielmehr w i r k t sich der Wandel auf den verschiedenen, strukturell unterschiedlichen Verfassungsebenen auch unterschiedlich aus. 131 Je nach spezifischer Abhängigkeit vermögen sich Verfassungsbestandteile wie die Grundrechte oder die Organisationsnormen unterschiedlich schnell zu entwickeln. Zu beachten ist ferner eine Phasenverzögerung des Verfassungswandels, da die Normveränderung aufgrund sozialen Wandels diesem nur in einem gewissen zeitlichen Abstand folgen kann. 1 3 2 Methodisch zuverlässig kann der Einbezug des gesellschaftlichen Wandels in die Verfassimg hierbei mittels Normbereichsanalyse i.S. F. Müllers erfolgen, welche die frühere Auffassung vom „Hinund Herwandern des Blicks zwischen Recht und Wirklichkeit" ersetzt hat. 1 3 3 Die Anerkennung des Phänomens „Verfassungswandel" führt zu der Frage, wie die Grenzen der hierdurch ermöglichten Öffnung zu bestimmen sind. 1 3 4 Nicht übersehen werden darf das Spannungsfeld zwischen Flexibilität und Normativität, welches sich durch die Möglichkeit einer Veränderung des Verfassungsinhalts durch die Wirklichkeit ergibt. 1 3 5 Die Verfassung als Rechtsordnung beansprucht Geltung, sie w i l l gerade die politische Wirklichkeit gestalten. 136 Der Staat lenkt mit ihrer Hilfe soziale Phänomene nach Maßgabe seiner eigenen Wertungen und Erkenntnisse. 137 Eine sich ständig mit der Wirklichkeit wandelnde Verfassung würde diese Leitbildfunktion verlieren. Als reine Widerspiegelung der politischen Auseinandersetzung könnte sie daher weder ordnen noch gerecht sein. 138 Inhalte, die im Widerspruch zur Verfassung stehen, können mithin auch nicht „verwirklichte nagel, Verfassungsänderung und Verfassungswandel, Staat 22 (1983) 551 (558), der den Begriff deshalb ablehnt, weil sich dann jede Verfassungsinterpretation als Verfassungswandel darstelle; s. ferner Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 21 f. 131 Stettner, Kompetenzlehre, S. 143; s. auch Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 277, der den Grundrechtsteil als „tendenziell offen", den Organisationsteil der Verfassung dagegen als „tendenziell geschlossen" ansieht. 132 Stettner, Kompetenzlehre, S. 143. 133 s. Nw. oben 1. Kap. Fn. 82. 134 s. hierzu Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 262; Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 77. 135 Richter, Bildungsverfassungsrecht, S. 19; Stettner, Kompetenzlehre, S. 128. 136 Hierauf wurde bereits oben, 1. Kap. 2. Teil C. hingewiesen; vgl. ferner Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 56; Schenke, Verfassung und Zeit, AöR 103 (1978) 566 (587); Kägi, Verfassung als Grundordnung, S. 43; Bull, Staatsaufgaben, S. 36; Ossenbühl, Verfassungsauslegung, DÖV 1965, 649 (650); Rehbinder, Grundfragen des Umweltrechts, ZRP 1970, 250 (253); vgl. auch Bericht der Sachverständigenkommission Staatszielbestimmungen, Rn. 1. 137 Benda, Rechtsstaat i m sozialen Wandel, AöR 101 (1976) 497 (507). 138 Huber, Niedergang des Rechts, in: FS Giacometti, S. 59 (82); Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 215; Schenke, Verfassung und Zeit, AöR 103 (1978) 566 (588); Hesse, Normative Kraft der Verfassung, in: Ausgewählte Schriften, S. 10.

160 3. Kap.: Steuerung und Entwicklung der „sozialadäquaten Risiken" Verfassung" sein. Für einen Einbezug der Realität ist dort kein Platz, wo der Verfassungsgeber selbst Aussagen in eine bestimmte Richtung hin getroffen hat. 1 3 9 Diese machtbegrenzende Funktion der Verfassung 140 würde insbesondere hinsichtlich des von der Verfassung (auch) bezweckten Minderheitenschutzes 141 beeinträchtigt werden, da eine „Dynamisierung" der Verfassimg über den sozialen Wandel in der Regel von einflußreichen Gruppen und Verbänden ausgehen dürfte. 1 4 2 Ein darüber hinausgehendes tatsächliches Problem liegt darin, den gesellschaftlichen Wandel als Phänomen exakt fixieren zu können. Voraussetzung hierfür ist eine hinreichende Umsetzimg sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse in die Rechtswissenschaft, eine Prämisse, an deren Vorliegen noch gezweifelt werden kann. 1 4 3 Im Ergebnis bleibt festzuhalten, daß sowohl Statik als auch Dynamik zum Normativitätserhalt der Verfassimg gleichermaßen notwendig sind. 1 4 4 Offenheit und Verbindlichkeit stehen sich hier jedoch nicht als „feindlich" gegenüber, die Frage nach dem zeitgerechten Inhalt löst sich vielmehr mit einer richtigen Zuordnimg beider Elemente. 145 Bei einer Übertragung der Grenzen des Verfassungswandels auf die Bestimmung sozialadäquater Risiken im Atomrecht w i r d zu fragen sein, inwieweit sich dem grundrechtsprägenden Einfluß der Kernenergie auch beharrende, entwicklungsfeste Elemente entgegenstellen lassen. Für die Frage, ob es Alternativen zu der oben abgelehnten 146 Funktionalisierung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit gibt, sollen materielle und formelle Grenzen der Verfassungswandlung gesucht werden, welche auf die quantitative Steuerimg von Restrisiken Anwendung finden könnten.

139

(457). 140

Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 77; Machacek, Recht auf Leben, EuGRZ 1983, 453

Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, in: FS Scheuner, S. 134. Benda, Rechtsstaat im sozialen Wandel, AöR 101 (1976) 497 (503); Schenke, Verfassung und Zeit, AöR 103 (1978) 566 (588); ähnlich Bull, Staatsaufgaben, S. 258/259; vgl. auch Kägi, Verfassung als Grundordnung, S. 156; ders., Rechtsstaat und Demokratie, in: FS Giacometti, S. 134,136; die Wandelbarkeit des Rechts daher weit überbetonend Gusy, Verfassungspolitik, S. 23: „nicht mehr das Recht ist die Sollensordnung des Seins, sondern das Sein die Sollensordnung des Rechts". 142 Benda, Rechtsstaat i m sozialen Wandel, AöR 101 (1976) 497 (503); Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 23. 143 Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung, S. 75; Malz, Umweltplanung, S. 255; Bull, Staatsaufgaben, S. 36; kritisch Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 261; vgl. Hillmann, Sozialwissenschaften und Verwaltungspraxis, DÖV 1986, 353f. 144 Kägi, Verfassung als Grundordnung, S. 51; Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 47, 48. 145 Vorländer, Konsens, S. 331; Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 215, spricht von „relativer Statik"; ders., Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974) 111 (113); Benda, Rechtsstaat i m sozialen Wandel, AöR 101 (1976) 497 (507); Huber, Über die Konkretisierung der Grundrechte, in: GS Imboden, S. 206: „Gleichgewicht zwischen Wandel und Beharrung"; vgl. Probst, Rundfunkfreiheit, S. 75. 146 s. oben 3. Kap. 1. Teil C. II. 2. c). 141

2. Teil: Steuerungsansätze

161

Π. Steuerungsfähigkeit dieses Prozesses (Grenzen des Verfassungswandels durch die atomare Nutzung) 1. Ansatzpunkte

Die Erkenntnis von der grundrechtsprägenden Kraft technikbegleitender Umstände, hier: nuklearer Restrisiken, wirft zugleich die Frage nach den Grenzen oder jedenfalls normativen Leitlinien dieses Prozesses der Verfassungswandlung auf. Mittelbar können sich aus derartigen Vorgaben ebenfalls materielle oder formelle Anhaltspunkte für die konkrete Restrisikobestimmung ergeben. Hierbei darf jedoch nicht aus den Augen verloren werden, daß eine probabilistische Bestimmung der Gesamt-Restrisikobelastung nicht möglich ist. 1 4 7 Überhaupt denkbar sind also nur Verfahrensrichtlinien für die Steuerung des Verfassungswandels im nuklearen Sicherheitsrecht oder aber der Versuch einer Restrisikoverfeinerung. 148 Ohne den Versuch einer normativen Eingrenzung jedoch wäre der rein auf die Wirklichkeit fixierte Verfassungswandel ungebunden. 149 Der Rekurs auf das mit den herkömmlichen Interpretationsmethoden auszulegende Normprogramm, welches seinerseits den Normbereich aus dem Sachbereich „auswählt", ist angesichts des an dieser Stelle einsetzenden Erkenntnisproblems nur bedingt geeignet, einen hinreichend rationalen Einbezug der Wirklichkeit zu gewährleisten. Besondere Gefahren liegen hier im nuklearen Sicherheitsrecht. Anders als bei einem neu in eine bestehende Situation hinzutretenden Phänomen sind hier die Restrisiken in ihrer Zulässigkeit als solche anerkannt, so daß die Möglichkeit einer Erosion des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit durch jeweils unbedeutende Einzelerhöhungen des Risikos besonders hoch ist. Dieses „verfassungsrechtliche Risiko" wird noch erhöht durch den Umstand, daß die Restrisiken entweder jenseits des „Maßstabs praktischer Vernunft" liegen oder noch nicht einmal erkannt sind. Hierdurch w i r d schon auf tatsächlicher Ebene die Erfassung erschwert, so daß es auch wenig Anhaltspunkte für eine Normbereichsanalyse gibt. Begriffe wie „Sozialadäquanz" beinhalten zwar auf der einen Seite die zutreffende Ansicht von der generellen Rechtmäßigkeit des Phänomens „Restrisiko" als solchem, verharmlosen jedoch auf der anderen Seite die dem jeweils neu hinzutretenden Risikofaktor innewohnende Kraft, den Maßstab des Grundrechts zu verändern.

147

s. oben 3. Kap. 2. Teil A. s. unten 3. Kap. 2. Teil Β. II. 3. 149 Auf die Gefahren der „Überdynamisierung" der Verfassung für die in Art. 79 GG niedergelegten Grundsätze weisen hin Schenke, Verfassung und Zeit, AöR 103 (1978) 566 (587); Kägi, Verfassung als Grundordnung, S. 82; Huber, Niedergang des Rechts, in: FS Giacometti, S. 82; Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, S. 148. 148

11 Lawrence

162 3. Kap.: Steuerung und Entwicklung der „sozialadäquaten Risiken" 2. Grenzen des Verfassungswandels

Die Frage, wann eine Verfassung nicht mehr „gewandelt", sondern durchbrochen oder beseitigt wird, läßt sich mit einem generellen Verweis auf den „Mittelpunkt zwischen Statik und Dynamik" nicht beantworten. 150 Eindeutig obere Grenze des Verfassungswandels ist die Verfassungsänderung nach Art. 79 I GG, 1 5 1 welche ab der Schwelle überhaupt möglicher Verfassungsinterpretation vorgenommen werden muß. 1 5 2 Verfassungswandel und Verfassungsänderung schließen sich daher aus, 153 hängen aber inhaltlich insofern zusammen, als ihr Anwendungsbereich - neben anderen Faktoren - von der Genauigkeit der jeweiligen Normformulierung abhängt. 154 Hinsichtlich der Grenzen des Verfassungswandels ist die Trennimg jedoch unerheblich, es macht keinen Unterschied, wodurch die Modifizierung letztlich herbeigeführt wurde. 1 5 5 a) Materielle Grenzen aa) Wortlaut der Verf assungsnorm Art. 79 GG stellt für die Anwendbarkeit rechtsstaatlicher Garantien auf eine Änderimg des Verfassungswortlauts ab. Insofern liegt es nahe, als Grenze für den nuklearspezifischen Verfassungswandel auf den Wortlaut des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit zurückzugreifen. 156 Der Wortlaut wiederum würde die Summe aller sinnvollen Verständnismöglichkeiten umfassen. 157 Fraglos w i r d rechtsstaatliche Sicherheit durch Bezug150

Fiedler, Verfassungsentwicklung und politischer Prozeß, JZ 1985, 18. Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 215; Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung, S. 13; Evers, in: B K z. GG, Art. 79 III, Rn. 73. 152 Den Anwendungsbereich und die spezifischen Vor- und Nachteile von Verfassungswandel und -änderung zeigt Roßnagel, Verfassungsänderung und Verfassungswandel, Staat 22 (1983) 551 (555) auf. iss Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 215: „Verfassungswandel darf nicht zum Surrogat von Verfassungsänderung werden"; vgl. auch Stern, StaatsR I, S. 132; zur Schwierigkeit der Abgrenzung von Verfassungsänderung und Verfassungswandel durch Auslegung s. H. Krüger, Verfassungsänderung, DÖV 1961, 721 f. 154 Grimm, Verfassungsfunktion und Grundgesetz, AöR 97 (1972) 505; vgl. auch Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 272f., der den Organisationsteil der Verfassung als tendenziell offen, den Grundrechtsteil als tendenziell geschlossen ansieht. 155 Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung, S. 23; so auch Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, in: FS Scheuner, S. 124: „zwei Seiten einund derselben Aufgabe". 156 Den Wortlaut ziehen heran Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 267; Schenke, Zeit und Verfassung, AöR 103 (1978) 566 (589); Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, in: FS Scheuner, S. 134; ders., Verfassungsrecht, Rn. 32f.; Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, S. 94; F. Müller, Jur. Methodik, S. 148 Fn. 242; ders., Normstruktur, S. 151, 160; Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974) 111 (130), zieht als Interpretationsgrenze ebenfalls den Wortlaut heran, lehnt den Begriff „Verfassungswandel" jedoch ab, da die Verfassung ohnehin strukturell auf Wandel angelegt sei. 151

2. Teil: Steuerungsansätze

163

nähme auf den Wortlaut gefördert, da der Text einen gemeinsamen Boden der Argumentation schafft und zu Begründungszwängen führt. Auch in der allgemeinen Methodenlehre erscheint der mögliche Wortsinn als äußerste Grenze der Auslegung gegenüber der Rechtsfortbildung. 158 Bei aller Interpretations· und Konkretisierungsbedürftigkeit enthält der Text Anhaltspunkte, über die nicht gestritten werden kann und welche als Festpunkt dienen können. 159 Bei Ableitung von Grenzen des Verfassungswandels darf der Wortlaut jedoch auch nicht überschätzt werden. 160 Der erhoffte Stabilitätsgewinn wird durch die verfassungsrechtlich typische „geringe Technizität" des Wortlauts 1 6 1 fast vollständig wieder aufgehoben. 162 Die Bezeichnung „körperliche Unversehrtheit" in Art. 2 I I S. 1 GG sagt als solche nichts über Restrisiken, welche vor ihrer Realisierimg das grundrechtlich geschützte Gut eben noch nicht versehren. Bezeichnend für die Undeutlichkeit des verfassungsrechtlichen Wortlauts ist, daß von einigen Autoren 1 6 3 die Sozialstaatsklausel des Art. 20 GG durch die Kernenergie als verletzt angesehen wird, während andere diesen Gedanken überhaupt nicht erwähnen. Der Wortlaut mag in einigen Fällen als Evidenzgrenze dienen, 164 oft geht es bei der Interpretation einer Vorschrift jedoch gerade erst darum, den Wortlaut zu klären. Dies führt zu einem Zirkelschluß, 165 die Aufgabe w i r d zudem noch dadurch verkompliziert, daß auch die Sprache einem Wandel unterworfen ist. 1 6 6 Den Wortlaut hingegen nur als Evidenzgrenze benutzen zu können, hilft wenig weiter, da sich der Verfassungswandel zumeist außerhalb des „eindeutigen Bereichs" vollzieht. Nicht weiterführend ist es in jedem Fall, den Verfassungswandel dort enden lassen zu wollen, wo die Verfassungsnorm das Handeln von „Gesetzgeber und Rechtsprechung nicht 157 ρ Müller, Normstruktur und Normativität, S. 160 mit dem Hinweis, daß der Wortlaut nur dann als Grenze in Frage kommt, wenn er - hinreichend konkret - sinnvolle Verständnismöglichkeiten ausdrückt, S. 161, vgl. auch Bachof, Auslegung gegen den Wortlaut, JZ 1963, 695 (699). 158 Larenz, Methodenlehre, S. 342; Zippelius, Verfassungskonforme Auslegung, in: FG BVerfG II, S. 116. 159 Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, in: FS Scheuner, S. 134, 139, 140; vgl. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20 (1963) 1 (60) (kritisch); Huber, Über die Konkretisierung der Grundrechte, in: GS Imboden, S. 191 (198). 160 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 268. 161 Ossenbühl, Interpretation der Grundrechte, NJW 1976, 2100 (2105); Huber, Über die Konkretisierung der Grundrechte, in: GS Imboden, S. 191 (195); ferner oben 1. Kap. 2. Teil A. 162 Schenke, Zeit und Verfassung, AöR 103 (1978) 566 (589). 163 So Roth-Stielow, „Recht" iSv Art. 20 GG, in: NuR 1983, 113 (114); vgl. auch Hofmann, Entsorgung, S. 77, 300, 304; kritisch-abwägend demgegenüber Rehbinder, Grundfragen des Umweltrechts, ZRP 1970, 250 (252); Benda / Maihofer / Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, S. 546 f. 164 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 268. 165 Böckenförde, Methoden der Verfassungsinterpretation, NJW 1976, 2089 (2096). 166 Schenke, Zeit und Verfassung, AöR 103 (1978) 566 (589) Fn. 110. 11*

164 3. Kap.: Steuerung und Entwicklung der „sozialadäquaten Risiken" mehr hinreichend programmiert" 1 6 7 , da hierdurch das Problem nur anders umschrieben, nicht aber gelöst wird. Festzuhalten bleibt daher, daß der Wortlaut von Art. 2 I I S. 1 GG keine verwertbaren Aussagen über die Dynamik von Restrisikosteigerungen bieten kann. bb) Ausdrückliche Entscheidungen des Verfassungsgebers/Identität der Verfassimg Als Grenze der Restrisikozunahme könnte eine sog. „eindeutige" Entscheidung des Verfassungsgebers herangezogen werden, da der Interpret die im Grundgesetz verankerten unzweifelhaften Aussagen respektieren muß. 1 6 8 Das sich hier stellende Problem ist jedoch ein doppeltes: Zum einen sind „eindeutige" Entscheidungen oft selber in ausfüllungsbedürftige Begriffe wie das Sozialstaats- und Rechtsstaatsgebot gekleidet. Zum anderen muß darüber hinaus festgestellt werden, ob derartige Entscheidungen als festgeschrieben gelten sollen oder ob ihr Normativitätsanspruch gerade fordert, daß sie sich der zeitlichen Entwicklung anpassen. 169 Wenn Lerche etwa auf die Strukturen der Verfassung abstellt, welche nicht in ihr Gegenteil umgew a n d e l t " werden dürften, 1 7 0 löst er das o.a. Erkenntnisproblem nicht. Anzuerkennen ist jedoch die hierdurch bewirkte Verlangsamung des Verfassungswandels, der langfristig zwar auch die Strukturen erfaßt, aber eben nicht auf einen Schlag. Auch Ehmke fordert, die „Grund- und Staatsbürgerrechte" als änderungsfest anzuerkennen, 171 vermag aber hiermit das Problem des Wandels innerhalb der Norm, die dann ja nicht zugleich als Maßstab genommen werden kann, nicht zu lösen. Zu beachten ist ferner, daß die Verfassung viele, teilweise auch gegenläufige Entscheidungen beinhaltet, wodurch die Ableitung von Wandlungsgrenzen unmöglich w i r d . 1 7 2 Bestes Beispiel hierfür ist die Entscheidung sowohl für Artikel 2 I I S. 1 GG als auch für die Kernenergie (Artikel 74 Nr. I I a GG). In der Herstellung „praktischer Konkordanz" zwischen beidem kann keine Mißachtung der „eindeutigen Entscheidung" für das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit liegen. Hinsichtlich sich sukzessive erhöhender Risiken vermag der Hinweis auf die „Eindeutigkeit" der Entscheidung für Art. 2 I I S. 1 GG keinen über das Wortlautargument hinausgehenden Anhaltspunkt zu liefern. 167 Steinberg, Verfassungspolitik und offene Verfassung, JZ 1980, 385 (387); so auch Ladeur, Konsensstrategien statt Verfassungsinterpretation, Staat 21 (1982) 391 (405). 168 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 226; Machacek, Recht auf Leben, EuGRZ 1983, 453 (457); ähnlich Würtenberger, Planung, S. 120, für den Einfluß von Planung auf die Verfassung. 169 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 270. 170 171 172

Lerche, Stiller Verfassungswandel, in: FG Maunz, S. 292/293. Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, S. 135. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 272.

2. Teil: Steuerungsansätze

165

Auch das Postulat der „Verfassungsidentität" ist zur Steuerung von Restrisiken nur schwer geeignet. Zwar setzt „Ändern" einer Verfassung, wobei die Wandlung demgegenüber ein Minus darstellt, 1 7 3 eine fortbestehende Identität voraus. 174 Teilweise wird die „Identität" der Verfassung demnach als Grenze der Verfassungswandlung angesehen.175 Wann jedoch die Restrisiken, welche die Konkretisierung des Artikels 2 I I S. 1 GG beeinflussen, diesen Verfassungsbestandteil zu einem anderen werden lassen, ist kaum zu beurteilen. Eindeutig positiv mag dies beim Übergang des Risikos zu einer Gefahr gegeben sein, der sich etwa durch die mehrmalige Verwirklichung des Risikos ankündigt. Im Bereich darunter ist die auf den Wirklichkeitsbezug angewiesene Verfassung in ihrem jeweiligen Inhalt zwar nicht absolut identisch, 176 aber innerhalb des Instituts „Verfassungswandel" inhaltsgleich. Eine Aussage hinsichtlich der Restrisiken läßt sich auf diesem Wege nicht bekommen. cc) Normative Leitfunktion der Verfassung als Steuerimgsminimum Materielle Grenzen der Interpretation und damit des Wandels sind schwer zu finden. Insofern beweist sich der Charakter einer Verfassung als Rahmenordnung, die für eine Vielzahl von unterschiedlichen Lösungen - hier in der zeitlichen Dimension - Platz läßt. 1 7 7 Erschwert wird die Suche nach materiellen Interpretationsgrenzen durch den variablen Zeithorizont: je weiter man ihn ansetzt, um so geringer erscheinen Veränderungen i m Vergleich zu vorher. Eine normative Grenzbestimmung des Verfassungswandels müßte also ebenfalls zu dieser - ausschließlich dezisionistisch zu bestimmenden - Frage Stellung nehmen. Auch wenn Grenzen der Interpretation in der zeitlichen Abfolge schwer auffindbar sind, w i r d die Verfassung hier nicht bedeutungslos. Sie liefert weiterhin Direktiven, Aufträge und sonstige Vorgaben für Problemlösungen, wodurch sie dann zwar kein Entscheidungsprogramm darstellt, aber Entscheidungshilfen liefert. 1 7 8 Der Verfassungsgeber hat nicht konzeptions173

Für das Verhältnis Verfassungswandel/Verfassungsänderung s. Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung, S. 22; Roßnagel, Verfassungsänderung und Verfassungswandel, Staat 22 (1983) 551 f. 174 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 233; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 103. 175 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 233; Ossenbühl, Verfassungsauslegung, DÖV 1965, 649 (650); vgl. auch Krüger, Verfassungsänderung, DÖV 1961, 721 (725). 176 Dies kann sie gar nicht sein, w i l l man nicht das dynamische Element aus dem Verfassungsbegriff herausdefinieren, vgl. Benda, in: Handbuch des Verfassungsrechts (Hrsg. Benda / Maihofer / Vogel), S. 523/524. 177 Steinberg, Verfassungspolitik und offene Verfassung, JZ 1980, 385 (387). 178 Steinberg, Verfassungspolitik und offene Verfassung, JZ 1980, 385 (387); zu einseitig die Dynamik betonend daher Gusy, Verfassungspolitik, S. 19: „Die Verfassung

166 3. Kap.: Steuerung und Entwicklung der „sozialadäquaten Risiken" los Vorschrift an Vorschrift gereiht, sondern die Verfassung nach einem Gesamtprogramm gestaltet. Aus diesem Grund kann auch die einzelne Verfassungsnorm nicht isoliert gesehen werden, sie stellt vielmehr ein Abbild des Gesamtbildes dar. 1 7 9 Die Verfassungsinterpretation hat daher die Summe der Einzelrechtssätze zu einem geschlossenen Verfassungssystem fortzubilden, 180 aus welchem dann Rückschlüsse für die Interpretationsund damit Wandlungsgrenzen der einzelnen Norm gezogen werden können. Die Vorstellung, daß der Verfassungsgeber sein Interesse nicht auf die Einzelvorschrift konzentriert hat, sondern ein Gesamtbild der zu schaffenden Ordnimg vor Augen hatte, findet sich vielerorten. 181 Letztlich bietet sie die Rechtfertigung einer teleologischen Auslegung. Aus einem derartigen Gesamtbild, wie immer es aussehen mag, lassen sich zwar auch keine Obergrenzen der Risikobelastung ableiten. Es ergibt sich hieraus jedoch die generelle Möglichkeit, bei der Suche nach der Wandlungsgrenze einer Einzelnorm solche Gesichtspunkte einfließen zu lassen, die sich aus einer Verfassungsgesamtbetrachtung ergeben. Hieraus entsteht zugleich die Möglichkeit, die sich innerhalb der Verfassung mit unterschiedlicher „Geschwindigk e i t " 1 8 2 entwickelnden Normen durch andere Normen, die dem Wandel weniger stark unterworfen sind, einzugrenzen. Konkrete „Rahmenbedingungen" für die Restrisikoentwicklung sind hier jedoch gleichfalls nicht ersichtlich, so daß sich im Ergebnis eine materielle Grenzbestimmung der Restrisiken über gleichfalls materielle Grenzen des Verfassungswandels nicht finden läßt. b) Formelle Grenzen aa) „Typus"-orientierte, prinzipiell rückschauende Entwicklung Die Kombination eines flexiblen Verfassungsverständnisses mit dem Fehlen materieller Wandlungsgrenzen - von der Leitfunktion der Verfassung einmal abgesehen - wirft ein besonderes Licht auf die Bedeutung eines geordneten Verfahrens. Als Korrelat zum offenen Verfassungsverständnis ist es notwendig, daß die Kompetenz- und Verfahrensordnung, in der der wird so zur Grundnorm des geordneten Wandels, bevor sie im Strom dieses Wandels selbst überrollt wird". 179 Ossenbühl, Verfassungsauslegung, DÖV 1965, 649 (654). 180 Ossenbühl, Verfassungsauslegung, DÖV 1965, 649 (654), der dies auf den Grundsatz der Einheit der Verfassung zurückführt, vgl. dazu oben 2. Kap. 2. Teil B. II. 2. d) ee) (3). 181 BVerfG DÖV 1953, 574 Nr. 297; BVerwG DÖV 1954, 620; Stern, Interpretation, NJW 1958, 695; Ossenbühl, Verfassungsauslegung, DÖV 1965, 649 (654); kritisch zum „vorverfassungsrechtlichen Gesamtbild" Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 73; vgl. auch Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20 (1963) 53 (70); Schneider, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20 (1963) 1 (39). 182 vgl. bereits oben 3. Kap. 2. Teil Β. I. 2. b).

2. Teil: Steuerungsansätze

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Wandel erfolgt, möglichst rigide gehalten w i r d . 1 8 3 Hinweise für eine inhaltliche Ausfüllung dieser abstrakt formulierten „Verfahrensnotwendigkeit" ergeben sich aus der Aufgabe von Recht und Staat überhaupt. Zum einen ist es Aufgabe des Staates, eine grundsätzlich dauerhafte, stabile Ordnung zu schaffen. 184 Das Element der Dauer ist gleichfalls für die Verfassimg konstitutiv, da sie die Grundordnung für ein Gemeinwesen auch der Zukunft festlegen w i l l . 1 8 5 Aus diesem normativen Anspruch ergibt sich der Zwang, neue Phänomene primär am bereits vorhandenen, nicht modifizierten Stand zu messen. Der Rechtsanwender unterliegt - als Verfahrensmaxime - dem Zwang, eine möglichst konservative Grundhaltung einzunehmen, 186 mithin einen permanenten Vergleich nach rückwärts anzustellen. Als Hilfsmittel, neue Phänomene an bisherigen Maßstäben zu messen, also kompatibel zu machen, könnte das Modell des grundrechtlichen „Typus" dienen, der herkömmlich ein Erkenntnismittel der Soziologie ist. 1 8 7 Der „Typus" nimmt eine Mittelstellung zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten ein. 1 8 8 Er beruht auf der Erkenntnis, daß alle Lebenserscheinungen und Vorgänge trotz der Individualität des konkreten Falles einige sich wiederholende und prägende Gemeinsamkeiten aufweisen. 189 Diese Gemeinsamkeiten dienen dazu, die Merkmalsfülle zu strukturieren und aus der Skala gleitender Übergänge einige Merkmale mit übereinstimmenden, charakteristischen, eben: typischen, Ausprägungen zu bündeln und abzuschichten. 190 Der Typus dient dann dazu, die Einzelerscheinung hinsichtlich ihres Grades der Annäherung oder des Abstands zu einem Merkmalskomplex zu messen und zu bewerten. 191 183 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 277; Bäumlin, Staat, Recht, Geschichte, S. 43; vgl. auch Richter, Bildungsverfassungsrecht, S. 31; die herausragende Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit für den Wandel betonen Stern, Staatsrecht I, S. 132; Richter, Bildungsverfassungsrecht, S. 36. 184 Kägi, Verfassung als Grundordnung, S. 54; Heller, Staatslehre, S. 250 („relative Statik"); Gerber, Beamtenrecht, W D S t R L 7 (1931) 2 (19). 185 Kägi, Verfassung als Grundordnung, S. 51 f.; Ossenbühl, Verfassungsauslegung, DÖV 1965, 649. 186 Ossenbühl, Verfassungsauslegung, DÖV 1965, 649 (650); Nipperdey, in: Neumann / Nipperdey / Scheuner, Grundrechte Bd. II, S. 17; vgl. auch Dürig, in: M / D / H / S, GG, Art. 3 I Rn. 196. 187 s. Albert, Wissenschaftslehre, in: Handbuch der empirischen Sozialforschung (Hrsg. König), Bd. I, S. 57; Bernsdorf, Wörterbuch der Soziologie, S. 438; Engisch, Idee der Konkretisierung, S. 238; Strache, Denken in Standards, S. 19; Larenz, Methodenlehre, S. 423; Zippelius, Verwendung von Typen, in: FS Engisch, S. 224. 188 Selmer, Generelle Norm, DÖV 1972, 551 (552); Engisch, Idee der Konkretisierung, S. 238. 189 Selmer, Generelle Norm, DÖV 1972, 551 (552) mit Nachweis auf Coing, Rechtsphilosophie, S. 202; Zippelius, Staatslehre, S. 13, 15. 190 Zippelius, Staatslehre, S. 16; Bernsdorf, Wörterbuch der Soziologie, S. 438. 191 Bemsdorf, Wörterbuch der Soziologie, S. 439; Albert, Wissenschaftslehre, in: Handbuch der empirischen Sozialforschung (Hrsg. König), Bd. I, S. 57; dies ist auch Grundlage der Gesetzgebungslehre, bei der i n Form eines typischen Tatbestands unter Außerachtlassung atypischer Konstellationen eine Orientierung an typischen

168 3. Kap.: Steuerung und Entwicklung der „sozialadäquaten Risiken" Für das Problem des Verfassungswandels kann diese Kategorisierung dazu dienen, neue Phänomene am „Typus" bereits vorhandener Phänomene zu messen. Individuell verschiedene, aber „typengleiche" Erscheinungen sind dann zur Auslösung von Verfassungswandel geeignet, atypische hingegen nicht. Hinsichtlich der Restrisikobestimmung bleibt die - in dieser Form auch hier nicht aufzulösende - Schwierigkeit, festzustellen, von welchem Grad an ein neuer „Risikotypus" erreicht ist, mithin eine Art Niveausprung erfolgt, welcher keinen Verfassungswandel mehr hervorruft und damit selbst verfassungswidrig ist. Die Frage, ob der Bau von 50, 100 oder 500 Kernkraftwerken mit dem sich jeweils addierenden Restrisiko einen derartigen Sprung verursacht, bleibt ein Wertungsproblem und wird durch das hier vorgeschlagene „Typus"-modell nicht gelöst. Der Begriff ist jedoch geeignet, die Fragestellung richtig zu formulieren und wenigstens einen Ansatzpunkt zur Abkehr von dem in diesem Bereich vorherrschenden reinen Dezisionismus zwischen Recht und Politik zu liefern. 1 9 2 Darüber hinaus bietet dieses Modell die Möglichkeit, technische und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse in ein juristisches Verfahrensmodell zu transformieren und somit partiell eine Brücke der vorwiegend wertfreien 193 Sozialwissenschaften zum Verfassungsrecht zu schlagen. bb) Kontinuität der Verfassungsentwicklung als Verfahrensvorgabe Ein weiterer Ansatzpunkt für das Verfahren des Verfassungswandels ist das Gebot, im Prozeß der Verfassungsfortbildung ihre Kontinuität zu wahren. 1 9 4 Gerade wenn es sinnvoll ist, bei den „tendenziell offenen" Grundrechtsnormen 195 neu angepaßte Lösungen an die Stelle der bisherigen zu setzen, und zugleich eine Obergrenze schwer zu finden ist, muß ein offener Kommunikationsprozeß dazu dienen, den Verfassungswandel in einem demokratischen Verfahren ablaufen zu lassen. 196 Das Problem verdichtet Sachverhalten und damit am Regelfall vorgenommen wird, s. Selmer, Generelle Norm, DÖV 1972, 551 (554) m w N aus der Rechtsprechung des BVerfG, welches den Begriff der „Typengerechtigkeit" entwickelt hat. 192 s. dazu oben 2. Kap. 1. Teil Β. I. 3. 193 Zippelius, Staatslehre, S. 4/5. 194 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 292; Schenke, Verfassung und Zeit, AöR 103 (1978) 566 (589); Lerche, Stiller Verfassungswandel, in: FG Maunz, S. 285 (293); vgl. Heller, Staatslehre, S. 254. 195 Die Einteilung i n „tendenziell offene" Grundrechtsnormen und „tendenziell geschlossene" Organisationsnormen findet sich bei Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 276; ein gegenteiliger Befund ergibt sich aus der Untersuchimg Roßnagels, Verfassungsänderung und Verfassungswandel, Staat 22 (1983) 551 (569), der nachweist, daß gerade im textlich offenen Bereich der Grundrechte mehrfach Textänderungen und gerade kein Verfassungswandel stattgefunden hat. 196 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 294; vgl. speziell zur Atomenergie MeyerAbich, Was ist ein Atomstaat?, in: Atomkraft - ein Weg der Vernunft? (Hrsg. Kreuzer / Koslowski / Low), S. 255 (286).

2. Teil: Steuerungsansätze

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sich daher auf die Frage, wer darüber entscheidet, welches Risiko der Bevölkerung und dem Individuum zugemutet werden kann. An dieser Stelle werden Stimmen laut, welche an der Legitimationskraft des Mehrheitsentscheides zweifeln und auf konsensdemokratische Verfahren bzw. Partizipation der Betroffenen abstellen. 197 Dem ist insoweit zuzustimmen, als eine breite Beteiligung nicht nur den demokratischen Prozeß der Verfassungsgebung, sondern auch den der Verfassungswandlung sichert. 198 Für den Verfassungswandel durch kerntechnische Risiken bleibt festzuhalten, daß die Notwendigkeit einer mit erhöhter Argumentationslast behafteten 199 Fortentwicklung der Verfassimg durch typische Phänomene die Kontinuität der Verfassimg sichert und den Wandel stabilisiert. Auch der Forderung, Verfassungswandel müsse sich in kontinuierlicher Entwicklung und nicht in Sprüngen vollziehen, muß gerade im Bereich kerntechnischer Risiken zugestimmt werden. 3. Konsequenzen für die Restrisikoentwicklung

Oben wurde herausgearbeitet, daß eine Steuerung des Gesamtrestrisikos durch eine quantitative Höchstgrenze weder möglich noch sinnvoll ist, da die potentiellen Rèstrisikoquellen völlig unübersehbar und unberechenbar sind. 2 0 0 Diesbezüglich ist gegenwärtig ausschließlich auf die Maßstäbe der Verhältnismäßigkeit und Güterabwägung zurückzugreifen. Selbst wenn die Restrisiken in ihrer Gesamtheit quantifizierbar wären, könnte kein Niveausprung von einem „Risikotypus" zu einem anderen festgestellt werden, der nicht dezisionistisch festgelegt wäre. Jedoch hat sich auch ein untrennbarer Zusammenhang zwischen einer derart gleitenden Risikoentwicklung und der Grundrechtsinterpretation ergeben. Wenn es zweckmäßig ist, zur Vermeidung einer Verfassungsdurchbrechung neu hinzukommende Risiken am 197 Vgl. Rehbinder, Grundfragen des Umweltrechts, ZRP 1970, 250 (252); MeyerAbich, Grundrechtsschutz heute, in: Recht und Technik (Hrsg. Roßnagel), S. 221 (233); Würtenberger, Planung, S. 342; s. ausführlich Flor, Demokratieverständnis der Grünen, S. llOf.; Wienholtz y Verfassung und Technologie, DÖV 1985, 136f.; s. zu dieser Frage, die bei irreversiblen Entscheidungen wie der Endlagerung maßgeblich ist, unten 4. Kap. 198 Häberle, Offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, 297 (300); neue Möglichkeiten der organisatorischen Ingriffnahme des Verfassungswandels durch technischen Wandel liegen in dem von der Enquête-Kommission für „Technologiefolgen-Abschätzung" vorgeschlagenen Bundestagsgremium, welches das Parlament über die Folgen technischer und wissenschaftlicher Entwicklungen beraten und politische Entscheidungen vorbereiten soll, vgl. FAZ v. 5.4.1986, S. 3 und FAZ v. 4.10.1986, S. 4; zum Nutzen von politikberatenden parlamentarischen Gremien bei der Technologiefolgenabschätzung s. Helle, Technology Assessment, ZfP 1981, 396 (419); Klatt, Technologiefolgenbewertung, ZfParl. 1984, 510f.; interessant ist i n diesem Zusammenhang auch, daß in Berlin bei Verwaltungsstreitigkeiten über technische Großvorhaben vor dem OVG seit neuestem zwei Laienrichter mitwirken, vgl. SZ v. 10.10.1985, S. 6. 199 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 294. 200 s. oben 3. Kap. 2. Teil A.

170 3. Kap.: Steuerung und Entwicklung der „sozialadäquaten Risiken" vorhandenen Grundrechtsbestand zu messen und nicht - wie Degenhart etwa - den Grundrechtsbereich „automatisch" reduziert zu sehen, müssen die Restrisiken i n irgendeiner Weise kompatibel gemacht werden. Dieses Bedürfnis besteht auch bei der Anwendimg des „Typus"-Maßstabs, demzufolge zwar auch ein pauschaler Typus-Vergleich möglich ist, der aber durch eine wenigstens ansatzweise Quantifizierung noch verfeinert werden könnte. Ebenfalls der empfohlene Konsensprozeß als Medium für eine kontinuierliche Verfassungsentwicklung gewänne an Transparenz, wenn die beteiligten Akteure einen über das bloße „Fühlen" von Nutzen oder Gefahr hinausgehenden Maßstab hätten. Eine Möglichkeit, Restrisiken jedenfalls in Ansätzen bewertbar und kompatibel zu gestalten, wäre eine Abschichtung nach Risikoquellen innerhalb des heute von der überwiegenden Auffassung vertretenen Restrisikobegriffs. 2 0 1 Hierbei könnte die von Bender vorgeschlagene, vom Bundesverfassungsgericht jedoch nicht rezipierte 202 Trennung von erkannten und nicht erkannten Risiken Anwendung finden. Das Bundesverfassungsgericht und die weit überwiegende Auffassung zählen zum Restrisiko zum einen die unerkannten Risiken, zum anderen aber auch die erkannten Risiken, welche jenseits des „Maßstabs praktischer Vernunft" liegen. 203 Maßstab der Einordnung i n die Kategorien Gefahrenabwehr/Risikovorsorge und Restrisiko ist also nicht die Möglichkeit einer Berechenbarkeit, sondern eine an Vernunftgründen orientierte Abschätzung. Als Folge werden zum Restrisiko auch erkannte und berechnete Faktoren wie technisches Versagen gezählt, wenn dessen Eintrittswahrscheinlichkeit nur jenseits des „Maßstabs praktischer Vernunft" liegt. 2 0 4 Möglich wäre es, den Begriff des „sozialadäquaten Restrisikos" in zwei Unterbegriffe aufzuspalten. Neben dem nicht erkannten Restrisiko jenseits der „praktischen Vernunft" wäre auch eine begriffliche Zusammenfassung des erkannten Risikos jenseits der „praktischen Vernunft" denkbar. Der maßgebliche Unterschied, der eine getrennte Behandlung rechtfertigt, ist der jeweils unterschiedliche Ansatzpunkt der praktischen Vernunft. Während die nicht erkannten Risiken unberücksichtigt bleiben, weil der praktisch vernünftige Rechtsanwender sich auf die alleinige Maßgeblichkeit der ihm bekannten Risikoquellen verläßt, werden die erkannten Risiken erst nach einer zusätzlichen probabilistischen und/oder wertenden Betrachtung in den Bereich jenseits praktischer Vernunft abgeschoben. Daher gibt es die Risiken insbesondere des technischen Versagens, die probabilistisch berechnet und für ausreichend klein (z.B. kleiner als 10" 8 /Jahr) 2 0 5 befunden wur201

s. oben 2. Kap. 1. Teil A. III. 3. b) cc). s. oben 2. Kap. 1. Teil A. III. 3. b) cc) (2). 203 s. oben 2. Kap. 1. Teil A. III. 3. b) cc) (1). 204 s. oben 2. Kap. 1. Teil A. III. 3. b) cc) (2) (aa). 2