Kanadische Verfassungsinstitutionen im Wandel: Unitarisierung durch Grundrechtsschutz [1 ed.] 9783428473977, 9783428073979


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Kanadische Verfassungsinstitutionen im Wandel: Unitarisierung durch Grundrechtsschutz [1 ed.]
 9783428473977, 9783428073979

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Schriften zum Internationalen Recht Band 57

Kanadische Verfassungsinstitutionen im Wandel: Unitarisierung durch Grundrechtsschutz

Von

Bettina Zimmermann

Duncker & Humblot · Berlin

BETTINA ZIMMERMANN

Kanadische Verfassungsinstitutionen im Wandel: Unitarisierung durch Grundrechtsschutz

Schriften zum Internationalen Recht Band 57

Kanadische Verfassungsinstitutionen im Wandel: Unitarisierung durch Grundrechtsschutz Von Dr. Bettina Zimmermann

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Zimmermann, Bettina:

Kanadische Verfassungsinstitutionen im Wandel : Unitarisierung durch Grundrechtsschutz / von Bettina Zimmermann. - Berlin Duncker und Humblot, 1992 (Schriften zum Internationalen Recht ; Bd. 57) Zug!.: Frankfurt (Main), Univ., Diss., 1990 ISBN 3-428-07397-5 NE:GT

Diese Arbeit wurde mit finanzieller Unterstillzung der Gesellschaft für Kanada-Studien e.V. gedruckt.

Alle Rechte vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0720-7646 ISBN 3-428-07397-5

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1990 von der Rechts­ wissenschaftlichen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frank­ furt am Main als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur be­ finden sich auf dem Stand Frühjahr 1991. Für die Anregung des Themas und die Betreuung der Bearbeitung danke ich besonders herzlich Herrn Professor Dr. Michael Bothe, der in zahlreichen Ge­ sprächen mit großem Verständnis die Arbeit gefördert hat Durch seine Unter­ stützung konnten außerdem viele Kontakte in Kanada geknüpft werden, was eine unerläßliche Voraussetzung für die Herstellung dieser Arbeit war. Zu Dank bin ich auch Herrn Professor Dr. Erhard Denninger verpflichtet, der mir das vorliegende Dissertationsthema vennittelte. Herrn Privatdozent Dr. Sigurd Littbarski danke ich herzlich für die unennüdliche Hilfe bei der Durchsicht des Manuskripts. Ferner sei an dieser Stelle Frau Sonja Simon für die Durchfüh­ rung der Schreibarbeiten Dank gesagt Schließlich gilt mein Dank vor allem der Volkswagenstiftung, die durch ihre großzügige finanzielle Unterstützung die vorliegende Arbeit erst ermöglichte.

Frankfurt am Main, im November 1990

Bettina 7.immermann

Inhaltsverzeichnis

Einführung

17

Te i1 1 Verfassungsrechtliche Lage Kanadas vor Inkrafttreten des Canada Act 1982

19

A. Die Gründung des kanadischen Bundesstaates ...• • . ...... ... ........ ........ ..

19

B. Die Aufhebung der imperialen RechtselZWlgsbefugnis Großbritanniens . ....... • • ..

20

C . Der Schutz der Grundrechte von 1867-1982. .... ...... ........ ........ ... .....

21

I. Grundrechtsschutz unter dem British Nort h America Act 1867 ....... .........

21

II. Die Ereignisse des 2. Weltkrieges und die Folgen für den Grundrechtsschutz ....

24

III. Die Problematik einer verfassungsrechtlichen Kodifizierung der Grundrechte... .

26

IV. Der Erlaß einfachgesetzlicher Grundrechtskodifikationen ..... ........ ..... •

29

1.Grundrechtsschützende Bundesgesetzgebung . .. .. ....... .. ..... ........

29

2. Grundrechtsschützende Provinzgesetzgebung .... ........ ........ ...... .

32

3 .Antidiskriminierungsgesetzgebung • . ....... ... .. .... .... ...... ...... .

35

4. Zusammenfassung zum Grundrechtsschutz. .. • • .. • • • . .. ....... ........ .

36

D. Verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Ereignisse ab 1970 bis zum Inkrafttreten des Canada Act 1982. ............. ... ....... ......... ...... ...... ...

37

1 Refonninitiativen zum Erlaß einer Grundrechtscharta in d en Jahren 1970-1978 ...

37

II. Die Verfassungskrise aufgrund der separatistischen Bestrebungen in den Wesq,rovinzen und in Quebec...................... ..... ........ .......

38

Inhaltsveneichnis

10

III. Verfassungsverhandlungen zwischen dem Bund und den Provinzen nach dem Quebec-Referendum (Juni-September 1980) . . . . . .... . . . .. . . . . .. . ... . .. .. .

41

IV. Einseitiges Vorgehen des Bundes im Oktober 1980 und der hieraus resultierende Rechtsstreit . .... ... ....... .. .... ... .. . .. ... .... ... .. . .. . .. .... .. . ..

45

V. Verfassungsverhandlungen zwischen dem Bund und den Provinzen im November 1981 ...................................................

47

VL Das Inkrafttreten des Canada Act 1982 . ... .. . .. . ... .. . .. . .. . .. . . . . .. . .. . .

49

E. Abschließende Bemerkungen .. . • . . . . . • . . . . . . .. . . ..... . . . . .. . . . . .. ... . . . ... .

50

Te i l 2 Verfassungsrechtliche Lage Kanadas nach Inkrafttreten des Canada Act 1982: Grundrechtsschutz über die Canadlan Charter or Rlghts and Freedoms und die sich hieraus ergebenden Veränderungen für die föderative kanadische Rechtsordnung

52

A. Problemstellung . . ... .. ............ ... ... ... . ... ..... ... . ... ... . . . .. . .. . .

52

B. Angleichungsgesetzgebung zur Canadian Charter of Rights and Freedoms • • . . . . ... . •

53

Angleichungsgesetzgebung des Bundes und der Provinzen . .... . . . ... • .. • . . . .

53

1. Betrachtung zmn Umfang der Angleichungsgeset2:gebung ... . .. . . .. . . . .. .

58

2. Betrachtung zmn Zeitraum des Erlasses der Angleichungsgesetzgebung . ... .

60

3. Betrachtung zmn Inhalt der Angleichungsgesetzgebung .. .. . .. .... .. . .. ..

62

4. Das Fehlen von Angleichungsgesetzgebung in Quebec . .... . .. • .. .. . • . . ..

63

a) Das Gebrauchmachen von Art. 33 (override clause) .. . ... ... . . . .. . .. . .

64

b) Die Reform der Quebec-Charta und die hierzu ergangene Angleichungsgesetzgebung .. ........ ........ . ..... ... ...... ... . ..... ..

69

c) Abschließende Bemerlcungen zur Rechtslage in Quebec ............... ,

72

II. Zusammenfassung . . . . . . . .. . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . .... . . . . . . .. . . . . . . . .

74

I.

Inhaltsverzeichnis

11

C. Unitarisierung durch Grundrechtsschutz am Beispiel der zu Art. 8 und Art. 15 C anadian Charter of Rights and Freedoms erlassenen Angleichungsgeset7.gebung .. •..

75

1.

Vorbemerkung......................................................

75

II.

Art. 8: Schutz vor wiangemessenen Durchsuchungen oder Beschlagnahmen............................................................

77

1. Schutz vor unangemessenen Durchsuchwigen oder Beschlagnahmen vor Einführung von Art. 8..... . •. • .. • ... •. ....... • ...... • • ..

77

2. Schutzbereich wid Auslegung des Art. 8..............................

81

3. Überl>lick über die gesetzgeberische Reaktion auf die Einführung von Art. 8........... • .... • ... • .................................

88

4. Darstellung und Vergleich der zu Art. 8 erlassenen Angleichwigsgesetzgebung ................................... ........ . .. ... . . .

94

a) Reform von slrafrechtlichen Durchsuchungs- wid Beschlagnahmevorschriften......... • • ....... • . • .................... . .. aa) Erfordernis eines richterlichen Durchsuchwigsbefehls.............

94 94

bb) Telefonisch erteilter Durchsuchwigsbefehl...... ...............

95

cc) Durchsuchungen oder Beschlagnahmen ohne richterlichen Durchsuchwigsbefehl..........................................

97

(a) Gefahr im Verzug-Regelwig....... • .....................

97

(b) Durchsuchungen oder Beschlagnahmen von Transportmineln

99

(c) Plain View-Regelung......... .... • • ....................

99

(d) Sonstige Regelungen. • .......................... ....... dd) Die Ausführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen .. . ...

100 101

(a) Ort wid Zeit der Durchsuchung.. ... ......................

101

(b) Die Durchführung von Beschlagnahmen....................

1 01

(c) Die Anwendung von Zwang.............................

1 03

ee) Zwischenergebnis.. ...................... • • ...... • • ......

103

b) Reform von verwaltungsrechtlichen Kontrollrechten.................

105

aa) Voraussetzungen zur Kontrolle von Geschäftsräumen............

105

bb) Voraussetzungen zur Kontrolle von privatem Wohnraum.........

106

cc) Die Ausführung von Kontrollen. • . • •. .. . ... • .. ..............

l07

12

Inhaltsveneichnis (a) Die 1.eit der Kontrolle..•.•.............................

107

(b) Die Durchführung von Beschlagnahmen •••.................

1 08

(c) Die Anwendung von Zwang ................... . .........

109

dd) Zwischenergebnis•••...•..•......•• ••...•••..•••..•.....•

109

c) Ergebnis.....••..••..•.•.•....•..•..........................

111

III. Art. 15: Schutz der Gleichheitsrechte.••••..••••.•.......................

112

1. Schutz der Gleichheitsrechte vor Einführung von Art. 15 ... .......... ... .

1 13

2. Schutzbereich und Auslegung des Art. 15 •.•..•.......................

1 19

3. Überblick über die gesetzgeberische Reaktion auf die Einführung von Art. 15 .........................................................

1 26

4. Darstellung und Vergleich der zu Art. 15 erlassenen Angleichungsgesetzgebung..............•...............•........•................ ;

1 29

a) Diskriminierungen aufgrund der Religion.•......•.....•..... ......

1 30

aa) Eidesleistung............................•...............

131

bb) Schulgebete•......••......... ......... ..................

133

cc) Sonntagsruhe....• ............ ...........•........... ....

1 36

dd) Zwischenergebnis................................ ........

14 1

b) Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts ........... ............

14 3

aa) Geschlechtsspezifische Gesetzessprache.............. ........

144

bb) Hinterbliebenenrente nach dem Rentenversicherungsrecht........

146

cc) Hinterbliebenenrente nach dem Unfallversicherungsrecht..... ....

149

dd) Vaterschaftsurlaub und Vaterschaftsgeld......................

15 0

ee) Zwischenergebnis ....... . ................. ....... .. ......

152

c) Diskriminierungen aufgrund des Alters........•......•.......•....

154

aa) Verbindliches Rentenalter...•..............•...............

155

bb) Volljährigkeitsalter••...........•....••••..••.•••.....••..

164

cc) Zwischenergebnis..................................... ...

164

d) Diskriminierungen aufgrund von Behinderung......................

165

aa) Mindestlohnregelung.••......•••......•... •............. ..

166

Inhaltsveruicbnis

e)

13

bb) 1-ugang m Wahllokalen.. • ................. .... • . .........

167

cc) Zwischenergebnis . ... . . . . . ............................ ...

168

Ergebnis................................ ........ ......... ...

169

Teil 3 Schlußbetrachtung

172

Teil 4 Zusammenfaswng

180

Anhang 1: Gesetzestexte: The Canadian Bill of Rights .............. .......................... Canada Act 1982.................................................

183 186 209

Anhang 2: Gesetusänderungen zu Art. 8 Canadian Charter of Righls and Freedoms

229

Charte des droits et libertes de la personne .............................

Literaturverzeichnis

239

Abkürzungsverzeichnis A.a.O. Abs. A.C. A.C.W.S. a.F. A.G. Art. Aufl. Aug. B.C. Bd. Beam. B.N.A.Act BVerfGE bzw. c.

C.A. Can. C.B.R.

c.c.c.

C.C.R.F. C.d.D. C.F. C.LQ. COM. C.P. C.R. C.R.C. C.R.R.

c.s.

C.S.M. C.S.N.S. CTC Dec.

am angegebenen Ort Absatz Appeal Cases (Law Reports) All-Canada Weelcly Summaries alte(r) Fassung Attomey General Artikel Auflage August British Columbia Band Beameiter British North America Act Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfas­ sungsgerichts beziehungsweise Chapter Cour d'appel (Rerueils de jurisprudence du Quebec) Canadian Canadian Bill of Rights Canadian Criminal Cases Canadian Charter of Rights and Freedoms Cahier de Droit Receuil des arrets de 1a Cour federale du Canada T ue Criminal Law Quarterly Commission Cour provinciale (Receuils de jurisprudence du Quebec) Criminal Reports Codification des reglements du Canada Canadian Rights Reporter Cour superieure (Receuils de jurisprudence du Quebec) Consolidated Statutes Manitoba Consolidated Statutes of Nova Scotia Canada Tax Cases December

Abkümmgsvem:ichnis ders. d.h. dies. D.LQ. D.LR. Doc. DöV D.T.C. ed. et cet. EuGRZ f. F.C. ff. Fn. G.A. G.A.O.R. Hbd. Hon. Hrsg. i.d.F. I.Q.A.J. i.V.m. JöR LI. LQ. LR. LR.Q. Ltd. n.F. No. Nov. Nr. N.S.R. Oct. O.R. Ott. Q.A.C. Q.B. P.E.I. R. R.D.U.S. Reg.

15

derselbe das heißt dieselbe Receuils des decisions des droits et libertes de la personne Dominion Law R eports Document Die öffentliche Verwaltung Dominion Tax Cases edition et cetera Europäische Grundrechtezeitschrift folgende Canada Federal Court R eports fort folgende (Seite) Fußnote General Assembly General Assembly Official Reports Halbband (Tue) Honourable Herausgeber in der Fassung Institut Quebecois d'Administration Judiciare in Verbindung mit Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Law Journal Loi. du Quebec Law Reports Loi.s refondues du Quebec Limited neue(r) Fassung number/numero November Nummer Nova Scotia Reports October Ontario Reports Ottawa Quebec Appeal Cases Law Reports - Queen's Bench Division Prince Edward Island Regina Revue de droit de l'Universite de Sherbrooke Regulation

16

Abkiimmgsvel7.eichnis

Res. Rev. R.DJ. RJ.Q. RJ.T. R.R.O. R.S. R.S.C.

Resolution Review/Rewe Rewe de droit judiciaire Receuils de jurisprudence du Quebec Rewe Juridique Themis Revised Regulations Ontario Revised Statutes Revised Statutes of Canada Seite Statutes of Alberta Saskatchewan Statutes of Canada Suprcme Court Reports (Canada) Suprcme Court Reporter (USA) section second edition Statutes of Manitoba Statutes of Nova Scotia sogenannt Statutes of Quebec Strafproußordnung Supplement und 1111ter anderem University of British Columbia Law Review United Kingdom United Nations United Nations General Assembly Official Reports United Nations Treaty Series United States (Suprcme Court) Reports versus vergleiche Victoria Volume Veröffentlich1111gen der Vereinigung der Deutschen Staats­ rechtslehrer Western Weekly Reports Weekly Criminal Bulletin Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völker­ recht zum Beispiel zitiert

s.

S.A. Sask.

s.c.

S.C.R. S.CL sec. sec. ed. S.M. S.N. sog. S.Q. StPO Supp. u. u.a. U.B.C.LR. U.K. U.N. U.N.G.A.O.R. U.N.T.S.

u.s.

v. vgl. Vict Vol. VVDStRL W.W.R. W.C.B. ZaöRV z.B. 7.iL

Einführung Die vorliegende Arbeit hat sich die Aufgabe gestellt, einen Beitrag zum Verständnis föderalistischer Verfassungssysteme zu leisten. Es geht um die Be­ arbeitung eines grundlegenden Problems der Föderalismusforschung, das lau­ tet Welches sind die zentralisierenden oder unitarisierenden Faktoren im bundesstaatlichen System und inwieweit kommt insbesondere den Grundrech­ ten eine unitarisierende Wirkung zu? Die moderne Diskussion um diese Frage ist sehr stark durch die diesbezügli­ che Auseinandersetzung in den Vereinigten Staaten von Amerika geprägt. Grundlegende gesellschaftspolitische Probleme wie z.B. die Frage der Rassen­ gleichheit oder die Garantie der Verfahrensrechte von Angeschuldigten im Strafverfahren wurden in den USA über den verfassungsrechtlichen Grund­ rechtsschutz einer Lösung zugeführt, die eine weitgehende inhaltliche Anglei­ chung von bundes- und einzelstaatlichem Recht zur Folge hatte 1 . Dies hat - ne­ ben anderen Faktoren - zu einer gewissen Unitarisierung im föderativen System der Vereinigten Staaten von Amerika geführt. Es ist deshalb von rechtsverglei­ chendem Interesse, zu untersuchen, ob eine ähnliche Entwicklung auch im ka­ nadischen Bundesstaat festzustellen ist, wo 1982 in Abwendung von der briti­ schen Rechtstradition mit dem Canada Act 1982 eine verfassungsrechtliche Grundrechtscharta (The Canadian Charter of Rights and Freedoms) eingeführt wurde. Dies geschah mit dem erklärten Ziel, hierdurch einen Beitrag zur prekä­ ren staatlichen Integration Kanadas zu leisten. Es ist deshalb rechtsverglei­ chend nicht nur interessant, sondern auch für das kanadische Staatswesen selbst von ausschlaggebender Bedeutung festzustellen, ob diese integrierende Wir­ kung der Grundrechtscharta wirklich eingetreten ist. Die Wirkung, die die kanadische Grundrechtscharta auf das bundesstaatliche System Kanadas bisher ausgeübt hat, läßt sich im Rahmen einer Dissertation nicht vollständig darstellen. Deshalb beschäftigt sich die vorliegende Arbeit mit einem wesentlichen Ausschnitt dieser Problematik, nämlich mit der ge­ setzgeberischen Umsetzung der Grundrechtscharta auf Bundes- und Provinz­ ebene. Da die Grundrechtscharta Vorrangwirkung gegenüber der Bundes- und Provinzgesetzgebung besitzt, waren die kanadischen Gesetzgeber verpflichtet, nach Inkrafttreten der Canadian Charter of Rights and Freedoms ihre l Näher hier211 S. 4 2. 2 Zimmermann

18

Einführung

Gesetzgebung der neuen Verfassungslage anzugleichen. Die Arbeit untersucht diesen Angleichungsprozeß und sucht die Frage zu beantworten, inwieweit diese von Amts wegen durchgeführten Rechtsrefonnen eine unitarisierende bzw. integrierende Wirkung der Grundrechtscharta erkennen lassen. Da die Problematik der Angleichungsgesetzgebung nicht ohne die Vorge­ schichte der kanadischen Grundrechtscharta verständlich ist, wird in Teil 1 ein historischer Abriß über den langjährigen Prozeß der verfassungsrechtlichen Verankerung des Grundrechtsschutzes in Kanada wiedergegeben. In diesem Zusammenhang ist es erforderlich, auf die Gründung des kanadischen Bundes­ staates sowie auf die bis 1982 bestehende verfassungsrechtliche Abhängigkeit Kanadas von Großbritannien kurz einzugehen. Sodann erfolgt in Teil 2 zunächst eine Gesamtübersicht über die vom Bund und von den Provinzen erlassene Angleichungsgesetzgebung. Die unitarisie­ rende Wirkung der Grundrechtscharta kann allerdings nicht anhand der ge­ samten Angleichungsgesetzgebung überprüft werden. Um eine differenzierte Betrachtung der Angleichungsgesetzgebung zu ermöglichen, wurden deshalb für den Fortgang der Untersuchung zwei unterschiedliche Grundrechtsgarantien ausgewählt. Zum einen wird die rechtsvereinheitlichende Wirkung der Cana­ dian Charter of Rights and Freedoms am Beispiel des eher technischen Ver­ fahrensgrundrechts des Art. 8 (Schutz vor unangemessenen Durchsuchungen oder Beschlagnahmen) analysiert. Zum anderen geht es um eine nähere Un­ tersuchung der hannonisierenden Wirkung des Gleichheitssatzes (Art. 15). Die Auswertung dieser Analyse wird auf die Frage der Unitarisierung durch Grund­ rechtsschutz eine weitgehend negative Antwort geben. Hieraus werden im Schlußteil (Teil 3) Folgerungen für das föderative System Kanadas, insbe­ sondere im Hinblick auf die Frage einer verbesserten Integration der kanadi­ schen Konföderation zu ziehen sein. Im Endteil (Teil 4) werden schließlich die gewonnenen Ergebnisse zusam­ mengefaßt Abschließend sei noch erwähnt, daß die Verfasserin zur Ausarbeitung der vorliegenden Arbeit 1988 einen fünfmonatigen und 1989 einen zweimonatigen Studienaufenthalt in Kanada verbrachte. Diese Aufenthalte haben dazu gedient, das umfangreiche Gesetzgebungsmaterial und die hierzu erschienenen Doku­ mente (Parlamentsdebatten, verfassungsrechtliche Studien etc.) sowie er­ klärende Literatur zur Grundrechtscharta zu beschaffen. Ferner führte die Ver­ fasserin in dieser Zeit Informationsgespräche im Bundesjustizministerium (Human Rights Law Section) in Ottawa sowie in den Justizministerien aller zehn kanadischen Provinzen. Die aus diesen Gesprächen gewonnenen Erkennt­ nisse zum neuen Grundrechtsschutz in Kanada haben Eingang in diese Arbeit gefunden.

Teil 1

Verfassungsrechtliche Lage Kanadas vor Inkrafttreten des Canada Act 1982 A. Die Gründung des kanadischen Bundesstaates Die Geschichte der kanadischen Konföderation beginnt am 1 . Juli 1867 1 . An diesem Tag trat der British North America Act 1 867 (BNA Act) in Kraft, durch den die britischen Kolonien Nova Scotia, New Brunswick und die Provinz Ca­ nada (Ober- und Unterkanada, heute Ontario und Quebec) zum Dominion of Canada zusammengeschlossen wurden. Der Erlaß des BNA Act 1 867 geht auf die sog. Quebec Resolution von 1 864 zurück, mit der die britischen Kolonisten die englische Krone ersuchten, der Gründung einer kanadischen Konföderation zuzustimmen2• Dieses Ersuchen gegenüber Großbritannien war erforderlich, weil die britischen Kolonien zu diesem Zeitpunkt in rechtlicher Abhängigkeit zum englischen Mutterland standen. Die gesetzgebenden Versammlungen in den Kolonien besaßen lediglich für interne Angelegenheiten eine Regelungsbe­ fugnis (selfgovernment in local affairs). Für alle externen Angelegenheiten, z.B. Regelungen über den Außenhandel, die Kriegsführung sowie die Verteidi­ gung, hatte dagegen das britische Parlament die Gesetzgebungskompetenz. Außerdem war es dem britischen Gesetzgeber erlaubt, englisches Recht in den Kolonien für anwendbar zu erklären oder durch den Erlaß sog. imperial statutes auf die Regelung interner Angelegenheiten der Kolonien Einfluß zu nehmen 3 • Es bestand also zu dieser Zeit für die Kolonien in legislativer Hinsicht eine um­ fassende britische Gesetzgebungsbefugnis. Aus diesem Grund konnte der Zusammenschluß der Kolonien Nova Scotia, New Brunswick und der Provinz Canada (Ontario und Quebec) zu einer Konföderation nur durch den britischen Gesetzgeber vorgenommen werden. 1865 stimmte die britische Krone auf einer 1 Zur Entstehungsgeschichte der kanadischen Konföderation siehe Careless, Canada. A Stoiy for Challenge, S. 3 1-249; Sautter, Geschichte Kanadas, S. 82 ff; M. Dawson, Govemment of Canada, S. 3-40; Riege, Nordamerika, Bd. 1, S. 63 ff; Bothe, Kompetenzstruktur, S. 52. 2 Ausführlich hierzu Careless, S. 232 ff. 3 Zur Rechtsetzungsbefugnis Großbritanniens gegenüber den britischen Kolonien siehe Hogg, ConsL Law, S. 8-12 u. 21 ff.

Teil 1 : Verfassungsrechtliche Lage Kanadas vor 1982

20

Konferenz in London der Quebec Resolution zu4• Daraufhin erließ das britische Parlament 1867 den British North America Act (BNA Act) 5 , durch den der ka­ nadische Bundesstaat konstituiert wurde. Die britischen Kolonien wurden durch diesen Gesetzgebungsakt zu Gliedstaaten (Provinzen) der neuen kana­ dischen Konföderation. Den Gründungsprovinzen New Brunswick, Nova Scotia, Ontario und Quebec6 traten in den darauffolgenden Jahren noch fol­ gende ehemalige britische Kolonien bei7: 1 870 Manitoba und die Northwest Territories; 187 1 British Columbia; 1873 Prince Edward Island; 1898 die Yukon Territories; 1905 Alberta und Saskat­ chewan und 1949 Newfoundland. Diese und die drei Gründungsprovinzen sind die Gebiete, auf die sich das heutige Staatsterritorium des kanadischen Bundes­ staates erstreckt8 .

B. Die Aufltebung der imperialen Rechtsetzungsbefugnis Großbritanniens Die Gründung der kanadischen Konföderation hatte nicht zur Folge, daß der kanadische Bundesstaat die rechtliche Unabhängigkeit von Großbritannien er­ langte 1 . Zwar verleiht der BNA Act 1867 dem kanadischen Bundesgesetzgeber sowie den Provinzgesetzgebern eine Reihe von Gesetzgebungsbefugnissen 2 , die britische Gesetzgebungskompetenz für Kanada wurde hiermit jedoch nicht aufgehoben. Letzteres änderte sich erst 193 1 mit dem Inkrafttreten des Statute of Westminster3 .

4 So Careless, S. 248.

S (1 867), U.K. 30 und 31 Vict., c. 3; R.S.C. 1970, Appendix II, No. 5.

6 Durch den BNA Act 1867 wurde die Provinz Canada in die Provinzen Ontario 1md Quebec geteilt, vgl. Hogg, ConsL Law, S. 30. 7 Siehe hierzu Whyte/Ledermann, in: Ledermann, Continuing Canadian Constitutional Dilemmas, S. 77 f; Hogg, S. 31 ff. 8 Bei den Yukon Territories und den Northwest Territories handelt es sich um Staatsterritorien, nicht um Provinzen (vgl. Anmerlrung zu ArL 5 BNA Act 1867). Sie unterstehen daher der Gesetzgebungskompetenz des Bundes (dies ergibt sich minelbar aus ArL 32 (1) (a) Canadian Char­ ter of Rights and Freedoms). Aus diesem Grund werden die Yukon Territories sowie die Northwest Territories im Fongang dieser Arbeit keine eigenständige Berücksichtigung erfahren. 1 Vgl. M. Dawson, Govemment of Canada, S. 40 ff. 2 Vgl. die ArL 91-94 BNA Act 1 867. 3 (193 1), U.K. 22 George V, c. 4; R.S.C. 1970, Appendix II, No. 26.

C. Der Schutz der GIW!drechte von 1867 - 1982

21

In der Präambel und in Sec. 4 des Statute of Westminster legte der britische Gesetzgeber fest, nur noch auf ausdrücklichen Wunsch sowie mit Zustimmung eines britischen Dominion4 gesetzgeberisch für dieses tätig zu werden. Ferner wurde den britischen Dominions und damit auch Kanada mit dem Statute of Westminster die Befugnis eingeräumt, britisches Recht, das vom englischen Gesetzgeber in den ehemaligen Kolonien bzw. in den Dominions eingeführt worden war, aufzuheben sowie die imperial statutes außer Kraft zu setzen. Dem kanadischen Bundesstaat wurde also durch das Statute of Westminster die gesetzgeberische Souveränität verliehen5• Diese legislative Souveränität war allerdings in einer Hinsicht eingeschränkt Der BNA Act 1867, ein imperiales Gesetz und Verfassungstext für Kanada, durfte gemäß Sec. 7 (1) Statute of Westminster weder vom kanadischen Bundes- noch vom kanadischen Provinzgesetzgeber geändert oder aufgehoben werden. Das Statute of West­ minster brachte daher für Kanada nur die gesetzgeberische Souveränität hin­ sichtlich der einfachen Gesetzgebung6• Für verfassungsrechtliche Angelegen­ heiten bestand dagegen weiterhin eine legislative Abhängigkeit vom Westmin­ sterparlament Aufgrund dieser fehlenden verfassungsrechtlichen Souveränität war es in Kanada bis zum Inkrafttreten des Canada Act 1982 ohne Beteiligung des britischen Parlaments nicht möglich, einen verfassungsrechtlich abgesi­ cherten Grundrechtskatalog einzuführen. Bevor darauf eingegangen wird, auf welche Weise der kanadische Bundesstaat schließlich doch die verfassungs­ rechtliche Unabhängigkeit von Großbritannien erlangte, sollen deshalb die fol­ genden Ausführungen zunächst zeigen, wie die Grundrechte in Kanada von 1867 an bis zum Erlaß des Canada Act 1982 geschützt wurden.

C. Der Schutz der Grundrechte von 1867 - 1982 1. Grundrechtsschutz unter dem British North America Act 1867 Der Basis-Verfassungstext für Kanada war bis 1982 der BNA Act 1867. Dieser Verfassungstext, der vom britischen Gesetzgeber für Kanada erlassen war, enthält ausschließlich Regelungen der Staatsorganisation. Einen Grund­ rechtsteil beinhaltet der BNA Act 1867 dagegen nicht Ursache hierfür ist das britische Verfassungsverständnis. In Großbritannien sind eine Reihe grund4 Hierzu zählen laut Präambel des Statute of Westminster die folgenden Gebiete: The Dominion of Canada, The Commonwealth of Australia, The Donrinion of New 1.ealand, Tue Union of South Africa, The Irish Free State, Newfoundland. 5

Vgl.M. Dawson, 5 0; Gall, Can.Legal System, S.45; Tremblay, Droit ConsL, S. 20 ff. 6 So auch von Simson, in: Festschrift für 2.eidler, S. 3 63 ff.

22

Teil 1: Verfassungsrechtliche Lage Kanadas vor 1982

rechtlicher Garantien in der Magna Charta Libertatum, der Petition of Rights, der Habeas Corpus Akte, der Bill of Rights sowie im Act of Settlement festge­ legt 1 . Bei diesen Rechtstexten handelt es sich um einfachgesetzliche Kodifikationen. Eine darüber hinausgehende verfassungsrechtliche Ko­ difikation von Grundrechten gibt es in Großbritannien dagegen nicht2• Nach britischem Verfassungsrecht ist der Gesetzgeber nämlich grundsätzlich in sei­ ner Gesetzgebungsbefugnis souverän3 • Da eine verfassungsrechtliche Kodifi­ kation von Grundrechten, die den Gesetzgeber verpflichtet, die Grundrechte zu beachten, die Souveränität des Gesetzgebers einschränkt, ist es in Großbritan­ nien nie zur Einführung eines verfassungsrechtlichen Grundrechtskatalogs gekommen4• In Großbritannien sind die Grundrechte nur durch den Gesetzge­ ber geschützt, wobei ungeschriebene Verfassungsgrundsätze5 und verfassungs­ rechtliche Konventionen6 garantieren, daß der Gesetzgeber die Grundrechte nicht verletzt7• Diese Verfassungsprinzipien wurden über die Präambel des BNA Act 1867 auch der kanadischen Verfassungsrechtsordnung zu­ grundegelegt8 . Die Grundrechte waren daher in Kanada wie in Großbritannien durch den grundsätzlich souveränen Gesetzgeber sowie über ungeschriebene Verfassungsgrundsätze und Verfassungskonventionen geschützt 9• Ausgelöst durch den Erlaß einiger grundrechtsverletzender Provinzgesetze entwickelte sich dann ab 1930 ein gewisser zusätzlicher Schutz der Grund­ rechte durch die Rechtsprechung des kanadischen Supreme Court 10. Dieser Grundrechtsschutz orientierte sich an der im BNA Act 1867 angelegten fö­ deralen Aufteilung der Gesetzgebungskompetenzen. Im BNA Act 1867 sind in 1 Diese grundrechtsschützenden englischen Rechtstexte sind abgedruckt in Mayer-Tasch. Die Verfassungstexte der nicht-kommunistischen Staaten Europas, S. 2 29 ff. 2 Zum englischen Verfassungsrecht siehe ausführlich Kingston/lmriL, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und USA, S. 719 ff; MackenziL/Streel, in: Bettermann/Neumann!Nipperdey, Die Grundrechte. 1. Bd., 2. Hbd., S. 805 ff; Gei.sseler, Reformbestrebungen im englischen Verfassungsrecht, S. 4 ff; Dicke, DÖV 1971, 409 ff. 3 Sog. doctrine of parliamentary sovereignty, siehe hierzu die in Fn 2 angegebene Literatur.

4 Dies kritisiert Geisseler, S. 40 ff. 5 Man spricht auch von verfassungsrechtlichem Gewohnheitsrecht, siehe hierzu Kingstonllmrie, S. 731; Dicke, S. 4 11. 6 Zu Begriff und Wirkung verfassungsrechtlicher Konventionen siehe Meyn, JöR 25 (1976), 133; Doeker, Parlamentarische Bundesstaaten, S. 81 ff; Hogg, Const. Law, S. 12 ff. 7 Vgl. Kingstonl/mrie, S. 7 2 3 ff.

8 So Gall, Can. Legal System, S. 47; Tremblay, Droit ConsL, S. 18 f; L. Weber, ZaöRV 40 (1980), 731. 9 Siehe hierzu L. Weber, S. 731 ff; Tarnopolsky, 44 (1981), 3, Law and C ontemporary Problems, 171. IO Vgl. Bothe, JöR 35 (1986), 269 ; Days, The American Journal of Comparative Law 1984 , 313; Beawdoin, Can. Bar Rev. 1975, 675 ff.

C. Der Schutz der Gnmdrechte von 1 867 - 1 982

23

Art. 9 1 die ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen des Bundes, in Art 92 und 93 die ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen der Provinzen festge­ legt. Der kanadische Supreme Court hat das Recht, anhand dieser Kompetenz­ bestimmungen zu überprüfen, ob ein Gesetz formell verfassungsmäßig ist. Hat der Bundes- oder ein Provinzgesetzgeber ein Gesetz entgegen den in Art. 9 1 bzw. 92 und 93 BNA Act 1867 festgelegten Kompetenznormen erlassen, so kann das Gesetz wegen Verletzung der Kompetenzordnung für formell verfas­ sungswidrig und damit nichtig erklärt werden (ultra vires-Lehre) 1 1 • Obwohl der BNA Act 1867 keinen Grundrechtskatalog enthält, benutzte der kanadische Supreme Court diese formelle Kontrollbefugnis in einigen Fällen dazu, um grundrechtsverletzende Gesetze außer Kraft zu setzen 1 2• So erklärte er bei­ spielsweise in dem Fall Switzman v. Elbing 1 3 ein Gesetz Quebecs, das kom­ munistische Propaganda verbot, aus Kompetenzgründen für unwirksam, wobei er gleichzeitig betonte, daß das Gesetz auch deshalb mit den Grundprinzipien des kanadischen Staatswesens unvereinbar sei, weil es die Meinungsfreiheit in unzulässiger Weise einschränke. Unter Bezugnahme auf seine formelle Kon­ trollbefugnis hat der kanadische Supreme Court also in der Sache eine mate­ riellrechtliche Überprüfung der Gesetzgebung durchgeführt 14• Aus dieser Rechtsprechung entwickelte sich die Theorie von der "Implied Bill of Rights", die besagt, daß die im BNA Act 1867 angelegte Kompetenzaufteilung einen gewissen Schutz der Grundrechte impliziere 1 5• Der aus der Kompetenzordnung abgeleitete Grundrechtsschutz versagte jedoch, wenn ein Gesetz, das gegen Grundrechte verstieß, formell verfassungsgemäß war. Der kanadische Supreme Court ging nämlich in seiner Rechtsprechung nicht soweit, zugunsten des Grundrechtsschutzes die Souveränität des kanadischen (Bundes- oder Provinz-) Gesetzgebers grundsätzlich einzuschränken 16• In dem Urteil A.G. Can. and Dupond v. Montreal führte er diesbezüglich beispielsweise aus: " ... ncllle of the fundamental freedoms that were inherited from the United Kingdom is so enshrined in the Constitution as to be beyond the reach of the competent legislation" l 7 • Gegen ein grundrechtsverletzendes Gesetz, das eindeutig innerhalb bestehender Gesetzgebungskompetenzen erlassen worden war, konnte daher in 11

Vgl. L. Weber, 735 ff. Vgl die Urteile Re Alberta Legislation ( 1 938), S.C.R., 1 00; Saumur v. City of Quebec (1953), 2 S.C.R., 299; Switm1an v. Elbing (1957), 2 S.C.R., 285. 1 3 Ebenda. 14 So auch Bothe, JöR 35 (1986), 269. 1 5 Siehe hierzu Lane/Malanczuk, Der Staat 20 (1981), 544; Bronaugh/Hojfmaster/Sharzer, Readings in the Philosophy of Constitutional l.aw, S. 59-62; Gall, Can. Legal Sy stem, S. 47 und 69. 16 Ausführlich Tarnopolsky, Can. Bill of Ri hts, S. 3 1 -8 6; ders., 44 (198 1 ), 3, l.aw and g Cootemporary Problems, 173. 1 7 (1978), 2 S.C.R., 770 (79 6). Zu dieser Entscheidung siehe Hogg, ConsL l.aw, S. 708. 12

24

Teil 1 : Vetfassungsrechtliche Lage Kanadas vor 19 82

Kanada kein Rechtsschutz gewährleistet werden 1 8• Dies war ein auslösendes Moment dafür, daß man in Kanada begann, über die Kodifizierung eines grundrechtsschützenden Rechtstextes nachzudenken.

II. Die Ereignisse des 2. Weltkrieges und die Folgen für den Grundrechtsschutz Wie notwendig die Beschränkung des Grundsatzes der Souveränität des Ge­ setzgebers zugunsten einer besseren Absicherung der Grundrechte in Kanada war, haben die Ereignisse des 2. Weltkrieges gezeigt 1 9. Während des 2. Weltkrieges erließ der kanadische Bundesgesetzgeber den War Measures Act und schränkte mit diesem Gesetz zahlreiche grundrechtliche Garantien ein. Aus Gründen der Kriegsführung waren beispielsweise die Frei­ zügigkeit und ökonomische Rechte (z.B. Eigentumsrechte) beschränkt 20• Fer­ ner sah der War Measures Act besondere Regelungen hinsichtlich japanischer Flüchtlinge vor. Zu Kriegszeiten waren zahlreiche Japaner nach Kanada geflüchtet und hauen sich in der Provinz British Columbia niedergelassen. Der War Measures Act ordnete die Internierung dieser Japaner an und schrieb die Konfiszierung ihres Eigentums vor. Ab 1942 wurden die Japaner gezwungen, sich östlich der Rocky Mountains anzusiedeln. Eine Rückkehr nach British Columbia wurde ihnen verwehrt. Japaner, die sich nicht an diese Anordnungen hielten, wurden nach Japan zurückgeschickt21 • Diese drastischen Maßnahmen, die alle auf Regelungen des War Measures Act basierten, wurden in anschlie­ ßenden Gerichtsverfahren von den kanadischen Gerichten für rechtmäßig er­ klärt22. Da der kanadische Bundesgesetzgeber beim Erlaß des War Measures Act innerhalb seiner rechtmäßigen Gesetzgebungsbefugnis gehandelt hatte, 1 8 Siehe hierzu How, Can. Bar Rev. 1 948 , 763; F.R.Scott, Can. Bar Rev. 1 949, 501; Bowker, Can. Bar Rev. 1959, 44: " ... The British Nonh America Act in creating Canada gave us the prin­ ciple of parliamentary sovereignty, but at the same time the federal systern necessarily put limi­ tations on central and local legislatures. However. the Act does not rernove fran the legislature the power to restrict basic rights ... Provided the legislature keeps within its proper subject rnaner, it has powers as unlimited as those of the British Parliament and any statute is valid no rnaner what right it infringes." l9 Vgl. hierzu auch Bothe, JöR 35 ( 1 9 86), 27 1 ; Tarnopolsky, Can. Bill of Rights, S. 3 ff. 20 So Tarnopolsky, S. 3. 2 1 Zu den rundrechtsverletzenden Maßnahmen gegenüber den Japanern siehe Days, The g American Journal of Comparative Law 1 984, 313 f; L. Weber, ZaöRV 40 ( 1 980), 747. 22 Co-op Commitee on Japanese Canadians v. A.G. Can. (1947), A.C., 88.

C. Der Schutz der Gnmdrechte von 1 867 - 19 82 konnten

die

Gerichte

gegen

diese

Gesetzesregelungen nichts ausrichten 23 .

die

Grundrechte

25 beschränkenden

Die beschriebenen Ereignisse führten dazu, daß sich unmittelbar nach Been­ digung des 2. Weltkrieges in Kanada Initiativen für einen besseren Schutz der Menschenrechte entwickelten 24• Die Kanadier waren nicht nur über die. men­ schenrechtsverletzenden Maßnahmen im eigenen Land schockiert, sondern sie schenkten

auch

den

in

Europa begangenen

fundamentalen

Menschen­

rechtsverletzungen große Beachtung25. Auf internationaler Ebene führten die Erfahrungen des 2. Weltkrieges zur Gründung der Vereinten Nationen sowie zum Abschluß internationaler Verträge zum Schutze der Menschenrechte 26. Diesen internationalen Maßnahmen schloß sich Kanada durch den Beitritt zu den Vereinten Nationen ( 1 945) 27 sowie durch Unterzeichnung mehrerer internationaler Verträge zum Schutze der Menschenrechte an28. Gleichzeitig bemühte sich Kanada aber auch auf nationaler Ebene, den Grundrechtsschutz zu verbessern. Dabei war aufgrund der Ereignisse des 2. Weltkrieges klar geworden, daß nur die Kodifizierung eines Grundrechtskatalogs geeignet sein könnte, den Grundsatz der Souveränität des Gesetzgebers wirksam zu be­ schränken.

23 So Days, S. 3 14. 24 Die Canadian Bar Association hat sich beispielsweise ab 1942 vehement für die Kodifizierung eines Grundrechtskatalogs eingeset21, siehe hierzu How, Can. Bar Rev. 194 8, 759; FR.Scott, Can. Bar. Rev. 1949, 497. 25 Weiterführend L. Weber, 141. 26 Siehe z.B. die von der Generalvenammlung der Vereinten Nationen erlassene Allgemeine Erltlärung der Menschenrechte, Internationale Quelle: Resolutioo 217 (III) Univenal Declaration of Hwnan Rights, U.N.G.A.O.R., Third Session (Part I), Resolutioos (Doc. A/810), S. 7 1 . 27 Vgl. Anhang de r Charta de r Vereinten Nationen, abgedruckt in Sartorius II , Internationale

Verträge und Europarecht, Nr. 1, S. 3 1 . 28 Kanada hat beispielsweise die Internationale Konvention m r Beseitigung aller Formen von Rassendiskriminierungen ratifiziert, vgl.: International Convention on the Eliminatioo of All Forms of Racial Discriminatioo, adopted 2 1 Dec. 1965, in force for Canada 13 Nov. 1970, 660 U.N.T.S. 195. Ferner hat Kanada die Internationalen Pakte über bürgerliche und politische sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und die dam ergangenen Fakultativprotokolle ratifiziert, vgl: International Convenant oo Civil and Political Rights, adopted 16 Dec. 1966, in force for Canada 19 Aug. 1976, G.A.Res. 220 (XXI), 21 U.N.G.A.O.R., Supp. (No. 16) 52, U.N. Doc. N63 16 (1966); International Covenant on Econanic, Social and Cultural Rights, adopted 16 Dec. 1 966, in force for Canada 19 Aug. 1976, G.A.Res. 220 (XXI), 21 G.A.O.R., Supp. (No. 16) 49, U.N. Doc. N63 1 6 (1 966).

26

Teil 1: Velfassungsrechtliche Lage Kanadas vor 19 82

m. Die Problematik einer verfassungsrechtlichen Kodifizierung der Grundrechte 1947 gründete der kanadische Senat ein "Special Commitee on Human Rights and Fundamental Freedoms" und beauftragte diesen Ausschuß damit, Vorschläge hinsichtlich der Einführung eines kodifizierten Grundrechtskata­ logs zu unterbreiten29. Dieser Ausschuß legte 1950 einen Bericht mit den fol­ genden Empfehlungen vor: Die verfassungsrechtliche Kodifizierung eines Grundrechtskatalogs durch Ergänzung des BNA Act 1867, bindend für den Bund und die Provinzen, oder die Einführung eines kodifizierten Grundrechtskatalogs durch Erlaß eines einfachen Bundesgesetzes zur Absicherung der Grundrechte auf Bundes­ ebene30 . Die erste Empfehlung, die verfassungsrechtliche Kodifizierung eines Grund­ rechtskatalogs, wurde von dem Ausschuß favorisiert, weil hierdurch eine größtmögliche Absicherung der Grundrechte zu erreichen gewesen wäre. Der Erlaß einer solchen Grundrechtskodifikation war aber in Kanada nach dem 2. Weltkrieg aus folgenden Gründen nicht ohne weiteres durchführbar: Wie anfangs bereits ausgeführt3 1 , besaß der kanadische Bundes- bzw. Provinz-Ge­ setzgeber gemäß Sec. 7(1) Statute of Westminster nicht das Recht, den BNA Act 1867 zu ändern oder aufzuheben. Diese Regelung war getroffen worden, um die im BNA Act 1867 vorgenommene Aufteilung der Gesetzgebungsbe­ fugnisse zwischen dem Bund und den Provinzen zu garantieren32. Da der BNA Act 1867 kein verfassungsrechtliches Änderungsverfahren (sog. Amending Formula) enthält, in dem die Beteiligung der Provinzen an Änderungen des BNA Act 1867 geregelt ist, hätte der Bundesgesetzgeber nämlich die im BNA Act 1867 festgelegten Gesetzgebungskompetenzen durch ein einfachgesetzli­ ches Änderungsgesetz zum Nachteil der Provinzen verschieben können. Wegen des fehlenden Änderungsverfahrens wäre es ihm sogar möglich gewesen, durch den Erlaß eines einfachen Bundesgesetzes die gesamte Kompetenzaufteilung und damit die föderale Staatsstruktur Kanadas aufzuheben 33 . Um also zu ver­ hindern, daß der Bund in der zuvor beschriebenen Weise die kanadische Ver29 Vgl. Bothe, JöR 3 5 (1986), 271; Tarnopolslcy, S. 8. 3 0 Siehe hierzu Tarnopo/sky, S. 12 f; FR.Scott, 49 8. 3 1 Vgl. S. 21. 32 Vgl. Hogg, ConsL Law, S. 42; Lane/Malanczulc, Der Staat 20 (1 9 81), 542 und 561. 3 3 Siehe ausführlich J.B .d'Onorio, Revue Internationale de droit cornpare 1 98 3 , 72; Hogg, S. 52.

C. Der Schutz der GIWldrechte von 1867 - 19 82

27

fassung ändern könnte, fügte der britische Gesetzgeber auf Wunsch einiger Vertreter kanadischer Provinzen dem Statute of Westminster die Regelung des Sec. 7 (1) hinzu34• Hierdurch erreichte man, daß die Änderungsbefugnis für den BNA Act 1867 solange beim Westminsterparlament blieb, bis für den BNA Act 1867 ein Änderungsverfahren ausgearbeitet war, das hinreichend die Be­ teiligung der Provinzen an verfassungsrechtlichen Änderungen garantierte 35• Die Ausarbeitung eines solchen Änderungsverfahrens ist in Kanada ab 1935 Gegenstand zahlreicher Verfassungskonferenzen gewesen 36• Auf diesen Konfe­ renzen ging es zunächst (1935-40) ausschließlich darum, eine Einigung zwi­ schen dem Bund und den Provinzen hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltung des Änderungsverfahrens zu erreichen. Ziel dieser Verhandlungen war es, durch die Ausarbeitung eines Änderungsverfahrens die für Kanada in verfassungsrechtlicher Hinsicht noch bestehende Abhängigkeit vom Westmin­ sterparlament aufzuheben37 • Ab 1948 kam der Ausarbeitung eines verfas­ sungsrechtlichen Änderungsverfahrens dann aber auch im Zusammenhang mit den bereits erwähnten Vorschlägen hinsichtlich der Einführung einer verfas­ sungsrechtlichen Grundrechtscharta Bedeutung zu. Für die verfassungs­ rechtliche Kodifizierung von Grundrechten hätte es nämlich einer Ergänzung und insofern einer Änderung des BNA Act 1867 bedurft. Diese Änderung war aber solange nicht möglich, wie dem BNA Act 1867 ein verfassungsrechtliches Änderungsverfahren fehlte. Die Einführung einer verfassungsrechtlichen Grundrechtscharta hing also von der Ausarbeitung eines verfassungsrechtlichen Änderungsverfahrens ab. Aus diesem Grund bemühten sich der Bund und die Provinzen ab 1950 verstärkt darum, eine Einigung hinsichtlich der Annahme eines verfassungsrechtlichen Änderungsverfahrens zu erzielen 38• 1950 fand eine Dominion-Provincial Conference statt, die jedoch zu keinem Ergebnis bezüglich der Kodifizierung eines Änderungsverfahrens führte 39. Daraufhin erfolgten 1960 und 1961 einige Treffen zwischen dem Bundesju­ stizminister und den Provinzjustizministern, auf denen eine verfassungsrechtli3 4 So Hogg, S.

42. Vgl. Lederman, The American Journal of Comparative Law, 19 84, S. 33 9 f; M. Dawson, Govemment of Canada, S. 69 . 3 6 Siehe hierzu Remillard, Le Federalism, S. 5 1 ff und S. 267 ff; Strayer, The Patriation of the Can. Const., S. 10; McWhinney, ZaöRV 42 (1 982), 229; Favreau, Modi.fication de 1a Constitution, s. 20 ff. 3 7 So Hogg, S. 54; Favreau, S. 52. 38 Siehe hierzu Tarnopolsky, Can. Bill of Ri hts, S. 1 3 ff; McWhinney, JöR 8 (19 59), 43 7 ff. g 3 9 V l. Proceedin s of the Constitutional Conference of Federal and Provincial Govemments, g g January 10-12 and September 25-28 (second session) 1 950; siehe ferner Favreau, Modi.fication de Ja Constitution, S. 23 ff. 35

28

Teil 1 : Verfassungsrechtliche Lage Kanadas vor 1982

ehe Änderungsfonnel, die sog. Fulton Fonnula, ausgearbeitet wurde40• Diese Änderungsfonnel, die nach dem damaligen Bundesjustizminister Davie Fulton benannt worden war, verlangte für die Änderung wichtiger Bestimmungen des BNA Act 1 867 (z.B. die in Art 9 1 -93 festgelegten Gesetzgebungskompe­ tenzen) die Zustimmung des Bundes sowie aller Provinzen 4 1 . Das Änderungsverfahren nach der Fulton Fonnula trat jedoch nicht in Kraft, weil die Regierung von Sask:atchewan den in der Fulton Fonnula getroffenen Rege­ lungen die Zustimmung versagte42, Es wurde daher 1964 und 1965 ein anderes Änderungsverfahren unter Lei­ tung des zu dieser Zeit amtierenden Bundesjustizministers Guy Favreau aus­ gearbeitet. Bei diesem Änderungsverfahren handelte es sich um eine revidierte Fassung der Fulton Fonnula, weshalb diese Änderungsfonnel als "Fulton­ Favreau Fonnula" bezeichnet wurde43 . Die Fulton-Favreau Fonnula sah eben­ falls das Erfordernis der Zustimmung aller Provinzen zur Änderung des BNA Act 1867 vor. Wegen des Widerstands von Quebec mußte der Entwurf der Fulton-Favreau Fonnula aber letzten Endes verworfen werden44• Nach weite­ ren verfassungsrechtlichen Verhandlungen zwischen dem Bund und den Provinzen, die in den Jahren 1968- 197 1 stattfanden45 . kam es dann am 14. Juli 197 1 auf der sog. Victoria Conference46 zu einer Einigung auf ein verfassungs­ rechtliches Änderungsverfahren47. Dieses Änderungsverfahren, das als Victoria Charter48 bezeichnet wurde, weil es auf der Konferenz auch um die Annahme einer Grundrechtscharta (fhe Canadian Constitutional Charter) ging, verlangte zur Änderung des BNA Act 1867 nicht mehr die Zustimmung aller Provinzen. Nach der Victoria Charter genügte für die Änderung des BNA Act 1 867 die Zustimmung des Bundes sowie die der Provinzen in folgender Weise:

40 Ausführlich Strayer, The Patriation of the Can. Const, S. 10 f. 4 1 Znr Fulton Formula siehe Remillard, Le Federalism, S. 305 und 3 13. 42 Siehe Stra-yer, S. 10. 43 Znr Fulton-Favreau Formula siehe J.B.d'Onorio, Revue Inu:mationale de droit compare 1 984, 74; Remillard, S. 69 ff und 305, 323; Favreau, S. 54; LalonddBasford, Tue Can. Const and Const Amendment, S. 19; Lederman, Continuing Const Dilemmas, S. 82. 44 So Stra-yer, The Patriation of the Can. Const, S. 1 1 f; Bothe, IöR 35 (1986), 281. 45 Siehe hierzu Remillard, S. 33 1 ff; Stra-yer, S. 1 4. 46 Die Konferenz hat in Victoria, der Hauptstadt von British Columbia, stattgefunden. 47 VF).. Hogg, Const Law, S. 54. 4 8 Zur Victoria Charu:r vgl. Lalonde/Basford, S. 19; Lederman, S. 90; Tarnopols/cy, Can. Bill of Rights, S. 1 8 ff; Remillard, S. 79 ff.

C. Der Schutz der Gnmdredtte von 1867 - 1982

29

Es bedurfte der Zustimmung von mindestens zwei Atlantikprovinzen 49 so­ wie von zwei Westprovinzen50, in denen 50 % der im Westen lebenden Bevölkerung ansässig zu sein hatten. Außerdem war die Zustimmung jeder Provinz, in der 25 % der Gesamtbevölkerung Kanadas lebt, erforderlich. Mit letzterem räumte die Victoria Charter den Provinzen Ontario und Quebec ein Vetorecht für alle verfassungsrechtlichen Änderungen ein 5 1 • Um in Kraft treten zu können, mußte die Victoria Charter von allen Pro­ vinzen sowie vom Bund ratifiziert werden52. Die Regierung von Quebec brachte aber im nachhinein Bedenken gegen sie vor, so daß es letztlich nicht zu einer Ratifikation dieses Änderungsverfahrens kam. Es waren deshalb erneut Verhandlungen zwischen dem Bund und den Provinzen notwendig, die bis in die achtziger Jahre hinein erfolglos blieben 53 . An eine verfassungsrechtliche Kodifizierung der Grundrechte war aus diesem Grund in Kanada bis Anfang der achtziger Jahre nicht zu denken. Wie von der Kommission in ihrem Bericht 1950 alternativ vorgeschlagen, führte der Bundesgesetzgeber deshalb nach dem 2. Weltkrieg nur einfache Gesetze zum Schutze der Grundrechte ein. Außerdem haben auch die Provinzgesetzgeber nach dem 2. Weltkrieg grundrechts­ schützende Gesetze, die sich auf ihren Kompetenzbereich beziehen, erlassen. Diese Gesetze sollen im folgenden kurz dargestellt werden.

IV. Der Erlaß einfachgesetzlicher Grundrechtskodifikationen 1. Grundrechtsschützende Bundesgesetzgebung Auf Initiative des konservativen Premierministers John Diefenbaker führte der Bundesgesetzgeber zum Schutze der Grundrechte 1960 die Canadian Bill of

49 Hierzu i.ählen die Provinzen Newfoundland, Prince Edward Island, Nova Scotia und New Bnmswick. 50 Zu den Westprovinzen gehören Alberta, British Colwnbia, Saskatchewan und Manitoba. 5 1 Zum Änderungsverfahren nach der Victoria Charter siehe ausführlich J.B.d'Onorio, 15; Remillard, S. 85. 5 2 Vgl. BotM, IöR 3 (1986), 283; Strayer, The Patriation of the Can. ConsL, S. 14. 5 53 Näher hierzu die S. 4 1 ff.

Teil 1: Verfassungsrechtliche Lage Kanadas vor 1982

30

Rights54 ein55 • Dieses Gesetz, das noch heute in Kraft ist, enthält einen ein­ fachgesetzlichen Grundrechtskatalog, der sich ausschließlich auf die Bun­ desgesetzgebung bezieht56• Es werden die fundamentalen Freiheitsrechte 57, die Gleichheitsrechte58 sowie die Rechtsschutz betreffenden Grundrechte 59 über die Canadian Bill of Rights geschützt Wegen ihrer einfachgesetzlichen Rechtsnatur wurde der Canadian Bill of Rights anfangs im rechtswissenschaftlichen Schrifttum kein großer Stellenwert beigemessen. Man betrachtete sie lediglich als Auslegungshilfe für die Inter­ pretation bestehender bzw. die Abfassung neuer Bundesgesetze (sog. canon of construction theory)ro. Diese Auffassung hat aber nicht ausreichend berück­ sichtigt, daß die Canadian Bill of Rights die folgende Bestimmung enthält Art. 2: "Every law of Canada shall, unless it is expressly declared by an act of the Parliament of Canada that it shall operate notwithstanding the Canadian Bill of Rights, be so construed and applied as not to authorii.e the abrogation, abridgernent or infringernent of any other rights or freedorns herein recognii.ed and declared." Mit dieser Regelung hat der Bundesgesetzgeber den in der Canadian Bill of Rights genannten Grundrechten eine gewisse Vorrangstellung gegenüber son­ stigem Bundesrecht verliehen. Im späteren Schrifttum 6 1 sowie in der Rechtsprechung62 vertrat man deshalb die Auffassung, die Canadian Bill of Rights nicht als bloße Auslegungshilfe, sondern als quasi verfassungsrechtliches

54 S.C. 1 9(,(), c. 44; R.S.C. 1 970, Appendix m, abgedruckt in Anhang 1, S.193 ff. 55 Zur Canadian Bill of Rights siehe die folgende Literatur: Tarnopolsky, Can. Bill of Rights; Hogg, Const Law, S. 63 9 ; ders., Can. Bar Rev. 1979 , 626; Davis, Can. Const Law Handbook, S. 824 ff; Laskin, Can. Bar Rev. 195 9, 77; Lederman, Can. Bar Rev. 1 95 9 , 4; McWhinney, Can. Bar Rev. 1959, 1 6; ders., The Arnerican Journal of Cornparative Law 196 1, 87; (1958), 5 McGill Law Journal, 36; Pigeon, Can. Bar Rev. 1959, 66; FR.Scoll, Can. Bar Rev. 1959, 1 35; Hampstead, in: Bronaugh/Hoffmaster/Sharzer, Readings in the Philosophy of Constitutional Law, S. 219 f; L. We­ ber, ZaöRV 40 (1980), 727. 56 Vgl.Sec. 5 (2) (3) Canadian Bill of Rights. 57 Sec. lc-f Canadian Bill of Rights (vgl. Anhang 1 , S. 184). 5 8 Sec. lb Canadian Bill of Rights, (vgl. Anhang 1, S. 184).

Sec.2a-g Canadian Bill of Rights, (vgl.Anhang 1, S. 1 85). (,() Vgl. Lederman, Can. Bar Rev. 1959 , 14; Pigeon, Can. Bar Rev. 1 959, 6 9 ; Schmeiser, Civil Liberties in Canada, S.39 , 42. 59

61 Siehe hierzu Bruton, 8 ( 1 961 ), McGill Law Journal, 1 10 f; Lyon, 22 ( 1 976), McGill Law Journal, (,() f. 62 Siehe beispielsweise die Urteile Hogan v. The Queen ( 1975), 2 S.C.R., 57 4; Miller and Cockriell v. Tue Queen (1 977), 2 S.C.R., 680; Gay Alliance Toward Equality v. Vancouver Sun (1 979), 2. S.C.R., 43 5 .

C. Der Schutz der Grw1drechte von 1867 - 1 9 82

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Rechtsdokument zum Schutze der Grundrechte zu betrachten 63 • Wegen des in Kanada geltenden Grundsatzes der Souveränität des Gesetzgebers ist es al­ lerdings umstritten gewesen, ob die in Art 2 festgelegte Vorrangwirkung bei Unvereinbarkeit einer bundesgesetzlichen Regelung mit der Canadian Bill of Rights zur Unwirksamkeit des Bundesgesetzes führt64• Der Supreme Court of Canada vertrat diesbezüglich die folgende Haltung: Bei Bundesgesetzen, die vor dem Inkrafttreten der Canadian Bill of Rights wirksam geworden waren, wurde die Unwirksamkeit der gesetzlichen Regelung im Falle der Un­ vereinbarkeit mit der Canadian Bill of Rights grundsätzlich bejaht65. Da es dem souveränen Gesetzgeber jederzeit möglich ist, eine frühere Gesetzgebung auf­ zuheben und durch eine neue zu ersetzen, sah der Supreme Court of Canada nämlich in der Vorrangstellung der Canadian Bill of Rights gegenüber Bundes­ gesetzen, die bereits vor ihrem Inkrafttreten wirksam geworden waren, keinen Widerspruch zum Grundsatz der Souveränität des Gesetzgebers66• So erklärte er z.B. im sog. Drybones Case67 Sec. 94 Indian Act - eine bundesrechtliche Regelung, die vor dem Erlaß der Canadian Bill of Rights in Kraft getreten war wegen Unvereinbarkeit mit Art. lb Canadian Bill of Rights für unwirksam 68• Für Bundesgesetze, die nach dem Inkrafttreten der Canadian Bill of Rights er­ lassen worden waren, hat der Supreme Court of Canada sich zwar in einigen "dicta" dafür ausgesprochen, ebenfalls die Unwirksamkeit der gesetzlichen Re­ gelung bei Unvereinbarkeit mit der Canadian Bill of Rights zu bejahen69. In seiner Rechtsprechung hat er jedoch kein einziges Bundesgesetz, das nach dem Erlaß der Canadian Bill of Rights in Kraft getreten war, wegen Unvereinbarkeit mit der Canadian Bill of Rights für unwirksam erklärt7°. Da die Canadian Bill of Rights lediglich mit einer einfachgesetzlichen, nicht dagegen mit einer ver­ fassungsrechtlichen Vorrangwirkung ausgestattet ist, konnte sich der Supreme Court of Canada nämlich nicht dazu durchringen, den Grundsatz der Souverä63 V l. z.B. die Ausführungen von Richter Laskin in der Entscheidun Ho an v. Tue Queen, S. g g g 579 : " ... Tue Canadian Bill of Rights is a half-way house between a purely common law regirne and a constitutional one; it may aptly be described as a quasi-constitutional instrumenl" 64 So auch L. Weber, ZaöRV 40 (1 980), 750 ff; Bothe, JöR 35 (198 6), 273; Grenier, 6 (1975), Rev. Generale de Droit, 60 ff. 65 Siehe die in Fn. 62 an e ebenen Urteile; vgl. ferner Beaudoin, Can. Bar Rev. 1959, 695 ff; g g McWhiMey, Can. Bar Rev. 1 959, 16; Tarnopolsky, Can. Bar Rev. 1 975, 649; Hovius/Martin, Can. Bar Rev. 1 9 83, 354 ff. 66 Näher hierzu Hogg, Const. Law, S. 64 1 ff. 67 (1 970), S.C.R., 282. 6 8 Zu dieser Entscheidung siehe Tarnopolsky, Can. Bill of Rights, S. 135 ff; Lederman, Continuing Const. Dilemmas, S. 415 ff. 69 Siehe beispielsweise die Urteile Curr v. R., (1 9 72), S.C.R., 889 (893); A.G. Canada v. Lavell, (1 974), S.C.R., 1349 (1388); Miller v. R. (1977), 2 S.C.R., 680 (686). 70 So auch Hogg, S. 646; Beaudoin, Can. Bar Rev. 1 975, 695 ff; Hovius/Martin, S. 354 ff.

Teil 1 : Verfassungsrechlliche Lage Kanadas vor 1982

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nität des Gesetzgebers grundsätzlich zugunsten der in der Canadian Bill of Rights genannten Grundrechte zu beschränken7 1 • Aus diesem Grund ist der sog. Drybones Case der einzige Fall geblieben, in dem eine bundesgesetzliche Regelung wegen Unvereinbarkeit mit der Canadian Bill of Rights für un­ wirksam erklärt wurde72. Die restriktive Auslegung der Canadian Bill of Rights durch den Supreme Court of Canada hatte zur Folge, daß die Canadian Bill of Rights keine verpflichtende Bindungswirkung für den Bundesgesetzgeber be­ saß. Daher hat sie für die Verbesserung des Grundrechtsschutzes auf Bundes­ ebene keinen großen Fortschritt gebracht73 • Dies wird in einem späteren Kapi­ tel am Beispiel der Gleichheitsrechte näher dargestellt werden74•

2. Grundrechtsschützende Provinzgesetzgebung Auf Provinzebene ist es nach dem 2. Weltkrieg nur vereinzelt zum Erlaß grundrechtsschützender Gesetze gekommen. Zuerst kodifizierte der Gesetzgeber von Alberta 1946 eine Bill of Rights 75, die in Part I einen Katalog klassischer Grundrechte sowie eine Reihe sozialer Rechte und in Part II Regelungen über Kreditvergaben enthielt. Die in Part II getroffenen Regelungen sollten garantieren, daß der Gesetzgeber von Alberta für die in Part I genannten sozialen Garantien (z.B . Recht auf Arbeits­ losenunterstützung) finanziell aufkommen konnte. Diese in Part II getroffenen Bestimmungen wurden jedoch 1947 aus kompetenzrechtlichen Gründen gerichtlich für nichtig erklärt76. Die Alberta Bill of Rights verlor daher bereits ein Jahr nach ihrer Inkraftsetzung ihre Wirksamkeit 1947 wurde ein weiterer Provinzgesetzgeber, nämlich der Gesetzgeber von Saskatchewan, hinsichtlich der Kodifizierung eines Grundrechtskatalogs aktiv. Er erließ eine Bill of Rights77 , die den Schutz fundamentaler Freiheitsrechte, politischer Rechte sowie eine Diskriminierungsschutzgarantie umfaßt78. Sec. 71

Vgl. Lane/Malanczuk, Der Staat 20 (1981), 545. 72 Siehe ausführlich mm Dtybones Case S. 1 13 f. 73 So auch Szawlowski, EuGRZ 1983 , 366; Bothe, JöR 3 5 (1986), 275; laForest, Can. Bar Rev. 1983, 22. 74 Vgl. S. 1 1 3 ff. 75 S.A. 1946, c. 1 1. 76 A.G. Alberta v. A.G. Canada (Re Alberta Bill of Rights), (194 ) A.C., 503 . 7 77 s.s. 1947, c. 35. 7 8 Zur Saskatchewan Bill of Rights siehe Tar,wpolsk:y, Can. Bill of Rights, S. 7 ff. 6

C. Der Schutz der Gnmdrechte von 1 867 - 1 9 82

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15 Saskatchewan Bill of Rights legt ferner fest, daß die in der Bill of Rights genannten Rechte bei Nichtbeachtung mittels strafrechtlicher Sanktionen durchgesetzt werden können79. Diese Regelung wurde für verfassungswidrig gehalten80, da der Bundesgesetzgeber nach Art. 9 1 Nr. 27 BNA Act 1 867 die ausschließliche Gesetzgebungsbefugnis für das Strafrecht besitzt. Zu einer gerichtlichen Überprüfung der Saskatchewan Bill of Rights kam es jedoch nicht, so daß dieser Grundrechtskatalog heute noch in Kraft ist8 1 . Nach der Kodifizierung der Saskatchewan Bill of Rights 1947 kam es erst wieder in den siebziger Jahren zum Erlaß grundrechtsschützender Provinzge­ setze. 1972 kodifizierte der Gesetzgeber Albertas erneut einen Bill of Rights Act82 . Bei diesem Gesetz handelt es sich um eine Grundrechtskodifikation, die der Canadian Bill of Rights nachgebildet ist83 . Ferner erließ 1975 der Ge­ setzgeber von Quebec ein grundrechtsschützendes Gesetz. Durch die Charte des droits et libertes de la personne (Quebec-Charta) 84 wurden in dieser Pro­ vinz erstmalig fundamentale Freiheitsrechte, Gleichheitsrechte, politische Grundrechte, Rechtsschutz betreffende Rechte sowie wirtschaftliche und so­ ziale Grundrechte kodifiziert Mit diesem Gesetz wollte man in Quebec nicht nur den Grundrechtsschutz verbessern, sondern man bezweckte auch, ein poli­ tisches Zeichen zu setzen85. Als die Quebec-Charta 1975 in Kraft trat, befand sich die Provinz Quebec in einer politischen Krise. Es bahnte sich die Forde­ rung nach einem souveränen Quebec an 86. Der Erlaß einer provinzeigenen Grundrechtscharta sollte daher u.a. auch die Unabhängigkeit Quebecs ge­ genüber dem restlichen kanadischen Bundesstaat ausdrücken 87. Bei den Grundrechtskatalogen von Saskatchewan, Alberta und Quebec han­ delt es sich um einfachgesetzliche Rechtstexte, die jedeneit aufgehoben oder abgeändert werden können. Ihre grundrechtssichemde Funktion ist hierdurch begrenzt. Außerdem enthalten nur die Alberta Bill of Rights von 1972 und die 79 Siehe hierzu ausführlich Tarnopols/cy, Discrimination and the Law, S. 27. 80 Vgl. 0. Lang, Can. Bar Rev. 1959, 233 ff. 8 1 Heute ist die Saskatchewan Bill of Rights in Pan I des Human Rights Code von Saskatchewan (S.S. 1980-8 1, c. 41 und 8 1) integriert. Die Regelung des Sec. 15 Saskatchewan Bill of Rights a.F. wurde allerdings nicht übernommen. 82 S.A. 1972, c. l; R.S.A. 1980, c. A- 1 6. 83 So Hogg, Const Law, S. 633; Tarnnpolsky, in: Beck/Bernier, Canada and the New Constitution, S. 286. 84 LQ. 1 975, c.6; LR.Q. 1977, c. 12 modifie par L.Q. 1 9 82, c. 61, abgedruclct in Anhang 1, S. 1 87 ff. 85 So Bothe, IöR 35 ( 1 986), 6. Zum Grund der Einführung der Chane Quebecoise siehe ferner 27 Morin, 9 ( 1 963), McGill Law Journal, 289 ff. 86 Näher hierzu S. 39 f. 87 Siehe hierzu More/, 2 1 (19 87), No. 1 RJ.T., 4 ff. 3 Zimmermann

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Teil 1: Verfassungsrechtliche Lage Kanadas vor 19 82

Quebec-Charta eine Klausel, die bestimmt, daß die kodifizierten Grund­ rechtsgarantien den sonstigen Provinzgesetzen im Range vorzugehen haben. Die Alberta Bill of Rights von 1972 beinhaltet in Art. 2 eine Vorrangbestim­ mung, die der Vorrangklausel der Canadian Bill of Rights entspricht Ob auf­ grund dieser Bestimmung Gesetze Albertas, die gegen die Alberta Bill of Rights verstoßen, gerichtlich für unwirksam zu erklären sind, ist von der Rechtsprechung nicht entschieden worden. Die Quebec-Charta in der Fassung von 1975 sah in Art. 52 eine Regelung vor, die bestimmte, daß alle Gesetze Quebecs, die nach dem Inkrafttreten der Quebec-Charta wirksam geworden waren, den Art. 9-38 (Diskriminierungs­ schutz und politische Grundrechte) Quebec-Charta entsprechen mußten. Auf­ grund dieser Bestimmung sah sich der Gesetzgeber Quebecs veranlaßt, beim Erlaß neuer Gesetze die Art. 9-38 Quebec-Charta zu beachten. Ab 1975 hat sich daher über die Quebec-Charta ein gewisser Schutz der Grundrechte in Quebec entwickelt. Dieser Grundrechtsschutz war allerdings in zweifacher Hinsicht eingeschränkt: Zum einen bezog sich die grundrechtssichemde Wirkung der Quebec­ Charta nicht auf Gesetze Quebecs, die vor dem Inkrafttreten der Quebec­ Charta, also vor dem 27.6.1975, wirksam geworden waren. Zum anderen besaßen die fundamentalen Freiheitsrechte (Art. 1-8) der Quebec-Charta keine Vorrangwirkung gegenüber den Gesetzen Quebecs 88. Die Saskatchewan Bill of Rights enthält im Gegensatz zu den zuvor genann­ ten Grundrechtskatalogen keine Vorrangbestimmung. Eine verpflichtende Bindungswirkung für den Gesetzgeber hat die Saskatchewan Bill of Rights des­ halb nicht. Außer in den Provinzen Saskatchewan, Alberta und Quebec wurden in kei­ nen weiteren Provinzen Grundrechtskataloge kodifiziert89. Die Gesetzgeber der anderen Provinzen beriefen sich auf die britische Rechtstradition und lehnten es daher ab, ihre gesetzgeberische Souveränität durch einen geschriebenen Grund­ rechtskatalog freiwillig zu beschränken.

88 Diese beschränkte Vorrangwirlcung der Quebec-Charta wurde 19 82 geändert, siehe hierzu S. 69 ff. 89 Vgl. Bothe, IöR 35 (19 86), 276.

C. Der Schutz der Gnmdrechte von 1 867 - 1 9 82

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3. Antidiskriminierungsgesetzgebung Ab dem 2. Weltkrieg ergingen in Kanada vorwiegend auf Provinzebene eine ganze Reihe von Gesetzen, die die Verbesserung des Diskriminierungsschutzes zum Ziel hatten. Der Erlaß einer solchen Gesetzgebung hängt unmittelbar mit den Ereignissen und Folgen des 2. Weltkrieges zusammen. Nicht nur in Eu­ ropa, auch in Kanada und in den USA war es während des 2. Weltkrieges zu Diskriminierungen von Juden gekommen. Nach Kriegsende setzten sich in Nordamerika jüdische Organisationen dafür ein, auf diese Diskriminierung aufmerksam zu machen. Es entwickelte sich hierdurch in der nord­ amerikanischen Gesellschaft ein verstärktes Bewußtsein für Fragen der Ras­ sengleichheit90. Als Reaktion hierauf führte man in den USA ab den vierziger Jahren Gesetze ein, die eine bessere Gleichstellung der Rassen - was sich vor­ wiegend auf die schwarze Bevölkerung der USA bezog - bezweckte9 1 . Auch in Kanada wurden zu dieser Zeit Diskriminierungsschutzgesetze 92 eingeführt, wobei diese Gesetze vor allem einen Abbau von Diskriminierungen für Juden, Japaner93 und Ureinwohner (Indianer und Inuiten) zum Ziel hatten. Ab den sechziger Jahren wurden dann in Kanada sowie in den USA sog. Human bzw. Civil Rights Acts kodifiziert94. Ein vermehrtes Bewußtsein für den Schutz von Minderheiten oder Benachteiligter (z.B. Behinderter) sowie die zunehmende Emanzipation der Frau haben diese Gesetzgebung hervorgebracht95. Es handelt sich hierbei um Gesetze, die nicht nur vor rassischer Diskriminierung schützen, sondern die einen umfassenden Katalog von Diskriminierungsverboten enthal­ ten. Die in Kanada auf Provinzebene ab 1962 erlassenen Human Rights Acts96 9 0 Vgl. Bothe,

277 ff. Z.B. der Fair Employment Practices Act von New York, der 1 945 erging. 9 2 Z.B. der Racial Discrimination Act von Ontario (1 9 44). Für weitere Nachweise siehe Bothe, 278. 93 Zur Diskriminierung der J aner vgl. die Ausführungen auf S. 24 f. ap 9 4 Zur Human Rights Legislation in Kanada siehe Tarnopols/cy, Discrimination and the Law, S. 30 ff; Juriansz, in: Beaudoin, Your Clients and the Charter, S. 321 ff; Days, Tue American Journal of Comparative Law 1 9 84, 315 ff. Zu den in den USA erlassenen Civil Rights Acts siehe Steinberger, JöR 20 (1 971), 422. 95 Vgl. Bothe, 27 9 . 96 Für Onlario siehe: Human Rights Code, S.O. 1 9 81, c. 5 3 (aktuelle Fassung des 1962 erlassenen Gesetzes); Nova Scotia: Human Rights Act, S.N.S. 1 969 , c. 1 1 ; Alberta : Human Rights Act (1 966) ersetzt durch Tue Individual Rights Protection Act, S.A. 1972, c. 2 as amended; Prince Edward Island: Human Rights Act, S.P.E.I. 1 968, c. 24; R.S.P.E.I. 1 974, c. 7; S.P.E.I. 1 975 , c. 72; Manitoba: Human Rights Act S.M. 1970, c. 104; S.M. 1 974, c. 65 ; Newfoundland: Human Rights Code, R.S.N. 1 970, c. 262; S.N. 1 9 88, c. 62; New Brunswick: Human Rights Code, S.N.B. 1 971, c. 8; R.S.N.B. 1 973 , c. H-1 1 ; BriJish Co/umbia: Human Rights Code R.S.B.C. 1 979 , c. 1 86 ersetzt durch Human Rights Act, S.B.C. 1 9 84, c. 22; Saskatchewan: Human Rights Code R.S.S. 1 979 , c. S-24. 1.; S.S. 1 9 80-81, c. 41 und 81. In Quebec sind Diskriminierungsschutzgarantien in der Charte des droits et libertes de Ja personne, Art. 10-20 und 57-86 integriert. 91

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Teil l : Verfassungsrechtliche Lage Kanadas vor 1982

untersagen Diskriminierungen aufgrund der Religion, des Geschlechts, des Familienstandes, der Hautfarbe, der Rasse, des Alters sowie aufgrund von Behinderung. Im einzelnen kann diese Aufzählung von Diskriminie­ rungsverboten in den Human Rights Acts der verschiedenen Provinzen variie­ ren. So sieht z.B. nur der Human Rights Code von Ontario97 ein Diskriminie­ rungsverbot aufgrund der geschlechtlichen Veranlagung (sexual orientation) vor. Der Anwendungsbereich der Human Rights Acts erstreckt sich auf Diskriminierungen in Einrichtungen, die der Öffentlichkeit zugänglich sind (z.B. Geschäfte, Theater, Restaurants, öffentliche Transportmittel), bei der Unterbringung (Mietverhältnis, Pacht von Eigentum etc.), im Beschäfti­ gungsverhältnis (Anstellung bzw. Kündigung, Arbeitsplatzausgestaltung etc.) sowie auf Diskriminierungen, die durch Werbung, Schilder oder Anzeigen vor­ genommen werden. Auch der kanadische Bundesgesetzgeber hat 1977 ein Antidiskriminierungs­ gesetz, den Canadian Human Rights Act98, erlassen, der in seinem Inhalt weit­ gehend den Human Rights Acts der Provinzen entspricht Der Canadian Human Rights Act untersagt Diskriminierungen in Bereichen, die vom Bund geregelt sind. Dies gilt beispielsweise für öffentliche Transportmittel des Bundes wie die kanadische Bundesbahn Via Rail oder für alle Arbeitsverhältnisse, bei denen der Bund Arbeitgeber ist99 , Der Erlaß dieser Antidiskriminierungsgesetze führte in Kanada zu einer er­ heblichen Verbesserung des Diskriminierungsschutzes 1 00• Diese Verbesserung bezieht sich allerdings lediglich auf den Schutz vor diskriminierenden Prakti­ ken durch die Exekutive oder den Privatmann. Zu einer Bindung des Gesetzge­ bers führen die Antidiskriminierungsgesetze nämlich nicht. Über sie ist daher kein Schutz vor diskriminierender Gesetzgebung zu erzielen. Ihre Funktion für den Schutz der Gleichheitsrechte ist deshalb in dieser Hinsicht begrenzt Hier­ auf wird in einem späteren Kapitel noch einmal näher einzugehen sein 101 • 4. Zusammenfassung zum Grundrechtsschutz

Auch nach dem Erlaß grundrechtssichemder Gesetze waren die Grundrechte in Kanada nur unzulänglich geschützt: 97 Vgl. Sec. l. 98 S.C. 1976-77, c. 33, geändert S.C. 1 977-78, c. 22; 1980-81-82-83, c. 1 1 1, 1 43; 1984, c. 21 ; 1985, c. 26. 99 Siehe hierzu Tarnopols/cy, Discrimination and the Law, S. 47 ff. lOO So Days, 3 17 ff. lOl Vgl. S. 1 16 ff.

D. Verfass1D1gsrechtliche und verfassungspolitische Ereignisse ab 1970 bis 1982

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Auf Bundesebene verpflichtete die Canadian Bill of Rights wegen ihrer re­ striktiven Auslegung durch den kanadischen Supreme Court den Bundesge­ setzgeber nicht dazu, die in ihr genannten Grundrechte legislativ zu beachten. Auf Provinzebene kodifizierten nur die Gesetzgeber von Alberta, Saskatche­ wan und Quebec einen umfassenden Grundrechtskatalog, wobei ausschließlich die Quebec-Charta eine gewisse Verbesserung für den Grundrechtsschutz auf Provinzebene brachte. Die Antidiskriminierungsgesetze gewährleisteten zwar einen effektiven Schutz vor diskriminierenden Praktiken, über sie war aber kein Schutz vor diskriminierender Gesetzgebung zu garantieren. Wegen dieses nur lückenhaft zu gewährleistenden Grundrechtsschutzes war man in Kanada weiterhin be­ müht, einen verfassungsrechtlichen Grundrechtskatalog (Grundrechtscharta) einzuführen. Die folgenden Ausführungen werden darstellen, wie man dabei vorgegangen ist

D. Verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Ereignisse ab 1970 bis zum Inkrafttreten des Canada Act 1982 I. Reforminitiativen zum Erlaß einer Grundrechtscharta in den Jahren 1970-1978 Für die Kodifizierung einer verfassungsrechtlichen Grundrechtscharta setzte sich in Kanada ab den späten sechziger Jahren besonders Pierre Elliott Trudeau ein. Trudeau hatte als Hochschullehrer in den fünfziger Jahren in Quebec miterlebt, wie es unter der Regierung Duplessis zum Erlaß grundrechtsverlet­ zender Gesetze gekommen war. Aufgrund dieser Erfahrung trat er dafür ein, die Souveränität des Gesetzgebers durch einen verfassungsrechtlichen Grund­ rechtskatalog zu beschränken. Als er 1968 Premierminister von Kanada wurde, war die Kodifizierung einer verfassungsrechtlichen Grundrechtscharta daher eines seiner wichtigsten Anliegen. Ohne seine treibende Kraft wäre es sicher­ lich nicht zu einer verfassungsrechtlichen Kodifikation der Grundrechte in Ka­ nada gekommen 1 . Auf seine Initiative hin wurden 1970 die Victoria Charter2 und 1978 die Bill C-60 erarbeitet. Diese Verfassungsreformentwürfe sahen

l Vgl. B01he, JöR 35 (1986), 281 f und 286 f; Hogg, ConsL Law, S. 650. 2 1.ur Victoria Charter vgl. S. 28 f.

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Teil 1 : Verfassungsrechtliche Lage Kanadas vor 1 982

beide die Kodifizierung einer Grundrechtscharta vor 3• Auf den Verfassungs­ konferenzen, bei denen es um ihre Annahme ging, konnten sich die Vertreter der Provinzen aber nicht mit dem Inhalt dieser Reformentwürfe einverstanden erklären4• Wegen des Widerstands der Provinzen war es Trudeau deshalb bis in die späten siebziger Jahre hinein nicht möglich, den Erlaß einer verfassungs­ rechtlichen Grundrechtscharta durchzusetzen. Zwischenzeitlich, nämlich Mitte der siebziger Jahre, hatten sich in den Westprovinzen Alberta und Saskat­ chewan sowie in der überwiegend frankophonen Provinz Quebec Separations­ bestrebungen entwickelt, durch die der kanadische Bundesstaat in eine Verfas­ sungskrise geraten war. Da die Ereignisse in den Westprovinzen und in Quebec die ab 1980 eingeleiteten Initiativen zur Refonnierung der kanadischen Verfas­ sung und damit auch zur Einführung einer Grundrechtscharta ganz entschei­ dend mitgeprägt haben, sollen sie im folgenden kurz dargestellt werden.

II. Die Verfassungskrise aufgrund der separatistischen Bestrebungen in den Westprovinzen und in Quebec Die separatistischen Bestrebungen in den Westprovinzen beruhten auf einem Handelsstreit mit dem Bund5• Nachdem Ende der sechziger, Anfang der siebzi­ ger Jahre in den Westprovinzen Alberta und Saskatchewan große Roh­ stoffvorkommen an Erdöl und Erdgas gefunden worden waren, entbrannte Mitte der siebziger Jahre zwischen der Bundesregierung und den Regierungen der Westprovinzen ein heftiger Streit über die Frage, wer für den Handel mit den Rohstoffen regelungsbefugt sei. Die Bundesregierung beanspruchte eine Regelungsbefugnis für den Bundesgesetzgeber, um auf diese Weise den Handel mit den Rohstoffen kontrollieren zu können. Durch den Erlaß bundes­ rechtlicher Handelsvorschriften sollte die Versorgung aller kanadischen Pro­ vinzen mit billigen Rohstoffen aus dem eigenen Land gesichert werden. Die Regierungen der Westprovinzen verlangten hingegen eine Regelungsbefugnis für den Provinzgesetzgeber, weil sie im Handel mit den Rohstoffen die Chance sahen, in wirtschaftlicher Hinsicht gegenüber dem reichen industrialisierten Osten Kanadas - nämlich gegenüber den Provinzen Ontario und Quebec - unab3 Zur Bill C -{i() (A C onstitutional Arnendment Bill) siehe Cairns, in: BanJing/Simeon, And no One C heered, S. 3 7; McWhiMey, JöR 28 (1 979), 680 ff; Monahan, The C harter, S. 1 74 f; Gibson, 9 (1 979), No. 4 , Manitoba Law Journal, 363 ff. 4 Vgl. im einrelnen Remillard, Le Federalisme, S. 85 und 1 01 ff. 5 Siehe hierzu Bothe, JöR 3 1 (1 982 ), 1 35; Conway, The West, S. 1 95 ff.

D. Verfass1D1gsrechtliche und verfassungspolitische Ereignisse ab 1970 bis 1982

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hängiger zu werden. Die separatistischen Bestrebungen in den Westprovinzen beruhten also ausschließlich auf ökonomischen Überlegungen 6• Eine andere Situation bestand dagegen in Quebec. Die separatistischen Be­ strebungen in dieser Provinz gehen bereits auf Ereignisse der sechziger Jahre zurück, eine Zeit, in der sich die überwiegend frankophone Bevölkerung Que­ becs gegen die Vormachtstellung der anglophonen Kanadier in Quebec auf­ lehnte (sog. revolution tranquille). Diese Auflehnung hatte sprachlich-kul­ turelle, soziale und ökonomische Gründe7• Das Wirtschaftsleben in Quebec wurde seit der Gründung des kanadischen Bundesstaates vorwiegend von anglophonen Kanadiern bestimmt8• Dies hatte zur Folge, daß sich die Franko­ kanadier in Quebec der englischen Sprache bedienen mußten, um am Wirt­ schaftsleben teilnehmen zu können. Da sich zahlreiche Frankokanadier wei­ gerten, die englische Sprache anzunehmen, waren Führungsposten in der Wirt­ schaft fast ausschließlich mit anglophonen Kanadiern besetzt Folge hiervon war ein soziales Gefälle zwischen frankophonen und anglophonen Kanadiern in Quebec. Die Frankokanadier bildeten die unterpriviligierte, die Anglokanadier die reiche Gesellschaftsschicht9• Zusätzlich stellte sich für die Frankokanadier Quebecs das Problem der Bewahrung ihrer sprachlich-kulturellen Identität. Da die Geschäftssprache in Quebec fast ausschließlich Englisch war, drohte die französische Sprache immer mehr an Bedeutung zu verlieren. Diese Situation wurde dann in den sechziger und siebziger Jahren durch den Umstand ver­ schärft, daß zahlreiche Immigranten nach Quebec gekommen waren, die es ablehnten, die französische Sprache anzunehmen. Da zur gleichen Zeit die Ge­ burtenrate bei den Frankokanadiern in Quebec sank, war das Überleben der französischen Kultur in Quebec gefährdet 1°. Diese Ereignisse sowie die zuvor beschriebene wirtschaftliche Schlechterstellung der Frankokanadier bewirkten, daß man Mitte der sechziger Jahre in Quebec eine umfassende Selbstbe­ stimmung der Frankokanadier für alle wirtschaftlichen, sozialen und sprach­ lich-kulturellen Angelegenheiten verlangte. 1968 kam es zur Gründung der Parti Quebecois, deren Zielsetzung es war, diese umfassende Selbstbestim­ mung für die Frankokanadier Quebecs durchzusetzen 1 1 • Als die Parti Que­ becois 1976 unter Führung von Rene Uvesque die Regierungsmacht in Quebec 6 Weiterführend hierzu Lane/Malanczuk, Der Staat 20 (1981), 554. 7 Vgl. hierzu McWhinney, JöR 19 (1970), 331 ff; ders., JöR 26 (1977), 513 ff; R.O.Scludtze, Politik 1D1d Gesellschaft in Kanads, S. 326 ff; Hudon, in: Banling/Simeon, And no One Cheered, S. 133 ff; Lajoie/Mwlazzi/Gamache, in: Bernierllajoie, Supreme Court of Canads, S. 23 ff. 8 So McWhinney, JöR 19 (1970), 332; Pletsch, 1.eitschrift der Gesellschaft für Kanads-Studien, 13 (1988), 14 f. 9 Siehe R.O.Schultze, S. 326 ff; Pletsch. S. 14 f. 10 Siehe hierzu A. Weber, EuGRZ 1985, 29; R.O.Schultze, S. 163 f. 1 1 Vgl. Lajoie/Mulazzi/Gamache, S. 28 ff; McWhinney, Journal of the Indian Law Institute 29 (1983), 10 f.

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Teil 1: Verfassungsrechtliche Lage Kanadas vor 1982

übernahm, erging auf ihre Initiative hin 1977 ein Sprachengesetz, das die eng­ lische Sprache aus allen wichtigen Lebensbereichen Quebecs verbannte. Die sog. Charte de la langue fran� 1 2 legte die französische Sprache als aus­ schließliche Amts-, Unterrichts-, Handels- und Geschäftssprache in Quebec fest 1 3 • Zur Verwirklichung einer wirtschaftlichen, sozialen und sprachlich-kul­ turellen Selbstbestimmung der Frankokanadier in Quebec ging die Regierung Levesque Ende der siebziger Jahre dann noch einen Schritt weiter. Sie forderte die Separation der Provinz Quebec unter Beibehaltung von Wirtschaftsbezie­ hungen zum restlichen kanadischen Bundesstaat (Forderung nach einer "souverainete-association ") 14. Ende der siebziger Jahre war die Existenz des kanadischen Bundesstaates also in zweifacher Hinsicht bedroht: Zum einen hatten sich im kanadischen Westen regionalistische Tendenzen (sog. westem regionalism) entwickelt, die das Ziel verfolgten, eine größere wirtschaftliche Unabhängigkeit der Westprovinzen zu ermöglichen. Zum an­ deren war es zu nationalistischen Bestrebungen in Quebec (sog. Quebec natio­ nalism) gekommen, die zur Anerkennung eines souveränen Quebec führen sollten 15. Um zu vermeiden, daß diese zentrifugalen Kräfte in den Provinzen zu einem Auseinanderbrechen der kanadischen Konföderation führen würden, versprach Trudeau Ende der siebziger Jahre auf dem Wege einer Verfassungsänderung eine umfassende Neugestaltung der kanadischen Konföderation (sog. federa­ lisme renouvele). Er sicherte beispielsweise eine Neuverteilung der Rohstoff­ kompetenzen zugunsten der Provinzen sowie eine Verbesserung der Rechte der Frankokanadier in Quebec zu 1 6• Durch letzteres konnte er eine Separation der Provinz Quebec verhindern 17• Bei der am 20. Mai 1980 abgehaltenen Volksab­ stimmung (sog. Quebec-Referendum) stimmte die knappe Mehrheit der Fran­ kokanadier für einen Verbleib der Provinz Quebec in der kanadischen Konfö­ deration 18 . Hiermit war zwar ein Auseinanderbrechen des kanadischen Bun12 LR.Q. 1977, c. l l . 13 Ausführlich hieJZU A. Weber, 29; McWlunney, IöR 26 ( 1 977), 527. 1 4 VgL La nouvelle entente Quebec-Canada, Proposition du Gouvernement du Quebec pour une entente d'egal 11 egal: La souverainite-association (Quebec 1 979). 1 5 Siehe hieJZU Cairns, in: BanJing/Simeon, And no One Cheered, S. 3 2 ff. 16 Siehe hieJZU The Task Force on Canadian Unity, A Future Together (Observations and Recommendations), S. l ff. 1 7 V l. l..mu/Malanczruc, Der Staat 20 (1981), 540. g 1 8 Das Stimmenverhältnis betrug 59 ,5 % zu 40,5 % für das Verbleiben Quebecs in der kanadischen Konföderation, vgl. McWhinney, The American Journal of Cornparative Law 1984, 243.

D. Verlass1mgsrechtliche und verlassungspolitische Ereignisse ab 1970 bis 1982

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desstaates abgewendet, die föderale Verfassungskrise aber keinesfalls über­ wunden. Um einen dauerhaften Zusammenhalt der kanadischen Konföderation zu sichern, bedurfte es vielmehr der Durchführung der angekündigten Verfas­ sungsreform. Neue Verhandlungen mit den Provinzen waren daher erforderlich.

m. Verfassungsverhandlungen zwischen dem Bund und den Provinzen nach dem Quebec-Referendum (Juni-September 1980) Unmittelbar nach dem Referendum in Quebec nahm die Bundesregierung im Juni 1980 verfassungsrechtliche Verhandlungen mit allen Provinzregierungen auf. Diese Verhandlungen dienten der Vorbereitung einer vom 8.-13.9. 1980 abgehaltenen Verfassungskonferenz, auf der der kanadische Premierminister Trudeau den Premierministern der Provinzen Vorschläge zur Reformierung der kanadischen Verfassung unterbreitete. Es ging im einzelnen um eine Neuver­ teilung der Rohstoffkompetenzen, die Annahme eines verfassungsrechtlichen Änderungsverfahrens sowie um die Einführung einer Grundrechtscharta 19. Die vorgeschlagene Verfassungsreform konnte Trudeau jedoch nicht durch­ setzen, da die Mehrzahl der Provinzpremierminister den Entwurf der Grund­ rechtscharta ablehnten20• Sie wandten sich grundsätzlich gegen eine verfas­ sungsrechtliche Kodifizierung von Grundrechten, weil sie dies mit der kanadi­ schen Rechtsordnung, die bis zu diesem Zeitpunkt uneingeschränkt auf dem britischen Verfassungsgrundsatz der Souveränität des Gesetzgebers aufbaute, nicht für vereinbar hielten21 • Ferner argumentierten sie, daß die Kodifizierung einer Grundrechtscharta zu einer Politisierung der Justiz und damit verbunden zu einer Entdemokratisie­ rung des politischen Entscheidungsprozesses führen würde. Nach ihrer Auffas­ sung war die Sicherung der Rechte des einzelnen eine Aufgabe des demokra-

l 9 Vgl. hierm Dossier sur !es discussions constitutionnelles, Commission de Ja presidence du conseil et de la constitution (Quebec, Aout 1980), S. 33 ff, 47 ff, 187 ff. Siehe ferner Remillard, Le Federalisme, S. 1 1 1 ff. 20 Vgl. hierm Federal-Provincial Confermce of First Ministen on the Constitution, Verbatirn Text, Vol. I, S. 1 -699. 21 Siehe hierzu beispielsweise die Ausführungm des Premierministen von Manitoba, The Hon. Sterling Lyon, Federal-Provincial Conference of Fint Ministen on the Constitution, Verbatim Text, Vol. 1, S. 476: " ... While Manitoba actively supports the protection of human rights it opposes the mtrenchment of a charter of rights and freedoms •.. We and other provinces in short find mtrenchment to be totally contrary to our traditional and our successful parliamentary govcmment and thereby not in the best interests of Canadians."

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Teil 1 : Verfassungsrechtliche Lage Kanadas vor 1982

tisch legitimierten Gesetzgebers und nicht eine Aufgabe der Richterschaft22. In Wirklichkeit stand hinter der Opposition der Provinzregierungen jedoch die Be­ fürchtung, durch die Einführung einer Grundrechtscharta gesetzgeberische Kompetenzen einbüßen zu müssen23 . In den USA war es zwischen 1937 und 1970 zu einer Einschränkung glied­ staatlicher Kompetenzen durch die Grundrechtsrechtsprechung des US-Su­ preme Court gekommen. Der US-Supreme Court hatte beispielsweise anhand des Gleichheitssatzes der Bundesverfassung eine Beschneidung gliedstaatlicher Regelungskompetenzen im Bildungswesen durchgeführt, um hierdurch einen Abbau staatengesetzlicher Rassenschranken zu bewirken 24. Gleichzeitig hatte er die gesetzgeberischen Maßnahmen des amerikanischen Bundesgesetzgebers unterstützt, indem er die sog. Bürgerrechtsgesetzgebung 25, die der Bund zur Aufhebung von Diskriminierungen unterprivilegierter Gruppen erlassen hatte, für verfassungsmäßig gehalten hat26. Diese Rechtsprechung zu den Grund­ rechten hatte in den USA in den fünfziger und sechziger Jahren zu einer Zentralisierung der gesetzgebenden Kräfte i.S. einer Stärkung des Gewichts des Bundes geführt27 . Eine solche E1. Nicklung wollten die kanadischen Provinzen aber auf jeden Fall vermeiden, um weiterhin ihre regionalen Interessen gegen­ über denen des Bundes durchsetzen zu können. Dies war der eigentliche Grund 22 Siehe die Ausführung des Premienninisters von Manitoba, The Hon. Sterling Lyon, Federal­ Provincial Conference of First Ministers on the Constitution, S. 478: "... An entrenched charter of rights would remove the supremacy of Parliament and of legislature which, because it leaves the determination and protection of rights in the hands of elected and accountable representatives of the people, is the comerstone of our parliamentai:y system of govemment. Parliament and the legis­ latures are better equipped to resolve social issues than are judges who are not accountable to the people. An entrenched charter would involve the courts in political matters, a fact recognised by many jurists, including fonner Supreme Court Judge Pigeon, who has recently pointed out that entrenching a charter of rights grants to the courts an important part of the legislative powers now vested in Parliament, powers of the people now vested in Parliament ... ". 23 So auch Bothe, JöR 3 5 (1986), 286 f. 24 V l. z.B. Brown v. Board of Education, 74 S.Ct. 686 (1954); Brown v. Board of Education of g Topeka, 75 S.CL 753 (1955). Für weitere Nachweise siehe Brugger, Grundrechte und Verfassungs­ gerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 158 ff; Steinberger, JöR 20 (197 1), 429 ff. 25 Die in den Jahren 1957, 1960, 1964 und 1966 erlassenen Civil Rights Acts, siehe hierzu Steinberger, S. 423. 26 Bezü lich des Civil Rights Act von 1957 siehe US v. Raines, 362 US 1 7 (1960); US v. g Thomas, 362 US 58 (1960); Hannah v. Larche / Hannah v. Slawson, 3 63 US 420 (1960); bezüglich der Civil Rights Acts von 1957 und 1960 siehe US v. Alabama, 362 US 602 (1960); US v. Mississippi, 380 US 1 28 (1965); Louisiana v. US, 380 US 145 (1965); bezüglich des Civil Rights Act von 1964 siehe Heart of Atlanta Motel v. US, 379 US 241 (1964); Katzenbach v. Mc□ung, 37 9 US 294 (19 64). 27 Vgl. Bothe, JöR 3 1 (1982), 1 1 3 ff, 132

D. Verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Ereignisse ab 1970 bis 1 9 82

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für ihre ablehnende Haltung gegenüber der Kodifizierung einer verfassungs­ rechtlichen Grundrechtscharta28. Nur die Regierungen von Ontario und New Brunswick unterstützten die Ein­ führung der Grundrechtscharta, weil sie der Ansicht waren, daß die Grund­ rechte auf diese Weise am effektivsten zu schützen seien 29• In dieser Auffas­ sung stimmten sie mit der Bundesregierung überein, die beabsichtigte, durch den Erlaß der Grundrechtscharta eine wirksame Absicherung der Grundrechte zu garantieren. Darüber hinaus ging es Trudeau aber vor allem auch darum, mit der Grund­ rechtscharta ein Rechtsinstrument zu schaffen, das geeignet war, die zentrifu­ galen Kräfte der Provinzen zu binden. Die Grundrechtscharta sollte als landes­ weit einheitlich geltender Wertekatalog die Provinzen dazu veranlassen, ihr re­ gionales Denken zugunsten eines nationalen aufzugeben (sog. nation building effect). Dies sollte weiteren Dezentralisierungstendenzen in den Provinzen ent­ gegenwirken und damit den Zusammenhalt der kanadischen Konföderation si­ chem30. Letztlich bezweckte Trudeau mit der Einführung der Grundrechtscharta also eine vermehrte Integration des in den achtziger Jahren in dieser Hinsicht stark angeschlagenen kanadischen Bundesstaates. Es galt vor allem eine verbesserte Integration der überwiegend frankophonen Provinz Quebec zu erreichen. Der Entwurf der Grundrechtscharta enthielt deshalb neue Bestimmungen, die spe­ ziell die sprachlich-kulturelle Problematik dieser Provinz betrafen. Durch die Charte de la langue fran�aise war Französisch als ausschließliche Unterrichtssprache in Quebec festgelegt worden. Nur durch eine Aus­ nahmevorschrift war es anglophonen Kanadiern, die ihre Schulausbildung in Quebec auf Englisch erhalten hatten, gestattet, ihre Kinder auf Englisch erzie­ hen zu lassen31 . Diese Regelung verfolgte das Ziel, die seit Generationen in Quebec lebenden anglophonen Kanadier in der Ausübung ihrer Sprachenrechte zu schützen und im übrigen zu verhindern, daß durch Zuzug weiterer anglo­ phoner Kanadier oder nicht französisch sprechender Immigranten die Anwen2 8 Vgl. Cairns, in: Banting!Simeon, And no One Cheered, S.

42. 29 Vgl. hierzu beispielsweise die Ausführungen des Premierministers von Ontario, The Hon. William Davis, Federal-Provincial Conference of First Ministers on the Constitution, S. 501 f: " ... We go through evolutionary processes in terrns of things we feel deeply about and I do respect the points of view that have been expressed but at the same time I say to you, Mr. Prime Minister, and to our fellow premiers who have expressed their views, that we really do support the entrenchment in the new constitution, if that is the way it might ultimately be described, of a charter of rights, because we believe that govemments and the people must make an explicit commitment to the preservation and enhancement of the liberties of individuals." 3 0 Vgl. hierzu Russe/, Can. Bar Rev. 1983, 3 0 ff; Bothe, 286 f. 3 1 Vgl. Loi 101, LQ. 1977, c. 5, Art. 72, 73.

Teil 1 : Verfassungsrechtliche Lage Kanadas vor 1982

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dung der französischen Sprache in Quebec rückläufig wurde32. Dieser sprachenrechtlichen Konzeption setzte der Entwurf der Grundrechtscharta eine ganz andere Sprachenregelung entgegen. Nach ihr sollte jeder Kanadier, der in einer kanadischen Provinz der Sprachenminderheit angehört, das Recht er­ halten, seine Kinder in dieser Provinz in der Sprache der Minderheit erziehen zu lassen (sog. minority language educational rights) 33. Eine solche Regelung bezweckte, das Vorhandensein der englischen und französischen Kultur in ganz Kanada zu sichern. Anglophone Kanadier sollten hiermit das Recht erlangen, grundsätzlich in Quebec auf eine englische Erziehung ihrer Kinder bestehen zu können. Umgekehrt sollte es den frankophonen Minderheiten außerhalb Que­ becs ermöglicht werden, eine französische Erziehung ihrer Kinder zu verlangen3 4. Hierdurch beabsichtigte Trudeau die Konzentration der französi­ schen Sprache und Kultur nur auf die Provinz Quebec abzubauen, um weitere sprachlich-kulturell begründete Separationsbestrebungen in Quebec zu ver­ hindem35. Diese neue Sprachenkonzeption der Grundrechtscharta wurde jedoch von der Regierung Quebecs auf der im September 1980 abgehaltenen Verfassungs­ konferenz heftig kritisiert3 6. Es wurde �mängelt, daß durch den Schutz frankophoner Minderheiten außerhalb Quebecs nicht die wirtschaftliche, so­ ziale und sprachlich-kulturelle Schlechterstellung der Frankokanadier in Que­ bec beseitigt werden könnte. Da man in Quebec die Auffassung vertrat, daß eine Verbesserung der Rechte der Frankokanadier in Quebec nur über die in der Charte de la langue fran�aise getroffenen Regelungen zu erreichen war, lehnte die Regierung Quebecs die Sprachenkonzeption der Grundrechtscharta ab und plädierte für die Beibehaltung der bestehenden Sprachengesetzgebung {Loi 101)3 7. Der Entwurf der Grundrechtscharta wurde daher weder von der Regie­ rung Quebecs noch von den Regierungen der anglophonen Provinzen - mit Ausnahme der Regierungen von Ontario und New Brunswick - unterstützt. Aus diesem Grund endeten die Verfassungsverhandlungen im September 1980 abermals ergebnislos. 32

Vgl. A. Weber, EuGRZ 198S, 29; BotM, 287. Heutiger Art. 23 der CCRF. 3 4 Siehe hie1711 die Ausfühnmgen des Bundesjustimtlnisters Jean Chretien auf der im Septem­ ber 1980 abgehaltenen Verfassungskonferenz: " ... Ce que je souhaite et ce que le gouvemement canadien souhaite, a ce moment ici, c'est que tous les citoyens canadiens puissent recevoir leur edu­ cation dans la langue officielle du pays." Federal-Provincial Confen:nce of First Ministers on the Constitution, S. S09. 35 Zum Grund der Kodifizierung einer Minderheitensprachengarantie siehe ausführlich Ma net, g 4 (1984), Supreme Court I..R., 170, ff. 3 6 Vgl. Ma net, 170 ff. g 37 Siehe hierzu die Ausführungen von Rene Uvesqw, Federal-Provincial Conference of First Ministers on the Constitution, S. S42 ff. 33

D. Verfasswigsrechtliche und verfassungspolitische Ereignisse ab 1 970 bis 19 82

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IV. Einseitiges Vorgehen des Bundes im Oktober 1980 und der hieraus resultierende Rechtsstreit Nachdem die Verfassungskonferenz im September 1980 gezeigt hatte, daß die Mehrzahl der kanadischen Provinzen nicht für die Kodifizierung einer Grundrechtscharta zu gewinnen war, schlug Trudeau im Oktober 1980 vor, daß die Bundesregierung alleine, d.h. ohne Beteiligung der Provinzen, die geplante Reformierung der kanadischen Verfassung durchführen sollte. Eine solche Vor­ gehensweise, die zuvor noch nie erwogen worden war, hielt der kanadische Premierminister für unerläßlich, um die noch immer andauernde föderale Ver­ fassungskrise zu überwinden38 • Am 6. Oktober unterbreitete die Bundesre­ gierung dem kanadischen Parlament einen Resolutionsentwurf, der einen An­ trag auf Änderung der kanadischen Verfassung enthielt39. Gleichzeitig wurde mit diesem Antrag das kanadische House of Commons sowie der Senat auf­ gefordert, dem britischen Parlament diesen Verfassungsreformentwurf, der als Canada Act bezeichnet wurde, zur Annahme vorzulegen. Ein solches Verfahren zur Änderung der kanadischen Verfassung war wegen der bis dahin noch im­ mer bestehenden verfassungsrechtlichen Abhängigkeit von Großbritannien er­ forderlich. Es ermöglichte aber auch, die Blockierung des innerkanadischen Einigungsprozesses, die in der Diskussion zwischen Bund und Provinzen ein­ getreten war, zu überwinden. Der Canada Act sah u.a. die Einführung eines verfassungsrechtlichen Ände­ rungsverfahrens sowie einer Grundrechtscharta vor. Bei der Grundrechtscharta handelte es sich um die auf der Verfassungskonferenz im September 1980 dis­ kutierte Grundrechtskodifikation. Das im Canada Act beschriebene verfas­ sungsrechtliche Änderungsverfahren legte für die Änderung der kanadischen Verfassung das Verfahren der Victoria Charter zugrunde40• Außerdem enthielt der Canada Act einen Antrag auf Patriierung der kanadischen Verfassung. Hiermit wurde für den kanadischen Bundesstaat die Aufhebung der verfas­ sungsrechtlichen Abhängigkeit von Großbritannien angestrebt4 1 • 3 8 Siehe hierzu Statement by the Prime Minister, McGill Law Journal Vol. 3 0 ( 1 984), 646: " ... In this cornplex and turoulent world, Canadians can no longer afford to have fundamental aspects concerning the nature of our country left wiresolved and wicertain, to feed confrontation, division and disunity. We are surnmoned to a great act of national will: we rnust take unto ourselves and for our children, the ultimate responsibility for the preservation of our country." 39 "A proposed Resolution for a Joint Address to Her Majesty the Queen respecting the Constitution of Canada", siehe hierzu Hogg, Canada Act, S. 1; Remillard, Le Federalisrne, S. 1 2 1 ff. 40 Vgl. Remillard, S. 1 2 1 ff; BotM, JöR 35 ( 1 980), 284. 4 1 Siehe hierzu TM Hon. Jean Chritien, Minister of Justice, The Role of the United Kingdorn in the Arnendrnent of the Canadian Constitution, Backgrowid Paper published by the Governrnent of Canada, Ottawa, 198 1 .

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Teil 1 : Verfassungsrechtliche Lage Kanadas vor 1982

Am 6. November 1980 setzte man einen Parlamentsausschuß ein, der über den Inhalt des Canada Act zu beraten hatte 42. Dieser Ausschuß führte zahlrei­ che Anhörungen und Umfragen durch und veröffentlichte am 13. Februar 1981 einen Bericht, der eine ganze Reihe von Änderungsvorschlägen enthielt. Nach Einarbeitung dieser Änderungsvorschläge passierte der Canada Act dann am 23. und 24. April 1981 zwar das kanadische House of Commons sowie den Senat43 . Zu einer Weiterleitung an das Westminsterparlament, so wie es die Verfassungspraxis in Kanada vorschrieb, kam es aber dennoch nicht, weil alle Provinzregierungen - bis auf die Regierungen von New Brunswick und Onta­ rio44 - die einseitige Vorgehensweise der Bundesregierung für verfas­ sungswidrig hielten 45. In den Provinzen Manitoba, Newfoundland und Quebec hatten die Regierun­ gen die jeweiligen Berufungsgerichte angerufen, um die Verfassungsmäßigkeit der Vorgehensweise der Bundesregierung klären zu lassen. Die Provinz­ regierungen hatten den Gerichten die Frage vorgelegt, ob der Canada Act in die Kompetenzen und Rechte der Provinzen eingreife und ob unter diesen Umstän­ den aufgrund von verfassungsrechtlichem Gesetzesrecht oder einer Verfas­ sungskonvention die Pflicht bestünde, vor Weiterleitung des Canada Act an das Westminsterparlament die Zustimmung der Provinzen einzuholen. Die angerufenen Provinzgerichte vertraten zu diesen Rechtsfragen unter­ schiedliche Auffassungen46• Der Court of Appeal von Manitoba sowie der Court of Appeal von Quebec waren der Ansicht, daß das einseitige Vorgehen des Bundes verfassungsmäßig gewesen sei. Dem widersprach jedoch der Court of Appeal von Newfoundland, so daß eine Klärung der Rechtsfragen durch den Supreme Court erforderlich wurde. Das Urteil des Supreme Court erging am 28.9. 198 1 47 . Das oberste kanadische Gericht entschied, daß der Canada Act die Kompetenzen der Provinzen berühre und deshalb die Provinzregierungen an seiner Verabschiedung zu beteiligen seien. Eine solche Verpflichtung ergebe 42 Vgl. hierzu Minutes of Proceedings and Evidence of the Special Joint Commiuee of the Senate and of the House of Commons on the Constitution of Canada, First Sessiou of the Thirty­ second Parliament, 1980-81, November 6, 1980 to February 13, 1981. 43 Siehe hierzu Hogg, Canada Act, S. 2. 44 Zur Haltung der Provinz Ontario siehe Repon of the Select Commitee on Constiwtional Reform, 4th Session, 3 1 81 Parliament, 29 Elizabeth II, 21 October 1980. 45 Siehe hierzu J.B .d'Onorio, Revue Internationale de droit compare 1983, 76. 46 Siehe Reference Re Amendment of the Constiwtion of Canada, Manitoba Coun of Appeal (1981), 1 17 D.L.R. (3d), l ff; Quebec Cour d'Appel (1981), 120 D.LR. (3d), 385 ff; Newfoundland Coun of Appeal (1981), 1 18 D.LR. (3d), l ff. 47 Reference Re Amendment of the Constitution of Canada (1981), l S.C.R., 753 ff; (1981), 125 D.LR. (3d), l ff. Zu diesem Uneil siehe die Anmerkungen von Monahan, The Chaner, S. 188 ff; Bruha, ZaöRV 43 (1983), 585 ff; Brazier/Robüliard, Public Law 1982, 28 ff; Colvin, 4 (1982), Supreme Coun LR., 6 ff.

D. Vetfassungsrechtliche und vetfassungspolitische Ereignisse ab 1970 bis 1 982

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sich nicht aus verfassungsrechtlichem Gesetzesrecht, sondern aus einer Verfas­ sungskonvention, die sich aus Präjudizien der früheren Verfassungspraxis so­ wie aus der föderalen Natur des kanadischen Staatswesens ableite. Der Supreme Court führte allerdings nicht aus, ob alle kanadischen Provinzen ihre Zustimmung erteilen müßten. Er begnügte sich mit der Feststellung, daß die wesentliche Mehrzahl der Provinzen ihre Zustimmung zur Durchführung der Verfassungsreform abzugeben hätten48. Dieses Urteil stellte klar, daß die Vorgehensweise der Bundesregierung, die nur von zwei Provinzen (Ontario und New Brunswick) unterstützt wurde, zwar formal legal, angesichts der bestehenden Verfassungskonvention aber keines­ wegs verfassungsmäßig legitim gewesen war. Die Bundesregierung mußte des­ halb zur Vorlage des Canada Act im Westminsterparlament die Zustimmung der Provinzen einholen. Neue Verhandlungen waren erforderlich.

V. Verfassungsverhandlungen zwischen dem Bund und den Provinzen im November 1981 Im November 198 1 traten die Bundesregierung sowie die Regierungen aller Provinzen zu Verhandlungen zusammen, um die Verabschiedung des Canada Act, also die Durchführung der Verfassungsreform, zu beraten. Die Mehrzahl der Provinzregierungen kritisierten den Canada Act, weil er ein verfassungs­ rechtliches Änderungsverfahren enthielt, das den Provinzen Ontario und Que­ bec ein Vetorecht für Verfassungsänderungen einräumte 49• Die Provinzregie­ rungen verlangten, dieses Änderungsverfahren durch ein Verfahren zu ersetzen, nach dem die Zustimmung jeder Provinz zu verfassungsrechtlichen Ände­ rungen ein gleiches Gewicht haben sollte. Nach anfänglichem Widerstand gab die Bundesregierung dieser Forderung nach. Man einigte sich auf ein Ver­ fahren, nach dem für Verfassungsänderungen grundsätzlich die Zustimmung des Bundes sowie 2/3 der Provinzen, die 50 % der Bevölkerung Kanadas reprä­ sentieren, vorliegen muß50• Nur die Regierung von Quebec stimmte diesem Änderungsmodus nicht zu, da sie aufgrund der überwiegend frankophonen Bevölkerungsstruktur ihrer Provinz einen Sonderstatus und damit ein Vetorecht für verfassungsrechtliche Änderungen verlangte. Außerdem lehnte sie die im 4 8 Die Richter verlangten "a substantial measure of provincial consent", (1 9 81), 125 D.LR. (3d), 103. 49 Vgl. Remillard, Le Federalisme, S. 157 ff. SO Heutiger Art. 38 Constitution Act 1 982. Weitere vetfassungsrechtliche Änderungsbestim­ mungen sind in den Art. 39-49 Constitution Act 1 982 festgelegt

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Teil 1: Vetfassungsrechtliche Lage Kanadas vor 1982

Canada Act enthaltene Grundrechtscharta ab, weil diese die Kodifizierung der bereits erwähnten Minderheitensprachrechte vorsah5 1 . Um zu verhindern, daß auch die anglophonen Provinzen ihre oppositionelle Haltung gegenüber der Grundrechtscharta aufrechterhielten, ließ die Bundesregierung eine bedeutsame Änderung am Entwurf der Grundrechtscharta zu. Man fügte der Grundrecht­ scharta eine sog. override clause bei, die es dem (Bundes- sowie Provinz-) Ge­ setzgeber erlaubt, kodifizierte Grundrechtsgarantien legislativ nicht zu be­ achten. Gesetze, die gegen kodifizierte Grundrechtsgarantien verstoßen, kön­ nen nämlich unter Verwendung dieser override clause in Kraft bleiben. Dies setzt voraus, daß einem grundrechtswidrigen Gesetz eine Derogationsklausel beigefügt wird, die die Anwendung der entsprechenden Grundrechtsgarantie(n) auf dieses Gesetz aufhebt52. Eine solche Bestimmung hatte man bereits der Ca­ nadian Bill of Rights sowie den Grundrechtskatalogen der Provinzen hinzuge­ fügt53 . Sie stellt eine kanadische Besonderheit dar, die dazu dient, die Souverä­ nität des Gesetzgebers zu garantieren 54. Um zu venneiden, daß über diese Derogationsbestimmung der über die Grundrechtscharta zu gewährleistende Grundrechtsschutz untenniniert werden könnte, wurde die · override clause al­ lerdings mit einigen Einschränkungen versehen. So legte man z.B. fest, daß eine aufgrund der override clause vorgenommene Derogation von Grundrech­ ten maximal fünf Jahre wirksam sein soll55. Ferner wurden einige Grundrechtsbestimmungen, nämlich die demokratischen Grundrechte, die Gleichstellung von Mann und Frau, die Freizügigkeitsrechte sowie die Sprachengrundrechte vom Anwendungsbereich der override clause ausge­ schlossen. Die beiden zuerst genannten Grundrechtsbestimmungen wurden für so fundamental gehalten, daß man für sie keine Derogationsmöglichkeit zulas­ sen wollte56. Für die beiden zuletzt genannten Grundrechtsgarantien wurde die Möglichkeit der Derogation versagt, weil andernfalls zu befürchten gewesen wäre, daß die Provinz Quebec ihre in der Charte de 1a langue fran�se festge­ legte diskriminierende Sprachen- und Wirtschaftsgesetzgebung aufrechterhal­ ten würde57 . Ohne den Ausschluß einer Derogationsmöglichkeit für die Freizü-

51 Zur Position von Quebec siehe McGill Law Journal, 30 (1984), 690 ff.

52 Näher hierzu S. 64 ff.

53 Vgl. Art. 2 Canadian Bill of Rights; Art. 52 Charte des droits et libertes de 1a personne (Quebec-Charta); Art. 1 Alberta Bill of Rights. 54 Vgl. A. Weber, JöR 37 (1988), 597 f. 55 Heutiger Art. 33 Abs. 3 Canadian Charter of Rights and Freedoms. 56 Vgl. Debates of the House of Commons 1981, Vol. XII, S. 13047; 13130; 13195. 57 Vgl. Debates of the House of Commons, 1981, Vol. XII, S. 13133; 13194; 13210; 13213; 13226.

D. Verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Ereignisse ab 1970 bis 19 82

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gigkeits- und Sprachenrechte wäre also die beabsichtigte integrierende Wir­ kung der Grundrechtscharta nicht zu erreichen gewesen 58• Die Einfügung der override clause in die Grundrechtscharta stellte eine Kompromißlösung zwischen den Interessen der Bundesregierung und den der anglophonen Provinzen dar59 . Einerseits wurden den Provinzen mit dieser Be­ stimmung Zugeständnisse hinsichtlich der Bewahrung der gesetzgeberischen Souveränität gemacht. Andererseits sollten die getroffenen Einschränkungen garantieren, daß der über die Grundrechtscharta zu erzielende Grundrechts­ schutz nicht völlig leerlaufen würde. Da die Bundesregierung durch das Zu­ geständnis der override clause den Bedenken der anglophonen Provinzen hin­ sichtlich der Kodifizierung einer verfassungsrechtlichen Grundrechtscharta Rechnung getragen hatte, ließen die Premierminister der anglophonen Pro­ vinzen ihre ablehnende Haltung fallen und stimmten der Kodifizierung der Grundrechtscharta zu. Deshalb kam es am 5.1 1.1981 zwischen ihnen und der Bundesregierung zu einer Einigung bezüglich der Verabschiedung des Canada Ac(i(l. Nur die Provinz Quebec machte weiterhin ihre Zustimmung zum Canada Act von einer Modifizierung der Sprachenrechte sowie des verfassungsrecht­ lichen Änderungsverfahrens abhängig61 . Diesmal ging die Bundesregierung je­ doch nicht weiter auf die Opposition Quebecs ein, da der Supreme Court in dem Urteil vom 28.9.1981 klargestellt hatte, daß zur Durchführung der ange­ strebten Verfassungsreform die Zustimmung der wesentlichen Mehrheit der Provinzen genüge. Diese Bedingung war durch die Einigung mit den neun anglophonen Provinzen erfüllt. Die Bundesregierung betrieb deshalb die Ver­ abschiedung des Canada Act ohne die Zustimmung von Quebec weiter.

VI. Das Inkrafttreten des Canada Act 1982 Anfang Dezember 198 1 passierte eine Resolution zur Annahme des Canada Act das kanadische House of Commons sowie den Senat62• Diese Resolution wurde dann an das W estminsterparlament weitergeleitet, das über die Verab­ schiedung des Canada Act im März 1982 entschied63• Die Regierung von Que58 So auch Bothe, JöR 3 5 ( 1 986), 287. 59 Vgl. hierzu Debates of the House of Commoos, S. 13042; 132 16; ferner B. Wilson, Public Law 1 988 , 375; A. Weber, 59 8 . 60 So Remillard, Le F�&alisme, S. 1 60 f. 6 1 Vgl. Hogg, Canada Act, S. 2. 62 Vgl. Gall, Can. Legal System, S. 54. 63 Vgl. Hogg, S. 3. 4 Zimmermann

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Teil 1 : Verfassungsrechtliche Lage Kanadas vor 1982

bec hielt diese Vorgehensweise für verfassungswidrig, weil sie der Ansicht war, daß der Provinz Quebec hinsichtlich verfassungsrechtlicher Änderungen ein Vetorecht zustünde. Zur Klärung dieser Frage rief sie das Berufungsgericht von Quebec an. Dieses entschied am 7. April 1982, daß die Provinz Quebec sich nicht auf ein Vetorecht berufen könne und insofern die Verabschiedung des Canada Act ohne die Zustimmung Quebecs verfassungsmäßig sei64• Gegen diese Entscheidung legte die Regierung von Quebec Revision beim kanadi­ schen Supreme Court ein, was allerdings nicht das Inkraftsetzen des Canada Act verhinderte. Nachdem bereits am 8.3. 1982 das britische House of Com­ mons und am 25.3.1982 das House of Lords die Zustimmung zur Verabschie­ dung des Canada Act erteilt hatten, trat dieser am 17.4. 1982 ohne die Zustim­ mung Quebecs in Kanada in Kraft6.5. Schließlich wurde am 6. 12.1982 vom ka­ nadischen Supreme Court bestätigt, daß Quebec zu keiner Zeit ein Vetorecht gegenüber Verfassungsänderungen besessen habeli6. Hiermit war endgültig klar, daß die Reformierung der kanadischen Verfassung, also die Einführung des Canada Act, auch ohne die Zustimmung Quebecs verfassungsmäßig war.

E. Abschließende Bemerkungen Die Einführung des Canada Act 1982 hat für den kanadischen Bundesstaat wichtige verfassungsrechtliche Neuheiten gebracht. Sec. 2 Canada Act 1982 hebt beispielsweise die verfassungsrechtliche Abhängigkeit Kanadas vom eng­ lischen Gesetzgeber auf. Durch diese Bestimmung wurde Sec. 7 (1) Statute of Westminster außer Kraft gesetzt, so daß Kanada nun die verfassungsrechtliche Souveränität besitzt Ferner wurde durch Sec. 1 Canada Act 1982 der Constitu­ tion Act 1982 eingeführt 1 • Dieser enthält u.a. eine Grundrechtscharta (Tue Canadian Charter of Rights and Freedoms)2, das verfassungsrechtliche Änderungsverfahren (Amending Formula) 3 sowie eine Neuverteilung der Roh

64 Re Auomey General of Quebec and Auomey General of Canada (1982), 134 D.L.R. (3d), 719. 65 vg1. U.K., 1982, c. ll; R.S.C. 1985, Appendix il, abged111ckt in Anhang l , S. 210 ff. 66 Re Objection by Quebec to Resolution to Amend the Constitution (1982), 2 S.C.R., 793; (1983), 1 40 D.LR. (3d), 385. 1.u diesem Urteil siehe Peiler, 6 (1984), Supreme Court LR., 387 ff; Bruha, ZaöRV 43 (1983), 605 ff. l Vgl. Canada Act 1982, Schedule B (englische Fassung des Constitution Act 1982). Die französische Fassung des Constitution Act 1982 ist gemäß Sec. 3 Canada Act 1982 in Schedule A festgelegt 2 Part I Constitution Act 1982. 3 Part V Constitution Act 1982.

E. Abschließende Bemelkungen

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stoffkompetenzen zugunsten der Provinzen4• In ihm wurden also die Rechtsma­ materien kodifiziert, die Gegenstand der verfassungsrechtlichen Verhandlungen gewesen warenS . Der Canada Act 1982 stellt eine Ergänzung der vor seiner Kodifizierung be­ reits bestehenden kanadischen Verfassungstexte dar. Letztere - z.B. der BNA Act 1867 - haben neben dem Canada Act 1982 weiterhin Geltungskraft6• Als der Canada Act 1982 am 17.4.1982 in Kraft trat, führte der damalige kanadi­ sche Premienninister Trudeau folgendes aus: "Heute endlich hat Kanada seine volle nationale Souveränität erlangt. Doch bei allem Stolz über das Erreichte darf der 1 7. April 1 982 kein Anlaß zu selbstzufriedenem Beharren sein. Was wir heute feiern, das ist nicht so sehr die Vollendung unserer Aufgaben, sondern eine Erneuerung unserer Hoffnung, weniger ein Abschluß, als ein frischer Neubeginn"? . Welche Veränderungen dieser verfassungsrechtliche Neubeginn für Kanadas Rechtsordnung bewirkt hat, sollen die folgenden Ausführungen zeigen.

4 Part VI Constitution Act 1982. 5 Darüber hinaus sind noch weitere Rechtsmaterien im Constitution Act 1982 kodifiziert, vgl. im einzelnen Part II, ill, IV u. VII. 6 Vgl. Sec. 52 Abs. 2 (b) Constitution Act 1982. 7 Zitiert aus: Kanadas Verfassungstag - ein Meilenstein, in: Focus Canada Nr. 22, Bonn, Juli 1982, S. 4 (Herausgeber: Kanadische Botschaft).

Teil 2

Verfassungsrechtliche Lage Kanadas nach Inkrafttreten des Canada Act 1982: Grundrechtsschutz über die Canadian Charter of Rights and Freedoms und die sich hieraus ergebenden Veränderungenfür die föderative kanadische Rechtsordnung A. Problemstellung Die nun folgende Darstellung wird sich mit der Fragestellung beschäftigen, welche Veränderungen sich für die föderative Rechtsordnung Kanadas auf­ grund der Einführung eines verfassungsrechtlichen Grundrechtskatalogs (Tue Canadian Charter of Rights and Freedoms 1 , im folgenden CCRF) ergeben ha­ ben. Dabei wird es insbesondere um die Beantwortung der Frage gehen, ob die Einführung eines verfassungsrechtlichen Grundrechtsschutzes unitarisierend auf das bundesstaatliche System Kanadas gewirkt hat Methodisch wird diese Aufgabenstellung anhand der gesetzgeberischen Umsetzung der Grundrechts­ charta auf Bundes- und Provinzebene untersucht. Da in Art. 52 Constitution Act 19822 i.V.m. Art. 32 Abs. 1 CCRF3 eine Vorrangwirkung der Grundrechte festgelegt ist, die bestimmt, daß Bundes- oder Provinzrecht, das den Grund­ rechten widerspricht, unwirksam ist, mußte nach Inkrafttreten der CCRF am 17.4. 1982 auf Bundes- und Provinzebene eine systematische grundrechtsbezo­ gene Revision der kanadischen Gesetzgebung vorgenommen werden. Diese er­ folgte in den Justizministerien und hat dazu geführt, daß mit Ausnahme von 1 Abgedruckt in Anhang 1, S. 210 ff. 2 2'.ur Bedeutung und Wirli:ung von Art. 52 Const Ad. 1 982 siehe Tasse, in: Beaudoin/Ratushny, The CCRF, S. 69 ff und 108 ff; Hogg, Can. Bar Rev. 198 3 , 69 ff; Gote, 1 8 (1984) R.J.T., 105; Gelinas, Can. Bar Rev. 1988, 455; Chevrelle, in: Nouveaux developpements en droit criminel, S. 1 ff. 3 Die folgenden Grundrechtsartikel ohne Kennzeichnung sind die der CCRF.

B. Angleichungsgesetzgebung zur Canadian Charter of Rights and Freedoms

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Quebec4 in ganz Kanada Angleichungsgesetzgebung zur CCRF erging. Bei dieser Angleichungsgesetzgebung handelt es sich um 18 Artikelgesetze, mit denen grundrechtswidrige Gesetzesbestimmungen den Voraussetzungen der CCRF angepaßt wurden5 • Die Frage, welche Veränderungen sich für die föde­ rative kanadische Rechtsordnung aufgrund der Einführung der CCRF ergeben haben, wird deshalb im Fortgang dieser Arbeit an Hand der zur CCRF erlasse­ nen Angleichungsgesetzgebung6 analysiert

B. Angleichungsgesetzgebung zur Canadian Charter of Rights and Freedoms I. Angleichungsgesetzgebung des Bundes und der Provinzen Im folgenden wird in Form von Tabellen eine Bestandsaufnahme der auf Bundes- und Provinzebene erlassenen Angleichungsgesetzgebung vorge­ nommen. Aus Tabelle 1 ist zu entnehmen, welcher Gesetzgeber zu welchem 2'.eitpunkt Artikelgesetze zur Angleichung der kanadischen Gesetze an die CCRF erließ. Diese Tabelle zeigt außerdem auf, wieviele Gesetzesreformen von den einzelnen Gesetzgebern durchgeführt wurden. Die Tabellen 2 und 3 stellen dar, zu welchem Grundrecht in welcher Anzahl Gesetzesänderungen er­ gingen. Eine im Anschluß daran vorzunehmende Auswertung dieser Tabellen wird Erkenntnisse zur gesetzgeberischen Reaktion auf die Einführung der CCRF vermitteln. Hieraus werden erste Schlußfolgerungen hinsichtlich der Frage der unitarisierenden Wirkung der CCRF zu ziehen sein.

4 Hierzu näher auf den S. 63 ff. 5 Vgl. hierzu Tabelle l, S. 54 f. 6 Sog. Charter Compliance Legislation.

New Brunswlck

27.06. 1 985

30.06. 1983

17.07.1987

1 1 .07.1985

An Act Respecting Compliance of the Laws of the Legislature with the Canadian Charter of Rights and Freedoms (Bill 1 02) An Act Respecting Compliance of the Laws of the Legislature with the Canadian Charter of Rights and Freedoms (Bill 78)

The Charter Compliance Statute Amendment Act (Bill 62) The Charter Compliance Statute Amendment A ct (Bill 23) The Equality Rights Statute Amendment Act (Bill 74) The Charter Compliance Statute Amendment Act (Bill 46)

1 1 .07.1985

Manltoba

22 12

S.N.B. 1985, c. 41 u. 42

23

43

21

20

47

36

61

Zahl der geänderten Gesetze

S.N.B. 1983, c. 4

S.M. 1987, Supp. c.4

S.M. 1985-86, c. 47

S.M. 1986-87, c. 2 1

S.M. 1985-86, c. 50

The Charter of Rights Amendment Act (Bill 33)

10.09. 1 986

S.A. 1985, c. 15 S.B .C. 1985, c. 68

The Charter Omnibus Act (Bill 42)

05.06. 1 985

02. 1 2. 1985

Brltlsh Columbla

s.c. 1985, c. 26

Fundstelle

Alberta

The Statute Law (CCRF) Amendment Act (Bill 27)

28.06. 1 985

Bund

Artikelgesetz

Inkrafttreten des Gesetzes

Gesetzgeber

Angleichungsgesetzgebung durch den Erlaß von Artikelgesetzen in Bund und Provinzen, geordnet nach Gesetzgebern und Datum des Inkrafttretens des Gesetzes

Tabelle 1:



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erg et al. and Director of Education Sudbury Board of Education, (1989), 52 D.LR. (4th), 5TI (Ontario Court of Appeal); Re Russow v. British Columbia (A.G.), (1989), 62 D.LR. (4th), 98 (British Columbia Court of Appeal). 237 Anders insoweit das Bundesverfassungsgericht im sog. Schulgebetsurteil, siehe BVerfGE 52, 223.

C. Unitarisienmg durch Grundrechtsschutz

135

vom christlichen Schulgebet zu verlangen. Das Gesetz bewirke also, daß Kinder nicht-christlicher Glaubenszugehörigkeit sich den religiösen Praktiken der Mehrheit anpassen müßten, was gegen ihre Religionsfreiheit verstoße. Im übrigen verletze die gesetzliche Regelung aber auch die negative Glaubensfreiheit, da Kinder im Falle des Gesuchs um Befreiung vom Schulgebet gezwungen seien, ihr religiöses oder weltanschauliches Bekenntnis offenzulegen. Die Verletzung von Art. 2a hielten die Berufungsgerichte von Ontario und British Columbia auch nicht über Art. 1 für gerechtfertigt. Die gesetzliche Regelung stelle nicht das mildeste Mittel dar, um den Schutz religiöser Minderheiten zu garantieren. Es gäbe andere Möglichkeiten - z.B. den Beginn des Schulunterrichts mit Gebeten, die verschiedenen Glaubensrichtungen entsprechen -, die die Religionsfreiheit religiöser Minder­ heiten weitaus weniger beeinträchtigten. Ob durch die Schulgebetsvorschrift auch eine Verletzung von Art. 15 begründet wird, haben die angerufenen Beru­ fungsgerichte nicht entschieden. Sie hielten eine solche Entscheidung nicht für erforderlich, weil die gesetzliche Norm auf jeden Fall wegen Unvereinbarkeit mit Art. 2a unwirksam sei. Durch die Entscheidungen der Berufungsgerichte von Ontario und British Columbia wurden die Schulgebetsvorschriften dieser Provinzen außer Kraft ge­ setzt. Anders als in Saskatchewan ist daher in Ontario und British Columbia solange das Abhalten von Schulgebeten gesetzlich nicht erlaubt, bis die Ge­ setzgeber dieser Provinzen neue Schulgebetsvorschriften erlassen, die ausrei­ chend die Interessen religiöser Minderheiten berücksichtigen. Bis jetzt sind solche neuen Schulgebetsvorschriften noch nicht ergangen. In den anderen Provinzen wurden hinsichtlich der Durchführung von Schul­ gebeten keine Gesetzesänderungen durchgeführt, da die Schulgesetze der Pro­ vinzen Quebec, New Brunswick, Newfoundland, Manitoba, Nova Scotia, Prince Edward Island und Alberta das Abhalten von Schulgebeten explizit nicht vorschreiben238 • Auf Bundesebene ist das Thema "Schulgebete" nicht von Relevanz gewesen, weil das Schul- und Erziehungsrecht gemäß Art. 93 Constitution Act 1867 (BNA Act) in die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Provinzen fällt.

238 Siehe für Quebec: Education Act, R.S.Q. 1977, c. I-14; New BrW&Swick: School Act, R.S.N.B. 1973, c. S-5; Newfoundland: School Act, R.S.N. 1970, c. 346; Maniloba: Education Administration Act, R.S.M. 1987, c. ElO; Nova Scotia: Education Act, R.S.N.S. 1967, c. 8 1; Prince F.dward Island: School Act, R.S.P.E.L 1974, c. S-2; Alberta:School Act, R.S.A. 1980, c. S-3 .

136

Teil 2: Verfassungsrechlliche Lage Kanadas nach 1982 cc) Sonntagsruhe

In Kanada war durch den Lord's Day Act des Bundes239 und durch die Lord's Day Acts der Provinzen240 festgelegt, daß an Sonntagen ein allgemeines Arbeits- und Verkaufsverbot zu gelten hat. Diese Sonntagsruheregelung war durch den Bundesgesetzgeber aufgrund seiner gesetzgebenden Kompetenz für das Strafrecht gemäß Art. 91 Nr. 27 Constitution Act 1867 (BNA Act) erlassen worden. Aufgabe des Strafrechts ist es, die elementaren Werte des Gemein­ schaftslebens zu schützen. Das Sonntagsarbeitsverbot hatte die Zielsetzung, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sittlichkeit zu garantieren 241 . Deshalb berief sich der Bundesgesetzgeber hinsichtlich der Regelung des sonntäglichen Arbeitsverbots auf seine gesetzgebende Kompetenz für das Strafrecht. Die Provinzen erließen die Lord's Day Acts nicht aufgrund einer ei­ genen Kompetenz, sondern als Ausführungsgesetze zur bundesrechtlichen Re­ gelung242 . Die Lord's Day Acts beruhten auf der christlichen Tradition, daß der Sonn­ tag als Tag des Herrn zu gelten hat Durch sie war jegliche gewerbliche Ar­ beitstätigkeit untersagt, um Christen gemäß ihrer religiösen Überzeugung die Verehrung Gottes an diesem Tag zu ermöglichen. Nach Inkrafttreten der CCRF wurde diese Gesetzgebung in der Entscheidung Big M Drug Mart Ltd. 243 vom Supreme Court of Canada für verfassungswidrig erklärt. In diesem Urteil führte der Supreme Court aus, daß zur Bewertung der Verfassungsmäßigkeit einer Norm zunächst deren Zielsetzung (purpose) Berücksichtigung finden müsse und nur, wenn diese verfassungrechtlich unbedenklich sei, auch die Aus­ wirkungen einer gesetzlichen Regelung zum Tragen kämen (sog. purpose test) 244. Unter Zugrundelegung dieses Prüfungsmaßstabs kam das Gericht dann zu dem Schluß, daß der Lord's Day Act des Bundes nicht mit der in Art. 2a ga­ rantierten Religionsfreiheit zu vereinbaren sei. Der Supreme Court stellte fest, daß der Bundesgesetzgeber das im Lord's Day Act festgelegte Sonntags­ ruhegebot mit der Zielsetzung aufgestellt habe, Christen die Ausübung ihres religiösen Bekenntnisses zu garantieren. Hierin sah der Supreme Court einen 239 R.S.C. 1970, c. L-13. 240 Siehe beispielsweise für Quebec: Loi. sur l'observance du dimanche, LR.Q. 1977, c. 0-1; New Brwnswick: Lord's Day Act, S.N.B. 1973, c. L-13; Nova Scotia: Lord's Day Act, R.S.N.S. 1967, c. 172; SaskatcMWOII: Lord's Day Act, R.S.S. 1978, c. L-34; Prüu:e &lward Island: Lord's Day Act, S.P.E.L 1974, c. L-21; Onlario: Lord's Day Act, S.O. 1980, c. 253. 241 Vgl. Hogg, ConsL Law, S. 409 f. 242 Vgl. Sec. 4 Wld 6 Lord's Day Act, R.S.C. 1970, c. L- 1 3. 243 (1 985), 1 S.C.R., 295; (1 985), 18 D.LR. (4th), 32 1. Zu dieser Entscheidung siehe Black, in: Bayefslcy/Eberts, Equality Rights, S. 172 ff; A. Weber, JöR 37 ( 1 988), 599. 244 Kritisch hierzu A. Weber, 599.

C. Unilarisierung durdi G1U11drechtsschutz

137

Verstoß gegen die Religionsfreiheit, weil Personen nicht-christlicher Konfes­ sionszugehörigkeit gezwungen würden, ihre eigenen, von der christlichen Tra­ dition abweichenden religiösen Übungen praktizieren zu können245 . Inwieweit der Lord's Day Act auch eine Verletzung von Art. 15 begründet, hat das Ge­ richt in dieser Entscheidung nicht ausgeführt, weil zum Zeitpunkt der Entste­ hung der Rechtsstreitigkeit Art 15 noch nicht in Kraft war246• Im Zusammen­ hang mit der Prüfung von Art 2a traf Richter Dickson jedoch die folgende Feststellung: "In proclaiming the standards of the Christian faith, the Act (Lord's Day Act'r-47 creates a climate hostile to, and gives the appearance of discriminalion against, non-Christian Canadians. lt takes religious values rooted in Christian rnorality and, using the force of the State, translates thern into a positive law binding on believers and non-believers alike. The theological content of the legislation rernains as a subtle and constant rerninder to religious rninorities within the country of their differences with, and alienalion fr0111, the dominant religious atlture. •248 In diesen Ausführungen klingt an, daß die Regelung des Lord's Day Act auch eine Diskriminierung aufgrund der Religion darstellt. Deshalb hob der Gesetzgeber Ontarios nach Verkündung des Urteils Big M Drug Mart Ltd. den Lord's Day Act von Ontario mit seinem Artikelgesetz zu den Gleichheitsrech­ ten auf249• Auch in Quebec wurde der Lord's Day Act (Loi sur l'observance du dimanche) außer Kraft gesetzt Diese Änderung wurde in Ausführung der

245 Vor Inkrafttreten der CCRF hat der Supreme Court in dem Fall Robertson and Rosetanni v. The Queen, (1963), S.C.R., 651 ; (1964), 41 D.L.R. (2d), 485, den Lord's Day Act des Bundes für vetfassun8sgernäß gehalten. In dieser Entscheidung ging es um die Frage der Vereinbarkeit des Lord's Day Act mit Art. 1c (Religionsfreiheit) Canadian Bill of Rights. Anders als im Fall Big M Drug Mart Ltd. prüfte der Suprerne Court in dieser Entscheidung nur die Auswirkungen des Sonn• tagsruhegebots und stellte fest, daß Nicht-Christen durch den Lord's Day Act nicht in ihrer Reli­ gionsausübungsfreiheit beeinträchtigt seien; vgl. (1964), 41 D.L.R. (2d), 657 f: " ... The practical re­ sult of this law on those whose religion requires thern to observe a day of rest other than Sunday, is a purely seatlar and financial one in that they are required to refrain frorn canying on or conducting their business on Sunday as weil as on their own day of resL In some cases this is no doubt a business inconvenience, but it is neither an abrogalion nor an abridgement nor an infringement of religious freedorns ..." 246 Art. 15 trat gemäß Art. 32 Abs. 2 erst am 17.4.1985, also drei Jahre später als die sonstigen Grundrechte in KrafL Zum Grund dieser Regelung vgl. S. 61 f. 247 Anmerkung der Vetfasserin. 248 (1985), 18 D.L.R. (4th), 354. 249 Siehe F.quality Rights Statute Law Amendment Act, S.O. 1986, c. 64, Sec. 3 1 . Zum Zeit• punkt der Ausarbeitung dieser Änderung war Art. 15 bereits in KrafL

138

Teil 2: Veifassungsn:chtliche Lage Kanadas nach 1982

Art. 3 (Religionsfreiheit) und Art 10 (Diskriminierungsverbot) Quebec-Charta durchgeführt250. In den anderen Provinzen haben die Lord's Day Acts dagegen noch Gel­ tungskraft Sie werden allerdings nicht mehr angewendet, da ihre Rechts­ grundlage - der Lord's Day Act des Bundes - entfallen ist Die Lord's Day Acts sind jedoch nicht die einzigen gesetzlichen Regelun­ gen, die in Kanada ein Sonntagsruhegebot vorschreiben. Seit den späten siebzi­ ger Jahren kodifizierten die Provinzen aufgrund ihrer gesetzgebenden Kompe­ tenz für das Zivil- und Arbeitsrecht nach Art. 92 Nr. 13 Constitution Act 1 867 (BNA Act) Gesetze, die die Arbeitszeit im Einzelhandel regeln (sog. Retail Business Holiday Acts). Diese Gesetze bestimmen, daß ein Tag in der Woche zur Erholung und zur Förderung des familiären Zusammenseins arbeitsfrei zu sein hat, wobei dieser Tag auf den Sonntag gelegt wurde, weil der Sonntag tra­ ditionell schon immer ein Feiertag war. Die Retail Business Holiday Acts der Provinzen schreiben also ein Arbeits- und Verkaufsverbot an Sonntagen aus ar­ beitsrechtlichen Gründe„ und nicht aus Gründen der Aufrechterhaltung der öf­ fentlichen Ordnung und Sittlichkeit vor25 1 . Die Verfassungsmäßigkeit dieser Gesetzgebung hat der Supreme Court in dem Urteil Edward Books and Art v. The Queen" 252 am Beispiel des Retail Business Holiday Act von Ontario253 überprüft. In dieser Entscheidung ging es wiederum ausschließlich um die Frage der Vereinbarkeit des Retail Business Holiday Act von Ontario mit Art. 2a, da Art 15, wie im Fall Big M Drug Mart Ltd., zum Zeitpunkt der Entste­ hung der Rechtsstreitigkeit noch nicht in Kraft war. Der Retail Business Holi­ day Act von Ontario enthielt neben dem grundsätzlich geltenden Arbeitsverbot an Sonntagen254 eine Ausnahmevorschrift für Einzelhändler, die ihre Geschäfte am Samstag geschlossen hielten. Ihnen war die Öffnung der Läden und das Anbieten von Waren am Sonntag erlaubt, wobei diese Ausnahmevorschrift ge­ mäß Sec. 3 (4)(b)(c) Retail Business Holiday Act von Ontario nur auf Einzel­ händler Anwendung finden konnte, die weniger als sieben Angestellte beschäf­ tigten und deren Ladengröße kleiner als 450 m 2 (5000 square feet) war. Durch diese sog. small store exception-Regelung fühlten sich jüdische Einzelhändler, die ihre Läden am Samstag geschlossen hielten, jedoch nicht die zuvor ge­ nannten Voraussetzungen erfüllten, in ihrer Religionsausübungsfreiheit ver­ letzt Es kam deshalb zu einer verfassungsrechtlichen Überprüfung des Retail 250 Vgl. Loi modifiant diverses dispositions eu 6gard a la Charte d.:� droits et liben6s de la per­ sonne, L.Q. 1986, c. 95, Art. 2