Heiratsverhalten, Sozialstruktur, ökonomischer Wandel: England und Mitteleuropa in der Formationsperiode des Kapitalismus 9783666357558, 3525357559, 9783525357552


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German Pages [324] Year 1991

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Heiratsverhalten, Sozialstruktur, ökonomischer Wandel: England und Mitteleuropa in der Formationsperiode des Kapitalismus
 9783666357558, 3525357559, 9783525357552

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 92

V&R

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Ulrich Wehler

Band 92

Josef Ehmer Heiratsverhalten, Sozialstruktur, ökonomischer Wandel

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Heiratsverhalten, Sozialstruktur, ökonomischer Wandel England und Mitteleuropa in der Formationsperiode des Kapitalismus

von

Josef Ehmer

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ehmer, Josef: Heiratsverhalten, Sozialstruktur, ökonomischer Wandel: England und Mitteleuropa in der Formationsperiode des Kapitalismus / von Josef Ehmer. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 1991 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 92) ISBN 3-525-35755-9 NE: GT Gedruckt mit Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung © 1991. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. - Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies (gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Text & Form, Hannover Druck und Bindung: Guide-Druck GmbH, Tübingen.

Inhalt

Vorwort

13

I.

Einleitung

15

1. 2.

Varianten des European Marriage Pattern Die realgeschichtliche Entwicklung des Heiratsalters in England und in Mitteleuropa (17.-19. Jahrhundert) Theoretische Ansätze zur Erklärung der Varianten des European Marriage Pattern Die Varianten des European Marriage Pattern und die Entfaltung des Kapitalismus Die Entfaltung des Kapitalismus als Untersuchungsgegenstand .... Aufbau der Arbeit

15

3. 4. 5. 6.

ERSTER TEIL:

16 18 20 21 23

Theorien über das Heiratsverhalten

Π.

Heiratsverhalten und Kapitalismus in England

1. 2. 3. 4.

Marx tot, Malthus lebt? 25 Heiratsverhalten und Ökonomie im frühneuzeitlichen England .... 27 Malthus als Theoretiker frühkapitalistischer Heiratsmuster 30 Heiratsverhalten und Kapitalismus in der neueren englischen Bevölkerungsgeschichte 32

HL Göttliche und andere Ordnungen des Heiratsverhaltens in Mitteleuropa 1. 2. 3. 4. 5.

Johann Peter Süßmilch und die »Göttliche Ordnung« des Heiratsverhaltens Heirat und »Nahrung« Ordnungsbestrebungen des 19. Jahrhunderts Das Heiratsverhalten im Kontext der nationalsozialistischen »Völkslehre« Heiratsverhalten und »Nahrungsstelle« in der neueren deutschen Bevölkerungsgeschichte

25

34 34 36 38 40 43 5

IV

Der politische Ehekonsens in Mitteleuropa

45

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Herrschaftliche Einflußnahmen auf das Heiratsverhalten Anfänge staatlicher Ehebeschränkungen Widersprüche im System staatlicher Ehebeschränkungen Der politische Ehekonsens in Norddeutschland Der politische Ehekonsens in Süddeutschland Der politische Ehekonsens in Österreich

46 47 50 52 53 55

V

Heiratsverhalten im Spannungsfeld zwischen Demographie und Sozialgeschichte

62

1.

Das European Marriage Pattern als Funktion einer homöostatischen Bevölkerungsweise? Zur Kritik des homöostatischen Paradigmas Heiratsverhalten und Sozialstruktur Arbeitsorganisationen und Familienstruktur Soziale Kontrolle und Ehekonsens Faktoren des Wandels im 18. und 19. Jahrhundert

62 64 67 70 71 74

2. 3. 4. 5. 6.

ZWEITER TEIL: Heiratsverhalten und sozialökonomische Strukturen in der Industriellen Revolution VI.

Methodische Probleme einer sozialstrukturellen Untersuchung des Heiratsverhaltens

83

1.

Altersspezifische Ledigenquoten als Indikatoren des Heiratsverhaltens Regionale Differenzierung als Untersuchungsmethode

83 87

2.

V n . England

91

1. 2.

91

3.

Sozial-regionale Differenzierung des Heiratsverhaltens Ledigenquoten in agrarischen, hausindustriellen und fabrikindustriellen Regionen Homogenität und Differenzierung des Heiratsverhaltens

96 100

VHI. Deutsches Reich

103

1. 2. 3.

103 106

6

Sozial-regionale Differenzierung des Heiratsverhaltens Agrarische Produktionsverhältnisse: Gutswirtschaft Agrarische Produktionsverhältnisse: bäuerliche Familienwirtschaft

111

4. 5.

Gewerblich-industrielle Produktionsformen Proto-Industrialisierung

114 118

IX.

Österreich

120

1.

Das Heiratsverhalten und die bäuerliche Familienwirtschaft der Alpenländer Der »life time servant« des österreichischen Alpenraums Ledigenquoten und das Verhältnis von gewerblich-industriellen und agrarischen Produktionsformen in den Alpenländern Vorarlberg und Westtirol - eine Sonderform des alpinen Heiratsmusters Heiratsverhalten und sozialökonomische Strukturen in den böhmischen Ländern Regionale Differenzierung des Heiratsverhaltens in Böhmen und Mähren Galizien und die Frage nach ethnischen Besonderheiten des Heiratsverhaltens

2. 3. 4. 5. 6. 7.

123 127 130 133 136 139 144

X.

Land und Stadt

1.

Städtische Heiratsmuster im englisch-mitteleuropäischen Vergleich 149 Die spezifischen Heiratsmuster der mitteleuropäischen Städte .. 152

2.

149

DRITTER TEIL:

Ledige Handwerksgesellen und proletarische Familienväter XI.

Das Handwerk als Forschungsfeld zur Geschichte des Heiratsverhaltens

ΧΠ. Das Heiratsverhalten und die Traditionen des Handwerks in England 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Zum Familienstand englischer Handwerker in der Frühen Neuzeit Das Heiratsverhalten englischer Handwerker und Arbeiter zur Mitte des 19. Jahrhunderts Stellung im Haushalt und Familienstruktur Heirat und Haushaltsgründung im handwerklichen Lebenslauf Familienstand und Gesellenwanderung Zur sozialen Definition von Meister und Geselle

159

163 163 165 170 173 179 182 7

XIÜ. Heiratsmuster im mitteleuropäischen Handwerk 1. 2. 3. 4.

Zur Herausbildung handwerklicher Heiratsmuster von der Frühen Neuzeit bis in das späte 18. Jahrhundert Ehebeschränkungen als Resultate widersprüchlicher Interessenlagen von Meistern, Gesellen und Obrigkeiten Zur Verbreitung der traditionellen handwerklichen Heiratsmuster im 19. Jahrhundert Wandel und Persistenz hausrechtlicher Abhängigkeit

XIV Wandel und Persistenz traditioneller Heiratsmuster im Deutschen Kaiserreich 1. 2. 3.

185 185 189 197 199

203

Unterschiede des Heiratsverhaltens nach der Berufszählung 1882 203 Soziale Bedingungen unterschiedlicher Heiratsmuster: Berufsperspektive, Qualifikation, Siedlungsgröße 206 Die Dynamik des Wandels im Übergang zum 20. Jahrhundert . . 2 1 1

XV Meisterhaushalt oder Gesellenfamilie: Zwei Formen kleingewerblicher Arbeitsorganisation in der Industriellen Revolution 214 1. 2. 3. 4. 5.

Zur kapitalistischen Transformation des Kleingewerbes im 19. Jahrhundert Der Meisterhaushalt als Produktionseinheit in Mitteleuropa Die Gesellenfamilie als Produktionseinheit in England Die ökonomische Funktionalität von Gesellenfamilie und Meisterhaushalt Soziale Konsequenzen der unterschiedlichen Wege des Handwerks in den Kapitalismus

214 216 219 222 225

XVI. Abschließende Überlegungen

229

Abkürzungsverzeichnis

236

Anmerkungen

237

Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Archivalien und unveröffentlichte Literatur 2. Maschinenlesbare Datensätze 3. Veröffentlichte Statistiken 4. Gedruckte Quellen und Literatur

271 271 272 272 273

8

Tabellenanhang

292

Register

320

Verzeichnis der Tabellen im Text Tab. 1: Tab. 2: Tab. 3: Tab. 4: Tab. 5: Tab. 6: Tab. 7: Tab. 8: Tab. 9: Tab. 10: Tab. 11: Tab. 12: Tab. 13: Tab. 14: Tab. 15: Tab. 16: Tab. 17: Tab. 18: Tab. 19: Tab. 20:

Regionale Differenzierung der Ledigenquoten, England 1851, Deutsches Reich 1880, Österreich 1880 Ledigenanteile und sozialökonomische Strukturen, Männer, ausgewählte Counties, England 1851 Regionale Differenzierung der Ledigenquoten nach sozialökonomischen Strukturmerkmalen, England 1861 Ledigenquoten und soziale Zusammensetzung der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte, Agrargebiete des Deutschen Reichs, 1880/1895 Verehelichtenquoten nach der Stellung im Beruf, Territorien des Deutschen Reichs, 1895 Ledigenquoten und Industriestruktur, Industriegebiete des Deutschen Reichs, 1880/1882/1895 Ledigenquoten und Hofgrößen, österreichische Alpenländer, 1880/1890 Ledigenanteile und Illegitimitätsquoten, österreichische Alpenländer, 1870/1880 Korrelationsanalyse: Ledigenquoten und sozialökonomische Indikatoren, böhmische Länder, 1880 Ledigenquoten und Anteil der Taglöhner in Mähren, 1880/1890 Ledigeqquoten und ethnische Zusammensetzung, Galizien, 1880/1890 Heil50ratsverhalten und Nationalität, österreichische Kronländer, 1890 Heiratsverhalten im Land-Stadt-Vergleich, England 1861, Deutsches Reich 1880, Österreich 1880 Ledigenanteile in englischen Städten, 1851/1861 Ledigenanteile in mitteleuropäischen Städten, 1870/1880 Räumliche Differenzierung und historische Entwicklung der Ledigenquoten in Wien, 1857-1910 Englische Arbeitergruppen nach ihren altersspezifischen Ledigenquoten, Männer, 1851 Familienstand und Alter der »Journeymen« in Norwich, Pfarre St. Mary at Coslany, 1851 Englische Arbeitergruppen nach ihrer Stellung im Haushalt, Männer, 1851 Anteil der Verheirateten an den »Gesellen« und »Gehilfen« ausgewählter Handwerke, mitteleuropäische Städte, 1774-1880

86 97 101 108 110 116 125 135 138 144 146 147 150 152 154 157 169 170 171 198 9

Tab. 21: Tab. 22: Tab. 23: Tab. 24: Tab. 25: Tab. 26: Tab. 27:

Wandel der Heiratsmuster im Deutschen Reich, 1882-1907 Berufsspezifische Verehelichtenquoten nach der Qualifikation, männliche Arbeiter, Deutsches Reich, 1895 Altersspezifische Verehelichtenquoten nach Berufsarten, Deutsches Reich, 1882-1907 Schuhmacher in englischen und mitteleuropäischen Städten nach der Stellung im Haushalt, 1763-1880 Schuhmacher in Northampton und Norwich, 1851 Schuhmacher nach dem Geschlecht, England 1851, Deutsches Reich 1882 Geburtsorte der Schuhmacher in englischen und mitteleuropäischen Städten, 1836-1857

205 207 212 217 221 225 227

Verzeichnis der Schaubilder im Text Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13:

10

Reallöhne und Heiratsverhalten in England, 1550-1850 Anteil der Ledigen an den 25-29jährigen Männern nach Counties, England 1851 Anteil der Ledigen an den 45-49jährigen Männern nach Counties, England 1851 Anteil der Ledigen an den 25-29jährigen Männern nach Regierungsbezirken, Deutsches Reich 1880 Anteil der Ledigen an den 45-49jährigen Männern nach Regierungsbezirken, Deutsches Reich 1880 Anteil der Ledigen an den 25-29jährigen Männern nach Bezirkshauptmannschaften, österreichische Alpenländer 1880 Anteil der Ledigen an den 45-49jährigen Männern nach Bezirkshauptmannschaften, österreichische Alpenländer 1880 Soziale Stellung und Familienstand im Lebenszyklus, landwirtschaftlich berufstätige Männer, Salzburg 1890 Anteil der Ledigen an den 25-29jährigen Männern nach Bezirkshauptmannschaften, böhmische Länder, 1880 Anteil der Ledigen an den 45-49jährigen Männern nach Bezirkshauptmannschaften, böhmische Länder 1880 Berufsspezifische Verehelichtenquoten nach Ortsgrößen, männliche Arbeiter, Deutsches Reich 1882 Berufsspezifische Verehelichtenquoten nach Ortsgrößen, männliche Arbeiter, Deutsches Reich 1895 Alters Verteilung der männlichen Schuhmacher, England 1851, Deutsches Reich 1882

75 92 95 104 105 121 122 123 140 140 209 210 226

Verzeichnis der Tabellen im Anhang Tab. 1: Tab. 2: Tab. 3: Tab. 4: Tab. 5:

Tab. 6:

Tab. 7: Tab. 8: Tab. 9: Tab. 10: Tab. 11: Tab. 12: Tab. 13: Tab. 14:

Durchschnittliches Alter bei der Erstheirat, England und Deutschland, 1600-1911 Durchschnittliches Alter bei der Erstheirat nach deutschen Lokalstudien, Männer, 1650-1899 Anteil der Ledigen an den 25-29jährigen und 45-49jährigen Männern, österreichische Alpenländer, 1600-1890 Durchschnittliches Alter bei der Erstheirat nach der sozialen Stellung, mitteleuropäische Lokalstudien, 1750-1899 Ledigenquoten und soziale Zusammensetzung der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte, Männer, österreichische Kronländer, 1880/1890 Verteilung der Berufstätigen auf Wirtschaftssektoren und soziale Struktur des sekundären Sektors, österreichische Kronländer, 1880/1890 Handwerksgesellen nach ihrer Stellung im Haushalt, mitteleuropäische Städte, 1774-1880 Altersspezifische Ledigenquoten in ausgewählten Berufsarten, männliche Arbeiter, Deutsches Reich 1882 Berufsspezifische Verehelichtenquoten nach der Ortsgröße, männliche Arbeiter, Deutsches Reich 1882 Altersspezifische Ledigenquoten in ausgewählten Berufsarten, männliche Arbeiter, Deutsches Reich 1907 Altersspezifische Ledigenquoten in den englischen Counties, Männer, 1851 Altersspezifische Ledigenquoten in den deutschen Regierungsbezirken, Männer, 1880 Altersspezifische Ledigenquoten in den österreichischen Kronländern/Bundesländern, Männer, 1880-1934 Altersspezifische Ledigenquoten in den österreichischen Bezirkshauptmannschaften, Männer, 1880

292 293 293 294

295

296 297 299 300 303 305 307 310 311

11

Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist eine überarbeitete und stark gekürzte Fassung meiner Habilitationsschrift »Das Heiratsverhalten und die Traditionen des Kapitalismus. England und Mitteleuropa im 19. Jahrhundert«, die im Frühjahr 1989 von der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien angenommen wurde. Der Weg vom ursprünglichen Manuskript zur Druckvorlage wurde mir durch Hinweise mehrerer Kolleginnen und Kollegen erleichtert. Besonders danke ich den Herausgebern der »Kritischen Studien«, Helmut Berding, Jürgen Kocka und Hans-Ulrich Wehler sowie Christiane Eisenberg und Friedrich Lenger. Die Untersuchung enthält Teilergebnisse mehrerer Forschungsprojekte zur Sozialgeschichte der Familie, der Arbeiterschaft und des Handwerks. Für die Finanzierung dieser Projekte bin ich der Stiftung Volkswagenwerk, dem Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung in Österreich und der Alexander von Humboldt-Stiftung - deren Druckkostenzuschuß auch diese Veröffentlichung ermöglichte - zu Dank verpflichtet. Im Zuge dieser Forschungen konnte ich mehrmals die Gastfreundschaft und finanzielle Unterstützung des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen und der Cambridge Group for the History of Population and Social Structure genießen. Unschätzbare Anregungen, frachtbare Kritik und Ermutigung verdanke ich einer großen Zahl von Kolleginnen, Kollegen und Freunden aus verschiedenen Diskussions- und Arbeitszusammenhängen: dem Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, dem MPI in Göttingen, der Cambridge Group, dem Arbeitskreis Strukturwandel der Familie im europäischen Vergleich, der European Research Group on the Petite Bourgeoisie in 19th and 20th Century Europe, den Methodenkursen an der Universität Salzburg. Stellvertretend für sehr viele sei namentlich Michael Mitterauer genannt, von dem ich viel gelernt habe, nicht nur auf dem Gebiet der historischen Forschung.

13

I. Einleitung 1. Varianten des European Marriage Pattern Mit dem European Marriage Pattern prägte John Hajnal zu Beginn der sechziger Jahre einen der erfolgreichsten Begriffe der neueren Historischen Demographie. Anhand eines Ländervergleichs um 1900 machte er auf die Existenz eines spezifischen Heiratsmusters in Europa aufmerksam. Während in den meisten mittel- und westeuropäischen Staaten rund die Hälfte der Männer im Alter von 25-29 Jahren ledig war, in Skandinavien und Irland sogar beträchtlich mehr, lagen die Ledigenanteile in den ost- und südosteuropäischen Staaten zwischen 18 und 31 Prozent, also wesentlich darunter.1 Aus verstreuten, historisch weiter zurückreichenden Daten zog Hajnal den Schluß, daß sich dieses spezifische Muster späten Heiratens zwischen dem 14. und dem 18. Jahrhundert herausgebildet und im 20. Jahrhundert wieder aufgelöst habe. Geographisch verortete er es westlich einer Linie, die sich etwa von Leningrad nach Triest erstreckt. In diesem Raum erscheint das Muster späten und beschränkten Heiratens als Element eines ebenfalls spezifischen »Household Formation System«: Die Eheschließung war an die Neugründung oder an die Übernahme eines eigenen Haushalts gebunden und setzte damit ein bestimmtes Ausmaß ökonomischer Unabhängigkeit voraus.2 Hajnals Beobachtung eines European Marriage Pattern - im Unterschied zu einem »Eastern European Pattern« - gewann großen Einfluß und wurde in der Historischen Demographie weithin zustimmend rezipiert. Tatsächlich hat die Historische Familienforschung seitdem die unterschiedlichen Familien· und Verwandtschaftssysteme in Ost- und Westeuropa detailliert untersucht und das Heiratsverhalten in ihren Rahmen gestellt.3 Die Ergebnisse neuerer historisch-demographischer Forschungen über die realgeschichtliche Entwicklung des Heiratsverhaltens in West- und Mitteleuropa geben allerdings Anlaß, das Konzept des European Marriage Pattern regional zu differenzieren. E.A. Wrigleys Untersuchungen des Heiratsverhaltens in Frankreich von etwa 1680 bis 1830 zeigen, daß sich hier Heiratsalter und Heiratshäufigkeit ganz anders entwickelten als in England. Einem kontinuierlichen Sinken des Heiratsalters und einer Zunahme der Heiratshäufigkeit, die England im 18. Jahrhundert prägten, stand in Frankreich ein Anstieg des Heiratsalters und der ledig bleibenden Bevölkerung gegenüber.4 15

Einen ähnlichen, vom englischen Muster abweichenden Trend stellte Wrigley auch für Schweden fest.5 Sowohl Frankreich und Schweden auf der einen als auch England auf der anderen Seite weisen Heiratsverhältnisse auf, die sich innerhalb Hajnals europäischem Muster bewegen, zugleich unterscheiden sie sich aber so wesentlich, daß sie zumindest als signifikant abweichende Varianten erscheinen. Wrigleys Schlußfolgerung daraus stellt die Existenz eines einzigen westeuropäischen Heiratsmusters in Frage: »The west European marriage pattern, in short, is better described as a repertoir of adaptable systems than as a pattern.«6 In ähnlicher Weise betont auch der Historische Anthropologe Macfarlane, daß die demographischen Verhältnisse im frühneuzeitlichen England innerhalb Europas ungewöhnlich gewesen wären,»... [that] there was something distinctive about England within Europe«.7

2. Die realgeschichtliche Entwicklung des Heiratsalters in England und in Mitteleuropa (17.-19. Jahrhundert) Die Ergebnisse der neueren Historischen Demographie und Familiengeschichte ermöglichen es, die Verlaufsformen des Heiratsalters auch zwischen England und Mitteleuropa zu vergleichen. Auch dabei wird die Existenz unterschiedlicher Varianten des European Marriage Pattern deutlich sichtbar. Für England liegen seit dem 16. Jahrhundert ausreichend gesicherte Daten vor. (Vgl. Tab. 1 im Anhang.) Das Heiratsalter lag hier im 17. Jahrhundert auf einem relativ hohen und im großen und ganzen stabilen Niveau, im Durchschnitt zwischen 28 und 29 Jahren bei Männern, zwischen 26 und 27 Jahren bei Frauen. Das 18. Jahrhundert ist dagegen in England von einem deutlichen Rückgang des Heiratsalters gekennzeichnet.8 »Zwischen 1675-99 und 1800-24 sank das durchschnittliche Alter bei der Erstheirat von 27.7. auf25.5 beidenMännernundvon26.6auf23.7beiden Frauen, also ein Rückgang von 2.2 bzw. 2.9 Jahren.«9 Obwohl wegen eines Wechsels der Berechnungsmethode für das 19. Jahrhundert keine durchgehende Entwicklungslinie gezogen werden kann, wird in der englischen Historischen Demographie übereinstimmend eine relative Kontinuität dieses niedrigen Heiratsalters bis in die 1870er Jahre angenommen.10 Das von 1851 an berechnete »singulate mean age at first marriage« zeigt einen weiteren leichten Rückgang bis 1871, wo es mit 26.4 Jahren fur die Männer und 25.2 Jahren für die Frauen einen Tiefstand erreichte. In den folgenden Jahrzehnten stieg das Heiratsalter in England allmählich an, bis 1911 etwa um ein Jahr.11 Für Deutschland hat zuletzt John Knodel aus den Daten verschiedener Lokalstudien von etwa 1700 bis 1900 die Entwicklung des Heiratsalters ermittelt.12 Nach seiner Berechnung stieg das durchschnittliche Alter bei der 16

Erstheirat während des 18. Jahrhunderts, im Gegensatz zum englischen Verlauf, kontinuierlich an. Andere Datenreihen, die vorwiegend aus süddeutschen Territorien stammen, bestätigen diesen Trend.13 (Vgl. Tab. 2 im Anhang.) Sie weisen auf ein weiteres Ansteigen des Heiratsalters im 19. Jahrhundert hin. In den Jahrzehnten zwischen etwa 1830 und 1870 zeichnet sich ein Höhepunkt ab. Das ab 1871 für das gesamte Deutsche Reich berechnete »singulate mean age at first marriage« läßt für die folgenden Jahrzehnte, wiederum im Gegensatz zur englischen Entwicklung, ein langsames Sinken des Heiratsalters erkennen.14 Für Österreich stehen weiter zurückreichende Daten aus Familienrekonstitutionen nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung. Einen Ersatz bieten die aus Seelenbeschreibungen und Volkszählungslisten berechneten altersspezifischen Ledigenquoten.15 (Vgl. Tab. 3 im Anhang.) In Salzburg reichen sie für mehrere Pfarren bis in das 17. Jahrhundert zurück. Hier zeichnet sich ein deutlicher Anstieg des Heiratsalters und des Anteils der lebenslänglich Ledigen schon im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert ab. Auch in den inneralpinen Bezirken Kärntens lagen die Ledigenanteile schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts sehr hoch. Sowohl in Salzburg als auch in Kärnten erfolgte im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert eine weitere Erhöhung des Heiratsalters. In einigen inneralpinen Bezirken war gegen Ende des 19. Jahrhunderts von den 30jährigen Männern noch kaum einer verheiratet, und rund die Hälfte blieb zeitlebens ledig. Im ober- und niederösterreichischen Voralpenraum ist ein zeitlich verschobener Verlauf festzustellen. Hier herrschten im Vergleich zu den inneralpinen Gebieten etwas niedrigere Ledigenquoten bis in den Vormärz vor, ein deutlicher Anstieg zeichnete sich erstum die Mitte des 19. Jahrhunderts ab. Der Trend liefin allen untersuchten österreichischen Regionen in dieselbe Richtung, aber mit unterschiedlichem Beginn und mit unterschiedlicher Intensität. Auch hier deutet sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Vereinheitlichung der Kurven an: Nun ging in allen Regionen das Heiratsalter und der Anteil der Lediggebüebenen zurück. Auf einen ähnlichen Verlauf weisen auch die wenigen für Böhmen ausgewerteten Daten hin. Ländliche und städtische Volkszählungen der Jahre 1585/86 zeigen äußerst niedrige Ledigenanteile der 25-29jährigen Männer bei etwa 20 Prozent. Eine Zählung für 1651 läßt für die Landgemeinden eine hohe Kontinuität des niedrigen Heiratsalters erkennen, für die Städte dagegen einen Anstieg der Ledigenquoten.16 Lokalstudien weisen ein steigendes Heiratsalter vom 18. Jahrhundert bis in die Periode 1850 bis 1880 nach. Im späten 19. Jahrhundert lag es - wie auch in Deutschland und in den österreichischen Alpenländern - deutlich über den Werten des 16., 17. und 18. Jahrhunderts.17 Bei aller gebotenen Vorsicht weist der Vergleich dieser Datenreihen auf 17

tatsächliche unterschiedliche Verlaufsformen des Heiratsverhaltens in England und in Mitteleuropa hin.18 Sie scheinen sich während des 18. Jahrhunderts herausgebildet und bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkt zu haben. Um diese Zeit heiratete man in England im Durchschnitt vielleicht um drei Jahrefrüherals in Deutschland, vielleicht um fünf, sechs oder sieben Jahre früher als in Süddeutschland und Österreich. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts begann sich dagegen die Scherenbewegung wieder zu schließen: In Mitteleuropa sank das Heiratsalter langsam ab, in England stieg s an, und im Ergebnis glichen sich die Werte an. Das durchschnittliche Heiratsalter der Frauen in England und im Deutschen Reich traf sich schon in den 1880er Jahren auf einem Niveau von etwa funfundzwanzigeinhalb Jahren. Bei den Männern erfolgte die Angleichung später, unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg bei knapp unter 28 Jahren. Über unsere Vergleichsräume hinaus zeichnet sich in dieser Periode eine Vereinheitlichung des Heiratsverhaltens in West- und Mitteleuropa ab.19 Bezogen aufsozialökonomische Entwicklungsperioden, war in England die lange Phase der »Industrialisierung vor der Industrialisierung« von einem kontinuierlichen Rückgang des Heiratsalters geprägt. Während der Industriellen Revolution heiratete man früher als jemals zuvor in der englischen Neuzeit. Ganz umgekehrt in Mitteleuropa: Im 18. und frühen 19. Jahrhundert erfolgte ein stetiger Anstieg des Heiratsalters, und auf dem Höhepunkt der Industriellen Revolution, der hier um die Mitte des 19. Jahrhunderts anzusetzen ist, heiratete man später als in irgendeiner anderen Periode, für die wir Daten haben. In der Phase der Hochindustrialisierung pendelten sich dagegen die Werte auf demselben Niveau ein. Ein relativ einheitliches Heiratsmuster, das England und das kontinentale Mittel- und Westeuropa gemeinsam umfaßte, bestand demnach am ehesten in der Frühen Neuzeit und im 20. Jahrhundert. Gegensätzliche Trends beherrschten dagegen die Epoche der »großen Transformation«. Wie sind diese Unterschiede zu erklären? Dies ist die Ausgangsfrage der vorliegenden Arbeit.

3. Theoretische Ansätze zur Erklärung der Varianten des European Marriage Pattern Obwohl das Heiratsverhalten in der neueren historisch-demographischen Diskussion und Theoriebildung einen zentralen Stellenwert einnimmt, bieten Historische Demographie und Bevölkerungsgeschichte bisher kaum Ansätze zur Erklärung dieser unterschiedlichen Verlaufsformen des Heiratsalters an. Die wenigen expliziten Hypothesen leiten die Besonderheit der englischen Heiratsverhältnisse aus der Dominanz marktwirtschaftlicher bzw. 18

kapitalistischer Verhältnisse ab. Begriffliche Unsicherheit und Unscharfe werden dagegen sichtbar, wenn es darum geht, den sozialökonomischen Kontext der kontinentaleuropäischen Heiratsmuster zu erfassen. Macfarlane stellt etwa dem »modernen, individualistischen« Heirats- und Familiensystem Englands ein »traditionales, familistisches« System im übrigen Europa gegenüber, dessen sozialökonomische Grundlage er mit Begriffen wie »familial mode of production« oder »domestic mode of production« beschreibt.20 Auf ähnliche Weise sucht auch Wrigley den Erklärungsansatz für die Unterschiede, die der Vergleich zwischen England auf der einen und Frankreich und Schweden auf der anderen Seite erbrachte: »It is tempting to see in the nuptiality history of these two countries a 'peasant" variant ofthe European marriage system while in England a 'wage' variant was firmly established. In the former the number ofviable holdings might be supposed to be growing less rapidly than the population, which might make matches harder to make, while in the latter a system of 'ecological niches' had given way to one in which current and prospective earnings had replaced access to land as a criterion for eligibility to marry.«21

Mit dem Hinweis auf »lebensfähige Stellen« oder »ökologische Nischen« als Vorbedingung für Eheschließungen bezieht sich Wrigley auf ein demographisches Paradigma, das vom 18. Jahrhundert an in der deutschsprachigen Demographie dominierte und etwa seit den sechziger Jahren auch den kontinentaleuropäischen bevölkerungsgeschichtlichen Diskurs insgesamt prägt. Ein hohes Heiratsalter und eine große Zahl zeitlebens Lediger sind in diesem Modell einer begrenzten Zahl verfügbarer bäuerlicher und handwerklicher Stellen geschuldet, die allein die Eheschließung gestattet hätten. Das European Marriage Pattern erscheint dabei als zentrales Element einer »agrarischen Bevölkerungsweise«, die den schmalen wirtschaftlichen Spielraum der vorindustriellen Gesellschaften mit ihrer Bevölkerungszahl im Gleichgewicht gehalten hätte.22 Die skizzierte realgeschichtliche Entwicklung des Heiratsalters weckt indes Zweifel an der Tragfähigkeit dieser festgefügten theoretischen Tradition. Der Anstieg des Heiratsalters und der Ledigenquoten in Mitteleuropa kennzeichnete nicht die »agrarische« Gesellschaft, sondern die Periode der Vorbereitung und des Übergangs in den industriellen Kapitalismus. Am Höhepunkt der Industriellen Revolution fand in Mitteleuropa das European Marriage Pattern seine extremste Ausprägimg, während es in England zu verblassen begann. Läßt sich dieser historische Verlauf mit dem Modell einer »agrarischen Bevölkerungsweise« erfassen? Für die englische Bevölkerungsgeschichte wird diese Frage von E.A. Wrigley und R. Schofield verneint. In ihren eigenen Arbeiten griffen sie vielmehr auf theoretische Konzepte von Malthus zurück, der um 1800 Heiratsalter und Heiratshäufigkeit mit der Nachfrage nach Lohnarbeit und dem Preis der Wäre Arbeitskraft in Beziehung setzte.23 Roger Schofield hat die 19

Wiederentdeckung Malthus' als Begründer einer spezifischen englischen demographischen Theorie während der Arbeiten an der »Population History of England« damit begründet, daß die herrschenden »europäischen« Theorien über den Zusammenhang zwischen Bevölkerung und Ökonomie für das »vorindustrielle England zu restriktiv« gewesen seien.24 England und Mitteleuropa unterscheiden sich also nicht nur durch zwei realhistorische Varianten des European Marriage Pattern, sondern auch durch zwei theoretische Traditionslinien, die beide im 18. Jahrhundert wurzeln und bis in unsere Gegenwart den Blick auf die Geschichte des Heiratsverhaltens prägen. Sie verdienen in doppelter Hünsicht unsere Aufmerksamkeit: Sind sie Ausdruck und damit zusätzlicher Beleg der gegensätzlichen Verlaufsformen der Heiratsmuster? Leisten sie darüber hinaus auch einen Beitrag zu ihrer Erklärung?

4. Die Varianten des European Marriage Pattern u n d die Entfaltung des Kapitalismus Die theoretische Unsicherheit und Zurückhaltung von Bevölkerungsgeschichte und Historischer Demographie bei der Analyse der Heiratsmuster des 18. und 19. Jahrhunderts scheinen kein Zufall zu sein. Der historische Kontext der Herausbildung unterschiedlicher Varianten des European Marriage Pattern und ihre volle Ausprägung am Höhepunkt der Industriellen Revolution legen es nahe, den theoretischen Bezugsrahmen nicht in einer im wesentlichen statisch gesehenen - »agrarischen Beuölkerungswüse« zu suchen, sondern in der Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise. Die gegensätzlichen Verlaufsformen des Heiratsalters in England und in Mitteleuropa scheinen einer sozialhistorischen Perspektive eher zugänglich zu sein, als einer bevölkerungsgeschichtlichen. Das Heiratsverhalten bietet sich für diesen Wechsel der Perspektive besonders an. Es erscheint im Unterschied zu anderen von der Demographie untersuchten Gegenstandsbereichen unmittelbar als soziales Phänomen. Heiraten, das bedeutet in den traditionellen west- und mitteleuropäischen Gesellschaften die Gründung einer Familie und eines Haushalts, die Übernahme einer bestimmten gesellschaftlichen Position, die Voraussetzung für volle politische Berechtigung.25 Heiratsverhältnisse bildeten ein wesentliches Element der sozialen Reproduktion. In diesem Kontext gewinnt allerdings Wrigleys Unterscheidung einer »Lohn-Variante« von einer »bäuerlichen Variante« des European Marriage Pattern neue Relevanz. Diese Begriffe korrespondieren mit einem in der neueren Sozialgeschichte verbreiteten Konzept zweier unterschiedlicher Wege der Industriealisierung: In England der langsame und schrittweise Übergang einer bereits von Lohnarbeit geprägten Gesellschaft in den industriellen 20

Kapitalismus, in Mitteleuropa ein »bäuerlicher Weg in den Kapitalismus« (Hobsbawm), in dem der traditionelle agrarische Familienbetrieb und die gewerbliche kleine Warenproduktion komplexe Beziehungen mit dem sich entwickelnden industriellen Kapitalismus eingingen.

5. Die Entfaltung des Kapitalismus als Untersuchungsgegenstand Mit dem Wechsel von einer bevölkerungsgeschichtlichen zu einer sozialhistorischen Perspektive ist eine Ausweitung des Erkenntnisinteresses verbunden. Die »Entfaltung des Kapitalismus« gilt vielen Historikern, seien sie theoretisch von Karl Marx oder von Max Weber angeregt, als einer der »Basisprozesse« der neueren europäischen Geschichte.26 Dynamik und Chronologie dieses Prozesses in den einzelnen europäischen Regionen sind freilich immer wieder Gegenstand von Kontroversen, auch darum, weil sie empirisch umfassend - und das heißt auch: quantifizierend - sehr schwer zu bestimmen sind.27 Gewerbe- und Berufsstatistiken sind vor dem 19. Jahrhundert nur fragmentarisch überliefert, und wenn sie es überhaupt gestatten, durch die Fassade der zeitgenössischen Standesbezeichnungen hindurch den Blick auf Produktionsverhältnisse zu richten, dann ist es fast ausschließlich ein Blick auf deren ökonomische Dimension. Soziale Strukturen und Verhaltensweisen, kulturelle Beziehungen und Traditionen, die mit der Entfaltung des Kapitalismus zusammenhängen, werden partiell in den verschiedensten Zusammenhängen erforscht, lassen sich aber nur sehr schwer quantitativ und generalisierend erfassen. Insbesondere in Mitteleuropa ist die »Entfaltung des Kapitalismus« von »Ungleichzeitigkeit« (Bloch), »Gemengelagen« (Lüdtke), »Mischungsverhältnissen traditioneller und moderner Elemente« (Wehler) der Gesellschaftsstruktur geprägt. Will man es nicht mit einem bloßen Konstatieren oder dem Anfuhren von Beispielen für die Wechselbeziehung zwischen »Alt und Neu« bewenden lassen, sondern versuchen, ihren jeweiligen gesellschaftlichen Einfluß und ihre soziale und regionale Verbreitung zu bestimmen oder Verschiebungen der Gewichte chronologisch festzumachen, so wirft auch dies die Frage nach den Möglichkeiten einer quantifizierenden empirischen Untersuchung auf. Die Spannungen zwischen »Altem« und »Neuem« vertieften sich in Mitteleuropa mit dem Beginn der Industrialisierung, in der ein beschleunigtes Wirtschaftswachstum und eine rasche Ausbreitung kapitalistischer Produktionsverhältnisse mit der Beharrungskraft traditioneller Institutionen und Herrschaftsformen zusammentrafen. In England baute die Industrielle Revo21

lution dagegen auf eine jahrhundertelange Tradition kapitalistischer Produktionsverhältnisse auf, die eine langfristige und kontinuierliche Abstimmung zwischen ökonomischen und sozialen Entwicklungen bewirkt hatte.28 Ist auch der vergleichende Blick auf die sozialen Implikationen zweier unterschiedlicher Wege in den industriellen Kapitalismus einer generalisierenden empirischen Uberprüfung zugänglich? Diese Frage wirft nicht zuletzt ein Quellenproblem auf. Um sie beantworten zu können, bedarf es quantifizierbarer Quellen, die als Indikatoren für Produktionsverhältnisse und soziale Strukturen dienen können, die einen langen historischen Zeitraum abdecken und in ähnlicher Form fur mehrere europäische Regionen verfugbar sind. Demographische Quellen sind geeignet, diese Anforderungen zu erfüllen. Bevölkerungsverzeichnisse der verschiedensten Provenienz, von Kirchenbüchern und Seelenbeschreibungen, Steuerlisten und Konskriptionen bis hin zu den Überresten der staatlichen Volkszählungen bieten zumindest vom 16. bis zum 20. Jahrhundert für weite Teile Europas außerordentlich dichte und einheitliche Informationen zu einer ganzen Reihe der angesprochenen Probleme. Diese Quellen werden in der historischen Forschung seit längerer Zeit und zum Teil mit ausgefeilten Techniken aufgearbeitet, überwiegend allerdings für die speziellen Fragestellungen der Historischen Demographie und der Bevölkerungsgeschichte. Erst die Historische Familienforschung, die sich seit den frühen 1970er Jahren in mehreren europäischen Ländern herausgebildet hatte, stellte die Analyse demographischer Massendaten in einen breiteren sozialstrukturellen Kontext. Auch an diese Bestrebungen schließt die vorliegende Arbeit an. Nimmt man einen wechselseitigen Zusammenhang zwischen dem Heiratsverhalten und anderen Elementen der Gesellschaftsstruktur an, dann können nicht nur diese Elemente dazu dienen, die konkreten Muster des Heiratsverhaltens zu interpretieren, sondern umgekehrt auch die Heiratsmuster zu Indikatoren für die Beschaffenheit und die Ausbreitung spezifischer Produktionsverhältnisse, sozialer Strukturen und Traditionen werden. Das Ziel der Arbeit besteht zum einen darin, die Entwicklung von Heiratsverhältnissen darzustellen und aus dem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext zu erklären, zum anderen aber auch darin, mit Hilfe von Heiratsdaten einen quantitativ abgestützten Beitrag zur Diskussion über die »Entfaltung des Kapitalismus«, vor allem ihrer sozialen Dimensionen, zu leisten.

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6. Aufbau der Arbeit Im ersten Teil der Arbeit werden die jeweils vorherrschenden englischen und deutschen Theorien über das Heiratsverhalten von den Demographen des 18. Jahrhunderts bis zur modernen Bevölkerungsgeschichte rekonstruiert. Die Charakteristika des European Marriage Pattern, ein hohes Heiratsalter und hohe Zölibatsquoten, sind in beiden Fällen theoretischer Ausgangspunkt, und gemeinsam ist ihnen auch das vorrangige Erkenntnisinteresse an Regulierungsfaktoren von Bevölkerungsweisen. Zugleich legen sie aber dem Heiratsverhalten ganz unterschiedliche Gesellschaftsmodelle zugrunde und kommen deshalb zu sehr verschiedenartigen Ansätzen zur Erklärung des European Marriage Pattern. Ein Spezifikum der mitteleuropäischen Gesellschaften war die Neigung zu obrigkeitlichen Heiratsbeschränkungen, die im »politischen Ehekonsens« des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erlebten. Mit seiner Entwicklung und Verbreitung beschäftigt sich Kapitel IV Wenn auch die Auswirkungen staatlicher Ehebeschränkungen auf das reale Verhalten der Menschen schwer zu fassen sind und nicht überschätzt werden dürfen, so steht der politische Ehekonsens doch in einem engen Zusammenhang mit den spezifischen mitteleuropäischen Theorien über das Heiratsverhalten und kann als Beleg für ihre ideologische Ausstrahlung dienen. Kapitel V faßt den gemeinsamen Kern der referierten bevölkerungsgeschichtlichen Theorien, das »homöostatische Paradigma«, zusammen und konfrontiert es mit kritischen Einwänden, die sowohl innerhalb der Demographie wie auch von seiten der Sozialgeschichte erhoben wurden. In der kritischen Auseinandersetzung mit dem demographischen Theorieangebot werden sozialgeschichtliche Konzepte entwickelt, die das European Marriage Pattern der frühen Neuzeit ebenso erklären sollen wie seine unterschiedlichen Varianten im 18. und 19. Jahrhundert. Diese Konzepte bilden zugleich das Hypothesengerüst für die folgende empirische Untersuchung. Der zweite Teil der Arbeit untersucht den Zusammenhang zwischen Heiratsverhalten und sozialökonomischen Strukturen mit Hilfe der regionalen Differenzierung der Heiratsmuster während der Industriellen Revolution. Zum Zweck der quantifizierenden empirischen Analyse wird dabei das Heiratsverhalten auf zwei Variablen reduziert, das Heiratsalter und die Heiratshäufigkeit (im Sinne des Anteils derjenigen, die überhaupt im Lauf ihres Lebens zur Eheschließung gelangten). Quellengrundlage bilden aggregierte Regionaldaten für England, das Deutsche Reich und die österreichische Hälfte der Habsburgermonarchie. Sie ermöglichen nicht nur eine deskriptive Darstellung der räumlichen Variationen des Heiratsverhaltens, sondern in der Kombination mit sozialökonomischen Regionaldaten auch die Diskussion der Zusammenhänge mit den verschiedenen Formen agrarischer, 23

handwerklicher, proto-industrieller und industrieller Produktion. Damit sollen die konkreten Auswirkungen kapitalistischer Produktionsverhältnisse auf das Heiratsverhalten erfaßt werden. Das Deutsche Reich und die österreichische Hälfte der Habsburgermonarchie werden bei der Interpretation der Daten unter dem Begriff »Mitteleuropa« zusammengefaßt, dem allerdings in diesem Kontext keine weiterreichenden Implikationen zukommen. Es wird sich zeigen, daß das als »Mitteleuropa« bezeichnete Untersuchungsgebiet tatsächlich Gemeinsamkeiten der sozialstrukturellen Entwicklung aufwies, zugleich aber die soziale Inhomogenität dieses Raumes einen seiner wesentlichen Unterschiede zu England ausmachte. Im dritten Abschnitt wird versucht, die Beziehung von Heiratsmustern, Produktionsverhältnissen, sozialen Strukturen und kulturellen Traditionen an einem einzelnen Beispiel zu konkretisieren. Das städtische Handwerk eignet sich dabei besonders gut als Forschungsfeld. Der englische »married free journeyman« und der ledige, hausrechtlich abhängige Geselle Mitteleuropas fungieren als Idealtypen zweier unterschiedlicher Produktions- und Heiratsverhältnisse von der Frühen Neuzeit bis in das späte 19. Jahrhundert. Auch in diesem Teil spielt die quantitative Argumentation eine Rolle, allerdings nicht auf der Ebene von aggregierten, sondern von Individualdaten. Sie ermöglichen es, den Familienstand einzelner Menschen mit ihrer Stellung im Haushalt und in der familialen bzw. kleinbetrieblichen Arbeitsorganisation zu verknüpfen. Die Beziehungen zwischen traditionellen Sozialstrukturen und der expandierenden kapitalistischen Ökonomie vor allem des 19. Jahrhunderts können dabei konkret untersucht werden. Ein Mangel der verwendeten quantifizierbaren Quellen ist ihr geschlechtsspezifischer Bias. Demographische Daten stehen wohl für Frauen wie Männer gleichermaßen zur Verfügung, sozialstrukturelle Indikatoren wie Beruf, Qualifikation, soziale Position sind aber in Bevölkerungslisten und aggregierten Statistiken sehr viel eher fur Männer als für Frauen enthalten. Da eine systematische Interpretation des Heiratsverhaltens mit Hilfe sozialstruktureller Daten für den männlichen Teil der Bevölkerung eher möglich erscheint als für den weiblichen, bleiben Frauen in dieser Arbeit weitgehend ausgeblendet. Zwar gibt es kaum Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft, die sich stärker auf Frauen konzentrieren, als Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie; da ihr Interesse aber nicht dem »sozialen Geschlecht«, sondern der Biologie der Frauen gilt, bieten auch sie keine Lösung für dieses Problem. Es wird in Zukunft einiger methodischer Anstrengungen bedürfen, um bei der sozialstrukturellen Analyse demographischer Daten auch den weiblichen Teil der Bevölkerung vollständig einzubeziehen. Hier konnte dies - zu meinem Bedauern - noch nicht geleistet werden.

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ERSTER TEIL

Theorien über das Heiratsverhalten

II. Heiratsverhalten und Kapitalismus in England 1. Marx tot, Malthus lebt? »Malthus, Thomas Robert (1766-1834), englischer Geistlicher und Ökonom, Ideologe der verbürgerlichten Grundbesitzeraristokratie, Apologet des Kapitalismus, (der) die reaktionäre Theorie von der Uberbevölkerung aufstellte), die das Elend der Werktätigen im Kapitalismus rechtfertigen sollte«,1 erlebt eine spektakuläre Renaissance. Seit dem Ende der siebziger Jahre beschäftigt sich eine zunehmende Zahl von Monographien und Sammelbänden mit seinem Beitrag zur Bevölkerungstheorie;2 die internationale Konferenz für Historische Demographie tagte 1980 am Sitz der UNESCO unter dem Generalthema »Malthus hier et aujourd'hui«;3 seine Werke werden gesammelt neu herausgegeben und einige von ihnen erstmals aus dem Englischen in andere Sprachen übersetzt.4 Stimmt es also, was Jacques Dupäquier dem Protokoll der erwähnten Konferenz mit ironischem Unterton voranstellt, daß »in einer Zeit, in der - wie man uns sagt - Marx wirklich und wahrhaftig tot ist, Thomas Robert Malthus, sein geschworener Feind, lebendiger zu sein scheint denn je«?5 Tatsächlich kann man zur Auffassung eines nachträglichen Sieges von Malthus über Marx kommen, wenn man die hohe Wertschätzung, die er nun unter historischen Demographen genießt, mit den harten Urteilen vergleicht, die Marx über ihn fällte. Während für E.A. Wrigley Malthus, gerade in Anbetracht der Zielsicherheit und Genauigkeit seiner Analyse Anspruch auf hohes Ansehen erheben könne,6 war für Marx der »Essay on the Principle of Population« in seiner »ersten Form nichts als ein schülerhaft oberflächliches und pfäffisch verdeklamiertes Plagiat«, das »nicht einen einzigen selbstgedachten Satz enthält,« und die folgenden Überarbeitungen bestünden nur darin, »oberflächlich kompiliertes Material in das alte Schema zu stopfen«.7 Trotzdem ist das Verhältnis zwischen Marxscher Kritik und gegenwärtiger Malthus-Rezeption weniger eindeutig, als es diese Gegenüberstellung erscheinen läßt.8 Eine tiefergehende wissenschaftliche Auseinandersetzung hat 25

Marx nicht mit dem Demographen, sondern nur mit dem Ökonomen Malthus geführt.9 Die Kritik seiner Bevölkerungstheorie beschränkte sich im wesentlichen auf zwei Aspekte: in praktischer Hinsicht auf ihre politische Wirkung, die für Marx darin bestand, »mitten in einer großen sozialen Krisis« ein »unfehlbares Gegengift« gegen kapitalismuskritische Ideen anzubieten.10 In theoretischer Hinsicht kritisierte Marx vor allem den historischen Universalitätsanspruch der Malthusschen Theorie. Entgegen dessen Versuchen, universelle Bevölkerungsgesetze zu formulieren, stellte er selbst Überlegungen über »ein der kapitalistischen Produktionsweise eigentümliches Populationsgesetz« an und fügte verallgemeinernd die berühmten Sätze hinzu, daß »in der Tat jede besondere Produktionsweise ihre besonderen, historisch gültigen Populationsgesetze hat. Ein abstraktes Populationsgesetz existiert nur für Pflanze und Tier, soweit der Mensch nicht geschichtlich eingreift.«11 In Bevölkerungsgesetzen mit universellem Anspruch sah Marx wenig mehr als ein Abbild der zeitgenössischen englischen Gesellschaft, »mit ihrer Teilung der Arbeit, Konkurrenz, Aufschluß neuer Märkte, 'Erfindungen'« und eben »Malthusschem 'Kampf ums Dasein'... Es ist Hobbes' bellum omnium contra omnes«.12 Mit der Frage, wieweit die Malthussche Bevölkerungstheorie dem frühen englischen Kapitalismus angepaßt sei, hat sich Marx nicht weiter beschäftigt. Dieses Problem griff etwas später Friedrich Engels auf. Er akzeptierte dabei Malthus in bezug auf die englische Gesellschaft seiner Zeit und billigte ihm sogar eine größere, über den englischen Frühkapitalismus hinausreichende Bedeutung zu: »Dasjenige, was an der sogenannten Malthusschen Theorie Haltbares ist... [drücke] eben nur solche Verhältnisse aus, die allen auf Klassenherrschaft und Klassenausbeutung beruhenden Gesellschaftszuständen gemeinsam sind,« schrieb er 1865 in einem Brief an Friedrich Albert Lange.13 Daß Marx auf der historisch begrenzten Reichweite von Bevölkerungstheorien und ihrer Anbindung an Produktionsweisen insistierte, brachte ihn zwar in Gegensatz zu Malthus, bringt ihn aber nicht notwendigerweise in Widerspruch zur modernen Malthus-Rezeption. Die traditionelle Malthus-Rezeption wurde meist nur von einem Element seiner Theorie bestimmt, nämlich der Aussage, »daß sich die Bevölkerung, wenn sie nicht gehemmt wird, alle 25 Jahre verdoppelt, oder in geometrischer Reihe zunimmt,« während »in Anbetracht des gegenwärtigen Durchschnittszustands der Erde die Lebensmittel auch unter den dem menschlichen Fleiß günstigen Umständen nicht dahin gebracht werden könnten, sich schneller als in arithmetischer Reihe zu vermehren.«14 Tatsächlich galt aber das Hauptinteresse Malthus' den daraus seiner Ansicht nach notwendig werdenden »Hemmnissen der Bevölkerungsvermehrung« - wie auch aus den Titeln der einzelnen Bücher des Essays hervorgeht. Er unterschied dabei zwischen »zwei Hauptgruppen«, nämlich den »vorbeugenden und den positiven Hemmnissen« (preventive check 26

system - positive check system).15 Während die positiven Hemmnisse eine überzählige Bevölkerung durch soziale Katastrophen reduzierten und den ökonomischen Ressourcen im Nachhinein wieder anpaßten, böten die vorbeugenden Hemmnisse den Menschen die Möglichkeit, durch Änderungen ihres Heiratsverhaltens flexibel auf ökonomische Schwankungen zu reagieren. Vor allem in der zweiten Auflage des »Essays on the Principle of Population« von 1803 entwickelte Malthus ein umfassendes Modell über den Zusammenhang zwischen Bevölkerung und ökonomischen Ressourcen, in dem er dem Heiratsverhalten die Funktion der strategischen und dynamischen Variable zuwies.16 Dieses Modell stieß in den sechziger Jahren auf zunehmendes Interesse in der europäischen Bevölkerungsgeschichte. Dupäquier in Frankreich und Wrigley in England gelangten zur Auffassung, daß in Mittel- und Westeuropa ein spezifisches Heiratsverhalten der zentrale demographische Mechanismus gewesen sei, der eine hohe Stabilität der Bevölkerung gewährleistet habe. »Das Heiratsverhalten beherrschte den demographischen Schauplatz im frühneuzeitlichen England«, faßte Wrigley zusammen.17 Im Kontext dieser demographischen Theoriebildung wurde Malthus' »preventive check« wiederentdeckt. Sein Modell der Funktion des Heiratsverhaltens für die Bevölkerungsentwicklung erlangte sein gegenwärtiges hohes Ansehen, wurde dabei allerdings in seiner historischen Reichweite eingeschränkt. Damit könnte man Dupaquiers Bonmot vom toten Marx und lebendigen Malthus dahingehend abwandeln, daß Malthus wieder lebendig wurde, als man seine Theorien im Marxschen Sinne anwandte: Nicht als universelle Bevölkerungsgesetze, aber als Theorien mittlerer Reichweite, die zur Erklärung eines Heiratsverhaltens beitragen, das für die englische vor- und friihindustrielle Gesellschaft kennzeichnend war.

2. Heirats verhalten und Ökonomie im frühneuzeitlichen England Theoretische Überlegungen über den Zusammenhang von Heiratsverhalten und ökonomischen Faktoren haben in England eine lange Tradition. Einer der ersten, der sich damit beschäftigte, war der Astronom Edmund Halley, der im Auftrag der Royal Society in London Daten aus Breslauer Kirchenregistern der Jahre 1687-1691 auswertete. Er kam dabei zur Ansicht, »... that the Growth and Increase of Mankind is not so much stinted by anything in the nature of the species as it is from the cautious difficulty most people make to adventure on the state of marriage, from the prospect of the trouble and charge of providing for a family«.18 Auch die politischen Arithmetiker des 17. und 18. Jahrhunderts wie John Graunt, William Petty oder Joshia Tucker

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nahmen einen dominierenden Einfluß der wirtschaftlichen Gegebenheiten auf das Heiratsverhalten an, und gingen von einer positiven Entsprechung von Heiraten und Wohlstand aus.19 Diese Sichtweise zusammenfassend, schrieb William Bell 1756: »And where the whole people ... are able by their industry to procure themselves, and their dependants, a sufficient support; it cannot be doubted, but that marriage will prevail universally.«20 Wie in den absolutistischen Staaten des Kontinents waren auch im England des 17. und 18. Jahrhunderts bevölkerungswissenschaftliche Überlegungen vom Geist der Populationistik geprägt. Die englischen Demographen plädierten fur die größtmögliche Förderung von Heiraten, insbesondere der Armen, und die Beseitigung von Ehehindernissen. Diese sahen sie jedoch ausschließlich auf ökonomischem Gebiet, in zu hohen Steuern oder Lebenshaltungskosten.21 Im Unterschied zu ihren Kollegen in den deutschsprachigen Ländern konnten sie von rechtlichen oder obrigkeitlichen Beschränkungen absehen. In England bestanden keinerlei derartige Ehehindernisse. Jedem Mann über 14 und jeder Frau über 12 Jahren stand es frei, die Ehe zu schließen. Allerdings setzte die kirchliche Trauung von Personen unter 21 Jahren die Zustimmung ihrer Eltern voraus.22 Die einzige gesetzliche Ausnahme von dieser Regel war in der Gewerbegesetzgebung enthalten. Königin Elizabeth's »Statute of Artificers« von 1563 sah vor, daß Lehrlinge unverheiratet sein sollten. Die Bestimmungen des »Statute« sind durchaus mit ähnlichen, in verschiedenen deutschen Territorien im 17. Jahrhundert einsetzenden Versuchen zu vergleichen, mit Heiratsbeschränkungen ein ausreichendes Dienstbotenangebot zu sichern. (Vgl. dazu Kapitel IV) Im Unterschied zu Deutschland bezog sich aber die englische Gewerbegesetzgebung ausschließlich auf unter 21jährige Personen und Schloß damit eine Verlängerung der Ehebeschränkungen auf das Erwachsenenalter aus. Auch in dieser Form zog aber das »Statute« die Kritik der politischen Arithmetiker auf sich.23 Darüber hinaus sahen populationistische Autoren des 18. Jahrhunderts ganz allgemein in der Gewerbegesetzgebung einen Faktor, der die Neigung zum Heiraten schwächen könne. Einschränkende Bedingungen wie die Absolvierung einer Lehre als Voraussetzung für die Ausübung eines Handwerks als Geselle oder Meister sollten nur mehr für Ledige in Kraft bleiben, während Verheiratete in den Genuß vollständiger Gewerbefreiheit zu kommen hätten. Joshia Tucker etwa fuhrt 1755 die folgenden Änderungen des Gewerberechts an, mit denen die Heiratsneigung der Handwerker gefördert werden könne: »ΙΠ. It is proposed, That the Statute made in the fifth Year of Queen Elizabeth against Persons exercising any Mystery, Craft or mechanic Trade, who have not served an Apprenticeship for seven Years, be repealed as to married Men, but remain in force against Batchelors (sic!)... IV. It is proposed, That married Men shall be free, not only to work as Journeymen, but also to set up all sorts ofMechanic Trades in every City and corporate place whatever, without Fee, or Acknowledgement in any Shape or Form...«24

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Natürlich gab es auch in England wie in anderen europäischen Staaten intensive Bemühungen zum Aufbau einer staatlichen Ehegesetzgebung. Die Regierungen verfolgten das Ziel, die bisher relativ formlosen Eheschließungen zu normieren, zu registrieren und insgesamt zu juridisch eindeutigen und gesicherten Bestandteilen des bürgerlichen Rechts zu machen. Einen wesentlichen Schritt dazu bildete »Lord Hardwick's Marriage Act«, der nach langer parlamentarischer Debatte 1754 in Kraft trat.25 Mit diesem Gesetz wurden die öffentliche Verkündigung der Heiratsabsicht in der Pfarrkirche und die Registrierung der geschlossenen Ehe in den Kirchenbüchern verpflichtend gemacht. Ansonsten enthielt es wie bisher keinerlei Heiratsbeschränkungen in altersmäßiger, wirtschaftlicher oder sozialer Hinsicht. Im Diskurs der Bevölkerungstheoretiker ebenso wie in der staatlichen Gesetzgebung und der gesellschaftlichen Praxis bildete sich - oder vielleicht besser: erhielt sich - in England im 18. Jahrhundert eine liberale Haltung zur Eheschließung, die sich von den absolutistischen Staaten Mitteleuropas deutlich unterschied. Die Ehe war hier nicht ein obrigkeitliches Privileg, sondern ein jedem Mitglied der Gesellschaft zustehendes Recht. 26 Ledigenstand und Eheschließung waren das Ergebnis individueller Entscheidungen: »... to marry, or not to marry, involved a choice.« 27 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann in England die Industrielle Revolution. Die enormen ökonomischen und sozialen Umschichtungen dieser Periode führten gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu tiefgreifenden Erschütterungen des traditionellen sozialen und politischen Systems und zu einer Verschärfung gesellschaftlicher Konflikte. In dieser Atmosphäre setzte sich in der Bevölkerungswissenschaft eine intellektuelle Wende durch. Galt bisher ein ungehemmtes Bevölkerungswachstum als eine wesentliche Voraussetzung für den Wohlstand der Nation, so erschien es nun immer mehr als Quelle wirtschaftlicher Verelendung und potentielle Ursache sozialer Revolten.28 In diesem Kontext begann sich auch die Einschätzung des Heiratsverhaltens zu wandeln. James Stewart war einer der ersten, dem es möglich und gefährlich schien, daß sich die Bevölkerung schneller als ihre Unterhaltsmittel vermehre. 29 U m dieser Gefahr zu begegnen, schlug er vor, die jährlichen Eheschließungen in den einzelnen sozialen Klassen auf eine vorher festgelegte Höchstzahl zu beschränken: »Mir käme es gar nicht verkehrt vor, wenn allen Dorfpriestern verboten würde, ein Paar Leute zu kopulieren, die nicht nachweisen können, daß sie dem Staate aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zur Last fallen werden. Könnte man eine solche Verordnung wohl mit Vernunft tadeln? Diejenigen, welche von anderen umsonst ernährt werden müssen, sind für den Staat kein Gewinn, sondern eine Last, solange sie für ihn unbrauchbar sind. Nichts ist leichter, als heiraten, nichts auch natürlicher, besonders unter armen Leuten! Allein, gleichwie es um ernten zu können, nicht genug ist, daß man pflüge und säe, so ist es auch um Kinder zu erziehen, nicht genug, daß man heirate. Jedes Tier, das eine Brut

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hervorbringt, die sich selbst nicht helfen kann, muß ein Nest haben. Ein Haus ist das Nest fur die Kinder. Aber nicht jeder, der ein Kind zeugen kann, kann auch ein Haus bauen oder die Miete dafür zahlen.«30

Als gegen Ende des Jahrhunderts die Debatten um eine Neuordnung der Armenunterstützung an Intensität gewannen, kamen auch Vorschläge für Heiratsbeschränkungen stärker in die Diskussion.31 Diese Überlegungen bedeuteten ein Abweichen von der bisherigen englischen Tradition auf dem Gebiet der Bevölkerungstheorie und -politik. Trotzdem sind sie nicht völlig von der Entwicklung der staadichen Ehegesetzgebung zu lösen. Die Marriage Bill von 1 7 5 4 und auch die folgenden Ergänzungen der Heiratsgesetze sahen zwar nach wie vor keine Ehebeschränkungen vor. Allein die Tatsache aber, daß nun jede Heirat vom Pfarrer öffentlich angekündigt und in den Kirchenbüchern registriert werden mußte, schuf überhaupt erst die praktische Möglichkeit eines wirksamen staatlichen Einflusses auf das Heiratsverhalten und weitete die Grenzen des Machbaren aus. »Ohne Bevölkerungsregister keine systematische Bevölkerungspolitik.«32 Im Unterschied zur mitteleuropäischen Entwicklung wurden in England Konzepte obrigkeitlicher Heiratsbeschränkungen jedoch weder theoretisch vorherrschend noch gewannen sie Einfluß auf Gesetzgebung und Politik.

3. Malthus als Theoretiker frühkapitalistischer Heiratsmuster In der Bevölkerungswissenschaft wie im öffentlichen Diskurs setzten sich vielmehr um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die Ideen von Malthus durch. Sein System war zwar insofern Bestandteil der bevölkerungswissenschaftlichen Wende jener Zeit, als er die Zunahme der Bevölkerung äußerst pessimistisch einschätzte und es sogar zum Naturgesetz erklärte, daß die Bevölkerung - ohne Hemmnisse - schneller wachse als ihre Subsistenzmittel. Andererseits war Malthus aber ein strikter Gegner staatlicher Bevölkerungspolitik und sah die Lösung sozialer Probleme ausschließlich in den Kräften des Marktes und in der kapitalistischen Gesinnung der einzelnen Individuen. Man könnte sagen, daß er die vorindustrielle liberale Tradition englischer Ehebestimmungen in den »Manchester-Liberalismus« der frühindustriellen Gesellschaft überführte. Das soziale System, auf welches Malthus seine Theorie des Heirats verhaltens bezog, erscheint von den zyklischen Bewegungen der Arbeits- und Warenmärkte beherrscht. Eine steigende Arbeiterzahl erhöhe die Nachfrage nach Lebensmitteln und damit deren Preise, die Reallöhne sänken und in der Arbeiterschaft mache sich als Folge der Not »Bedenken gegen den Eheschluß« breit.33 Steigende Preise machten aber »Pächter und Kapitalisten reich«, diese 30

würden investieren und neue Arbeitskräfte suchen. Infolge nicht eingegangener Ehen wären aber weniger Arbeitskräfte vorhanden, also stiegen die Löhne und die Arbeiter könnten wieder heiraten.34 Die Arbeitskraft war für Malthus eine Ware »wie jede andere Ware, die auf den Markt gebracht wird«, und den Arbeitern müsse klar gemacht werden, »daß der Arbeitslohn einzig und allein dadurch erhöht werden kann, daß man das Arbeitsangebot zurückhält, und daß sie selbst, als die Besitzer dieser Ware, allein die Macht haben, dies zu tun«.35 »Sittliche Beschränkung« und »Enthaltung von der Ehe« sei der einzig erfolgversprechende Weg.36 Während sich das Heiratsverhalten der englischen Arbeiter nach Malthus durch Anpassung an die Gesetze des freien Marktes regelte, träten bei den höheren Schichten das Streben nach Statussicherung und der Wille zu sozialem Aufstieg in den Vordergrund. »Ein Hinabgleiten um zwei oder drei Stufen in der Gesellschaft, besonders an jener Biegung der Leiter, w o die Bildung endet und die Unwissenheit beginnt, wird von der Welt im allgemeinen nicht als ein eingebildetes, sondern als ein wirkliches Übel angesehen werden.«37 Bei den »Angehörigen der höheren Klassen«, den »Söhnen von Kaufleuten und Landwirten«, »den Angestellten in Kontoren und den Mitbewerbern um aller Art Posten in Handel und Gewerbe herrscht das vorbeugende Hemmnis der Bevölkerungsvermehrung möglicherweise mehr als in irgend einem anderen Kreise der Gesellschaft«, zumal »die Konkurrenz in allen Zweigen des Geschäftslebens so groß (ist), daß unmöglich alle erfolgreich sein können.«38 Daß sich Marktgesetze und Aufstiegsmentalität als Regulatoren des Heiratsverhaltens durchsetzen können, erfordere natürlich die völlige persönliche Entscheidungsfreiheit über die Eheschließung. Lediglich moralische Ermahnungen, vor allem die Erläuterung der von ihm entdeckten Bevölkerungsgesetze durch die Pfarrer, seien nach Malthus angebracht. »Wenn nun jemand heiraten wolle, ohne die Aussicht darauf, eine Familie ernähren zu können, so müßte es ihm vollkommen freistehen, dies zu tun.« Dies wäre zwar eine unsittliche Handlung, jedoch keine, »welche die Gesellschaft mit Recht verhindern oder bestrafen könnte ... Er soll daher der Strafe der Natur, der Strafe der Not überlassen werden ... Jede Gemeindeunterstützung sollte ihm verweigert werden, und er müßte auf die unsichere Wohltätigkeit einzelner angewiesen sein. Er müßte lernen, daß die Naturgesetze, welche Gottes Gesetze sind, ihn und seine Familie zum Leiden verurteilt hätten [und] daß er kein Recht hätte, von der Gesellschaft auch nur den kleinsten Bissen mehr zu fordern, als was seine Arbeit füglich zu erstehen vermöchte.«39

Trotzdem bekräftigt er: »I am most decidedly of the opinion that any positive law to limit the age of marriage would be both unjust and immoral.«40

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4. Heiratsverhalten und Kapitalismus in der neueren englischen Bevölkerungsgeschichte Mal thus3 Sicht eines englischen Heiratsmusters als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse, die vorrangig von Marktbeziehungen und den sozialen Mechanismen einer mobilen kapitalistischen Sozialstruktur geprägt seien, wurde von Wrigley und Schofield in ihren Forschungen zur Bevölkerungsgeschichte Englands aufgegriffen. Tatsächlich stießen sie auf einen engen Zusammenhang zwischen Reallöhnen und Heiratsverhalten. Vom 16. bis zum 19. Jahrhundert lassen sich zeitlich verschobene, aber parallel verlaufende Zyklen von Heiratsalter, Heiratshäufigkeit und Reallöhnen erkennen: Stiegen die Reallöhne an, heirateten die Menschen häufiger und früher, der Anteil der ledig gebliebenen in den höheren Altersgruppen nahm ebenso ab wie das Heiratsalter. Umgekehrt zog ein langfristiges Absinken der Reallöhne im Abstand von etwa einer Generation ein steigendes Heiratsalter und einen höheren Anteil Lediger nach sich.41 Erst in den 1870er Jahren zerbrach dieser Zusammenhang. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts stiegen die Reallöhne deutlich an, ohne daß dies eine Zunahme der Heiratshäufigkeit und ein weiter sinkendes Heiratsalter zur Folge gehabt hätte. Ganz im Gegenteil ist, wie es der Census-Report von 1911 formulierte, eine »modern tendency to postpone marriage« zu konstatieren.42 Im selben Zeitraum erfolgte auch die Ausbreitung der innerehelichen Geburtenkontrolle. In diesen Veränderungen sehen Wrigley und Schofield den eigentlichen revolutionären Wandel der englischen Bevölkerungsgeschichte der Neuzeit: »The whole represents a clear break with the nuptiality and fertility pattern of earlier centuries, a demographic revolution ...«.43 Der in England bestehende Zusammenhang von Heiratsverhalten und Ökonomie scheint damit an eine spezifische gesellschaftliche Entwicklungsperiode gebunden zu sein. Wie Roger Schofield anmerkt: »Ironically, the relationship disappeared with industrialization, almost at the very moment, that Malthus so forcefully drew attention to its significance.«44 Der parallele Verlauf von Heiratsalter, Heiratshäufigkeit und Reallöhnen kennzeichnete die lange Periode der Vorbereitung und des Übergangs zum industriellen Kapitalismus. Dies setzt voraus, daß sich das frühneuzeitliche England von einer Bauern- und Handwerkergesellschaft mit relativ konstantem Wirtschaftsumfang weit entfernt hatte und eine Gesellschaft mit rasch expandierender Ökonomie verkörperte, in der »viele Menschen vom Verkauf ihrer Arbeitskraft lebten«.45 Die englische Wirtschaft in den drei Jahrhunderten vor der Industriellen Revolution wird von Wrigley und Schofield als »wage economy« beschrieben, in der weniger der Zugang zu Land oder Eigentumsrechten das Heiratsverhalten bestimmte, als vielmehr die Einkünfte aus Lohnarbeit.46 32

Am engsten hat der Historische Anthropologe Alan Macfarlane Heiratsmuster und Kapitalismus verknüpft. 47 Er ging dabei über quantitative Entsprechungen weit hinaus und bezog umfassend soziale Systeme und Mentalitäten in seine Überlegungen ein. Für ihn ist »probably the most convincing general theory ... that the Malthusian marriage system 'fitted' perfectly with the particular socio-economic formation known as capitalism«. 48 Das wesentliche Merkmal dieses Heiratsmusters, wie es in der englischen Realität bestand und in der Malthus'schen Theorie ausformuliert wurde, besteht für Macfarlane darin, daß Heiraten nichts »Automatisches« mehr war, sondern eine bewußte Entscheidung, »das Ergebnis einer Kosten-Nutzen-Kalkulation sowohl für Männer als auch für Frauen«. 49 Dies setzte voraus, daß die in anderen Gesellschaften so starken sozialen Regeln des Heiratsverhaltens schwach und ihre Durchsetzung durch Verwandtschaft, Kaste, Klasse oder regionale Gemeinschaft in England weniger wirksam waren als anderswo. Auf die weitgehende Abwesenheit von Heiratsbeschränkungen in Gesetzen und sozialen Regeln, ja sogar in ideologischen Zielvorstellungen im frühneuzeitlichen England wurde bereits hingewiesen. Daß unter diesen Bedingungen individueller Freizügigkeit die einzelnen Individuen ihr Heiratsverhalten im Sinne Malthus' 'rationell' gestalteten, also ihre sexuellen und emotionalen Bedürfhisse gegenüber wirtschaftlichen und sozialen Kosten abwogen und dabei aktuelle und bevorstehende ökonomische Situationen berücksichtigten, gerade dies ist für Macfarlane der Beweis dafür, daß sie sich in ihren Handlungen und Mentalitäten an bereits bestehende kapitalistische Verhältnisse angepaßt hätten. Danach würde das »Malthusian marriage system« vier wesentliche Bedingungen voraussetzen: »... an accumulative ethic which justified and glorified the endless pursuit of gain; the ranked, but mobile, society which meant that people were constantly scrambling up and down a ladder of fortune; private property, which was potected by government and law; and a generally elevated standard of living which would give people that taste for bodily comforts which would tempt them to forego immediate sexual gratification and delay marriage until they could afford it...« 5 0

Ein Familien- und Heiratsverhalten, das auf individuellen Entscheidungen entsprechend den ökonomischen und sozialen Möglichkeiten beruht, wäre demnach »das natürliche Ergebnis der - wie man sie heute nennen würde kapitalistischen Marktwirtschaft«. 51

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HL Göttliche und andere Ordnungen des Heiratsverhaltens in Mitteleuropa 1. Johann Peter Süßmilch und die »Göttliche O r d n u n g « des Heiratsverhaltens Auch die theoretischen Traditionslinien der deutschsprachigen Bevölkerungsgeschichte wurzeln im 18. Jahrhundert. Im Jahre 1741 veröffentlichte der preußische Feldprediger Johann Peter Süßmilch ein - wie sich herausstellen sollte - äußerst erfolgreiches Buch. Er versuchte, »Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben« nachzuweisen, und entwickelte zu diesem Zweck nicht nur ein erstaunlich differenziertes demographisches Modell, sondern präsentierte auch umfangreiches empirisches Material, das er vor allem aus brandenburgischen Kirchenbüchern gewonnen hatte.1 Als Malthus mehr als ein halbes Jahrhundert später seinen berühmten »Essay« schrieb, war Süßmilchs Arbeit schon in vierter Auflage erschienen und hatte ihrem Verfasser den Rang eines Oberkonsistorialrats und die Mitgliedschaft in der Königl. Preußischen Akademie der Wissenschaften eingebracht.2 Für die zweite und die folgenden Auflagen seines »Essays« zog Malthus die von Süßmilch erhobenen Daten in großem Umfang heran. Er sah darin eine Bestätigung seiner eigenen Theorie des »preventive check«.3 Mit Mißfallen erfüllte ihn allerdings das Streben von Süßmilch, Heiraten zu ermutigen; dies könne - so Malthus - nichts anderes als eine »erhöhte Sterblichkeit nach sich ziehen«. 4 Nach den Napoleonischen Kriegen verdrängte Malthus Süßmilch auch in Mitteleuropa von der Bühne des demographischen Diskurses. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde letzterer allerdings wieder erkannt als jener deutsche Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, »welcher das Bevölkerungswesen am gründlichsten und am umfassendsten behandelt hat«, 5 und in den Bevölkerungslehren der 1930er Jahre erlebte Süßmilch eine dauerhafte Renaissance. Die heute weithin vertretene Auffassung einer »agrarischen Bevölkerungsweise« geht - wie weiter unten dargestellt werden wird - im wesendichen auf ihn zurück.6 Man kann ohne Ubertreibung sagen, daß Süßmilch auf die theoretische Entwicklung der Bevölkerungswissenschaft im deutschsprachigen Raum mindestens ebensoviel Einfluß ausübte, wie Malthus auf den angelsächsischen Diskurs. 34

Dem Heiratsverhalten räumt Süßmilch in seiner Darstellung großen Raum ein, wobei er verschiedene Denkfiguren seiner Zeit ineinander fließen ließ: eine naturrechtlich begründete Auffassung von Familie und Ehe; eine äußerst optimistische Einschätzung des Bevölkerungswachstums im Sinne der Populationistik; die später von den französischen Physiokraten ausformulierte Vorstellung, daß eine nicht zu große und nicht zu kleine bäuerliche Familienwirtschaft die optimale Form der Agrarproduktion sei; die Hoffnung auf die Weisheit des absoluten Fürsten und die Rationalität des bürgerlichen Individuums; und schließlich das Konzept der »Nahrung«, der zentralen sozialpolitischen Kategorie des 18. Jahrhunderts. Diese keineswegs einheitlichen Theorieansätze versuchte er in ein harmonisches Ordnungsmodell zu integrieren.7 Ausgangspunkt ist für Süßmilch die Auffassung der Natürlichkeit und Vernünftigkeit der Ehe. Dem »natürliche Triebe zur Fortpflanzung«, den Menschen »durch die Weisheit des Schöpfers eingepflanzet«, sei »auf eine ordentliche und eheliche Weise ein Genüge zu leisten«.8 »Es war sein Wille, daß die Menschen sich auf eine der Würde der menschlichen Natur gemäße Weise vermehren, und nicht Thiere, sondern Menschen von Menschen entstehen sollten, wozu beydes, Erzeugung und Erziehung, eins so nöthig war als das andere, folglich beydes nicht ohne den Ehestand erfolgen konnte, wenn es beysammen seyn sollte.«9

Abzulehnen sei demnach sowohl das Zölibat als auch »Hurerey und Concubinat«.10 Da zugleich »in der Menge der Einwohner... die Glückseligkeit eines Staates bestehe«, sei es eine vordringliche Aufgabe, »die Hindernisse der Ehen aus dem Wege zu räumen.«11 »Ein Regent muß zuerst allen gewaltsamen Hindernissen der Ehe und der Vermehrung Widerstand leisten, so viel in seinem Vermögen ist... [er] muß also keinen vom Ehestande abhalten, er sey ein Geistlicher, oder Weltlicher, oder ein Soldat.«12 »Derjenige Fürst handelt klüglich,... der die innerlichen und heimlichen Hindernisse der Ehen, als den größten Feind des Staates betrachtet.«13

Süßmilch sieht drei Arten von Ehehindernissen, die durch kluge Staatspolitik beseitigt werden könnten: Erstens solle niemand durch »äußerlichen Zwang, ... durch Gesetze und mit Gewalt vom Heyraten abgehalten werden«;14 zweitens solle sich der Fürst hüten, zu seiner Bereicherung und zur Erhöhung der Einkünfte des Staates »willkürliche Auflagen« vorzunehmen und damit die Verarmung des Volkes zu fördern, was die Heiratsneigung verringere;15 und drittens propagierte er ein ganzes Bündel gemäßigter antifeudaler Maßnahmen, mit dem eine Schicht freier bäuerlicher Eigentümer geschaffen werden könne.16 Von allen diesen rechtlichen und ökonomischen Maßnahmen erhofft Süßmilch eine Förderung der Eheschließung. Zugleich formuliert er aber auch einschränkende Bedingungen der Ehe. Es 35

sei nicht wünschenswert, »daß ein jeder heyraten könne, wenn er die dazu erforderlichen Kräfte und Jahre erreicht hätte«. 17 Vielmehr seien der »völligen Freyheit« durch die »Verfassung unseres bürgerlichen und gesellschaftlichen Lebens, und die Politic« Schranken gesetzt. 18 Neben den abzulehnenden äußeren oder zwangsweisen Ehehindernissen gebe es solche, »die von der klugen Vorsicht der Menschen entstehen«.19 Wie dies in der Naturrechtsdiskussion selbstverständlich war, setzt auch Süßmilch »Mensch« gleich »Mann«, und entsprechend dem bürgerlichen Familienmodell sah er ihn auch als den alleinigen Ernährer der Familie.20 »Wer sich zum Heyrathen entschließt, der übernimmt auch zugleich Pflichten, die ihn zum Unterhalt einer Familie verbinden. Wenn es daher an Gelegenheit zum Unterhalte fehlet, so wird der Entschluß gehemmet ...21 Jedermann frägt erst vorsichtig: Woher Brodt für Frau und Kinder?« 22 Die Gelegenheit zum Unterhalt einer Familie bestimmt sich nun für Süßmilch in erster Linie aus der Verfugung über eine »Haushaltung«, »Nahrung« oder »Handtierung«. 23 Die Wirtschaft eines Landes erschien ihm aus einer bestimmten Zahl von »Nahrungen« zusammengesetzt, ökonomischen Einheiten, die jeweils einer Familie Unterhalt gewähren. Ebenso wie die Zahl dieser »Nahrungen« »bey der altväterlichen Weise und Wirtschaft« 24 begrenzt sei, so sei es auch der wirtschaftliche Umfang jeder einzelnen von ihnen - zumindest als anzustrebendes, der Vernunft entsprechendes Programm. 25 Sind alle »Haushaltungen« »besetzt« oder alle »Nahrungen« »angefüllt«, würde es natürlich der »klugen Voraussicht« der Bürger widersprechen, eine Familie zu gründen. Allerdings sei es nicht nur »Staatsklugheit«, sondern geradezu »Pflicht« der Fürsten, »auf neue Nahrungsmittel zu denken, und dadurch neue Reizungen zum Heyrathen zu verschaffen«, sei es durch die Einrichtung neuer Unternehmungen oder durch die Aufteilung von Domänen oder großen Eigenwirtschaften. 26

2. Heirat und » N a h r u n g « Die sozialökonomische Struktur, die Süßmilch hier entwirft, ist um die »Nahrung« als zentrale Kategorie gruppiert. Es handelt sich um einen vor allem im städtisch-handwerklichen Milieu verwurzelten Begriff, der im 17. und 18. Jahrhundert von merkantilistischen Schriftstellern aufgenommen wurde, schließlich in die staatliche Gesetzgebung einging und zu einem sozial- und ordnungspolitischen Leitbegriff des Anden Regime in Mitteleuropa wurde. 27 Er zielt auf eine Gesellschaft kleiner Warenproduzenten, die, geschützt vor Konkurrenz und Wachstum, den einzelnen Hausvätern samt ihren Familien und Dienstboten ein hohes Maß an sozialer Sicherheit und ein sozial ausgeglichenes, standesgemäßes Auskommen bieten sollte. Als im 18. Jahrhundert die Schließungsbestrebungen der Zünfte und die auf Minimie36

rung der Sozialausgaben bedachte Politik vieler Stadtobrigkeiten mit kapitalistischem Wachstumsstreben und Proletarisierungstendenzen zusammenprallten, wurde »Nahrung« zu einer zentralen Argumentationsfigur. 28 Insofern handelt es sich um eine ambivalente Kategorie. Sie enthält Elemente einer idealtypischen Zustandsbeschreibung vorkapitalistischer kleiner Warenproduktion, verdankt ihre realhistorische Bedeutung aber vor allem der Funktion als sozialkonservativer, gegen Wettbewerb und unkontrolliertes Wachstum gerichteter, ideologischer Kampfbegriff. Johann Peter Süßmilch führte den Begriff der »Nahrung« in die Bevölkerungswissenschaft ein, wobei er eben diese Ambivalenz bewahrte. »Nahrung« ist ihm zum einen Programm, und zwar antifeudales Programm, das die Auflösung von Frondiensten, die Herstellung bäuerlicher Eigentumsrechte und die Aufteilung des Großgrundbesitzes auf Kleineigentümer - alles gedacht als im Interesse des absolutistischen Staates gelegen - begründen sollte.29 Andererseits sieht er in der »Nahrung« ein tatsächlich herrschendes Regelsystem, das Eheschließungen und ökonomische Ressourcen im Gleichgewicht hält; ein »natürliches«, »aus der Bevölkerung selbst« erwachsendes Ehehindernis: »Jedes Dorf hat seine abgemessene Flur und gewisse Zahl Ackerhöfe, wozu dann noch eine proportionierliche Zahl Tagelöhner und Handwerker gehören. Hat jedes Dorf so viel Menschen und Familien, als es braucht; so erlangt das Heyraten einen Stillstand. Die ledigen und erwachsenen Leute können daher nicht heyraten, wenn sie wollen, sondern wenn der Tod Platz macht. Daher in einer hinlänglich besetzten und bevölkerten Provinz nur jährlich eine gewisse Zahl neuer Ehen entstehen kann. Solange aber noch eine Gelegenheit zur Nahrung vorhanden ist, so lange noch unbebaute Ackerhöfe oder nicht genutzte Felder vorhanden sind; so lange folgt der Mensch dem natürlichen Triebe, und sucht zu heyraten«,

während umgekehrt, »wenn die Nahrungen und Hantierungen besetzt sind, einer auf des anderen Tod warten müsse«. 30 Deswegen sei auch »das späte Heyrathen« darin begründet, daß das »Land bevölkert und die Nahrungen besetzt sind«. 31 »Jetzt wird selten vor dem 30sten Jahre vom männlichen Geschlecht daran gedacht, sowohl in Städten als auf Dörfern, wo alle Haushaltungen besetzt sind, und also Unterhalt und Verdienst fehlen.« 32 Für die Städte schienen ihm neben der Zahl der »Nahrungen« auch die Preise der Nahrungsmittel »einen großen Einfluß« auf das Heiratsverhalten auszuüben, insbesondere bei Lohnarbeitern und »Civilbedienten«, deren Lohn oder Gehalt bedauerlicherweise »nicht in eben der Proportion steiget«, wie dies bei den Preisen der Fall sei.33 Diese Formulierungen bilden den Kern dessen, was knapp 200 Jahre später zur »agrarischen Bevölkerungsweise« (Mackenroth) stilisiert und zu einer weithin anerkannten Denkfigur werden sollte. »Klarer können«, wie Hartmut Harnisch meint, »die wesentlichen Elemente eines Populationsgesetzes des 37

Feudalismus kaum umschrieben werden«.34 Der Erfinder dieses Gesetzes selbst war freilich vorsichtiger. »Wer kann aber die innerliche Verfassung von einer Stadt, noch mehr aber von einem Lande, so genau kennen? Wer kann es wissen, daß ein Land hinlänglich besetzt, und daß weder der Ackerbau, noch die Handwerker und Manufacturen in Städten einen größeren Zuwachs leiden?«35

3. Ordnungsbestrebungen des 19. Jahrhunderts Für Süßmilch war das Verhältnis von Einwohnerzahl und ökonomischen Ressourcen ein zentrales Thema der Bevölkerungswissenschaft. In seiner Auffassung, die fur die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts bestimmend blieb, handelte es sich um ein im wesentlichen harmonisches Verhältnis, das durch behutsame Eingriffe der Fürsten weiter optimiert werden könne. Das frühe 19. Jahrhundert führte auch im deutschsprachigen Raum zu einer radikalen Wende der Bevölkerungslehren. Das Verhältnis von Volkszahl und Ökonomie wurde weiter als Angelpunkt betrachtet, es erschien aber im Vormärz erschüttert und gestört.36 Das schnelle Anwachsen unselbständiger und materiell ungesicherter sozialer Schichten wurde mit Hilfe der Bevölkerungstheorie als »Übervölkerung« interpretiert und diese wiederum als Ursache wirtschaftlicher Krisen und drohenden Aufruhrs verstanden.37 Lorenz von Stein hat den sozialen Kern dieser theoretischen Wende treffend charakterisiert: Die Furcht vor der »Übervölkerung« bezog sich nicht auf das Wachstum der »Menschheit im Ganzen«, sondern darauf, daß »innerhalb der Menschheit die nichtbesitzende Classe« anwuchs. »Es war das in der Tat die Form, in der die Gegensätze zwischen den Classen und der neuen staatsbürgerlichen Gesellschaft in der Bevölkerungslehre zur Erscheinung, und mit der letzteren auch plötzlich zur Geltung gelangten.«38 Ein gesellschaftliches Klima sich zuspitzender sozialer Probleme und Spannungen bildete einen günstigen Boden für Malthus' Theorien, die ab etwa 1830 im deutschsprachigen Raum verstärkt rezipiert wurden.39 Seine liberale, die moralische Eigenverantwortung jedes einzelnen Individuums betonende Haltung fand hier aber keine Basis. In Mitteleuropa sah man vielmehr in obrigkeidichen oder herrschaftlichen Zwangsmaßnahmen die Rettung vor der »Übervölkerung«. Dies konnte, seit die Bevölkerungslehre eine Abhängigkeit des Volkswachstums vom Heiratsverhalten postuliert hatte, nur Ehebeschränkungen für diejenigen Klassen bedeuten, deren Anwachsen die bürgerliche Gesellschaft mit Furcht und Schrecken erfüllte. Die führenden Staatswissenschaftler der Zeit, allen voran Robert von Mohl, forderten staatliche Zwangsmaßnahmen gegen die »Übervölkerung« in Form von Eheverboten für Unbemittelte.40 Tatsächlich führten die meisten 38

deutschsprachigen Staaten im Vormärz administrative Heiratsbeschränkungen ein, mit denen sie bis in die 1860er Jahre das Heiratsverhaiten der Unterschichten zu kontrollieren versuchten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeichnen sich im deutschsprachigen Diskurs zwei unterschiedliche Strömungen ab. Die in der englischen Tradition vorherrschenden Auffassungen eines engen Zusammenhangs zwischen Heiratsverhalten und konjunktureller Entwicklung wurden nun auch hier aufgegriffen. Vor allem die fuhrenden Statistiker Mitteleuropas hoben den Einfluß wirtschaftlicher Wechsellagen auf das Heiratsverhalten hervor. Rauchberg in Österreich, Engel in Sachsen und später in Preußen, werteten ein niedriges Heiratsalter und eine hohe Heiratshäufigkeit als Ausdruck einer günstigen ökonomischen Lage. Sie sahen einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Getreidepreisen und Heiratsverhalten.41 Eine umfassendere bevölkerungstheoretische und -geschichtliche Diskussion wurde aber nicht in der Statistik, sondern im Kontext der Nationalökonomie gefuhrt.42 Hier setzte um 1870, nur wenige Jahre nachdem auf gesetzlicher Ebene alle administrativen Ehebeschränkungen beseitigt worden waren, eine neuerliche Rezeption Malthusscher Ideen ein. Bis etwa zur Jahrhundertwende spielten, wie dies schon im Vormärz der Fall gewesen war, Befürchtungen vor einer »Übervölkerung« eine große Rolle, und neuerlich wurden zur Abhilfe restriktive Regelungen des Heiratsverhaltens vorgeschlagen. Vor allem der Nationalökonom Adolf Wagner vertrat die Auffassung, daß es das »unveräußerliche Recht der Gesellschaft« sei, gesetzliche Ehebeschränkungen einzuführen, wenn die Bevölkerung schneller wachse als ihre Unterhaltsmittel.43 Eine Erhöhung des gesetzlichen Heiratsalters schien ihm dabei ein taugliches Mittel zu sein.44 Etwa mit der Jahrhundertwende vollzog sich neuerlich ein grundlegender Wandel des Diskurses. Mit der Wahrnehmung einer beginnenden innerehelichen Geburtenkontrolle und dem darauf folgenden Geburtenrückgang wurde nun nicht mehr ein zu großes, sondern ein zu kleines Wachstum der Bevölkerung als Bedrohung angesehen.45 Im Kontext nationalistischer und imperialistischer Ideologien, und getragen von sozialbiologischen und sozialdarwinistischen Denkmustern, wurde diese nunmehr gewendete »Bevölkerungsfrage« zum Gegenstand einer intensiven öffentlichen Debatte. Das Heiratsverhalten trat dabei allerdings völlig in den Hintergrund. Die Sterblichkeit und vor allem die Geburtenhäufigkeit galten als die wesentlichen Faktoren der Bevölkerungsentwicklung und wurden ausführlich diskutiert. Heiratsalter und Heiratshäufigkeit schienen dagegen für das »Volkswachstum« nicht sonderlich relevant zu sein und zogen deshalb kaum mehr bevölkerungswissenschaftliches Interesse auf sich.46 Darin kommt sicherlich zum Ausdruck, daß in dieser Periode - mit Ausnahme von Krisenjahren institutionelle oder ökonomische Ehehindernisse nicht mehr bestanden und 39

die Eheschließung in höherem Maße zu einer allgemeinen sozialen Norm geworden war als in den Jahrzehnten vorher oder auch wieder im späten 20. Jahrhundert.

4. Das Heiratsverhalten im Kontext der nationalsozialistischen »Volkslehre« In den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft wurde das Heiratsverhalten neuerlich Gegenstand öffentlichen Interesses. Im »rassenhygienischen« Diskurs wurden Ehekontrollen und Heiratsverbote diskutiert,47und in einer Reihe von Gesetzen tatsächliche Ehebeschränkungen verfugt. Es ging darum, »auf dem Gebiete des Rechts der Eheschließung die Grundsätze einer gesunden Erb- und Rassenpflege« durchzusetzen, wie es ein Beamter des Reichsjustizministeriums ausdrückte.48 Entsprechende Bestimmungen enthielten schon 1933 Reichsbeamtengesetze und das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«, und schließlich das Nürnberger »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« von 1935, das Eheschließungen »zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes« gänzlich verbot.49 Der § 1 dieses Gesetzes handelte von der »Unerwünschtheit der Ehe für die Volksgemeinschaft«.50 Umgekehrt schuf der NS-Staat für »erbgesunde deutsche Volksgenossen« mit Ehestandsdarlehen finanzielle Anreize zur Heirat.51 Das nationalsozialistische Regime förderte aber auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Heiratsverhalten im Kontext von Bevölkerungstheorie und -geschichte.52 Dazu gehörten Versuche einer Neuformulierung der Bevölkerungstheorie im Kontext der nationalsozialistischen »Volkslehre«.53 Der Konstruktion von »Bevölkerungsweisen« als Systeme der Wechselbeziehung von generativen und ökonomischen Strukturen, in denen den Heiratsverhältnissen ein wichtiger Stellenwert zugemessen wurde, kam dabei eine tragende theoretische Rolle zu. Sie erfolgte im Rückgriff-auf Gedanken der Populationisten und Physiokraten des 18. Jahrhunderts sowie auf Rechtfertigungsideologien der administrativen Ehebeschränkungen aus dem Vormärz. Diese Elemente wurden zu einer geschlossenen Theorie des Heiratsverhaltens im vorindustriellen Europa ausgebaut. Der Begründer dieses theoretischen Ansatzes war Gunther Ipsen.54 In zahlreichen Schriften entwickelte er ab 1933 das Konzept der »Bevölkerungsweisen«.55 Ipsen griff dabei ausdrücklich auf Süßmilch zurück, dessen »göttliche Ordnung« gegenüber den liberalen und individualistischen Entartungen des 19. Jahrhunderts die wesentlichen Elemente einer Bevölkerungstheorie enthalte.56 Die vorindustrielle Gesellschaft beschreibt Ipsen als »geschlossenes System«, in dem die Fortpflanzung auf die Familie beschränkt sei. Jede 40

Familie sei nun wiederum an eine sie ökonomisch tragende 'Stelle' gebunden, sei es ein Bauernhof oder ein Handwerkerhaus. Eine neue Familie könne demnach nur gegründet werden, wenn eine Stelle frei würde. »Da in der germanischen Agrarverfassung oder der mittelalterlichen Handwerksordnung die Stellenzahl grundsätzlich festliegt«, sei dies nur möglich im »vorgezeichneten Rahmen«, nur »abgegangene 'Stellen' [könnten] neu besetzt« werden. 57 Dabei sei aber eine unterschiedliche »Wertigkeit« der »Stellen« zu beobachten: »Es gibt Vollstellen, die die ganze Arbeitsleistung einer Vollfamilie beanspruchen, deren Ertrag ihr aber auch ein angemessenes Dasein gewährt; es gibt Kleinstellen mit schrumpfender Tragfähigkeit, die nur beschränkt und vermindert eine Familie ernähren; es gibt endlich Teilstellen, die nur eine ledige Arbeitskraft tragen. Die Teilstellen sind daher vom ehelichen Gattungsvorgang ausgeschlossen und gehören unmittelbar nur der Arbeitsverfassung an.« 58

Diese Aufgliederung sei »eine der großen und geschichtlich trächtigsten Leistungen des germanischen Bauerntums.« 59 Sie sei in der Familienverfassung und im geschlosssenen Erbgang angelegt, die jeweils nur einem Sohn (dem Anerben) und einer angeheirateten Tochter eine »volle Stelle im bäuerlichen Lebensraum zuwiesen [...] Den nachgeborenen Söhnen und Töchtern aber sind im Dorfe Teilstellen bestimmt, sei es als ledige Angehörige in der geschwisterlichen Hofgemeinschaft, sei es als familienfremdes Gesinde beim Nachbarn. Indem sie von dem Gattungsvorgang überwiegend ausgeschlossen sind, stirbt der Überschuß nach jedem Menschenalter ab.« 60 Herrschaftliche und väterliche Gewalt garantiere diese »Selbstregelung des Bevölkerungsstandes ... von der Mitte des 14. bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts [...] Hufenverfassung und Schollenpflichtigkeit, Herrenrechte auf Gesinde, Ehe- und Erbregelungen erzwingen in den meisten Fällen die Ehelosigkeit der Überzähligen.« 61 Erst die Bauernbefreiung habe dieses »geschlossene System der Gesellschaft«, die »bindende Kraft des Bauerntums« aufgelöst und damit eine ungehemmte Bevölkerungsvermehrung entfesselt. »Diese Entfesselung wirkte sich um so ungehemmter aus, je weniger die betreffenden sozialen Schichten bisher aus eignem Zuchtwahl und Geburtenregelung übten und je weniger Erb- und Standesinteressen einer schrankenlosen Vermehrung entgegenstanden: am stärksten also bei den untersten Schichten der ländlichen Bevölkerung - das Elend produzierte sich selbst, sobald das Triebleben freigesetzt war.« 62

Diesen Ansatz griff, ebenfalls in den 1930er Jahren, Gerhard Mackenroth auf.63 Er fügte Ipsens Entwurf inhaltlich nichts Neues hinzu, formulierte aber vor allem die Funktion des Heiratsverhaltens in diesem System aus. Mackenroth geht davon aus, daß im vorindustriellen Europa »Bevölkerungsvorgang und Wirtschaftsprozeß in einen Gleichtakt der Entwicklung« gezwungen

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gewesen wären.64 »Heiratshäufigkeit und Heiratsalter« erscheinen ihm dabei als die strategischen Variablen, »durch die Bevölkerung und Nahrungsspielraum aufeinander abgestimmt werden«.65 Wie Malthus mißt er also dem Heiratsverhalten die entscheidende Bedeutung für die Regelung des Bevölkerungswachstums zu. Ein wesentlicher Unterschied besteht allerdings darin, daß Mackenroth erstens ein grundsätzlich harmonisches Verhältnis zwischen Bevölkerung und ökonomischen Ressourcen im vorindustriellen West- und Mitteleuropa annimmt und zweitens das Heiratsverhalten nicht als Ergebnis individueller, moralisch oder sozial motivierter Entscheidungen betrachtet, sondern als Element eines obrigkeitlich abgesicherten Ordnungssystems.66 Dessen Wesen bestehe in der Trennung von »Vollstellen« und »generativ nicht vollwertigen Stellen«: »Eheschließung ist in den zahlenmäßig allein ins Gewicht fallenden Bevölkerungsschichten, den Bauern und Handwerkern, an die Erlangung einer 'Vollstelle' als Bauer oder Meister gebunden. Deren Zahl ist aber beschränkt und verändert sich nur dann, wenn sich auch der Nahrungsspielraum ausweitet durch Siedlung, Landesausbau oder Steigerung der Produktivität. Dann gibt es auch mehr Stellen, die nicht erbenden Söhne können früher heiraten oder es können solche heiraten, die sonst überhaupt nicht zur Familiengründung kommen, die Heiratshäufigkeit steigt und das Heiratsalter sinkt. So ist die Bevölkerung bei solcher generativer Struktur immer latent gegen den Nahrungsspielraum gespannt. Weitet er sich aus, so zieht die Bevölkerung nach, dann wird vermehrt geheiratet und geboren. Weitet er sich aber nicht aus oder schrumpft sogar, so drückt sich das in einer Verminderung der Zahl der Vollstellen aus und ein immer größerer Teil der Neugeborenen wird in die generativ nicht vollwertigen Stellen der Knechte und Mägde und Gesellen, der 'Junggesellen' gezwungen, Stellen, die gar nicht auf Familiengründung hin ökonomisch ausgestattet sind und in reicher Abstufung bis zur Mitarbeit der Kinder in Haus und Hof und Werkstatt die gesamte ledige Bevölkerung wirtschaftlich einsetzbar machen.«67

Wo dieses Heiratsverhalten nicht aus Besitzrücksichten freiwillig geübt werde oder sich im Laufe der Zeit habitualisiert habe, werde es von Obrigkeiten wie den Grundherrschaften, Zünften und schließlich dem »absoluten Staat« durchgesetzt. Ehelosigkeit und hohes Heiratsalter wären als »institutionelle Sterilisierung« zu betrachten, ein »für den betroffenen einzelnen vielleicht sehr harter Zwang, aber Wirtschaft, Sozialaufbau und Bevölkerung sind dabei aufeinander abgestimmt«.68 Darin besteht für Mackenroth »die vorindustrielle alte Bevölkerungsweise der europäischen Völker«.69

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5. Heiratsverhalten und »Nahrungsstelle« in der neueren deutschen Bevölkerungsgeschichte Dieses Modell war wissenschaftsgeschichtlich äußerst erfolgreich. Es wurde in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft weithin zustimmend rezipiert und, meist unhinterfragt, aufgegriffen. 70 Analogien zu dem in der internationalen Demographie seit den 1960er Jahren weit verbreiteten Modell einer »Ökonomie der Nischen« haben die Rezeption der Traditionslinie Süßmilch-Ipsen-Mackenroth gefördert. 71 In Frankreich haben nicht zuletzt Jacques Dupäquier und Pierre Chaunu dieses Modell vertreten, und in England E.A. Wrigley, bevor die empirischen Arbeiten an der »Population History of England« Zweifel an seinem Realitätsgehalt hervorriefen.72 Damit erlangt es zeitweilig den Rang eines »gemeineuropäischen« Erklärungsmusters des Heiratsverhaltens vor der Industriellen Revolution, das auch von deutschen Sozialhistorikern aufgegriffen wurde. Für Hans Medick bildete das Konzept der »agrarischen Bevölkerungsweise« eine zentrale Kategorie, um die spezifisch neuen Züge eines protoindustriellen demographischen Systems auszuarbeiten und kontrastieren zu können. Sie garantiere »den Ausgleich von Bevölkerung und prinzipiell knappen Ressourcen dadurch, daß Heirat und Familiengründung an den Besitz einer in der Regel ererbten bäuerlichen und gewerblichen Vollstelle gebunden waren. Diese Bindung wurde durch herrschaftliche Kontrollen und die Erzwingung eines sozial differenzierten generativen Verhaltens durchgesetzt: Ein relativ hohes Heiratsalter, das sich schichtenspezifisch von oben nach unten erhöhte, bewirkte als die 'eigentliche Waffe der Geburtenkontrolle im Europa des Ancien R£gime' (P. Chaunu) eine eingeschränkte Fertilität und im Grenzfall den Ausschluß der Unterschichten von der Heirats- und Fortpflanzungsmöglichkeit überhaupt.« 73 Noch weiter geht Hartmut Harnisch. Er sieht durch die »Trennung zwischen den familientragenden Vollerwerbstellen und den für eine Familiengründung nicht ausreichenden Stellen (Knechte, Mägde, Gesellen)« sogar »das Bevölkerungsgesetz des 'reinen' Feudalismus« bestimmt. Dieses Gesetz habe Gültigkeit ungeachtet der konkreten sozialökonomischen Strukturen, es gelte sowohl unter den Bedingungen der Grundherrschaft, etwa bei den Geldrente leistenden Bauer Bayerns oder Westfalens, als auch unter den Bedingungen der Gutsherrschaft, bei den zum Frondienst verpflichteten ostelbischen Großbauern. Ebenso sei auch die »spätfeudale Stadt« durch das »Prinzip der Nahrungsstelle bestimmt«. 74 Peter Marschalck, der 1984 die bisher letzte Bevölkerungsgeschichte Deutschlands veröffentlicht hat, spricht von einem »Entwurf der vorindustriellen Bevölkerungsweise, welcher das tatsächliche Bevölkerungsgeschehen, das gesamte generative Verhalten der vorindustriellen Zeit bis in das 19. 43

Jahrhundert hinein erklärt«.75 Von der Vorstellung eines harmonischen Gleichgewichts zwischen Bevölkerung und ökonomischen Ressourcen rückt er ab, um die Notwendigkeit obrigkeitlicher Zwangsmaßnahmen bei der Eheschließung umso stärker zu betonen: Gerade die ökonomischen und sozialen Veränderungen der vorindustriellen Gesellschaft seien es gewesen, »auf die mit der vorindustriellen Bevölkerungsweise, mit einem obrigkeitlich durchsetzbaren und mit starken Sanktionsmöglichkeiten versehenen Regelsystem, reagiert werden mußte«.76 Zuletzt hob Wolfgang Köllmann in einem Forschungsbericht zum Stand der deutschen Bevölkerungsgeschichte die theoretische Linie SüßmilchIpsen-Mackenroth hervor und meinte, in einer polemischen Wendung gegen die »Mikroanalyse der Historischen Demographie«, daß nur sie imstande sei, die »'Ordnung5 des Bevölkerungsprozesses [zu] erkennen«.77 Soweit unser Überblick über die Entwicklung theoretischer Ansätze zum Heiratsverhalten in Mitteleuropa. Sowohl die wissenschaftliche Diskussion wie auch manche ihrer Ausläufer im politischen Handeln folgen einem anderen Leitmotiv, als dies in England der Fall war. Von Süßmilch bis in unsere Tage ist die mitteleuropäische Diskussion von der Auffassung eines herrschaftlich-institutionellen Regelsystems des Heiratsverhaltens dominiert. Als communis opinio der damit befaßten, von ganz unterschiedlichen theoretischen Positionen kommenden Autoren erscheinen hohe Ledigenquoten und ein hohes Heiratsalter als Funktionen eines Bevölkerungsgesetzes, das Volkszahl und Ökonomie im Gleichgewicht hält. Die hohe Obrigkeit, vom absoluten Fürsten über den Grundherrn bis zum Hausvater, tritt als Agent dieses Gesetzes in Erscheinung und zwingt es mit fürsorglich-ordnender Hand allen jenen auf, die sich ihm nicht aus eigener Einsicht, aus Gewohnheit oder Habitus beugen.

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IV Der politische Ehekonsens in Mitteleuropa Die Annahme eines obrigkeitlichen Regelsystems des Heiratsverhaltens in Mitteleuropa wirkt auf den ersten Blick plausibel. Tatsächlich lassen sich hier - in scharfem Kontrast zu England - im Lauf der Neuzeit immer wieder Versuche herrschaftlicher bzw. staatlicher Einflußnahmen auf das Heiratsverhalten der jeweiligen Untertanen feststellen. In einer Reihe deutschsprachiger Staaten führten sie um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu systematischen gesetzlichen Regelungen, dem »politischen Ehekonsens«. Dies stellt eine historische Untersuchung des Heiratsverhaltens vor die Aufgabe, Inhalte, Verbreitung und Auswirkungen einer restriktiven Ehegesetzgebung abzuschätzen. Dabei sind zwei Ebenen der Analyse zu unterscheiden. Ein unmittelbarer Zusammenhang besteht zwischen den spezifisch mitteleuropäischen Theorien über das Heiratsverhalten und dem politischen Ehekonsens. Ehegesetze können als Ausläufer von Bevölkerungstheorien in politische Programme und rechtliche Satzungen verstanden werden, und umgekehrt wirkten bevölkerungspolitische Absichtserklärungen und Rechtsordnungen auf die demogaphische Theoriebildung zurück. Die Geschichte des politischen Ehekonsenses ist damit ein Bestandteil der Dogmengeschichte der Bevölkerungswissenschaft. Sie kann insbesondere dazu beitragen, die Rezeption demographischer Theorien zeitlich und regional zu präzisieren. Das folgende Kapitel versucht deshalb im Anschluß an die Darstellung der mitteleuropäischen Theorien über das Heiratsverhalten eine Bestandsaufnahme der zeitlichen und räumlichen Erstreckung des politischen Ehekonsenses. Weniger eindeutig ist dagegen die Beziehung zwischen obrigkeitlichen Ordnungsbestrebungen und dem realen Verhalten der Menschen. Hatte eine restriktive Ehegesetzgebung Einfluß auf Heiratsalter und Heiratshäufigkeit? War sie einer der Faktoren, die zum Anstieg des Heiratsalters und der Ledigenquoten im Mitteleuropa des 18. und 19. Jahrhunderts beitrugen? Diese Fragen sollen erst im Zusammenhang mit der Kritik bevölkerungsgeschichtlicher Theorien in Kapitel V diskutiert werden.

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1. Herrschaftliche Einflußnahmen auf das Heiratsverhalten Für die ständischen Gesellschaften der Frühen Neuzeit sind herrschaftliche Einflußnahmen auf das Heiratsverhalten durchaus anzunehmen. Allerdings ist es sehr schwer, sich ein genaueres Bild über sie zu machen. Dies gilt in bezug auf die rechtlichen Normen und ihre verwaltungsmäßige Durchsetzung ebenso wie in bezug auf die tatsächlichen Auswirkungen.1 Unter den Bedingungen der Grundherrschaft scheint im 16. und 17. Jahrhundert ein Zusammenhang zwischen bäuerlichen Besitz- und Erbrechten einerseits und dem Zeitpunkt der Heirats- und Hofübergabe andererseits bestanden zu haben: Je stärker der grundherrschaftliche Einfluß, desto stärker im Interesse eines körperlich tüchtigen Wirts der Druck in Richtung einer frühen Hofübergabe, desto verbreiteter auch das Ausgedinge. Je stärker die Erb- und Kaufrechte der Bauern waren, desto mehr neigten Altbauern dazu, den H o f bis zum Lebensende zu führen.2 Darüber hinaus dürfte sich der obrigkeitliche Einfluß weniger auf das Heiratsverhalten der Untertanen selbst konzentriert haben als vielmehr auf die bei der Hochzeit zu erwartenden Taxen, Gebühren oder Schankeinnahmen.3 In den Gebieten der Gutsherrschaft bestanden direktere Eingriffsmöglichkeiten. Für Böhmen wurde etwa ein seit dem 16. Jahrhundert bestehender enger Zusammenhang zwischen dem Arbeitskräftebedarf der Güter, der zunehmenden persönlichen Abhängigkeit der Bauern und dem obrigkeitlichen Ehekonsens nachgewiesen.4 Das Hauptinteresse der Herrschaften galt aber auch hier nicht dem Heiratsverhalten ihrer Untertanen an sich, sondern vielmehr der Beschränkung ihrer Freizügigkeit, dem Verhindern des Wegheiratens in einen anderen Herrschaftsbereich. So vage unser Kenntnisstand auch ist, so deutet doch nichts darauf hin, daß auf dem flachen Land obrigkeitliche Hemmungen oder Beschränkungen der Eheschließung die Regel gewesen wären; eher scheinen sich die Interessen der Grundherrn auf die Förderung der Heiraten gerichtet zu haben.5 Etwas anders mag es in den Städten gewesen sein. Hier fanden sich vielfach Beispiele der Art, daß die Eheschließung an die Zustimmung des Rats gebunden bzw. an die Aufnahme in den Bürgerverband, in eine Berufskorporation oder an Besitz und Einkommen geknüpft war.6 Auch hier ist allerdings die Vielfalt normativer und praktischer Regelungen kaum abzuschätzen.7 Eine durchgängige Politik restriktiver Ehebeschränkungen ist am ehesten in den protestantischen Reichsstädten zu vermuten.8 In den ständischen Gesellschaften der Frühen Neuzeit war die Ehe »ein Privileg (und) keineswegs ein Rechtstitel«.9 Feudale Abhängigkeit und die Exklusivität städtischer Bürgerrechte begründeten ohne Zweifel die Möglichkeit zur Einflußnahme auf das Heiratsverhalten. Damit ist aber noch nichts über ihre Intensität und Zielrichtung ausgesagt. Klare Konturen nehmen 46

obrigkeitliche Einflußnahmen auf das Heiratsverhalten erst mit der Herausbildung der frühmodernen Territorialstaaten und schließlich mit deren Entwicklung zu bürgerlichen Verfassungsstaaten an. Im säkularen Trend waren die Loslösung der Ehe von feudalen und kirchlichen Ansprüchen, ihre Unterwerfung unter staatliches Recht und ihr Verständnis als privatrechtlicher Vertrag ihre wesentlichen Inhalte.10 Damit wurde begründet, was man im 19. Jahrhundert »Freiheit der Ehe« oder auch »Freiheit der Eheschließung« nannte: die Ehe als persönliches Verhältnis, das ausschließlich nach dem individuellen Willen der Gatten eingegangen werden sollte, bzw. als bürgerlicher Vertrag, zu dem es weder eine Verpflichtung noch eine Beschränkung aus Gründen des Standes, des Besitzes oder der Religion zu geben habe. Die Entwicklung eines so verstandenen öffentlichen Eherechts vollzog sich überall in Europa mit der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaften. Mitteleuropa weist dabei aber im Vergleich zu Westeuropa eine spezifische Abweichung auf. Die Durchsetzung der staatlichen Ehegesetzgebung hatte in einer ganzen Reihe deutschsprachiger Staaten nicht nur die »Freiheit der Eheschließung« zum Inhalt, sondern zugleich auch den Aufbau eines Systems behördlich-administrativer Beschränkungen der Heirat vor allem für die unteren sozialen Klassen. Dieses System wurde im amtlichen Sprachgebrauch »politischer Ehekonsens« oder »administrative Beschränkung der Eheschließung« genannt, von seinen Gegnern aber polemisch als »Zwangs-Zölibat für Mittellose« bezeichnet.11 Für Lorenz von Stein bildete dies einen »tiefen Widerspruch« in der Entwicklung des öffentlichen Eherechts, der sich » - einzig in der Welt!« - in »Deutschland« ausgebildet habe, weil hier die Sonderinteressen des »alten Stadtbürgertums« auf die Rechtsbildung Einfluß behalten hätten.12 Ahnlich begann auch Karl Braun, einer der führenden deutschen Volkswirtschaftler der 1860er Jahre, einen gegen den Ehekonsens gerichteten Aufsatz mit den Worten: »Die Leser... in Deutschland, Österreich und der Schweiz werden mich verstehn, wenn ich vom Zwangs-Zölibat der Unbemittelten spreche. Schwerlich dagegen die in Frankreich, Italien, Belgien, England usw. Letztere kennen das Institut nicht, von welchem ich reden will, und von welchem ich glaube, es wäre weit besser, wir in Deutschland hätte es auch niemals kennen gelernt.«13

2. Anfänge staatlicher Ehebeschränkungen Erste Versuche staatlicher Ehebeschränkungen erfolgten im 17. Jahrhundert. Sie richteten sich in dieser Periode nicht gegen zu frühes oder zu häufiges Heiraten schlechthin, sondern vor allem gegen die Verehelichung von Dienstboten, die ja in der deutschen Rechtstradition die Lösung des Dienstverhältnisses beinhaltete.14 Das »Landrecht, Policey, Gerichts-, Malefitz- und andere 47

Ordnungen der Fürstenthumben Obern- und Niedern-Bayern« des Jahres 1616 wandte sich gegen die »leichtfertigen Heuraten zwischen den Ehehalten«, also den in fremden Diensten stehenden Personen.15 Die Pfarrer wurden ermahnt, Dienstboten nur dann zu trauen, wenn sie eine Bewilligung der Obrigkeit vorweisen könnten, und den »verdingten Ehehalten« selbst wurde eingeschärft, daß »furan keinem ... unter dem Schein eines solchen Heurats gestattet werden soll, auss dem Dienst zu treten«.16 Eine württembergische Verordnung aus dem Jahre 1663 enthält ganz ähnlich eine Aufforderung an die Staats- und Gemeindebehörden, »die Unterthanen in den Amtsflecken zu erinnern, ihre Kinder von unzeitigen Heirathen abzuhalten, und sie in anderen Orten mit Dienen ihre Nahrung suchen zu lassen.«17 In Österreich griff eine Verordnung Leopolds 1.1679 dasselbe Problem auf. Der Gesindedienst der Kinder von Untertanen bei den Grundherrn wurde fur obligatorisch erklärt, zugleich aber - im Unterschied zu den südwestdeutschen Ordnungen - die Herrschaften ermahnt, den Dienstboten im Falle einer Heirat nicht hinderlich zu sein.18 Zur Erklärung dieser ersten, auf Knechte und Mägde zielenden Welle von Ehebeschränkungen sind zwei Punkte in Erwägung zu ziehen. Zum einen versuchten sie, einem Mangel an Arbeitskräften zu begegnen, der vor allem im Gefolge des 30-jährigen Krieges spürbar geworden war. Das bayerische Landrecht führt explizit zur Begründung der Ehehindernisse für Dienstboten an, daß durch deren leichtfertiges Heiraten »die Ehehalten sogar vertheuert und schier umb keinen billichen Lohn mehr zu bekommen sein«.19 Zum anderen ging es aber nicht um Arbeitskräfte schlechthin, sondern auch um die Erhaltung ihrer hausrechtlichen Abhängigkeit. Heiratsverbote verlängerten den Dienstbotenstatus und erschwerten den Ubergang in eine Existenz als Inwohner oder Söldner, also in soziale Gruppen, die mobiler und weniger leicht kontrollierbar waren als Knechte und Mägde.20 Im 18. Jahrhundert verstärkten sich die Bestrebungen nach einer staatlichen Kontrolle der Eheschließungen, und sie wiesen nun in zweifacher Hinsicht neue Akzente auf. Zum ersten wurde der Kreis der angesprochenen Personen erweitert. Uber die Dienstboten hinaus begannen sich nun Heiratsbeschränkungen an eine breit definierte Gruppe von unansässigen, mittellosen, unvermögenden Personen zu richten. Zum zweiten wurden diese nicht in allgemeiner Weise zu verlängerter Ehelosigkeit aufgefordert, sondern dazu angehalten, im Falle eines Heiratswunsches ihre Fähigkeit zum Unterhalt der geplanten Familie nachzuweisen. Ein württembergisches General-Rescript von 1712, das sich an eine bereits bestehende Verordnung in Sachsen-Gotha anlehnte, wandte sich erneut dagegen, daß »allerlei Gesinde, Knecht und Magd und andere, ohne zu wissen oder vorher zu überlegen, woher sie im Ehestand sich ernähren können, zusammengeheirathet« hätten, und befahl, »dieselben nicht eher ad matrimonium zu lassen, sie können denn ihres 48

Glaubens genügsame Rechenschaft geben, und scheinbarlich darthun, womit sie sich und ihre künftige Familie, ohne dem Publico oder Armenkasten beschwerlich zu seyn, fortbringen wollen und können«.21 In dieselbe Richtung zielt eine 1746 erlassene, 1752 bekräftigte Verordnung Maria Theresias: »Um die freye Zusammenheirathung der gewerb- und mittellosen Leute einzuschränken, ist keinem, ohne beygebrachte Urkunden, wie sie sich ehrlich zu nähren gedenken, hierzu die Erlaubnis zu ertheilen; und unvermögliche Unterthanen sollen ohne obrigkeitlichen Befehl nicht getraut werden.«22 Einen Schritt weiter ging das bayerische sogenannte »Bettelmandat« von 1770. Es bestimmte, daß überhaupt kein Untertan »ohne Verweisung ausdrücklich Unserer oder Unserer gesetzten weltlichen Obrigkeit Erlaub zu Kopulation kommen« zu lassen sei.23 »Lährhäuslern, Innleuten, Tagwerkern, Handlangern und anderen dergleichen« wäre diese Erlaubnis nur mit Zustimmung ihrer Heimatgemeinde zu geben.24 Die Argumente, mit denen die jeweiligen Obrigkeiten die immer dichter werdenden Ehebeschränkungen für die unteren Schichten begründeten, setzten an realen sozialen Problemen dieser Periode an. Sie zielten darauf, die wachsende Massenarmut in den Griff zu bekommen; die Heere verarmter Menschen, die als Bettler oder Vagabunden durch die Lande zogen, unter Kontrolle zu halten; und die Lasten der Armenversorgung gering zu halten.25 Dazu kam aber auch ein militärisches Interesse. Je mehr die stehenden Heere aus der Bevölkerung rekrutiert wurden, desto stärker wurde die Sorge um ausreichenden militärischen Nachwuchs. In einer Reihe von süddeutschen Staaten wurde die Ableistung des Wehrdienstes eine Voraussetzung für die Heiratserlaubnis. »Keinem soll in Zukunft das Heurathen erlaubt werden, er habe denn zuvor unter unserer Feld-Miliz oder Landbataillons gedient«, hieß es etwa in einer Verordnung in Hessen-Darmstadt 1749.26 In Württemberg wurde 1735 im Interesse der Rekrutierung ganz allgemein die Eheschließung der Männer vor dem 25. Lebensjahr untersagt. Umgekehrt war aber in der Bevölkerung gerade das Bestreben, sich dem Militärdienst zu entziehen, ein Motiv zu frühem Heiraten.27 Abgesehen von diesen direkten Bindungen der Heiratserlaubnis an den Militärdienst war der Ausbau des Heereswesens aber von wesentlich wirksamerem indirekten Einfluß auf die Möglichkeiten einer administrativen Ehebeschränkung. Die daraus hervorgehende Konskription der männlichen Bevölkerung heiratsfähigen Alters bildete die Voraussetzung, um den Zivilstand der Gesamtheit der männlichen Untertanen in staatlicher Evidenz zu halten. In Osterreich wurde die »Beförderung der Ordnung in dem Conscriptions-Wesen« als ein wesentlicher Zweck des politischen Ehekonsenses betrachtet.28 Mit dem Konskriptionswesen an sich war zwar nicht notwendigerweise eine Beschränkung der Ehen verbunden, aber es stellte ein administratives Instrumentarium bereit, das den Gedanken an eine staatliche Kontrolle des Heiratsverhaltens überhaupt erst durchsetz49

bar erscheinen ließ. Damit waren im späten 18. Jahrhundert die Grundlagen für eine restriktive Ehegesetzgebung und -politik gelegt, die im 19. Jahrhundert zu einem juridischen und administrativen System ausgebaut wurden.

3. Widersprüche im System staatlicher Ehebeschränkungen So einheitlich sich der historische Verlauf darstellt, so wenig einheitlich war allerdings das System des politischen Ehekonsenses selbst. Die einschlägige Gesetzgebung und Verwaltung bestanden vielmehr in Kompromissen zwischen unterschiedlichen sozialen Interessen und widersprüchlichen staatlichen Zielen in einer gesellschaftlichen Entwicklungsphase, die politisch vom Ubergang vom Absolutismus zum bürgerlichen Verfassungsstaat und sozialökonomisch vom beschleunigten Wandel der Sozialstrukturen im Zusammenhang mit der Industrialisierung geprägt war. Staatliche Zugriffe auf das Heiratsverhalten weisen in dieser Periode auf mehreren Ebenen gravierende Widersprüche auf, vor allem in der Bevölkerungspolitik, in der Rechtsentwicklung und im Aufbau der Verwaltung. Im Bereich der Bevölkerungspolitik enthalten schon die Konzeptionen der Populationisten eine bestimmte Ambivalenz: Sie propagierten ein möglichst starkes Wachstum der Volksmenge, das aber die ebenfalls angestrebte Harmonie zwischen den sozialen Kräften und das Gleichgewicht zwischen den Ständen nicht erschüttern sollte. Sonnenfels etwa begründete die Notwendigkeit einer Bevölkerungsstatistik gerade damit, daß es erforderlich sei, dem Staat »Maßregeln in die Hand zu geben, durch welche er dem Anwachsen eines Standes hindern... könne«.29 Je mehr sich der Wandel der Sozialstruktur gegen Ende des 18. Jahrhunderts beschleunigte, desto stärker wurde das Bedürfnis, dieses abstrakte Prinzip tatsächlich administrativ zu realisieren, wobei die zeitgenössischen Bevölkerungslehren die Ehegesetzgebung als geeignetes Instrumentarium erscheinen ließen. Lorenz von Stein spricht von einer »eigenthümlichen ... Doppelrichtung des Verwaltungsrechts«: »Einerseits nämlich ist die Ehe die Grundlage der Bevölkerung, und diese die Grundlage der Macht; und es folgt daher, daß die Ehe durch die Verwaltung so viel als möglich befördert werden muß. Andererseits ist die Ehe zugleich der Quell unendlich vielen Unheils, namentlich aber der Verarmung, ja auch der Ungesundheit, und muß daher unter Umständen verhindert werden. Wie die Ehe daher selbst zwei Arten von Folgen für das gemeine Wohl hat, so fordert sie auch zwei Classen von Maßregeln; sie fordert eine Beförderung der Ehe zum Zwecke der Beförderung der Bevölkerung, und eine Behinderung derselben zum Zwecke des Schutzes der öffentlichen Wohlfahrt. Anstatt nun hier die höhere Natur der Sache durch sich selbst wirken zu lassen, glaubt die Verwaltung, daß es ihre Aufgabe sei, zu entscheiden, ob eine Ehe in die erste oder die zweite Classe gehöre; und um diese Aufgabe zu lösen, erzeugt sie ein förmliches System von Grundsätzen und Vorschriften über das Einschreiten der Verwaltung im Ehewesen ...«. 30

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Zu demselben Schluß kam schon 1829 der Wiener Magistratsbeamte Franz Herzog, der sich vor allem aus praktischen Bedürfnissen heraus mit der Systematik des Ehekonsenses beschäftigte: »Der Zweck des Ehe-Consens-Instituts ist: Die Beförderung der Volksvermehrung auf eine dem Staatswohl entsprechende Weise handzuhaben; den Zuwachs für die Versorgungsanstalten zu hindern; und nebenbey die Ordnung in dem Conscriptions-Wesen zu befördern. Er wird erreicht, wenn der Verehelichung der erwerbsfähigen Personen nicht nur keine unnützen Hindernisse in den Weg gestreut, sondern die vorkommenden auch möglichst beseitigt; wenn die Verehelichung solcher Personen, die nicht einmahl sich selbst erhalten, geschweige denn eine Familie ernähren vermögen, gehindert; und die Eheanmeldung der Unterthanen zur Aufrechterhaltung der Ordnung in der Volksbeschreibung benützt werden.«31

In Österreich war diese Ambivalenz besonders dauerhaft. Auch in der Periode verstärkter Heiratsbeschränkungen blieben die populationistischen Werke Sonnenfels' in der Beamtenausbildung in Verwendung.32 Eine zweite Widerspruchsebene wird im Bereich der Rechtspolitik sichtbar. Die Grundprinzipien der Ehegesetzgebung, wie sie in Osterreich im Ehepatent von 1783 und im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch von 1811 ebenso wie im preußischen Landrecht von 1794 zum Ausdruck kamen, faßten die Ehe als Vertragsverhältnis zwischen Individuen, die demgemäß selbstverantwortlich über ihre Heirat zu entscheiden hätten. Administrative Ehebeschränkungen sind Ausdruck dafür, daß die hier angelegten Prinzipien persönlicher Freiheitsrechte nicht konsequent zu Ende gegangen, sondern im Interesse sozialer Kontrolle relativiert wurden. Der politische Ehekonsens kann betrachtet werden als ein Beleg für »das eher frühbürgerliche Bemühen, die Freiheit der Eheschließung, wie andere bürgerliche Freiheiten auch, an die im Kapitalismus wesentliche Voraussetzung zu binden: das Privateigentum«.33 Das Problem, ob der Ehekonsens im Einklang oder im Widerspruch zum ABGB stehe, wurde in Osterreich im 19. Jahrhundert immer wieder diskutiert.34 Ein dritter Widerspruch liegt in der Frage, welche Verwaltungsinstanzen Ehebeschränkungen durchzufuhren und zu überwachen hätten. Die Politik des Absolutismus war prinzipiell darauf gerichtet, den Einfluß der Grundherrn auf das Heiratsverhalten ihrer Untertanen zurückzudrängen. Solange aber Grundherrschaft und Patrimonialgerichtsbarkeit wesentliche Instanzen der staatlichen Verwaltung blieben - was ja in Österreich bis 1848 der Fall war - mußte jede Form administrativer Ehebeschränkung den herrschaftlichen Einfluß wieder erhöhen. Noch viel schärfer stellte sich dieses Problem aber bei der Herausbildung bürgerlicher Rechtsstaatlichkeit im Verhältnis von Staat und Gemeinde. Ehehindernisse, die nicht juridisch formalisiert waren, sondern auf der Einschätzung der ökonomischen Fähigkeiten und des moralischen Verhaltens einzelner Personen beruhten, gaben notwendigerweise 51

lokalen Führungsgruppen eine enorme Macht. Zugleich mußte deren Einfluß in Grenzen gehalten werden, um das Prinzip der staatsbürgerlichen Gleichheit nicht vollständig dem Mißbrauch durch lokale Partdkulargewalten zu opfern. Der politische Ehekonsens wurde ganz wesentlich vom Spannungsverhältnis zwischen staatlicher Zentralisierung und Gemeindeselbstverwaltung bestimmt.35 Ob überhaupt eine administrative Ehebeschränkung eingeführt wurde und wie ihre konkrete Gestalt aussah, hing davon ab, welche Kräfte und Tendenzen in dem komplizierten Geflecht von Bevölkerungspolitik, Rechtsentwicklung und Struktur der Verwaltung die Oberhand gewannen; dementsprechend vielfältig waren ihre Erscheinungsformen.

4. Der politische Ehekonsens in Norddeutschland Preußen war der einzige deutsche Staat ohne politischen Ehekonsens. Schon die Politik Friedrichs Π. war zielstrebig und ohne abschwächende Maßnahmen auf den Abbau von Ehehindernissen gerichtet gewesen, und das Allgemeine Landrecht von 1794 setzte die Auffassung der Ehe als bürgerlichen Vertrag durch.36 Die im Landrecht verankerte Freiheit der Eheschließung galt allerdings nicht für die »erbunterthänigen« Landbewohner. Diese mußten nach wie vor bei ihren Gutsherren die Bewilligung zur Heirat einholen, die ihrerseits ihre Zustimmung von den Subsistenzmöglichkeiten der heiratswilligen Untertanen abhängig machen sollten. Berufungsmöglichkeiten bei staatlichen Gerichten schränkten allerdings herrschaftliche Willkür weitgehend ein.37 Die Aufhebung der Erbuntertänigkeit mit dem Oktober-Edikt des Jahres 1807 beseitigte auch diese Abhängigkeit und stellte - mit Ausnahme des Heiratsverbots für Personen ungleichen Standes, das bis 1869 in Kraft blieb - für alle preußischen Staatsangehörigen die völlige Ehefreiheit her. »Selbst Hilfsbedürftigen, auch aus verschiedenen Orten, kann von den Behörden die Heirath nicht untersagt werden.«38 Im Unterschied zu den anderen deutschen Staaten und auch zu Osterreich wurde in Preußen die Einführung der Civilehe nicht durch administrative Beschränkungen relativiert. Ganz im Gegenteil erfolgte hier im späten Vormärz eine Ausdehnung der Freizügigkeit, die die Heiratsmöglichkeiten der unteren Schichten begünstigte. In den Gesetzen von 1840 und 1842 wurden die Gemeinden zur Aufnahme zuziehender Personen verpflichtet und die jeweilige Wohnsitzgemeinde zum Träger der Armenunterstützung gemacht.39 Während es in Süddeutschland den Gemeinden gelingen sollte, gerade an Bürgerrecht und Armenpflege eine restriktive Ehepolitik festzumachen, konnte sich der autoritärere preußische Staat den von den lokalen Führungsgruppen ausgehenden Bestrebungen zur Wiedereinrichtung ständischer Herrschaftsformen leichter entziehen.40 1868 wurde die Freiheit der 52

Eheschließung vom gesamten Norddeutschen Bund übernommen und 1871 ging sie schließlich in die Reichsgesetzgebung ein. In einer Reihe anderer nord- und mitteldeutscher Staaten bestand zwar keine völlige gesetzliche Ehefreiheit, aber nur ein so geringes und unwesentliches Maß an Beschränkungen, daß es im praktischen Heiratsverhalten keine Rolle gespielt haben dürfte. Dies war der Fall im Königreich Sachsen (mit Ausnahme der Handwerksgesellen) und in Anhalt-Dessau, in SchleswigHolstein, Oldenburg und Braunschweig, und auch in der Pfalz, die ein vom bayerischen Gesamtstaat getrenntes und den französischen Einfluß bewahrendes Eherecht aufwies.41 Eine spezifische feudale Tradition hatte sich in Mecklenburg erhalten, wo den Gutsherrn das absolute und unanfechtbare Einspruchsrecht gegen Eheschließungen der auf ihrem Land lebenden und arbeitenden Pächter und Taglöhner geblieben war.42 Wie es scheint, praktizierten sie auch tatsächlich in einer sehr rigiden Weise die Begrenzung der Zahl der unterbäuerlichen Familien.43 In den anderen Staaten war der politische Ehekonsens ein Instrument der staatlichen Behörden. Ein Beispiel restriktiver Ehegesetzgebung eines norddeutschen Staates bildet etwa das Königreich Hannover, wo von 1827 an eine zunehmende Beschränkung der Eheschließungen erfolgte und in einem Reskript von 1840 ihren Höhepunkt erreichte. Die um Eheerlaubnis ansuchenden Personen sollten diese nur dann erhalten, »1. wenn sie gehörig arbeitsfähig seien, 2. wenn das Gewerbe, wovon sie sich und eine Familie erhalten wollten, in dem Orte ihrer Niederlassung nicht schon zu sehr überfüllt sei, 3. wenn sie bisher eine sparsame Lebensweise geführt hätten«, und anderes mehr.44

5. Der politische Ehekonsens in Süddeutschland Die weitreichendsten Ehebeschränkungen wurden in den süddeutschen Staaten erlassen. Hier führten gerade die liberalen Traditionen der Gemeindeverfassung dazu, daß im Vormärz »der aus den Gemeinden kommende sozialrestaurative Druck« voll auf Gesetzgebung und Verwaltung durchschlug und vor den Angehörigen der unteren sozialen Schichten nur schwer zu überwindende Ehehindernisse auftürmte.45 Klaus-Jürgen Matz hat in einer ausführlichen neueren Arbeit die wesentlichen Gemeinsamkeiten der Ehegesetzgebung in Baden, Württemberg, Bayern und Hessen-Darmstadt dargestellt.46 Er unterscheidet nach einer Zeit der Rechtsvereinheitlichung unter dem Einfluß der napoleonischen Herrschaft und einer relativ großen Eheschließungsfreiheit im Frühkonstitutionalismus der 1820er Jahre drei Perioden restriktiver Beschränkungen:

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- »eine Periode der gesetzlichen Verehelichungsbeschränkungen auf Druck der Gemeinden und Initiative der Landtage im Zeitalter des Pauperismus (ca. 1830-1848)«, - »eine Periode noch strengerer Verehelichungsbeschränkungen auf Initiative der Regierungen im Zeitalter der Reaktion (ca. 1850-1860)« und - »eine Periode der Liberalisierung, die mit der Herstellung völliger Verehelichungsfreiheit endete, im Zeitalter der Industrialisierung und nationalen Einigung (ca. 18611871)«. 47

Wesentlicher Inhalt der süddeutschen Gesetzgebung war die Koppelung von Gemeindebürgerrecht bzw. »Ansässigmachung« und Verehelichung und damit die Etablierung der Gemeinden als Entscheidungsinstanzen. Wer sich in Württemberg (Gesetze von 1828 und 1833) oder in Baden (1831) verehelichen wollte, mußte zuerst das Gemeindebürgerrecht antreten. Dies an einem anderen Ort als dem der Geburt tun zu wollen, kostete große Summen.48 Darüber hinaus war gegenüber dem Gemeinderat, der über das Heiratsansuchen zu entscheiden hatte, die Fähigkeit zum Unterhalt einer Familie nachzuweisen, ab 1852 in Württemberg auch ein Barvermögen von 150-200 fl.49 Neben diesen materiellen Schranken enthielten die Ehegesetze durch »moralisierende Selbstgerechtigkeit« geprägte Bestimmungen. »Das Charakteristische der württembergischen wie der badischen Gesetzgebung ist jeweils eine lange Liste sogenannter Mängel des Prädikats oder des Leumunds, die von einer Heirat zumindest vorübergehend ausschlossen. Dabei fallen nicht so sehr eindeutig bestimmbare Straftatbestände ins Gewicht als vielmehr die Prädikatsmängel des 'offenkundig schlechten Haushälters' und des 'Trunkenbolds', die von größter praktischer Bedeutung waren. Sie erlaubten den Gemeinden nämlich, die Eheschließung auch völlig unbescholtenen Bürgern zu untersagen.«50

Die Staatsbehörde griff nur im Rekursfall ein. Im rechtsrheinischen Bayern (Gesetzgebung 1834) mußte jeder Staatsangehörige als Grundvoraussetzung der Verehelichung zu seinem Heimatrecht auch noch die »Ansässigmachung« erreichen.51 Diese war gebunden an Grundbesitz im Wert von mindestens 1200 fl., an den Besitz eines Realgewerbes oder einer Gewerbekonzession, für Lohnarbeiter an den Nachweis eines ausreichenden und auch zukünftig garantierten Einkommens sowie ebenfalls eines guten Leumunds. Über das Heiratsansuchen entschied die Staatsbehörde, die allerdings bei Unselbständigen die Nichteinwilligung der Gemeinde in die Ansässigmachung als absoluten Hinderungsgrund auffaßte. Diese erst 1862 liberalisierte Regelung machte »das Recht der freien Eheschließung geradezu illusorisch«.52 In zahlreichen Städten wurden Fabrikarbeitern und Taglöhnern Niederlassung und damit Heirat verweigert, und auch für Handwerksgesellen wurden Selbständigkeit, Verehelichung und dauerhafte Ansiedlung fast unmöglich.53 Erst 1870, unmittelbar vor der Reichsgründung, paßten die süddeutschen 54

Staaten ihre Ehegesetzgebung jener des Norddeutschen Bundes von 1868 (und damit der traditionellen preußischen Regelung) an.54 Im Deutschen Reich galten keine politischen Ehebeschränkungen mehr. Wie der Statistiker Fircks anmerkte, waren nun »Eheschließungen zwischen völlig mittellosen, ja sogar zwischen erwerbslosen und erwerbsunfähigen Personen möglich«.55 Die Ehemündigkeit wurde 1875 für Männer mit dem vollendeten 20. und für Frauen mit dem vollendeten 16. Lebensjahr festgesetzt.56 Bayern blieb allerdings eine Ausnahme. Hier wurde 1868 das Eherecht reformiert, Heirat und Ansässigmachung wurden entkoppelt. Man folgte aber weiter dem Prinzip, die »Ehen von moralisch und wirtschaftlich schwachen Personen« zu verhindern.57 Der Ehekonsens der Behörde und das Einspruchsrecht der Gemeinde, wenn der Heiratswillige Armenunterstützung bezog oder mit Zahlungen an die Armenkasse im Rückstand war, blieben aufrecht. In dieser Form überdauerte der politische Ehekonsens sogar die Reichsgründung Bayern wurde in bezug auf Verehelichung und Heimatrecht explizit aus der Reichsgesetzgebung ausgenommen. Er wurde erst 1916 abgeschafft.58

6. Der politische Ehekonsens in Österreich Der politische Ehekonsens in Österreich nimmt generell eine Stellung zwischen Preußen und den süddeutschen Staaten ein, wobei aber zwischen den einzelnen Kronländern erhebliche Unterschiede bestanden. Eine einheitliche gesetzliche Regelung, wie sie etwa die süddeutschen Heimatrecht- und Verehelichungsgesetze verkörpern, hat es in Österreich nicht gegeben. Die rechtlichen Grundlagen des Ehekonsenses bestanden vielmehr in einem Corpus unterschiedlicher, mitunter widersprüchlicher Verordnungen, die von der Mitte des 18. Jahrhunderts an zu Eherecht und Bevölkerungspolitik erlassen worden waren. Möglicherweise hat sich trotzdem in einzelnen Ländern oder Städten eine einheitliche Rechtspraxis herausgebildet. Einige Anhaltspunkte sprechen dafür, daß dies etwa im vormärzlichen Wien der Fall war, wie weiter unten dargestellt werden wird. Für ganz Österreich ist eine einheitliche Praxis des politischen Ehekonsenses aber auf gar keinen Fall anzunehmen.59 Für die ersten Regierungsjahre Maria Theresias ist eine widersprüchliche Gesetzgebung kennzeichnend, die zwischen einer populationistischen Bevölkerungspolitik und einer polizeilichen Armenkontrolle schwankt. Die schon erwähnten Verordnungen von 1746 und 1752 wollten das Heiraten »gewerbund mittelloser Leute« einschränken und die Heiratserlaubnis an den Nachweis ausreichender Subsistenz binden. Zur selben Zeit wurde aber eine Reihe von Dekreten erlassen, die in das Verhältnis zwischen Grundherrn und 55

Untertanen eingriffen, mit dem Ziel, die Ehebeschränkungsmöglichkeiten der Herrschaften zu beschneiden. So machte es 1753 ein Dekret den Obrigkeiten zur Pflicht, »ihren Unterthanen die Erlaubnis zur Verehelichung willig zu erteilen« und ihnen keine Hindernisse in den Weg zu legen, sondern vielmehr durch wirtschaftliche Maßnahmen wie die Aufteilung großer Bauerngüter die Heiratsmöglichkeiten zu fördern.60 1765 und 1766 folgten weitere Verordnungen des Inhalts, daß »die zur Verehelichung bisher erforderlich gewesene Erlaubnißansuchung aufgehoben sey« und die Obrigkeiten den Untertanen vielmehr das Spinnen und Weben lehren sollten. Eine größere Zahl von Patenten und Hofentschließungen aus den 1760er und 1770er Jahren hat auch die Förderung verheirateter Gesellen zum Inhalt.61 Ebenso enthalten Dienstboten- und Gesindeordnungen der josephinischen Epoche keine generellen Heiratsbeschränkungen und führen zugunsten der Dienstboten an, daß die Heirat die vor Beendigung des Dienstverhältnisses einzuhaltende Aufkündigungsfrist abkürze.62 Eine wesentliche Grundlage für die weitere Ausgestaltung der Ehekonsens bildeten die Patente über die Aufhebung der Leibeigenschaft, die 1781 und 1782 für die einzelnen Kronländer erlassen wurden. Ihre wesentlichen, hier relevanten Inhalte besagen, daß »jeder Unterthan gegen blosse vorhergehende Anzeige und unentgeltlichen Meldezettel sich zu verehelichen berechtigt« sei, und daß jedem Untertanen die räumliche Freizügigkeit, also auch das Wegziehen aus einem Herrschaftsbereich und die Niederlassung an einem anderen Ort, zustehe.63 Darin sind zwei die Ehefreiheit fördernde Prinzipien ausgesprochen: ersten der Ausschluß der Grundobrigkeit aus der Entscheidung über das Heiratsverhalten ihrer Untertanen ohne die Erwähnung irgendwelcher einschränkender Bedingungen; zweitens - und dies ist vielleicht noch wichtiger - die Verknüpfung von Eheschließungsfreiheit und räumlicher Freizügigkeit. Die Bewilligung zur Heirat an ein Gemeindebürgerrecht zu binden und die Erschwerung der Ansässigmachung als Instrument der Ehebeschränkung zu gebrauchen, - wie dies in den süddeutschen Staaten praktiziert wurde - war auf dieser Rechtsgrundlage nur schwer möglich. Zugleich ist in diesen Bestimmungen aber auch ein restriktives Moment angelegt, und zwar in der vorgesehenen »bloßen Anzeige« der Heiratsabsicht und der Ausstellung eines Meldezettels. Diese Maßnahme erscheint zwar durchaus neutral, sie wurde aber, wie sich zeigen sollte, ganz unterschiedlich interpretiert. In einigen Kronländern, nämlich in Galizien, der Bukowina und in ICrain, wurde im weiteren der Meldezettel tatsächlich als formale Evidenzhaltung verstanden, die mit einer Bewilligung der Heirat nichts zu tun habe. Für die Untertanen dieser Länder galt damit - ähnlich wie dies in Preußen ab 1807 der Fall war - mit der Aufhebung der Leibeigenschaft auch der politische Ehekonsens als aufgehoben, hier herrschte in Österreich die 56

weitestgefaßte gesetzliche Eheschließungsfreiheit. Dasselbe traf auch auf die Länder der ungarischen Krone zu.64 In anderen Ländern wurde dagegen der Meldezettel als Erlaubnisschein interpretiert und aus der Pflicht zur Anzeige der Heiratsabsicht die Notwendigkeit des politischen Ehekonsenses abgeleitet.65 Dies war etwa in der Steiermark der Fall. Wieder andere Länder lassen keine bestimmte Handhabung des Meldezettels erkennen, etwa Kärnten und das Land ob der Enns.66 Dieser Zwiespalt ist aber nur Ausdruck einer rechtlich nicht vollständig geklärten und damit den praktischen Bedürfnissen offenen Situation. Wann und wo der politische Ehekonsens praktisch erwünscht war, lieferte die Einrichtung des Meldezettels sowohl die rechtliche Legitimierung als auch die administrative Form; wo der obrigkeitliche Ehekonsens nicht angestrebt wurde, galt der Meldezettel als bloß formaler Akt. Eine stärkere Betonung administrativer Ehebeschränkungen setzte in den 1790er Jahren ein, wohl als Bestandteil der sozialrestaurativen Tendenzen unter der Regierung Franz I. Für Wien und die Landeshauptstädte wurden 1795 und 1796 Dekrete erlassen, die den Handwerksgesellen das Heiraten wieder erschweren sollten. In ihnen kommt die bekannte Aversion des Kaisers gegen die Proletarisierung seiner Haupt- und Residenzstadt deutlich zum Ausdruck. Heiratslustige Gesellen sollten dazu gebracht werden, sich nicht in größeren Städten niederzulassen, sondern auf dem Land oder in Landstädten, »da ihre Kinder, welche in der Residenzstadt und in den Hauptstädten bloß die Bettelclasse vermehren, auf dem flachen Lande durch die Landarbeit dem Staate nützlich werden«.67 Jeder Geselle, der sich trotzdem von einer Heirat in Wien oder einer Landeshauptstadt nicht abbringen lassen wollte, hatte die folgenden Auflagen zu erfüllen: Er mußte »1. zuvor darthun, daß er einige Jahre als Geselle gedienet, und sich gut betragen habe; 2. muß er die Möglichkeit ausweisen, sich und seine künftige Familie, durch eigenen oder vereinigten Erwerb seines Weibes zu erhalten«.68 Ausnahmen könnten allenfalls bei Seidenzeugmacher-Gesellen gemacht werden.69 Der hierin enthaltene Wunsch, die unruhigen Elemente aus den großen Städten auf das flache Land abzuschieben, fand aber in den Ländern selbst keine ungeteilte Zustimmung. In der Steiermark wurden 1804 und 1805 Gubernial-Verordnungen »zur Beschränkung der Ehen auf dem Lande« erlassen: Die Bezirksobrigkeiten sollten »einem Einwohner oder Taglöhner, dessen Verehelichung eine Gemeinde begünstigt, die Trauungs-Lizenz nur dann erteilen, wenn sie sich von dem fleißigen und moralischen Betragen desselben durch längere Zeit überzeugt haben, und die Gemeinde durch Ausstellung eines Rekurses sich verbindlich macht, ihn sammt den Seinigen, im Falle, daß er nach der Hand sich selbst mit der Arbeit zu ernähren, außer Stand gesetzt werden sollte, lebenslänglich mit Kost und Kleidung zu versehen«.70 Dies war eine für Osterreich außergewöhnlich restriktive Be57

Stimmung, deren Bezug auf eine Unterhaltsverpflichtung der Gemeinde durch kein österreichisches Staatsgesetz gedeckt wurde, deren Geist vielmehr spätere süddeutsche Ehebeschränkungen vorwegnahm.71 Eine umfassendere gesetzliche Regelung wurde 1815 für Wien getroffen. Eine kaiserliche Entschließung listete sieben Personengruppen auf, die keiner Zustimmung der politischen Obrigkeit zu ihrer Verehelichung bedürften: »1) Der Adel. 2) Alle landesfursdiche, ständische, städtische, Fonds- und herrschaftliche Beamte. 3) Doctoren, Magister, Professoren und Lehrer der öffentlichen Schul- und Erziehungsanstalten. 4) Advocaten und Agenten. 5) Alle Bürger. 6) Alle Haus- und Güterbesitzer. 7) Alle Personen, welche mit einem Meisterrechte, Landesfabriks-, Fabriks- oder Stadthauptmannschaftlichen Befugnissen versehen sind. Alle übrigen, unter den genannten Classen, nicht begriffenen Personen aber haben vor ihrer Verehelichung die Bewilligung anzusuchen, und können vor Erhaltung derselben nicht getrauet werden.«72

Eine weitere präzise Regelung wurde 1820 für Tirol und Vorarlberg erlassen. Hier bestand eine vom restlichen Osterreich abweichende Rechtstradition. Für die zum großen Teil persönlich freie bäuerliche Bevölkerung hat es obrigkeitliche Ehebeschränkungen nie gegeben. Aus diesem Grund waren die Tiroler auch von der im Leibeigenschafts-Aufhebungs-Patent von 1781/82 vorgesehenen Verpflichtung zur Anzeige der Heiratsabsicht bzw. vom Meldezettel nicht betroffen.73 Dagegen fehlte es nicht an Bestrebungen, von Seiten der Stände und Gemeinden den unterbäuerlichen Schichten solche Beschränkungen aufzuerlegen. Weistümer des 16. und 17. Jahrhunderts enthielten schon Bestimmungen, daß Personen ohne Grundbesitz oder Vermögen nur mit Bewilligung der Gerichte oder Gemeinden vom Pfarrer getraut werden düften. 74 1715 beschwerte sich die Tiroler Landschaft über die Zulassung der Heirat unbemittelter Personen, und 1792 ersuchten die Stände um ein »die Heirathen der gemeinen Volksclasse beschränkendes Gesetz«, was freilich von Leopold II. dezidiert abgelehnt wurde.75 Eine Änderung vollzog sich unter der bayerischen Herrschaft. Eine bayerische Verordnung aus dem Jahre 1808 kam auch in Tirol zur Geltung. Sie war im Vergleich zu der früheren und späteren Ehegesetzgebung in Bayern äußerst liberal, enthielt aber trotzdem das - für Tirol neue - Prinzip, die Eheschließung an den Heiratskonsens, und diesen wieder an eine »hinreichende Aussicht auf Nahrung« zu binden. Außerdem enthielt sie das Verbot, »unbekannten, fremden, unangesessenen Leuten, welche sich weder bisher in dem Gerichtsbezirke oder Orte aufgehalten haben, noch ihre künftige Nahrung an dem Orte der Verheiratung wahrscheinlich machen können«, die Eheschließung zu gestatten.76 Diese Regelung stieß auf die Zustimmung der Tiroler Gemeinden und Gerichte und wurde auch nach dem Abzug der Bayern 1816 beibehalten. Eine explizite Ablehnung dieser Praxis durch das Gubernium im Jahre 1818 blieb, wie es scheint, ohne Erfolg, so daß in einem 58

Hofdekret 1820 - um Gesetzwidrigkeiten vorzubeugen - eine genaue Regelung der Ehebeschränkungen fur Tirol und Vorarlberg vorgenommen wurde: »1) Unansässige Personen aus der Classe der Dienstbothen, Gesellen und Tagwerker, oder sogenannte Inwohner, die sich verehelichen wollen, haben sich vorläufig bey ihrer politischen Obrigkeit zu melden, und von derselben ein Zeugnis beyzubringen, daß gegen ihre Verehelichung kein politisches Hinderniß obwalte. 2) Den Pfarrern und Seelsorgern ist es verboten, solche Personen ohne beygebrachtem politischen Zeugnisse zu trauen. 3) Die politischen Obrigkeiten sind befugt, die Verehelichungsbewilligung solchen Personen zu verweigern, welche an einer Armenversorgung Antheil nehmen, oder dem Betteln ergeben sind, oder sonst ein unstätes, erwerbloses Leben fuhren. 4) Uber die Verweigerung der politischen Obrigkeit wird den Parteien der Recurs an das Kreisamt, und im weiteren Zuge an das Gubernium und selbst an die Hofstelle vorbehalten.«77

Diese Bestimmungen bildeten im wesentlichen die rechtliche Grundlage des politischen Ehekonsenses im österreichischen Vormärz. Wenn sich die Verordnungen auch nur auf einzelne Länder oder Städte bezogen, so konnten sie doch von allen Behörden bei Bedarf als Präzedenzfälle benützt werden. Allerdings sollte man an das Rechtsbewußtsein der lokalen Behörden keine zu hohen Erwartungen knüpfen: »Da wenige Herrschaftsbesitzer geneigt sind, die ungeheuere Masse der politischen Gesetze zum Amtsgebrauche beyzuschaffen, noch weniger aber die Beamten selbe zu lesen; da alle Neuerungen, so wie Salz den Augen, dem Schlendrian mißfallen;... indem es die Unterthanen gewöhnlich bei der Entscheidung der Obrigkeit bewenden lassen: so werden theils aus Unkenntniß und Mißverständniß der Gesetze, theils um sich auf allgemeine oder Privatkosten Vortheile zuzuwenden, und vor scheinbaren Nachtheilen zu bewahren; oft auch aus Eigensinn, Neckerey, am häufigsten aber aus Anhänglichkeit an den Schlendrian, von den politischen Obrigkeiten die Ehen der Untertanen gehindert.«78

Was dies praktisch bedeutete, kann am Beispiel Wiens im Vormärz beschrieben werden. Der Wiener Magistratsbeamte Franz Herzog schrieb 1829 die »Systematische Darstellung der Gesetze über den politischen Ehe-Consens« unmittelbar für den Amtsgebrauch und fugte eine größere Anzahl von Beispielen bei.79 Die Abwicklung des Ehekonsenses läßt sich auch aus persönlichen Dokumenten rekonstruieren.80 Die Ergebnisse der Rekonstruktion aus archivalischen Quellen stimmen völlig mit den von Herzog gegebenen Empfehlungen und den von ihm zitierten Beispielen überein, so daß man für das vormärzliche Wien tatsächlich eine einheitliche Verwaltungspraxis annehmen kann. Für die Erlaubnis zur Heirat waren hier Zeugnisse des Arbeitgebers (bisherige und zu erwartende Dauer der Beschäftigung, Verdienst, Betragen) und des Hausherrn (Wohnverhältnisse, moralisches Verhalten) erforderlich, deren Echtheit vom Grundgericht bestätigt werden mußte. Aufgrund dieser Dokumente entschied die Ortsobrigkeit (für in der Stadt wohnhafte Handwerksgesellen generell der Magistrat, sonst die jeweilige 59

Grundherrschaft) über den Ehekonsens. Bei positiver Erledigung mußte dann um die Zustimmung der Geburtsobrigkeit angesucht werden. Weiter waren erforderlich: der Taufschein zum Nachweis der Großjährigkeit (auszustellen von der Geburtspfarre), ein »Conscriptions-Zeugnis« (über die Registrierung bei der Militär-Behörde) und schließlich eine Bestätigung des Pfarrers, bei dem die Trauung stattfinden sollte, über die Kenntnisse der Religion.81 War nur eine dieser Instanzen dem Bräutigam schlecht gesonnen, oder einfach nur unwillig oder langsam, so konnte sie die Heirat zumindest langfristig verzögern. Beharrte eine vielleicht hunderte Kilometer entfernte Geburtsobrigkeit oder Taufpfarre auf persönlicher Vorsprache des »Bittstellers«, so entstanden neuerlich Zeitaufwand und Reisekosten. Doch auch der schriftliche Behördenverkehr erforderte Stempelgebühren, Porto und meist auch Honorare für Winkelschreiber, die zumindest vorgaben,die verschlungenen Amtswege zu überblicken.82 Die Auflösung der Grundherrschaft und der Aufbau einer Gemeindeselbstverwaltung nach 1848 führten zu einer Verschärfung der politischen Ehekonsense. Obwohl es auch im Vormärz Versuche gegeben hatte, die Gemeinden in den Entscheidungsprozeß einzubeziehen, hatten im wesentlichen doch die politischen Behörden ihre Kompetenz gewahrt.83 Das provisorische Gemeindegesetz von 1849 legte dagegen die Erteilung des Ehekonsenses in den »übertragenen Wirkungskreis« der Gemeinden.84 Gemeindeordnungen, die im Anschluß an das Gesetz geschaffen wurden, regelten die Modalitäten der Erteilung des Ehekonsenses. Sie neigten dazu, wie etwa in Land und Stadt Salzburg, die Erteilung des Ehekonsenses an einen zustimmenden Beschluß des Gemeindeausschusses der Zuständigkeitsgemeinde zu binden.85 Diese Ausschüsse aber waren aufgrund des Privilegienwahlrechts Foren und Organe der altansässigen und vermögenden Gemeindemitglieder, die damit einen starken Einfluß auf die Eheschließung der sozial schwächeren Gemeindeangehörigen gewannen.86 Die politischen Behörden (Bezirkshauptmannschaften) erhielten erst bei Beschwerden gegen von der Gemeinde verweigerte Ehekonsense Entscheidungsrecht. Im Geiste des Neoabsolutismus wurden aber auch sie zu einer restriktiven Auslegung des Ehekonsenses angehalten. Ein Erlaß des Innenministeriums für Tirol von April 1850 ordnete den Bezirkshauptmannschaften und Kreisämtern an, die Entscheidungen der Gemeinden, die für die Armenunterstützung der »Eheconsenswerber« zuständig waren, »gehörig [zu] berücksichtigen und gegen den Willen der Gemeinden... diesen Consens nur bei wichtigen Gründen [zu] ertheilen und sich mit der bloßen Erwerbsfähigkeit ohne gegründete Wahrscheinlichkeit auf einen andauernden Erwerb... nicht [zu] begnügen, da sich die Besorgnisse wegen Vermehrung eines die Kräfte der Gemeinden in Zukunft zu sehr drückenden Proletariats nicht ganz ungegründet darstellen.«87 Für Böhmen sind Beispiele der Auswirkungen dieser neuen Regelung des Ehekonsenses 60

bekannt. Großbauern nutzten tatsächlich die ihnen durch das Gemeindegesetz gegebene Macht, um Häuslern und ärmeren Dorfbewohnern die Heiratslizenz zu verweigern. Dagegen erteilten sie den Söhnen der eigenen Schicht oft schon vor dem 18. Lebensjahr die Ehebewilligung, um sie vor dem Militärdienst zu schützen.88 Erst in den 1860er Jahren setzte sich im Reichsrat eine liberalere Haltung durch, und schließlich wurde 1868 der politische Ehekonsens in fast allen Kronländern abgeschafft.89 Beibehalten wurde er in Salzburg und in Tirol (mit Vorarlberg). In Salzburg bedurfte es eines Erkenntnisses des Verfassungsrichtshofs, um die von den Gemeinden auferlegten administrativen Ehebeschränkungen 1883 zu beseitigen, wobei der Landtag heftigen Widerstand leistete.90 In Tirol dagegen blieb der politische Ehekonsens bis 1921 in Kraft, länger als in jedem anderen Territorium Mitteleuropas.91 Dieser Uberblick führt zumindest zu einer Schlußfolgerung: Das System administrativer Ehebeschränkungen erscheint nicht als allgemeines Strukturelement vorindustrieller Heiratsverhältnisse, sondern als ideologisches und juridisches Phänomen, das in einem abgrenzbaren Gebiet, nämlich im Süden und Südosten Mitteleuropas, und in einer abgrenzbaren Epoche, nämlich den Jahrzehnten der Industriellen Revolution, seine Blütezeit erlebte. Zur Erklärung eines hohen Heiratsalters und hoher Zölibatsquoten in vorindustriellen, »agrarischen« Gesellschaften können obrigkeitliche Heiratsbeschränkungen demnach nicht dienen. Auch als Instrumente einer gesellschaftlichen Kontrolle der Fruchtbarkeit scheinen sie sich nicht geeignet zu haben: Die Periode ihrer systematischen rechtlichen Ausgestaltung war zugleich jener Zeitraum, in dem sich die Bevölkerung Mitteleuropas mehr als verdoppelte und schneller wuchs als jemals zuvor und jemals danach in ihrer Geschichte. Wie aber erklärt sich die Parallelität der Entwicklung von Heiratsalter, Ledigenquoten und Ehekonsens in weiten Teilen Mitteleuropas? Hatte der politische Ehekonsens Einfluß auf den Anstieg beider demographischen Kennziffern im 19. Jahrhundert? Diese Frage leitet über zu den sozialhistorischen Erklärungsansätzen des European Marriage Pattern, die im folgenden Kapitel entwickelt werden.

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V Heiratsverhalten im Spannungsfeld zwischen Demographie und Sozialgeschichte Die referierten Auffassungen über das Heiratsverhalten und auch die Leitgedanken des politischen Ehekonsenses haben einen gemeinsamen theoretischen Kern, den man als »homöostatisches Paradigma« der Bevölkerungsgeschichte bezeichnen kann. Dieser Kern wird im folgenden Kapitel herausgearbeitet und mit den Ausgangsfragestellungen unserer Untersuchung konfrontiert: Ist das homöostatische Paradigma geeignet, das European Marriage Pattern der Frühen Neuzeit zu begründen? Kann es weiter erklären, warum sich im 18. Jahrhundert in England und in Mitteleuropa zwei unterschiedliche Varianten des European Marriage Pattern herausbildeten, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts immer weiter auseinanderstrebten? In der kritischen Auseinandersetzung mit dem bevölkerungsgeschichtlichen Diskurs sollen sozialhistorische Konzepte entwickelt werden, die als Hypothesen fur den empirischen Teil der Untersuchung dienen können.

1. Das European Marriage Pattern als Funktion einer homöostatischen Bevölkerungsweise? Im Mittelpunkt der demographischen Diskussion und Theoriebildung steht das Verhältnis von Bevölkerung und Wirtschaft. Von den Anfängen der Bevölkerungswissenschaft bis in die Gegenwart stehen sich dabei zwei Erklärungsansätze über Art und Weise des Ausgleichs zwischen Bevölkerung und Wirtschaft gegenüber. Der erste geht davon aus, daß sich Wirtschaft und Bevölkerung unabhängig voneinander entwickeln. Übersteigt die Bevölkerung aber ein ökonomisch verträgliches Maß, würde sie im Nachhinein von sozialen oder Naturkatastrophen wieder reduziert. Den zentralen demographischen Regelmechanismus bildet in diesem Modell die Sterblichkeit: Schlecht genährte, an der Grenze ihrer physischen Existenz lebende Menschen fielen Kriegen, Seuchen, Mißernten und Hungersnöten leicht zum Opfer. Derartige Auffassungen waren unter den Demographen des 16. und 17. Jahrhunderts weit verbreitet.1 Sie gingen in der Formulierung des »positive check« in das Malthussche Werk ein und bildetenjenes Element seiner Theorie, das die Malthus-Rezeption des 19. 62

Jahrhunderts vorwiegend prägte. Unter den gegenwärtigen fuhrenden Bevölkerungshistorikern gilt Carlo Cipolla als Vertreter dieser theoretischen Tradition. In »landwirtschaftlichen Gesellschaften«, schreibt er in seiner »Economic History of World Population«, »war die Sterberate normalerweise niedriger als die Geburtenrate und die Bevölkerung pflegte zu wachsen, aber am Ende löschten katastrophische Höhepunkte der Sterberate die 'überzählige' Bevölkerung aus. Der Kreislauf begann von neuem«.2 Der zweite Erklärungsansatz betont demgegenüber die Möglichkeit eines Gleichgewichts zwischen Bevölkerung und Wirtschaft. Er wurde von englischen Theologen des 17. und 18. Jahrhunderts begründet, die sowohl im Tier- wie auch im Menschenreich das Wirken einer göttlichen Ordnung vermuteten, welche Zahl und Ressourcen jeder einzelnen Spezies in Balance hielt.3 Sowohl Süßmilch als auch Malthus (mit seiner Theorie des »preventive check«) entwickelten dieses Modell weiter, wenn sie ihm auch - wie bereits dargestellt wurde - ganz unterschiedliche soziale Mechanismen zugrunde legten. In der deutschen Bevölkerungsgeschichte unseres Jahrhunderts wurde es erneut aufgegriffen, wobei sich allerdings der Akzent von einer »harmonischen« auf eine obrigkeitlich-herrschaftliche Ordnung verschob. In diesem Erklärungsansatz erscheint das Heiratsverhalten als der zentrale demographische Regelmechanismus. Am umfassendsten ausformuliert wurde dieser Ansatz in Modellen »homöostatischer« und »autoregulativer« demographischer Systeme, die von den 1960er Jahren an in der internationalen Historischen Demographie Verbreitung gewannen.4 Die zunehmende Fülle empirischer Ergebnisse der Historischen Demographie, die vor allem mit Hilfe von Familienrekonstitutionen erzielt worden war, schuf einen theoretischen Erklärungsbedarf, der wiederum mit zur selben Zeit entwickelten biologischen bzw. tiersoziologischen Modellen zu befriedigen zu sein schien. Der Einfluß kybernetischer und funktionalistischer Denkweisen auf die Sozialwissenschaften förderte deren Rezeption.5 Die Konstruktion homöostatischer autoregulativer Modelle wurde in den letzten zwanzig Jahren zum zentralen Paradigma verschiedener bevölkerungswissenschaftlicher Disziplinen, in besonderem Maß der Bevölkerungsgeschichte und Historischen Demographie. Sie beruhen auf der Annahme, daß im frühneuzeitlichen Mittel- und Westeuropa zwischen Sterblichkeit und Fruchtbarkeit ein relatives Gleichgewicht bestanden habe, das in einem tendentiellen Nullwachstum der Bevölkerung zum Ausdruck gekommen sei.6 Das Heiratsverhalten erscheint dabei als das »zentrale Zahnrad im selbstregulierenden Mechanismus«.7 Da im Geltungsbereich des European Marriage Pattern die Eheschließung mit der Verfugung über eine ökonomische Zelle der Gesellschaft - einen Haushalt - verknüpft gewesen sei und wirtschaftliche Unabhängigkeit vorausgesetzt habe, hielten Heiratsalter und Ledigenanteile Bevölkerung und ökonomische Ressourcen in Balance.8 63

Dieses Modell stellt in allgemeinster Form die Prämisse aller Bevölkerungstheoretiker dar, die im Heiratsverhalten den zentralen demographischen Regelmechanismus sehen, unabhängig davon, wie sie seine konkrete Wirkungsweise auffassen. Explizit oder implizit stellt dieses Modell ein Angebot zur Erklärung des European Marriage Pattern bereit: Das für Mittel- und Westeuropa charakteristische hohe Heiratsalter und die niedrigen Verehelichtenquoten erscheinen als Funktionen eines vorindustriellen »homöostatischen, autoregulativen Systems« oder einer »agrarischen Bevölkerungsweise«.9 Dagegen ist aber sowohl innerhalb der Demographie als auch von seiten der Sozialgeschichte Einspruch erhoben worden.

2. Zur Kritik des homöostatischen Paradigmas Zunächst steht ganz allgemein das angenommene Gleichgewicht zwischen ökonomischen Ressourcen und Bevölkerung zur Diskussion. Übereinstimmung herrscht darüber, daß die europäische Bevölkerung der Frühen Neuzeit tatsächlich eine relativ hohe Stabilität aufwies. Sie wuchs nur langsam an und war in der Lage, Verluste auszugleichen. Darüberhinaus haben vor allem einige nordfranzösische Regional- und Lokalstudien über lange Zeiträume hinweg eine erstaunliche Kontinuität der Zahl der »Feuerstellen« und ihrer Verteilung im Raum nachgewiesen.10 Aus all dem folgt aber in keiner Weise ein zwingender Zusammenhang zwischen Bevölkerung und Ökonomie. Diese Annahme hat sich vielmehr bisher einer empirischen Uberprüfung weitgehend entzogen. Die bevölkerungsgeschichtliche Forschung stützt sich überwiegend auf dörfliche FamiHenrekonstitutionen, die über ökonomische Verhältnisse, Ertragslagen oder Produktivität nur selten Auskunft geben.11 Es ist demnach in keiner Weise zu begründen, daß im frühneuzeitlichen Europa »nicht eine weitaus größere Zahl an Menschen hätte ernährt werden können, als dies tatsächlich der Fall war«.12 Selbst Dupaquier, einer der wichtigsten Vertreter des homöostatischen Paradigmas, nimmt an, daß ohne wesentliche Veränderungen der landwirtschaftlichen Technik, aber auch ohne die Schranken, die der Großgrundbesitz einer weitgehenden Zerstückelung des Bodens und dem Ubergang zu einer kleinflächigen Gartenkultur zog, Frankreichs Bevölkerung im 17. oder 18. Jahrhundert mehr als doppelt so groß hätte sein können, wie die tatsächlichen zwanzig Millionen.13 Daß die europäische Bevölkerung der Frühen Neuzeit eine von der verfügbaren landwirtschaftlichen Produktivität gezogene Obergrenze erreicht oder daß ein schnelleres Bevölkerungswachstum den etablierten Lebensstandard gefährdet hätte, konnte bisher nicht begründet werden. In vielen Regionen scheint der Mangel an Arbeitskräften ein größeres Problem gewesen zu sein, als der Uberfluß.14 64

Auch der Einfluß des Heiratsverhaltens auf die Stabilität der Bevölkerung ist in keiner Weise eindeutig. Weiträumige Vergleiche von Familienrekonstitutionen deuten darauf hin, daß auch große Unterschiede in Heiratsalter, Sterblichkeit und ehelicher Fruchtbarkeit nur sehr geringe Unterschiede der Wachstumsraten bewirkten.15 Ein niedriges Heiratsalter der Frauen erhöhte nicht notwendigerweise die Zahl der Kinder jedes einzelnen Paares, da es oft mit einer höheren Kindersterblichkeit und einer geringeren ehelichen Fruchtbarkeit verbunden war.16 Umgekehrt zeigen Gebiete mit ähnlichen Heiratsmustern sehr verschiedenartige Wachstumsraten. Dasselbe »demographische Regime« (Stabilität der Bevölkerung, begrenzte Fruchtbarkeit) kann Ergebnis sehr unterschiedlicher »demographischer Systeme« sein.17 Besondere Widersprüche werden sichtbar, wenn man die Frage nach dem Beginn und dem Ende der »agrarischen Bevölkerungsweise« stellt. Reicht das System hohen Heiratsalters und beschränkter Heiratsmöglichkeiten, wie Ipsen und Mackenroth postulieren, in das 14. Jahrhundert zurück ? Oder war, wie Hajnal aus verstreuten Einzelbeispielen ableitet, das späte Mittelalter noch eine Zeit frühen Heiratens, während das »European Marriage Pattern« sich erst allmählich in der Neuzeit herauszubilden begann?18 Wurden die mit der Heirat verbundenen »demographischen Kontrollmechanismen« der Bevölkerung erst als Antwort auf die »Krise des 17. Jahrhunderts« entwickelt, also zu einem Zeitpunkt, in dem das »vorindustrielle Bevölkerungssystem« zumindest in den Regionen mit verdichtetem ländlichen Gewerbe auch schon wieder »außer Kraft gesetzt« wurde?19 Und weiter: »Wie lange ist es wirksam geblieben? Vor allem: war es noch wirksam, als in der Mitte des 18. Jahrhunderts in allen Teilen Europas der Prozeß des rapiden Bevölkerungsanstiegs einsetzte? Wenn ja - welche Faktoren machten dieses Wachstum möglich, das unter dem Zeichen der vorindustriellen Bevölkerungsweise doch über mehr als zwei Jahrhunderte verhindert worden war? Wenn nein - welche Faktoren setzten das 'auto-regulative' System außer Kraft? Es mag überraschend klingen, aber in der hochdifferenzierten Forschung zur historischen Demographie gibt es auf diese Frage noch keine bündigen Antworten.«20

Ganz allgemein ist die lange Phase des Übergangs von der vorindustriellen zur industriellen Gesellschaft am sperrigsten gegenüber den referierten Modellen der Bevölkerungsgeschichte. Deshalb wird auch in bezug auf das Heiratsverhalten die Ubergangsphase vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert kaum thematisiert und meist durch die idealtypische Gegenüberstellung der vorindustriellen und der industriellen »Bevölkerungsweise« übersprungen.21 Das zentrale Modell der Übergangsphase, die »demographische Transition«, leitet das Bevölkerungswachstum aus der Schere von sinkender Sterblichkeit und gleichbleibender Fruchtbarkeit ab und bezieht das Heiratsverhalten nicht als erklärende Variable ein.22 Auf diese Periode beziehen sich auch kritische Einwände über den Zusam65

menhang von Heiratsverhalten und Wirtschaftsentwicklung im Ergebnis empirischer sozialgeschichtlicher Studien. Robert Lee hat für Bayern darauf aufmerksam gemacht, daß eine Steigerung des Heiratsalters im 18. und 19. Jahrhundert parallel zur Steigerung der landwirtschaftlichen Erträge verlief, also nicht einen schrumpfenden, sondern einen wachsenden »Nahrungsspielraum« begleitete.23 Seine Schlußfolgerung lautet, das Heiratsverhalten nicht aus der Beziehung zwischen Bevölkerung und Wirtschafewachstum abzuleiten, sondern »institutionelle und sozial intervenierende Variablen« einzuführen.24 Denselben Zusammenhang hat Mitterauer am Beispiel der österreichischen Agrarrevolution nachgewiesen: Der Ubergang zur Stallfütterung, ein wesentlicher Schritt in der Erhöhung der Produktivität der Landwirtschaft, erhöhte den Gesindebedarf, vermehrte also - in der Terminologie der deutschen Bevölkerungsgeschichte - den Anteil der »generativ nicht vollwertigen Stellen«.25 Anthropologische Studien über Schweizer Alpendörfer haben im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts den Ubergang von einer stationären zu einer schnell wachsenden Bevölkerung festgemacht und mit einer Verbesserung der Ernährung durch die Einführung der Kartoffel erklärt. Allerdings stieg gerade in dieser Wachstumsperiode sowohl das Heiratsalter als auch der Anteil zeitlebens Lediger weiter an. »Nuptialitiy declined in a period marked by an expansion of resources«,26 verallgemeinert Viazzo für das gesamte Alpengebiet des späten 18. und des 19. Jahrhunderts und kommt ebenfalls zu dem Schluß, das Heiratsverhalten nicht als Funktion eines homöostatischen Systems zu interpretieren, sondern als Element einer Strategie der sozialen Reproduktion, als Bedingung »to permit the perpetuation of a given kind of social structure.«27 Allein diese Hinweise lassen es angebracht erscheinen, die Erklärung des European Marriage Pattern als Funktion einer »agrarischen Bevölkerungsweise« zu verwerfen. Soweit empirische Ergebnisse vorliegen, deuten sie in keiner Weise auf eine real existierende Kausalbeziehung zwischen Heiratsverhalten, Bevölkerung und materiellen Ressourcen hin. Dies schließt umgekehrt nicht notwendigerweise einen Einfluß des European Marriage Pattern auf Stand und Wachstum der Bevölkerung aus, aber auch dabei tritt die Nuptialität nicht als isolierter Faktor in Erscheinung, sondern nur als ein einzelnes Element vielfältig verflochtener demographischer Wechselbeziehungen. Nur in einer Hinsicht scheint dieses spezifische Heiratsmuster einen unmittelbaren Beitrag zur relativen Stabilität der europäischen Bevölkerung der Frühen Neuzeit geleistet zu haben. Es sorgte für einen ständigen Pool lediger Erwachsener, die als »Reserve der Reproduktion«, als »Vorrat an Ehen« zur Verfügung standen, wenn eine der großen Sterblichkeitswellen Lücken geschlagen hatte.28 Daß aber überhaupt ein gesellschaftliches Bedürfnis bestand, verstorbene Ehefrauen und Ehemänner oder auch ganze Paare 66

rasch wieder zu ersetzen, ist eher den Zwängen der Arbeitsorganisation, der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und der Rollenergänzung geschuldet, als einem demographischen Mechanismus. Die Ablehnung des homöostatischen Paradigmas als Modell zur Erklärung des European Marriage Pattern wirft zugleich die Frage nach alternativen Erklärungsangeboten auf. Was veranlaßte tatsächlich soviele Menschen im frühneuzeitlichen Mittel- und Westeuropa, ihre Heirat zumindest bis in das mittlere Lebensalter aufzuschieben oder überhaupt auf sie zu verzichten? In der Kritik des homöostatischen Paradigmas wurden bereits sozialhistorische Konzepte wie Sozialstruktur und Arbeitsorganisation angesprochen. Eine umfassende Diskussion der sozialen Ursachen des European Marriage Pattern und seiner realgeschichtlichen Entwicklung steht allerdings noch aus. In den folgenden Abschnitten wird versucht, vorhandene Erklärungsansätze in drei Themenbereichen zusammenzufassen: Sozialstruktur, Arbeitsorganisation und soziale Kontrolle.

3. Heiratsverhalten und Sozialstruktur Schon die referierten demographischen Theorien enthalten Aussagen über den Zusammenhang von Heiratsverhalten und Sozialstruktur, die nicht notwendigerweise an das homöostatische Paradigma gebunden sind. Zur Erklärung des European Marriage Pattern dienen zwei unterschiedliche Idealtypen der Sozialstruktur. In England gilt in der Tradition Malthus' eine »offene« Sozialstruktur als Ursache eines hohen Heiratsalters und hoher Ledigenquoten. Die Eheschließung erscheint als prinzipiell uneingeschränkt, setzt aber die Akkumulation eines Vermögens voraus, das zur Gründung eines den Anforderungen der jeweiligen sozialen Schicht entsprechenden Haushalts ausreichen sollte. Für die Angehörigen der unteren Schichten bot nach Auffassung Malthus' der Dienstbotenstatus die besten Möglichkeiten, die dazu nötigen Mittel zu sparen.29 Ein hohes Heiratsalter ergibt sich in diesem Konzept aus der Zeitspanne, die erforderlich ist, um die wirtschaftlichen Grundlagen einer Familie zu schaffen. Sie schwankt in Abhängigkeit von der Konjunkturlage: Hohe Reallöhne verkürzen, niedrige verlängern sie. Ein hohes Heiratsalter und hohe Ledigenquoten erscheinen in diesem Konzept als Elemente einer offenen, von Arbeitsmärkten und Wirtschaftszyklen geprägten Sozialstruktur, in der aber traditionellen Sozialformen wie Dienstbotenverhältnissen und Gesindedienst noch eine wichtige Rolle zukommt. Kontinentaleuropäischen und insbesondere deutschen Ansätzen zur Erklärung des European Marriage Pattern liegt dagegen die Annahme einer »geschlossenen« Sozialstruktur zugrunde. Nach dem »Prinzip der Nahrungs67

stelle« oder der »ökonomischen Nische« wäre die Zahl der verfügbaren Haushalte und damit der möglichen Ehen grundsätzlich begrenzt. Ein hohes Heiratsalter erscheint als Ergebnis langer Wartezeiten auf das Freiwerden »familientragender Stellen«, ein hoher Anteil zeitlebens Lediger als Folge ihrer beschränkten Zahl. Für England haben Wrigley und Schofield dieses Modell als »zu restriktiv« zurückgewiesen.30 Leistet es aber einen Beitrag zur Erklärung der »bäuerlichen Variante« des European Marriage Pattern? Auch daran sind Zweifel angebracht. Die Annahme einer begrenzten Zahl von »familientragenden Stellen«, die ein annähernd gleiches oder zumindest minimales ökonomisches Potential umfaßt hätten, läßt die schon in der Frühen Neuzeit hohe soziale Differenzierung außer acht. Einschlägige Studien weisen auf vielfältige Abstufungen der landwirtschaftlichen Besitzgrößen und fließende Übergänge von Kleinbesitzern zu Landlosen hin.31 Die mitteleuropäischen ländlichen Gesellschaften der Frühen Neuzeit bestanden nicht aus »Stellen« schlechthin, sondern aus reicheren Stellen, die einen Uberschuß erwirtschafteten, aus ärmeren, von denen man zur Not leben konnte und schließlich aus solchen, die weder eine Familie noch eine Einzelperson ernährten, diverse Nebentätigkeiten erforderlich machten und trotzdem von Verheirateten »besetzt« waren. Wo könnte in diesem fließenden Spektrum die Grenze zwischen »generativ vollwertigen« und »generativ nicht vollwertigen« Stellen gezogen werden, die jeweils die Eheschließung gestattet oder verboten hätten? - bei zwanzig oder bei zwei Hektar, beim Häusler oder beim Inwohner, beim Roßknecht oder bei der Gänsemagd? Was bliebe, wäre eine schlichte Tautologie: Wer ledig ist, sitzt eben auf einer nicht vollwertigen Stelle. Auch die insgesamt nur sehr wenigen Studien über die langfristige Entwicklung lokaler Sozialstrukturen führen keineswegs zu dem Schluß, daß die Zahl der Familien prinzipiell eingefroren gewesen wäre. Relativ beschränkt erscheinen bestimmte soziale Positionen, die etwa den Besitz eines Bauernhofes oder eines städtischen Gewerberechts voraussetzten, aber nicht »familientragende Stellen« schlechthin. In Sachsen ist z.B. zwischen 1550 und 1750 die Zahl der Bauern ungefähr gleich geblieben, während jene der Gärtner, Häusler und Inwohner etwa auf das Fünffache anstieg.32 Ganz ähnliches hat Jürgen Schlumbohm für das Kirchspiel Belm im Osnabrücker Raum ermittelt, wo die Zahl der bäuerlichen und kleinbäuerlichen Haushalte vom frühen 16. bis in das 19. Jahrhundert ziemlich konstant geblieben ist, der Anteil der landlosen Haushalte aber kontinuierlich anstieg und um 1600 schon rund ein Drittel, um 1850 rund zwei Drittel aller Haushalte ausmachte.33 Eine parallele Entwicklung ist auch für Schlesien nachgewiesen.34 In Österreich stellten zur Mitte des 18. Jahrhunderts »unbehauste« Familien etwa ein Drittel der Landbevölkerung.35 Um 1800 übertrafen überall in Mitteleuropa ländliche Unterschichten zahlenmäßig die Bauern.36 68

Im Unterschied zu den Annahmen der »Vollstellentheorie« oder der »Theorie der ökonomischen Nischen« fuhrt dies zu dem Schluß, daß nicht »familientragende Stellen« schlechthin begrenzt gewesen waren, wohl aber spezifische soziale Positionen innerhalb einer reich differenzierten Sozialstruktur. Natürlich machte es einen großen Unterschied, auf einen eigenen Bauernhof oder auf eine landlose Inwohnerstelle zu heiraten. In Anerbengebieten mögen Kinder von Bauern ein langes Warten auf den Hof oder überhaupt den Ledigenstand einer Heirat in die unterbäuerliche Schicht vorgezogen haben. Auch in Realteilungsgebieten mit ihren komplexen und vielfach verflochtenen Systemen von Erbansprüchen kam der Eheschließung eine enorme soziale Bedeutung zu.37 Dabei handelt es sich aber um das Behaupten oder Erlangen bestimmter - tatsächlich knapper und meist an ein Erbe gebundener - sozialer Positionen und nicht um materielle Ressourcen schlechthin. Eine ähnliche Situation bestand in den Städten. Daß es Handwerksgesellen prinzipiell unmöglich gewesen wäre, eine Familie zu gründen, war sicherlich in der Frühen Neuzeit nicht die Regel. Für diejenigen aber, die eine Ehe eingingen, ohne das Meisterrecht erlangt zu haben, hatte dies gravierende soziale Konsequenzen: Ausschluß aus dem sozialen Netz der Zunft, Wechsel des Berufs in den Taglohn, Verlust der »Ehre« und anderes mehr - Konsequenzen, vor denen viele lange zurückschreckten oder die sie überhaupt nicht riskierten. Mit der Eheschließung wurde eine wesentliche und in den meisten Fällen irreversible Entscheidung über die weitere soziale Position getroffen. Damit erscheint das Heiratsverhalten nicht als Variable im »Reproduktionsprozeß der Menschen«, wohl aber als Variable im Prozeß der sozialen Reproduktion, der Reproduktion einer spezifischen Klassen- und Sozialstruktur. Ökonomische Grundlage dieser Sozialstruktur war im frühneuzeitlichen Mitteleuropa weniger die Lohnarbeit, als vielmehr »die kleine Bauernwirtschaft und der unabhängige Handwerksbetrieb, die beide teils die Basis der feudalen Produktionsweise bilden, teils nach deren Auflösung neben dem kapitalistischen Betrieb erscheinen«.38 Die Heirat kann in dieser Sozialstruktur als wesentlicher Faktor der sozialen Plazierung verstanden werden. Dies setzt nicht notwendigerweise voraus, daß Bauern und Handwerksmeister zahlenmäßig dominierten. Wohl aber liegt diesem Konzept zur Erklärung des European Marriage Pattern die Annahme zugrunde, daß die soziale Logik der bäuerlichen Familienwirtschaft und des zünftigen Handwerksbetriebs die Sozialstruktur insgesamt prägte.

69

4. Arbeitsorganisation und Familienstruktur Die wirtschaftliche Grundeinheit der feudalen Produktionsweise bildete im frühneuzeitlichen Mittel- und Nordwesteuropa die bäuerliche Familie.39 Ihr Kern bestand in der Regel aus einem einzigen verheirateten Paar und seinen Nachkommen. Die Zahl der Arbeitskräfte pro Produktionseinheit blieb in dieser Familienstruktur begrenzt und vom Familienzyklus abhängig. Dies machte eine zeitweilige oder dauernde Ergänzung des familialen Arbeitskräftepotentials notwendig. Natürlich konnte sie in verschiedener Form erfolgen: wechselseitiger Austausch von Arbeitskräften zwischen verschieden großen Höfen, zeitweilige Beschäftigung von Lohnarbeitern bei besonderem Arbeitsanfall u.a.m. Eine Mindestanzahl ständig verfügbarer, kontinuierlich in die Familienwirtschaft eingebundener Arbeitskräfte konnte allerdings nicht unterschritten werden. Sie hing neben der Hofgröße von vielen weiteren Faktoren ab: Viehzucht erforderte zum Beispiel mehr ständig anwesende Arbeitskräfte als Ackerbau; abgelegene Einzelhöfe hatten einen höheren Bedarf als solche in zentralen Siedlungen mit einer differenzierten Sozialstruktur. Die wichtigste Gruppe zusätzlicher Arbeitskräfte bildete das Gesinde. Auch der Gesindedienst ist eine spezifisch mittel- und westeuropäische Institution, die bis in die frühmittelalterliche Villikationsverfassung des Fränkischen Reichs zurückreicht.40 Gesinde muß nicht notwendigerweise ledig sein, und in einzelnen Regionen finden sich tatsächlich verheiratete Knechte und Mägde.41 Allerdings war ihr Ledigenstand in besonderem Maß funktional. Er sicherte eine hohe Mobilität der Knechte und Mägde als einer flukturierenden Gruppe, die den familienzyklisch oder konjunkturell schwankenden Arbeitskräftebedarf abzugleichen imstande war. Zugleich erleichterte er ihre hausrechtliche Einbindung und damit Kontrolle. Eine weitere Gruppe lediger Mitbewohner bildeten Verwandte, die nicht oder noch nicht zur Gründung eines eigenen Haushalts gelangt waren: Nachkommen des Bauern, die auf den Antritt des Erbes warteten; Brüder und Schwestern des Bauern, die den Ledigenstand in der Herkunftsfamilie einer nicht standesgemäßen Heirat vorzogen u.a.m. Auch diese Gruppe bildete einen Bestandteil des familialen Arbeitskräftepotentials. Häufig nahm sie in der häuslichen Hierarchie eine Stellung ein, die sich von der des familienfremden Gesindes nicht unterschied. Zugleich kamen hier aber auch Strategien zur Sicherung des Weiterbestandes des Hofes ins Spiel, und ebenso die Versorgungsfunktion der bäuerlichen Hausgemeinschaft.42 Diese spezifischen Formen bäuerlicher Familienstruktur und Arbeitsorganisation können als wesentliche Ursachen des verlängerten Ledigenstandes in Mittel- und Westeuropa betrachtet werden. In modifizierter Form begegnen sie auch in anderen sozialen Schichten, vor allem in Handwerk und Gewerbe. 70

Eine gemeinsame Besonderheit des Gesindedienstes in Europa bestand auch in seiner Bindung an die - wenn auch vielfach verlängerte - Jugendphase. Es handelte sich in der Regel nicht um ein lebenslängliches, sondern um ein lebenszyklisch begrenztes Verhältnis, für das sich in der demographischen und familiengeschichtlichen Literatur die Bezeichnung »life cycle servant« eingebürgert hat. Dies hat wesentliche Konsequenzen für das Heiratsverhalten. Der Gesindedienst erschwerte oder verhinderte frühzeitiges Heiraten, hielt zugleich aber die Perspektive einer späteren Heirat offen.43

5. Soziale Kontrolle und Ehekonsens In der deutschsprachigen bevölkerungsgeschichtlichen Tradition gilt obrigkeitliche Kontrolle als ein wesentlicher Garant der Ehebeschränkungen, und sie erscheint als konzertiertes Interesse der einzelnen Kontrollinstanzen: Staat, Grundherr oder Stadt, Hausvater. Schon im Zusammenhang mit dem politischen Ehekonsens wurde sichtbar, daß eine derartige Interessensidentität in bezug auf Volkszahl und Heiraten keineswegs bestand. Die Staaten schwankten zwischen Einschränkung und Förderung der Ehen, die Grundherrn scheinen generell dem letzteren zugeneigt zu sein, während vielen Hausvätern an einem ausreichenden Angebot lediger Dienstboten gelegen war. Ein gemeinsames Interesse können wir kaum am Bevölkerungswachstum festmachen, wohl aber an dem Bestreben, mobile junge Menschen unter Kontrolle zu halten, sei es auch aus unterschiedlichen Gründen: aus unmittelbarem Interesse an ihrer Arbeitskraft, aus Angst vor sozialen und politischen Unruhen und anderem mehr. Nicht ein obrigkeitliches oder institutionelles Kontrollsystem war notwendig, um den Ledigenstand »generativ nicht Vollwertiger« zu gewährleisten, sondern umgekehrt erleichterte der Ledigenstand junger und mobiler Menschen ganz entscheidend ihre Kontrolle. Zentral war dabei ohne Zweifel der Weiterbestand hausrechtlicher Abhängigkeit als unmittelbar wirksame Herrschaftsform. Dazu kommt, daß unabhängig von der Arbeitsorganisation die Heirat als »Abschlußzäsur der Jugendphase« eng mit politischer Berechtigung zusammenhing: >^Für den Mann war die Übernahme der Hausherrenstellung durch die Heirat traditionell mit politischen Rechten in der Gemeinde oder in anderen Formen der Öffentlichkeit verbunden.«44 Unverheiratete blieben von diesen Rechten ausgeschlossen. Noch viel zu wenig untersucht sind weiter mittelbare psychologisch wirksame Faktoren. Die Ehebeschränkungen stoppten den lebenszyklischen Ubergang in den Erwachsenenstatus ab. Wir können vermuten, daß die darin enthaltene Macht über das Sexualverhalten emotionale Abhängigkeit förderte. Dabei sollte aber die oben erwähnte Bindung von hausrechtlicher Abhängigkeit und Jugendphase nicht außer acht gelassen werden. Es erscheint 71

plausibel, daß gerade der befristete Charakter dieses Verhältnisses seine Akzeptanz bei den Betroffenen erhöhte, damit aber zu seiner Verfestigung beitrug. Aus sozialhistorischer Perspektive kann damit die Geschichte der Ehebeschränkungen als Geschichte sozialer Kontrolle verstanden werden.45 Diese erscheint aber nicht losgelöst von einer gegebenen Sozialstruktur und Arbeitsorganisation, sondern vielmehr als Modus ihrer Aufrechterhaltung und Reproduktion. Versuchen wir, von diesem Blickwinkel aus die Geschichte des politischen Ehekonsenses zu interpretieren. Auch wenn wir uns dabei schon im 19. Jahrhundert bewegen, bietet er doch die beste Möglichkeit, die Funktionsweise obrigkeitlicher Ehebeschränkungen systematisch zu untersuchen. Daß dieses System nicht viel mit Bevölkerungswachstum oder auch Armenversorgung zu tun hatte, haben schon seine zeitgenössischen Kritiker zur Genüge dargestellt: Administrative Ehebeschränkungen verhinderten keine unehelichen Geburten, auch außerhalb der Ehe Geborene hatten Anspruch auf die Unterstützung ihrer Heimalgemeinde.46 Vom Standpunkt der Armenkassen war der Ehekonsens sogar konterproduktiv. Wenn man gerade den armen, kranken oder alten Menschen die Heirat verbot, beraubte man sie mit der Familie der wichtigsten Institution sozialer Sicherung und machte sie verstärkt von kommunalen Einrichtungen abhängig. Auch aus der regionalen Verbreitung des politische Ehekonsenses läßt sich kein Zusammenhang zu »Übervölkerung« oder »Proletarisierung« ableiten. Sowohl die Länder mit wie auch jene ohne administrative Heiratsbeschränkungen umfaßten sozialökonomisch ganz unterschiedlich strukturierte Räume. Dabei wurden die dicht besiedelten Realteilungsgebiete mit ihren zersplitterten Besitzverhältnissen am wenigsten von den gesetzlichen Bestimmungen berührt. Der Tenor der Gesetze war, »unansässigen« oder »unbehausten« Menschen die Heirat zu erschweren. Gerade in den Realteilungsgebieten hatte aber fast jeder Bewohner Anteil an einem Stück Land. Das österreichische Innenministerium gab 1895 eine eindeutige Interpretation des in Tirol noch bestehenden Ehekonsenses: Nicht unterworfen sei ihm »ein gewerblicher Gehilfe, der auch Besitzer eines Reales ist, da er infolge dieses letzteren Umstandes nicht zu den unansässigen Personen gerechnet werden kann«.47 In Württemberg waren die oberschwäbischen Gemeinden mit ihren großen, reichlich Gesinde benötigenden Höfen die vehementesten Befürworter gesetzlicher Ehebeschränkungen.48 Sowohl in der regionalen Verbreitung als auch im historischen Verlauf zeichnen sich dagegen Zusammenhänge zwischen Ehekonsens und politischer Verfassung ab. Den größten gesetzlichen Stellenwert erlangte er dort, wo die Gemeinden starken politischen Einfluß besaßen oder wo die Staatsverwaltung glaubte, ihre »gute Policey« nur mit Hilfe der traditionellen Kontrollinstanzen Gemeinde und Hausvater sichern zu können.49 Ebenso scheint der 72

praktische Vollzug administrativer Ehebeschränkungen dort am drückendsten gewesen zu sein, wo den lokalen Selbstverwaltungsorganen das entscheidende Wort zukam. Es scheint demnach sinnvoll zu sein, zur Erklärung des politischen Ehekonsenses nach den Interessen der lokalen Oberschichten zu fragen. Ihnen gaben die administrativen Ehebeschränkungen zweifellos ein gewichtiges Machtmittel und Disziplinierungsinstrument in die Hand. Dieses wäre aber funktionslos geworden, wenn es tatsächlich die Heiraten der unteren Schichten hätte verhindern sollen. Wirkungsvoll war es dann, wenn es das Recht der Eheschließung nicht grundsätzlich beseitigte, aber an das Wohlwollen der lokalen Oberschichten knüpfte. Gerade die diffusen moralischen Formulierungen der Gesetze haben hier ihren Sinn. Wenn Meister, Hausherren und Grundrichter über das gute Betragen der Wiener Handwerksgesellen zu urteilen hatten, so trug dies sicherlich dazu bei, die Anpassungsleistung gerade der Heiratswilligen in und außer der Arbeit zu erhöhen. Dasselbe mag für einen Tiroler Knecht gegolten haben, dessen Bauer vielleicht im für den Heiratskonsens zuständigen Gemeindeausschuß saß. In den komplizierten Machtverhältnissen einer auf unmittelbarer persönlicher Kontrolle beruhenden Arbeitsorganisation und in den vielfältig verflochtenen Patron-Klient-Verhältnissen zwischen lokalen Ober- und Unterschichten war der Ehekonsens ein zusätzliches Gewicht. Daneben kann aber ein direktes Interesse an hausrechtlich abhängigen Arbeitskräften nicht vernachlässigt werden. Wie ein roter Faden ziehen sich durch die Geschichte des Ehekonsenses von seinen ersten Anfängen an Einwände gegen die Heirat von Dienstboten, seien es ländliche Knechte und Mägde, seien es Handwerksgesellen. Das Interesse an einem Potential hausrechtlich abhängiger Arbeitskräfte ist auch an der Koppelung von Ehekonsens und Niederlassungsrecht festzumachen. Ferngehalten werden sollten ja alle jene, die sich nicht in hausrechtliche Abhängigkeit zu begeben wünschten: Bettler und überhaupt fahrendes Volk. Keinesfalls wandten sich die Gesetze aber gegen räumliche Mobilität an sich. Ganz im Gegenteil: Solange die Arbeitskräfte ledig blieben, erhöhte dies ihre Bereitschaft, jeweils dort hin zu wandern, wo sie gerade gebraucht wurden. Aus dieser Perspektive erhält auch die Frage nach den Auswirkungen des politische Ehekonsenses einen neuen Akzent. Die meisten Historischen Demographen legen dabei große Zurückhaltung an den Tag. »Ohne präzisere Informationen über Existenz und Natur von Beschränkungen in den einzelnen Dörfern ist es nicht möglich, eine überzeugende Aussage über ihren Einfluß auf die Trends des Heiratsalters im 19. Jahrhundert zu machen.«50 Wo es genaue Informationen gibt, wie z.B. in einer Lokalstudie über Esslingen, werden sie sogar als »Ausdruck des geringen Wirkungsgrades der gesetzlichen Ehehindernisse« interpretiert.51 Nach den Daten und Schätzungen von Matz wurden mit Hilfe der Gesetzgebung in Württemberg 1852-1863 mehr 73

als sechs Prozent aller beabsichtigten Ehen verhindert; in Baden etwa gleichviel; in Hessen, wo der Einfluß der Gemeinden schwächer war, etwas weniger; in Bayern dagegen »mit Sicherheit mehr«.52 Auf dem Höhepunkt des politischen Ehekonsenses erhoben also die Gemeinden etwa gegen jede fünfzehnte bis zwanzigste Heirat erfolgreich Einspruch. Wieviele der abgewiesenen Bewerber zu einem späteren Zeitpunkt neuerlich um die Ehebewilligung ansuchten und sie dann gewährt erhielten, wissen wir nicht. Unbekannt ist natürlich umgekehrt auch der Anteil derjenigen, die ledig blieben, ohne durch die Verweigerung des Ehekonsenses dazu gezwungen worden zu sein. Wie kann man diese zahlenmäßig feststellbaren Auswirkungen einschätzen? Meines Erachtens sind sie als sehr niedrig anzusehen, wenn es wirklich darum gegangen wäre, die Vermehrung der Unterschichten zu verhindern. Andererseits liegen sie hoch genug, um der Eigenschaft des Ehekonsenses als potentiellem Kontroll- und Machtinstrument den gehörigen Nachdruck zu verleihen. Wichtiger aber scheint eine andere Frage zu sein: Wie in den folgenden Kapiteln dargestellt werden soll, waren die Gebiete, in denen der politische Ehekonsens vorherrschte, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tatsächlich von einem sehr hohen Heiratsalter und einem großen Anteil lebenslänglich Lediger geprägt. Die errechneten Prozentweite der beeinspruchten Eheanträge sind auch zu niedrig, um diese realen Heiratsverhältnisse zu erklären. Sie legen vielmehr den Schluß nahe, daß neben den gesetzlichen Regelungen das Hinausschieben oder der völlige Verzicht auf die Eheschließung als soziale Praxis noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts lebendig war. Die Gesetze mögen diese Praxis verstärkt und zu ihrer Bewahrung beigetragen haben, sie können aber nicht als ihre Ursache angesehen werden.

6. Faktoren des Wandels im 18. und 19. Jahrhundert In der Auseinandersetzung mit den theoretischen Traditionen der Bevölkerungsgeschichte zeichnen sich Sozialstruktur, Arbeitsorganisation und soziale Kontrolle als spezifisch sozialhistorische Konzepte zur Begründung des European Marriage Pattern ab. Können sie auch die realgeschichtlichen Veränderungen des europäischen Heiratsmusters im 18. und 19. Jahrhundert und vor allem seine unterschiedliche Richtung in England und in Mitteleuropa erklären? Dies ist im folgenden Abschnitt zu diskutieren, wobei dem englischen Beispiel eine besondere Bedeutung zukommt. Der hohe Entwicklungsstand der englischen Bevölkerungs- und Sozialgeschichte ermöglicht es, besser als in Mitteleuropa, theoretische Modelle mit empirischen Ergebnissen zu konfrontieren. 74

Wrigley und Schofield wiesen in ihrer »Population History ofEngland« nach, daß »crudefirstmarriage rate« und »real wage index« von etwa 1550 bis 1850 tatsächlich in einer erstaunlichen Parallelität verliefen. Schaubild 1:

Reallöhne und Heiratsverhalten in England, 1550 - 1850 (Real wage trends and crudefirstmarriage rates, both 25 year moving averages)

REAL WAGE INDEX , CRUDE FIRST MARRIAGE

RATE

--Θ00

26-

2524--

- -700

23-- "600

2 2 " "

2 1 "

- 500

2 0 "

19"

--AOO

18--

1551

-4-

1601

1651

-41701

CRUDE FIRST MARRIAGE RATE

1751

+

1801

-I-

1851 REAL WAGE INDEX

Anm.: »Crude first marriage rate« ist das Verhältnis der zum ersten Mal heiratenden Personen zur Gesamtbevölkerung im Alter von 15-34 Jahren. Quelle: Wrigley, Population Growth, S. 141

Dabei werden zwei große Wellen sichtbar. Im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert sind drastisch sinkende Reallöhne von einem Rückgang der Heiratshäufigkeit begleitet. Von der Mitte des 17. bis in das späte 18. Jahrhundert stiegen die Reallöhne relativ kontinuierlich an,und mit einer Verspätung von etwa einer Generation folgten die Heiratsmuster diesem Trend: Sinkendes Heiratsalter und steigende Heiratshäufigkeit kennzeichnen das »lange« 18. Jahrhundert in England. Etwa mit dem Beginn der Industriellen Revolution setzte ein kurzfristiger Rückgang der Reallöhne ein, wiederum im 30jährigen Abstand begleitet von einer sinkenden »crude first mar75

riage rate«. Explizit sehen Wrigley und Schofield den Zusammenhang zwischen diesen beiden parallelen Wellenbewegungen darin, daß ein steigender Lebensstandard zum Heiraten ermutigt habe und umgekehrt verschlechterte wirtschaftliche Bedingungen viele Menschen zum Verzicht oder zum Aufschieben der Heirat bewogen hätten.53 Wenn dieser Befund auch eindeutig abgesichert zu sein scheint, so ist er doch zum Gegenstand einer kritischen Diskussion geworden.54 Daß Heiratsverhalten und Reallöhne über mehr als drei Jahrhunderte parallel verliefen, kann kaum als Ergebnis des Zufalls eingeschätzt werden, sondern nur als Ausdruck eines real existierenden Zusammenhangs. Diese frappierende Parallelität beweist aber nicht notwendigerweise ein Kausalverhältnis, wie es das Malthussche Modell postuliert. Daß die beiden Reihen in einem Abstand von etwa 30 Jahren verliefen, ist schon eines der Probleme, für die bisher keine zufriedenstellenden Erklärungen gefunden wurden. Die Annahme einer Kausalbeziehung zwischen Löhnen und Eheschließungen birgt in sich die Gefahr eines »ökonomischen Reduktionismus«.55 Damit gerät die historische Demographie in Widerspruch zu der von E.P. Thompson, E. Hobsbawm u.a. begründeten und, wie es scheint, gegenwärtig dominierenden Tendenz der englischen Sozialgeschichte, die gerade gegen eine »verkürzte Sicht des wirtschaftenden Menschen« argumentiert und den Wechselbeziehungen von Ökonomie und Kultur besondere Aufmerksamkeit schenkt.56 Ausgangspunkt dieser Tendenz war eine neue Sichtweise von Form und Verlauf der Industrialisierung. Entgegen einer älteren Perspektive, die die mechanisierte Fabrik und die als ihre Geburtshelfer fungierenden technischen Innovationen hervorhob und den qualitativen Sprung der Industriellen Revolution betonte, geht die neuere Sozialgeschichte von einem weit zurück reichenden, langsamen und graduellen Verlauf der Industrialisierung aus und rückt ein breites Spektrum verschiedener Formen der Arbeitsorganisation in das Blickfeld.57 Die Fabrik bildete danach noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr als eine Form der Arbeitsorganisation unter vielen anderen, wie der verlegten Hausindustrie, dem nichtmechanisierten Kleinbetrieb, der Handwerkerwerkstatt.58 Die Entwicklung dieser vielfältigen Formen wird durchaus in ihrer Abhängigkeit von der Expansion der Marktwirtschaft und kapitalistischer Produktionsverhältnisse gesehen, zugleich erscheinen sie aber als ökonomische Beziehungen, die nicht in der glatten Logik der politischen Ökonomie des Kapitals aufgehen, sondern auch traditionelle »vorindustrielle« Werte und Motivationen, »nicht-marktgerechte« Verhaltensweisen reproduzieren.59 Produktion und Konsumtion werden nicht als Elemente einer isolierten ökonomischen Sphäre thematisiert, sondern als Bestandteile einer plebejischen Kultur, die auf dichten Gemeinschaftsbeziehungen zwischen Familien und Nachbarschaften beruht. »Plebeian commu76

nity versus the market« lautet zugespitzt der Gegensatz zweier historischen Perspektiven.60 Der neueren Sozialgeschichte geht es aber weniger um die Gegenüberstellung dieser beiden Bereiche, als um die Formen ihrer Vermittlung. Daß England schon in der Frühen Neuzeit eine in hohem Maß gewerblich und kommerziell durchdrungene Gesellschaft war, in der Lohnarbeit und Märkte von großer Bedeutung für das Leben der Menschen waren, steht außer Zweifel.61 Die Frage ist, ob sie sich auf den Arbeits- und Heiratsmärkten so verhielten, wie dies den Begründern der Politischen Ökonomie und der Bevölkerungswissenschaft als »rational« erschienen wäre, oder ob sie ihr Verhalten an ihrer eigenen »moralischen« Ökonomie und an kulturellen und institutionellen Traditionen orientierten. Diese Diskussion trifft natürlich zentral auf das Malthussche Modell einer direkten Entsprechung von Heiratsverhalten und Reallöhnen. Dies um so mehr, als in dem Bündel traditioneller Werte und Institutionen die Familie selbst einen prominenten Platz einnahm. Bei Historikern wie Demographen steht für England die lange Kontinuität und hohe Wertschätzung einer spezifischen Familienstruktur außer Zweifel: Wirtschaftliche Unabhängigkeit vor der Heirat, die auch ohne Erbgang erreichbar ist, Neolokalität des jungen Paares und eine starke Präferenz für den Kernfamilienhaushalt bildeten ihre wesentlichen Merkmale.62 Es handelt sich dabei um Elemente einer »modernen« Familienstruktur, die in England schon zur Tradition gehörte, als sich in Zentraleuropa das »ganze Haus« gerade aufzulösen begann. Für die Entwicklung des Heiratsverhaltens würde dies bedeuten, daß sich Reaktionen auf ökonomische Wechsellagen innerhalb der Parameter dieses Familiensystems bewegten. Wirtschaftlichen Verschlechterungen etwa mit einer Ausdehnung des Gesindedienstes, dem langfristigen Mitwohnen lediger erwachsener Kinder in der Herkunftsfamilie oder dem dauerhaften Zusammenleben lediger Geschwister zu begegnen, würde im Widerspruch zu seinen Traditionen stehen. Sehr viel wahrscheinlicher würde nach Lösungen gesucht werden, die im Einklang mit den gewohnten und geschätzten Familienstrukturen stünden. »Die plebejische Familie war 'modern'... Jahrhunderte vor der Industrialisierung, und es ist wichtig, das Ausmaß des Spielraums anzuerkennen, der innerhalb dieses Systems möglich war.«63 Die Bedingungen für die Bildung von Lohnarbeiterfamilien waren im 18. und 19. Jahrhundert aber keineswegs einheitlich, und nicht nur von den Zyklen der Reallöhne beeinflußt, sondern auch von einer Reihe weiterer Faktoren. Diese Problematik ist am besten anhand der historischen Veränderungen des Heiratsverhaltens zu diskutieren. Was die Daten betrifft, so scheinen sie für das 18. Jahrhundert am gesichertsten zu sein. Der bemerkenswert starke und kontinuierliche Rückgang des Heiratsalters und der Anstieg der Heiratshäufigkeit für Männer und Frauen steht außer Zweifel und ebenso der parallel verlaufende, schon früher 77

einsetzende und etwa bis zur Jahrhundertmitte anhaltende Anstieg der Reallöhne.64 Allerdings vollzog sich in England im 18. Jahrhundert eine ganze Reihe sozialer Veränderungen, von denen ebenfalls Auswirkungen auf das Heiratsverhalten anzunehmen sind. In der Charakterisierung durch E.E Thompson war es das Jahrhundert, »das die Erosion halbfreier Formen von Arbeit, den Niedergang des Einliegerwesens, das endgültige Aussterben der Dienste und den Vormarsch der freien und mobilen Lohnarbeit erlebt«.65 Christopher Hill machte darauf aufmerksam, daß um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein verstärkter Übergang von Teilzeit-Lohnarbeit, die noch in eine gemischte Ökonomie eingebunden war, zur »reinen« Vollzeit-Lohnarbeit erfolgte.66 Vor allem Dienst- und Lehrverhältnisse, die das Wohnen beim Arbeitgeber einschlossen, gingen in England während des 18. Jahrhunderts in mehrfacher Weise zurück: Der Anteil der erfaßten Personen sank ebenso wie die Dauer der Gesindedienste, und sie wurden tendentiell auf eine immer frühere Altersphase der Jugendlichen beschränkt.67 Noch wichtiger war vielleicht, daß der Rückgang des Gesindedienstes keine isolierte Erscheinung war, sondern Bestandteil einer umfassenden kapitalistischen Modernisierung der Landwirtschaft, in deren Zentrum die Einhegungen standen.68 Die Abschaffung der Allmende machte die Existenz von Häuslern, die zum Teil von Lohnarbeit, zum Teil von eigenen Ressourcen oder denjenigen der Allgemeinheit lebten, außerordentlich schwer, in vielen Orten unmöglich. Ihr Ergebnis war der völlig lohnabhängige Landarbeiter, für den kaum mehr Hoffnungen auf die Erlangung einer selbständigen Existenz - wie bescheiden auch immer - bestanden. In den eingehegten Dörfern und Regionen polarisierte sich die Sozialstruktur, Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg wurden geringer. Damit verblaßte ein - nach Malthus - wesentliches Motiv zum Aufschieben der Heirat.69 Ein weiterer Aspekt dieses Prozesses, der möglicherweise zur Verringerung des Heiratsalters beitrug, ist der Rückgang paternalistischer Kontrolle. Insbesondere E.P. Thompson verweist darauf, daß mit der Ausbreitung der Lohnarbeit im 18. Jahrhundert »ein wesentlicher Teil der arbeitenden Bevölkerung ... in seiner ganzen Lebensweise weniger in einem Abhängigkeitsverhältnis situiert war, als er es vorher gewesen war oder in den ersten Jahrzehnten der Zucht von Fabrik und Uhr sein sollte.«70 Auch Kirche, Religion und puritanische Sekten hätten in diesem Jahrhundert an Einfluß verloren. Dies brachte »einen Zuwachs an Freiheit fur die Armen, wenn auch an einer Freiheit negativer Art - einer Freiheit von der psychischen Zucht und der moralischen Kontrolle durch Priesterschaft und Presbyter«.71 An Stelle des alten Paternalismus konstatiert Thompson eine »kulturelle Hegemonie« der herrschenden Klasse.72 Zumindest vor Malthus deutet nichts daraufhin, daß Einschränkungen der Ehefreiheit zum Repertoire dieser kulturellen Hegemonie gezählt hätten. 78

Noch vielfältiger wird die Debatte des Malthusschen Modells für die Phase der Industriellen Revolution vom späten 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Zunächst sei dazu angemerkt, daß die Zeitreihen fur diese Periode mit besonderer Vorsicht zu handhaben sind. Ergebnisse der Familienrekonstitutionen stehen nur bis 1824 zur Verfugung, ab 1851 stützen sich die Berechnungen auf Censusdaten. Diese ergeben ein höheres Heiratsalter und einen ebenso höheren Anteil lebenslänglich Lediger. Einiges spricht dafür, daß zwischen 1815 und 1840 tatsächlich eine kurzfristige Schwankung des langen Trends stattfand und etwas später geheiratet wurde, als vorher und nachher.73 Allerdings kann man nicht völlig ausschließen, daß das Ausmaß dieser Schwankung auch durch die Veränderung des Berechnungsmodus bedingt ist. Ebenso erscheint es gerade für diese Periode problematisch zu sein, den Index der Reallöhne als einzigen Indikator des Lebensstandards zu verwenden. Die langlebige englische Debatte um den »standard of living« in der Industriellen Revolution hat gezeigt, wie komplex die dabei einzubeziehenden Sachverhalte sind.74 Zwischen etwa 1770 und 1830 laufen weiter die Indikatoren des Heiratsverhaltens nicht parallel. Das Heiratsalter setzte den langen Trend des 18. Jahrhunderts ungebrochen fort und sank auch im frühen 19. Jahrhundert weiter ab. (Vgl. dazu Tab. 1 im Anhang.) Die »crude first marriage rate« dagegen, die stärker Heiratshäufigkeit als Heiratsalter ausdrückt, läßt in eben dieser Periode eine Unterbrechung des langen Trends erkennen: Der Anteil derer, die überhaupt eine Ehe schlossen, ging zwischen 1770 und 1830 zurück. (Vg. dazu Schaubild 1.) Dies findet seine Bestätigung in relativ hohen Ledigenquoten in den höheren Altersgruppen zur Mitte des 19. Jahrhunderts.75 Beide Verlaufsformen müssen nicht in Widerspruch zueinander stehen. Es ist vielmehr zu vermuten, daß hier zwei unterschiedliche Reaktionsweisen auf die sozialen Veränderungen während der Industriellen Revolution zum Ausdruck kommen. Die eine entspräche dem Malthusschen Modell, auf sinkende Löhne mit einem Verzicht auf Eheschließungen zu reagieren. Die andere würde - im Gegensatz zu Malthus - bedeuten, daß es gerade in ökonomisch schwierigen Zeiten für einzelne Arbeitsgruppen gute Gründe gegeben hat, möglichst früh zu heiraten. Belege für diese Interpretation bieten David Levine mit Bezug auf die Hausindustriellen und Keith Snell mit Bezug auf die Landarbeiter. Levine geht von der Tatsache aus, daß in der ersten Phase der englischen Industrialisierung, bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, Hausindustrie die quantitativ wichtigste Produktionsform bildete. Noch 1851 war nur rund ein Viertel der Arbeiter des sekundären Sektors in der mechanisierten Fabrikindustrie beschäftigt.76 Unter diesen Bedingungen können Individuallöhne nicht als allein maßgeblich für das Einkommen der Familien angesehen werden. Es wäre durchaus möglich, daß sogar ein drastischer Rückgang der Reallöhne, wie er 79

im späten 18. Jahrhundert einsetzte, infolge der zunehmenden Monetarisierung der Mitarbeit von Frauen und Kindern mit einer Erhöhung des Familieneinkommens einhergehen könne.77 Außerdem seien für hausindustrielle Produzenten auch tatsächlich fallende Einkommen nicht notwendigerweise ein Grund, die Heirat hinauszuschieben. Sie würden eher versuchen, fallende Löhne durch eine Erhöhung der Produktion abzugleichen, sei es durch intensivere Arbeit, sei es durch die Vergrößerung der häuslichen Arbeitsgruppe durch zusätzliche Mitarbeiter, meist Verwandte.78 Zu ähnlichen Ergebnissen kam Keith Snell in seinen Untersuchungen über die südenglischen Landarbeiter. Deren Löhne gingen nach 1780 stark zurück und verurteilten sie zu einem »miserable standard of living«.79 Diese Entwicklung scheint aber nicht ein späteres, sondern ein früheres Heiraten bewirkt zu haben. Dabei deutet sich insbesondere ein Zusammenhang zwischen frühem Heiraten und Arbeitslosigkeit an: Ehe und Familie galten Männern wie Frauen als Rückhalt in Zeiten der Arbeitslosigkeit; Verheiratete bekamen leichter einen Job als Ledige; und sie erhielten auch eher Unterstützung aus der Armenkasse.80 Zeitgenössischen Beobachtern erschienen alleinstehende junge Leute auf dem Lande als »mere outcasts«; einem Landarbeiter bleibe gar nichts anderes übrig als zu heiraten »in his own defense«.81 Die Diskussion um den Wandel des European Marriage Pattern in England kann demnach so zusammengefaßt werden: Im 17. Jahrhundert erscheinen ein hohes Heiratsalter und hohe Ledigenquoten als Bestandteile einer schon kapitalistisch gefärbten Sozialstruktur, die aber noch von hausrechtlich abhängigen Arbeitsverhältnissen und von paternalistischer Kontrolle durchzogen war. Zyklische Veränderungen des Heiratsalters und der Heiratshäufigkeit lassen sich bis in das 19. Jahrhundert feststellen. Sie dienen als Beleg für die Markt- und Konjunkturabhängigkeit des Heiratsverhaltens während der gesamten Frühen Neuzeit. Im 18. und frühen 19. Jahrhundert überlagerten sich diese konjunkturellen Wellen jedoch mit strukturellen Veränderungen. Die spezifische Verlaufsform der Entfaltung des englischen Kapitalismus vor und während der Industriellen Revolution schwächten das alte Muster späten Heiratens ab. Sinkendes Heiratsalter und zunehmende Heiratshäufigkeit erscheinen im 18. Jahrhundert auch als Ausdruck des Verfalls traditioneller und einer beschleunigten Ausbildung kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Verlagsmäßig organisierte Hausindustrie, freie Lohnarbeit in der Landwirtschaft und im Gewerbe scheinen gleichermaßen das Heiratsalter und die Ledigenquoten gesenkt zu haben. Die Diskussion im deutschsprachigen Raum ist noch kaum entwickelt. In der Bevölkerungsgeschichte dominiert das Modell der »agrarischen Bevölkerungsweise«, das - wie bereits dargestellt wurde - kein Angebot zur Erklärung des Wandels der Heiratsmuster im 18. und 19. Jahrhundert enthält bzw. sogar im Widerspruch zur realgeschichtlichen Entwicklung steht. In der neueren 80

Sozialgeschichte wurde dagegen das englische Modell des Wandels des European Marriage Pattern in der Industriellen Revolution vereinzelt aufgegriffen. Die wenigen Autoren, die den Wandel des Heiratsverhaltens thematisieren, nennen das Vordringen kapitalistischer Produktionsverhältnisse in Landwirtschaft und Hausindustrie als auslösenden Faktor, der ein altes Regelsystem mit hohem Heiratsalter und großen Ledigenanteilen in ein neues demographisches System mit niedrigem Heiratsalter und hohen Verehelichtenquoten umgewandelt habe. Hartmut Harnisch macht etwa fur den ostdeutschen Raum einen grundlegenden Wandel des Heiratsverhaltens am Beginn der kapitalistischen Umwälzung der Landwirtschaft fest: »Während die familienfremden Arbeitskräfte der großen Bauernstellen keine eigene Familie gründen konnten, waren die neuen Arbeitsplätze der zur kapitalistischen Gutswirtschaft übergehenden gutsherrlichen Teilbetriebswirtschaften zum erheblichen Teil als familientragende Stellen angelegt.«82 Hans Medick sieht in der ländlichen Hausindustrie den ersten Ausbruch aus dem alten Regelsystem: Für die proto-industriellen Gewerbetreibenden lösen sich nicht nur traditionelle soziale und herrschafliche Kontrollmechanismen auf, darüberhinaus fördere die Spezifik der hausindustriellen Produktion frühes und allgemeines Heiraten.83 Die Übernahme des englischen Konzepts des Wandels des European Marriage Pattern steht allerdings in Mitteleuropa in krassem Gegensatz zur realgeschichtlichen Entwicklung. Heiratsalter und Ledigenquoten stiegen während der ganzen Periode der Vorbereitung und des Ubergangs zum industriellen Kapitalismus an und erreichten in der Industriellen Revolution ihren säkularen Höhepunkt. Dies führte Bevölkerungshistoriker dazu, nun auch in Mitteleuropa konjunkturellen Faktoren einen zunehmenden Erklärungswert zuzusprechen. Harnisch etwa erklärt das weiterhin hohe Heiratsalter in den ostdeutschen Agrargebieten nach dem vollzogenen Ubergang zur kapitalistischen Landwirtschaft: mit einer verschlechterten Lage der Landarbeiter.84 Auch Studien zur Protoindustriaüsierung argumentieren mit konjunkturellen Einflüssen auf das Heiratsverhalten, wenn auch die meisten Autoren der Auffassung zuneigen, daß die Konjunktur »lediglich stimuliert, keineswegs aber regiert«, und das strukturelle Muster frühen und allgemeinen Heiratens nicht außer Kraft setze.85 Wenn auch der Einfluß konjunktureller Einbrüche und Verschlechterungen der Lebenslage durchaus in Rechnung zu stellen sind, so reicht dieses Argument doch zur Erklärung des langfristigen Trends nicht aus. Die Beharrungskraft der traditionellen Heiratsmuster ist auch hier auf strukturelle Faktoren hin zu untersuchen, ähnlich, wie das für England im Hinblick auf die Abschwächung der traditionellen Muster der Fall war. Aus dieser Diskussion ergeben sich die Arbeitshypothesen für die folgende empirische Untersuchung. Sozialstruktur, Arbeitsorganisation und soziale 81

Kontrolle erscheinen als die wesentlichen Faktoren des European Marriage Pattern. Der Wandel dieses Musters in England läßt sich in der Hypothese zusammenfassen: Je kapitalistischer Sozialstruktur und Arbeitsorganisation, je geringer paternalistische Kontrolle, desto früher und häufiger heirateten die Menschen, wobei allerdings die Abhängigkeit von wirtschaftlichen Konjunkturlagen zu berücksichtigen ist. Für Mitteleuropa scheint dagegen der am englischen Beispiel entwickelte Zusammenhang von Heiratsverhalten und Kapitalismus keine Gültigkeit zu besitzen. Führten die ökonomische Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise und die Industrialisierung hier nicht zur Erschütterung traditioneller Sozialstrukturen und Verhaltensweisen, sondern zu ihrer Verfestigung? Beeinflußten bäuerlicher und handwerklicher Familienbetrieb, Gesindedienst und hausrechtliche Abhängigkeit noch im späten 19. Jahrhundert das Heiratsverhalten stärker als Lohnarbeit und Arbeitsmärkte? Die in der Einleitung referierten Daten, aber auch die spezifische theoretische Tradition der deutschen Bevölkerungsgeschichte drängen zu dieser Hypothese. Die folgenden Abschnitte werden sich mit ihrer Uberprüfung beschäftigen.

82

ZWEITER TEIL

Heiratsverhalten und sozialökonomische Strukturen in der Industriellen Revolution

VI. Methodische Probleme einer sozialstrukturellen Untersuchung des Heiratsverhaltens Die langfristigen Entwicklungstrends des Heiratsalters in England und Mitteleuropa und ihre theoretische Verarbeitung in der jeweiligen wissenschaftlichen Tradition führten zur zentralen Fragestellung der vorliegenden Arbeit, nämlich der Beziehung zwischen dem Heiratsverhalten und der Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise. Die empirische Analyse dieser Beziehung bedarf quantitativer Indikatoren sowohl für das Heiratsverhalten wie auch für den Entwicklungsstand der sozialökonomischen Strukturen. Langfristige parallele Datenreihen für beide gesellschaftlichen Dimensionen sind allerdings beim gegenwärtigen historischen Forschungsstand nicht verfugbar. Die empirische Untersuchung ist am ehesten in Form einer zeitlichen Querschnittsanalyse der regionalen Differenzierung des Heiratsverhaltens und der sozialökonomischen Strukturen möglich. Die dafür erforderlichen Daten sind in den staatlichen Statistiken des 19. Jahrhunderts enthalten. Ihre Verwendung wirft jedoch einige methodische Probleme auf.

1. Altersspezifische Ledigenquoten als Indikatoren des Heiratsverhaltens Die langfristigen Entwicklungstrends des Heiratsverhaltens in verschiedenen europäischen Ländern (vgl. dazu Kapitel 1.2) wurden aus dem durchschnittlichen Alter bei der Erstheirat erschlossen. Dieser Indikator ist aber für eine weiterführende Analyse nur bedingt geeignet. Zum einen erfaßt er nur die tatsächlich heiratenden Personen. Wie weiter unten dargestellt werden wird, gelangte jedoch in den untersuchten Gesellschaften ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung überhaupt nie zur Eheschließung. Die Entwicklung des lebenslänglichen Zölibats kann deshalb bei einer Untersuchung des Heiratsverhal83

tens nicht vernachlässigt werden. Zum anderen fällt es schwer, auf der gegebenen Datenbasis die Beziehungen zwischen Heiratsalter und gesellschaftlichen Strukturen zu diskutieren. Die mit Hilfe von Familienrekonstitutionen gewonnenen Daten beziehen sich auf wenige und kleine regionale Einheiten und bieten meist nur geringe Informationen über deren sozialökonomische Struktur. Das aus den staatlichen Volkszählungen des späten 19. Jahrhunderts berechnete »singulate mean age at first marriage« liefert dagegen nur auf den höchsten Aggregationsebenen verläßliche Werte und eignet sich nicht zur Untersuchung kleinerer regionaler oder sozialer Einheiten.1 Für.eine sozialstrukturell orientierte Untersuchung des Heiratsverhaltens ist eine andere statistische Maßzahl, die Verehelichten- bzw. Ledigenquote, ergiebiger.2 In ihr kommen Verhaltensweisen aller Angehörigen einer regionalen oder sozialen Einheit zum Ausdruck, und nicht nur jene der gerade die Ehe schließenden Personen. Altersspezifische Quoten bilden Indikatoren sowohl für das Heiratsalter als auch für den Anteil der Lediggebliebenen. Weiter sind Verehelichten- oder Ledigenquoten sinnvoll sowohl auf hochaggregierten Ebenen, z.B. für Staaten, anzuwenden, wie auch für kleinere Bevölkerungsteile, etwa regionale oder Berufsgruppen. Sie bieten damit die Chance, unterschiedliche Abstraktionsebenen aufeinander zu beziehen. Da sie aus den Ergebnissen von Volkszählungen stammen, besteht weiter die Möglichkeit, sie auf die in denselben Zählungen ermittelten sozialökonomischen Daten der jeweiligen regionalen oder sozialen Einheiten zu beziehen. Die Anteile der Verheirateten bzw. der Ledigen in bestimmten Bevölkerungsgruppen ermöglichen eine wesentlich genauere und dichtere Analyse des Heiratsverhaltens wie auch seiner Verknüpfung mit sozialökonomischen Strukturen als andere Maßzahlen. Allerdings handelt es sich um Daten, denen weder von den amtlichen Statistikern des 19. Jahrhunderts noch von der modernen Historischen Demographie große Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Sie sind weder in allen publizierten Ergebnissen der Volkszählungen enthalten, noch jeweils in demselben Differenzierungsgrad aufbereitet. Dies schränkt wiederum die Möglichkeit ihrer Benutzung ein. Wenig aussagekräftig sind dabei allgemeine, d.h. gesamte Bevölkerungen umfassende Ledigen- bzw. Verehelichtenquoten. Sie sind in hohem Maß von anderen demographischen Variablen abhängig, vor allem vom Altersaufbau der entsprechenden Bevölkerung, in geringerem Maß auch von ihrer Sexualproportion, und können deswegen nicht unmittelbar zu sozialen Verhältnissen in Beziehung gesetzt werden. Die Berechnung von Ledigenquoten für einzelne Altersgruppen gestattet es dagegen, demographisch-statistische Interdependenzen zwar nicht völlig auszuschalten, aber doch weitgehend zu kontrollieren. Es hat sich dabei als nützlich erwiesen, Ledigenquoten sowohl für eine jüngere Altersgruppe zu berechnen, in der häufig geheiratet wird, als auch für eine ältere, in der 84

Erstheiraten kaum mehr zu erwarten sind. Die Altersgruppen von 25-29 und von 45-49 werden dafür häufig verwendet, wenngleich die Quellenlage mitunter zu einer anderen Gruppenbildung zwingt. Die erste dient als Indikator für das Heiratsalter, die zweite als Indikator für das Ausmaß des lebenslänglichen Zölibats. Diese beiden Maßzahlen beschreiben eng zusammenhängende, aber nicht identische Sachverhalte. In der demographischen Diskussion erscheint ein lebenslängliches Zölibat vorwiegend als Funktion des Heiratsalters, als eine ungewollte Konsequenz für Menschen, die zu lange mit der Eheschließung gewartet haben.3 Tatsächlich besteht im nationalen Rahmen eine hohe Korrelation zwischen Heiratsalter und dem Anteil lebenslänglich Lediger. Der internationale Vergleich problematisiert dagegen diesen Zusammenhang und verweist auf den eigenständigen Charakter der beiden Werte. Heiratsbeschränkungen in Mitteleuropa verhinderten nicht generell Ehen, sondern nur in bestimmten Phasen des Lebenszyklus und den mit ihnen verbundenen sozialen Positionen. Das Fehlen von Beschränkungen und ein generell niedriges Heiratsalter in England führten umgekehrt nicht zwangsläufig dazu, daß auch tatsächlich mehr Menschen im Lauf ihres Lebens die Ehe schlossen. Gerade die altersspezifischen Ledigenquoten erhalten damit eine besondere Bedeutung für den internationalen Vergleich. Einschränkend wirken sich allerdings verschiedene Altersgruppeneinteilungen der staatlichen Statistiken aus. Weder wandten die einzelnen statistischen Büros stets dasselbe Einteilungsschema an, noch einigten sie sich untereinander auf eine einheitliche Darstellungsweise. Eine einheitliche Darstellung und ausreichende Differenzierung altersspezifischer Ledigenquoten weisen nur der Britische Census von 1851, die Volkszählung des Deutschen Reichs von 1880 und die österreichische Volkszählung ebenfalls von 1880 auf.4 Diese Zählungen bieten damit die Grundlage für eine allgemeine vergleichende quantitative Analyse des Heiratsverhaltens in England und in Mitteleuropa. Die Zählungsjahre unterscheiden sich nominell, nicht so sehr aber nach ihrer Stellung im ökonomischen und demographischen Entwicklungsprozeß. 1851 in England, 1880 in Deutschland und Österreich fallen in Perioden, in denen in den jeweiligen Ländern die Industrielle Revolution als abgeschlossen gelten kann. In demographischer Hinsicht befinden wir uns in beiden Schnittjahren in der Nähe von Wendepunkten, in denen länger als ein Jahrhundert währende Trends auszulaufen begannen. Da sich, wie weiter unten dargestellt werden wird, in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine Vereinheitlichung des Heiratsverhaltens abzeichnete, bietet der Vergleich der englischen Situation von 1851 mit der mitteleuropäischen von 1880 die - historisch letzte Chance, unterschiedliche Muster festzumachen und vor dem sozialökonomischen Hintergrund der Industriellen Revolution zu analysieren. 85

Tab. 1:

Regionale Differenzierung der Ledigenquoten, England 1851, Deutsches Reich 1880, Österreich 1880 Anteil der ledigen Männer an den Altersgruppen

England 1851 ausgewählte Counties

25-29

45-49

Herefordshire Westmoreland Shropshire Cumberland Kent Dorset Lancashire Norfolk Westriding Warwickshire Leicestershire Huntingdonshire Bedfordshire England & Wales (gesamt)

58,6 56,1 54,0 53,1 48,7 45,0 41,8 41,0 40,3 38,3 37,2 34,3 30,6 44,1

17,3 18,2 14,5 17,7 14,4 10,6 12,0 9,0 10,4 11,7 8,7 9,6 7,6 12,1

69,9 68,5 68,5 66,9 65,2 54.8 52,5 51,5 43,2 41,4 40.4 39.9 31,8 52.5

14,3 17,2 18,2 12,9

91,4 90,8 85,4 76,1 74,5

45,0 61,8 34,0 23,5 17,1

Deutsches Reich 1880 ausgewählte Regierungsbezirke Münster Oberbayern Aachen Schwaben (Bayern) Donaukreis (Württemberg) Düsseldorf Hildesheim Arnsberg Dresden Thüringen Bromberg Posen Zwickau Deutsches Reich (gesamt)

11,6 11,6

8,6 9.4 6,6 6,6 5.5 4.5 4.6 8.7

Österreich 1880 ausgewählte Bezirkshauptmannschafen Zell am See (Salzburg) St. Veit (Kärnten) Bozen (Tirol) Feldkirch (Vorarlberg) Feldbach (Steiermark)

86

Anteil der ledigen Männer an den Altersgruppen Freistadt (Oberösterr.) Wiener Neustadt (Niederösterr.) Littai (Krain) Pisino (Istrien) Reichenberg (Böhmen) Göding (Mähren) Zbaraz (Galizien) Österreich (gesamt)

73,4 68,1 64.7 53,0 39,6 27,3 17.8 50,8

18,5 15.7 18,3 12,9 5,2 3,2 2,2

10.8

Quellen: British Census 1851; Knodel u. Maynes; Österreichische Statistik 1880.

2. Regionale Differenzierung als Untersuchungsmethode Der englische Census von 1851 und die deutschen und österreichischen Volkszählungen von 1880 ermöglichen eine regionale Differenzierung der altersspezifischen Ledigenanteile auf der Ebene der Counties, der Regierungsbezirke (Deutsches Reich) und der Bezirkshauptmannschaften (Osterreich) . Mit ihrer Hilfe ist es möglich, die eindimensionale Gegenüberstellung nationaler Durchschnitte um den differenzierteren Vergleich der Streuungen und Bandbreiten zu ergänzen. Tabelle 1 bietet ausgewählte Beispiele, die die Spannweite des Heiratsverhaltens und charakteristische regionale Muster sichtbar machen sollen. (Vgl. Tab. 1.) Alle drei Länder zeigen eine reiche regionale Differenzierung des Heiratsverhaltens, sie sind in ihrem Inneren keineswegs einheitlich. Zugleich unterscheiden sie sich aber deutlich nach dem Ausmaß der Differenzierung. Im Vergleich zu Österreich und Deutschland wirken die englischen Verhältnisse homogen: Die Extremwerte liegen hier am nächsten beisammen und die große Mehrheit der Counties gruppiert sich eng um den nationalen Mittelwert. Das Deutsche Reich weist eine breitere, gleichmäßige Streuung auf, Osterreich ist von einer bipolaren Verteilung geprägt: Den Alpenländern mit ihren sehr hohen Ledigenanteilen stehen die böhmischen Länder und Galizien gegenüber. Betrachtet man die absoluten Werte der Ledigenanteile in den drei Staaten, so ergeben sich Elemente sowohl der Übereinstimmung als auch des Unterschieds. Ledigenanteile der 25-29jährigen zwischen 40 und 50 Prozent sind überall von großer Bedeutung: In England fällt nahezu das gesamte Land in diesen Wertebereich, in Deutschland etwa Sachsen, Thüringen und die meisten ostelbischen Regierungsbezirke, in Österreich Böhmen, Mähren und Schlesien. 87

Während hier also eine breite Zone ähnlichen Heiratsverhaltens sichtbar wird, treten die Unterschiede am deutlichsten bei den hohen Ledigenanteilen zutage. Was in Deutschland knapp über dem Durchschnitt liegt, kommt in England kaum mehr vor, und Ledigenanteile zwischen 60 und 70 Prozent, die in Deutschland eine große regionale Gruppe charakterisieren, sind hier überhaupt nicht anzutreffen. Die Werte der österreichischen Alpenländer über 70 Prozent sind hier wie dort unbekannt. Ebenso fehlen aber in England und im Deutschen Reich auch Ledigenquoten unter 30 Prozent, wie sie in einigen mährischen und galizischen Bezirken auftreten. Noch krasser tritt die große Spannweite der Ledigenanteile in Österreich bei den 45-49jährigen in Erscheinung. Während in einigen Alpenbezirken die Hälfte und mehr aller Männer im Lauf ihres Lebens nie zur Ehe gelangten, blieb in einigen nordöstlichen Bezirken der Monarchie fast niemand ledig. Für England und das Deutsche Reich liegen die Anteile der niemals Heiratenden dagegen nahe beisammen. Die relativ hohen Werte der süddeutschen Bezirke werden in England von nördlichen und westlichen Counties erreicht. Im Gegensatz zur Verteilung des Heiratsalters liegt der Anteil der lebenslänglichen Zölibatäre in England sowohl in den meisten Counties wie auch im nationalen Durchschnitt höher als im Deutschen Reich. Diese Beobachtung hilft uns, die oben festgestellten unterschiedlichen Heiratsmuster in England und inMitteleuropa zu präzisieren. Eine Reihe von Regionen beider Räume weist durchaus ähnliche Verhältnisse auf, zugleich sind aber in Deutschland - und noch mehr in Österreich - weite Gebiete von Heiratsmustern geprägt, die in deutlichem Gegensatz zu den englischen Verhältnissen stehen. Die regionale Differenzierung der altersspezifischen Ledigenquoten ermöglicht es weiter, sie mit sozialökonomischen Strukturdaten für dieselben regionalen Einheiten in Beziehung zu setzen und damit die gesellschaftlichen Bedingungen unterschiedlicher Heiratsmuster zu diskutieren. Methodisch läßt sich dies mit Hilfe zweier unterschiedlicher Verfahren durchführen. Zum einen ist es möglich, die regionale Verteilung der Heiratskennziffern und ausgewählter sozialökonomischer Indikatoren beschreibend darzustellen und etwaige Zusammenhänge für die einzelnen Regionen zu diskutieren. Quantitative Daten können auf diese Weise hermeneutisch interpretiert und mit qualitativen Informationen über die jeweilige Region, z.B. über spezifische historische Traditionen, kombiniert werden.5 Zum anderen läßt sich mit Hilfe statistischer Prüfverfahren untersuchen, ob für die Gesamtheit der Regionen Zusammenhänge zwischen dem Heiratsverhalten und einzelnen sozialökonomischen Kennziffern bestehen und deren Intensität bestimmen. Das hermeneutische Verfahren ist das assoziativere und inhaltlich reichere, und es vermag individuelle Besonderheiten einzelner Regionen zu berücksichtigen. Dem statistischen Verfahren kommt dagegen größere Beweiskraft 88

zu. Natürlich ist es anzustreben, beide Verfahren zu kombinieren. Der schließenden Statistik stellen sich jedoch einige Hindernisse in den Weg. Sie verlangt eine konzeptuelle Eindeutigkeit der verwendeten Kategorien und eine ebenso eindeutige Entsprechung zwischen ihnen und den Variablen des Datensatzes. Beides ist für die Sozialstatistik des 19. Jahrhunderts außergewöhnlich schwer erreichbar. Der Grund dafür liegt schlicht in der Komplexität der zu untersuchenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Zentrale sozialhistorische Kategorien wie »Kapitalismus«, »Industrialisierung«, »Proletarisierung« oder »Urbanisierung«, die in einschlägigen Untersuchungen meist Verwendung finden, bezeichnen keine formal eindeutigen oder einheitlichen Sachverhalte, sondern jeweils eine große Bandbreite sozialer Verhältnisse.6 Dasselbe gilt für die Variablen der amtlichen Statistik, die meist auch quer zu den sozialhistorischen Kategorien liegen. Hinter BegrifFspaaren wie »Landwirtschaft/Gewerbe« oder »Selbständig/Unselbständig« stehen alles andere als eindeutige Sachverhalte. Ob der »Unselbständige« etwa Industriearbeiter oder Handwerksgeselle war; ob der landwirtschaftlich Beschäftigte als Knecht oder als Landarbeiter sein Brot verdiente; ob der »Selbständige« als Unternehmer, Handwerksmeister oder Hausindustrieller produzierte, etc. - darin liegt meist mehr Trennschärfe, als in der Zugehörigkeit zu diesen Kategorien selbst. Da ihr sozialer Inhalt in der Regel regional ganz unterschiedlich ist, eignen sie sich ebenso wie die Variablen der amtlichen Statistik nur sehr bedingt für flächendeckende statistische Prüfverfahren.7 Diese Probleme der Operationalisierung stellen sich vor allem in Perioden des Übergangs und sozialer Gemengelagen. Für unsere Untersuchung trifft dies besonders für Mitteleuropa zu, wo im 19. Jahrhundert mehrere Produktionsweisen nebeneinander bestanden. Sozialökonomische Kategorien nehmen in jeder dieser Produktionsweisen eine spezifische Bedeutung an und sind damit notwendigerweise unscharf und mehrdeutig. Für England, wo zur Mitte des 19. Jahrhunderts die gesamte Gesellschaft: von kapitalistischen Produktionsverhältnissen durchdrungen war, stellt sich dieses Problem weniger scharf. Einschlägige Studien von Michael Anderson haben gezeigt, daß sich die sozialökonomischen Kategorien der zeitgenössischen Volkszählungen sinnvoll mit Ledigenquoten statistisch korrelieren lassen.8 Für Mitteleuropa wird dagegen bei der folgenden Untersuchung der sozial-regionalen Differenzierung des Heiratsverhaltens die statistische Analyse der Zusammenhänge zwischen hochaggregierten demographischen und sozialökonomischen Variablen nur eine untergeordnete Rolle spielen. Vielmehr soll versucht werden, im Abschreiten einzelner Regionen eine diskursive Annäherung an die gesellschaftlichen Bedingungen des Heiratsverhaltens zu erreichen. Auch dabei darf nicht vergessen werden, daß in regionalen Einheiten, wie den politischen Bezirken, sozialökonomische Strukturdaten nicht unmittelbar die sozialen Verhältnisse einzelner Individuen oder sozialer Gruppen 89

widerspiegeln, sondern den Durchschnitt der Verhältnisse aller Individuen. Sie lassen direkte Schlüsse auf die Lebensverhältnisse sozialer Gruppen umso eher zu, je sozial homogener ein Gebiet, und umso weniger, je differenzierter es ist. Die regionale Uberlagerung von demographischen und sozialökonomischen Daten läßt damit keine zwingenden Schlüsse auf das Heiratsverhalten sozialer Gruppen zu, wohl aber bietet sie Material für eine hermeneutische Interpretation der Beziehungen von Heiratsverhalten und Kapitalismus in England und in Mitteleuropa.

90

VII. England 1. Sozial-regionale Differenzierung des Heiratsverhaltens Die Entwicklung des Heiratsalters ließ in England einen positiven Zusammenhang zur Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise erkennen. Mit der Ausbreitung von Hausindustrie und Manufaktur im 18. Jahrhundert sank das Heiratsalter kontinuierlich ab, und in der Industriellen Revolution erreichte es einen Tiefstand. Wird dieser Zusammenhang von der räumlichen Verteilung der Ledigenquoten bestätigt? Trägt die sozial-regionale Verteilung zu einer Differenzierung des Zusammenhangs von Kapitalismus und Heiratsverhalten bei? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt des folgenden Kapitels. Obwohl England relativ homogene Heiratsverhältnisse aufwies, zeichnen sich doch auf der Ebene der Counties ausgeprägte regionale Muster ab. Schaubild 2 zeigt die Verteilung der Ledigenquoten der 25-29jährigen Männer, die vor allem als Indikator für regionale Variationen des Heiratsalters dienen. Die Region mit dem niedrigsten Heiratsalter lag 1851 im Zentrum des agrarischen England. Die Grafschaften Bedfordshire und Huntingdonshire zeigen extrem niedrige Ledigenquoten von knapp über 30 Prozent. Von hier aus setzen sich Zonen niedrigen, deutlich unter dem englischen Durchschnitt liegenden Heiratsalters fort nach East-Anglia (Cambridgeshire, Norfolk, Suffolk) und nach Nordwesten in die Midlands. Leicestershire, Nottinghamshire und Warwickshire weisen Ledigenquoten unter 40 Prozent auf. Etwas höhere, aber immer noch unter dem englischen Durchschnitt liegende Werte zeigen die industriellen Counties des nördlichen England, Lancashire, Yorkshire-West Riding und Durham. Über dem Durchschnitt liegt dagegen das Heiratsalter in einer Gruppe von Counties im äußersten Südosten Englands, von Kent bis Hampshire. Extrem hohe Werte sind allerdings im Nordwesten und Westen konzentriert, an den Grenzen zu Schottland und Wales; Herefordshire und Westmoreland nehmen mit 56 bzw. 58 Prozent die Spitze ein. Diese räumliche Verteilung der Ledigenquoten weist auf enge Zusammenhänge zu regionalen sozialökonomischen Strukturen hin. Allerdings handelt es sich nicht um lineare Beziehungen. Vor allem die niedrigen Ledigenanteile sind in wirtschaftlich sehr unterschiedlichen Regionen anzutreffen. 91

Schaubild 2:

Anteil der Ledigen an den 25-29jährigen Männern nach Counties, England 1851

PROZENTANTEILE: — 36

Quelle: British Census 1851 (Datcngrundlage: Tab.ll im Anhang).

Bei der Diskussion dieser Zusammenhänge ist zunächst die gegensätzliche sozialökonomische Entwicklung im Norden und im Süden Englands zu beachten. Um 1700 war der Großteil des gewerblich-industriellen Potentials des Landes südlich einer Linie konzentriert, die etwa vom Wash bis zum Severn zu ziehen ist.1 Die Zentren der wichtigsten gewerblichen Branche, der Tücherzeugung, lagen etwa in East-Angüa und im »West-Country«.2 Während des 18. Jahrhunderts setzte eine allmähliche, mit zunehmender Industrialisierung eine beschleunigte Standortverlagerung der gewerblichen Produktion in denNorden ein. Dieser Prozeßerfaßte im 19. Jahrhundert auch Vorreiter der Industriellen Revolution wie Cornwall oder Shropshire.3 Während im Norden eine dynamische Entwicklung der Industrie einsetzte, spezialisierte sich der Süden auf landwirtschaftliche Produktion.4 Dabei bildeten sich zwei gegensätzliche agrarische Produktionsweisen heraus, die geographisch durch eine Linie zu trennen sind, die sich vom Wash in südwestlicher Richtung ungefähr bis zur Mündung des Exe erstreckt.5 Nördlich der »ExeWash-line« behauptete sich die kleine Familienfarm, die für die eigene Subsistenz und den lokalen Markt produzierte, südlich davon entwickelten sich kommerziell geführte landwirtschaftliche Großbetriebe. Im Norden dominierte die Viehzucht, im Süden lagen die großen Getreidegebiete. In den kleinen Familienfarmen behielt mitwohnendes Gesinde einen wichtigen Platz in der Arbeitsorganisation, während die kommerzielle Großproduktion nahezu zur Gänze von Landarbeitern getragen wurde.6 1871 lag der Anteil der im Census als »farm servants« erfaßten landwirtschaftlichen Arbeitskräfte im ganzen Gebiet südlich der »Wash-Exe-line« unter zehn Prozent, während er in den Counties nördlich dieser sozialgeographischen Grenze von zehn bis zu vierzig Prozent reichte.7 Die großen sozialen Unterschiede zwischen diesen Regionen macht der Vergleich zweier Gruppen von Dörfern in Norfolk und in Shropshire sichtbar: Der Census 1851 weist für das inNorfolk gelegene Sample sieben Prozent der 20-29jährigen Männer als mitlebende Dienstboten aus, für das in Shropshire gelegene dagegen knapp 33 Prozent!8 Dies fand im Heiratsalter eine klare Entsprechung: Ebenfalls 1851 lag es für die Männer im Sample Norfolk knapp über 26, im Sample Shropshire dagegen über 30 Jahre.9 Insgesamt beschäftigte die englische Landwirtschaft zur Mitte des 19. Jahrhunderts nur mehr einen kleinen Teil der Arbeitskräfte, von den erwachsenen Männern ungefähr ein Viertel.10 Aufgrund ihrer Polarisierung in zwei entgegengesetzte Produktionsweisen kommt ihr trotzdem ein hoher Erklärungswert für räumliche Variationen des Heiratsverhaltens zu. Betrachtet man die regionale Verteilung der Ledigenanteile vor dem Hintergrund der unterschiedlichen gewerblichen und agrarischen Entwicklung des Nordens und des Südens, so zeigt sich das folgende allgemeine Muster: Im Süden war das Heiratsalter dort am niedrigsten, wo der Anteil der 93

Landwirtschaft am höchsten lag, oder, anders formuliert, wo die Umstellung auf kapitalistische Agrarproduktion am weitesten fortgeschritten war und am konsequentesten durchgeführt wurde. Über dem englischen Durchschnitt lag dagegen das Heiratsalter in den denjenigen Counties, in denen es zu keiner extremen Spezialisierung auf kapitalistische Landwirtschaft gekommen war. In Kent, Sussex, Hampshire und einigen anderen Grafschaften blieb eine gemischte gewerblich-agrarische Struktur erhalten, deren gewerbliche Komponente allerdings stagnierte. Im Norden zeigt sich der umgekehrte Zusammenhang. Die Ledigenanteile waren dort niedrig, wo Gewerbe und Industrie vorherrschten. Wo dagegen die Landwirtschaft größere Teile der Bevölkerung beschäftigte, trug sie zur Konservierung traditioneller Verhältnisse, wie dem Gesindedienst und einem relativ hohen Heiratsalter, bei. Die bisherige Diskussion konzentrierte sich auf die Ledigenanteile von jungen Altersgruppen, die vor allem als Indikator für das Heiratsalter dienen. Die Ledigenquote der 45-49jährigen Männer gibt dagegen den Anteil derjenigen an, die lebenslänglich unverheiratet blieben. Wie schon erwähnt wurde, war der Anteil der niemals Heiratenden in England in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert relativ hoch. Die regionale Verteilung der Ledigenquoten der 45-49jährigen entspricht im wesentlichen jener der 25-29jährigen. (Vgl. dazu Schaubild 3.) Die niedrigsten Quoten finden sich wiederum in den Gebieten mit dominanter, aber hochkommerzialisierter Landwirtschaft, die höchstens in den traditionellen Agrarstrukturen des Nordwestens und Westens. Der hohe differenzierende Einfluß der beiden gegensätzlichen agrarischen Produktionsweisen tritt sogar in bezug auf die Heiratshäufigkeit noch stärker in Erscheinung als bezogen auf das Heiratsalter. Ein wesentlicher Unterschied zwischen der Verteilung der beiden altersspezifischen Ledigenquoten wird allerdings in den industriellen und protoindustriellen Grafschaften sichtbar. Während sie in der jüngeren Altersgruppe deutlich unter dem englischen Durchschnitt liegende Werte aufweisen, liegen sie in der älteren ganz nahe am Mittel und kaum darunter. Vielleicht liegt die Erklärung dafür im unterschiedlichen historischen Kontext der beiden Alterskohorten. Die Kohorte der im Census 1851 45-49jährigen wurde in den Jahren 1802-1806 geboren. Der Zeitpunkt, in dem sich für die meisten von ihnen die Frage des Heiratens stellte, lag ungefähr um das Jahr 1830. Dies war nun gerade eine Periode krisenhaften Strukturwandels der englischen Ökonomie. Die Mechanisierung der Weberei zerstörte die traditionellen Lebens- und Arbeitsbedingungen einer riesigen Masse von Handwebern und zwang sie in die Arbeitslosigkeit, in die Fabrik oder auf die Suche nach neuen Formen der Hausindustrie.11 Es handelt sich zugleich um jene Periode, für die schon Wrigley und Schofield in ihrer »Population History of England« eine Erhöhung des Heiratsalters und einen Rückgang der Heirats94

häufigkeit konstatierten.12 Während die regionale Verteilung der Ledigenquoten der 25-29jährigen sozial-strukturellen Faktoren den höchsten Erklärungswert zuweist, gewinnen für die Generationen vorher auch konjunkturelle Einflüsse an Gewicht. Schaubild 3:

Anteil der Ledigen an den 45-49jährigen Männern nach Counties, England 1851

Quelle: British Census 1851 (Datengrundlage: Tab. 11 im Anhang.)

2. Ledigenquoten in agrarischen, hausindustriellen und fabrikindustriellen Regionen Der Einfluß sozialstruktureller Faktoren läßt sich am Beispiel einzelner Regionen genauer ausführen. Tabelle 2 enthält Angaben zur sozialökonomischen Struktur jener Counties, die sich durch besonders niedrige bzw. durch besonders hohe Ledigenanteile auszeichnen. Die niedrigsten Quoten finden sich, wie schon erwähnt wurde, in Bedfordshire und Huntingdonshire. Diese Counties zählten während des ganzen 19. Jahrhunderts zu den am stärksten agrarisch geprägten Regionen Englands. 1821 lebten hier fast 62 Prozent aller Familien von der Landwirtschaft, fast doppelt soviel wie im englischen Durchschnitt, und auch 1851 war knapp mehr als die Hälfte der erwachsenen Männer in der Landwirtschaft beschäftigt.13 Hier dominierte der Getreidebau, vor allem der Anbau hochwertiger Gerste, auf großbetrieblicher Basis.14 Mehr als die Hälfte der Farmen war größer als 100 Acres, und im Durchschnitt kamen mehr als zehn Landarbeiter auf einen Betrieb.15 Sie stellten die Masse der Arbeitskräfte, mitlebendes Gesinde war praktisch ohne Belang. Neben der persönlichen Ungebundenheit der Landarbeiter hat Keith Snell vor allem in ihrer materiell äußerst gedrückten Lage Gründe für frühes Heiraten gefunden: Die Familie war die einzige Institution, die in Krisenzeiten Rückhalt zu bieten vermochte; in den regelmäßigen Perioden der Arbeitslosigkeit wurden Familienväter von den Farmern eher eingestellt als Ledige; und sie wurden auch von der Armenunterstützung bevorzugt.16 Dazu kam, daß es in der polarisierten Sozialstruktur dieser Region kaum Hoffnungen auf soziale Verbesserungen, etwa den Erwerb eines eigenen Grundstücks oder Hauses gab, die ein Hinausschieben der Heirat hätten motivieren können.17 Charakteristisch für diese Form der Agrarproduktion war eine extreme geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Für Frauen gab es auf den Farmen fast keine regelmäßige Beschäftigung. In Bedfordshire waren 1851 weniger als 1 Prozent aller Ländarbeiter weiblich.18 Zum Teil bot Heimarbeit einen Ersatz. Schon seit dem 17. Jahrhundert war in Bedfordshire, Buckinghamshire und einigen benachbarten Counties die Spitzenerzeugung verbreitet, und vom späten 18. Jahrhundert an gewann die Herstellung von Strohgeflechten, z.T. auch ihre Weiterverarbeitung zu Strohhüten, an Bedeutung. 19 1851 war in Bedfordshire der enorme Anteil von 34 Prozent der erwachsenen Frauen mit Strohflechterei, Strohhuterzeugung oder Spitzenklöppelei beschäftigt.20 Vielleicht erklärt gerade diese Kombination die hier so extrem niedrigen Ledigenquoten. Allerdings kommt den agrarischen Produktionsverhältnissen der wichtigere Stellenwert zu. Das benachbarte Huntingdonshire mit den zweitniedrigsten Ledigenquoten Englands wies 1851 nahezu keine Frauenberufstätigkeit auf.21 Gemeinsam ist den im Süden gelegenen Grafschaften 96

Tab. 2:

Ledigenanteile und sozialökonomische Strukturen, Männer, ausgewählte Counties, England 1851

County

Landwirtschaft

Ledigenanteile

dominante gewerbl. Berufe

25-29

45-49

Bedfordshire Huntingdonshire Leicestershire Nottinghamshire

30,6 34,3 37,2 38,7

7,6 9,7 8,7 12,2

50,8 53,5 29,7 27,2

3,3 5,6 20,0 24,5

13,0 9,2 5,4 5,0

19,7 19,1

Wirkwaren Wirkwaren u. Spitzen

Warwickshire Lancashire West Riding

38,3 41,8 40,4

11,7 12,0 10,4

19,0 10,5 15,7

14,4 24,2 25,2

6,3 2,2 2,2

19,9 22,7

Durham Cumberland Westmoreland Herefordshire

41,4 53,1 56,1 58,6

12,7 17,7 18,2 17,3

13,5 35,1 45,6 53,8

27,2 41,4 44,9 18,7

2,7 2,6 1,9 5,5

Baumwolle Wolle und Kammgarn Kohle

(1) (2) (3) (4) (5)

(2) (3) (4) (1) Anteil Anteil Arbeiter Anteil pro an den der lw. des Berufst. Gesindes Farm Berufst.

18,8

(5) Branche

Erwachsene Männer (20 und mehr Jahre): Anteil der landw. Erwerbstätigen (Landw., Forstw., Gartenbau = occupational class IX) an ihrer Gesamtheit; Anteil der »Farm servants (in-door)« an der Gesamtheit von »Farm servants« und »Agricultural labourers (out-door)«, alle Altersgruppen; »Farm servants« und »Agricultural labourers« per »Farmer«; Erwachsene Männer (20 und mehr Jahre): Anteil der in der dominierenden nichtlandw. Branche Beschäftigten an ihrer Gesamtheit; Einzelbranchen mit mehr als 10 Prozent der Erwerbstätigen (hose and stocking manufacture, lace manufacture, cotton manufacture/printer/dyer, woollen cloth manufacture/worsted manufacture, coal miner).

Quellen: (1) (4) berechnet nach Census 1851, Population Tables II/XXVI; (2) (3) Snell, Annals, Table 2.1 (S. 96)

mit niedrigem Heiratsalter, daß sie die Zentren einer hochkommerzialisierten Landwirtschaft bildeten, die fast ausschließlich auf Lohnarbeit beruhte. Eine zweite Gruppe von Counties mit sehr niedrigen Ledigenquoten finden wir in den Midlands, nördlich der besprochenen sozialgeographischen Trennungslinie. Leicestershire, Nottinghamshire und Warwickshire bildeten zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine der Regionen mit dem niedrigsten Heiratsalter Englands. Was den Anteil der agrarisch Erwerbstätigen betrifft, lagen 97

diese Counties ungefähr auf dem englischen Durchschnitt von rund einem Viertel der erwachsenen Männer. Die Landwirtschaft selbst nahm hier in jeder Hinsicht eine Zwischenstellung zwischen der kommerziellen Großproduktion des Südostens und den Familienfarmen des Nordens und Westens ein. Dies trifft auf Betriebsgrößen und das Verhältnis von Landarbeitern und Dienstboten (vgl. Tab. 2) ebenso zu, wie auf die Bewirtschaftung, bei der sich Ackerbau und Viehzucht die Waage hielten.22 Allerdings waren die sozialökonomischen Strukturen der Midlands nicht von der Landwirtschaft geprägt, sondern von der gewerblichen Produktion.23 Hier wurden einige Landschaften völlig von jeweils einer spezifischen Branche beherrscht. Die Regionen um Nottingham und Leicester waren die Zentren der Strickerei und Wirkerei, vor allem von Strümpfen, Handschuhen und Wäsche.24 Von den insgesamt rund 40.000 »knitting frames« - kleinen, handbetriebenen Wirkstühlen die in England 1844 im Einsatz standen, waren 83 Prozent in Nottinghamshire und Leicestershire aufgestellt.25 Zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurden diese Stühle auch zunehmend zur Spitzenherstellung benützt.26 Im benachbarten Warwickshire war in der Gegend um Coventry die englische Bandweberei, vor allem von Seidenbändern, konzentriert.27 In und um Birmingham lagen die Produktionsstätten der »Birmingham Toy Trades«, aller Arten kleiner Metallwaren wie Knöpfe, Spangen, Schnallen, dazu auch Uhren, Schlösser und Waffen. Das anschließende »Black Country« war von unzähligen kleinen Schmieden übersät, in denen Nägel hergestellt wurden.28 Die Midlands umfaßten eine ganze Reihe hochspezialisierter Gewerberegionen. Diese wiesen über die unterschiedlichen Branchen hinweg einige grundlegende soziale Gemeinsamkeiten auf. In allen Sparten dominierte die Hausindustrie. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts gab es natürlich eine breite Palette von Produktionsformen, die auch kleinere und größere Werkstätten, Fabriken usw. einschlossen. Von den Strumpfwirken bis zu den Nägelmachern überwog aber die Handarbeit in und mit der eigenen Familie. Die Zusammenarbeit von Mann und Frau, von Kindern und Erwachsenen war in den hier beheimateten Branchen tatsächlich möglich, zum Teil sogar notwendig.29 Weiter verfügte die Hausindustrie in den Midlands über lange Traditionen. Die wichtigsten Produktionszweige hatten sich hier schon im frühen 18. Jahrhundert etabliert, und im 19. Jahrhundert verteidigten die Hausindustriellen zäh ihre gewohnte Form zu arbeiten und zu leben. Im Vergleich zu anderen proto-industriellen Regionen waren sie damit relativ lange erfolgreich. Zum Teil mit der Adaption technischer Innovationen, zum Teil mit dem Wechsel der Branche - etwa von der Wirkerei zur Schuherzeugung - behauptete sich hier die häusliche Produktion bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts.30 Ein letztes Merkmal dieser Region bestand darin, daß die Hausindustrie keinen Unterschied zwischen Land und Stadt kannte. Die 98

einzelnen Branchen waren in den zentralen Städten konzentriert, und zugleich breit über die Dörfer gestreut.31 In der Diskussion um die »protoindustrielle Familienwirtschaft« wurde frühes und häufiges Heiraten als eines ihrer wesentlichen Merkmale bestimmt.32 Es überrascht nicht, in den englischen Midlands tatsächlich ein niedriges Heiratsalter und eine hohe Heiratshäufigkeit anzutreffen. Mit der Diversifikation ihrer Branchen, ihrer enormen Dichte und ihren langen Traditionen bildeten sie eine der klassischen protoindustriellen Regionen Europas, in der die spezifischen Sozialformen der häuslichen Produktion vielleicht »reiner« zum Ausdruck kamen, als anderswo. Etwas höhere, aber immer noch unter dem Durchschnitt liegende Ledigenquoten weisen die eigentlichen Industriezonen Englands auf. Lancashire und das West Riding von Yorkshire waren im 18. Jahrhundert die bevorzugten Standorte der englischen Textilproduktion geworden. In Lancashire waren schon 1821 drei Viertel aller Familien im sekundären Sektor tätig, nur mehr ein Zehntel in der Landwirtschaft.33 Auf einer breiten hausindustriellen Grundlage aufbauend, hatte sich in der Baumwollverarbeitung die Fabriksproduktion rasch durchgesetzt. Bereits in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts hatte die Mechanisierung des Spinnens begonnen, in den 1830er Jahren war die des Webens gefolgt. Das Schwergewicht der Produktion verlagerte sich in die rasch wachsenden Städte. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts war Lancashire die am stärksten urbanisierte Region Englands.34 Die Woll- und Kammgarnindustrie Yorkshires wies eine langsamere Entwicklung und ein breiteres Spektrum von Betriebsformen auf, aber auch hier dominierte zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Fabrik.35 Eine Reihe von englischen Studien über die Familien der Arbeiter der Textilindustrie hat gezeigt, daß ihr Heiratsalter sehr niedrig und der Anteil der Verheirateten überaus hoch war. Der wichtigste Grund scheint darin zu liegen, daß großbetriebliche Produktionsformen nicht notwendigerweise zur Auflösung der Familie als Produktionseinheit führten. Gerade die frühe Textilindustrie beschäftigte Kinder und Jugendliche, Männer und Frauen, die gemeinsam zum Familieneinkommen beitragen konnten und mußten. Darüberhinaus war die Rekrutierung und Plazierung von Arbeitskräften oder die Zusammensetzung von Arbeitsgruppen in der Fabrik häufig entlang familiärer oder verwandtschaftlicher Linien organisiert.36 Verhaltensweisen und Einstellungen zu Ehe und Familie, die aus hausindustriellen Traditionen stammten, konnten in die industrielle Fabrik übernommen werden. Der Kohlebergbau in Durham zeigt eine andere Struktur.37 Er bot vor allem männlichen Erwachsenen Arbeit, in seiner ersten Expansionsphase in bestimmtem Maß auch Kindern. Frauen wurden nur in sehr geringem Ausmaß beschäftigt, und sie fanden in der Bergbauregion auch kaum andere Erwerbsmöglichkeiten. Trotzdem zeigen vergleichende Untersuchungen aus mehre99

ren europäischen und amerikanischen Bergbauregionen übereinstimmend ein sehr frühes Heiratsalter. Es scheint, daß auch der Mangel an Erwerbsmöglichkeiten für Frauen, vor allem das völlige Fehlen des häuslichen Dienstes, bei jungen Mädchen die Neigung erhöhte, früh zu heiraten. Außergewöhnlich niedrige Ledigenanteile von Frauen finden sich in England 1851 sowohl in den neu erschlossenen Kohlefeldern, als auch in den Zentren der fabrikmäßigen Textilindustrie. Das Angebot an Frauenberufen war in dem einen Fall völlig unbedeutend, in dem anderen sehr groß. Gemeinsam ist beiden Milieus, daß nach »domestic service« welcher Art auch immer keinerlei Nachfrage bestand.38 An weiteren Gründen für ein niedriges Heiratsalter der Bergleute wird angeführt, daß viele von ihnen Häuser mit Gärten oder sogar einer kleinen Landwirtschaft besaßen, die von ihren Frauen bearbeitet wurden. Gerade Durham war um 1851 kaum urbanisiert, kleine Bergarbeiterdörfer waren über das Land verstreut. Weiters waren hier die Löhne, im Vergleich zu anderen Gruppen, relativ hoch, zum Teil vertraglich abgesichert oder durch Deputatkohle ergänzt.39

3. Homogenität und Differenzierung des Heiratsverhaltens Soweit ein Überblick über die englischen Regionen mit einem unter dem Durchschnitt liegenden Heiratsalter. Gemeinsam ist ihnen, daß sie von entwickelten und expandierenden kapitalistischen Produktionsverhältnissen geprägt sind, allerdings in ganz unterschiedlichen Formen: Landwirtschaft, Hausindustrie, Fabrikarbeit, Bergbau. Es scheint, daß in England zur Mitte des 19. Jahrhunderts das Heiratsverhalten stärker von der Gemeinsamkeit kapitalistischer Lohnarbeit beeinflußt war, als von ihren konkreten Formen. Daraufweisen umgekehrt auch die Gebiete mit hohem Heiratsalter hin. Über dem Durchschnitt liegen die Regionen mit einer stagnierenden gewerblichen Produktion, und die Extremwerte finden sich dort, wo eine traditionelle Landwirtschaft die ökonomische Struktur beherrschte. In Westmoreland, Cumberland oder im North-Riding arbeitete ein Drittel bis zur Hälfte der erwachsenen Männer in sehr kleinen Farmen mit durchschnittlich zwei bis drei Arbeitskräften, von denen wiederum im Durchschnitt zumindest einer ein im Farmhaus mitlebender »in-door servant« war. (Vgl. Tab. 2.)40 Der Zusammenhang zwischen Heiratsverhalten und Produktionsverhältnissen wurde von Michael Anderson auf der Basis aggregierter Daten des Census 1861 für ganz England auch statistisch überprüft und eindeutig bestätigt.41 Niedrige Ledigenanteile korrelieren mit »moderner« agrarischer Produktion (gemessen am Anteil der Landarbeiter an den landwirtschaftlichen Beschäftigten), die höchsten dagegen mit »traditioneller« Landwirtschaft (gemessen am Anteil der zum Haushalt des Farmers gehörenden Ar100

beitskräfte). Wie auch schon der regionale Überblick gezeigt hat, war die Spannweite zwischen beiden beträchtlich: Die Ledigenanteile in den »modernen« Agrargebieten lagen bis zu vierzig Prozent unter jenen in den »traditionellen«. Anderson berechnete Ledigenanteile der 25-34jährigen: Diese lagen in den Agrargebieten mit dominant »traditional agriculture« bei 43-44 Prozent, in den Gebieten mit Dominanz der »agricultural labourers« dagegen bei 31 Prozent.42 (Vgl. Tab. 3.) Tab. 3:

Regionale Differenzierung der Ledigenquoten nach sozialökonomischen Strukturmerkmalen, England 1861

Struktur der 590 registration districts

Anteil der Ledigen an den 25-34jährigen m w

stärker agrarisch geprägte Gebiete: hoher Anteil traditioneller Landwirtschaft (mehr als 45 % der landw. Tätigen sind Farmer, weniger als 45 % Landarbeiter) hoher Anteil an Landarbeitern (mehr als 75 %) schwächer agrarisch geprägte Gebiete: niedriger Anteil »moderner« gewerblich-industrieller Produktion (weniger als 10 % der Beschäftigten) hoher Anteil »moderner« gewerblich-industrieller Produktion (mehr als 45 %)

43,0 31,0

39,0 29,0

34,0

34,0

27,0

25,0

Quelle: Anderson, Marriage Patterns, S. 65

»Changes in agricultural relations of production« 43 erscheinen damit in England als entscheidende sozialökonomische Faktoren der regionalen Differenzierung des Heiratsverhaltens. Ebenso läßt sich der Einfluß »traditioneller« und »moderner« Produktionsverhältnisse auf das Heiratsverhalten im Bereich der gewerblich-industriellen Produktion nachweisen. Mit den niedrigsten Ledigenanteilen korreliert die Beschäftigung in den industriekapitalistisch organisierten Branchen der Schwer-, Textil- und Maschinenindustrie, ebenso aber auch die hausindustrielle Massenproduktion der Bekleidungsindustrie, vor allem in der Wäsche- und Schuhbranche. In den noch nicht von kapitalistischen Beziehungen beherrschten Handwerks- und Handelsberufen sind dagegen höhere Ledigenanteile festzustellen.44 »Traditional small scale, craft and trading occupations place restrictions in the way of early marriage.«45 Diese Restriktionen wirken allerdings aus der mitteleuropäischen Perspektive höchst bescheiden. Auch in England waren die Unterschiede im gewerblichen Bereich unbedeutend im Vergleich zu jenen in der Landwirtschaft. Der von Anderson ermittelte Zusammenhang von Ledigenanteilen und sozial101

ökonomischen Faktoren ergibt eine Hierarchie, die die frühesten Heiratsmöglichkeiten dem Bereich der voll kapitalistisch organisierten gewerblichindustriellen Produktion zuordnet (sowohl in ihrer fabrikmäßigen als auch in ihrer hausindustriellen Organisation). Dann folgen, nicht weit davon getrennt, die Lohnarbeiter der kapitalistischen Landwirtschaft und die Beschäftigten traditioneller Handwerks- und Handelsbetriebe, und schließlich - nun aber deutlicher abgeschlagen - die Bewohner jener Gebiete, in denen traditionelle agrarische Produktionsverhältnisse vorherrschten. Die regionalen Unterschiede des Heiratsverhaltens in England wurden ausführlich diskutiert, weil ihre Beziehung zu sozialökonomischen Strukturen hier seit längerem erforscht wurde und sie Modelle zur Analyse der mitteleuropäischen Verhältnisse abgeben können. Darüber sollte aber nicht vergessen werden, daß diese Unterschiede - gerade im Vergleich zu Mitteleuropa - insgesamt nur als sehr gering gelten können. Auch gegen Andersons Analyse wurde eingewandt, daß sie die Variationsbreite des englischen Heiratsverhaltens überschätze und sich mehr auf Maximal-Minimal-Werte konzentriere als auf die Varianz.46 Auch eine über die Counties hinausgehende Differenzierung auf der Ebene der 590 »registration districts« würde für 1861 ergeben, daß in 75 Prozent dieser Distrikte das Heiratsalter der Männer in keinem größeren Bereich als + / - 1 um den Durchschnitt schwanke.47 Das Heiratsverhalten der Frauen läge noch näher beisammen, vor allem deshalb, weil für sie der häusliche Dienst - mit dem Wohnen beim Arbeitgeber universeller und in geringerem Maß an spezifische agrarische oder gewerbliche Verhältnisse gebunden war. Außergewöhnlich niedrige Ledigenanteile für Frauen - die nun aber auch auf das Heiratsverhalten der Männer wirken - finden sich, wie schon erwähnt wurde, vor allem in den neuen Kohlegebieten und in den alten Zentren der Textilindustrie.48 Zusammenfassend kommen Woods und Hinde zu dem Ergebnis: »The degree ofvariability in the marriage pattern of England and Wales in 1861 and 1891 is surprisingly slight. However, there are extreme patterns that tend to be associated with particular social and economic environments.«49 Nimmt man den »Index of proportion married« zur Maßzahl, dann liegt jedenfalls die Standardabweichung zwischen den Regionen in England deutlich unter der Deutschlands,50 und betrachtet man ihn in seiner längeren Entwicklung, so wird sichtbar, daß die in England zur Mitte des 19. Jahrhunderts immerhin noch bestehenden regionalen Unterschiede des Heiratsverhaltens 1891 kaum mehr auszumachen sind.51

102

VTIL Deutsches Reich 1. Sozial-regionale Differenzierung des Heiratsverhaltens Die Entwicklung des Heiratsalters verlief in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert entgegengesetzt zu jener in England. Waren hier Kapitalismus und Industrielle Revolution mit Heiratsbeschränkungen verbunden? Oder wirkten sie in dieselbe Richtung wie in England, aber zu schwach, um die sozialen Verhältnisse zu prägen? Auch auf diese Fragen soll die sozialregionale Differenzierung der Ledigenquoten Antworten geben. Im Deutschen Reich waren die Heiratsmuster weniger homogen als in England. Auf der Ebene der mittleren Verwaltungseinheiten zeichnen sich 1880 großräumige Unterschiede der Ledigenanteile der 25-29jährigen Männer ab. Die Werte der 45-49jährigen liegen dagegen in großen Teilen Deutschlands näher beisammen. Dies weist daraufhin, daß die regionale Differenzierung vor allem auf Unterschieden des Heiratsalters beruhte und daß auch ein sehr hohes Heiratsalter nicht zwangsläufig den Anteil der zeitlebens Ledigen erhöhte. (Vgl. Schaubilder 4 u. 5) Der gesamte Osten des Deutschen Reichs bildete eine Zone niedriger Ledigenquoten, die deutlich unter dem gesamtdeutschen Durchschnitt lagen. Die Ledigenquoten der 25-29jährigen Männer von 42 bis 48 Prozent befinden sich in der Bandbreite der meisten englischen Counties von 1851 und verweisen damit auf ein durchschnittliches Heiratsalter von etwa 27 Jahren. Die Ledigenquoten der 45-49jährigen Männer von 5 bis 7 Prozent liegen dagegen wesentlich unter den englischen Werten und deuten auf eine nahezu vollständige Verehelichung hin. Diese Zone niedriger Ledigenquoten umfaßt alle östlichen Provinzen Preußens, Ost- und Westpreußen, Posen und daran mit etwas höheren Werten anschließend, im Norden Pommern und im Süden Schlesien. Gegen Westen setzt sich diese Zone in einem breiten Band fort: über Sachsen, die thüringischen Staaten, einige mittelpreußische Regierungsbezirke (Magdeburg, Merseburg, Erfurt), über die meisten hessischen Territorien und über den Rhein hinweg bis in die bayerische Pfalz. Innerhalb dieser Zone niedriger Ledigenquoten setzen sich zwei Gebiete nochmals deutlich nach unten ab: einerseits die preußische Provinz Posen (Regierungsbezirke Posen und Bromberg) , andererseits das Königreich Sachsen, die thüringischen Staaten und die angrenzenden preußischen Bezirke. Innerhalb dieser Zone weist die sächsi103

Schaubild 4:

Anteil der Ledigen an den 25-29jährigen Männern nach Regierungsbezirken, Deutsches Reich 1880

ΡΓ?ΟΖ E N T A N T E I L E : 30 — 39

AO — 44 45 — 49

Quelle: Knodel u. Maynes, Marriage Patterns (Datengrundlage: Tab. 12 im Anhang).

104

Schaubild S.-

Anteil der Ledigen an den 45-49jährigen Männern nach Regierungsbezirken, Deutsches Reich 1880

PROZENTANTEILE: Ο—

4

5 —

9

1 0 — 14 1 5—

19

Quelle: Knodel u. Maynes, Marriage Patterns. (Datengrundlage : Tab. 12 im Anhang).

sehe Kreishauptmannschaft Zwickau die niedrigsten Ledigenquoten des Deutschen Reiches auf. (Vgl. Tab. 1 sowie im Anhang Tab. 12.) Im Norden, Westen und Süden dieses Gürtels befanden sich die Zonen mit einem höheren Heiratsalter und einem geringeren Grad der Verehelichung. Ledigenquoten, die zum Teil in der Nähe des gesamtdeutschen Durchschnitts liegen, zum Teil aber kräftig darüber, sind schon in der Provinz Brandenburg anzutreffen und setzen sich über Mecklenburg, Hannover, Schleswig-Holstein, Westfalen bis in die Rheinlande fort. Elsaß und Lothringen und der gesamte süddeutsche Raum schließen sich an. In dieser Zone höherer Ledigenquoten setzen sich wiederum einige Gebiete deutlich nach oben ab. Das Münsterland, der Raum Köln-Aachen, Lothringen, die südlichen Bezirke des Elsaß, von Baden und Württemberg, sowie der größte Teil des Königreichs Bayern weisen Ledigenquoten der 25-29jährigen Männer von mehr als 60 Prozent auf. Dieser Wertebereich wird von keinem einzigen der britischen Counties auch nur erreicht, und liegt mehr als die Hälfte über dem Wert des deutschen Bezirks mit der niedrigsten Quote.

2. Agrarische Produktionsverhältnisse: Gutswirtschaft Auf den ersten Blick scheint sich das englische Muster auch in Deutschland zu bestätigen, das die agrarischen Produktionsverhältnisse als die entscheidenden Determinanten regional unterschiedlichen Heiratsverhaltens ausweist. Auf einer höchsten Abstraktionsebene lassen sich im Deutschen Reich hohe Ledigenquoten dem Süden und Westen, niedrige Quoten dem Nordosten zuweisen.1 Diese Verteilung entspricht dem räumlichen Muster, das seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der deutschen Wirtschaftsgeschichte als »Agrardualismus« bezeichnet wird: westlich der Elbe das Gebiet der Grundherrschaft, östlich das der Gutsherrschaft:.2 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts brachte dieser traditionelle Dualismus der feudalen Rentenund Eigentumsverhältnisse neue Formen der Differenzierung hervor. Im Süden und Westen festigte sich der bäuerliche Familienbetrieb als die herrschende Form agrarischer Produktion, hier überwogen kleine und mittlere Betriebsgrößen. In »Ostelbien« wurden die gutsherrschaftlichen Eigenwirtschaften in kapitalistische Großbetriebe umgewandelt. Im Westen stellte die Bauernfamilie, ergänzt um Gesinde, die landwirtschaftlichen Arbeitskräfte, im Osten bildete sich ein Landarbeiterproletariat heraus.3 Folgt man dem englischen Modell, das Heiratsalter und Heiratshäufigkeit vor allem an der räumlichen Verteilung des »farm servant« und des »agricultural labourers« festmacht, so bietet sich auch für das Deutsche Reich der »Agrardualismus« als Erklärungsfaktor regionaler Heiratsmuster an. 106

Allerdings besteht keine vollständige Überlagerung zwischen gutsherrschaftlichen Traditionen und niedrigen Ledigenquoten. Zunächst fällt auf, daß das Heiratsalter in »Ostelbien« im Vergleich zu England relativ hoch war. Ledigenquoten der25-29jährigenMänner knapp über 30 Prozent, wie sie die englischen Counties mit hochentwickelter kapitalistischer Agrarproduktion charakterisierten, finden sich in keinem einzigen Bezirk östlich der Elbe. Zum anderen zeigen die Schaubilder 4 und 5, daß die traditionelle Linie zwischen den grund- und den gutsherrschaftlich verfaßten Regionen keineswegs eine trennscharfe Grenze zwischen verschiedenen Heiratsmustern bildete. Auch in Mecklenburg oder Holstein waren hohe Ledigenquoten anzutreffen. Tatsächlich war die Entwicklung der ländlichen Sozialstruktur im Osten Deutschlands differenzierter, als dies der Begriff des »Agrardualismus« vermuten läßt. Seit den Veröffentlichungen von G.E Knapp im späten 19. Jahrhundert erscheint die Ausbreitung des ländlichen Proletariats als der entscheidende Zug im sozialen Wandel der Gutswirtschaft, und auch die Untersuchungen des »Vereins fur Socialpolitik« haben die öffentliche Aufmerksamkeit auf die ostelbische Landarbeiterschaft gelenkt.4 Ipsen und nach ihm Conze schrieben den landlosen Gutslohnarbeitern des deutschen Ostens eine neue »proletarische Lebensform« zu, die sie vor allem in der von allen früheren Hemmungen befreiten Freiheit zur Eheschließung und Familiengründung sahen.5 Der Blick auf Gutswirtschaft und Landarbeiter hat die Existenz bäuerlicher Strukturen in der ostdeutschen Agrargesellschaft über Gebühr in den Hintergrund treten lassen.6 Die klassische Gutswirtschaft selbst beruhte auf den Arbeitskräften der untertänigen Bauernhöfe. Sie Schloß bäuerliche Familienwirtschaften mit Gesinde in keiner Weise aus, sondern war an großen Höfen mit stabilem Arbeitskräftebesatz interessiert. Die Bauernbefreiung des frühen 19. Jahrhunderts führte in den meisten ostelbischen Gebieten zur Stärkung einer groß- und mittelbäuerlichen Schicht, die ihre Arbeitskräfte ganz ähnlich rekrutierte wie die Bauern der ehemals grundherrschaftlichen Regionen.7 Die großen Gutshöfe der preußischen Junker beschäftigten tatsächlich zunehmend Landarbeiter, aber auch unter diesen gab es breite soziale Abstufungen: »Instleute« mit eigener Kleinst-Familienwirtschaft; »Deputanten« ohne jeden eigenen Landbesitz.8 Und schließlich kamen auch die großen Güter nicht ohne Knechte und Mägde aus. Für die traditionelle Gutsherrschaft bildete die Einführung des Gesindezwangsdienstes geradezu ein konstitutives Element, und nach der Bauernbefreiung forderte die Preußische Gesindeordnung von 1810 die Persistenz hausrechtlicher Abhängigkeit.9 Die Berufsstatistik des Deutschen Reichs von 1895 bietet die Möglichkeit, zumindest auf der Ebene der preußischen Provinzen und der übrigen Einzelstaaten die Zusammensetzung der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte aufzuschlüsseln. (Vgl. Tab. 4.)10 Im gesamten Raum östlich der Elbe stellten 107

Tab. 4:

Ledigenquoten und soziale Zusammensetzung der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte, Agrargebiete* des Deutschen Reichs, 1 8 8 0 / 1895

Preuß. Provinzen/ Ledigenanteile der Einzelstaaten Männner 1880 (1)

Ostprovinzen (4) Schlesien Brandenburg Schleswig-Holst. Hannover Mecklenburg (5) Oldenburg (6) Lippe Hessen Bayern (7) Franken Pfalz Baden Württemberg Elsaß-Lothringen Hohenzollern

25-29

45-49

45,2 48,5 51,0 53,5 56,4 57,4 58,3 57,4 51,0 65,4 58,3 44,7 57,6 57,9 59,9 63,5

6,1 5,8 6,4 9,5 8,8 7,8 10,1 7,7 8,1 14,5 10,5 6,5 11,8 9,5 12,0 12,3

Verteilung der landwirt. Arbeitskräfte 1895 (2)

Angehörige von Knechten und Mägden (3)

Familien- Tag- Knechte angehörige löhner Mägde % % % 26,8 29,4 43,7 41,8 60,0 23,2 66,1 57,6 71,6 48,3 57,8 65,8 82,1 79,6 80,6 84,8

42,4 28,4 34,5 24,3 16,4 51,5 13,0 14,9 17,4 9,3 10,4 12,8 5,9 7,2 12,0 4,4

19,1 20,9 20,3 32,3 23,0 21,6 20,2 26,3 11,2 42,2 32,2 21,4 10,9 13,1 7,2 10,6

43,5 38,5 14,8 7,6 5,5 2,2 1,6 10,8 14,8 1,2 2,7 10,9 2,3 3,1 8,5 2,3

*

1882: mehr als 40 % der Erwerbst. in der Landwirtschaft; 1882 und 1895: mehr Erwerbst. in der Landw. als in Industrie/Gewerbe

(1) (2) (3) (4) (5) (6)

Ungewichtete Durchschnitte der Regierungsbezirke. Familienangehörige: Selbständige und mithelfende Familienangehörige; Taglöh ner: mit und ohne eigenem/gepachteten Land. Familienangehörige von Knechten/Mägden auf 100 Knechte/Mägde. Ost- und Westpreußen, Posen, Pommern. Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz. Großhzt. Oldenburg.

(7)

Ober- und Niederbayern, Oberpfalz, Schwaben.

Quelle: Statistik d. Dt. Reichs, NF, Bd. 1 1 1 , 1 7 2 * , 182*.

Landarbeiter, vor allem »Taglöhner ohne eigenes oder gepachtetes Land«, die wichtigste Gruppe der agrarischen Arbeitskräfte. Ihr Anteil schwankt zwischen einem Viertel (Schleswig-Holstein) und mehr als der Hälfte (Mecklenburg). Daneben nahm aber auch das Gesinde einen beachtlichen Stellenwert 108

ein. Obwohl die enorme Zunahme der Taglöhner das wesentliche Element des sozialen Wandels »Ostelbiens« im 19. Jahrhundert bildete, nahm auch das Gesinde zahlenmäßig zu.11 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts stellten Knechte und Mägde rund 20 Prozent der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte in diesem Raum. In Schleswig-Holstein, wo sich der Ubergang von der Gutsherrschaft zu großbäuerlichen Besitzverhältnissen am ausgeprägtesten vollzogen hatte, übertrafen sie den Anteil der Landarbeiter sogar beträchtlich.12 Das soziale Profil der in den Zählungen als »Gesinde« erfaßten Personengruppe ist allerdings keineswegs einheitlich. Die preußische Statistik definierte »Gesinde« nach der rechtlichen Form des Arbeitsverhältnisses, als dauerhaft beschäftigte und dem Gesinderecht unterworfene Gruppe.13 Diese Definition umfaßt bei Bauern oder auf Gütern lebende ledige Knechte und Mägde ebenso wie verheiratete Arbeitskräfte, die nach ihrer Lebensweise, wenn auch nicht nach ihrer rechtlichen Stellung, eher als Landarbeiter zu klassifizieren wären. Die hier anzutreffenden Übergangsformen vom Gesinde im traditionellen Sinn zum kontraktgebundenen Taglöhner und vor allem die historische Entwicklung von der Dominanz des einen zur Dominanz des anderen Typus sind tatsächlich schwer in einer statistischen Kategorie zu fassen. Die Angaben zu den Familienangehörigen der Mägde und Knechte (überwiegend Ehegatten und Kinder) in Tab. 4 verweisen darauf, daß in den ostpreußischen Provinzen und in Schlesien, in kleinerem Ausmaß auch noch in Brandenburg, auch verheiratetes Gesinde verbreitet war.14 Zur Erklärung der Ledigenquoten in »Ostelbien« ergeben sich daraus die folgende Ansätze: Die niedrigsten Werte liegen in den preußischen Ostgebieten (Ost- und Westpreußen, Pommern, Posen), fast reinen Agrargebieten mit ausgeprägter Gutswirtschaft. Das niedrigste Heiratsalter und den höchsten Grad der Verehelichung weist dabei mit Posen jene preußische Provinz auf, die auch in sozialökonomischer Hinsicht eine Sonderstellung einnahm: Es handelt sich 1880 innerhalb des Deutschen Reichs um das Gebiet mit dem höchsten Anteil landwirtschaftlich Beschäftigter, und unter diesen wiederum mit den meisten Unselbständigen.15 Insbesondere entlang der Netze war im 19. Jahrhundert ein »fast geschlossener Güterdistrikt« entstanden.16 Auch hier lagen allerdings die Ledigenanteile der 25-29jährigen Männer deutlich höher als in den englischen Counties mit kapitalistisch organisierter Landwirtschaft. Die westlich anschließenden preußischen Provinzen weisen um einige Prozentpunkte höhere Ledigenanteile auf. Nach den agrarischen Sozialstrukturen erscheinen sie als Ubergangsregionen, in denen zwischen Taglohn und Gesindedienst ein ausgeglicheneres Verhältnis bestand. Der Anteil der bäuerlichen Familienarbeit nimmt von Osten nach Westen zu, und wie es scheint, gewinnt parallel dazu das Muster späten und beschränkten Heiratens an Bedeutung.17 109

Einen Sonderfall bildete Mecklenburg. Traditionell ein Gebiet mit »extremer« Gutsherrschaft, hatten sich hier im 19. Jahrhundert keine bäuerlichen Strukturen herausgebildet, sondern eine scharfe Polarisierung zwischen großen Gütern und landlosen Taglöhnern.18 Wie es scheint, praktizierten die Gutsherrn und die politische Obrigkeit hier eine rigide Ehekonsenspolitik, die auch den Taglöhnern die Heirat erschwerte.19 Landwirtschaftliche Lohnarbeit spielte im deutschen Osten des späten 19. Jahrhunderts ohne jeden Zweifel eine wichtige Rolle, aber sie trat nicht »rein« in Erscheinung, sondern blieb eingebunden in soziale Gemengelagen und feudale Traditionen. Die Arbeitskräfte der kapitalistisch wirtschaftenden Gutsbetriebe und der großen Bauern können nicht generell als »doppelt freie Lohnarbeiter« (Marx) betrachtet werden.20 Wie die Höhe der Ledigenquoten andeutet, war ihr Heiratsverhalten von den Zwängen dörflicher Hierarchien, bäuerlicher oder junkerlicher Arbeitsorganisation, oder auch von Rücksichten und Hoffnungen auf Besitz und soziale Position nicht gänzlich frei. Dies wird auch in einem regionalen Vergleich sozial differenzierter Ledigenquoten deutlich. Schon das kaiserliche statistische Amt hat bei der Auswertung der Berufszählung 1895 den folgenden Zusammenhang hervorgehoben: Die Streuung über die einzelnen Territorien gestaltet sich ganz unterschiedlich, »wenn man die Ehestandszahlen der drei sozialen Klassen, nämlich der Selbständigen, Angestellten und Arbeiter der Berufsabtheilungen Α bis C (= Landwirtschaft, Gewerbe-Industrie, Handel-Verkehr) miteinander vergleicht«.21 (Vgl. Tab. 5.)

Tab. 5:

Vereheüchtenquoten nach der Stellung im Beruf, Territorien des Deutschen Reichs, 1895

Bayern Württemberg Baden Ostpreußen Westpreußen Brandenburg Pommern Posen

Von 100 Selbständigen Arbeitern über 16 Jahren sind verheiratet 29,4 75,6 72,6 28,0 72,6 31,3 43,9 79,5 44,1 79,5 77,5 45,8 76,4 42,6 42,9 82,7

Quelle: Statistik des Dt. Rcichs, NF Bd. 111.

110

Das Südwest-Nordost-Gefälle der Ledigenquoten wird damit sozial differenziert. Es bestand in kleinem Ausmaß auch bei den Selbständigen, die allerdings eine relativ große überregionale Homogenität erkennen lassen. Große Unterschiede werden dagegen bei den »Arbeitern« sichtbar, in deren Heiratsverhalten damit die wesentlichen Faktoren der regionalen Differenzierung der Heiratskennziffern liegen. Die Werte der »Arbeiter« der östlichen Regionen, überwiegend Landarbeiter, liegen über jenen des Südens, aber immer noch deutlich unter den Verehelichtenquoten der »Selbständigen«. Auch dies verweist aufdie Ambivalenz der sozialen Verhältnisse »Ostelbiens«: Die Perspektive einer durchgängigen Lohnarbeiterexistenz, die die Heirat von einer zu erwartenden Selbständigkeit abkoppelte, war hier fortgeschritten, aber eine vollständige »Freiheit der Eheschließung« bestand auch fur die ostelbischen Unterschichten nicht. Der traditionelle Zusammenhang von unselbständiger Tätigkeit und Ledigenstand war hier - im Unterschied zu England - nicht völlig durchbrochen.

3. Agrarische Produktionsverhältnisse: bäuerliche Familienwirtschaft: Auch in den landwirtschaftlich dominierten Gebieten westlich der Elbe ist keine glatte Überlagerung von Heiratsmustern und agrarischen Produktionsverhältnissen zu beobachten. Die Zone unter dem deutschen Durchschnitt liegender Ledigenquoten setzte sich ja, wie bereits erwähnt wurde, in einem breiten Gürtel nach Westen fort. Sie umfaßt dabei auch kleinbäuerliche Agrargebiete mit relativ hohen Landarbeiteranteilen, wie etwa große Teile Hessens.22 Andererseits ist nicht zu übersehen, daß höchste Ledigenanteile mit mehr als 60 Prozent, wie sie in ganz Großbritannien nirgends anzutreffen waren, im Deutschen Reich ausschließlich in den ehemals grundherrschaftlich verfaßten Gebieten der bäuerlichen Familienwirtschaft lagen. Dabei zeigt sich, daß Regionen mit hohem Heiratsalter und einem großen Anteil lebenslänglicher Zölibatäre ganz unterschiedliche Typen des Familienbetriebs und ein weites Spektrum bäuerlicher Besitzgrößen umfassen. Sie reichen von den großen Meierhöfen des Münsterlandes mit Anerbenrecht und zahlreichem Gesinde über die mittelbäuerlichen Regionen Bayerns bis zu den Realteilungsgebieten mit extremer Besitzzersplitterung und Parzellenwirtschaft im Südwesten und im Rhein- und Moselland.23 Ein Zusammenhang zwischen Gesindedienst und hohem Heiratsalter ist dabei natürlich in keiner Weise überraschend. Die Erklärung eines »European marriage pattern« durch die Existenz des »life cycle servant« stellt ein zentrales Element historisch-demographischer Theoriebildung dar, und am englischen 111

Beispiel wurde bereits gezeigt, daß Gesindeanteile und Ledigenquoten tatsächlich hoch korrelieren.24 Knechte und Mägde waren in allen nordwestdeutschen Agrargebieten die wichtigste Ergänzung zu den bäuerlichen Familienarbeitskräften. Tabelle 4 weist Niedersachsen (Hannover), Oldenburg und Lippe als mittel- und großbäuerliche Regionen mit relativ hohen Gesindeanteilen aus. Hier begegnen wir über dem deutschen Durchschnitt liegenden Ledigenquoten um etwa 58 Prozent, was in England nur in einem einzigen County, nämlich Herefordshire, erreicht wurde. Noch wesentlich höhere Werte weisen aber zwei typische »Gesindelandschaften« auf: das Münsterland im Norden, Altbayern im Süden.25 Für Bayern lassen sich die zugrunde liegenden sozialen Strukturen auch wieder statistisch aufschlüsseln. Die Berufszählung 1895 weist für »Bayern« (Ober- und Niederbayern, Schwaben, Oberpfalz) mit mehr als 42 Prozent den bei weitem höchsten Anteil von Knechten und Mägden an den landwirtschaftlichen Arbeitskräften im Deutschen Reich aus. (Vgl. Tab. 4.) Familienangehörige und Gesindepersonen bildeten hier zwei fast gleich starke Gruppen der bäuerlichen Arbeitskräfte, während Taglöhnern nur eine geringe ergänzende Rolle zukam. Die hohe Bedeutung des Gesindes hat in Bayern eine lange Tradition. Zählungen aus dem späten 18. Jahrhundert wie aus dem Vormärz bestätigen seine zahlenmäßige Stärke: 1840 wurden allein in Oberbayern von insgesamt rund 690.000 Einwohnern 122.000 (fast 18 Prozent) zum Gesinde gezählt.26 Mit zunehmender Intensivierung der Landwirtschaft im 19. Jahrhundert stieg der Bedarf an im Bauernhaus mitlebenden Mägden und Knechten weiter an.27 Während hohe Ledigenanteile in diesen Regionen durchaus den Erwartungen entsprechen, wurden die Heiratsmuster in den landwirtschaftlich zersplitterten Realteilungsgebieten im Westen und Südwesten Deutschlands von der historischen Forschung erst wenig thematisiert. Wie sich zeigt, waren die Ledigenquoten in den südlichen Kreisen Württembergs und Badens, im Oberelsaß und in Lothringen sowie im Raum Köln-Aachen kaum niedriger, als in den extremen »Gesindelandschaften«. Tabelle 4 zeigt, daß in diesen Regionen vier Fünftel der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte aus den Bauern und ihren Familienangehörigen selbst bestanden. Knechte und Mägde waren ebenso wie Taglöhner durchaus vorhanden, machten aber nur kleine Anteile aus. Allerdings spielte für Jugendliche aus Unterschichtfamilien die Wanderung in Gebiete mit höherem Gesindebedarf, z.B. aus Altwürttemberg nach Oberschwaben, eine bestimmte Rolle.28 Insgesamt waren hier aber Hemmnisse der Familiengründung weniger in den Bedürfnissen der Arbeitsorganisation begründet, als in den Strategien der Familien und Individuen, ihren schmalen Besitzstand nicht noch weiter aufzusplittern.29 Die Eheschließung bedeutete in den Realteilungsgebieten die erste Teilung des Besitzes. Da der ökonomische Spielraum der Familien äußerst eng 112

bemessen war, suchte man durch eine sorgfältige Auswahl des Ehepartners oder auch eines Erben, der tatsächlich den Hof weiterfuhren sollte, Besitzstand und Status zu erhalten. Dies war zwar besonders für die lokalen Oberschichten relevant, da aber noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts z.B. in Württemberg mehr als 90 Prozent aller Familien in irgendeiner Form an Land gebunden waren, blieb die »Gründung eines eigenen Herdes« für den Großteil der Bevölkerung ein äußerst sensibler, weitreichende soziale Konsequenzen beinhaltender Schritt.30 Für das württembergische Dorf Kiebingen berechnete Carola Lipp, daß von allen Kindern, die in den Jahren 1823-1881 das Erwachsenenalter erreichten, knapp 24 Prozent zeitlebens ledig blieben; die Kinder der unteren Schichten waren darunter überproportional vertreten.31 Faßt man diese Befunde aus den »Gesindelandschaften« und den Realteilungsgebieten zusammen, so scheint es, daß Erbrecht und durchschnittliche Besitzgrößen in bezug auf Heiratsalter und zeitlebens Ledigbleibende keine große Trennschärfe aufweisen. Gemeinsam ist den verschiedenen Formen bäuerlicher Reproduktion allerdings eine komplexe und reich differenzierte Sozialstruktur. Überall gab es eine fließende Skala von großen, landwirtschaftlich lebensfähigen Höfen über Kleinbauern, Häusler und Gewerbetreibende bis hin zu landlosen Inwohnern, wenn auch die Anteile der einzelnen Gruppen und damit die durchschnittlichen Besitzgrößen enorm variierten.32 Muster des Heiratsverhaltens können damit nicht nur aus den Lebensbedingungen der einzelnen Schichten abgeleitet werden. Auch die zwischen ihnen bestehenden sozialen Beziehungen, die Abhängigkeits- und Machtverhältnisse des gesamten Dorfs, sind in Betracht zu ziehen. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man versucht, das Heiratsverhalten in ländlichen Gemeinden schichtspezifisch aufzuschlüsseln. Entsprechende Daten sind für eine Reihe von Dörfern aus West- und Süddeutschland sowie for benachbarte Gebiete Österreichs und der Schweiz verfügbar. (Vgl. Tab. 4 im Anhang.) Die hier zusammengestellten Daten folgen nicht einem einheitlichen Schichtungsmodell, und sie zeigen auch keine vollständige Ubereinstimmung. Im großen und ganzen weisen sie aber doch in eine Richtung: Die Bauern heirateten, im langfristigen historischen Verlauf und im internationalen Vergleich betrachtet, relativ spät, aber sie heirateten immer noch früher als Häusler oder Taglöhner. »Besitz und niederes Heiratsalter korrelieren positiv«, verallgemeinern Kaschuba und Lipp.33 Hemmnisse der Eheschließung betrafen vor allem die unterbäuerlichen Schichten. Wesentlich deutlicher noch als bei den Männern - und gänzlich ohne Ausnahme - kommt dies bei den Frauen zum Ausdruck. Diese einheitliche soziale Abstufung darf allerdings auch nicht überschätzt werden. In absoluten Zahlen betrachtet, waren die Unterschiede des Heiratsalters zwischen den einzelnen sozialen Schichten gering.34 113

Der Gesindedienst, wenn auch nicht stets als dominierende Realität, so doch als überall bestehende Möglichkeit; der Zwang zu Mobilität auf der Suche nach wechselndem Lebensunterhalt; Abhängigkeit von bäuerlichen Arbeitgebern und Kontrolle durch die dörfliche Oberschicht; vielleicht lange gehegte Hoffnungen, durch eine günstige Heirat die soziale Position zu verbessern oder zumindest zu stabilisieren; all dies mögen für ärmere Landbewohner Gründe gewesen sein, die Eheschließung hinauszuschieben, unabhängig davon, welcher Typ der bäuerlichen Familienwirtschaft in ihrem jeweiligen Milieu vorherrschte. Die niedrigen Anteile verheirateter »Arbeiter« in Bayern, Württemberg und Baden (vgl. Tab. 5) zeigen darüberhinaus, in welchem Ausmaß unselbständige Beschäftigung noch als Phase im Lebenszyklus galt, für die der Ledigenstand konstitutiv war. Zwischen dem gesindereichen Bayern und den badisch-württembergischen Realteilungsgebieten bestand in dieser Hinsicht kein numerisch feststellbarer Unterschied.

4. Gewerblich-industrielle Produktionsformen Auch zwischen den regionalen Heiratsmustern und gewerblich-industriellen Produktionsverhältnissen bestand keine einfache Überlagerung. Eine eindeutige positive Entsprechung zwischen Industrialisierung, niedrigem Heiratsalter und hohem Grad der Verehelichung zeichnet sich 1880 im Deutschen Reich nur im sächsisch-thüringischen Raum ab. Das Königreich Sachsen, die thüringischen Staaten, Anhalt und Teile der preußischen Provinz Sachsen (vor allem Erfurt) bilden eine zusammenhängende Zone äußerst niedriger Ledigenanteile um und knapp über 40 Prozent. Dies entspricht etwa dem englischen Durchschnitt von 1851. Diese Region zählte schon vor der Industriellen Revolution zu den gewerbereichsten Teilen Deutschlands, und gegen Ende des 19. Jahrhunderts lagen hier mehrere Zentren der Fabrikindustrie. Charakteristisch für das sächsischthüringische Industriegebiet ist der organische Übergang einer jahrhundertelangen hausindustriellen und gewerblichen Tradition in die Fabrikindustrie des 19. Jahrhunderts.35 Besonders deutlich wird dies am Beispiel der sächsischen Kreishauptmannschaft Zwickau, jenem Gebiet des Deutschen Reichs, das mit großem Abstand die niedrigsten Ledigenanteile der 25-29jährigen aufwies: mit knapp 32 Prozent einen Wert, der auch von keinem der industriellen englischen Counties erreicht wurde. Im Bezirk Zwickau überlagerten sich auf engem Raum drei traditionelle Gewerbelandschaften: Chemnitz und Umgebung, im 18. Jahrhundert ein wichtiger Standort des Baumwollgewerbes (Spinnerei, Weberei, Kattundruck) und der Strumpfwirkerei; das Erzgebirge, wo neben dem Bergbau und der Eisenverarbeitung zunehmend Spitzen114

klöpplerei und Posamentrie an Gewicht gewann; und schließlich das Vogtland, wo Baumwollverarbeitung, Stickerei und der Bau von Musikinstrumenten dominierten.36 Um 1800 bildete dieser Raum eine vielgestaltige Gewerbelandschaft, die zu den bedeutendsten Ballungen des sekundären Sektors in Deutschland zählte. Das 19. Jahrhundert war von der frühen und raschen Ausbreitung der Fabrikindustrie geprägt. Chemnitz, Glauchau, Plauen und andere Städte wurden zu Zentren der maschinellen Textilproduktion.37 Dieser Prozeß führte hier aber nicht zu einer plötzlichen Vernichtung der traditionellen Hausindustrie. 1849 war knapp ein Drittel aller Erwerbstätigen des Bezirks Zwickau in der Hausindustrie beschäftigt, und noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts war sie hier stärker verwurzelt als in irgendeiner anderen deutschen Region.38 Die Hausindustrie war in diesem Raum auch fast vollständig von landwirtschaftlichen Bindungen frei.39 Insgesamt war die Kreishauptmannschaft Zwickau gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit fast 70 Prozent der Erwerbstätigen im sekundären Sektor der am stärksten industrialisierte Bezirk des Deutschen Reichs. Das sächsischthüringische Industriegebiet bildet dabei eines der wenigen Beispiele eines kontinuierlichen Übergangs von der Proto-Industrialisierung in die Fabrikindustrie. Traditionelle proletarische Sozialbeziehungen wurden hier durch die Industrielle Revolution nicht erschüttert oder unterbrochen, sondern gestärkt.40 Dies gilt insbesondere für die Familienbeziehungen: In den Familien wurde zwischen hausindustrieller und Fabrikproduktion vermittelt und Raum für Mischformen und fließende Übergänge geschaffen.41 In dieser Kontinuität und Autonomie der Arbeiterfamilie über die Umwälzungen der Industriellen Revolution hinweg scheint die wichtigste Ursache für das hier so auffallend starke Muster frühen und allgemeinen Heiratens zu liegen. Die spezifischen Verhältnisse des sächsisch-thüringischen Raums werden besonders deutlich im Vergleich mit dem Ruhrgebiet und der niederrheinischen Industriezone. Die Bezirke Arnsberg und Düsseldorf weisen einen nur wenig niedrigeren Industrialisierungsgrad auf als Zwickau, und nach der Verbreitung der Großindustrie stehen sie sogar an der Spitze des Deutschen Reichs. Trotzdem lagen hier die Ledigenanteile deutlich höher. (Vgl. Tab. 6.) Die Dominanz der Großindustrie und die im Ruhrgebiet fehlenden, im rheinischen Industriegebiet schwächer ausgeprägten Kontinuitäten von der Hausindustrie zur Fabrik scheinen hier die Eheschließung für Arbeiter nicht erleichtert zu haben 42 Dazu sind unterschiedliche Formen der Rekrutierung der Arbeitskräfte in Rechnung zu stellen. Im sächsisch-thüringischen Raum wechselten Familienmitglieder von Hausindustriellen in die Fabrik, ohne ihr soziales Milieu zu verlassen. An Rhein und Ruhr spielte dagegen die Fernwanderung eine große Rolle. Besonders unter den in die Schwerindustrie strömenden Zuwanderern aus dem preußischen Osten befanden sich viele 115

junge, unverheiratete Männer. Waren sie polnischer oder masurischer Abstammung, so fanden sie an ihren neuen Wohnorten auch wenig Chancen auf soziale Integration vor.43 Die industrielle Lohnarbeit förderte nicht notwendigerweise früheres und häufigeres Heiraten. Sie beeinflußte das Heiratsverhalten der Arbeiter nicht unmittelbar, sondern nur in der Brechung durch Lebensweise und soziale Traditionen. Tab. 6:

Ledigenquoten und Industriestruktur, Industriegebiete des Deutschen Reichs, 1880/1882/1895* Sächsische Industriebezirke Zwickau Bautzen

Lcdigenanteile der Männer 25-29 45-49 Anteil der Beschäftigten: sekundärer Sektor zusammen Textilindustrie Bergbau/Hüttenwesen Arbeiteranteil im sekundären Sektor zur Hausindustrie gehörende Personen (1) pro 100 Einwohner

Rheinisch-westfälische Industriebezirke Arnsberg Düsseldorf

31,8 4,6

40,4 4,8

51,5 9,4

54,8 11,6

67,9 32,4 3,5

51,6 26,9 0,6

60,3 1,9 24,2

59,4 18,6 8,2

60,9

55,8

80,4

66,5

8,7

7,2

-

4,4

*

Ledigenquoten: 1880 Industriestruktur: 1882 Hausindustrieanteil: 1895 (1) Erwerbstätige und Angehörige Quellen: Statistik d. Dt. Rcichs, NF, Bd. 111,230, 76* ff., 162* ff.

Die Beziehungen zwischen Heiratsverhalten und gewerblich-industrieller Produktion können aber nicht nur am Beispiel der industriellen Ballungsräume behandelt werden. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren im Deutschen Reich mehr Menschen im Kleingewerbe beschäftigt als in der Industrie, und unter ihnen überwogen wiederum die ländlichen oder kleinstädtischen Handwerker.44 Ihr Heiratsverhalten läßt sich am Beispiel von Baden und Württemberg diskutieren. 116

Hier bestand um 1800 die höchste Handwerkerdichte in Deutschland, und in den folgenden Jahrzehnten wuchs die Zahl der Meister, Gesellen und Lehrlinge weiter an.45 Vor allem auf die Ausbreitung des ländlichen Handwerks ist es zurückzuführen, daß etwa Württemberg zur Mitte des 19. Jahrhunderts nach dem Anteil der gewerblichen Bevölkerung hinter Sachsen an der Spitze der deutschen Territorien lag. Das Fehlen industrieller Leitsektoren führte allerdings in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts im Vergleich zu den expandierenden Industriezonen Sachsens und des Rheinlandes in Südwestdeutschland zu einer Stagnation der gewerblich-industriellen Entwicklung.46 Die hohen Ledigenanteile in Baden und Württemberg deuten darauf hin, daß auch das ländliche Handwerk das Muster verzögerten Heiratens nicht aufbrach. Ganz im Gegenteil zeigen die sozial differenzierten Daten für das württembergische Dorf Kiebingen (vgl. Tab. 4 im Anhang), daß Handwerker in der Regel sogar später heirateten als Bauern. Dafür sind zwei Gründe anzuführen. Zum einen waren hier auch die Handwerker an Grund und Boden gebunden. Sie waren nicht unabhängig von ihrer agrarischen Umwelt, und für sie bestand derselbe sensible Zusammenhang von Heirat und Erbteilung wie für alle anderen Klein- und Kleinstbesitzer der Realteilungsgebiete.47 Zum anderen war auch das Landhandwerk in Südwestdeutschland - wie in den meisten anderen Territorien - zünftig organisiert.48 Die sozialen Traditionen der Zunft, wie die hausrechtliche Abhängigkeit und die langjährige Wanderschaft der Gesellen bildeten in Stadt und Land gleichermaßen Hemmnisse der Eheschließung. Wie im dritten Teil dieser Arbeit ausfuhrlich dargestellt werden wird, wirkten diese Traditionen weit über die formelle Aufhebung der Zunftverfassung hinaus. Der Konnex zwischen der Erlangung der Selbständigkeit und der Eheschließung einerseits, hausrechtlicher Abhängigkeit, Ledigenstand und Unselbständigkeit andererseits, charakterisierte das agrarische wie das handwerkliche Milieu. Eine württembergische Zählung des Jahres 1817 kam etwa zu dem Ergebnis, daß von den rund 57.000 ledigen Burschen zwischen 14 und 18 Jahren jeweils etwa 25.000 als Bauemjungenund als Handwerkslehrlinge dienten, und von den rund 73.000 Burschen im Alter von 18 bis 25 Jahren 37.000 als Bauernknechte und 30.000 als Gesellen lebten.49 Alternativen zu diesen dominierenden, den Ledigenstand erfordernden Arbeitsverhältnissen entwickelten sich auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur langsam. Dazu kommt, daß diejenigen, die durch den Übertritt zu Taglohn oder Fabrikarbeit Grundlagen für die Eheschließung zu schaffen versuchten, tatsächlich auf den Widerstand der Ortsbehörden stießen. Solange der politische Ehekonsens in Kraft war, bildete er zumindest eine weitere Entmutigung und eine zusätzliche Schwelle zur Heirat.50

117

5. Proto-Industrialisierung Schließlich stellt sich noch die Frage nach dem Zusammenhang zwischen den regionalen Heiratsmustem und der Proto-Industrialisierung. Für die gewerbliche Durchdringung des flachen Landes war nicht nur das in kleinem Maßstab für den lokalen Bedarf produzierende Handwerk relevant, sondern auch die hausindustrielle Produktion. Im Verlag organisiertes, für den Weltmarkt produzierendes Gewerbe hatte sich seit der Frühen Neuzeit in zahlreichen europäischen Landschaften ausgebreitet.51 Dem Heiratsverhalten der hausindustriellen Produzenten wird in der Forschung besondere Aufmerksamkeit zuteil. Die »proto-industrielle Familienwirtschaft« und das ihr zugeschriebene »demoökonomische System« gehören zu den meistdiskutierten Themen der Historischen Familienforschung.52 Wie weiter oben schon dargestellt wurde, gibt es gute Gründe für die Annahme, daß das extrem niedrige Heiratsalter in England um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert auf der Expansion der Hausindustrie in dieser Periode beruht. Ebenso wies auch der Census von 1851 in den proto-industriell geprägten Counties besonders niedrige Ledigenanteile aus. Für Deutschland zeigen die sächsischen Bezirke Zwickau und Bautzen, daß starke hausindustrielle Traditionen frühes und allgemeines Heiraten förderten. Auch die Daten der beiden Schweizer Dörfer Bühler und Wolfhalden (vgl. Tab. 4 im Anhang) weisen in diese Richtung. Die appenzellischen Weber und Sticker heirateten früher als die Bauern ihrer Dörfer, sie waren auf die Mitarbeit ihrer Frauen als Fädlerinnen oder Näherinnen dringend angewiesen.53 Ihr Heiratsverhalten unterscheidet sich damit deutlich von dem der Unterschichten aller anderen angeführten Dörfer. Der Gesamtüberblick über die regionale Verteilung der Ledigenquoten im Deutschen Reich zeigt allerdings, daß auch zwischen Hausindustrie und Heiratsverhalten kein eindeutiger und monokausaler Zusammenhang besteht. Eine Reihe von Regionen, in denen die Proto-Industrialisierung eine große Rolle spielte, liegt in Bezirken mit den höchsten Ledigenquoten des Deutschen Reichs. Dazu gehören der württembergische Donaukreis mit dem Leinengebiet um Münsigen-Blaubeuren-Ulm und im Rheinland der Bezirk Aachen mit dem alten Tuchmacherzentrum um Aachen-Eupen.54 Nun stammen die Heiratskennziffern aus dem späten 19. Jahrhundert, in dem die ländliche Hausindustrie keinerlei prägende Rolle mehr spielte und sich bestenfalls in marginalen Rückzugsbereichen behauptet hatte. Im schwäbischen Donaukreis und im Aachener Raum hatte sie tatsächlich, wie die Berufsstatistik 1895 zeigt, keine Bedeutung mehr.55 Es ist nicht auszuschließen, daß gerade ein krisenhafter Rückgang der Proto-Industrie oder die Deindustrialisierung alter Gewerbelandschaften die Heiratsmöglichkeiten ihrer Bewohner erschwerte. Trotzdem lassen die überaus hohen Ledigenanteile in den genannten Räumen zumindest auch den 118

Schluß zu, daß hier von der Proto-Industrialisierung keine langfristig prägenden Wirkungen aufdas Heiratsverhalten ausgegangen waren. Bei der Diskussion dieses Sachverhalts scheinen zwei Fragen besonders wichtig zu sein. Die erste zielt auf die soziale Autonomie der hausindustriellen Produzenten. In manchen Regionen hatten sie sich völlig vom agrarischen Kontext gelöst und autonome soziale Beziehungen entwickelt, zu denen frühes Heiraten gehörte. In anderen Regionen waren sie aber in agrarische oder handwerkliche Verhältnisse eingebunden geblieben.56 Beispiele dafür finden sich auch in Württemberg: Kaschuba und Lipp sprechen von den Kiebinger »WeberBauern«, Ogilvie hat die zünftischen Organisationsformen der Wollenweber in und um Nagold beschrieben.57 Die zweite Frage bezieht sich auf Dichte und Kontinuität der ProtoIndustrialisierung. Trotz der langen Traditionen einzelner proto-industrieller Zentren scheint es, daß eine flächendeckende Ausbreitung der ländlichen Hausindustrie in Mitteleuropa von kurzer Dauer war. Sie wurde gefördert durch absolutistische Manufakturgründungen des späten 18. Jahrhunderts und erhielt wirtschaftliche Wachstumsimpulse von den ersten Ansätzen der Industriellen Revolution. Deren Entfaltung bedeutete aber zugleich den Beginn des endgültigen Niedergangs der Hausindustrie.58 In Württemberg setzte die massenhafte Ausbreitung der proto-industriellen Leinenerzeugung in den 1770er Jahren ein und verebbte im Vormärz, wo Webersöhne zunehmend ins Baugewerbe wechselten.59 Im holländisch-westfälischen Leinengebiet um Twente ist eine ähnlich kurze expansive Welle etwas später, um 1830, zu beobachten.60 Wo die Hausindustrie in die soziale Hegemonie bäuerlicher oder handwerklicher Produktionsverhältnisse eingebunden blieb oder wo sie nicht mehr war als eine kurze, ein oder zwei Generationen erfassende Episode, konnte sie schwerlich neue Muster des Heiratsverhaltens hervorbringen. Die hohen Ledigenquoten im Südwesten und Westen Deutschlands deuten an, daß langfristige historische Kontinuität, soziale Autonomie und Dominanz der proto-industriellen Produktion, und schließlich ihr organischer Übergang in die Fabrikindustrie, wie er im sächsisch-thüringischen Raum sichtbar wird, in Mitteleuropa eher die Ausnahme waren, als die Regel.

119

IX. Österreich Wie bereits erwähnt wurde, ist das Heiratsverhalten in Österreich durch eine extreme Polarisierung charakterisiert: Die Alpenländer weisen äußerst hohe Ledigenquoten auf, die sich im Vergleich mit allen bisher untersuchten Regionen deutlich nach oben absetzen; die böhmischen Länder liegen unter dem mitteleuropäischen Durchschnitt, etwa auf dem englischen Niveau; Ostgalizien fällt aus der Bandbreite des west- und mitteleuropäischen Heiratsverhaltens vollends nach unten heraus. Auch hier bieten sich zunächst unterschiedliche landwirtschaftliche Produktionsverhältnisse zur Erklärung der großräumigen Differenzierung des Heiratsverhaltens an. »Wollte man die ländliche Gesellschaft der Monarchie charakterisieren, so könnte man in der Tat zwischen Gebieten mit vorherrschend bäuerlicher und vorherrschend gutsherrlicher Wirtschaftsform unterscheiden.«1 Die in den Alpenländern vorherrschende »bäuerliche Wirtschaftsform« war verbunden mit Dienstbotenverhältnissen und häufig mit Einzelhofsiedlung, in der Gutswirtschaft der böhmischen Länder und Gaüziens überwogen Taglohnarbeit und Dorfsiedlung.2 Insofern fugen sich auch die Heiratsverhältnisse in Osterreich in das bisher entwickelte Erklärungsschema ein. Die extrem hohen Ledigenquoten der inneralpinen Bezirke Österreichs schaffen jedoch einen besonderen Erklärungsbedarf: Mit 30 Jahren war hier fast niemand, mit 50 kaum die Hälfte der Bevölkerung verheiratet. (Vgl. Schaubilder 6 u. 7.) Derartige Werte sind nirgendwo sonst in Europa nachzuweisen. An den Ausläufern der Alpen nach Süden, Osten und Norden und im Alpenvorland sanken die Ledigenquoten ab, blieben aber auch hier größtenteils auf einem Niveau, das etwa in Deutschland von keinem einzigen Bezirk erreicht worden war. Diese Heiratsverhältnisse stellen einen Extremfall des European Marriage Pattern dar, dessen Erklärung eine nähere Betrachtung der spezifischen agrarischen Produktionsverhältnisse im österreichischem Alpenraum erfordert.

120

121

122

Schaubild. 8:

Soziale Stellung und Familienstand im Lebenszyklus, landwirtschaftlich berufstätige Männer, Salzburg 1890

21 - 3 0

31 - 4 0

41 - S O

S1-60

61 - 7 0

71 - 6 0

ALTERSGRUPPEN

SOZIALE STELLUNG: ARBErTER (EINSCHL. MITHELFENDE FAMILIENANGEHÖRIGE U. GESINDE)

TAGLÖHNER

SELBSTÄNDIGE

Quelle: Österreichische Statistik 1 8 9 0 .

1. Das Heiratsverhalten u n d die bäuerliche Familienwirtschaft der Alpenländer Kennzeichnend für die österreichischen Alpenländer war ein strikter Zusammenhang zwischen Familienstand und sozialer Stellung, wie ihn Schaubild 8 am Beispiel Salzburgs zeigt. Verheiratet waren unter den landwirtschaftlich Beschäftigten fast ausschließlich Selbständige, also Bauern und Bäuerinnen oder auch Häusler und Häuslerinnen, die aber beim Erlangen der Selbständigkeit meist schon das 30. Lebensjahr überschritten hatten. Schon die Taglöhner, die hier allerdings zahlenmäßig kaum ins Gewicht fielen, blieben etwa zur Hälfte zeitlebens

ledig. Die große Masse der Ledigen stellten die landwirtschaftlichen »Arbeiter«, worunter die österreichische Statistik sowohl mithelfende Familienangehörige als auch Gesindepersonen verstand. Für beide Gruppen war die Eheschließung nahezu ausgeschlossen. Nur bei den sehr alten »Arbeitern« sank die Ledigenquote ab, ein Hinweis darauf, daß hier ältere Verwandte vielleicht auch Eltern im Ausgedinge - in diese Kategorie überwechselten. Heiratsalter und Ledigenquoten in den österreichischen Alpenländern hingen demnach wesentlich mit der Größe der Höfe und der Zusammensetzung der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte zusammen. Tatsächlich zeichnet sich in den Alpenländern ein sehr enger Zusammenhang zwischen Selbständigenanteilen und Ledigenquoten ab: je geringer der Anteil der Selbständigen an den landwirtschaftlich Berufstätigen, desto höher die Ledigenquoten. Anders formuliert: Je mehr Arbeitskräfte auf einen Hof entfielen, desto geringer waren ihre Chancen zur Heirat. Die besondere Stellung der inneralpinen Bezirke tritt auch dabei deutlich hervor. (Vgl. Tab. 7.) Wir haben hier eine geschlossene Gruppe von Bezirken, die die niedrigsten Anteile landwirtschaftlich Selbständiger in der österreichischen Reichshälfte aufwies. Auf einen Bauern entfielen hier im Durchschnitt sechs bis neun Hilfskräfte. In keinem dieser Bezirke sank der Anteil der Ledigen an den 2529jährigen Männern unter 80 Prozent, an den 45-49jährigen unter 35 Prozent. Der umgekehrte Zusammenhang zwischen Selbständigenanteil und Ledigenquoten wird in den südlichen, östlichen und nördlichen Alpenausläufern bzw. Voralpenländern sichtbar. In Kärnten unterscheiden sich schon die Bezirke Villach und Hermagor durch höhere Anteile der Selbständigen und niedrigere Ledigenquoten vom Rest des Landes. Insgesamt weist das ganze Randgebiet vom italienischsprachigen Tirol über Görz und Istrien, Krain, die Ost- und Untersteiermark bis in das nordöstliche Niederösterreich im Vergleich zum Zentralalpenraum kleinere Besitzgrößen und damit höhere Heiratschancen auf. Am Südrand der Alpen herrschte landwirtschaftlicher Kleinbesitz vor, im Handelskammerbezirk Rovereto und in Görz war sogar das Pachtverhältnis (Colonat) verbreitet.3 Im nördlichen Niederösterreich begann schon der Übergang zur Gutswirtschaft der böhmischen Länder. Im Vergleich zum zentralen Alpenraum ist in seinen Randgebieten auch die Wirtschaftsweise vielfältiger. Die Dominanz der Viehzucht trat zurück, Spezialkulturen wie der Weinbau gewinnen an Bedeutung.4 Die Ledigenquoten waren hier deutlich niedriger als im zentralen Alpenraum, in ihren absoluten Werten - und im internationalen Vergleich - aber immer noch außergewöhnlich hoch. Auch in den Gebieten des bäuerlichen Kleinbetriebs ohne nennenswerte Ergänzung durch Gesinde oder Taglöhner, wie er etwa für die Untersteiermark und Krain typisch war, waren die Heiratsmöglichkeiten alles andere als günstig. Vielleicht mag hierbei eine Rolle spielen, daß die 124

Tab. 7:

Bezirk

Ledigenanteile und Hofgrößen, österreichische Alpenländer, 1 8 8 0 / 1890 Land

Anteil der Selbständigen an den lw. Berufst. (1890)

a: Die inneralpinen Bezirke Leoben Steierm. St. Veit Kärnten Judenburg Steierm. Bruck/M ur Steierm. Liezen Steierm. Zell am See Salzburg Murau Steierm. Völkermarkt Kärnten Klagenfurt/Um. Kärnten Wolfsberg Kärnten Salzburg Tamsweg Lienz Tirol St. Johann Salzburg Gröbming Steierm.

11,4 12,6 13,8 14,2 15,0 15,6 15,9 16,3 16,5 16,8 17,1 17,1 17,2 17,4

b: Durchschnittswerte für alle Bezirke der Alpenländer (1) 18 Bezirke 11,4-17,9 40 Bezirke 18,0-22,9 48 Bezirke 23,0-37,1

Ledigenanteile der Männer (1880) 25-29 45-49 85,8 90,8 85,8 84,2 86,4 91,4 90,1 81,3 83,4 82,8 89,9 87,9 87,2 88,3

37,7 61,8 48,9 35,9 41,7 45,0 49,6 39,5 43,3 44,7 38,4 48,1 40,2 38,3

82,7 73,6 66,7

38,1 24,0 16,7

-.27

-.44

c: Korrelationskoeffizient r (2) Anteil der Selbst, an den lw. Berufst. (1) ungewichtete Durchschnitte der Bezirksgruppen (2) Pearsons Corr. für 110 Bezirke Quelle: Österreichische Statistik 1880, 1890.

südlichen und südöstlichen Ausläufer der Alpen wirtschaftlich äußerst rückständige Gebiete darstellten, in denen es neben der Landwirtschaft nur wenige Einkommensmöglichkeiten gab. 5 Für landwirtschaftliche Taglöhner war in den Alpenländern die Heirat nicht ausgeschlossen, aber auch nicht die Regel. Dies hängt damit zusammen, daß sie nicht als Alternative oder gar Gegensatz zu Familienarbeit und Gesindedienst in Erscheinung traten, sondern, wie schon Rauchberg bei der Analyse der Volkszählung von 1 8 9 0 festgestellt hatte, als »Zusatz«. 6 125

Charakteristisch für die spezifische Stellung der Taglöhner in den Alpenländern ist die Tatsache, daß kaum einer von ihnen im Besitz eines eigenen Hauses war. Der Anteil der Allein- oder Mitbesitzer eines Hauses machte unter den Taglöhnern in Kärnten und in der Steiermark rund zwei Prozent aus, in Salzburg sechs, in Tirol acht Prozent. Nur in Oberösterreich lag er mit 13 Prozent etwas höher.7 Daraus läßt sich schließen, daß zur Kategorie der Taglöhner vor allem Inwohner gezählt wurden, die in einer starken Abhängigkeit von dem Bauern, dessen Haus sie bewohnten, standen, auch wenn sie nicht ständig und ausschließlich für ihn arbeiteten. Die statistische Zuordnung von Inwohnern in die Kategorie der »Taglöhner« entspricht durchaus den realen sozialen Verhältnissen. »Daß Inwohner in der Regel saisonal oder das ganze Jahr hindurch als Taglöhner tätig waren, ist durch vielfältige Quellen hinlänglich belegt.«8 In der Obersteiermark und in Kärnten wurden die Begriffe »Inwohner« bzw. »Gäste« und »Tagwerker« sogar synonym verwendet. 9 Die »Taglöhner« der Alpenländer bildeten damit keine autonome soziale Gruppe, die ein eigenständiges Heiratsverhalten hätte ausbilden können. Ihre Einbindung in die großbäuerliche »Gesindegesellschaft« bewirkte vielmehr, daß auch ihre Lebensweise von einem hohen Heiratsalter und häufigem lebenslänglichen Zölibat geprägt war. Wie das Beispiel Salzburgs zeigt (vgl. Schaubild 8),blieb hier mehr als die Hälfte der Taglöhner auch im hohen Alter ledig. Es scheint, daß alternde Dienstboten oder Verwandte mitunter in die Position eines inwohnenden Taglöhners überwechselten, ohne daß dies an ihren geringen Heiratschancen etwas geändert hätte. Völlig von der Familiengriindung ausgeschlossen waren hausrechtlich abhängige mithelfende Familienangehörige und Gesindepersonen, die in den Alpenländern noch im hohen Alter rund ein Drittel der landwirtschatlichen Arbeitskräfte stellten. (Vgl. Schaubild 8.) Die jeweiligen Anteile von Familienmitgliedern und Dienstboten variierten stark. Auf den großen Höfen der inneralpinen Bezirke waren Knechte und Mägde die größere Gruppe. In den kleineren Bauernwirtschaften der Alpenrandgebiete bildeten Familienangehörige das wichtigste Arbeitskräftepotential. Im italienischsprachigen Süden Tirols ist mit einer völligen Bedeutungslosigkeit des Gesindedienstes zu rechnen, ähnlich wie auch in Görz und Istrien. Die Anteile der Knechte an den landwirtschaftlichen »Arbeitern« (vgl. Tab. 5 im Anhang) zeigen diese Unterschiede, wenn auch ungenau. Da die entsprechenden Daten nur auf der Ebene der Kronländer verfügbar sind, lassen sie keine eindeutige Abgrenzung der Alpen- von den Vöralpengebieten zu. Setzt man die jeweiligen Anteile der Familienangehörigen und der Dienstboten in Beziehung zu den Heiratsmustern, so drängen sich zwei Schlußfolgerungen auf: Die hohen Ledigenquoten in Nord- und Südtirol und ebenso die zwar niedrigeren, aber immer noch beträchdichen in den 126

südlichen und südöstlichen Ausläufern der Alpen weisen daraufhin, daß im Gesindedienst nicht die einzige Ursache von Heiratsbeschränkungen gesehen werden kann. Das zeitliche Hinausschieben der Heirat oder der völlige Verzicht auf die Ehe betrafen auch Kinder und Verwandte der Bauern, die auf den Höfen mitarbeiteten. Interesse an der Kontrolle des familialen Arbeitskräftepotentials und an der Erhaltung des sozialen Status scheinen sich hier überlagert zu haben. Andererseits weisen gerade die inneralpinen Bezirke mit ihren extrem hohen Ledigenquoten auch die höchsten Gesindeanteile auf. In Tabelle 5 im Anhang kommt dies am deutlichsten bei Kärnten zum Ausdruck, jenem Kronland, das im Unterschied zu allen anderen zur Gänze dem inneralpinen Raum zuzurechnen ist. Dem Gesindedienst kommt damit eine besondere Bedeutung fur die Erklärung der alpinen Extremformen des European Marriage Pattern zu.

2. Der »life time servant« des österreichischen Alpenraums Die sozialhistorische Signifikanz der alpinen »Gesindegesellschaft« wurde für Österreich bereits von Michael Mitterauer nachgewiesen.10 Gestützt auf Volkszählungsdaten des 18. und 19. Jahrhunderts, im speziellen aber auf Sozialstrukturangaben über die politischen Bezirke in den Jahren 1870-1874, grenzte er in den ostalpinen Gebirgsregionen Österreichs eine »Zone hoher Gesindehaltung« ein, die sich vom südlichen Niederösterreich über die Obersteiermark nach Kärnten, Salzburg und bis in das östliche Tirol erstreckt. In manchen politischen Bezirken dieser Zone entfielen im Durchschnitt sechs bis sieben Gesindepersonen auf einen landwirtschaftlichen Betrieb!11 Die große Bedeutung der Gesindehaltung ist aus drei Faktoren abzuleiten, die insgesamt die Agrarverfassung des österreichischen Alpenraums charakterisieren: eine starke und relativ homogene Schicht mittlerer und großer Bauern, die über die Familienangehörigen hinaus zusätzliche Arbeitskräfte benötigten; das Vorherrschen von Viehzucht, das die ständige Anwesenheit von Arbeitskräften erforderte; und schließlich die verstreute, mitunter weit voneinander entfernte Lage der Höfe, die eine ständige Bindung der Arbeitskräfte erzwang. Der besonders hohe Gesindebedarf im Alpenraum ist von der Uberlagerung der drei Faktoren Betriebsgröße, Bewirtschaftung und Siedlungsweise bestimmt.12 Der Zusammenhang zwischen Gesindedienst und hohem Heiratsalter ist nicht auf den Alpenraum beschränkt. Was allerdings die inneralpinen Bezirke noch deudicher als das Heiratsalter von anderen Regionen abgrenzt, ist der enorm hohe Anteil lebenslang Unverheirateter. Ledigenanteile unter den 4549jährigen Männern von 40, 50, ja über 60 Prozent, wie sie in manchen Bezirken der Obersteiermark, Kärntens und Salzburgs begegnen, sind in der 127

Tat spektakulär. Wenn wir in Rechnung stellen, daß ein bestimmter Teil der erwachsenen Männer schon vor dem Erreichen dieser Altersgruppe unverheiratet starb, läßt sich ohne Ubertreibung schätzen, daß im zentralen Ostalpenraum im ausgehenden 19. Jahrhundert in der Regel mehr als die Hälfte der heiratsfähigen Männer ihr Leben lang ledig blieb.13 Auch im Alpenraum wurden Dienstboten zum größeren Teil von Jugendlichen und jungen Erwachsenen gestellt, die im höheren Alter in selbständige Positionen, in den Taglohn oder in außeragrarische Tätigkeiten überwechselten. Allerdings haben sozialpolitische Untersuchungen um die Jahrhundertwende schon eindeutig festgestellt, daß »bei einem ansehnlichen Theile der landwirtschaftlichen Dienstboten der Gesindedienst Lebensberuf bleibt«.14 Der hohe Bedarf an ständigen Arbeitskräften machte es möglich, daß Kinder, Geschwister oder sonstige Verwandte des Bauern, die aufgrund des Anerbenrechts nicht zu einem eigenen Anwesen gelangt waren, kontinuierlich auf dem Hof mitarbeiteten. Eine Untersuchung aus dem Jahre 1907 führte etwa einen als »charakteristisch« bezeichneten Fall aus dem steirischen Mürztal an, »wo ein Besitzer fur die drei auf dem Hofe als Knechte dienenden Brüder seines Vaters, die sämtliche über 50 Jahre alt waren, um die Altersrente ansuchte«.15 Allerdings waren unter dem lebenslänglichen Gesinde auch viele alleinstehende, nicht mit dem Bauern verwandte Dienstboten. Gerade in den Gebieten mit sehr hohem Gesindebedarf war ein Teil von ihnen zugewandert, und auch der Anteil von ledigen Kindern von Mägden war hoch.16 Michael Mitterauer hat, gestützt auf eine große Zahl von Individualdatensamples aus dem gesamten österreichischen Raum, den Charakter des Gesindedienstes als »Rollenergänzung« betont: »Wenn die Statistik zeigt, daß Bauern bis ins hohe Alter den Arbeitskräftebedarf das Hofes eher durch erwachsene Kinder deckten als durch Gesinde, so ist damit ein Grundprinzip bäuerlicher Familienwirtschaft angesprochen. Knechte und Mägde wurden in der Regel nur dann aufgenommen, wenn keine Söhne und Töchter zur Verfugung standen, die die erforderlichen Arbeiten verrichten konnten.«17

Die großen Gesindeanteile in den inneralpinen Bezirken lassen jedoch die kontinuierliche Verwendung von Dienstboten vermuten. Gesinde scheint hier nicht nur an bestimmten Phasen des Familienzyklus aufgenommen worden, sondern ständig vorhanden gewesen zu sein - was Schwankungen seines Umfangs entsprechend dem Familienzyklus keineswegs ausschließt. Es liegt nahe, auch in einer höheren Konstanz der Gesindehaltung einen jener Faktoren zu sehen, die die Entwicklung des Gesindedienstes zum »Lebensberuf« und das hohe Ausmaß des lebenslangen Zölibats in diesem Raum begründeten. Dieses Phänomen läßt es als nützlich erscheinen, den sozialen Typus des ländlichen Gesindes weiter zu differenzieren. In der sozialhistorischen Forschung findet zur Kennzeichnung des in West- und Mitteleuropa verbreiteten 128

Gesindes der Begriff des »life cycle servant« Verwendung.18 Er bindet den Gesindedienst an eine bestimmte Altersphase, die zwar vielfach verlängert, aber doch prinzipiell begrenzt erscheint. Die Gesindestellung wird als Ubergangsphase angesehen, als Vorbereitung auf eine neue soziale Position in einem höheren Lebensalter: etwa als Ausbildung oder als Zeit des Sparens fur die eigene Haushaltsgründung.19 Den lebenslänglichen Knechten und Mägden der Ostalpen wird diese Charakterisierung nicht gerecht. Sicherlich ist auch in dieser Region der Gesindedienst überwiegend eine transitorische Lebensphase. Der große Anteil alter Dienstboten und die extremen Ledigenquoten in den inneralpinen Bezirken lassen es jedoch angebracht erscheinen, im lebenslangen Gesinde dieser Region keine individuellen Ausnahmen aus dem Muster des »life cycle servant« zu sehen, sondern ein eigenständiges soziales Phänomen. Eine lebenslange Gesindestellung kommt auch in anderen europäischen Regionen vor, etwa im Baltikum. Die Knechte und Mägde dieses Raums waren aber verheiratet und führten zumindest teilweise eine vom Bauern getrennte Haushaltung.20 Ehen von Knechten und Mägden, die bei verschiedenen Bauern im Dienst standen, waren vereinzelt auch in Kärnten anzutreffen, bildeten hier aber tatsächlich einen Sonderfall.21 Der Ledigenstatus der lebenslangen Dienstboten der österreichischen Alpen reiht diese prinzipiell in den west- und mitteleuropäischen Typus ein. Vielleicht kann man sie am ehesten als Variante dieses Typus begreifen, der durch die spezifischen sozialökonomischen und ökologischen Bedingungen dieser Region bedingt ist. In den hohen Ledigenquoten der inneralpinen Bezirke kommt demnach nicht nur ein quantitativer Unterschied zu den übrigen europäischen Agrargebieten zum Ausdruck, einfach ein höheres Ausmaß der Gesindehaltung, sondern auch die spezifische soziale Qualität des lebenslangen Gesindes. Dies tritt besonders deutlich im regionalen Vergleich der Ledigenanteile der 4549jährigen hervor. Während ein hohes Heiratsalter in weiten Teilen des heutigen Österreich dominierte, und über die eigentlichen Alpen hinaus in das nördliche Alpenvorland reichte, waren die extremen Ledigenquoten der 45-49jährigen deutlicher auf die inneralpinen Bezirke konzentriert. Dies wird etwa im Vergleich mit Oberösterreich sichtbar. Auch in Oberösterreich war der Anteil der mittleren und größeren bäuerlichen Betriebe hoch, und nach dem durchschnittlichen Viehbestand der Höfe nahm Oberösterreich nach Salzburg den zweiten Rang in der Monarchie ein.22 Dementsprechend finden wir auch hier einen hohen Gesindeanteil an den landwirtschaftlichen Beschäftigten, der etwa dem Niveau von Kärnten, Salzburg und der Obersteiermark entspricht. (Vgl. Tab. 5 im Anhang.) Im Flach- und Hügelland bestand jedoch ein größeres Gewicht der Sammelsiedlungen, bessere Kommunikationsbedingungen und eine differenziertere Sozialstruktur mit einem großen 129

Anteil unterbäuerlicher Schichten, mit Möglichkeiten zum Taglohn und zum außeragrarischen Erwerb. Gesindedienst wurde hier in großem Ausmaß von Kindern der unterbäuerlichen Schicht ausgeübt, meist im Rahmen langdauernder Patron-Klient-Beziehungen zwischen ihrer Herkunftsfamilie und den dienstgebenden Bauern.23 Unter diesen Bedingungen waren die Ledigenanteile der 25-29jährigen Männer zwar im internationalen Vergleich noch immer sehr hoch, über 70 Prozent, aber doch eindeutig unter den Extremwerten der Alpenbezirke. Die Ledigenquoten der45-49jährigen lagen wesentlich niedriger als in der Alpenregion. Sie stiegen in den meisten oberösterreichischen Bezirken nicht über 20 Prozent und bewegen sich damit auf einem zwar hohen, im internationalen Vergleich aber nicht mehr außergewöhnlichen Niveau. Hier begründete der Gesindedienst ein hohes Heiratsalter, schloß aber, dem Muster des »life cycle servant« entsprechend, die Eheschließung nicht lebenslänglich aus, während der »life time servant« der inneralpinen Bezirke zum lebenslangen Zölibat verurteilt war.24

3. Ledigenquoten und das Verhältnis von gewerblich-industriellen und agrarischen Produktionsformen in den Alpenländern Im Lichte dieser Daten erscheint die agrarische Gesellschaft der Alpen und ihrer Ausläufer als weitgehend einheitliches soziales System. Alle Gruppen landwirtschaftlich Erwerbstätiger waren in eine bäuerliche Lebensweise eingebunden, die die Eheschließung von Unselbständigen nur als Ausnahme kannte. Allerdings waren die österreichischen Alpenländer gegen Ende des 19. Jahrhunderts zwar überwiegend, aber keineswegs ausschließlich von der Landwirtschaft geprägt. Hier bestanden alte Traditionen des Bergbaus, des Gewerbes, der Holzwirtschaft, der Hausindustrie, und an einigen Standorten vollzog sich eine stürmische Industrialisierung. Da die Ledigenquoten der politischen Bezirke ja die gesamte, landwirtschaftliche und industrielle Bevölkerung umfassen, ist auch die Einwirkung von Gewerbe und Industrie auf die Heiratsverhältnisse zu berücksichtigen. Insbesondere erhebt sich die Frage nach dem Verhältnis von agrarischen und industriellen Sozialstrukturen. War mit der gewerblichen und industriellen Produktion in den Alpenländern überhaupt ein von der Landwirtschaft verschiedenes Heiratsalter verbunden? Brach die Industrie in den gewerblichagrarischen Übergangsregionen das einheitliche Sozialsystem der Agrargesellschaft auf? Standen beide unverbunden nebeneinander oder beugte sich die industrielle Welt dem Übergewicht der sozialen Traditionen der Landwirtschaft? Auf diese Frage können die hier verwendeten Daten zwar keine endgültigen Antworten geben, sie können aber die Problemstellung genauer eingrenzen und differenzieren. 130

Nach dem Anteil der Berufstätigen in Gewerbe und Industrie nahmen die Alpenländer in der Habsburgermonarchie eine Zwischenstellung ein. (Vgl. Tab. 6 im Anhang.) Sie konnten sich zwar nicht mit den böhmischen Ländern messen, lagen aber deutlich über den Ländern mit »einheitlich agrikolem Charakter«25 wie Galizien, Dalmatien, die Bukowina und das Küstenland. Die regionalen Unterschiede innerhalb der Alpenländer waren allerdings groß. Ein Ubergewicht der industriellen über die landwirtschaftliche Bevölkerung weisen gegen Ende des 19. Jahrhunderts nur drei Regionen auf: das südliche Wiener Becken, das obersteirische Industriegebiet (Bezirke Leoben, Bruck, Judenburg) und Vorarlberg. Einen nicht mehr dominierenden, aber noch relativ großen Anteil von Industrie und Gewerbe zeigen weiters die nördlichen Ausläufer der Alpen in Ober- und Niederösterreich, das nordöstliche Tirol, und einige inneralpine Bezirke Salzburgs und Kärntens, wie Villach und St. Johann. In einer Reihe anderer inneralpiner Regionen war dagegen Gewerbe und Industrie kaum vertreten: im westlichen Tirol (Landeck, Imst, Reutte) und in einer Reihe Kärntner und Salzburger Bezirke, wie Hermagor, Spittal oder Tamsweg.24 Am stärksten und nahezu ausschließlich landwirtschaftlich strukturiert waren allerdings die südlichen und südöstlichen Randgebiete der Alpen: das italienische Tirol, das Küstenland, Unterkrain, die Ostund die Untersteiermark. Schon dieser flüchtige Uberblick genügt, um sichtbar zu machen, daß kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Heiratsverhalten und Industrialisierungsgrad bestand. Ein allgemeines Muster scheint am ehesten darin zu bestehen, daß die Ledigenanteile eher niedriger waren in den rein landwirtschaftlichen Gebieten des Südens und Südostens und eher höher in den stärker industriell durchdrungenen Regionen des zentralen Alpenraums. Andererseits zeigt aber gerade der Vergleich der inneralpinen Bezirke eine enorme Variationsbreite. Zu den Regionen mit dem höchsten Heiratsalter und dem höchsten Anteil lebenslänglich Lediger gehören die industriell geprägten Bezirke Leoben (36 Prozent der Berufstätigen in der Landwirtschaft), Bruck an der Mur (47 Prozent), ebenso aber auch die Agrarbezirke Liezen (63 Prozent), Zell am See (68 Prozent), Tamsweg (77 Prozent) oder Imst (80 Prozent). Diese hohe Konstanz der Ledigenquoten, unabhängig vom Industrialisierungsgrad, macht es notwendig, die gewerblich-industrielle Bevölkerung weiter zu differenzieren. Ein großer Teil des außerlandwirtschaftlichen Erwerbs wurde in den Alpenländern von Handwerk und Kleingewerbe eingenommen. Darauf deuten zunächst die Anteile der Selbständigen an der gewerblich-industriellen Bevölkerung hin, die in den Alpenländern bei rund einem Viertel und damit deutlich über den Werten der böhmischen Länder lagen. (Vgl. Tab. 6 im Anhang.) Noch stärker heben sich die Alpenländer jedoch nach der Haushaltsposition der Arbeiter vom übrigen Osterreich ab. Im zentralen Alpen131

räum bestand gut ein Drittel aller Arbeiter des sekundären Sektors aus beim Meister wohnenden Lehrlingen und Gesellen.27 (Vgl. Tab. 6 im Anhang.) Hinter diesem Niveau blieben alle anderen Landesteile, sowohl die stärker industrialisierten böhmischen Länder als auch die reinen Agrargebiete deutlich zurück. Daraus ist sowohl auf eine hohe zahlenmäßige Bedeutung des Handwerks und Kleingewerbes wie auch auf die starke Persistenz einer traditionellen handwerklichen Sozialverfassung zu schließen. Die Stärke des Handwerks wird in der Gegenüberstellung zu den reinen Agrarländern sichtbar. Die hohen Anteile von Selbständigen und die geringen von »gewerblichem Gesinde« (z.B. in Krain, Dalmatien, Galizien und der Bukowina) weisen darauf hin, daß hier zwar traditionelles Handwerk betrieben wurde, aber auf sehr kleiner Stufenleiter, ohne nennenswerte Mitarbeit von Lehrlingen oder Gesellen. In den böhmischen Ländern andererseits war die handwerkliche Produktion hoch entwickelt und das Wohnen beim Meister wie in den Alpenländern noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorherrschend, aber insgesamt fiel das »gewerbliche Gesinde« gegenüber den Industriearbeitern nicht mehr in demselben Ausmaß ins Gewicht.28 Der hohe Anteil mitwohnender Arbeitskräfte in den Alpenländern weist dagegen auf eine relativ hoch entwickelte kleingewerbliche Produktion und zugleich auf das Weiterbestehen ihres traditionellen Sozialsystems hin. In dieser Hinsicht zeigen die bäuerlichen und die gewerblichen Sozialformen in den Alpenländern tatsächlich Parallelen. Auch im Handwerk führte eine Ausdehnung des Produktionsumfangs und des Betriebs nicht notwendigerweise zur Einstellung von »freien«, nicht im Haushalt mitlebenden Arbeitskräften. Die hohen Anteile des »landwirtschaftlichen« wie des »gewerblichen Gesindes« heben jedenfalls die Alpenländer gemeinsam vom übrigen Österreich ab. Es ist zu vermuten, daß darin nicht nur eine Parallelität zum Ausdruck kommt, sondern reale soziale Beziehungen. Die Handwerker der kleinen Städte und Marktflecken rekrutierten z.B. auch Lehrlinge vom Land, zwischen Bauern und Gewerbetreibenden bestanden soziale und verwandtschaftliche Beziehungen. Möglicherweise basierte auf diesem Hintergrund ein Gewerbe und Landwirtschaft umfassendes Modell hausrechtlicher Abhängigkeit.29 Anders verhält es sich bei den Industriearbeitern. Soweit Einzeluntersuchungen vorliegen, waren Heirat und eigene Haushaltsgründung auch in Österreich fur ihre Lebensweise konstitutiv.30 Ob und wie schnell geheiratet werden konnte, hing aber nicht allein vom Faktum der Industriearbeit ab. Wie schon am Beispiel des Ruhrgebiets diskutiert wurde, haben die mit der raschen Expansion der Schwerindustrie verbundene Fernwanderung der Arbeiter, ihre hohe Mobilität und auch der Mangel an Frauen in den neuen Zentren der Schwerindustrie frühes Heiraten nicht begünstigt. Dieselben Zusammenhänge deuten sich auch in den alpinen Industriebezirken an. Der 132

am stärksten industrialisierte Bezirk des österreichischen Alpenraums, Leoben in der Obersteiermark, lag auch hinsichtlich der Zuwanderung und der Sexualproportion an der Spitze: 4 4 Prozent der Bevölkerung stammte 1 8 9 0 nicht aus dem Bezirk selbst, und auf 100 Männer entfielen hier nur 8 9 Frauen. Auch die übrigen alpinen Industriebezirke zeigen eine hohe Zuwanderung und eine ungünstige Sexualproportion. Trotzdem bleibt es noch erklärungsbedürftig, daß sich ihre Ledigenquoten so wenig von denen ihrer agrarischen Nachbarbezirke unterschieden.

4 . Vorarlberg und Westtirol - eine Sonderform des alpinen Heiratsmusters Die bisher vorgebrachten Argumente zur Erklärung der hohen Ledigenquoten im österreichischen Alpenraum greifen allerdings in seinem äußersten Westen, in Vorarlberg und Westtirol, nicht. Dies zeigt sich zunächst im agrarischen Bereich. Während im gesamten Alpen- und Voralpenraum ein signifikanter Zusammenhang zwischen Gesindedienst, Größe der bäuerlichen Wirtschaften und den Heiratschancen der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte bestand, zeichnet sich hier eine Ausnahme ab. Nach Heiratsalter und Ledigenquoten unterschieden sich Vorarlberg und Westtirol kaum vom übrigen inneralpinen Raum. Dem Gesindedienst kam hier allerdings eine sehr geringe Bedeutung zu, und die Landwirtschaft war von Kleinstbesitz geprägt. In den Tiroler Bezirken Landeck und Imst lag der Anteil der Selbständigen mit knapp unter 3 0 Prozent am oberen Ende der Verteilung in der gesamten österreichischen Reichshälfte, ebenso aber auch die Ledigenquoten der 25-29jährigen mit über neunzig Prozent! Die größte Besitzzersplitterung in den österreichischen Alpenländern herrschte in Vorarlberg und im Außerfern (Bezirk Reutte). Allein die Selbständigen stellten hier zwischen 33 und 3 7 Prozent der landwirtschaftlich Berufstätigen.31 Die herrschende Form des Erbrechts in dieser Region, beginnend schon im Tiroler Oberinntal, war die Realteilung.32 Zugleich finden sich aber auch hier die enorm hohen Ledigenquoten des gesamten Alpenraums mit über 8 0 Prozent in der jüngeren Altersgruppe. Allerdings setzte sich in Vorarlberg und im Außerfern das hohe Heiratsalter nicht in demselben Maß wie noch im übrigen Tirol in einem lebenslänglichen Zölibat fort: Von den 45-49jährigen Männern war hier rund ein Viertel ledig - im internationalen Vergleich immer noch ein außerordentlich hoher, im inneralpinen Vergleich allerdings schon ein niedriger Wert. Die Sonderstellung dieser Region zeigt sich auch im gewerblich-industriellen Bereich. Ökonomisch zur ostschweizerischen Hausindustrieregion gehörend, wies Vorarlberg eine lange proto-industrielle Tradition auf und 133

wurde schon vom Beginn des 19. Jahrhunderts an zu einem der drei wichtigsten Zentren der österreichischen Textil-Fabrikindustrie.33 Herrschaftliche Ehe- oder Ansiedlungsbeschränkungen bestanden hier seit langem nicht.34 Trotzdem zeichnet sich das Land auch in der Blütezeit des Heimgewerbes durch Bevölkerungsstagnation, hohes Heiratsalter und eine große Zahl Lediger aus. 35 Dasselbe Muster zeigen unsere Ledigenquoten von 1880. In bezug auf das Heiratsalter unterschieden sie sich nicht von den übrigen inneralpinen Gebieten. Der Anteil der lebenslänglich Ledigen war etwas niedriger als im sonstigen Ostalpenraum, lag aber auch hier noch bei einem Viertel. Die Verwurzelung im eigenen Grund und Boden - den man zumindest in einer Minimalgröße zu erhalten suchte - prägte die sozialen Verhaltensweisen dieses »Bauernstandes« mehr als seine industrielle Tätigkeit. 36 Hausindustrielle Produzenten, aber auch Fabrikarbeiter, blieben an ihre landwirtschaftlichen Kleinstbetriebe rückgebunden. U m sie vor weiterer Zerstückelung durch Realteilung zu bewahren, verzichteten sie häufig auf die Heirat und bewirtschafteten den Besitz etwa gemeinsam mit ledigen Geschwistern.37 Dieses Heiratsverhalten unterschied sich wesentlich von jenem der alpinen »Gesindegesellschaften«, auch wenn dies in den demographischen Daten selbst nicht zum Ausdruck kommt. Der Verzicht auf die Eheschließung beruhte hier sehr viel mehr auf der Motivation jedes einzelnen Individuums, und sehr viel weniger auf äußeren gesellschaftlichen Zwängen, wie sie der Gesindedienst und die bäuerliche Arbeitsorganisation auferlegten. Die äußerlich so ähnlichen Ledigenquoten waren in Vorarlberg und Westtirol das Ergebnis ganz anderer Mentalitäten, als in den übrigen österreichischen Alpenländern. Einen quantitativen Indikator für diese unterschiedlichen Einstellungen zur Heirat bietet das Ausmaß der Illegitimität. Setzt man sie mit den jeweiligen regionalen Heiratsmustern in Beziehung, so zeigt sich sehr deutlich, daß die Illegitimität weniger von der absoluten Höhe der Ledigenquoten beeinflußt wurde, als vielmehr von deren unterschiedlichen Bedingungen. (Vgl. Tab. 8.) Hohe Unehelichkeit ist vor allem dort zu beobachten, wo hohe Ledigenquoten dem Gesindedienst geschuldet sind, und extrem hohe Werte der Illegitimität begegnen dort, wo der »life time servant« die ländliche Arbeitsorganisation prägte. Es scheint, daß ledige Kinder die Lebensperspektiven des »life time servant« nicht verschlechterten und äußerer Zwang zur Keuschheit, sollte er vorhanden gewesen sein, jedenfalls keine große Wirkung hatte. In den kleinbäuerlichen Gebieten der südlichen und südöstlichen Alpenausläufer, in denen Gesindedienst kaum eine Rolle spielte, waren die Ledigenquoten immer noch hoch, der Anteil der unehelich geborenen Kinder dagegen sehr gering. Einen extremen Zusammenhang dieser Art lassen die westlichen Bezirke Tirols und Vorarlberg erkennen. Ihre Ledigenquoten zählen zu den 134

Tab. 8:

Ledigenanteile und Illegitimitätsquoten, österreichische Alpenländer, 1870/1880

Region Inneralpine »Gesindegesellschaft« (2) Vorarlberg, Westtirol (3) Krain Görz und Gradisca

Illegitimitätsquoten 1 8 7 0 - 7 4 (1) 42,3 8,1 9,2 2,2

Ledigenanteile der Männer 1880 25-29 45-49 86,7 84,6 62,9 56,8

43,5 29,1 18,0 10,7

(1)Anteil der Unehelichen an 1 0 0 Geborenen; (2)Bezirke Leoben, St. Veit, Judenburg, Bruck, Liezen, Zell am See, Murau, Völkermarkt, Klagenfurt, Wolfsberg, Tamsweg, St. Johann, Gröbming; (3)Bezirke Imst, Landeck, Reutte, Bregenz, Bludenz, Feldkirch. Quellen: Schimmer, Unehelich Geborene, Tab. II; Österreichische Statistik 1880.

höchsten, ihre Illegitimitätsquoten zu den niedrigsten innerhalb der Monarchie. Dies deutet auf eine im Lebenslauf lange dauernde, für große Gruppen lebenslängliche sexuelle Abstinenz hin. Sie erscheint nur durch ein hohes Maß an innerer Kontrolle und psychischer Akzeptanz erklärbar zu sein, die auch die Bereitschaft zum Hinausschieben der Heirat einschloß. Die großen und irreversiblen sozialen Konsequenzen, die Heirat und Geburt in einer Gesellschaft ständig von Erbteilung bedrohten Kleinstbesitzes zukamen, scheinen hier subjektive Motivationen begründet zu haben, nicht nur möglichst spät oder überhaupt nicht zu heiraten, sondern auch potentielle illegitime Erben möglichst zu vermeiden. Für England und Deutschland wurde gezeigt, daß gerade jene Regionen, die eine kontinuierliche Entwicklung von der Hausindustrie zur Fabrik durchliefen, hohe Kontinuitäten der Arbeiterfamilie und niedriges Heiratsalter erkennen lassen. Vorarlberg weist darauf hin, daß auch zwischen einem derartigen Industrialisierungsverlaufund dem Heiratsverhalten kein automatischer Zusammenhang besteht. In den österreichischen Alpenländern erfreute sich das Muster, spät oder gar nicht zu heiraten, über unterschiedliche sozialökonomische Milieus und Ökotypen hinweg einer bemerkenswerten Stabilität.

135

5. Heiratsverhalten und sozialökonomische Strukturen in den böhmischen Ländern Einen Gegenpol zu den Alpenländern bildeten in der Habsburgermonarchie Böhmen, Mähren und Schlesien. Die Ledigenanteile der 25-29jährigen Männer lagen hier 1880 zwischen 43 und 46 Prozent, also etwa im englischen Durchschnitt. Der Anteil der niemals Heiratenden bewegte sich mit rund sechs Prozent auf einem im internationalen Vergleich sehr niedrigen Niveau. Die Erklärung dafür findet sich in einer spezifischen sozialökonomischen Struktur, die diese Kronländer deutlich von den anderen Teilen der Habsburgermonarchie unterschied. Der Anteil der in der Land- und Forstwirtschaft Beschäftigten war hier 1880 schon auf unter 50 Prozent, in Böhmen sogar auf 41 Prozent gesunken, die industriell und gewerblich Beschäftigten stellten etwa ein Drittel der Bevölkerung. Unter ihnen waren verhältnismäßig weniger Selbständige und mehr Arbeiter anzutreffen, als in den übrigen Kronländern, was auf eine höhere Bedeutung der Industrie gegenüber dem Kleingewerbe hinweist. Die böhmischen Länder »wurden zum industriellen Schwerpunkt der Monarchie«.38 (Vgl. Tab. 6 im Anhang.) Neben diesem hohen Entwicklungsstand des sekundären Sektors, der auf eine dichte Protoindustrialisierung im 18. Jahrhundert aufbauen konnte,39 waren die böhmischen Länder aber auch von einer raschen Modernisierung der Landwirtschaft geprägt. Insbesondere nach der Änderung der Agrarverfassung von 1848 beschleunigte sich der Wandel in Richtung auf eine intensive und kommerzialisierte Produktion. Die Grundentlastung hatte den Großgrundbesitzern beträchtliche Geldquellen eröffnet, die zum Teil in die Umstellung auf neue, kommerziell verwertbare Produkte, in den zunehmenden Einsatz von Maschinen und in den Aufbau einer nachgelagerten Verarbeitungsindustrie - z.B. von Zuckerfabriken - flössen.40 Damit im Zusammenhang stehen Veränderungen der ländlichen Sozialstruktur. Die Grundendastung hatte ehemals Hörige freigesetzt, aber nicht mit ausreichendem Bodenbesitz ausgestattet. Im Ergebnis standen die Großbetriebe »einer immer größer werdenden Zahl von Agrarproletariern mit Kleinstbesitz (gegenüber) , die auf dem Arbeitsmarkt ein billiges Arbeitskräftepotential darboten«.41 In den böhmischen Ländern finden sich dementsprechend die höchsten Taglöhnerquoten Österreichs: von 100 in der Landwirtschaft beschäftigten Personen waren 1890 in Mähren 23, in Schlesien 22 und in Böhmen 15 Taglöhner. (Vgl. Tab. 5 im Anhang.) Im Gegensatz zu der die Alpenländer insgesamt prägenden »Gesindegesellschaft« verkörperten die Kronländer Böhmen, Mähren und Schlesien »Taglöhnergesellschaften«. Die Agrarstruktur der böhmischen Länder unterschied sich aber auch wesentlich von jener des ostelbischen Preußen. Anstelle einer großen Zahl mittlerer Rittergüter 136

waren hier riesige Latifundien in den Händen einer kleinen Zahl von Adeligen konzentriert. Diese hatten schon vor der Aufhebung der Leibeigenschaft den Betrieb immer mehr auf Taglohnarbeit umgestellt.42 Allerdings ging vor allem in Böhmen keineswegs die gesamte agrarische Bevölkerung in der Polarisierung zwischen Latifundien und Kleinstbesitz auf. Daneben bestand eine relativ breite Schicht mittlerer und größerer Bauern, die den patriarchalisch geführten Familienbetrieb beibehielten.43 Dies bewirkte eine große Vielfalt von Arbeitsverhältnissen. »Böhmen bietet uns mehr als irgend ein anderes von den österreichischen Ländern ein Bild aller denkbaren Verwendungsarten landwirtschaftlicher Arbeiter.«44 Die Bauern beschäftigten meist Dienstboten, während auf den großen Gütern das »Deputatgesinde die Säule der Arbeitsverfassung« bildete.45 »Deputatisten« waren verheiratet und führten einen eigenen Haushalt, meist in einem vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Haus oder Wohnraum. Sie hatten, ähnlich den Dienstboten, langfristige Arbeitsverträge, erhielten aber statt der Kost ein »Deputat« an Lebensmitteln für den eigenen Haushalt. Der Vorteil verheirateter Deputatisten für die Grundbesitzer lag darin, daß ihnen damit die Arbeitskraft ganzer Familien zur Verfügung stand.46 Taglöhner dienten Bauern wie Großgrundbesitzern zur Ergänzung dieser Dienstformen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschob sich das Verhältnis immer stärker weg vom Gesindedienst. »Jeder bessere Arbeiter wendet sich möglichst davon ab, der Drang nach Selbständigkeit und eigener Familiengründung ... drücken das Gesindeverhältnis zu einem ganz kurzen und ungeliebten Durchgangsstadium herab.«47 Auf den großen Domänen begann der Abbau des ledigen Gesindes in den 1850er Jahren,43 und später folgten auch die Bauern »dem Beispiele des Großgrundbesitzers, sie beginnen langsam zum Deputatgesinde überzugehen... an Stelle des ledigen Gesindes tritt das Knecht-Magd-Ehepaar« 49 Dieser Prozeß wurde nicht nur von der Kommerzialisierung und großbetrieblichen Organisation der Landwirtschaft vorangetrieben, sondern auch durch den »überwältigenden Einfluß der Industrie« gefordert. Die Nachbarschaft der Fabriken erhöhte die Lohnansprüche auch der Dienstboten und schuf zugleich eine anziehungskräftige Alternative zur Landarbeit. Schon 1851 hatte die Bezirkshauptmannschaft von Eger die Konkurrenz der Industrie beklagt: »Flüchtige Dienstboten beiderlei Geschlechts müssen zwangsweise oft durch die Gendarmerie in ihre Dienste zurückgeführt werden, verweigern dann doch jede Arbeit und entweichen aufs Neue.«50 Die Auflösung der Dienste verlief regional sehr unterschiedlich, je nach der Struktur von Landwirtschaft und Industrie und ihrem Verhältnis zueinander. Wenn wir Landwirtschaft und gewerblich-industriellen Bereich im Zusammenhang betrachten, dann waren in den böhmischen Ländern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kapitalistische Produktionsverhältnisse jedenfalls stärker entwickelt als im übrigen Österreich. 137

Der Zusammenhang zwischen diesen sozialökonomischen Strukturen und einem niedrigen Heiratsalter tritt allerdings im agrarischen Bereich stärker hervor als im industriellen. Nimmt man den Anteil der landwirtschaftlich Berufstätigen als Indikator für den Grad der Industrialisierung und Urbanisierung, so zeigt sich in Böhmen eine eindeutige negative Entsprechung: je weniger landwirtschaftlich Beschäftigte, desto höher die Ledigenquoten. (Vgl. Tab. 9.) Tab. 9:

Korrelationsanalyse: Ledigenquoten und sozialökonomische Indikatoren, böhmische Länder, 1880 (1) Ledigenanteile der Männer 25-29 45-49

Anteil der landwirtschaftlich Berufstätigen Anteil der in ihrem Aufenthaltsbezirk Geborenen an den in ihm Anwesenden (2) Anteil der in ihrem Geburtsbezirk Anwesenden an den in ihm Geborenen (3) (1) (2) (3)

-.44

-.37

-.45

-.32

-.28

-.08

Pearson Corr. für 138 Bezirke Indikator für Zuwanderung Indikator für Abwanderung

Quellen: Österreichische Statistik 1 8 8 0 , 1 8 9 0 .

Dies verweist darauf, daß die kapitalistische Umgestaltung der gewerblichindustriellen Produktion nicht, wie in der Landwirtschaft, unmittelbar mit größeren Heiratsmöglichkeiten verbunden war. Einer der Faktoren, der zur Erklärung dieses Problems bereits mehrmals diskutiert wurde, ist die Mobilität. Für die böhmischen Länder ist eine statistische Uberprüfung ihres Einflusses möglich. (Vgl. Tab. 9.) Tatsächlich zeigt die Korrelationsanalyse einen engen Zusammenhang zum Heiratsverhalten: Je höher die Mobilität, desto höher die Ledigenquoten. Dies gilt eher für die Zuwanderung, als für die Abwanderung, und eher für das Heiratsalter, als für das Ausmaß des lebenslänglichen Zölibats. Dies deutet darauf hin, daß gerade in jungen, expandierenden Industriezentren ungünstigere Bedingungen zur Familiengründung bestanden als unter der ortsstabilen Bevölkerung der Agrargebiete und der traditionellen Hausindustrieregionen.

138

6. Regionale Differenzierung des Heiratsverhaltens in Böhmen und Mähren Eine kleinräumigere Betrachtung auf der Ebene der Bezirkshauptmannschaften kann diesen allgemeinen Zusammenhang sowohl unterstreichen als auch differenzieren. Böhmen zeichnet sich insgesamt durch ein relativ homogenes Heiratsverhalten aus. Die Ledigenquoten der 25-29jährigenMänner lagen in den meisten Bezirken nahe dem Landesdurchschnitt von rund 45 Prozent. Drei Regionen lassen jedoch spezifische Abweichungen erkennen, die einer besonderen Erörterung bedürfen. (Vgl. Schaubilder 9 und 10.) Der Nordosten Böhmens weist besonders niedrige, unter dem Durchschnitt liegende Ledigenanteile von etwa 35 bis knapp 40 Prozent auf. Diese Region besonders niedrigen Heiratsalters umfaßt in ökonomischer Hinsicht zwei unterschiedliche Räume. Zum einen handelt es sich um die Industriezone, die von Schluckenau im äußersten Norden über Reichenberg, Gablonz usw. bis Neustadt an der Mettau im Osten reicht. Hier lag das wichtigste Zentrum der österreichischen Textilindustrie: Der Anteil der in der Textilproduktion Beschäftigten an allen Berufstätigen überstieg in den meisten Bezirken dieser Region 30 Prozent, in Reichenberg, Schluckenau und Rumburg sogar 40 Prozent. Die Bezirke Gablonz und Semil waren ähnlich massiv von der Erzeugung von Schmucksteinen und Glasperlen beherrscht. Sowohl in der Textilproduktion als auch bei den »Gablonzer-Waren« finden wir hier eine lange Tradition der Hausindustrie, die in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend in Fabrikindustrie überging. Es handelt sich um die größte zusammenhängende Industrielandschaft der Habsburgermonarchie, in der die Proletarisierung großer Bevölkerungsgruppen mit der Proto-Industrialisierung eingesetzt hatte und mit dem Ubergang zur Fabrik weitergeführt und verstärkt wurde.51 Nach Industrialisierungsverlauf, sozialer Entwicklung und ebenso nach den Kennziffern des Heiratsverhaltens ähnelt diese Region den benachbarten sächsischen Textillandschaften, wenn auch so extrem niedrige Ledigenquoten wie in der Kreishauptmannschaft Zwickau in Böhmen nirgends erreicht wurden. Unmittelbar an die nordöstliche Industriezone schließt im Süden ein weiteres Gebiet mit niedrigem Heiratsalter und hoher Ehehäufigkeit an. In den Bezirken Jicin, Königgrätz, Pardubitz, Caslau usw. dominierte allerdings nicht die gewerblich-industrielle, sondern die landwirtschaftliche Produktion. In den fruchtbaren Gebieten am Elbebogen wurde besonders intensive, kommerzialisierte Landwirtschaft betrieben. Hier investierten in den 1880er Jahren sogar Großbauern in Zuckerfabriken, und hier befanden sich einige der ganz großen Domänen, wie zum Beispiel die kaiserliche Herrschaft Pardubitz, die 1843153 Dörfer undmehr als 60.000 Untertanen zählte.52 Die 139

Schaubild 9:

Anteil der Ledigen an den 25-29jährigen Männern nach Bezirkshauptmannschaften, böhmische Länder 1880

Quelle: Österreichische Statistik 1880 (Datengrundlage: Tab. 14 im Anhang).

Schaubild 10: Anteil der Ledigen an den 45-49jährigen Männern nach Bezirkshauptmannschaften, böhmische Länder 1880

Quelle: Österreichische Statistik 1880 (Datengrundlage: Tab. 14 im Anhang).

140

Ledigenquoten der 25-29jährigen Männer lagen in allen Bezirken dieses Raums unter 40 Prozent und damit im Durchschnitt sogar niedriger als in der nördlichen Industriezone; sie zählen zu den niedrigsten in West- und Mitteleuropa. Eine weiträumige Zone überdurchschnittlich hoher Ledigenanteile finden wir dagegen im nordwestlichen Böhmen, im Erzgebirge und im Egerland, mit über 50 Prozent. Landwirtschaftlich war dieses Gebiet wenig entwickelt, die kargen Böden waren infolge der hier herrschenden freien Erbteilung in kleine Parzellen aufgesplittert.53 Hier dominierte seit langem der außeragrarische Erwerb, vor allem im Bergbau und in der Hausindustrie. Vom Beginn des 19. Jahrhunderts an wurde die Spitzenklöppelei die dominierende Branche. Gerade dieser Zweig der hausindustriellen Produktion geriet von der Mitte des 19. Jahrhunderts an zunehmend in die Krise.54 Wie für Böhmen insgesamt nachgewiesen wurde, führte die krisenhafte Erschütterung der Hausindustrie überall in den deutschsprachigen Randgebieten in den 1850er Jahren zu sinkenden Heiratsziffern.55 Im Reichenberger Handelskammerbezirk wurde allerdings das Heimgewerbe relativ rasch von der Fabrikindustrie abgelöst, während im Erzgebirge die Textilverarbeitung keine dominierende Stellung mehr erlangte.56 Vielleicht liegt darin eine der Ursachen für die 1880 so unterschiedlichen Ledigenquoten in beiden Regionen. Zusätzlich handelte es sich beim nordwestlichen Böhmen um eine stark verstädterte Landschaft, in der in vielen Bezirken mehr als ein Drittel der Bevölkerung in Ortschaften mit mehr als 5.000 Einwohnern lebte. Dementsprechend nahm das städtische Handwerk in der gewerblichen Struktur einen wichtigen Platz ein.57 Eine monoindustrielle Konzentration erfolgte hier nur im Bereich des Braunkohleabbaus um Teplitz und Brüx, in kleinerem Ausmaß auch bei Falkenau und Komotau.58 Dies war allerdings eine erst in den Gründerjahren expandierende Industrie, die sich nicht auf traditionelle, dauerhaft ortsansässige Arbeitskräfte stützte, sondern auf bunt zusammengewürfelte, fluktuierende Belegschaften. Dementsprechend war hier die Mobilität außerordentlich hoch. Der Bezirk Brüx wies mit 47 Prozent Zuwanderern an der Bevölkerung 1890 die höchste Einwanderungsrate von allen Bezirken der österreichischen Reichshälfte (außerhalb der Großstädte) auf. Diese hohe Mobilität kontrastiert insbesondere zu den alten Textillandschaften des Riesengebirges, die Ende des 19. Jahrhunderts eine überaus ortsstabile Bevölkerung aufwiesen.59 Insgesamt gibt es also Hinweise darauf, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse des nordwestlichen Grenzgebiets der Eheschließung von Arbeitern weniger günstig waren, als jene der nordöstlichen Textillandschaft; ob sie ausreichen, um die hohen Ledigenquoten - nicht nur im Vergleich mit dem übrigen Böhmen, sondern vor allem mit den anliegenden sächsischen Kreisen Zwickau und Chemnitz - zu erklären, muß allerdings dahingestellt bleiben. 141

Die höchsten Ledigenanteile mit über 60 Prozent finden wir im südlichen Böhmerwald. Dies war eine Region viehzüchtender Klein- und Mittelbauern, hier hatten sich auch traditionelle Dienstbotenverhältnisse erhalten.60 Die Agrarverfassung und ländliche Arbeitsorganisation dieses Raums entspricht eher dem der Alpenländer, als dem übrigen Böhmen. Die südböhmischen Bezirke scheinen dabei einen Übergangscharakter zu tragen: Die Ledigenquoten waren hier zwar höher als sonst in Böhmen, aber doch niedriger als in den angrenzenden Gebieten Oberösterreichs und Bayerns. Eine kleinräumige Differenzierung des Heiratsverhaltens wird auch in Mähren sichtbar. Während große Teile des Landes Ledigenquoten aufweisen, die in ihrer Bandbreite durchaus mit Böhmen vergleichbar sind, zeigen die südöstlichen Bezirke Göding, Gaya und Ungarisch-Hradisch Ledigenanteile zwischen 25 und 29 Prozent, also deutlich niedrigere, als wir in den bisher untersuchten Gebieten beobachten konnten. Die drei erwähnten Bezirke waren fast ausschließlich agrarisch strukturiert, so daß die Ursachen dieser demographischen Extremwerte am ehesten in der Verfassung der mährischen Landwirtschaft zu suchen sind. Mähren war im Vergleich zu Böhmen etwas weniger industrialisiert, die Modernisierung und soziale Differenzierung des Agrarbereichs war hier aber weiter fortgeschritten. Nach den um die Jahrhundertwende durchgeführten landwirtschaftlichen Betriebszählungen und Grundbesitzstatistiken waren hier 50,7 Prozent der Betriebe kleiner als 2 ha, sie verfugten zusammen nur über 16,6 Prozent der Bodenfläche. Im Besitz von 969 Großbetrieben mit über 100 ha waren dagegen 34,3 Prozent des Grundes.61 Der Großgrundbesitz nahm in Mähren eine besonders privilegierte Stellung ein: 383 Güter waren als »Herrschaften« in der Landtafel eingetragen und damit in der Landesverfassung verankert. Sie umfaßten knapp über 30 Prozent der Gesamtfläche Mährens. Unter ihnen waren riesige Latifundien wie der administrativ zusammengehörende Großgrundbesitz des Fürsten Liechtenstein von etwa 111.000 ha. Nach 1848 waren viele Großgrundbesitzer zu einem Pachtsystem übergegangen, in dem Großpächter mit Hilfe von Landarbeitern die Güter bewirtschafteten. Ausdruck dieser Entwicklung sind die enorm hohen Taglöhneranteile in Mähren.62 Die Statistik von 1890 weist nicht nur 23 Prozent der landwirtschaftlich Beschäftigten als Taglöhner aus, sondern darüber hinaus 11,5 Prozent aller Berufstätigen als »Taglöhner mit wechselnder Beschäftigung«, die - wie der Vergleich mit anderen Zählungen zweifelsfrei ergibt - fast ausschließlich der Landwirtschaft zuzurechnen sind. (Vgl. Tab. 5 und 6 im Anhang.) Zusammengerechnet, standen damit nicht viel weniger als ein Viertel der gesamten Erwerbstätigen im landwirtschaftlichen Taglohn, ein Wert, der von keinem der anderen österreichischen Kronländer auch nur annähernd erreicht wurde. In Mähren war auch der Übergang zu einer hochkommerzialisierten, zum 142

Teil industrialisierten Landwirtschaft am weitesten gediehen. Vor allem die großen Güter in den fruchtbarsten Gebieten - der Hanna, der »kleinen Hanna« rund um Boskowitz, und an der unteren March - hatten sich zusätzlich zu dem quantitativ noch immer dominanten Weizenanbau auf Zuckerrüben und Braugerste umgestellt und auf den Gütern selbst verarbeitende Industrien errichtet. »Fast an jeder Station der das Land durchquerenden Eisenbahnlinien sind die Schornsteine und Gebäudemassen der Zuckerfabriken, deren das Land genau ein halbes Hundert zählt, sichtbar«, beschreibt ein zeitgenössischer Reisender die mährischen »Zuckerfabriken und ihre Nachbarinnen, die Malzfabriken... Der Connex zwischen Gerste und Zuckerrübe, der ältesten und der jüngsten Feldfrucht Mährens hat den landwirtschaftlichen Betrieb im Lande so zu sagen in quadratischer Progression beeinflußt«.63 Obwohl monographische Forschungen über die Arbeiter dieses »landwirtschaftlichen Betriebs« bisher ausstehen, ist es durchaus wahrscheinlich, daß der angesprochene »Connex« die Familiengründung von Taglöhnern förderte. Die Kombination von Zuckerrübe, Getreide und ihre industrielle Verarbeitung brachte jedenfalls für Männer und für Frauen über lange Perioden des Jahres Taglohnarbeit: im Frühjahr eine »emsige Hackkultur« auf den Rübenfeldern, vor allem von Frauen ausgeübt, im Sommer der Schnitt von Weizen und Gerste, im Herbst die Rübenernte und schließlich im Winter die »Kampagnen« in den Zuckerfabriken, die ebenfalls Männer und Frauen beschäftigten.64 Vielleicht waren diese Verhältnisse für Ledigenquoten verantwortlich, die sogar noch unter denjenigen der Zentren kapitalistischer Landwirtschaft in England lagen, und in Mitteleuropa - mit Ausnahme Ostgaliziens, das als Sonderfall weiter unten behandelt wird - nicht mehr unterschritten wurden.65 Mähren war aber nicht nur von diesen landwirtschaftlichen Verhältnissen geprägt. Im Norden und Nordwesten hatte sich in den gebirgigeren, deutschsprachigen Landesteilen eine traditionelle bäuerliche Agrarverfassung mit Einzelhofsiedlung, Anerbenrecht Viehzucht und Gesindedienst und nur wenig Taglohnarbeit erhalten.66 Je geringer der Anteil der Taglöhner an der landwirtschaftlichen Bevölkerung, desto höher die Ledigenquote: Tab. 10 zeigt diesen Zusammenhang am Beispiel der agrarischen Bezirke Mährens (Anteil der landwirtschaftlich Beschäftigten über 50 Prozent). In der Region mit traditioneller bäuerlicher Agrarverfassung lagen in Mähren auch die gewerblich-industriell durchmischten Gebiete. In den Bezirken Mährisch-Trübau, Mährisch-Schönberg, Römerstadt und Sternberg bestand eine ausgedehnte Textilindustrie, die zwischen 20 und 30 Prozent der Beschäftigten erfaßte, damit aber noch deutlich hinter der Landwirtschaft zurückblieb. Ein Schwerindustriezentrum der Monarchie entwickelte sich im nördlichen Teil des Bezirks Mistek, um Mährisch-Ostrau, 143

Tab. 10: Ledigenquoten und Anteil der Taglöhner in Mähren, 1880/1890 Bezirkshauptmannschaften nach dem Anteil der Ledigen an den 25-29jährigen Männern % 20-29 30-39 40-49 50-59

Anteil der Tagelöhner an der landwirtschafd. Bevölkerung % 26,1 23,1 20,3 19,7

Quelle: Österreichische Statistik 1880,1890.

das 1880 schon knapp mehr Arbeitskräfte band, als die Landwirtschaft. In allen diesen Industriegebieten finden wir eher hohe Ledigenanteile: in Trübau, Sternberg und Mistek knapp, in Römerstadt und Schönberg deutlich über dem mährischen Durchschnitt, im angrenzenden schlesischen Steinkohle· und Hüttenrayon (Freistadt und Teschen) dagegen darunter. Auch hier deuten sich Mischungsverhältnisse zwischen industriellen und bäuerlichen Sozialformen an, die mit den gegebenen Daten nicht weiter aufzuschlüsseln sind.67

7. Galizien u n d die Frage nach ethnischen Besonderheiten des Heiratsverhaltens Im regionalen Vergleich des Heiratsverhaltens nimmt Galizien eine Sonderstellung ein. Hier finden sich die bei weitem niedrigsten Ledigenquoten aller bisher behandelten mitteleuropäischen Agrargebiete: Mit dreißig Jahren waren in einigen galizischen Regionen nahezu alle Männer verheiratet, und lebenslänglich Ledige fast unbekannt. In ökonomischer Hinsicht ist Galizien als Agrargebiet mit gutsherrlicher Wirtschaftsform zu charakterisieren. 1880 waren etwa 80 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, was in der österreichischen Reichshälfte nur mehr von Dalmatien übertroffen wurde.68 (Vgl. Tab. 6 im Anhang.) Die Polarisierung zwischen bäuerlichem Kleinbesitz und adeligem Großgrundbesitz war hier allerdings weiter fortgeschritten als in jedem anderen Kronland der Monarchie: U m die Jahrhundertwende besaßen mehr als die Hälfte der Bauernwirtschaften weniger als 2 Joch Grund (etwas mehr als ein Hektar), und der Großgrundbesitz nahm etwa 40 Prozent des bebauten Landes ein.69 Dieser stützte sich weder auf Gesinde noch auf ständige Tagelöhner, sondern auf Arbeitskräfte aus den übervölkerten bäuerlichen 144

Zwergwirtschaften. Hier finden wir den höchsten Anteil landwirtschaftlich Selbständiger innerhalb Österreichs, während Taglöhner und Gesinde zusammen kaum mehr als ein Zehntel der Agrarbevölkerung ausmachten. Auf diese Weise wurde Galizien »das eigentliche Gebiet des kleinen Betriebs und des Zwergbesitzes«.70 Die Gutswirtschaften selbst waren hier durch eine rückständige Wirtschaftsführung und geringe Arbeitsproduktivität gekennzeichnet, und sie wurden nicht durch die Entwicklung eines gewerblichindustriellen Sektors ergänzt.71 1880 lebte in Galizien knapp mehr als ein Drittel der gesamten landwirtschaftlichen Bevölkerung der österreichischen Reichshälfte, 1910 sogar schon 40 Prozent - Ausdruck des wachsenden Zurückbleibens hinter den übrigen Kronländern.72 Dieses dichtest bevölkerte Agrargebiet Europas wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert zum Land des alljährlich wiederkehrenden Hungers und der Massenauswanderung, eine besonders rückständige Variante der kapitalistischen Umgestaltung der Landwirtschaft.73 Dies sind ohne Zweifel spezifische sozialökonomische Verhältnisse, die nach den bisherigen Ergebnissen unserer Untersuchung niedrige Ledigenquoten erwarten lassen. Ob sie aber ausreichen, um das im Vergleich zu allen anderen kapitalistisch transformierten Agrargebieten Österreichs und des Deutschen Reichs so deutlich niedrigere Heiratsalter und den höheren Verehelichungsgrad in Galizien zu erklären, muß bezweifelt werden. Während die zeitgenössische österreichische Statistik wie auch die neuere historische Forschung Galizien in sozialökonomischer Hinsicht in der Regel als Einheit behandelt, lassen die Kennziffern des Heiratsverhaltens eine klare Trennungslinie zwischen West- und Ostgalizien erkennen, die im wesentlichen endang der ethnischen Zugehörigkeit der Bewohner verläuft: Die westlichen Bezirke waren zu 90 Prozent von Polen, die östlichen Bezirke zu 65 Prozent von Ruthenen (Ukrainern) und starken polnischen und jüdischen Minderheiten bewohnt.74 Diese ethnische Zuordnung korreliert deutlich mit den Ledigenquoten. (Vgl. Tab. 11.) In Westgalizien dominieren Ledigenquoten zwischen 40 und 50 Prozent, und die Streuung verweist auf naturräumlich bedingte Verhältnisse: Hohe Werte von über 50 Prozent finden sich in der Gebirgsregion der Hohen Tatra, niedrige von knapp über 30 Prozent in den fruchtbaren Getreidegebieten an der Weichsel. Die polnischen Bezirke Westgaliziens unterscheiden sich damit in keiner Weise von den böhmischen Ländern oder auch von den östlichen Provinzen Preußens. Extrem niedrige Ledigenanteile der 25-29jährigen Männer von unter 30, zum Teil sogar unter 20 Prozent finden sich dagegen in den ruthenisch dominierten Bezirken Ostgaliziens. Diese Werte deuten an, daß wir im Osten Galiziens das Gebiet des European Marriage Pattern und Household Formation System verlassen. Die historischen Familienstrukturen in diesem Raum sind allerdings noch kaum er145

Tab. 11: Ledigenquoten und ethnische Zusammensetzung, Galizien, 1880/ 1890 Anteil der Ledigen Anzahl der Bezirkshauptmannschaften nach ethnischer an den 25-29jährigen Zusammensetzung Männern (2) (1) dominant polnisch gemischt dominant ru % Ν % Ν Ν % % 50-59 3 100.0 40-49 94,4 1 17 5,6 30-39 7 36,8 7 5 26,4 36,8 20-29 10 33,3 20 66,6 10-19 2 2 50,0 50,0 Anzahl der Bezirke (N) (1) (2)

27

20

27

Polnische Umgangssprache: 80 Prozent und mehr; Ruthenische Umgangssprache: 70 Prozent und mehr.

Quelle: Österreichische Statistik 1880, 1890.

forscht. Für die Polen liegen immerhin einige Untersuchungen vor, die insgesamt das Bild einer prinzipiellen Übereinstimmung mit der in West- und Mitteleuropa vorherrschenden Familienverfassung ergeben.75 Auf das Heiratsverhalten der Ruthenen läßt sich beim gegenwärtigen Forschungsstand nur hypothetisch aus Analogien schließen. Die Ledigenquoten entsprechen weitgehend den Daten, die Tamäs Farago für ungarische und slowakische Dörfer im 18. Jahrhundert berechnete, und die er in das Modell einer »ostmitteleuropäischen« Ubergangsform zwischen »westlichen« und »östlichen« Familienstrukturen einband.76 In diesem Modell sind ein niedriges Heiratsalter mit patrilokaler Niederlassung des jungen Ehepaares und patriarchalischer Haushaltsführung verbunden. Es handelt sich um eine »komplexe« Familienform mit gleichwohl relativ kleinen Haushaltsgrößen, die den Bedingungen von landwirtschaftlichem Kleinbesitz, der Verbindung von Ackerbau und Nebenerwerb entsprechen. Komplexe Familienformen sind darüberhinaus für den ganzen Karpatenraum nachgewiesen.77 Besonders begünstigt scheinen sie durch extensive Weidewirtschaft zu sein. Galizien war zwar überwiegend ein Getreideanbaugebiet, aber in den Karpaten und auch in Podolien sind ähnliche Wirtschaftsformen anzutreffen.78 Für die Existenz eines »ostmitteleuropäischen« Familienmodells unter den Ruthenen sprechen auch ihre Hochzeitsbräuche, in denen das Heimholen der Braut in das Haus des Schwiegervaters und symbolische Unterwerfungsgesten unter die Schwiegermutter eine wichtige Stellung einnahmen.79 Das spezifische Hei146

ratsverhalten der ruthenischen Bevölkerung in Ostgalizien könnte demnach eine Übergangsform zum Eastern European Marriage Pattern darstellen, die auf Traditionen komplexer Familienformen beruhte. Geklärt ist allerdings noch nicht, wie sich diese Traditionen zur Tendenz der Proletarisierung und Besitzzersplitterung verhielten. Vielleicht haben hier die ökonomische Entwicklung und ein komplexes Familiensystem in dieselbe Richtung gewirkt und gemeinsam zu dem im Osten Galiziens so extrem niedrigen Heiratsalter und dem so hohen Verehelichungsgrad beigetragen. All dies sind freilich noch nicht mehr als vorläufige Überlegungen auf einer ungesicherten Grundlage. Die Sonderstellung der Ruthenen wirft allgemein die Frage auf, ob auch innerhalb des Geltungsbereichs des European Marriage Pattern ethnische oder nationale Traditionen das Heiratsalter beeinflußten. Diese Probleme wurden vor allem im 19. Jahrhundert intensiv diskutiert.80 Waren aber nicht auch nach unserer bisherigen Untersuchung extrem hohe Ledigenquoten in den deutschsprachigen Zentralalpen anzutreffen, während in den südlichen und südöstlichen Alpenausläufern mit ihren niedrigeren Quoten vor allem Italiener und Slowenen lebten? Kommen im niedrigen Heiratsalter der böhmischen Länder auch spezifische Verhaltensweisen der Tschechen zum Ausdruck? Tab. 12: Heiratsverhalten und Nationalität, österreichische Kronländer, 1890 Umgangssprache

Ledigenanteile der Männer 20-30 50-60

Deutsch Slowenisch Italienisch Polnisch Böhmisch-Mährisch-Slowakisch Ruthenisch

75,9 75,1 74,0 65,6 62,9 51,2

15,7 16,3 14,3 13,9 6,3 3,8

In Böhmen: Deutsch Böhmisch

66,4 62,0

6,8 4,9

Quelle: Österreichische Statistik XXXII, H. 3, S. XXXV, I60f.

Die Daten in Tab. 12 zeigen, daß - mit Ausnahme der Ruthenen - eine geringe Differenzierung der Ledigenquoten zwischen den einzelnen Völkern bestand. Die Tschechen etwa weisen insgesamt zwar deutlich niedrigere Werte auf als die deutschsprachigen Einwohner der Monarchie, diese Unterschiede verblassen aber unter ähnlichen sozialökonomischen Bedingungen: Die 147

demographischen Kennziffern für Deutschsprachige und Tschechen in Böhmen liegen sehr nahe beisammen, während etwa deutschsprachige Kärntner und Reichenberger zwei verschiedenen Heiratsmustern angehören. Dies schließt unterschiedliche Einstellungen oder kulturelle Traditionen endang der ethnischen Zugehörigkeit in keiner Weise aus. Cole und Wolf haben am Beispiel zweier benachbarter Gemeinden im Südtiroler Nontal auf die komplexen Beziehungen zwischen Kultur, Ökonomie und Ökologie hingewiesen: St. Felix, eine deutschsprachige Einzelhofsiedlung, und Tret, ein ladinisches Dorf, weisen unterschiedliche kulturelle Traditionen, Werte und Einstellungen auf, ohne daß diese notwendigerweise unterschiedliche Verhaltensweisen begründeten. 81 Obwohl in St. Felix Anerbenrecht und in Tret Realteilung herrschten, unterschieden sich die tatsächlichen Erbgänge kaum. Unter dem Druck der ökonomischen und ökologischen Verhältnisse entstand aus unterschiedlichen kulturellen Idealen heraus eine relativ einheitliche Praxis. Auf ähnliche Angleichungsprozesse der realen Familienstrukturen zwischen benachbarten deutschen, serbischen, ungarischen und slowakischen Siedlern im ungarischen Donauknie hat Tamäs Färago verwiesen.82 Sowohl die Daten als auch diese Befunde lassen es gerechtfertigt erscheinen, im Verbreitungsgebiet des European Marriage Pattern ethnischen Einflüssen auf das Heiratsverhalten keinen besonderen Stellenwert zuzumessen. An den Grenzlinien zum Eastern European Pattern könnten sie aber Relevanz erlangen.

148

X. Land und Stadt 1. Städtische Heiratsmuster im englisch-mitteleuropäischen Vergleich Bei der regionalen Differenzierung des Heiratsverhaltens wurde bisher nicht zwischen Stadt und Land unterschieden. Berücksichtigt man diese Dimension, so werden erneut unterschiedliche Heiratsmuster in England und Mitteleuropa sichtbar. In England boten die Städte mehr Heiratschancen als das flache Land. Im nationalen Durchschnitt lagen die Ledigenquoten in Städten niedriger als in ländlichen Gemeinden, wenn auch die Unterschiede nicht allzu groß waren. Dieses Verhältnis Schloß auch die Metropole London ein. Hier sind zwar höhere Ledigenanteile zu verzeichnen, als in den übrigen Städten, aber doch niedrigere als auf dem Land.1 (Vgl. Tab. 13.) In Mitteleuropa zeigt sich der umgekehrte Zusammenhang. Eine geringere Heiratshäufigkeit und ein höheres Heiratsalter in Städten als in Landgemeinden hat John Knodel, gestützt auf die Volkszählungsdaten von 1880, für alle größeren deutschen Staaten nachgewiesen.2 Für Bayern, Preußen und Sachsen lassen sich altersspezifische Ledigenquoten für unterschiedliche Siedlungsgrößen berechnen, und auch hier zeigt sich - trotz der großen Unterschiede in den absoluten Werten - dieselbe Struktur: Der Anteil der Ledigen war generell in den Städten höher als auf dem Land, und unter den Städten wiederum behinderten gerade die größeren die Eheschließungen am meisten. Es waren die »large metropolitan centers that people were marrying the latest and celibacy was most common«.3 Für Österreich zog die k.k. Statistische Central-Commission aus der Volkszählung von 1880 den Schluß: »Beide Geschlechter stimmen darin überein, daß [... ] der Anteil der Verheirateten mit wachsender Größe der Ortschaften stetig abnimmt.«4 Eine Ausnahme bilden hier die ganz kleinen Dörfer mit weniger als 500 Einwohnern (vielleicht ein Merkmal von Abgeschiedenheit und Randlage), aber von 500 Einwohnern aufwärts zeigt sich tatsächlich ein paralleles Ansteigen von Ortsgrößen und Ledigenanteilen. (Vgl. Tab. 13.) Dies gilt übrigens nicht nur für den gesamten Staat, sondern auch für jedes einzelne Kronland. Zur Erklärung von Heiratsbehinderungen in den mitteleuropäischen Städten werden in der demographischen Diskussion einige Argumente vorgebracht, die zum Teil schon weiter oben angesprochen wurden: eine hohe 149

Mobilität, ein großer Anteil häuslicher Dienstboten unter den Frauen, und eine vielfach ungleichgewichtige Sexualproportion als Folge geschlechtsspezifischer Arbeitsmärkte.5 Alle diese Faktoren beeinflussen ohne Zweifel das Heiratsverhalten. Es erscheint etwa plausibel, den Unterschied zwischen London und den übrigen englischen Städten darauf zurückzufuhren. Der prinzipielle Gegensatz im Land-Stadt-Verhältnis zwischen England und

Tab. 13: Heiratsverhalten im Land-Stadt-Vergleich, England 1861, Deutsches Reich 1880, Österreich 1880 Anteil der ledigen Männer an den jeweiligen Altersgruppen England 1861: Landgemeinden Städte London 1881

25-34 35,0 30,5 33,2

45-54

Deutsches Reich 1880: Bayern Landgemeinden Kleinstädte Mittel- und Großstädte

25-29

45-49

60,7 60,2 63,3

12,6 11,6 12,2

Preußen Landgemeinden Kleinstädte Mittel- und Großstädte

49,7 52,5 55,2

7,6 8,4 9,3

Sachsen Landgemeinden Klein- und Mittelstädte Dresden, Leipzig, Chemnitz

35,0 37,5 53,4

4,9 5,6 8,9

Österreich 1880: Ortsgröße 500 2 000 5 000 10 000 20 000 -

21-30 67,7 60,2 64,5 73,4 75,5 79,9

51-60 12,9 8,9 12,3 13,5 13,3 13,4

Definitionen:

2 5 10 20

500 000 000 000 000

9,6

Bayern, Preußen: Kleinstädte > 20 000 Mittel- und Großstädte < 20 000

Quellen: Deutsches Reich: Knodcl u. Maynes; England: Anderson, Marriage Patterns; Österreich: Österreichische Statistik XXXII, H. 3.

150

Mitteleuropa ist damit allerdings kaum ausreichend zu erklären. Diese Erscheinung verweist vielmehr über die Komponenten der demographischen Struktur hinaus auf sozialstrukturelle Bedingungen. Die unterschiedlichen Einflüsse einer städtischen Umwelt auf das Heiratsverhalten in England und Mitteleuropa werden nicht nur im generellen LandStadt-Vergleich sichtbar, sondern auch bei der Gegenüberstellung einzelner Städte. Tabelle 14 enthält eine Reihe von »urban communities«, die aus dem »National sample from the 1851 Census of Great Britain« ausgewählt wurden.6 Das »National Sample« ist eine Zwei-Prozent-Stichprobe auf der Basis lokaler Einheiten, wie z.B. Stadtteilen in der Größenordnung von etwa 500 bis 1 000 Personen. Das Auswahlverfahren erlaubt es nicht, von dem jeweiligen Viertel auf die ganze Stadt zu schließen, und die geringe Personenzahl bedingt bei den altersspezifische Ledigenanteilen Zufallsverteilungen. Die große Streuung der Quoten hängt auch damit zusammen. Trotzdem ist es möglich, aus der Reihe städtischer Samples Aussagen zu treffen. (Vgl. Tab. 14.) Zunächst sind die insgesamt niedrigen Werte auffallend. Ledigenquoten unter 30 Prozent, wie sie hier gerade in den relativ großen Samples aus Birmingham, Norwich und Leicester auftreten, sind aus keinem einzigen mitteleuropäischen Beispiel, welcher Größenordnung auch immer, bekannt. Für England bestätigen die Samples die Annahme generell besserer Heiratsbedingungen in den Städten: Mit einer Ausnahme liegen alle Werte unter dem nationalen Durchschnitt und ebenso unter den Werten ihrer jeweiligen Counties. Weiters ist bemerkenswert, daß Zusammenhänge zwischen Ledigenquoten und spezifischen Formen der Arbeitsorganisation nicht Sichtbarwerden. Die Samples umfassen jeweils sozial durchmischte Bevölkerungen, wobei jedoch in den meisten Fällen die in der Region dominierenden Branchen am stärksten ins Gewicht fallen: Seidenbandweber in Coventry, Strumpfwirker in Nottingham und Leicester, Schuhmacher in Northampton und Norwich, Wollenarbeiter in Huddersfield und Bradford, Seidenspinner und -weber in Macclesfield, Baumwollarbeiter in Oldham. Fabrikmäßige, hausindustrielle und handwerkliche Produktionsformen gehen hier durcheinander, und es hat nicht den Anschein, daß sie jeweils mit einem spezifischen Heiratsverhalten verbunden gewesen wären. Zu demselben Schluß fuhrt Michael Andersons Vergleich der Ledigenquoten für Städtetypen. (Vgl. Tab. 14.) Sie lagen in den Industriestädten der Baumwoll- und Eisenverarbeitung niedriger als in jenen mit einer traditionellen Wirtschaftsstruktur, aber der Unterschied ist äußerst gering. Auch die Städte, die von Handwerk, Gewerbe und Dienstleistungen geprägt waren, boten höhere Heiratschancen als der Durchschnitt der Dörfer. Sofern in den englischen Städten »traditionelle«, handwerkliche Produktionsverhältnisse die Sozialstruktur dominierten, hatten sie keine gravierenden Auswirkungen auf das Heiratsverhalten.7 151

Tab. 14:

Ledigenanteile in englischen Städten, 1851/1861 Anteil der ledigen Männer an den jeweiligen Altersgruppen

Städtesamples 1851: Coventry Bradford Huddersfield Northampton Mansfield Oldham Nottingham Leicester Birmingham Norwich Macclesfield London 1851: (gesamte Stadt)

25-29 51,9 42,9 41,4 36,8 36,8 32,2 29,3 28,2 26,5 26,3 15,0

45-49 0,0 15,8 7,1 4,8 13,3 2,9 6,9 6,9 6,1 8,1 0,0

44,3

11,6

Städtetypen 1861: »Baumwollstädte« (Oldham, Blackburn, Ashton, Bury, Burnley) »Eisenstädte« (Sheffield, Eccleshall) »Traditionelle Städte« (Norwich, Salisbury, Exeter, Canterbury)

Größe des Samples

623 1076 710 823 632 1 329 956 1 192 4 399 1 548 784

25-34 25,0 24,0 28,0

Quellen: Städtesamples: »National Sample«; London: Census; Städtetypen: Anderson, Marriage Patterns.

2. Die spezifischen Heiratsmuster der mitteleuropäischen Städte Die unterschiedlichen Ledigenquoten der mitteleuropäischen Städte lassen dagegen den Einfluß der gewerblich-industriellen Struktur der einzelnen Städte auf das Heiratsverhalten deutlich hervortreten. (Vgl. Tab. 15.) Die Gruppe der 25-29jährigen Männer stellt ein spezifisches Segment der städtischen Arbeitsmärkte dar, das in wesentlich höherem Maß als die Gesamtheit der Erwerbstätigen dem sekundären Sektor angehörte. Rund drei Viertel der Männer dieser Altersgruppe sind dem Gewerbe und der Industrie zuzurechnen, so daß sozialökonomisch begründete Ursachen unterschiedlichen Heiratsverhaltens vor allem - wenn auch nicht ausschließlich - in den Verhältnissen des sekundären Sektors, in der Organisation von Handwerk, Gewerbe und Industrie, zu suchen sind.8 Dienstleistungs-, Verwaltungs- und Militär152

berufe sind fur die Gruppe der 25-29jährigen Männer von geringer klassifikatorischer Bedeutung. Die niedrigsten Ledigenanteile in bayerischen und preußischen Städten lassen sich denn auch eindeutig an industriellen Produktionsformen festmachen. St. Ingbert in der Pfalz war ein schwerindustrielles Zentrum mit Hüttenbetrieben und Kohlebergbau, Pirmasens wurde von fabrikmäßiger und hausindustrieller Schuherzeugung dominiert. In Linden bei Hannover waren Maschinenbau und Textilindustrie konzentriert, ebenso war in Magdeburg-Neustadt der Maschinenbau beheimatet.9 In diesen »reinen« Industriestädten waren 1880 schon an die zwei Drittel der 25-29jährigen Männer verheiratet. Der Einfluß der Industrie wird auch am Beispiel der Wiener Stadtteile sichtbar. Die niedrigsten Ledigenanteile weisen hier die Vororte Sechshaus und Gaudenzdorf auf, in denen Textilindustrie und Lederverarbeitung ihre Standorte hatten. Das Sample Kaiser-Ebersdorf 1890 umfaßt überhaupt eine Fabrikkolonie der Alpine-Montan-Gesellschaft, die hier Hochöfen und ein Walzwerk betrieb. (Vgl. Tab. 16.) Umgekehrt weisen allerdings nicht alle industriellen Städte derartig niedrige Ledigenquoten auf. Die Städte des rheinisch-westfälischen Industriegebiets liegen zwar alle im unteren Bereich der Skala, unterscheiden sich aber doch deutlich von den gerade genannten Beispielen. Die Struktur der Arbeitsmärkte führte hier in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zu einer enormen, aber nach Geschlecht und Alter äußerst ungleichgewichtigen Zuwanderung. Schwerindustrielle Städte wie Bochum weisen in den Altersgruppen zwischen 15 und 45 Jahren einen starken Männerüberhang auf (auf 100 Männer dieser Altersgruppe entfielen 1880 81 Frauen), so daß die Entwicklung des Heiratsmarkts mit dem Arbeitsmarkt nicht Schritt hielt. In Textilindustriestädten wie Krefeld ist umgekehrt ein Frauenüberhang zu konstatieren, industrielle Arbeitsmöglichkeiten für Männer waren nicht in demselben Maß gegeben. 10 Demographische Faktoren wirkten innerhalb sozialökonomisch definierter Städtetypen durchaus differenzierend. Industriestädte waren allerdings gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Mitteleuropa noch Ausnahmen. Die Mehrzahl der Städte - auch der in Tabelle 15 angeführten - läßt keine ausgeprägten gewerblich-industriellen Schwerpunkte erkennen. Es handelt sich um multifunktionale Städte, in denen sich der gewerbliche und industrielle Bereich mit Handel, Verkehr, Verwaltung und Dienstleistungen vermischte. Die gewerbliche Produktion war meist durch eine breite Palette unterschiedlicher Produktionsformen gekennzeichnet und wies fließende Übergänge vom Handwerk bis zur Fabrikindustrie auf. Quantitativ dominierten dabei im allgemeinen kleinbetriebliche Produktionsformen, insbesondere das Handwerk. 11 Daß großindustrielle Produktionsformen die Sozialstruktur einer Stadt beherrschten, kam im Deutschen Reich um 1880 am ehesten in mittleren 153

Tab. 15: Ledigenanteile in mitteleuropäischen Städten, 1870/1880 Anteil der ledigen Männer an den Altersgruppen 25-29 45-49 Österreich 1880: Klagenfurt Salzburg Graz Steyr Wien Wiener Neustadt Prag Brünn Krakau Reichenberg Rovigno Friedek Czernowitz

87,5 80,7 78,9 75,5 75,2 70,1 68,8 62,9 58,7 55,7 49,3 46,7 46,3

38,9 25,8 24,8 15,1 15,3 14,9 12,2 11,5 11,1 7,6 11,5 3,8 5,0

Schweiz 1870-1880: Zürich (kleine Stadt) 1870 Fribourg 1880

73,1 74,8

16,1 27,7

Bayern 1880: Dillingen Passau München Würzburg Augsburg Nürnberg Hof Pirmasens (Pfalz) St. Ingbert (Pfalz)

75,3 71,0 68,6 68,2 64,5 59,7 46,8 39,8 37,5

15,8 19,0 15,4 10,8 11,3 8,7 7,7 6,8 4,7

Preussen 1880: Münster Frankfurt/M. Köln Posen Magdeburg Hannover Berlin Düsseldorf Danzig Bochum Krefeld Barmen Magdeburg-Neustadt Linden bei Hannover

70,4 62,1 61,3 59,5 58,9 57,7 57,5 56,8 56,5 50,9 49,9 44,7 33,9 30,4

13,1 12,3 12,9 10,8 8,1 7,2 10,1 11,6 9,2 7,1 9,6 8,0 5,6 4,6

154

Städten vor, in der Größenordnung zwischen 2 000 und 100 000, und insbesondere zwischen 5 000 und 20 000 Einwohnern.12 In dieser Gruppe finden sich die meisten »reinen« Industriestädte, sei es in der sächsischen Textilindustrie oder in der Schwerindustrie des Ruhrgebiets. »Mittelstädte (gelten) als die eigentlichen Standorte der fabrikmäßigen industriellen Tätigkeit«, lautete das Ergebnis der amtlichen Auswertung der Berufszählung des Deutschen Reichs von 1882.13 Darunter und darüber liegende Größenordnungen ließen dagegen dem Kleingewerbe einen größeren Spielraum. Dahinter können sich allerdings gegensätzliche Entwicklungen verbergen. Eine Reihe von vorindustriellen städtischen Zentren machte im 19. Jahrhundert eine Rückentwicklung durch und wurde »provinzialisiert«.14 Die Dominanz der handwerklichen Produktion kann hier eine ökonomische, die Persistenz hoher Ledigenquoten eine soziale Stagnation ausdrücken. In dieses Muster fallen etwa Städte wie Salzburg oder Passau. Andererseits waren es gerade die großen Metropolen wie Wien und Berlin, die zur Mitte des 19. Jahrhunderts das Wachstum des Kleingewerbes begünstigten und damit auch seine Prägekraft auf die Sozialstruktur erhöhten. Die ökonomische Expansion und kapitalistische Transformation des Handwerks in den mitteleuropäischen Zentren hatten auf seine traditionellen Sozialbeziehungen ambivalente Auswirkungen, und führten sowohl zu Tendenzen ihrer Auflösung als auch - zumindest in einer ersten Entwicklungsphase - zu einer quantitativen Ausbreitung traditioneller Verhaltensweisen der Gesellen, wie dem Ledigenstand und dem Wohnen beim Meister.15 Unterschiedliche Ledigenquoten innerhalb der nichtindustriellen, kleingewerblich geprägten Städte hängen - wie in den folgenden Kapiteln ausführlich gezeigt werden wird - in erster Linie damit zusammen, wie stark handwerkliche Produktionsweisen und Sozialformen erhalten geblieben sind. Die hohen Ledigenanteile in vielen mitteleuropäischen Städten und die generell größeren Ehehindernisse in den Städten gegenüber dem flachen Land verweisen jedenfalls darauf, daß der ledige Handwerksgeselle noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts die demographische Struktur der Städte nicht unwesentlich beeinflußte. Dies zeigen die österreichischen Daten sehr klar. In größeren Städten, etwa den Landeshauptstädten wie Linz, Graz oder Prag, bestand gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein Viertel bis ein Drittel der gewerblich-industriellen Arbeiterschaft aus beim Meister wohnenden Lehrlingen und Gesellen. In wirtschaftlich schwächer entwickelten Städten wie Salzburg oder Krakau erreichte ihr Anteil vierzig, in nichtindustriellen Kleinstädten wie Pettau bis zu siebzig Prozent. Geringere Anteile hausrechtlich abhängiger Arbeitskräfte Quellen (zu Tab. 15 aufS. 154): Österreich: Österreichische Statistik 1880; Schweiz: Wiener Datenbank; Bayern, Preußen: Knodel u. Maynes.

155

zeigen Wien und stärker industrialisierte Städte wie Brünn oder Steyr, aber auch hier machten sie 1890 noch rund ein Fünftel der Arbeiter des sekundären Sektors aus.16 Gerade in den Metropolen und in den expandierenden Industriestädten fiel aber das Ausscheiden aus dem Meisterhaushalt nicht notwendigerweise mit der Gründung einer eigenen Familie zusammen, sondern bedeutete meist eine ebenfalls ledige Existenz als Untermieter oder Bettgeher.17 Auch die zentralen Orte der Industrieregionen wiesen meist eine kleingewerblich durchmischte und damit differenziertere Sozialstruktur auf als umliegende Fabrikdörfer. In der Stadt Reichenberg arbeiteten z.B. 1890 22,6 Prozent der Berufstätigen in der Textilindustrie, in ihrer Umgebung aber 42 Prozent.18 Wir befinden uns hier allerdings auf einem Feld sehr raschen sozialen Wandels, der eine möglichst genaue zeitliche und auch räumliche Einordnung der quantitativen Daten erfordert. Im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert setzten sich auch im mitteleuropäischen Kleingewerbe Lohnarbeitsverhältnisse voll durch, hausrechtliche Abhängigkeit verschwand ebenso wie juridische, soziale und mentale Heiratsbehinderungen. Die Dynamik dieses Prozesses sollen Daten für Wien zeigen: Wie in Tab. 16 dargestellt, lag der Anteil der Ledigen unter den 25-29jährigen Männern hier 1890 bei 75 Prozent. 1900 war er bereits auf 63, 1910 auf 61 Prozent gesunken.19 Ein rapider Rückgang - zugleich aber immer noch äußerst hohe Werte, verglichen mit dem Niveau, das die deutschen Großstädte, insbesondere Berlin, schon 1880 erreicht hatten. Im Süden und Osten der mitteleuropäischen Städtelandschaft scheinen sich schlechte Heiratsbedingungen länger gehalten zu haben als im Norden und Westen. Der soziale Wandel kommt synchron auch in der räumlichen Struktur der Städte zum Ausdruck. Das Beispiel Wiens in Tab. 16 zeigt deutlich die Unterschiede zwischen dem Stadtgebiet im rechtlichen Sinn und den Vororten. Es ist nicht auszuschließen, daß Unterschiede quantitativer Sozialindikatoren auf unterschiedliche Phasen der in allen wachsenden Städten erfolgenden Eingemeindungen zurückzuführen sind, indem sie sich etwa in einem Beispiel auf traditionelle Stadtgrenzen, in dem anderen auf eine ganze Agglomeration beziehen.20 Zu diskutieren bleibt weiters, in welcher Beziehung das Heiratsverhalten in den Städten zu jenem der sie umgebenden Regionen steht. Dabei scheint sowohl eine gegenseitige Beeinflussung möglich zu sein als auch ein kultureller Gegensatz zwischen Stadt und Land, der städtischen Verhaltensweisen insbesondere dann, wenn sie in spezifischen sozialen Gruppenkulturen verankert waren, wie etwa der des Handwerks - eine relative Unabhängigkeit von kleinräumigen regionalen Mustern verlieh. Für eine mögliche Beeinflussung finden sich einige Anhaltspunkte: Daß etwa Münster und die ober- und niederbayerischen Städte so hohe Ledigenanteile aufweisen, verweist zumin156

Tab. 16: Räumliche Differenzierung und historische Entwicklung der Ledigenanteile in Wien, 1857-1910 Anteil der ledigen Männer an den Altersgruppen 25-29

45-49

»Stadt« (1857) Herrengassenviertel Nördliche Altstadt

89,6 87,9

30,7 27,6

»Vorstädte« (1857) Leopoldstadt Josefstadt Schottenfeld Gumpendorf Neubau

86,0 84,5 81,7 80,5 78,5

22,7 20,0 19,7 18,2 20,1

(1850) (1857) (1869) (1880) (1880) (1890)

57,0 75,8 71,0 56,8 63,3 36,4

15,6 11,0 18,1 16,1 16,1 7,1

1880 1890 1900

75,2 75,1 63,2

15,3 14,6

1910

61,3

»Vororte«: Sechshaus Gaudenzdorf

Hernais Kaiser-Ebersdorf Wien insgesamt:

Quellen: Wiener Datenbank; Statist. Jahrbuch der Stadt Wien 1890-1910.

dest auf eine Parallelität städtischen und ländlichen Heiratsverhaltens in diesen Räumen. In Osterreich spiegeln sich die großräumigen Unterschiede des Heiratsverhaltens auch in der Verteilung der städtischen Ledigenquoten wider. Die höchsten Werte zeigen die Landeshauptstädte der Alpenländer, etwas niedrigere die der böhmischen Länder und wieder geringere die Städte Galiziens und der Bukowina. Daß Klagenfurt an der Spitze und Czernowitz am Ende der Skala liegen, paßt zu dem bereits bekannten Bild. Trotzdem ist der Unterschied zwischen den Städten geringer als zwischen den Regionen im ganzen, was auf eine bestimmte Unabhängigkeit städtischer Sozialstrukturen von ihrer ländlichen Umgebung verweist. Im Deutschen Reich lassen etwa die Städte Posen und Bromberg mit relativ hohen Ledigenquoten einen deutlichen Kontrast zu den gleichnamigen Bezirken erkennen, und dasselbe trifft auch für die großen sächsischen Städte zu. Auch Krakau liegt weit über dem Durchschnitt Galiziens. In dieselbe Richtung weist auch der generelle Land-Stadt-Vergleich. (Vgl. Tab. 13 und 15.) Die Unterschiede 157

zwischen zentralen Städten und ihrem Hinterland treten umso stärker hervor, je niedriger die Ledigenquoten der betreffenden Regionen waren. In Bayern bestand nur ein kleiner Unterschied des Heiratsverhaltens zwischen Stadt und Land, in Preußen ein größerer, in Sachsen ein ausgeprägter. (Vgl. Tab. 13.) Dies deutet für mitteleuropäische Städte die Existenz eines generellen Musters späten und behinderten Heiratens an, das von den Verhältnissen des jeweiligen regionalen Einzugsbereichs betont oder abgeschwächt, aber nicht grundsätzlich aufgehoben wurde. Die hohen Ledigenanteile vieler deutscher, österreichischer und schweizerischer Städte liegen in gemeinsamen Zügen ihres sozialökonomischen Profils begründet. Ein kleingewerblich geprägter Industrialisierungsverlauf dieser Städte und insbesondere die beharrungskräftigen sozialen Traditionen des mitteleuropäischen städtischen Handwerks werden damit zu entscheidenden Erklärungsfaktoren des Heiratsverhaltens in diesem Raum.

158

DRITTER TEIL

Ledige Handwerksgesellen und proletarische Familienväter

XI. Das Handwerk als Forschungsfeld zur Geschichte des Heiratsverhaltens Der demographische Diskurs über die gesellschaftlichen Bedingungen des European Marriage Pattern ist um landwirtschaftliche Produktionsverhältnisse und bäuerliche Lebensformen zentriert. Dementsprechend werden die demographischen Verhältnisse im vorindustriellen Europa begrifflich als »agrarische Bevölkerungsweise« gefaßt. Wo vorindustrielles Handwerk in bevölkerungsgeschichtlichen Theorien Erwähnung findet, erscheint es in der Regel als Bestandteil oder Anhängsel einer bäuerlich geprägten Welt. Insbesondere in der deutschen theoretischen Tradition erscheinen »germanische Agrarverfassung« und »mittelalterliche Handwerksordnung«, »Hof« und »Werkstatt« als gleichartige Bedingungsfaktoren vorindustrieller Heiratsmuster. Zunftordnungen gelten als besonders einleuchtende Belege restriktiver obrigkeitlicher Regelungen des Heiratsverhaltens mit dem Ziel, »Nahrung« und Bevölkerung in Einklang zu bringen. Sieht man von diesem Interpretationsschema ab, sind Analogien zwischen agrarischen und handwerklichen Heiratsmustern ohne Zweifel berechtigt. Die große Bedeutung der Eheschließung im Prozeß der sozialen Plazierung, der hohe Stellenwert hausrechtlich abhängiger und damit lediger Arbeitskräfte für die häusliche Produktion prägten das Heiratsverhalten in beiden Bereichen. Bei Versuchen zur Erklärung des European Marriage Pattern treten diese strukturellen Gemeinsamkeiten von bäuerlichen und handwerklichen Produktionsformen in den Vordergrund. Die Einbindung des Handwerks in »agrarische« demographische Strukturen versperrt jedoch zugleich wesentliche Zugänge zur Analyse der Entwicklung des European Marriage Pattern in der Periode des Übergangs. Gerade die kleine gewerbliche Warenproduktion bildet ein Forschungsfeld, das die dichotomische Kontrastierung der »agrarischen« mit der industriellen Welt aufzulösen vermag und die komplexen Ubergangsformen und Gemengelagen in das Blickfeld rückt. Schon zwischen Hausindustrie und Handwerk 159

bestanden fließende Übergänge, vor allem in den Städten. In der Diskussion des Konzepts der Protoindustrialisierung wurde sichtbar, daß ökonomisch in kapitalistische Verwertungszusammenhänge eingebundene Produktionsformen in ihrer sozialen Organisation durchaus Traditionen der kleinen gewerblichen Warenproduktion weiterfuhren können.1 Dasselbe trifft für Industrieund Fabrikarbeit zu. Handwerkliche Berufe bildeten wichtige Einfallstore vorindustrieller Traditionen in die industrielle Arbeitswelt. Die Arbeitergeschichte hat derartige Kontinuitäten auf der Ebene der Mentalitäten oder des Organisationsverhaltens aufgezeigt.2 Sie dürfen auch aus sozialstrukturellen und demographischen Analysen nicht ausgeblendet werden. Letztlich schieben sich handwerkliche Produktionsformen in der Periode des Ubergangs auch quantitativ in den Vordergrund. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts überwogen in allen sich industrialisierenden Ländern Kleinbetriebe und Handarbeit über Fabrik und Maschinenarbeit. Nach der Zahl der männlichen Erwerbstätigen ergab sich im Deutschen Reich 1882 die folgende Rangordnung der fünf häufigsten Berufe außerhalb der Landwirtschaft: Schuhmacher (420 821 männliche Erwerbstätige), Maurer (372 299), Weber (334 837 Haus- und Fabrikweber), Tischler (274 481) und Schneider (249 481) .3 In England kam zur Mitte des 19. Jahrhunderts der Industrie eine größere Bedeutung zu, aber auch hier behaupteten handwerkliche Massenberufe ihren großen Einfluß. Die fünf häufigsten gewerblich-industriellen Berufe waren 1851 Schuhmacher (144 546 männliche Erwerbstätige), Arbeiter der Baumwollverarbeitung (zusammen 144 295), Arbeiter der Kohlegruben (142 160), Bautischler (110 020) und Schneider (85 178). 4 Natürlich sind in den genannten Berufen handwerklichen Ursprungs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch Hausindustrielle und Fabrikarbeiter enthalten. Gerade deshalb sind sie für die Analyse von Übergangsformen und Gemengelagen so wichtig. Die im vorhergegangenen Abschnitt durchgeführte sozial-regionale Untersuchung hat die Relevanz handwerklichen Heiratsverhaltens für den Vergleich zwischen England und Mitteleuropa sichtbar gemacht. In England zeichneten sich nur sehr geringe Unterschiede in den Heiratsmustern handwerklicher und industrieller Arbeitergruppen ab. Der Rückgang der Ledigenquoten und des Heiratsalters während des 18. und 19. Jahrhunderts scheint gleichermaßen in beiden Bereichen erfolgt zu sein. Die »wage variant« des European Mariage Pattern und seine Erosion vor und während der Industriellen Revolution prägte auch den Bereich der kleinen gewerblichen Warenproduktion. In Mitteleuropa zeigte sich ein vielfältigeres Bild. In vielen Regionen erschien handwerkliches Heiratsverhalten tatsächlich als integrierter Bestandteil der »bäuerlichen Variante« des European Marriage Pattern. Die Untersuchung der städtischen Ledigenquoten ließ dagegen eine hohe Auto160

nomie handwerklich-städtischer Heiratsmuster auch dort erkennen, wo in der ländlichen Umgebung früh und häufig geheiratet wurde. In Mitteleuropa zeichnen sich Unterschiede zwischen dem Heiratsverhalten handwerklicher und zumindest bestimmter Gruppen gewerblich-industrieller Arbeiter ab. Schon die sozial-regionale Analyse ließ den Schluß zu, daß die Heiratsmuster innerhalb der Arbeiterschaft hier nicht wie in England relativ homogen waren, sondern inhomogen oder sogar polarisiert. Diese Argumente lassen eine weitergehende Analyse des Heiratsverhaltens der Handwerker und einen Vergleich mit anderen Gruppen gewerblicher und industrieller Arbeiter als notwendig erscheinen. Darüberhinaus weist das städtische Handwerk einige Vorzüge als Forschungsfeld auf. Agrarische Lebensformen sind immer auch von den jeweiligen ökologischen Gegebenheiten bedingt. Ihre enorme Variationsbreite beruht auf der Wechselbeziehung zwischen sozialen Organisationsformen und naturräumlichen Bedingungen. Städtisch-gewerbliche Lebensformen erscheinen dagegen auch im weiträumigen überregionalen Vergleich sehr viel einheitlicher und unmittelbarer von sozialen Strukturen und Produktionsverhältnissen bestimmt. Diese größere Einheitlichkeit ist gleichwohl leichter einer inneren Differenzierung zugänglich als die ländliche Gesellschaft. Während frühneuzeitliche Seelenbeschreibungen und Kirchenbücher ebenso wie die staatlichen Statistiken des 19. Jahrhunderts agrarische Tätigkeitsbereiche kaum voneinander unterschieden, bieten ihre gewerblichen Berufsangaben die Möglichkeit zu einer weitgefächerten Differenzierung an. Aus diesen Gründen scheint das städtische Handwerk besonders geeignet zu sein, die soziale Logik des European Marriage Pattern zu untersuchen und jene Mechanismen zu erfassen, die zur Persistenz wie zur Erosion des hohen Heiratsalters und der hohen Ledigenquoten geführt haben. Der folgende Abschnitt beschäftigt sich mit dem Heiratsverhalten von Handwerksgesellen im Vergleich zu anderen gewerblichen und industriellen Arbeitergruppen in England und in Mitteleuropa. Die empirische Basis bilden wieder vorwiegend Bevölkerungsverzeichnisse. Zu den hochaggregierten Daten der staatlichen Berufszählungen des 19. Jahrhunderts tritt aber in stärkerem Maß die Analyse von Individualdaten, die unmittelbar aus den historischen Quellen erhoben wurden. Gerade sie machen eine genaue soziale Verortung und Differenzierung unterschiedlicher Heiratsmuster möglich, und sie gestatten es, individuelles Heiratsverhalten im Kontext von Haushalt und Familie zu untersuchen. Die Einwirkungen häuslicher Arbeitsorganisation und Kontrolle, wie die Bedeutung der Heirat im Lebenslauf, werden damit faßbar. Es fällt allerdings schwer, den in England und Mitteleuropa so unterschiedlichen Stellenwert des Heiratsverhaltens in der Wahrnehmung der historischen Quellen und der Geschichtsschreibung durch einen direkten empirischen Vergleich zu fundieren. Bevölkerungslisten und ähnliche quantifizier161

bare Quellen, die altersspezifische Ledigenquoten in einer ausreichenden sozialen Differenzierung bieten, sind in England sehr viel seltener überliefert als in den meisten Ländern des Kontinents.5 Die Untersuchung des Heiratsverhaltens handwerklicher und proletarischer Bevölkerungsgruppen muß sich in England auf eine weniger einheitliche und systematische Quellenbasis stützen als in Mitteleuropa. Dazu kommen begriffliche Schwierigkeiten des Vergleichs, die sich aus den realen Unterschieden der sozialen Systeme ergeben. Die sozialen Strukturen, ökonomischen Verhältnisse, rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen des englischen Handwerks waren ganz anders als jene des mitteleuropäischen, so daß zwischen »Geselle« und »journeyman«, »Meister« und »master« mehr als bloß sprachliche Unterschiede bestehen.6 Der folgende Abschnitt zielt deshalb nicht auf einen direkten statistischen Vergleich, sondern versucht, die Entwicklung des Heiratsverhaltens englischer und mitteleuropäischer handwerklicher Arbeiter nachzuzeichnen und auf die jeweilige Sozialverfassung des Handwerks zu beziehen. Wenn auch ein systematischer Vergleich von Struktur und Geschichte des englischen und des mitteleuropäischen Handwerks noch aussteht, so läßt schon ein erstes vorläufiges Herangehen wesentliche Unterschiede erkennen, die zur Erklärung der Heiratsmuster in beiden Regionen beitragen.

162

XII. Das Heiratsverhalten und die Traditionen des Handwerks in England

1. Zum Familienstand englischer Handwerker in der Frühen Neuzeit Die Untersuchung des Heiratsverhaltens im Handwerk kann sich für England nur auf wenige Vorarbeiten stützen. In der Historiographie gilt ein prinzipiell freies Heiratsverhalten aller handwerklichen und proletarischen Gruppen als eine Selbstverständlichkeit, für deren tiefere Erörterung kein Bedürfnis zu bestehen scheint. Vorhandene Unterschiede des Heiratsalters und der Heiratshäufigkeit werden an konjunkturellen und arbeitsorganisatorischen Faktoren festgemacht. Sozialen und kulturellen Differenzierungen geht die englische Forschung in bezug auf das Familienleben nach und nicht auf das Faktum der Eheschließung selbst.1 Auch die verfügbaren Quellen geben keine erschöpfende Auskunft. Eine erste größere Serie von Bevölkerungsverzeichnissen wurde in England im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert im Zuge der Neuregelung der Armenversorgung angelegt.2 Diese Listen erfassen nicht die gesamte, sondern nur die unterstützungsbedürftige Bevölkerung - das war z.B. in Norwich 1570 aber rund ein Viertel aller Familien.3 Sie enthalten meist sehr genaue Angaben zu Alter, Familienstand, Beruf und Einkommen der bedürftigen Personen, unterscheiden aber in der Regel nicht zwischen sozialen Positionen wie Meister und Geselle. Hinweise aufdas Heiratsverhalten von Gesellen sind damit nur indirekt zu erschließen. Für alle Listen gilt, daß die Bedürftigen in der Regel verheiratet oder verwitwet waren. In Norwich 15 70 waren von den 526 erfaßten männlichen Haushaltsvorständen 495 (94 Prozent) verheiratet.4 Sie vertreten eine breite Palette handwerklicher Berufe, wobei die explizite Bezeichnung als Geselle nur sehr selten vorkommt: »Robert Roger, of 44 yer, a cordwainer jorniman oute of work, & Helen, his wyfe, of 60 yer, a spynster, & hath dwelt her 16 yer«, lautet etwa eine entsprechende Eintragung.5 Auf Lohnarbeitsverhältnisse deutet die häufige Erwähnung von Arbeitslosigkeit hin: »taylor out of worke« oder »cordwainer not in worke« sind häufige Eintragungen. Insgesamt war etwa ein Drittel der erfaßten Armen arbeitslos.6 Die Armenzählung in Ipswich 1597 enthält Angaben zu den Löhnen der 163

Unterstützungsbedürftigen.7 Lohnangaben finden sich nicht nur bei Webern oder Bauhandwerkern, sondern auch bei Schneidern, Schustern, Fleischern, Schmieden usw. Charakteristisch für die Armenverzeichnisse des späten 16. Jahrhunderts sind die Hinweise auf Formen einer proletarischen »family wage economy«. Auch für Frauen und Kinder der Handwerker sind in der Regel Berufe angeführt, meist aber solche, die mit dem des Mannes nichts zu tun hatten, wie Spinnen und Stricken. Gleiche Berufe von Mann und Frau, die auf einen Familienbetrieb hindeuten, kommen sehr selten vor.8 All dies läßt es als wahrscheinlich erscheinen, daß es in England um 1600 keine Seltenheit war, wenn verheiratete Handwerksgesellen, die gegen Lohn arbeiteten und deren Frauen und Kinder in anderen Branchen Verdienst suchten, einen eigenen Haushalt führten. Nichts deutet darauf hin, daß in dieser Hinsicht ein Unterschied zwischen Textilhandwerkern, Bauhandwerkern und den Gesellen der kleinen Warenproduktion bestanden hätte. Zu demselben Ergebnis gelangt Phythian-Adams bei der Auswertung ähnlicher Quellen fur Coventry: Auch hier gab es im späten 16. Jahrhundert eine breite Schicht verheirateter Handwerksgesellen, die tagsüber in den Werkstätten der Meister arbeiteten,um abends in ihre eigenen Wohnungen zurückzukehren.9 Soweit listenförmige Quellen aus dem späten 17. und aus dem 18. Jahrhundert vorhanden sind, widersprechen sie dem hier gewonnenen Bild nicht.10 Wenn auch diese Quellen keine allzu dichten Informationen bieten, so verweisen sie insgesamt doch auf eine lange und ungebrochene Kontinuität der Familienfähigkeit englischer Handwerksgesellen aller Berufe. Auch Angaben zum Heiratsalter von Handwerksgesellen im Vergleich zu anderen sozialen Gruppen sind in England nur spärlich überliefert, da kirchliche Personenregister und Matrikelbücher bis in das späte 18. Jahrhundert nur in Ausnahmefällen Altersangaben enthalten. In einer der wenigen vorliegenden Untersuchungen, die für das englische 18. Jahrhundert detaillierte Angaben zu sozial differenziertem Heiratsverhalten bieten, führt J.D. Chambers für Nottinghamshire 1701-1753 bei Schuhmachern, Schneidern, Tuchmachern und Webern ein ziemlich einheitliches mittleres Heiratsalter von 24 oder 25 Jahren an.11 Es liegt knapp unter dem von ungelernten Arbeitern oder landwirtschaftlich Beschäftigten (25-27 Jahre) und knapp über dem von Strumpfwirkern (23-24 Jahre). Chambers kommt dabei zu folgendem Schluß: »As there was no shortage ofjobs for skilled artisans at the time the figures were taken, it is not surprising that they married early. The conditions for Nottinghamshire journeymen would not be very different from that of small masters in this repeat.«12 Auf eine hohe Homogenität des Heiratsalters verweist auch eine Studie über Shifnal, einer Pfarre in Shropshire, in deren kleinstädtischem Kern zahlreiche Handwerker lebten und deren ländliche Umgebung bis zu den Kohlefeldern des Coalbrookdale reichte, einem der dynamischsten Schwerin164

dustriezentren Englands im frühen 18. Jahrhundert.13 Von 1700-1725 sind in den Kirchenbüchern von Shifnal Angaben zu Beruf und Alter der Eheschließenden enthalten. Das durchschnittliche Heiratsalter lag in dieser Periode bei den Handwerkern bei 25,2, bei den Taglöhnern bei 25,3 bei den Grubenarbeitern bei 25,0 Jahren.14 Wenn auch keine Differenzierung zwischen Meistern und Gesellen möglich ist, so unterscheiden sich die Handwerker insgesamt nicht von anderen eindeutig lohnabhängigen Berufsgruppen. Für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts bieten die parlamentarischen Sozialuntersuchungen dichtes qualitatives Material zu den Lebensverhältnissen der verschiedenen Arbeitsgruppen, vor allem aus dem industriellen und hausindustriellen Bereich. In allen Berichten erscheint der verheiratete Handwerker und Arbeiter als Normalfall, es finden sich keine Hinweise auf spezifische Heiratsverhältnisse oder Ehebeschränkungen für einzelne Gruppen.15 Speziell mit handwerklichen Arbeitern beschäftigte sich Henry Mayhew in seiner soziologischen Untersuchung über »London Labour and the London Poor« aus den Jahren 1849-1850, in den Worten E.P. Thompsons »the most impressive survey oflabour and of poverty at the mid century which exists.«16 Informationen zum Familienstand gibt Mayhew fur Tischler, Hutmacher, Faßbinder, Rothgerber, Lederzurichter, Schneider, Zimmerleute und Bautischler. Für alle von ihnen verwendet er stereotype Formulierungen wie »the great majority are married men with families« oder »they are mosdy married men«.17 Auch hier findet sich kein Hinweis auf Ehehemmnisse für Gesellen. Mitunter fuhrt Mayhew ein besonders niedriges Heiratsalter bei im Verlag arbeitenden Berufsgruppen an, die auf die Mitarbeit von Kindern angewiesen waren, wobei er aber keine Unterschiede zwischen Gesellen und kleinen Meistern macht. »The small masters mostly marry when they are turned of twenty. You see our trade's come to such a pass that unless a man has children to help him he can't live at all... The most of us has got large families. We put the children to work as soon as we can. My little girl began about six, but about eight or nine is the usual age,« gab ein von Mayhew interviewter Tischler zu Protokoll.18

2. Das Heiratsverhalten englischer Handwerker und Arbeiter zur Mitte des 19. Jahrhunderts Sozial differenzierte quantitative Angaben zu Heiratsalter und Heiratshäufigkeit enthalten die staatlichen Volkszählungen des 19. Jahrhunderts. Allerdings bieten auch sie nur sehr eingeschränkt die Möglichkeit eines direkten statistischen Vergleichs mit den mitteleuropäischen Daten. Diese Schwierigkeit ist in bestimmtem Maß Ausdruck unterschiedlicher sozialer Realitäten, 165

die sich in Form und Inhalt staatlicher Statistik niederschlugen. Die englischen Volkszählungen des 19. Jahrhunderts enthalten weder in den publizierten Ergebnissen noch in den ursprünglichen Erhebungsbögen eine klare Unterscheidung zwischen Selbständigen und Unselbständigen.19 Darüber hinaus wurde es in Auswertung und Veröffentlichung nicht für relevant erachtet, demographische Angaben wie Alter, Familienstand oder Stellung im Haushalt sozial zu differenzieren.20 Damit scheiden publizierte Volkszählungsergebnisse von vornherein für unsere Untersuchung aus. Quantitative Informationen zum berufs- und altersspezifischen Heiratsverhalten im England des 19. Jahrhunderts sind nur durch die Ausweitung der ursprünglichen Volkszählungslisten auf der Individualdatenebene zu erlangen, mit allen angeführten Einschränkungen in bezug auf die soziale Differenzierung. Günstige Auswertungsmöglichkeiten bietet vor allem der Census von 1851, der fiir ganz England im Original überliefert und zudem in einer Vier-Prozent-Stichprobe, dem »National Sample of the 1851 Census of Great Britain«, maschinenlesbar aufbereitet ist.21 Auf dieser Grundlage wurden altersspezifische Ledigenquoten und die Positionen im Haushalt für eine Reihe von Berufen aus verschiedenen Städten ermittelt, die das breite Spektrum unterschiedlicher Formen der Arbeitsorganisation, die in England zur Mitte des 19. Jahrhunderts bestanden, repräsentieren sollen.22 (Vgl. Tab. 17 und 19.) Für großindustrielle Fabrikarbeit stehen in dieser Stichprobe die Baumwollarbeiter von Oldham, einer Stadt, deren Lebensrhythmus und Erscheinungsbild um 1850 vollständig von rund sechzig großen »Cotton-Mills« beherrscht wurden, von denen etwa 12 000 Arbeiterfamilien abhängig waren: Menschenleere Straßen füllten sich urplötzlich mit tausenden eiligen Menschen, wenn die Fabrikuhren zur Mittagspause oder zum Feierabend schlugen.23 Die Seidenverarbeitung in Macclesfield bildete zur selben Zeit eine Ubergangsform von der Hausindustrie zur Fabrik. Die Spinnprozesse waren bereits völlig mechanisiert und zentralisiert, während in der Weberei der handbetriebene Jaquardstuhl dominierte - zum Teil in zentralen Werkstätten aufgestellt, bei den gröberen Seidenzeugen aber fast ausschließlich in den einzelnen Weberhäusern. Bei den Spinnern überwogen die Frauen und Mädchen, bei den Webern die Männer.24 Ein allerdings weniger klar strukturiertes Nebeneinander von »domestic industry« und »mill« prägte auch die Tuchmacherei von Huddersfield. In unserem Sample überwiegen die Berufe in der Endfertigung, »cloth finisher« und »cloth dresser«, die meist in kleineren zentralen Produktionsstätten, vorwiegend mit qualifizierter Handarbeit, beschäftigt waren.25 Von einer noch weitgehend ungebrochenen Dominanz der Hausindustrie war dagegen die Strumpfwirkerei in Nottingham und Leicester charakteri166

siert. Hier wurden in der Regel alle Arbeitsgänge vom Winden des Garns (Baumwolle, Seide oder Kammgarn) bis zur abschließenden Verschönerung der Strümpfe, Handschuhe, Wäscheartikel usw. durch Einsäumen und eventuell Besticken in den einzelnen Haushalten der Heimarbeiter ausgeführt.26 Zentralisierte Produktion und Maschineneinsatz waren zur Mitte des Jahrhunderts erst in Ansätzen sichtbar, expandierten aber in den 1850er Jahren rasch.27 Zur »reinen« Hausindustrie sind in bestimmtem Maß auch die Schuhmacher zu zählen. Der verwendete Datensatz enthält Samples aus Norwich und Northampton. Beide Städte waren in Konkurrenz zu London im 19. Jahrhundert zu Zentren hausindustrieller Schuherzeugung geworden.28 Zugleich war aber die Schuhmacherei in Form von Maßarbeit, von Flick- und Reparaturarbeit im ganzen Land auch auf kleingewerblicher Basis erhalten geblieben. Fast alle Samples des Datensatzes enthalten eine größere Anzahl von Schustern, so daß sie zusammengenommen traditionelles Kleingewerbe und Hausindustrie umfassen.29 Mehrere Berufe repräsentieren einen spezifischen, in England im 19. Jahrhundert weit verbreiteten Typ kapitalistischer Werkstattarbeit. Es handelt sich um Formen der Massenproduktion, die kommerziell völlig von großen Kaufleuten oder Fabrikanten beherrscht wurden, die aber weder fabrik- noch hausindustriell organisiert waren, sondern in großen Mengen kleiner Werkstätten mit etwa einem halben oder einem Dutzend Arbeiter. Diese Arbeitsorganisation war um 1850 typisch für die Wollkämmer in Bradford, dem wichtigsten der neuen Zentren der englischen Kammgarnindustrie.30 Sie prägte ebenso die Klingenproduktion in Sheffield und die Metallwarenindustrie in Birmingham, die in unserem Sample durch die Gelbgießer repräsentiert ist. In allen diesen Berufen blieb die traditionelle handwerkliche Basis der Arbeitsprozesse zumindest bis in die 1860er Jahre erhalten.51 Als Beispiele kleingewerblicher Produktion im engeren Sinn fungieren in den Tabellen 17 und 19 Schneider, Tischler, Bäcker und Fleischer. In London zählten zur Mitte des 19. Jahrhunderts auch Schneider und Tischler zu jenen Gewerben, die in einer raschen Transformation begriffen und durch eine breite Differenzierung der Arbeitsorganisation von der verlegten »Schwitzbude« bis zur traditionellen ehrbaren Werkstatt gekennzeichnet waren.32 In den Städten des hier verwendeten Datensatzes weist aber nichts auf derartige Prozesse hin, dementsprechend handelt es sich auch um zahlenmäßig kleine Berufsgruppen, die sich schon hart an der unteren Grenze dessen bewegen, was statistisch noch sinnvoll auswertbar ist.33 Bäcker und Fleischer haben im ganzen Land ihre traditionellen Arbeitsverhältnisse in hohem Maß bewahrt.34 Eine davon unterschiedene handwerkliche Gruppe bildet das Baugewerbe, worunter Zimmerleute, Bautischler, Maurer, Steinmetzen und Maler zusammengefaßt sind. Sicherlich war auch ein beträchtlicher Teil der großen Gruppe der »labourer«, ungelernter Taglöhner, im Bauwesen beschäftigt. 167

Für diese Berufsgruppen wurden altersspezifische Ledigenquoten und Haushaltspositionen berechnet. Wie oben bereits dargestellt wurde, ist eine Unterscheidung von Meistern und Gesellen durchgehend nicht möglich. »Employer« kommen im Datensatz vor, aber so selten, daß auf eine Hervorhebung verzichtet wurde. Die Berufsgruppen in den Tabellen 17 und 19 enthalten damit nicht nur, aber überwiegend, Unselbständige oder alleinarbeitende kleine Meister. Eine Ausnahme bildet eines der beiden Samples aus Norwich. In der Pfarre St. Mary at Coslany - ein traditionelles, nördlich des Wensum aber noch innerhalb der Stadtmauern gelegenes Gewerbegebiet trugen die Zählorgane bei jedem handwerklichen Berufstätigen den Zusatz »master« oder »journeyman« ein.35 Hier lebten 24 »master«, von denen sechs auch als »employer« von Arbeitskräften gekennzeichnet waren, und 64 »journeymen«, die demnach als selbständige Gruppe untersucht werden können. Bei der Interpretation der Tabellen sind nicht nur aus Gründen mangelnder sozialer Differenzierung, sondern auch wegen der kleinen Zahlen Vorsicht und Verzicht auf eine zu weitreichende Interpretation angebracht. Der ausgewertete Datensatz umfaßt insgesamt etwas mehr als 15 000 Personen. Dies ist nicht so wenig, wenn man allerdings Differenzierungen nach drei oder vier Kriterien vornimmt (Geschlecht/Beruf/Altersgruppe/Familienstand bzw. Geschlecht/Beruf/Haushaltsposition), ergeben sich zum Teil äußerst niedrige Werte. Im Datensatz scheinen 93 männliche Schneider auf, sieben von ihnen sind im Alter von 45-49 Jahren, einer davon ist nicht verheiratet: In der Tabelle repräsentiert er eine Ledigenquote von 14,3 Prozent. Bei diesen geringen Werten spielt natürlich der Zufall eine bestimmte Rolle. Bei aller gebotenen Vorsicht gestatten es die berufsspezifischen Ledigenquoten aber doch, einige Aussagen zu treffen, weniger über die Berufsgruppen im einzelnen als über das allgemeine Bild der Differenzierung bzw. Homogenität. Der Anteil der Ledigen ist in allen Berufen, verglichen mit den mitteleuropäischen Daten, niedrig. Die Variationsbreite über die einzelnen Berufe hinweg ist hoch, es zeichnen sich jedoch keine mit bestimmten Formen der Arbeitsorganisation verbundene Muster ab. Die höchsten Ledigenquoten der 25-29jährigen und damit das höchste Heiratsalter innerhalb des Samples weisen die großindustriellen Textilarbeiter aus Oldham, die eine Übergangsform von der Werkstatt zur Fabrik repräsentierenden Tuchmacher aus Huddersfield, die Werkstattarbeiter der Sheffielder Klingenindustrie und die Taglöhner auf. Auf ein relativ niedriges Heiratsalter deuten die Daten fur die Seidenarbeiter in Macclesfield (Hausindustrie und zentralisierte Manufaktur), die Wollkämmer in Bradford und die Gelbgießer in Birmingham (kapitalistische Werkstattarbeit) und die Schneider, die in unserem Sample traditionelle kleingewerbliche Verhältnisse repräsentieren. Die Ledigenquoten der hausindustriellen Strumpfwirker und Schuhmacher, der kleingewerb168

Tab. 17: Englische Arbeitergruppen nach ihren altersspezifischen Ledigenquoten, Männer, 1851 Beruf

Baumwollarbeiter Seidenarbeiter Tuchmacher Strumpfwirker Schuhmacher Wollkämmer Messerer Gelbgießer Schneider Tischler Bäcker und Fleischer Gelernte Bauarbeiter (1) Taglöhner »Apprentice« »Journeymen« Männliche Gesamtbevölkerung des Samples (1)

Anteil der Ledigen

im Sample dominierende Städte

Anzahl (N)

25-29

45-49

Oldham Maccelsfield Huddersfield Nottingham, Leicester

178 173 57

44,4 15,3 57,1

0,0 0,0 20,1

246 231 125 36 114 93 34 82 295 257 39 38

25,0 34,4 19,0 55,6 5,3 20,0 33,3 35,7 28,9 42,1 100,0 28,6

5,0 5,6 0,0 0,0 0,0 14,3 0,0 12,5 6,7 5,3

7 749

30,3

6,7

Bradford Sheffield Birmingham



0,0

Carpenter, joiner, bricklayer, stonemason, painter.

Quelle: Census of Great Britain, 1851 (National Sample).

lichen Tischler, Bäcker und Fleischer liegen gemeinsam mit denen der Maurer, Zimmerleute, Bautischler, Steinmetzen und Maler nahe dem Durchschnittswert. Industrielle, hausindustrielle und handwerkliche Berufe lassen nach diesen Daten keine spezifischen, von den anderen Gruppen unterschiedene Heiratsmuster erkennen. Die Ledigenquoten der traditionellen kleingewerblichen Berufe liegen insgesamt nicht über denen der Industriearbeiter oder der Hausindustriellen, und innerhalb des Handwerks zeichnet sich keine Bruchlinie zwischen kleingewerblich und kapitalistisch organisierten Berufen ab. Die Differenzierung der Ledigenquoten scheint von den konkreten Arbeits- und Lebensbedingungen jedes einzelnen Berufs und jeder einzelnen Stadt abhängig, in bestimmtem Maß auch aufgrund der kleinen Zahlen dem Zufall geschuldet zu sein.36 Ein generelles Muster verzögerten oder behinderten Heiratens fur bestimmte soziale Gruppen ist nicht zu erkennen. Auf ein von anderen Arbeiter- und Handwerkergruppen nicht prinzipiell 169

verschiedenes Heiratsverhalten weisen auch die Werte für die kleine Gruppe der explizit als »journeymen« in der Quelle erfaßten Personen hin. Tabelle 17 enthält eine kleine Zahl von Berufstätigen, die im Census nur als »journeyman«, ohne weitere Berufsangaben, eingetragen wurden. Ihre Ledigenquoten liegen knapp unter dem Durchschnitt des gesamten ausgewerteten Samples. Tabelle 18 zeigt Alter und Familienstand für alle in der Pfarre St. Mary at Coslany in Norwich lebenden Gesellen der verschiedensten Berufsgruppen. Unter dem gesetzlich vorgesehenen Mindestalter von 21 Jahren war kein einziger von ihnen verheiratet, was daraufhindeutet, daß diese traditionelle Altersgrenze auch zur Mitte des 19. Jahrhunderts respektiert wurde. Zwischen dem 22. und dem 32. Lebensjahr vollzog sich der allmähliche Ubergang in den Ehestand, ab 33 scheint kein unverheirateter Geselle mehr auf. Tab. 18: Familienstand und Alter der »Journeymen« in Norwich, Pfarre St. Mary at Coslany, 1851 Alter 16-21 22-26 27-32 33-73 zusammen

ledig 11 6 5 -

22

verheiratet -

5 7 30 42

Quelle: Census of Great Britain, 1851 (National Sample).

3. Stellung im Haushalt u n d Familienstruktur Auf grundlegende sozialstrukturelle Unterschiede zu Mitteleuropa verweist auch die Aufgliederung der Berufsgruppen nach der Stellung im Haushalt. (Vgl. Tab. 19.) Beim Arbeitgeber mitwohnende Lehrlinge und Gesellen waren 1851 auch in England nicht unbekannt, aber sie waren doch sehr selten. Einen relevanten Anteil von einem Viertel oder einem Fünftel nahmen »servants« nur in der kleinen Gruppe von Lehrlingen und Gesellen ein, die ohne weitere Berufsbezeichnung im Census erfaßt worden waren. Dies ist gerade bei dieser Gruppe nicht erstaunlich, da das Fehlen einer eigenen Berufsbezeichnung in der Regel auf eine Identifikation durch den Beruf des Haushaltsvorstands hinweist. Angesichts dessen erscheint es sogar überraschend, auch unter den bloßen »journeymen« eine Mehrheit in der Position eines Haushaltsvorstands vorzufinden. Einen kleinen, aber nicht völlig zu vernachlässigenden Anteil nehmen beim Arbeitgeber wohnende Gesellen und Lehrlinge sonst nur noch in den 170

Tab. 19: Englische Arbeitergruppen nach ihrer Stellung im Haushalt, Männer, 1851 Beruf Haushaltsvorstand

Baumwollarbeiter Seidenarbeiter Tuchmacher Strumpfwirker Schuhmacher Wollkämmer Messerer Gelbgießer Schneider Tischler Bäcker und Fleischer Gelernte Bauarbeiter (2) Taglöhner »Apprentice« »Journeymen« (1) (2)

Stellung im Haushalt (1) beim Untermieter, Sohn VerBettgeher wandter Arbeitge»lodger« ber »servant«

34,8 63,6 49,1 61,2 55,4 51,2 38,9 43,9 57,0 61,8

47,2 31,2 33,3 18,7 20,8 14,4 38,9 45,6 17,2 17,6

8,5 0,6 12,5 2,4 4,4 4,8 11,2 4,5 2,2 0,0

0,0 0,0 0,0 0,0 0,9 0,0 2,8 0,0 1,1 0,0

9,6 4,6 5,3 17,9 18,2 28,8 8,3 5,3 22,6 17,6

53,7

23,2

7,7

7,3

8,5

61,4 44,7 0,0 52,6

14,2 18,3 43,6 7,9

2,6 4,8 17,9 5,2

0,0 0,0 25,6 18,7

21,0 28,8 10,3 15,8

Rest auf 100 Prozent durch unbekannte und andere. Carpenter, joiner, bricklayer, stonemason, painter.

Quelle: Census of Great Britain, 1851 (National Sample).

Nahrungsmittelgewerben ein. Wie in Mitteleuropa, hat auch in England gerade bei den Bäckern ein spezifischer Arbeitsrhythmus das Wohnen am Arbeitsplatz gefördert. Hier war es allerdings die Regel, daß Bäckergesellen verheiratet waren und einen eigenen Haushalt führten, während der Woche aber am Arbeitsplatz blieben.37 Beim Arbeitgeber zu wohnen, war im Victorianischen England für Lehrlinge und Gesellen nicht ausgeschlossen, es mochte hie und da individuellen oder arbeitsorganisatorischen Bedürfhissen am besten entsprochen haben. Es handelt sich dabei aber um Ausnahmen und nicht um eine Regel, auf gar keinen Fall um eine Verpflichtung. Untermietverhältnisse spielten demgegenüber eine größere Rolle. In unserem Sample weisen zwei Berufsgruppen hohe Anteile an »lodgers« auf, die aus branchenspezifischen Lebens- und Migrationsverhältnissen zu erklären sind. Unter den Wollkämmern in Bradford dominierten die gerade zugewan171

derten Arbeiter. Bradford war zur Mitte des 19. Jahrhunderts das dynamisch wachsende Zentrum der neuen englischen Kammgarnindustrie und zog riesige Mengen von Wollkämmern aus allen Landesteilen an. Dem Korrespondenten des Londoner »Morning Chronicle« schien es 1849, daß hier ein beträchtlicher Teil der gesamten englischen Wollkämmerei zusammenströme: »I'm from Leicestershire! - I'm from Devonshire! - I'm from Cornwall!« tönte es ihm entgegen, als er die Männer einer Werkstätte nach ihrer Herkunft fragte.38 Eine hohe Mobilität und das Wohnen in Untermiete schlossen bei den Wollkämmern die Heirat aber in keiner Weise aus. Die meisten von ihnen hatten sich mit Frauen und Kindern auf den Weg nach Bradford gemacht, auch von den »lodgers« war die große Mehrheit verheiratet. Bei den Taglöhnern und ungelernten Arbeitern scheinen Untermietverhältnisse dagegen Ausdruck einer unstabilen, unsicheren und gering entlohnten Arbeit gewesen zu sein. Hier überlagerte sich ein hoher Anteil von »lodgers« mit einem relativ hohen Anteil von Ledigen. Bei allen übrigen Arbeitern und Handwerkern kam dagegen dem Leben in der eigenen Familie und im eigenen Haus die überragende Bedeutung zu. Verheiratete Männer standen einem eigenen Haushalt vor, unverheiratete Söhne lebten bei ihren Eltern, in kleinerem Ausmaß mitunter auch bei Verwandten. In allen außer den beiden genannten Berufen nahmen rund 75 bis 95 Prozent der berufstätigen Männer die Position eines Haushaltsvorstandes oder eines Sohnes ein. Dies trifft genauso auf die Gesellen der Norwicher Pfarre St. Mary at Coslany zu. Von den insgesamt 64 »journeymen« dieses Samples waren 41 Haushaltsvorstände (bis auf einen alle verheiratet), zwanzig Söhne (bis auf einen alle unverheiratet), zwei lebten bei Verwandten, bei einem findet sich keine Angabe. Innerhalb dieser allgemeinen familistischen Struktur zeichnen sich jedoch Unterschiede nach dem zahlenmäßigen Verhältnis der Haushaltsvorstände und der Söhne ab. Enorm hohe Anteile von Söhnen und korrespondierend relativ niedrige von Haushaltsvorständen weisen die Baumwoll- und die Seidenarbeiter von Oldham und Macclesfield, die Tuchmacher von Huddersfield, die Messerer von Sheffield und die Gelbgießer von Birmingham auf. Dies deutet darauf hin, daß in der Großindustrie und in der kapitalistisch organisierten, aber handwerklich durchgeführten Werkstattarbeit ein hohes Maß der Berufsvererbung vom Vater auf den Sohn bestand. In einigen Berufen hätte der lokale Arbeitsmarkt ohne Zweifel keine Alternative zur beruflichen Kontinuität gelassen, wäre sie nun angestrebt worden oder nicht. Wo hätte man zum Beispiel in Städten wie Oldham auch Arbeit finden können, wenn nicht in den »mills«. Bei anderen Berufen wird aber sichtbar, daß eine hohe Berufsvererbung zumindest auch das Ergebnis einer bewußten Plazierung bzw. Berufswahl war. Dies trifft etwa bei den Gelbgießern in Birmingham zu, denen ein weit gefächerter Arbeitsmarkt zur Verfugung ge172

standen wäre.39 Im Kleingewerbe und in den Bauhandwerken kommt diese Tendenz nicht in demselben Maß zum Ausdruck.40 Hier zeichnet sich tatsächlich ein Unterschied zwischen dem kleingewerblich geprägten Handwerk auf der einen und den Industrie-, Hausindustrieund kapitalistischen Werkstattarbeitern auf der anderen Seite ab. Eine soziale Differenzierung erfolgte nicht entlang der prinzipiellen Familienfähigkeit, dem Heiratsalter und der Heiratshäufigkeit, sondern entlang der Familienstrukturen. Die Überlagerung von Familie und Berufwar in der Tradition der kleingewerblichen Arbeitergruppen weniger dicht, als bei den Arbeitern industrieller und kapitalistisch transformierter Branchen. Das Ideal, das sie anstrebten, war der alleinverdienende Ehemann, der seiner Familie ohne zusätzliche Arbeit von Frau und Kindern ein respektables Leben sicherte. Schon 1705 beschrieb Daniel Defoe »a class of... workmen in England, who, being only journeymen under manufactures, ... maintain their families very well.«41 Als die Londoner Sattlergesellen 1779 einen Arbeitskampf begannen, legten sie ihren Lohnforderungen ein Familienbudget zugrunde, das für einen »working man and his family consisting of a wife and three children« ausreichen sollte.42 Ein Parlamentsbericht aus dem Jahre 1814stellte über den »skilled workman« fest: »His ideal is a home with the man as a wage earner ... maintaining their families in a honourable way.«43 Ein Londoner Schneider berichtete 1849 wehmütig über die immer seltener werdenden alteingefuhrten Werkstätten, in denen seine Kollegen genug verdienten, »to maintain their wives and families in decency and comfort.«44 Wenn die Frauen schon dazu verdienten - was trotz des Ideals auch unter den Handwerkern die Regel gewesen sein dürfte - dann möglichst nicht durch Lohnarbeit, sondern durch einen kleinen Handel, Milchverkauf, einen Ausschank oder etwas Heimarbeit als Wäscherin oder Spinnerin.45 Für diese Ziele führten die englischen Handwerker unzählige Arbeitskämpfe, auch wenn sich ihre Erfolgsaussichten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend verschlechterten. Nicht der Ledigenstand, sondern ganz im Gegenteil das Streben nach einem patriarchalischen Familienmodell prägte die Kultur und das Selbstverständnis der englischen »journeymen«.

4. Heirat und Haushaltsgründung im handwerklichen Lebenslauf Die lange Tradition der Familiengründung unter englischen Gesellen setzte eine spezifische Stellung der Heirat in der handwerklichen Berufslaufbahn voraus. Diese wird zunächst auf der normativen Ebene sichtbar. Den Beginn einer umfassenden gewerberechtlichen Regelung bildete das »Statute of Artificers« von 1563.46 Dieses Gesetz legte eine siebenjährige Lehrzeit als 173

Voraussetzung fur jegliche Gewerbeausübung fest. Der Lehrling sollte im Haushalt des Meisters wohnen und das Lehrverhältnis nicht vor dem 21. Lebensjahr beenden.47 Eine entsprechende Praxis hatte es in einigen Gewerben schon vorher gegeben. Neu war, daß eine einheitliche Regelung fur ganz England geschaffen wurde, unabhängig von Ort und Branche, und die Kontrolle des Statuts nicht den Zünften, sondern den staatlichen Verwaltungsorganen oblag. Englische Historiker interpretieren das »Statute of Artificers« - das neben der Regelung der Lehrzeit zahlreiche weitere, hier nicht zu diskutierende Bestimmungen enthielt - übereinstimmend als einen Bestandteil der restriktiven und konservativen Sozialpolitik der Tudorzeit, die das vorrangige Ziel gehabt habe, die Freizügigkeit der Arbeitskräfte zu beschränken und insbesondere der Landwirtschaft ein ausreichendes Arbeiterreservoir zu sichern.48 Restriktive Züge kommen in den Lehrlingsregeln deutlich zum Ausdruck. Eine siebenjährige Lehrzeit war außerordentlich lang, die Bindung an den Meisterhaushalt unterwarf die Jugendlichen einer dauerhaften Kontrolle, und nicht zuletzt bildete sie ein entscheidendes Hindernis zur Heirat und selbständigen Haushaltsführung vor dem 21. Lebensjahr.49 Aus der Perspektive der mitteleuropäischen Entwicklung des 17. und 18. Jahrhunderts erscheinen die Lehrlingsbestimmungen des englischen Handwerkerstatuts in einem weniger düsteren Licht. Die Absolvierung der siebenjährigen Lehrzeit und das Erreichen des 21. Lebensjahres markierten in ihrem Verständnis einen definitiven Endpunkt der Ausbildung und des Zwangs zu hausrechtlicher Abhängigkeit. Sie berechtigten den Handwerker zur Gewerbeausübung überall im Land, sofern nicht lokale städtische Sonderrechte Fremden den Zuzug erschwerten. In London und in den meisten anderen Städten bedeutete der Lehrabschluß zugleich den Eintritt in die Bürgerrechte der Stadt.50 Das »Statute« und alle folgenden gewerberechtlichen Bestimmungen ließen es dem Handwerker völlig frei, ob er sich als Geselle oder Meister niederlassen wollte, eine Entscheidung, die in der Praxis nach ökonomischen Kriterien, dem individuellen Vermögen und dem lokalen Arbeitsmarkt getroffen zu werden pflegte. Hatte der freigesprochene Lehrling zu wenig Kapital, »he would work for wages as a free journeyman by the day, week, or year, or by piece work.«51 Und schließlich setzte der Geist des Gesetzes das Ende der Lehrzeit mit der Reife zur Heirat und Gründung eines eigenen Haushalts gleich, deren tatsächliche Realisierung im weiteren dem privaten Gutdünken überlassen wurde.52 Lehrabschluß und 21. Lebensjahr bildeten damit für die englischen Handwerker die entscheidende Zäsur von einer restriktiven Jugendphase zu einem weitgehend selbstbestimmten Erwachsenenstatus. Die national einheitliche Festsetzung dieser Zäsur schon um die Mitte des 16. Jahrhunderts mag dazu gefuhrt haben, sie sukzessive immer stärker im gesellschaftlichen Bewußtsein 174

zu verankern. Im mitteleuropäischen Handwerk war diese Zäsur nicht einheitlich fixiert. Sie wurde damit zu einem Angriffspunkt unterschiedlicher Interessen, und gerade ihre Flexibilität ermöglichte es im 17. und 18. Jahrhundert, durch das Einschieben von Wanderjahren, Muthjahren und ähnlichem, den Status des Jugendlichen im Lebenslauf zu verlängern. Für einen Teil der Lehrlinge, nämlich fur Kinder aus der Armenunterstützung bedürftiger Familien, wurden im 17. Jahrhundert weitere Verschärfungen verfugt. Die Armengesetzgebung des Jahres 1601 berechtigte die örtlichen Armenaufseher, Kinder aus unbemittelten Familien als Dienstboten oder Lehrlinge zwangsweise einem Steuerzahler der Gemeinde zuzuweisen. Die Lehrzeit fur diese »parish-apprentices« sollte für Burschen bis zum 24., für Mädchen bis zum 21. Lebensjahr reichen. Da die Kinder der Armen meist auch sehr früh, etwa ab sieben Jahren, ihren Arbeitgebern zugewiesen wurden, ergaben sich außerordentliche lange Lehrzeiten und Phasen hausrechtlicher Abhängigkeit.53 Die Ausdehnung der Lehrzeit bis zum 24. Lebensjahr sollte den Arbeilgebern durch die lange Verfügung über erwachsene Arbeitskräfte eine Art Entschädigung für die zwangsweise Zuweisung von Kindern bieten, und sie steht auch im Zusammenhang mit den staatlichen Bestrebungen zur Eindämmung der Vagabondage. Für die Betroffenen bedeutete dies ein nicht unbeträchtliches Hinausschieben der sozialen und ökonomischen Selbständigkeit. Für die englische Gesellschaft insgesamt handelte es sich um die einzige effektive Maßnahme, die das Heiratsalter der unteren Schichten hinaufsetzte. Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert wurde die rechtliche Regelung des Lehrverhältnisses schrittweise zurückgenommen. 1767 wurde in London, 1778 in ganz England die Obergrenze der Lehrzeit auch für die »parishapprentices« vom 24. auf das allgemein übliche 21. Lebensjahr gesenkt.54 1814 zog das Parlament das gesamte »Statute of Artificers« und damit auch seine Lehrlingsbestimmungen vollständig zurück. Die Institution des »parish-apprentice« war davon allerdings ausgenommen und überlebte sogar die ersten Jahre der neuen Armengesetzgebung; sie wurde erst 1844 endgültig abgeschafft.55 Die Rücknahme der Lehrlingsstatuten 1814 und 1844 bedeutete allerdings kein völliges Ende einer juristischen Regelung der Lehrzeit. Sie wurde nur aus dem öffentlichen Gewerberecht in ein privatrechtliches Verhältnis von Individuen (Eltern, Meister, Armenaufseher) oder Gruppen (etwa Zünfte und Gesellenclubs) verlagert und verlor damit ihren national und branchenmäßig einheitlichen Charakter. Die entscheidende Frage ist natürlich jene nach dem Zusammenhang zwischen diesen normativen Regelungen und der Praxis. Wie es scheint, haben sich die Lehrlingsbestimmungen in den ersten Jahrzehnten nach dem Erlaß des »Statute of Artificers« tatsächlich rasch im ganzen Land durchgesetzt. Sie entsprachen den Bedürfnissen wichtiger gesellschaftlicher Gruppen 175

und ihre Einhaltung wurde durch den Aufbau eines Systems von Informanten von den Friedensrichtern effektiv kontrolliert. Die Auswertung entsprechender gerichtlicher Quellen führte zu dem Ergebnis, daß ab etwa 1580 die Lehrlingsbestimmungen des »Statute of Artificers« in der Regel eingehalten wurden.56 In dieselbe Richtung weisen auch handwerksgeschichtliche Quellen des 17. Jahrhunderts, wenngleich für diese Periode auch auf Tendenzen zur Liberalisierung der Lehrverhältnisse verwiesen wird.57 Eine eindeutige quantitative Evidenz liegt zumindest für den Süden Englands für die Zeit von 1706 bis 1840 vor.58 Dabei zeichnet sich über die einzelnen Branchen und Grafschaften hinweg tatsächlich ein relativ einheitliches Bild ab. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts scheint ein den Bestimmungen des Handwerkerstatus entsprechendes Muster weitgehend stabil gewesen zu sein: Die faktische durchschnittliche Lehrzeit lag bei sechs bis sieben Jahren, das durchschnittliche Alter der Freisprechung zwischen dem 20. und 21. Lebensjahr. Als Periode rapiden Umbruchs erscheint die Zeit von etwa 1760 bis 1780. Die durchschnittliche Dauer der Lehrzeit sank auf etwa vier bis fünf Jahre, ihr Abschluß auf etwa das 18. Lebensjahr. Dieses Niveau erscheint dann wieder bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts als weitgehend stabil.59 Die absinkenden Durchschnittswerte sind dabei nicht als gleichmäßige Verkürzung der Lehrzeit zu interpretieren, sondern als Zunahme der vorzeitig abgebrochenen, ohne legalen Abschluß beendeten Lehrverhältnisse.60 Verschiedene Quellen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie Sozialuntersuchungen und Autobiographien, weisen eindeutig darauf hin, daß die siebenjährige Lehrzeit als Ideal und in geringerem Maß auch in der Realität große Beharrungskraft zeigte, sogar in den Gewerben der völlig kapitalistisch transformierten Hausindustrie. Die parlamentarische Kommission zur Untersuchung der Kinderarbeit kam 1843 zu dem Ergebnis, daß in allen untersuchten Gewerben Lehrlinge in großem Ausmaß beschäftigt wurden. Mitunter würden vertraglich gesicherte Lehrverhältnisse eingegangen, meist beginnend mit dem 14. Lebensjahr für sieben Jahre. Verbreiteter seien jedoch informelle Lehrverhältnisse, bei denen aber ebenfalls vom Lehrling erwartet würde, bis zum 21. Lebensjahr seinem Arbeitgeber dienstbar zu sein.61 Die Kontinuität einer vertraglich gesicherten siebenjährigen Lehrzeit war besonders in den Berufsgruppen hoch, deren Gesellen gut organisiert waren. Während Unternehmer und reiche Handwerksmeister ihr Interesse an staatlichen Kontrollen des Arbeitsmarkts immer mehr verloren und ihre Bedürfnisse durch eine ökonomische Liberalisierung besser befriedigt sahen, griffen die Gesellen das traditionelle Modell auf. »Ironically, it was now labourers and consumers who sought protection from a maintainance of the Elizabethan system of regulation - of wages, prices, standards, conditions of apprenticeship, etc.«62 Die Durchsetzung der siebenjährigen Lehrzeit erschien den 176

Gesellen als wesentliches Mittel, den Zugang zu ihrem Beruf zu beschränken und zu kontrollieren. Um 1810 war die Berufung auf das Handwerkerstatut aus dem 5. Regierungsjahr der »Good Queen Bess« eine zentrale Argumentationsfigur in der Agitation der handwerklichen Arbeiter.63 1812 wurden nach einer riesigen Kampagne 300 000 Unterschriften an das Parlament gesandt, die der Forderung Nachdruck verleihen sollten, die formal ja geltende Regel der siebenjährigen Lehrzeit mit staatlichen Mitteln auch tatsächlich wieder umfassend durchzusetzen.64 Die Abschaffung des »Statute of Artificers« zwei Jahre später war die negative Reaktion des Parlaments auf diese Bewegung, ein Bestandteil der antiproletarischen Gesetzgebung jener Jahre. Wo allerdings die Gesellen gut genug organisiert waren, versuchten sie noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts, die siebenjährige Lehrzeit in Vereinbarungen mit den Meistern durchzusetzen, wie zum Beispiel die Londoner Hutmacher 1846.65 Uber die 1849 gegründete »Provincial Typographical Association« schreibt Musson, sie habe für die Durchsetzung der siebenjährigen Lehrzeit mehr Kämpfe geführt als für jedes andere Thema, wenn auch ohne Erfolg.66 Diese Beispiele deuten an, daß trotz der rechtlichen und faktischen Auflösung der traditionellen Lehrverhältnisse die Vorstellung vom 21. Lebensjahr als Zäsur zwischen abhängiger und selbstbestimmter Lebensweise im Bewußtsein der englischen Arbeiterschaft tief verankert war. Ein veränderliches Element innerhalb dieser Tradition bildeten die Wohnverhältnisse der Lehrlinge. Das Statut von 1563 gestattete jedem, sei er Meister oder Geselle, Mann oder Frau, die Aufnahme von Lehrlingen, wenn er in der Lage war, ihnen Unterkunft, Ernährung und Kleidung zu geben,und band damit die Lehrzeit an hausrechtliche Abhängigkeit.67 Im 16. und 17. Jahrhundert scheint der im Haushalt des Arbeitgebers wohnende Lehrling auch tatsächlich vorherrschend gewesen zu sein. Bevölkerungsverzeichnisse des späten 17. Jahrhunderts zeigen ein hohes Ausmaß des Mitwohnens. Insbesondere die aus Anlaß einer Sondersteuer zur Finanzierung des Krieges mit Frankreich angelegten Bevölkerungslisten von 1695, die für eine Reihe von Londoner Pfarren erhalten geblieben sind, ergeben einen klaren Befund.68 In der im Zentrum der Londoner City gelegenen Pfarre St. Mary le Bow scheinen 1695 64 Haushalte von Handwerkern auf. In 38 von ihnen lebten Lehrlinge, in 14 auch Gesellen.69 Diese hohe Dichte mitlebender Lehrlinge war allerdings gerade für London charakteristisch. Hier war die handwerkliche Produktion quantitativ und qualitativ am entwickeltsten, und hierher strömten im 17. Jahrhundert Jugendliche aus dem ganzen Land, um ihre Lehre zu absolvieren und später in ihre Dörfer und Kleinstädte zurückzukehren.70 Soweit Evidenz über ländliche Gebiete verfugbar ist, war dort der Anteil der Handwerkerhaushalte mit Lehrlingen geringer als in London.71 177

Um 1700 scheint die hausrechtliche Abhängigkeit der Lehrlinge in England die Regel gewesen zu sein. Daß auch Gesellen bei einem Meister wohnten, war keineswegs ausgeschlossen, wie schon die Listen von 1695 zeigten. Im Unterschied zu den Lehrlingen war dies aber weder verpflichtend noch weit verbreitet. Das Interesse an direkter sozialer Kontrolle, das sich in der mitteleuropäischen kleinen Warenproduktion tendentiell auf alle Unselbständigen ausdehnte, überschritt in England die Altersgrenze des 21. (bzw. 24.) Lebensjahres nicht. Für das 18. Jahrhundert konstatiert die englische Forschung übereinstimmend einen Rückgang der hausrechtlichen Abhängigkeit und die Zunahme des »out-door apprentice«.72 Eine Ausnahme bildeten wiederum die »parishapprentices«, die von örtlichen Armenaufsehern ja gerade deshalb in Lehrverhältnisse gesteckt wurden, um ihren Lebensunterhalt zu sichern.73 Zur Mitte des 19. Jahrhunderts, wo die Censuslisten wieder eine quantitative Evidenz erlauben, war es jedenfalls zur Ausnahme geworden, daß Lehrlinge bei ihren Arbeitgebern wohnten. (Vgl. Tab. 19.) Ein Fortleben der alten Tradition in manchen Orten und Branchen ändert daran nichts.74 Natürlich gab es eine breite Palette von Übergangsformen, z.B. daß die Lehrlinge das Wochenende bei ihren Eltern verbrachten und dort auch ihre Kleidung gewaschen wurde, wobei die Lehrlingsentschädigung stieg.75 Die Ursachen für die frühe Auflösung der hausrechtlichen Abhängigkeit in England sind vielfältig. Es scheint, daß die zunehmende kapitalistische Transformation der einzelnen Handwerke, die ärmere Meister zu Stückarbeit und Ausbeutung billigster Arbeitskräfte zwang, das Zusammenleben im Meisterhaushalt destabilisierte und immer konfliktreicher gestaltete. Die Gerichtsprotokolle des 18. Jahrhunderts sind voll von Auseinandersetzungen zwischen Meistern und Lehrlingen, häufig liefen Lehrlinge davon.76 Die reichen und ökonomisch bestimmenden Meister, die auch die Zünfte beherrschten, scheinen flexible Arbeitsverhältnisse ohne langfristig gebundene oder mitwohnende Arbeitskräfte bevorzugt zu haben. Ihr Interesse an der Aufrechterhaltung der Lehrlingsbestimmungen war insgesamt gering. Unterstützt wurden sie dabei von Ökonomen wie Adam Smith, der eine siebenjährige Lehrzeit für völlig unnötig erachtete und vor allem als Erziehung zum Müßiggang ansah.77 Die Gesellen wiederum, die im späten 18. Jahrhundert zu den neuen Hütern der siebenjährigen Lehrzeit wurden, hatten ebenfalls kein Interesse an hausrechtlicher Abhängigkeit. Ihr Anliegen war die Beschränkung der Zahl der Lehrlinge und die Durchsetzung einer langen Lehrzeit. Zum Teil waren sie daran interessiert, die eigenen Söhne im geschlossenen Beruf zu piazieren. Natürlich fehlte es auch in England nicht an Stimmen, die den »out-door apprentice« als Quelle des Verfalls von Disziplin, Moral und Religion betrachteten. Der geistige und praktische Einfluß dieser Ansichten war aber 178

gering.78 Dagegen gewann eine neuartige Idee an Bedeutung, die noch im frühen 18. Jahrhundert in philanthropischen Konzeptionen und in der Sozialpolitik kaum bekannt gewesen war, daß es nämlich sogar für die Kinder der Armen gut sei, bei ihren Eltern zu leben.79 Allgemein kann gesagt werden, daß die Ablösung des »in-door« durch den »out-door apprentice« im 18. Jahrhundert die Bedeutung der Herkunftsfamilie für die Jugendlichen stärkte und der englischen Gesellschaft eine kräftigere familistische Färbung verlieh.80 Im handwerklichen Lebenslauf waren damit in England während der gesamten Neuzeit keine Hemmnisse der Eheschließung für Erwachsene angelegt. Solange das im Handwerkerstatut festgeschriebene System praktiziert wurde und normative Kraft besaß, stand einer langen Phase stark eingeschränkter individueller Handlungsmöglichkeiten während der Jugend komplementär ein definitiver Übergang in einen selbstbestimmten Erwachsenenstatus mit dem 21. Lebensjahr gegenüber, der die prinzipielle Heiratsfreiheit einschloß. Als um die Mitte des 18. Jahrhunderts das traditionelle Lehrlingssystem seine allgemeine Gültigkeit einbüßte und der handwerkliche Lebenslauf flexibler gestaltbar wurde, geschah dies unter dem Vorzeichen einer zunehmenden Liberalisierung der ökonomischen und sozialen Beziehungen und führte nicht zu einer Beschränkung, sondern zu Ausweitungen individueller Handlungsspielräume.81

5. Familienstand und Gesellenwanderung Die grundlegenden sozialen Unterschiede zwischen dem englischen und dem mitteleuropäischen Handwerk werden auch am Verhältnis von Familienstand und Wanderschaft sichtbar. In Mitteleuropa gehörten regionale Mobilität und Ledigenstand untrennbar zusammen, und die Wanderpflicht bildete einen der Mechanismen, den Ledigenstatus der Gesellen zu verlängern. In England dagegen hat es eine institutionalisierte Wanderpflicht nie gegeben.82 Dies Schloß eine hohe regionale Mobilität der Handwerksgesellen in keiner Weise aus, führte aber zu spezifischen sozialen Inhalten und Formen des Wanderns. In mancher Hinsicht bestanden ohne Zweifel Parallelen zum mitteleuropäischen Gesellenwandern. Wie aus Autobiographien hervorgeht, war auch unter englischen Handwerkern eine lebenszyklische Phase verstärkter Mobilität nicht unbekannt. »A period of mobility between the completion of an apprenticeship and marriage« scheint in individuellen Bedürfnissen begründet gewesen zu sein, die langjährige Abhängigkeit der Lehrzeit zu kompensieren und nach sieben Jahren im Meisterhaushalt »die Welt zu sehen«.83 Wie weit diese Praxis allerdings verbreitet war und ob sie über individuelle 179

Bedürfnisse hinaus auch einer kulturellen Norm folgte, kann beim gegenwärtigen Forschungsstand nicht völlig entschieden werden.84 Aufjeden Fall handelte es sich dabei nicht um die entscheidenden Faktoren der Mobilität englischer Handwerker. Diese standen im 18. und 19. Jahrhundert eindeutig in einem direkten Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt und mit Arbeitskämpfen. Arbeitslose oder unterbeschäftigte Handwerker machten sich auf die Suche nach besseren Arbeits- und Verdienstchancen, oder sie benützten im Konfliktfall die Abwanderung als Druckmittel gegen ihre Meister.85 Institutionelle Regelungen des Wanderns stehen in England in engem Zusammenhang mit der Entstehung der Gewerkschaften. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts gingen zahlreich lokale Gesellenvereinigungen daran, systematische Formen der Wanderunterstützung festzulegen. Die dazu notwendigen Vereinbarungen mit den Gesellenclubs anderer Städte wurden wesentliche Elemente bei der Herausbildung überregionaler gewerkschaftlicher Organisationen.86 Auf die von Hobsbawm 1951 aufgeworfene Frage, ob diese »tramping systems« völlige Neuschöpfungen des 19. Jahrhunderts seien oder an ältere Traditionen anknüpften, hat die englische Forschung keine endgültige Antwort gefunden.87 Verschiedene Quellen aus dem frühen 19. Jahrhundert deuten jedenfalls daraufhin, daß zumindest in großen Teilen der englischen Öffentlichkeit ein institutionell geregeltes System des Handwerkerwanderns als eine erstaunliche Novität empfunden wurde. »The Book ofEnglish Trades« von 1824, das Standardwerk zur sozialen Verfassung und zur Arbeitsorganisation der einzelnen handwerklichen Branchen, erwähnt ein geregeltes Wandern bei Wollkämmern und Hutmachern, und bezeichnet dies als »curious custom«: »... when out of work, they set out in search of a master, with a sort of certificate from their last place; this they call going on the tramp; and at every shop where they call, and can get no employment, they receive one penny, which is given from a common stock, raised by the men of that shop. A spare bench is always provided in the shop, upon which people on the tramp may rest themselves.«88

Ein ähnliches Erstaunen zeigte J.C. Symons, der von der parlamentarischen Kommission zur Untersuchung der Lage der Handweber Mitte der 1830er Jahre nach Europa geschickt wurde und in Österreich auf den Brauch der »Wanderschaft« stieß.89 Einer seiner Gesprächspartner, der aus Manchester stammende Vorarlberger Baumwollfabrikant Peter Kennedy klärte ihn darüber auf, daß »over almost every part of Germany, the trades of tailors, shoemakers, furriers &c. &c. are carried on by masters who employ journeymen on the 'Wanderschaft', as it is called; that is to say, workmen who go from town to town, stay a winter at one place, a summer at another, and receive generally, besides board and lodging, a certain sum weekly«.90

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Symons berichtete der Kommission ausführlich über dieses System, und gelangte dabei zur Ansicht, daß es sich um eine ökonomisch sehr nützliche Einrichtung handle: »I am inclined to think that a great benefit results from this system, inasmuch as labour is far better apportioned to the demand; for these men often travel through several towns, till they find employment, and no accumulation of labour take place, sinking wages below the general average.«91 Ganz allgemein wurde er durch diese Erfahrung in seiner Ansicht bestärkt, daß »the social system is very different in Austria to what it is in England or in Scotland«.92 Die Bestimmungen, mit denen die englischen Gesellen die Wanderschaft systematisch zu regeln versuchten, enthalten einen wesentlichen Unterschied zur mitteleuropäischen Praxis: Sie waren nicht allein auf Ledige zugeschnitten. Auf der Suche nach Arbeit oder als Druckmittel gegen Unternehmer machten sich verheiratete genauso wie ledige Gesellen auf die Wanderschaft, und erhielten Unterstützung von ihren Organisationen.93 Die Londoner Schuhmacher gingen sogar so weit, bei einigen besonders langwierigen Streiks in den 1830er Jahren »tramping money« nur an die Verheirateten auszuzahlen und an die Solidarität der Ledigen zu appelieren.94 Wenn verheiratete Gesellen wanderten, scheinen sie sich üblicherweise allein, ohne ihre Familien auf den Weg gemacht zu haben, um nach einer Besserung der Verhältnisse wieder zurückzukehren.95 In einer Reihe von Londoner »Journeymen Societies« war es üblich, einen Teil der Wanderunterstützung an die zurückgebliebenen Familien auszuzahlen, bzw. die Frauen mit speziellen »home allowences« zu unterstützen.96 Die Drucker von Manchester legten 1839 fest, daß verheiratete Tramps eine um die Hälfte höhere Unterstützung bekommen sollten als die Ledigen, darüber hinaus aber keine weitere Hilfe gegeben werden sollte »to a member's wife and family while he was on the road«.97 Einige Gesellenvereinigungen sahen allerdings auch explizit die Unterstützung gemeinsam wandernder Ehepaare vor. Die Rothgerber zahlten an wandernde Paare höhere Beträge aus, versuchten aber sicherzustellen, daß es tatsächlich die eigenen Ehefrauen waren, mit denen ihre Kollegen umherzogen: »Any member tramping with a woman to whom he is not married is expelled the society.«98 Die Londoner Lederzurichter legten zur Mitte des 19. Jahrhunderts in ihren Statuten fest, die Herbergen für wandernde Gesellen nicht nur mit sauberen Betten für Alleinreisende auszustatten, sondern auch »a separate room or rooms for those who have wives or families with them« vorzusehen.99 Die ökonomischen Bedingungen und Funktionen des englischen »tramping system« und des mitteleuropäischen Gesellenwanderns waren sehr ähnlich. In einer vor- und fnihkapitalistischen Ökonomie, in der noch keine Krisenzyklen ausgebildet waren und Arbeitslosigkeit vorwiegend lokalen Charakter trug, schuf dieses System einen Ausgleich zwischen überfüllten 181

und aufnahmefähigen Arbeitsmärkten und hielt einen Teil der Arbeitskräfte als »Reservearmee« in Zirkulation.100 Ahnlich war auch die Funktion des Wanderns bei Arbeitskonflikten, und ebenso wiesen die institutionellen Regeln und Absicherungen der Wanderschaft viele Parallelen auf. Zugleich bestand aber ein unterschiedlicher sozialer Kontext: Das englische Trampen wurde erst im frühen 19. Jahrhundert zu einem umfassenden System ausgebaut, während die mitteleuropäische Wanderschaft auf eine lange und festgefugte historische Tradition aufbaute. In England war die Regelung des Wanderns ausschließlich eine Angelegenheit der »Journeymen's Societies« und nicht Bestandteil eines zünftischen und obrigkeitlich abgesicherten Systems. Die Wanderschaft war hier keine Phase im kollektiven Lebenslauf der Gesellen, sondern ein individueller Bewältigungsversuch konkreter wirtschaftlicher Probleme. In diesem sozialen Kontext bestand kein prinzipieller Zusammenhang zwischen Wandern und Familienstand, wenn auch vielleicht jüngere und ledige Gesellen eher von dieser Möglichkeit Gebrauch machten, als ältere und verheiratete.

6. Zur sozialen Definition von Meister und Geselle Die enge Bindung von Meisterschaft und Heirat in der mitteleuropäischen kleinen Warenproduktion setzte eine klare rechtliche Unterscheidung zwischen Meistern und Gesellen voraus und bildete zugleich ein wesentliches soziales und kulturelles Unterscheidungsmerkmal. Im englischen Handwerk sind dagegen Meister und Gesellen wesentlich schwerer voneinander abzugrenzen. »Master« war in England kein exklusiver Rechtstitel. Nach dem Gewerberecht war die Absolvierung der siebenjährigen Lehrzeit die einzige Bedingung der Gewerbeausübung, sei es als Meister oder als Geselle. Ebenso war es beiden Gruppen gestattet, Lehrlinge auszubilden. Auch in öffentlichrechtlicher Hinsicht bestand kein Unterschied. Die Ableistung der Lehrzeit brachte in der Regel die Aufnahme in das Bürgerrecht (»freemanship of a town«). Niederlassungsbeschränkungen, die in einer Reihe von korporativ verfaßten Städten bestanden, galten für »Fremde«, zogen aber keine Trennlinie zwischen Meistern und Gesellen, die hier geboren worden waren oder ihre Lehrzeit absolviert hatten. »As Freemen we are upon a level with the Masters«, beschrieben die Londoner Hutmachergesellen 1750 diesen Sachverhalt.101 Zünfte waren im allgemeinen Organisationen der Meister und ermöglichten diesen einen bestimmten politischen Einfluß auf die Stadtverwaltungen, insbesondere in den »corporate towns«, in deren Verfassung sie eingebunden waren.102 Die englischen Zünfte waren aber keine Zwangsgenossenschaften. Weder gehörten ihnen in der Regel alle Meister eines Gewerbes an, noch 182

waren die Gesellen notwendigerweise von der Teilnahme ausgeschlossen. Im 18. Jahrhundert gewannen die sozialen und karitativen Züge der »guilds« die Oberhand, und wo sie überhaupt am Leben blieben, wandelten sie sich zu Clubs der lokalen Eliten.103 »Meister« und »Geselle« waren in England keine rechtlichen Kategorien, sondern bezeichneten reale sozialökonomische Beziehungen. Im Begriff des Meisters fallen das Arbeiten auf eigene Rechnung (vom Kauf der Rohmaterialien bis zum Verkaufdes Produkts), die selbständige Niederlassung (»set up for himself«) im Sinne des Besitzes einer eigenen Werkstatt, eigener Werkzeuge bzw. Maschinen und in der Regel die Beschäftigung fremder Arbeitskräfte zusammen. Unter Gesellen verstand man dagegen gelernte Lohnarbeiter, die in der Werkstätte eines Meisters oder im eigenen Haushalt als Stücklöhner arbeiteten.104 Das Begriffspaar »master« und »journeyman« ist wesentlich stärker auf das ökonomische Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer reduziert, als das mitteleuropäische »Meister« und »Geselle«, das umfassende politische, soziale und kulturelle Konnotationen enthält. Die englischen Begriffe waren damit auch weniger an das Handwerk gebunden, sondern wurden auch auf kapitalistische und industrielle Produktionsverhältnisse übertragen. »Cotton Masters« nannten sich zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Fabrikbesitzer in der Baumwollindustrie Lancashires, und als »journeymen« bezeichneten sich die verschiedensten Gruppen gelernter Arbeiter.105 Auch die sozialökonomische Unterscheidung zwischen »master« und »journeyman« wurde allerdings in England zunehmend brüchig. Sie war dort klar zu treffen, wo die handwerkliche Produktion in zentralen Werkstätten, die einen bestimmten Kapitaleinsatz erforderten, ablief. Solche Produktionsformen wurden aber vom 18. Jahrhundert an immer mehr von der »domestic industry« zurückgedrängt. Diese wurde in einer breiten Palette von Produktionsstätten ausgeübt, von Werkstätten bis zu Wohnungen, und ebenso löste sie das Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf in komplexe Hierarchien von »merchants«, »middlemen«, »masters« und aller Arten unselbständiger Arbeitskräfte. Die Plätze in diesen Hierarchien waren alles andere als stabil: Meister gerieten in Abhängigkeit von anderen Meistern und arbeiteten nur mehr mit Unterstützung ihrer Familien, während Gesellen vielleicht andere Gesellen und Lehrlinge beschäftigten, bis ein Nachlassen oder Anziehen der Konjunktur die Hierarchien aufs neue durcheinanderwirbelte. »The line between the journeymen and the small masters was often crossed«, kann man zumindest vom späten 18. Jahrhundert an für das englische Handwerk feststellen.106 In dieser Situation verbreiteten sich Hilfsbezeichnungen wie »chamber-master« oder »garret-master« für diejenigen Handwerker, die ihr Gewerbe zwar auf eigene Rechnung, aber in Abhängigkeit von Kaufleuten und Verlegern, und nicht in respektablen Werkstätten, sondern in billigen Schuppen, Kellern oder Wohnzimmern ausübten. Viele 183

dieser kleinen Meister waren deswegen selbständig geworden, weil sie als Gesellen keine Arbeit fanden. Sie scheinen in der Regel das Einkommensniveau der Werkstattgesellen nicht erreicht zu haben.107 Weder in dem traditionellen System der ökonomischen Differenzierung zwischen Meistern und Gesellen noch in der Phase ihrer zunehmenden Auflösung hätte die Bindung der Heirat an die Meisterschaft soziale Logik enthalten. Die Planung der Ehe war ohne Zweifel auch in England nicht belanglos für die soziale Plazierung, und die Einrichtung einer Werkstätte war oft genug von der Mitgift der Ehefrau abhängig.108 Dabei handelte es sich aber um individuelle Strategien und nicht um eine institutionelle Bindung von Familienstand und sozialökonomischer Position. Die traditionelle Sozialverfassung des englischen Handwerks schrieb den Ledigenstand während einer im Vergleich zu Mitteleuropa langen Lehrzeit fest, aber sie enthielt keine Mechanismen, die das Heiratsverhalten der Gesellen hätte beschränken können. Die berufsspezifische Untersuchung bestätigt damit das Bild eines relativ einheitlichen Heiratsverhaltens der verschiedenen Gruppen unselbständig Beschäftigter, das sich schon in der sozial-regionalen Analyse abzeichnete. Auch in bezug auf den historischen Verlauf der Heiratskennziffern machten die Handwerksgesellen keine Ausnahme. Der Rückgang der Lehrzeit und ihres durchschnittlichen Abschlußalters und die steigende Flexibilität der Lehrverhältnisse zählten zu jenen Faktoren, die zum Absinken des Heiratsalters in der Industriellen Revolution beitrugen.

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ΧΠΙ. Heiratsmuster im mitteleuropäischen Handwerk In Mitteleuropa war für große Gruppen der Handwerksgesellen der Ledigenstand, häufig in Verbindung mit dem Wohnen im Meisterhaushalt, bis in das späte 19. Jahrhundert ein konstitutives Merkmal ihrer Lebensweise. Die Familienlosigkeit von Gesellen hat nicht nur in quantifizierbaren Quellen, sondern auch in Zunftrechten und Gewerbeverordnungen, in der Selbsteinschätzung der Gesellen und in sozialpolitischen Debatten ihren Niederschlag gefunden. Sie ist besonders gut geeignet, die sozialen Bedingungen von Ehebeschränkungen zu diskutieren. 1. Zur Herausbildung handwerklicher Heiratsmuster von der Frühen Neuzeit bis in das späte 18. Jahrhundert Die Entstehung von Heiratsbeschränkungen fur Handwerksgesellen ist beim gegenwärtigen Forschungsstand kaum genau zu verorten. Die wenigen Befunde für das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit ergeben ein widersprüchliches Bild. Für Helmut Bräuer waren »beweibte Gesellen« in den sächsischen Städten des 15. Jahrhunderts »keine Seltenheit«.1 Im Jahr 1500 versuchten die Leipziger Maler, Riemer und andere Innungen beim Rat sogar die Heiratspflicht für ihre Gesellen durchzusetzen.2 Die Auswertung von Türkensteuerregistern aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ergab für Städte wie Pirna und Zwickau Anteile verheirateter Gesellen zwischen 17 und 29 Prozent, mitunter waren auch wandernde Gesellen verheiratet.3 Auch in Stadtrechten und Zunftordnungen dieser Zeit wird die Eheschließung von Handwerksgesellen häufig angesprochen. Diese Quellen bieten Belege für die Existenz verheirateter, mit Frau und Kindern im eigenen Haushalt lebender Gesellen in einer großen Zahl von Gewerben.4 Ebenso enthalten sie aber auch Hinweise auf Bestrebungen von Zünften und Stadtobrigkeiten, die Eheschließung der Gesellen zu erschweren und sie in hausrechtlicher Abhängigkeit von den Meistern zu halten.5 Dies kam weniger in direkten Heiratsverboten zum Ausdruck, als in einer Reihe von Bestimmungen, die das Ziel hatten, verheiratete Gesellen zu diskriminieren: Sie sollten »nicht gefordert«, von den Meistern weder eingestellt noch mit Arbeit versorgt und auch nicht zur Meisterschaft zugelassen werden.6 185

Diese Hinweise ergeben kein klares Bild über das Ausmaß der Heiratsbeschränkungen für Gesellen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit und sie ermöglichen es nicht, einen eindeutigen Vergleich mit den Verhältnissen des 18. und 19. Jahrhunderts zu ziehen.7 Sie machen aber deutlich, daß die Heirat von Gesellen nicht als selbstverständlich galt, sondern als sozialpolitisches Problem angesehen wurde. Der Familienstand der Handwerksgesellen wurde zum Gegenstand von rechtlichen Regelungen und spielte im Ordnungsdenken von Zünften und Obrigkeiten keine geringe Rolle. Innerhalb dieses vielfältigen Bildes zeichnet sich schon früh eine quer durch das Handwerk verlaufende soziale Trennungslinie ab, die auch in den folgenden Jahrhunderten für das Heiratsverhalten der Gesellen bestimmend bleiben sollte. Wo handwerkliche Arbeit vorwiegend Lohnarbeit war und eine große Zahl von Gesellen wenigen Meistern gegenüberstand oder wo sie im Verlag organisiert und in kapitalistische Marktbeziehungen eingebunden wurde, war die Eheschließung der Gesellen nicht prinzipiell ausgeschlossen. Verheiratete Gesellen überwogen überall im »Heiligen Römischen Reich« im Baugewerbe, vor allem in den großen Bauhandwerken der Maurer und Zimmerer.8 Ebenso waren sie in einer Reihe von Textilgewerben anzutreffen, vor allem dort, wo diese für Verleger produzierten, die Gesellen im Stücklohn bezahlt wurden und zum Teil in ihren eigenen Wohnungen arbeiteten. Verheiratete Gesellen begegnen etwa bei den Krakauer Webern (1424), den Frankfurter Barchentwebern (1502), den Straßburger Leinewebern (1533), den Zwickauer »Tuchknappen« (1531) und vielen anderen mehr.9 Zu den auf Lohnarbeit beruhenden Baugewerben und einigen Bereichen der Textilerzeugung, in denen schon im späten Mittelalter »der Übergang vom Handwerksgesellen zum Lohnarbeiter recht fließend« zu werden begann,10 kamen zahlreiche weitere Handwerke, die nur in bestimmten Städten Formen der Lohnarbeit ausgebildet hatten und verheiratete Gesellen beschäftigten, wie zum Beispiel die Goldschläger in Augsburg oder die Seiler und Schiffszimmerer in Bremen und anderen Hafenstädten.11 Ehebeschränkungen herrschten dagegen im Bereich der eigentlichen »kleinen Warenproduktion« vor, also in der Mehrzahl jener Gewerbe, die in begrenztem Maße für lokale und ebenfalls limitierte Nachfrage produzierten, in denen die Zahl der Gesellen jene der Meister in der Regel nicht überstieg, und wo großes Interesse bestand, eine Balance zwischen Produzenten und Konsumenten aufrechtzuerhalten.12 Allerdings war die Linie zwischen diesen beiden Formen handwerklicher Produktion am Beginn der Neuzeit nicht sehr trennscharf. Verheiratete Gesellen waren etwa 1531 in Zwickau auch bei den Bäckern, Taschnern und Schmieden anzutreffen, und umgekehrt sind für eine Reihe von Städten Heiratsbeschränkungen auch in den Textilgewerben belegt.13 Unterschiedliche Muster bildeten sich tendentiell heraus, ließen aber in der Praxis noch einen breiten Spielraum bestehen. 186

So vielfältig sich das Heiratsverhalten der Gesellen in dieser Periode darstellt, so schwierig ist es, die weitere Entwicklung genauer zu erfassen. Einige Hinweise sprechen dafür, daß vom letzten Drittel des 16. Jahrhunderts an Heiratsbeschränkungen an Bedeutung gewannen. Es deutet sich eine »Reintegration« der Gesellen in die Meisterhaushalte an, die jedoch von einem Anwachsen vorstädtischer und ländlicher Pfuscher und »Bönhasen« begleitet wurde.14 Ganz allgemein sieht die Handwerksgeschichte in den vielfältigen Monopolisierungs- und Abschließungsbestrebungen der Zünfte ein grundlegendes Merkmal der mitteleuropäischen Gewerbeentwicklung vom späten 16. bis zum späten 18. Jahrhundert. Diese Bestrebungen werden als Reaktionen auf wirtschaftliche Schwierigkeiten und als Versuche interpretiert, die ökonomischen und demographischen Krisen jener Periode zu bewältigen.15 Ihre Auswirkungen betrafen viele Aspekte der handwerklichen Lebensweise: ein erschwerter Zugang zu Meister-, Bürger- oder Niederlassungsrechten bis zum numerus clausus, die Einführung und Ausdehnung des Wanderzwanges, ein zunehmendes Gewicht und eine strengere Kontrolle von moralischen Standards und anderes mehr. Einiges davon bewirkte direkt eine Verzögerung der Eheschließung, wie z.B. die Wanderschaft. Darüberhinaus ist anzunehmen, daß in diesem Prozeß die Wertschätzung des Ledigenstandes der Gesellen stieg und Maßnahmen zu seiner Durchsetzung dichter und rigider wurden.16 Dies entspräche zumindest der Logik eines ökonomischen Modells, das Klaus Bade - aufbauend auf die Krisentheorien von Labrousse und Abel - für das mitteleuropäische Handwerk des 17. und 18. Jahrhunderts entwickelte. Seiner Ansicht nach wurde die Lage der Gesellen »wesentlich dadurch bestimmt, daß die Nahrung der Meister im Handwerk bei starrem Marktgefüge und krisenanfälliger Marktlage nur über flexible Beschäftigungspolitik und Nachwuchsrekrutierung zu sichern war«.17 Eine »flexible Beschäftigungspolitik« wurde wesentlich begünstigt durch die Aufspaltung der handwerklichen Arbeitskräfte in einen dauerhaft ansässigen und einen ständig fluktuierenden oder zumindest mobilitätsbereiten Teil.18 Ehestand und Seßhaftigkeit galten ebenso als zusammengehörig wie Mobilität und Ledigenstand. In den Gewerben der »kleinen Warenproduktion« verlief diese Trennlinie zweier Existenzformen zwischen Meistern und Gesellen. Hier bildete sich ein enger Konnex von Selbständigkeit, Seßhaftigkeit und Familiengründung heraus, dessen Kehrseite der ebenso dichte Zusammenhang zwischen Unselbständigkeit, permanenter regionaler Mobilität und Ledigenstand bildete. Ständige legale Ansässigkeit, politische Berechtigung in der lokalen Gesellschaft, Heirat und selbständige Haushaltsführung waren eng an die Meisterschaft gebunden und auf sie beschränkt, während mangelnde Niederlassungsrechte, räumliche Fluktuation und Famiüenlosigkeit das soziale Profil der Gesellen bestimmten. 187

In den auf Lohnarbeit beruhenden Handwerken, in denen die Eheschließung nicht ausgeschlossen war, verlief die Trennungslinie quer durch die Gesellen. Hier diente der Wanderzwang und die Handhabung des politischen Ehekonsenses durch die Stadtverwaltungen zum Hinausschieben der Heirat und zur Disziplinierung der Ehekandidaten. Auch hier bestand aber der Konnex von Seßhaftigkeit und Familienstand: »Ledig« und »verheiratet« wurden zu Synonymen für »fremd« und »einheimisch«.19 Die regionale Herkunft der Bremer Handwerksgesellen während des 18. Jahrhunderts läßt etwa die folgende Differenzierung nach Gewerben erkennen: »Wurde die Ehelosigkeit gefordert, überwogen die aus der Fremde für einen gewissen Zeitraum auf ihrer Wanderschaft nach Bremen gekommenen Gesellen. ... Genau umgekehrt zeigt sich die landsmannschaftliche Zusammensetzung bei den Zünften, die die Ehe gestatteten.« Bei Maurern und Zimmerleuten überwogen die einheimischen und verheirateten Gesellen bei weitem, in den Textilgewerben waren Fremde nahezu unbekannt.20 Wenn sich Tendenzen für Ehebeschränkungen auch für das gesamte Handwerk nachweisen lassen, so bewirkten sie doch zugleich, daß die Bruchlinie zwischen den Gewerben mit Lohnarbeit bzw. tendentiell kapitalistischer Produktion und verheirateten Gesellen auf der einen, und der »kleinen Warenproduktion« mit ihren ledigen Gesellen auf der anderen Seite schärfer zur Ausprägung kam. Für das 18. Jahrhundert stehen für eine Reihe von Städten im deutschsprachigen Raum Daten zur Verfügung, die es gestatten, das Ergebnis dieser Entwicklung einzuschätzen. In Augsburg war das von 1722 bis 1805 bestehende »Kunst-, Gewerbs- und Handwerksgericht« für die Behandlung von Heiratsgesuchen zuständig.21 Es genehmigte den Gesellen nach den folgenden Kriterien die Heirat: Sie sollten durch Fleiß und Qualifikation die Gewähr für spätere Verdienstmöglichkeiten geben und dies durch eine Fürsprache ihrer Meister nachweisen; sie sollten über ein bestimmtes Vermögen als Polster für Notzeiten verfügen; und schließlich sollten ihre Verlobten in der Lage sein, durch »weibliche Handarbeiten« zum Familienverdienst beizutragen.22 De facto waren es aber vor allem die Gesellen der Maurer, Zimmerer, Buchdrucker und Kattundrucker, denen im 18. Jahrhundert die Heiratserlaubnis erteilt wurde, und die als »Beisitzer« zeitlich befristete Wohn-, Arbeits- und Fürsorgerechte in der Stadt erhielten.23 1794 stellte das Handwerksgericht sogar fest, daß schon bei der Berufswahl der Lehrlinge die Chancen auf eine spätere Heirat mitbedacht wurden: Die Söhne armer Bürger würden »deßwegen das Maurer Handwerk lernen, weil bey demselbigen die Gesellen sich verheurathen und ansäßig machen können, welches nur bei einig wönigen Professionen seyn kann«.24 In Bremen war im 18. Jahrhundert den Gesellen des Haus- und Schiffbaus und der Textilgewerbe die Heirat gestattet. Tuchmacher, Strumpfwirker und Raschmacher waren meist verheiratet und arbeiteten zu Hause im Akkord, 188

wobei ihre Frauen und Kinder mit der Vorbereitung der Wolle und des Garns beschäftigt waren. In der Leder-, Holz- und Metallverarbeitung war die Eheschließung der Gesellen nicht die Regel, sie standen bis 1800 überwiegend beim Meister in Kost und Logis. 25 Verheiratete Gesellen waren demnach nur in einer kleinen Anzahl von Gewerben üblich, allerdings waren dies gerade jene mit einer großen Anzahl unselbständiger Arbeitskräfte. Deshalb waren in Bremen im 18. Jahrhundert insgesamt zwei Drittel aller Gesellen in Gewerben beschäftigt, die ihre Heirat nicht prinzipiell ausschlossen.26 Derartige Angaben lassen sich nach Belieben verlängern: Das Durlacher Einwohnerverzeichnis von 1766, die Steuerregister der Stadt Münster aus dem Jahr 1770, die Münchener »Dachsberg'sche Volksbeschreibung« des Jahres 1771, die Kölner Quartierszählung von 1799, die Berliner Trauungsmatriken des 18. Jahrhunderts27 - sie alle fuhren zu demselben Ergebnis: Im Baugewerbe, in der proto-industriellen Textilerzeugung und wenigen anderen Gewerben gehörte es bei allen auch hier vorhandenen Ehebeschränkungen zur gesellschaftlichen Norm, daß Gesellen eine Familie gründeten und einen eigenen Haushalt führten. Hier überwogen jene Gesellen, die - wie es die Bremer Tuchmacher Ende des 18. Jahrhunderts treffend formulierten »bereits verheuratet sind und eine etablierte Haushaltung haben, von Eltern, die ebenfalls Gesellen waren, geboren, und von Jugend auf sozusagen dazu bestimmt (...) Gesellen zu bleiben«.2® Im übrigen Kleingewerbe war die Ehelosigkeit der Gesellen die Norm, wenn sie auch ohne Zweifel häufig durchbrochen wurde. Was Klaus Schwarz für Bremen feststellte, läßt sich m.E. für das gesamte mitteleuropäische Handwerk verallgemeinern: »Die bremischen Quellen enthalten keine direkten Aussagen darüber, wann und wodurch der grundsätzliche Unterschied in der Haltung der verschiedenen Zünfte zur Eheschließung ihrer Gesellen entstanden ist.... Jedenfalls war im 18. Jahrhundert eine schon so gefestigte Tradition vorhanden, daß sie jeden Wandel aufs stärkste behinderte.«29

2. Ehebeschränkungen als Resultate widersprüchlicher Interessenlagen von Meistern, Gesellen und Obrigkeiten Wenn auch die konkreten Entstehungsbedingungen dieser Traditionen kaum unmittelbar aus den Quellen abzuleiten sind, so bieten sie doch genügend Informationen, um ihre soziale Logik aufzuschlüsseln. Die Heiratsbeschränkungen für Gesellen können als Resultate komplizierter und widersprüchlicher Interessenslagen aller beteiligten sozialen Gruppen, Institutionen und Individuen betrachtet werden, die in zahllosen Konflikten und Ordnungsbestrebungen zum Ausdruck kamen und solcherart in handwerksgeschichtlichen Quellen ihren Niederschlag gefunden haben.30 189

Meister und Zünfte lassen ein durchaus ambivalentes Interesse am Familienstand ihrer Gesellen erkennen. Verheiratete und ortsansässige Gesellen wurden als beständiges Arbeitskräftepotential geschätzt. Während die befristete Aufnahme wandernder Gesellen stets ein Moment der Zufälligkeit und Unwägbarkeit in Hinblick auf ihre Anzahl und Qualifikation beinhaltete, waren ansässige Verheiratete stets vorhanden und ihre Arbeitseinstellung den Meistern bekannt.31 Lebten sehr viele verheiratete Gesellen in einer Stadt, befanden sie sich auf dem Arbeitsmarkt in einer Konkurrenzsituation und mußten sich mit niedrigen Löhnen zufrieden geben.32 Die Verantwortung für ihre Familien zwang sie zur Suche nach kontinuierlichem Geldverdienst, und die wichtigste Protestform der Gesellen, der Boykott eines Gewerbes durch Auszug aus der Stadt, stand ihnen nicht zur Verfügung. Meistern und Stadtobrigkeiten erschienen verheiratete Gesellen ruhiger und fügsamer als die ledigen, die jederzeit ihr Bündel schnüren konnten. Uber die Bremer Hutfiltergesellen hieß es etwa zu Ende des 18. Jahrhunderts, als »hiesige angesessene« und verheiratete Bürger hätten sie keine andere Wahl, »als geduldig alle und jede Bedrückung zu ertragen«.33 Vor allem im Textilgewerbe war es für die Meister auch durchaus nützlich, verheiratete Gesellen zu beschäftigen, deren Frauen und Kinder an der Vorbereitung des Garnes mitarbeiteten.34 Für die Wiener Seidenerzeugung ist vom späten 18. Jahrhundert bis in den Vormärz die Dominanz der »verheyrateten und alten Gesellen« belegt, »welche von Weib und Kindern in der Arbeit unterstützt werden können«.35 Diesen Vorteilen standen aus der Sicht der Meister aber eine Reihe von Nachteilen gegenüber. In Zeiten von Arbeitsmangel bildeten verheiratete und ortsansässige Gesellen ein soziales Problem, das sich mit ledigen und mobilen Gesellen bequem vermeiden ließ.36 Waren verheiratete Gesellen auch fügsam und oft gezwungen, niedrige Löhne zu akzeptieren, so mußte ihnen doch mehr bezahlt werden als den ledigen, die nur einen geringen fixen Geldlohn erhielten. Kost und Logis, die darüberhinaus geboten wurden, waren demgegenüber höchst flexible Lohnbestandteile, an denen sich leicht sparen ließ.37 Zudem hatten die verheirateten Gesellen bei Lohnkämpfen zumindest das moralische Argument auf ihrer Seite, daß sie schließlich mit ihren Löhnen auch Frauen und Kinder zu ernähren hätten.38 Niedrige Löhne konnten in niedrige Preise umgesetzt werden, was nicht nur den Meistern Marktvorteile brachte, sondern auch ihre Kunden zufrieden stellte. Diese brachten durchaus auch ihre Interessen in die Debatten um den Familienstand der Gesellen ein. Die Bremer Krämer forderten z.B. im Jahr 1691 die Schnürmacher auf, an Stelle der verheirateten doch lieber ledige Gesellen zu beschäftigen, um solcherart die Preise senken zu können.39 Bezahlten die Meister den verheirateten Gesellen aber zu geringe Löhne, so schufen sie sich damit ein neues Problem. Ließ sich mit dem normalen 190

Verdienst der Lebensunterhalt nicht gewährleisten, so waren die Gesellen zu »geheimem Nebenverdienst« gezwungen. Dieser mochte zwar alle möglichen Tätigkeiten umfassen, aber niemand konnte ausschließen, daß die im eigenen Haushalt lebenden Gesellen den Meistern ins Handwerk pfuschten und ihnen unerwünschte Konkurrenz machten.40 Der Arbeitsmarkt ließ sich jedenfalls sehr viel leichter kontrollieren, wenn die Meister ihre Gesellen im eigenen Haus wußten, das sie abends absperren konnten. Ein letzter Punkt trifft vor allem für jene Gewerbe zu, die im 18. Jahrhundert versuchten, eine Begrenzung der Zahl der Meisterstellen durchzusetzen. Die geforderte Ehelosigkeit war hier eine zusätzliche Hürde auf dem Weg zur Meisterschaft, und wo die »Einheirat« in die Zunft verlangt wurde, erwies sie sich als ideales Instrumentarium zur sozialen Absicherung von Witwen oder Töchtern. Ehelosigkeit im Interesse einer späteren Meisterstelle war hier zugleich der Verzicht auf freie Partnerwahl.41 Die Weigerung, bereits verheiratete Gesellen zur Meisterschaft zuzulassen, war überhaupt das wirkungsvollste Instrument der Zünfte, auf das Heiratsverhalten der Gesellen Einfluß zu nehmen. Im allgemeinen bildeten Artikel in den Zunftordnungen, die die Bewerbung um eine Meisterstelle an den Ledigenstand knüpften, jene Maßnahme, die in der historischen Interpretation als »Eheverbot« erscheint. Gerade diese Interessen waren aber in den einzelnen Gewerben ganz unterschiedlich ausgeprägt. »Wo nur geringe Aufstiegschancen aber großer Bedarf an Arbeitskräften bestand, durfte der Geselle heiraten. Wo aber die Ämter sich der zahlreichen Anwärter auf die Meisterschaft kaum erwehren konnten, war jedes Mittel zu ihrer Dezimierung recht, sei es nun die Schließung des Amtes, der Zwang zur Einheirat oder die Verpflichtung zur Ehelosigkeit.«42

Nicht nur bei den Meistern, sondern auch bei den Gesellen selbst war die Einschätzung ihres eigenen Familienstandes komplex und von widersprüchlichen Interessen geprägt. Der lange währende Ledigenstand stellte sie vor schwere sexuelle Probleme, zumal mit den Heiratsverboten auch Forderungen nach Keuschheit und völliger sexueller Abstinenz vor der Ehe einhergingen.43 Das Wohnen beim Meister unterwarf sie einer direkten hausrechtlichen Kontrolle und schränkte Möglichkeiten zur individuellen Lebensgestaltung ein. War auch die materielle Versorgung im Meisterhaushalt gesichert, so doch nicht notwendig auf eine befriedigende Weise: An schlechtem Essen und unzulänglicher Unterbringung entzündeten sich zahllose Konflikte. Ebenso war hier die Verdienstmöglichkeit beschränkt. Ganz allgemein bedeuteten Ledigenstand und hausrechtliche Abhängigkeit in der ständischen Gesellschaft soziale Inferiorität, die mit zunehmendem Alter bedrückend empfunden werden mochte.44 Auf der anderen Seite waren wesentliche Elemente der Gesellenkultur auf Familienlosigkeit zugeschnitten. Kollektive Freizeitaktivitäten mit ihren ri191

tuellen Formen der Geselligkeit entsprachen dem Lebensstil Lediger besser als dem Verheirateter.45 Sie bildeten auch die Basis einer starken Gruppenloyalität, die bei den ledigen Gesellen nicht mit den Vergesellschaftungsformen von Familie, Verwandtschaft oder Nachbarschaft in Konflikt geraten und damit ein hohes Maß an Exklusivität erreichen konnte. Auf Gruppenbindung und Ledigenstand beruhte auch die stärkste Waffe der Gesellen zur Verteidigung ihrer materiellen Interessen, vor allem aber ihres »symbolischen Kapitals der Ehre«: der Auszug und mitunter langfristige Boykott des Gewerbes einer bestimmten Stadt.46 Verheiratete und ortsgebundene Gesellen gefährdeten dagegen die Flexibilität und den Zusammenhalt eines überregionalen Arbeitsmarkts. Familienlosigkeit mochte es auch subjektiv leichter machen, auch einen lange dauernden Gesellenstand als transitorisch zu definieren und an dem Ziel, schließlich doch eine Meisterstelle zu erlangen, festzuhalten. Für diejenigen, die sich unter diesen Bedingungen doch zur Heirat entschlossen, beinhaltete dies massive soziale Konsequenzen. In den Gewerben, die verheiratete Gesellen zu verhindern suchten, bedeutete die Familiengründung das Ausscheiden aus dem sozialen Netz und dem Statussystem der Zunft. Sie zwang entweder zum Wechsel des Berufs oder zu einer halblegalen Grenzexistenz als Pfuscher, Bönhase usw.47 Beides war dem massiven Widerstand der Zünfte ausgesetzt. Die Augsburger Handwerksgesellen mußten etwa vor der Aufnahme einer unzünftigen Tätigkeit formal ihrem alten Gewerbe »abschwören«. Die Meister versuchten derartige »Renunziationen« zu verhindern, da sie nicht zu Unrecht befürchteten, ehemalige Gesellen, denen ihre Qualifikation und ihre Werkzeuge ja nicht zu nehmen waren, würden unweigerlich immer wieder in den Pfusch verfallen.48 Vor den Gesellen selbst stand die Frage, welche nicht-zünftige Beschäftigung ihnen überhaupt zur Verfugung stünde. Wo Manufakturen bestanden, boten diese Arbeitsplätze, aber ihre Zahl war im 18. Jahrhundert nicht allzu groß.49 Der Taglohn bot nur wechselhaften und unregelmäßigen Verdienst und keinerlei soziale Sicherheit. Außerdem hatten es die Gesellen mancher Gewerbe schwer, ungewohnte körperliche Arbeit zu bewältigen.50 Eine Alternative, die im 18. Jahrhundert überall an Bedeutung gewann, war der Eintritt als Soldat in städtische Wachen oder Garden. Auch hier war aber der Sold üblicherweise so niedrig, daß er durch Pfuscharbeit im alten Gewerbe ergänzt werden mußte.51 Daneben bestanden auch legale Möglichkeiten, das erlernte Gewerbe auch außerhalb der Zunft auszuüben. In Bremen, Rostock und vielen anderen Städten war in einer Reihe von Gewerben Gesellen, die wegen ihrer Heirat aus dem Amt ausgeschieden waren, die Durchführung bestimmter Reparaturarbeiten gestattet: als »Altflicker« bei den Schustern, als »Altbinder« bei den Tonnenmachern und anderes mehr. Da alle diese Arbeiten von der den Meistern vorbehaltenen Neuproduktion kaum sauber abzugrenzen waren, 192

führten sie zu ständigen Angriffen auf die verheirateten Gesellen: Sie wurden von Meistern und Obrigkeiten mit Geldstrafen, Pfändungen von Werkzeugen oder Waren, Hausdurchsuchungen und anderen Schikanen verfolgt.52 Das Angewiesensein auf Einkommen aus Lohnarbeit schuf fur alle Gesellen, auch für diejenigen in den Gewerben mit Heiratserlaubnis, ein gemeinsames Problem. Kontinuierliches Einkommen ließ sich kaum in einem einzigen Beruf erreichen, sondern zwang zum flexiblen Wechsel zwischen verschiedenen Tätigkeiten. Die Augsburger Zimmerer des 18. Jahrhunderts verdingten sich im Winter als Garnsieder oder Taglöhner in den Brauereien; noch zur Mitte des 19. Jahrhunderts verbrachten in vielen Teilen Preußens die Maurer die Wintermonate am Webstuhl, und umgekehrt heuerten Bremer Weber im Sommer bei der Seefahrt an.53 Die Unbeständigkeit des Einkommens und die Vielfalt der Beschäftigungen bildeten dabei nicht nur ein materielles Problem. Sie erzeugten einen Konflikt mit einem wesentlichen Element traditioneller handwerklicher Identität, nämlich dem Stolz auf Arbeit und Beruf, der in gesteigerter Form in einem engen Kanon von erlaubten Arbeitsformen, Werkzeugen und Rohstoffen zum Ausdruck kam.54 Für verheiratete Gesellen war Arbeit sehr viel stärker ein Lohnverhältnis als eine umfassende kulturelle Praxis. Der Schritt zum Traualtar brachte damit nicht nur für das einzelne Individuum gravierende und irreversible soziale Konsequenzen, sondern war darüber hinaus das Infragestellen einer traditionellen Kultur bzw. ein sichtbares Zeichen ihrer Brüchigkeit. Das Heiratsverhalten barg aus diesem Grund ein enormes Konfliktpotential in sich. In den Gewerben, in denen die Ehelosigkeit die Norm war, leisteten die Gesellen selbst einen wesentlichen Beitrag zu ihrer Einhaltung und Kontrolle und ebenso zur Diskriminierung jener Kollegen, die sich ihr entzogen hatten. Vom späten 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts sind in zahlreichen Gewerben Rebellionen gegen »Weibskerle« oder »Weibergesellen« überliefert. Es handelte sich um Aktionen von ledigen Gesellen, die sich weigerten, neben verheirateten zu arbeiten oder die Strafen für jene Meister durchzusetzen versuchten, die verheiratete in ihren Werkstätten duldeten.55 Eine ebenfalls häufig praktizierte, mildere Form der Diskriminierung bestand darin, Verheiratete zu akzeptieren, solange sie nicht den Arbeitsplatz eines Ledigen gefährdeten, aber die sofortige Entlassung jedes »beweibten Gesellen« dann vorzusehen, wenn ein »ehrlicher Wanderbursch« Arbeit suchte.56 Die Welle der Auflösung von Gesellenbruderschaften in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts brachte für heiratswillige Gesellen einige Erleichterungen.57 Die Vehemenz, mit der die Ledigen im 18. und frühen 19. Jahrhundert ihrer Ablehnung der Verheirateten Ausdruck verliehen, ist sicherlich nur aus der Überlagerung aller genannten Faktoren zu erklären. Die Verdrängung einer möglichen, vielleicht sogar drohenden, aber ungeliebten Lebensperspektive scheint dabei aber eine Schlüsselrolle gespielt 193

zu haben. Aus all dem folgt, daß die Gesellen der kleinen Warenproduktion als Kollektiv ihre Familienlosigkeit nicht nur akzeptierten, sondern auch in die Selbstdefinition ihres sozialen Status einbezogen, als Individuen aber häufig genug in Konflikt mit diesem sozialen System gerieten und seine Restriktionen leidvoll erlebten. In den Gewerben, in denen die Heirat der Gesellen die Regel oder zumindest nicht prinzipiell ausgeschlossen war, stellte das Verhältnis der Verheirateten zu den Ledigen ein permanentes Konfliktfeld dar. Hier standen sich tatsächlich zwei unterschiedliche Lebensstile gegenüber: Berufsstolz gegen flexible Suche nach Verdienst; Mobilität und überregionale Beziehungen gegen Ortsgebundenheit; Geselligkeit und Gruppenloyaliät gegen Sparsamkeit und Familienbezug; all dies überlagerte sich noch mit dem generationellen Gegensatz zwischen jung und alt. Ein schönes Beispiel für diese Gegensätze bildet eine Eingabe der verheirateten Goldschlagergesellen in Augsburg aus dem Jahre 1694, in der sie über die zu hohen Beiträge zu Geschenk-und Auflagegeldern sowie über die Form der Gesellenzusammenkünfte klagten: Sie würden nur dazu führen, »daß man durch vil und übermäßiges Essen und Trincken dem Wirt den Beutel spiket und den andern Tag darauf gar schwere Köpf oder wol gar zu gewarten hat, daß man nichts arbeiten könne, - ja es werden wol gar bey solchen Conviciis wegen etwa einiger Sparsamkeit wir haushäbige, deren etliche von 40, 50 Jahren, von denen ledigen und Jungen außgelacht, verspottet... und trachten die Spesen hoch und toll genug hinauf zu treiben, nur damit uns der Beutel desto leerer und desto verdrießlicher fallen möge.«58

Unterschiedliche Interessen und Lebensstile führten auch dazu, daß sich verheiratete und ledige Gesellen eines Handwerks getrennte Organisationen schufen. Schon im 18. Jahrhundert bestanden bei den Bremer Strumpfwirkern und Maurern besondere Bruderladen für Verheiratete und Ledige. Während des 19. Jahrhunderts gab es bei den Zimmerern in allen größeren deutschen Städten getrennte Organisationen für »Einheimische« und »Fremde«, nicht nur in den alten Bruderschaften, sondern auch in den neuen Gewerkschaften.59 Die verheirateten Gesellen in diesen Gewerben versuchten nun ihrerseits auf Kosten der ledigen soziale Sicherheit zu gewinnen. Genau umgekehrt, wie dies in den Gewerben mit Eheverboten der Fall war, versuchten sie bei den Meistern durchzusetzen, daß diese bei Arbeitsmangel in erster Linie die Ortsansässigen und Verheirateten beschäftigten.60 Sie wandten sich aber nicht nur gegen die Konkurrenz der Ledigen, sondern waren zugleich bestrebt, auch ihrerseits Ehebeschränkungen durchzusetzen. Verheiratete Gesellen traten für die Verlängerung der Wanderpflicht und für die rigidere Einhaltung der Bestimmung ein, daß vor absolvierter Wanderung nicht geheiratet werden dürfte.61 Sie appellierten an die städtischen Verwaltungen, Heiratsgesuche ihrer ledigen Kollegen abzulehnen oder verheirateten Zuwanderern die Ansässigmachung zu verweigern. Die stets dahinter stehende 194

Sorge war, wie es die Nürnberger Zimmergesellen 1804 formulierten, daß »der verheuratheten Gesellen allhier allzuviele werden dürften, so, daß sie am Ende nicht Arbeit genug finden könnten.«62 Gerade solche Formulierungen drücken aus, wie tief Heiratsbeschränkungen als soziale Regelmechanismen in der Vorstellungswelt der mitteleuropäischen Gesellschaft verankert waren: Auch Gesellen, die sie vielleicht selbst gerade erst mit Mühe überwunden hatten, erschienen sie als adäquate Mittel zur Lösung ihrer sozialen Probleme. Neben Zünften und Gesellenbruderschaften bildeten Magistrate oder andere städtische Verwaltungsorgane die dritte Institution, die auf das Heiratsverhalten der Gesellen wesentlichen Einfluß nahm. Bis zur Aufhebung der politischen Ehekonsense fiel die Erteilung der Heiratserlaubnis in ihre Kompetenz, und sie entschieden letztendlich darüber, wie leicht oder schwer die Eheschließung im konkreten Einzelfall war. Die Magistrate hatten bei ihren Entscheidungen nicht nur die Interessen der betroffenen Individuen gegen die der wichtigen sozialen Gruppen abzuwägen, sondern auch die Bestimmungen unterschiedlicher Rechtskreise auszubalancieren: Zunftrechte enthielten unmittelbar auf den Familienstand der Gesellen bezogene Bestimmungen; Stadtrechte nahmen mittelbar über Niederlassungsregelungen Einfluß; und drittens war das staatliche Gewerbe- und Eherecht relevant. Keiner dieser Rechtskreise war in bezug auf das Heiratsverhalten der Gesellen homogen, und ebenso war ihre Beziehung zueinander widersprüchlich.63 Auf staatlicher Ebene versuchte die Reichsgesetzgebung vom späten 17. Jahrhundert an die in lokalen Zunftrechten verfügten Ehebeschränkungen aufzuheben. Eindeutig ausformuliert wurde dies im Regensburger Reichsgutachten von 1731, das jegliche Diskriminierung von verheirateten Gesellen verbot.64 In den meisten deutschen Territorialstaaten entwickelte sich dagegen vom Ende des 18. Jahrhunderts an eine widersprüchliche Rechtspolitik, wie schon im 1. Abschnitt im Zusammenhang mit dem politischen Ehekonsens gezeigt wurde. Es entsprach den merkantilistischen und populationistischen Prinzipien, die »närrischen Handwerksbräuche,... keine verheirateten Gesellen zu fordern«, zurückzudrängen.65 In Gewerbeordnungen wurde den Gesellen allgemein oder zumindest einzelner Gewerbe (meist der Textilindustrie) explizit die Heirat gestattet. Die Einführung von Schutz-Dekreten, Gewerbebefugnissen und ähnlichem sollte den Verheirateten eine legale Arbeit außerhalb der Zünfte ermöglichen.66 Diese Formen erlebten in den deutschen Territorien, die in den Revolutionskriegen unter französische Herrschaft gerieten, eine kurzfristige Blütezeit. Nach den unter französischem Einfluß stehenden Gewerberechten konnten sich unzünftige verheiratete Gesellen als »Patentmeister« anmelden. Unmittelbar nach der Restauration war ihre Existenzberechtigung allerdings wieder heftig umstritten.67 Auf der anderen Seite richteten sich die politischen Ehekonsense, wo sie 195

eingeführt wurden, in besonderem Maß gegen Handwerksgesellen. Auch diese Tendenz fand Eingang in einzelne Gewerbeordnungen, wie zum Beispiel in jene des Königreichs Hannover vom Jahre 1847: »Gesellen dürfen nicht zur Verheiratung zugelassen werden. Es kann jedoch von der Obrigkeit eine Ausnahme zugelassen werden, insbesondere für die Gesellen der Bauhandwerke und solcher sonstigen Gewerbe, welche eine im Verhältniß zur Zahl der Meister große Zahl von Gesellen erfordern.« 68 Das Hamburger General-Reglement von 1835 legte fest: »Das Heiraten der Gesellen bleibt auch fernerhin durchaus verboten«. 69 Im restaurativen Klima des Vormärz wurde auch in einer Reihe von Gemeinde-, Stadt- oder Handwerksordnungen die Wohnpflicht der Gesellen bei den Meistern neuerlich festgeschrieben, wie z.B. in Frankfurt, Bremen und Leipzig. 70 Wo in der »kleinen Warenproduktion« allerdings kapitalistische Marktbeziehungen eindrangen und zu einer stärkeren sozialen Differenzierung innerhalb der Meisterschaft führten, verstärkten sich auch gegenteilige Tendenzen. Für diejenigen Meister, die ihre Werkstätten ausbauten und mit einer größeren Zahl von Gesellen arbeiteten, konnte vor allem deren Mitwohnen auch Nachteile mit sich bringen. Von ihnen kamen mitunter auch in den Gewerben, in denen die Gesellen traditionellerweise ledig waren, erste Proteste gegen die Wohnpflicht. Was sie daran störte, kommt in einer Petition zum Ausdruck, die 111 Bremer Schneidermeister 1835 in den Senat gerichtet hatten: Sie sahen im Mitwohnen der Gesellen nichts als »lästige Geschäftsschranken, als Störung des häuslichen Glücks und als Hinderung des allgemeinen Wohlstands.« 71 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestand damit in den deutschen Territorien ein kompliziertes Neben- und Durcheinander unterschiedlicher Rechtsprinzipien in bezug auf den Familienstand der Gesellen, die sich gegenseitig aufheben aber auch verstärken konnten. Eine liberale Gewerbegesetzgebung in Preußen ließ sich etwa mit restriktiven städtischen Niederlassungsregelungen unterlaufen. Wo sich umgekehrt Gewerberecht, Heimatrecht und politischer Ehekonsens überlagerten, wie in Bayern von den 1830er bis in die 1860er Jahre, konnten besonders drückende Bedingungen entstehen, die Heirat und Niederlassung der Gesellen fast unmöglich machten. 72 Die Rechtslage war vor allem für jene Individuen relevant, die bereit waren, ihre den sozialen Normen widersprechende Heiratsabsicht durchzusetzen und gegebenenfalls einzuklagen. Wer mit wiederholten und hartnäckigen Ansuchen um den Ehekonsens den Behörden lästig fiel, hatte einen beschwerlichen, aber nicht aussichtslosen Weg eingeschlagen.73 Die Interessen der beteiligten sozialen Gruppen scheinen dagegen wesentlich homogener gewesen zu sein, als die widersprüchliche Gesetzeslage. Zumindest für das Königreich Hannover kam Jörg Jeschke zu dem Schluß, daß bis in die 1860er Jahre bei Gesellen, Meistern und Magistraten der Ledigenstand der Gesellen als 196

soziale Norm außer Frage stand: »Auffallend war für alle drei beteiligten Interessengruppen, daß das Heiratsverbot allgemein akzeptiert wurde; Bestrebungen, es aufzuheben, wurden von keiner Seite laut.«74

3. Zur Verbreitung der traditionellen handwerklichen Heiratsmuster im 19. Jahrhundert Wieweit diese Haltung noch im 19. Jahrhundert die Praxis bestimmte, läßt sich wiederum am besten mit quantifizierbaren Quellen untersuchen. Tabelle 20 bietet Beispiele aus Konstanz, Zürich, Wien und Zagreb.75 Hier zeigt sich, daß die beiden traditionellen Heiratsmuster des mitteleuropäischen Handwerks, die sich spätestens im 17. und 18. Jahrhundert herausgebildet hatten, zur Mitte des 19. Jahrhunderts ungebrochen in Kraft waren. In den zahlenmäßig wichtigsten Branchen der kleinen Warenproduktion, bei den Schustern und Schneidern, Tischlern und Schlossern, Bäckern und Fleischern, waren verheiratete Gesellen nur höchst selten anzutreffen. Maurer, Zimmerer und die Gesellen der Textilgewerbe wiesen dagegen hohe Verehelichtenanteile auf. Dies ist ein eindeutiger quantitativer Befund, freilich anhand von Beispielen, die sich im Süden und Südosten der deutschsprachigen Städtelandschaft befinden. Soweit in der Literatur quantitative Evidenz geboten wird und soweit sich zeitgenössische Statistiker zu diesem Problem äußerten, weist auch der Norden des deutschen Sprachraums keine anderen Verhältnisse auf. In Leipzig waren 1831 von den insgesamt 1911 »Zunftgesellen« der Stadt ganze 70 verheiratet; jeweils ein bis zwei Prozent bei den Schustern, Schneidern und Tischlern, in vielen Gewerben aber kein einziger.76 In Kiel waren von 1803 bis 1864 in einer bemerkenswerten Stabilität 64 Prozent aller Gesellen, Gehilfen und Lehrlinge bei ihren Arbeitgebern wohnhaft.77 Für das gesamte »nördliche und zollvereinte« Deutschland stellte der Statistiker Viebahn 1868 fest: »Verheiratete Gesellen kommen bei den Bauhandwerken ... häufig vor; bei anderen Handwerken werden sie nicht gern gesehen.«78 All dies weist auf eine außerordentlich hohe Persistenz der traditionellen handwerklichen Heiratsmuster hin. Zugleich darf aber nicht übersehen werden, daß sich unter einer stabil erscheinenden Oberfläche um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein grundlegender Wandel anzubahnen begann, der von zeitgenössischen Sozialwissenschaftlern als »Übergang zu einem verheirateten Gesellenstand« bezeichnet wurde.79 Dieser Prozeß vollzog sich jedoch nach Branchen und Regionen, nach zeitlichem Beginn und Dynamik in einer höchst unterschiedlichen Weise, so daß vor allem das dritte Viertel des 19. Jahrhunderts von einem bunten Durcheinander alter und neuer Heiratsmuster geprägt war. 197

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