Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse: Zur verfassungsrechtlichen Reflexion gesellschaftlicher Entwicklungen von Partnerschaft und Familie durch grundrechtliche Tatbestände [1 ed.] 9783428549764, 9783428149766

Der Anpassungsdruck eines grundrechtlichen Tatbestands an die Zeit vollzieht sich auf der Ebene der Verfassungsinterpret

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Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse: Zur verfassungsrechtlichen Reflexion gesellschaftlicher Entwicklungen von Partnerschaft und Familie durch grundrechtliche Tatbestände [1 ed.]
 9783428549764, 9783428149766

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1330

Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse Zur verfassungsrechtlichen Reflexion gesellschaftlicher Entwicklungen von Partnerschaft und Familie durch grundrechtliche Tatbestände

Von

Norman Koschmieder

Duncker & Humblot · Berlin

NORMAN KOSCHMIEDER

Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1330

Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse Zur verfassungsrechtlichen Reflexion gesellschaftlicher Entwicklungen von Partnerschaft und Familie durch grundrechtliche Tatbestände

Von

Norman Koschmieder

Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Trier hat diese Arbeit im Jahr 2015 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2016 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-14976-6 (Print) ISBN 978-3-428-54976-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-84976-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2015 / 2016 vom Fach­ bereich Rechtswissenschaft der Universität Trier als Dissertation angenom­ men. Sie entstand während meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbei­ ter am Institut für Rechtspolitik an der Universität Trier. Zu dem erfolgreichen Gelingen dieser Arbeit haben viele Menschen bei­ getragen. Großen Dank schulde ich meinem Doktorvater Professor Dr. Timo Hebeler für seine einzigartige und umfassende Form der Betreuung, für kritische, konstruktive und offene Gespräche zu jeder Zeit sowie die Frei­ heiten bei der inhaltlichen Ausarbeitung. Ferner danke ich Professor Dr. Alexander Proelß für die zügige und umsichtige Erstellung des Zweitgut­ achtens. Die herausragenden Arbeitsbedingungen, die ich am Institut für Rechts­ politik vorgefunden habe, weiß ich um ihren Anteil an der Entstehung dieser Arbeit besonders zu schätzen. Dank gebührt in diesem Zusammen­ hang den Institutsdirektoren Professor Dr. Gerhard Robbers und Professor Dr. Thomas Raab. Die wissenschaftlichen Mitarbeiter Johannes Natus und Hanna Kullmann waren nicht nur außergewöhnliche Kollegen, sondern sind zu meinen Freunden geworden. Für eine kritische Durchsicht dieser Arbeit habe ich zudem Dr.  Julia Knappstein zu danken. Schließlich gilt besonderer Dank meiner Familie. Meine Großmutter ­ iane, meine Brüder Tim und Niclas sowie insbesondere meine Eltern L ­Peter und Gudrun Koschmieder haben mich immer und überall, während des gesamten Studiums, in jeder erdenklichen Hinsicht unterstützt. Ohne sie wäre diese Arbeit nie entstanden. Ich danke ihnen von Herzen. Die Arbeit ist ihnen gewidmet. Düsseldorf, im April 2016

Norman Koschmieder

Inhaltsverzeichnis Teil 1 Einführung 

15

A. Einleitung und Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 B. Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Teil 2

Zur dynamischen Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände 

21

A. Vom Anpassungsdruck der Verfassung an die Zeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 I. Technik und Werte als Parameter menschlichen Fortschritts  . . . . . . . . 22 II. Wertbildung im Schichtenmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 III. Zeitgeprägtheit des Verfassungsrechts  – verfassungstheoretische Be­ trachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1. Verfassungsanpassung als formelles Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2. Verfassungsanpassung als integrativer Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 a) Demokratietheoretische Erwägungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 b) „Ultima ratio“-Funktion der formellen Verfassungstextänderung . 34 IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 B. „Verfassungswandel“ – Strukturierung eines schillernden Rechtsbe­ griffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 I. Begriffliches Legitimationsproblem  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 II. Dogmatische Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 1. Anfänge  – die normative Kraft des Faktischen . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2. Weimarer Zeit  – die Verfassung als fortwährendes Integrationssys­ tem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3. Unter dem Grundgesetz  – die normative Kraft der Verfassung . . . . 45 a) Interpretatorische Öffnung und Schließung der Verfassung  . . . . 47 b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 III. Methodische Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 1. Herkömmliche Anwendungsfälle der Verfassungsinterpretation . . . . 52 2. Der Verfassungswandel als Sonderfall der Verfassungsinterpreta­ tion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

8

Inhaltsverzeichnis

C. Methodische Anforderungen an grundrechtliche Sinnerweiterungen . . . 56 I. Allgemeiner Methodenstreit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 1. Subjektive Theorien  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2. Objektive Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 II. Methodisches Zwei-Stufenmodell bei Einbezug des Zeitfaktors . . . . . . 61 III. Methode der Verfassungsinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 1. Hermeneutisch-textorientierte Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2. Topisch-problemorientierte Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 3. Auslegungsmaxime: Normativ gebundene Topik . . . . . . . . . . . . . . . . 66 4. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 IV. Dynamisierungsfaktoren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 1. Achtung der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 a) Schutz personaler Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 b) Schutz von Minderheiten und staatliches Toleranzgebot . . . . . . . 75 2. Der Grundrechtskatalog als Wertesystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 a) Grundgesetz als zusammenhängendes Wertesystem . . . . . . . . . . . 76 b) Mehrebenensystem: Europäisierung der Verfassungsinterpreta­tion . 78 V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 D. Ergebnis zu Teil 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Teil 3

Überlegungen zu einer „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“ 

85

A. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 I. Unterschiede in der tatbestandlichen Natur grundrechtlicher Bestim­ mungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 II. Holistischer Ansatz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 B. Typologie grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . 90 I. Dynamische Verweisungsnormen  – ex ante-Anpassung  . . . . . . . . . . . . 90 1. Art. 2 Abs. 1  GG  – ein zukunftsoffenes Auffanggrundrecht . . . . . . . 90 a) Tatbestandliche Erweiterung durch unmittelbaren Einbezug bis­ her gänzlich unbekannter Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 b) Zum „Sittengesetz“ als dynamische Schrankenregelung . . . . . . . 92 2. Art. 3 Abs. 1  GG  – Gewährleistung von Gleichheit in der Zeit  . . . 95 a) Gerechtigkeit als Gleichheitsprimat  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 b) Ansätze zur Gleichheitsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 aa) Deskriptiver Gleichheitsbegriff und zweistufige Gleichheits­ dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 bb) Normativer Gleichheitsbegriff und dreistufige Gleichheits­ dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 cc) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102



Inhaltsverzeichnis9 c) Tatbestandliche Dynamik durch normative Maßstabsbildung der Vergleichsgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 aa) Herstellung von Gleichheit in der Zeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 bb) Herstellung normativer Systemgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . 106 II. Normgeprägte Grundrechtstatbestände  – verfassungsrechtlicher Gestal­ tungsauftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 1. Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtskonkretisierung  . . . . . . . 108 2. Tatbestandliche Dynamik durch rechtspolitische Gestaltungsent­ scheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 III. Retardierende Grundrechtstatbestände  – ex post-Anpassung . . . . . . . . . 112 1. Statische Grundprägung des Tatbestands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 2. Tatbestandliche Dynamik unter Anwendung der Methode normativ gebundener Topik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 3. Beispiel: Sinnerweiterung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts im digitalen Zeitalter  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

C. Kontinuitätswahrung – materielle Grenzen grundrechtlicher Dynamik . 119 I. Ewigkeitsgarantie  – Art. 79 Abs. 3  GG  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 II. Wesensgehaltsgarantie  – Art. 19 Abs. 2  GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 III. Einrichtungsgarantien normgeprägter Grundrechte  . . . . . . . . . . . . . . . . 123 1. Verfassungsdogmatische Klassifizierung einer Figur von den Ein­ richtungsgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 a) Entstehungsgeschichte in der Weimarer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . 124 b) Fortschreibung unter dem Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 c) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 2. Schutzzwecke  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 a) Innenverhältnis: Begrenzung tatbestandlicher Dynamik durch absolute Strukturmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 b) Außenverhältnis: Ausstrahlungswirkung als Wertentscheidung für die gesamte Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 3. Materieller Schutzumfang  – funktionale Ausrichtung der Struktur­ merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 4. Besonderheiten einer Leitbildfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 a) Normative Leitbilder und Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 b) Leitbilder als integraler Bestandteil von Einrichtungsgarantien  . 141 aa) Unterscheidung zwischen übergeordnetem Zweck und nor­ mativem Substrat  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 bb) Unterscheidung zwischen absoluten und normativen Struk­ turmerkmalen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 D. Verfassungsrichterliche Kontrolle grundrechtlicher Dynamik .  . . . . . . . 146 I. Kompetenzen als formell-rechtliche Grenzen grundrechtlicher Dyna­ mik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

10

Inhaltsverzeichnis 1. Gewaltenteilungsgrundsatz als Maßstab formaler Grenzziehung . . . 147 2. Kompetenzielle „Grauzonen“ in der Verfassungspraxis . . . . . . . . . . 151 II. Verfassungsrichterlicher Kontrollumfang tatbestandlicher Dynamisie­ rungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 1. Ausgangsprämissen und judizielle Praxis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 2. Abgestuftes Konzept verfassungsrichterlicher Kontrollmaßstäbe . . . 158 a) Verfassungsrichterliche Kontrolle im Bereich dynamischer Ver­ weisungsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 aa) Keine Kontrollmöglichkeit bei tatbestandlichen Erweiterun­ gen des Art. 2 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 bb) Strenger Kontrollmaßstab bei tatbestandlichen Erweiterun­ gen des Art. 3 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 b) Verfassungsrichterliche Kontrolle im Bereich normgeprägter Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 aa) Willkürkontrolle im Randbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 bb) Interventionsrecht im Falle längerer gesetzgeberischer Untä­ tigkeit?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 cc) Strenge Validitätskontrolle eines Wandels im normativen Substrat einer Leitbildfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 c) Verfassungsrichterliche Kontrolle im Bereich retardierender Grundrechtstatbestände  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168

E. Ergebnis zu Teil 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Teil 4

Gleichgeschlechtliche Partnerschaften im Lichte der Grundrechtsdynamik 

173

A. Einführung – Implementierung von Teil 3  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 B. Dynamisierungsprozess  1: Verfassungsrechtlicher Schutz gleichge­ schlechtlicher Partnerschaften als persönlichkeitsrelevante Entfaltung und ihre statusrechtliche Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 I. Historische Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 II. Dynamisierungsprozesse der Lebenswirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 1. Fortschritt medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnis . . . . . . . . . . . . 178 2. Normativer Wandel der gesellschaftlichen Sexualmoral . . . . . . . . . . 179 3. Einführung des Rechtsinstituts der eingetragenen Lebenspartner­ schaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 III. Verfassungsrechtliche Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 1. Bestimmung des grundrechtlichen Dynamisierungstypus . . . . . . . . . 181 a) Dynamische Verweisungsnorm: Art. 2 Abs. 1  GG? . . . . . . . . . . . 181 b) Retardierender Grundrechtstatbestand: Allgemeines Persönlich­ keitsrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183



Inhaltsverzeichnis11 2. Anforderungen an die tatbestandliche Sinnerweiterung  . . . . . . . . . . 185 a) Tatbestandliche Dynamik bei retardierenden Grundrechtstatbe­ ständen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 b) Dynamisierungsfaktoren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 aa) Sexuelle Identität als Ausdruck der Menschenwürde . . . . . . 186 bb) Verwurzelung von sexueller Identität und Partnerschafts­ form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 cc) Minderheitenschutz homosexueller Menschen und staatliches Toleranzgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 3. Folgen der tatbestandlichen Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 a) Persönlichkeitsrelevanter Schutzanspruch gleichgeschlechtlicher Partnerschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 b) Originärer verfassungsrechtlicher Leistungsanspruch auf tatsäch­ liche Schaffung eines statusrechtlichen Instituts . . . . . . . . . . . . . 192 IV. Art. 6 Abs. 1  GG als materielle Dynamisierungsgrenze  . . . . . . . . . . . . 193 1. Eheinstitutsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 a) Die Eheinstitutsgarantie als entmaterialisierter Funktionsschutz  . 195 b) Individual-freiheitliche Funktion der Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 c) Gemeinschaftlich-soziale Funktion der Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 aa) Beistands- und Verantwortungsgemeinschaft als Entlastung der öffentlichen Hand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 bb) Reproduktionsfunktion der Ehe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 d) Leitbildfunktion der Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 aa) Übergeordneter Zweck: Idealtypische Stabilitätsgewähr ehe­ licher Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 bb) Normatives Substrat: Heterosexualität als gesellschaftliche Erwartung an die eheliche Stabilität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 2. „Besonderer“ Schutz  – Eheschutz als objektiv-rechtliche Wertent­ scheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 a) Ausstrahlungswirkung des funktionellen Eheschutzes in die Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 b) „Besonderer Schutz“ als Abstandsgebot der Ehe? . . . . . . . . . . . . 214 c) „Besonderer Schutz“ als Privilegierungsgebot der Ehe . . . . . . . . 216 3. Beeinträchtigung des Eheschutzes durch Einführung der eingetrage­ nen Lebenspartnerschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 a) Innenverhältnis: Keine unmittelbare Beeinträchtigung der Funk­ tionsebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 b) Außenverhältnis: Keine Beeinträchtigung des Privilegierungsge­ bots der Ehe aufgrund verschiedener institutioneller Adressaten­ kreise  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 4. Konsequenz: Vollendung eines grundrechtlichen Dynamisierungs­ prozesses im Tatbestand des allgemeinen Persönlichkeitsrechts . . . . 221 V. Verfassungsrichterliche Kontrolle   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

12

Inhaltsverzeichnis 1. Kontrollmaßstab  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 2. Stellungnahme zu BVerfGE 105, 313 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 VI. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

C. Dynamisierungsprozess 2: Gleichbehandlung von eingetragener Le­ benspartnerschaft und Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 I. Gleichbehandlung als aktuelle gesellschaftliche Gerechtigkeitsvorstel­ lung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 II. Verfassungsrechtliche Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 1. Dynamische Verweisungsnorm: Art. 3 Abs. 1  GG . . . . . . . . . . . . . . . 229 2. Dynamisierungsfaktoren der zeitgerechten Vergleichsgruppenbil­ dung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 a) Achtung der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 b) Wahrung zeitgerechter Systemkohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 aa) Wertbestimmung der sexuellen Identität analog der Schutz­ güter aus Art. 3 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 bb) Europäische Einflüsse auf die Gleichbehandlung von einge­ tragener Lebenspartnerschaft und Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 3. Folge: Vergleichbarkeit von Ehe und eingetragener Lebenspartner­ schaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 III. Begrenzung der Tatbestandsdynamik durch Art. 6 Abs. 1  GG?  . . . . . . 236 1. Innenverhältnis: Keine unmittelbare Beeinträchtigung der ehelichen Funktionsebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 2. Außenverhältnis: Keine Beeinträchtigung des Privilegierungsgebots der Ehe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 3. Fazit: Ehe und eingetragene Lebenspartnerschaft als funktionsglei­ che aliud-Institute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 IV. Verfassungsrichterliche Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 1. Kontrollmaßstab  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 2. Stellungnahme zu den Gleichbehandlungsentscheidungen des BVerfG. 239 a) Wesentliche Entscheidungsgehalte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 b) Bewertung im Lichte der „Lehre grundrechtlicher Dynamisie­ rungsprozesse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 D. Dynamisierungsprozess 3 : Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Partnerschaften  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 I. Eheöffnung als mittelfristige gesellschaftliche Gerechtigkeitsvorstel­ lung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 II. Verfassungsrechtliche Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 1. Normgeprägter Grundrechtstatbestand: Art. 6 Abs. 1  GG . . . . . . . . . 249 2. Eheöffnung als rechtspolitische Gestaltungsentscheidung . . . . . . . . . 250 III. Begrenzung der Tatbestandsdynamik durch Art. 6 Abs. 1  GG?  . . . . . . 251 1. Die Eheinstitutsgarantie als materielle Dynamisierungsgrenze . . . . . 251 2. Wandel im normativen Substrat des Eheleitbildes: Entbehrlichkeit des Heterosexualitätsprinzips im Zeitverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252



Inhaltsverzeichnis13 IV. Verfassungsrichterlicher Kontrollmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

E. Dynamisierungsprozess 4 : Öffnung der Familie für gleichgeschlecht­ liche Paare mit Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 I. Dynamisierungsprozesse der Lebenswirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 1. Pluralisierung familiärer Lebensformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 2. Entstehen von Regenbogenfamilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 II. Verfassungsrechtliche Reflexion: Art. 6 Abs. 1  GG als normgeprägter Grundrechtstatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 III. Die Familieninstitutsgarantie als materielle Dynamisierungsgrenze? . . 261 1. Individual-freiheitliche und gemeinschaftlich-soziale Funktionen der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 2. Leitbildfunktion der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 a) Ursprünglich: Ehebasierte Familie als verfassungsrechtliches Leitbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 b) Entfallen des Kriteriums der Ehe als normative Grundlage der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 c) Entfallen des Heterosexualitätsprinzips beim Familienbegriff . . . 271 IV. Verfassungsrichterliche Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 1. Kontrollmaßstab  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 2. Stellungnahme zu BVerfGE 133,  59 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 F. Ergebnis zu Teil 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Teil 5

Zusammenfassende Thesen 

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Sachwortregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314

Teil 1

Einführung A. Einleitung und Untersuchungsgegenstand Das Zeitgeschehen schöpft die Inhalte des Verfassungsrechts, es ist die Wurzel verfassungsrechtlicher Vitalität. Zeitlicher Fortschritt führt zu natur­ bedingten Veränderungen, die sich in einem physisch-wissenschaftlichen Er­ kenntnisgewinn oder auf normativer Ebene in gewandelten gesellschaftlichen Wertevorstellungen ausdrücken. Die Dynamik der Lebenswirklichkeit wirkt als treibende Kraft der Menschheitsgeschichte. Sie kann Anlass geben, bereits bekannte Tatsachen und Erkenntnisse angesichts ihres zeitlichen Fortschrei­ tens zu überholen, sie kann die Zeitgemäßheit einzelner Aspekte oder gar das Entstehen gänzlich neuer Lebensfelder bewirken. Es entstehen auf diese Wei­ se jeweils punktuelle Dynamisierungsprozesse, die in ihrer Summe einem ge­ samten gesellschaftlichen Lebensbereich seine Prägekraft verleihen können. Wendet man nun den Blick von den Dynamisierungsprozessen der Lebens­ wirklichkeit zum Grundgesetz, stellt sich die Frage ihrer verfassungsrecht­ lichen Reflexion. Verfassungsrechtliche Schutzpositionen menschlicher Ver­ haltens- und Betätigungsformen finden ihren Ausdruck in grundrechtlichen Tatbeständen. Für die Bewertung des konkreten grundrechtlichen Schutzni­ veaus ist daher regelmäßig zu untersuchen, ob sich Dynamisierungsprozesse der Lebenswirklichkeit dem Tatbestand eines bestimmten Grundrechts zuord­ nen lassen. An diesem Punkt des Subsumtionsvorgangs begibt man sich indes auf ein schwieriges Terrain der Grundrechtslehre. Mag es auf einen ersten Blick noch recht trivial erscheinen, neue Verhaltensweisen und Betätigungen entsprechend ihrer Sachnähe einem vermeintlich einschlägigen grundrechtli­ chen Schutzbereich zu überführen, offenbart sich auf einen zweiten Blick eine seit jeher kontrovers diskutierte Problematik im generellen Umgang mit dem Verhältnis von Verfassungsrecht und Lebenswirklichkeit. Diese prägt nicht erst die Konturierung konkreter Schutzgehalte einzelner Grundrechte, sondern beginnt bereits beim verfassungstheoretischen Grundverständnis. Die beiden Pole der Grundrechtsstatik auf der einen und der Grundrechtsdy­ namik auf der anderen Seite könnten in ihren Extrema einerseits absolute Geltung beanspruchen, andererseits ließe sich ihre dialektische Beziehung ebenso relativ begreifen, das heißt, ihr Verhältnis wäre dann für jeden einzel­ nen Dynamisierungsprozess speziell auszutarieren. Lässt sich zugunsten ei­

16

Teil 1: Einführung

nes verstärkt statischen Verständnisses auf die Existenz der in Art. 79 Abs. 1 GG ausdrücklich verankerten formellen Verfassungstextänderung ver­ weisen, könnten wiederum die weitläufig verfassten grundrechtlichen Tatbe­ stände ausreichend Spielraum für eine zeitgemäße Auslegung bereithalten. Während im ersten Fall vor allem den Vorstellungen des historischen Verfas­ sungsgebers Rechnung getragen wird, legt ein an der Dynamik orientiertes Verständnis die gegenwärtigen gesellschaftlichen Vorstellungen als Leitlinie der Verfassungsauslegung zugrunde. Die historischen Ansichten über den Schutzgehalt eines grundrechtlichen Schutzbereichs zum Entstehungszeit­ punkt des Grundgesetzes erfahren dann eine zeitgemäße Aktualisierung im Wege tatbestandlicher Erweiterung. Es wird der Bereich der Grundrechtsdy­ namik betreten, indem sich mit Blick auf eine Überholung des bisherigen Schutzumfangs ein grundrechtlicher Dynamisierungsprozess innerhalb der tatbestandlichen Ebene eines Grundrechts vollzieht. Ein grundrechtlicher Dynamisierungsprozess beschreibt demzufolge die verfassungsrechtliche Fortführung bzw. die verfassungsrechtliche Reflexion eines durch Entwicklungen der Lebenswirklichkeit ausgelösten Dynamisie­ rungsprozesses. Die Lebenswirklichkeit erzeugt ihrerseits einen Anpas­ sungsdruck auf den Schutzumfang geltender Grundrechtstatbestände, sie drängt nach einer adäquaten grundrechtlichen Reflexion im jeweiligen Tat­ bestand. Handelt es sich bei diesem Transformationsprozess um eine essen­ tielle grundrechtliche Problemstellung, zeichnet die gleichzeitige Suche nach ihrer wissenschaftlichen Aufarbeitung gleichwohl ein heterogenes Bild: Zwar werden in der Grundrechtsdogmatik durchaus an verschiedenen Stellen „dynamische“ Aspekte diskutiert, sei es im methodenwissenschaftli­ chen Schrifttum, im Zusammenhang mit der Grundrechtsausgestaltung normgeprägter Grundrechte, speziell den dort anzutreffenden Einrichtungs­ garantien, oder bei Ausführungen zum kompetenziellen Verhältnis zwischen BVerfG und politischen Akteuren. Vielfach erfolgen die teils sehr komple­ xen Überlegungen jedoch ausschließlich punktuell, das heißt vornehmlich mit Blick auf ein konkretes Problem, ohne hierbei die Auswirkungen auf die gesamte Systematik des Grundgesetzes zu reflektieren bzw. aus einem ganzheitlichen Ansatz entscheidende Impulse für einzelne Problemfelder zu schöpfen. Ein grundrechtsdogmatisches Model für eine Art „Lehre grund­ rechtlicher Dynamisierungsprozesse“, welches die bisherigen Einzeldiskurse im Bereich der Grundrechte einer holistischen Betrachtungsweise zuführt, sucht man bisher vergebens.1 Diese Arbeit möchte einen ersten Anstoß für ein solches Unterfangen leisten. 1  Vereinzelte Ansätze sind lediglich bei Schuppert, AöR 120 (1995), S. 32 (37 ff.); Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 221 ff. zu finden. Allerdings konzentrieren sich diese nicht speziell auf Dynamik im Bereich der Grundrechte.



A. Einleitung und Untersuchungsgegenstand17

Maßgebliches Anliegen einer „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungs­ prozesse“ bildet zunächst die Bestimmung einer entsprechenden Typologie. Diese impliziert zugleich eine generelle Unterscheidbarkeit der tatbestandli­ chen Natur grundrechtlicher Schutzverbürgungen, deren Strukturen Dyna­ mik der Lebenswirklichkeit unter verschiedenen Anforderungen verarbeiten. Weiterhin kann bei einer relativen Betrachtung der Pole grundrechtlicher Statik und Dynamik ein grundrechtlicher Dynamisierungsprozess nicht grenzenlos sein, vielmehr ist er an verfassungsimmanente Systemgrenzen gebunden, die ihrerseits als materielle Dynamisierungsgrenzen Wirkung auf die Reichweite einer Schutzbereichsbestimmung entfalten. Der Herausarbei­ tung materieller Grenzen kommt daher ebenfalls eine wichtige Bedeutung in einer umfassenden „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“ zu. Komplementiert wird der ganzheitliche Ansatz grundrechtlicher Dynamik schließlich durch Einbezug der verfassungsrichterlichen Perspektive. Aus einer typologischen Abschichtung grundrechtstatbestandlicher Strukturen resultieren spiegelbildlich bestimmte Maßstäbe für die verfassungsrichterli­ che Kontrolle eines grundrechtlichen Dynamisierungsprozesses. Dies erlaubt die Überprüfung der Einhaltung des Kontrollmaßstabs innerhalb verfas­ sungsrichterlicher Entscheidungen, bei denen ein Dynamisierungsprozess der Lebenswirklichkeit im Mittelpunkt steht, den es in die grundrechtlichen Strukturen zu überführen gilt. Die Praxistauglichkeit des holistischen Ansatzes lässt sich prägnant im Dynamisierungsbereich „gleichgeschlechtliche Partnerschaften“ implemen­ tieren  – ein Lebensfeld, das seit jeher von brisanten rechtspolitischen Fra­ gestellungen begleitet ist. Mit der Einführung des Instituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft im Jahr 2001 wurde erstmals in der deutschen Ge­ schichte ein rechtlicher Rahmen für gleichgeschlechtliche Paare geschaffen, der neben das Eheinstitut getreten ist und in den vergangenen Jahren sowie gegenwärtig weitgehende Gleichbehandlung mit der Ehe einfordert. Zuneh­ mend werden heute Rufe nach einer Zusammenführung beider Institute unter dem Dach der Ehe laut. Dies nicht auch zuletzt deswegen, weil in eingetragenen Lebenspartnerschaften Kinder leben und damit familiäre Bin­ dungen vorzufinden sind. Der gesellschaftliche Umgang mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften könnte bei historischer Betrachtung gegensätzlicher nicht sein: Gleichge­ schlechtliche Beziehungen zwischen Männern und zwischen Frauen wurden in verschiedenen Epochen ganz unterschiedlich behandelt, teils befürwortet und toleriert, teilweise untersagt oder verfolgt.2 War (männliche) Homo­ sexualität zum Entstehungszeitpunkt des Grundgesetzes im Jahr 1949 noch mit Strafe belegt, sind dagegen intime Beziehungen und sexuelle Orientie­ 2  Vgl.

Schimmel, S. 19.

18

Teil 1: Einführung

rung in der modernen Gesellschaft Ausdruck persönlicher Freiheit des Einzelnen. Der Kontrast offenbart ein fundamentales Auseinanderfallen der gesellschaftlichen Bewertung im Zeitverlauf, die Frage nach der verfas­ sungsrechtlichen Reflexion „gleichgeschlechtlicher Partnerschaften“ und damit nach einem grundrechtlichen Dynamisierungsprozess tritt evident hervor. Bei genauer Betrachtung handelt es sich bei den eingeschlagenen Entwicklungslinien gar um vier voneinander zu trennende grundrechtliche Dynamisierungsprozesse: Betraf die verfassungsrechtliche Reflexion zu­ nächst die generelle Anerkennung eines grundrechtlichen Schutzes gleichge­ schlechtlicher Beziehungen, handelt es sich bei der Frage nach einer insti­ tutionellen Gleichbehandlung von eingetragener Lebenspartnerschaft mit der Ehe und der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare um weitere grundrechtliche Dynamisierungsprozesse. In dem Einbezug gleichge­ schlechtlicher Paare und den mit ihnen zusammenlebenden Kindern unter den verfassungsrechtlichen Familienbegriff ist zuletzt ein vierter Dynamisie­ rungsprozess zu erblicken. Überführt man die einzelnen Dynamisierungsprozesse in das skizzierte Konzept der „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“, hat zunächst eine Zuordnung jedes Prozesses zum entsprechenden Typus grundrechtlicher Dynamik zu erfolgen, dem die tatbestandlichen Anforderungen an die Ver­ arbeitung der konkreten, an den grundrechtlichen Tatbestand herangetra­ genen Entwicklung der Lebenswirklichkeit entstammen. Ebenso gehört die  Auseinandersetzung mit den relevanten Grenzen und den spezifischen verfassungsrichterlichen Kontrollanforderungen zum Prüfungsprogramm. Drängt sich aufgrund der sachlichen Nähe der gleichgeschlechtlichen Part­ nerschaften zu den verfassungsrechtlichen Schutzgütern von Ehe und Fami­ lie eine Behandlung von Art. 6 Abs. 1  GG zwar auf, konzentriert sich der hier gewählte Ansatz allerdings nicht nur auf eine punktuelle Untersuchung, die ausschließlich Art. 6 Abs. 1 GG in den Blick nimmt. Vielmehr betreffen die grundrechtlichen Dynamisierungsprozesse tatbestandliche Sinnerweite­ rungen innerhalb verschiedener grundrechtlicher Tatbestände. Der holisti­ sche Ansatz der „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“ fordert daher den Einbezug des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Fa­ milie in ein ganzheitliches dogmatisches Modell grundrechtlicher Dynamik. Art. 6 Abs. 1  GG kann zum einen Gegenstand tatbestandlicher Sinnerweite­ rungen sui generis sein, zum anderen können die Strukturvorgaben aus Art. 6  Abs. 1  GG regulierend auf tatbestandliche Sinnerweiterungen in an­ deren Grundrechten einwirken. Ein solcher Blickwinkel ist speziell für die bisherigen, kontrovers geführten Diskussionen um das Spannungsverhältnis zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft fruchtbar, findet die Bedeutung der übergeordneten Steuerung dieses Verhältnisses durch auf Art. 6 Abs. 1  GG eindringende und von der Norm zugleich ausgehende



B. Gang der Darstellung19

grundrechtliche Dynamisierungsvorgaben für andere Grundrechtstatbestände bislang nur wenig Beachtung in der wissenschaftlichen Aufarbeitung. Ein ganzheitlicher Ansatz grundrechtlicher Dynamik trägt hier zuletzt dazu bei, die wechselseitigen Spannungslagen von Veränderungsprozessen innerhalb des Grundrechtskatalogs und seine spezifische Eigenschaft als normatives System besser zu durchdringen.

B. Gang der Darstellung Eine Untersuchung, die sich mit grundrechtlichen Dynamisierungsprozes­ sen befasst, sucht nach Antworten auf die Frage der Wandlungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände, das heißt, sie muss in einem ersten Schritt klären, inwieweit die Verfassung überhaupt dem Zeitgeist ausgesetzt ist und durch ihn beeinflusst wird. Mit dieser grundlegenden Thematik beschäftigt sich Teil  2. In seinem Kapitel  A erfolgt eine verfassungstheoretische Be­ trachtung des Verhältnisses von Verfassungsrecht und Zeit. Die Verfassungs­ theorie trifft als verfassungsrechtliches „Dahinter“3 zentrale Weichenstellun­ gen für die Leseart des Verfassungsrechts und übt maßgeblichen Einfluss auf die methodischen Implikationen der Verfassungsinterpretation aus. Im Kapitel  B wird sodann der schillernde, aber nicht minder unpräzise Begriff vom „Verfassungswandel“, aus dessen regelmäßiger Bezugnahme irgendwie geartete Wandlungen des Verfassungsrechts außerhalb des formellen Verfah­ rens der Verfassungstextänderung ihre rechtliche Legitimationskraft schöp­ fen sollen, unter dem Aspekt seiner verfassungsdogmatischen sowie verfas­ sungsmethodischen Dimension näher beleuchtet. Kapitel  C beschäftigt sich schließlich mit der Möglichkeit tatbestandlicher Sinnerweiterung einer Ver­ fassungsnorm im Wege der Verfassungsauslegung. Hier stehen Ausführun­ gen zur Methodik der Verfassungsinterpretation im Vordergrund, die Resul­ tat des zugrundegelegten verfassungstheoretischen Vorverständnisses sind. Die aus Teil  2 gewonnenen Erkenntnisse bilden die verfassungstheoreti­ schen Rahmenbedingungen für die bei Teil  3 im Zentrum stehenden Über­ legungen zu einer „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“. Ein­ führende Bemerkungen, insbesondere zum holistischen Ansatz einer solchen Lehre, sind in Kapitel A. vorangestellt. Eine „Lehre grundrechtlicher Dyna­ misierungsprozesse“ umfasst die typologische Abschichtung bestimmter Kategorien grundrechtlicher Dynamik, mit denen sich Kapitel  B. auseinan­ dersetzt, sowie die Untersuchung der für die einzelnen Typen relevanten Grenzen, denen sich wiederum Kapitel C. widmet. Komplementiert wird die Betrachtung durch den in Kapitel  D. erfolgenden Einbezug der Rolle des 3  Volkmann,

Der  Staat  54 (2015), S. 35 (35).

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Teil 1: Einführung

Verfassungsgerichts innerhalb der grundrechtlichen Dynamisierungsprozes­ se. Die Stellung des BVerfG als Letztinterpret der Verfassung erfordert eine nähere Untersuchung der kompetenziellen Verhältnisse zwischen BVerfG und den rechtspolitischen Akteuren der Verfassungsentwicklung als formellrechtliche Grenze grundrechtlicher Dynamik sowie eine Analyse des einzu­ haltenden verfassungsrichterlichen Kontrollmaßstabs je nach betroffenem Typus grundrechtlicher Dynamik. Die „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“ wird sodann in Teil  4 am Beispiel der umfassenden Untersuchung des Dynamisierungsbe­ reichs „gleichgeschlechtlicher Partnerschaften“ angewendet. Es erfolgen ei­ ne typologische Zuordnung der jeweils stattgefundenen und sich gegenwär­ tig abzeichnenden grundrechtlichen Dynamisierungsprozesse sowie eine Auseinandersetzung mit den materiellen Dynamisierungsgrenzen. Weiterhin wird eine Bewertung der bisherigen Verfassungsrechtsprechung aus dem Bereich der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft, speziell zu den eingetra­ genen Lebenspartnerschaften, vorgenommen, bei der die Entscheidungsbe­ gründungen unter dem Aspekt der angemessenen Darstellung grundrechtli­ cher Dynamisierungsprozesse und seinen spezifischen Anforderungen für die verfassungsrichterliche Kontrolle im Fokus stehen. Teil  5 enthält zum Abschluss eine thesenartige Zusammenfassung der wesentlichen Untersuchungsergebnisse.

Teil 2

Zur dynamischen Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände A. Vom Anpassungsdruck der Verfassung an die Zeit Seit jeher beschäftigt die Staatsrechtswissenschaft das Verhältnis von Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit, von Grundrechtsdynamik und Grundrechtsstatik1  – regelmäßig terminologisch umschrieben mit Be­ griffspaaren wie „Verfassung und gesellschaftliche Realität“2, „Verfassung und Zeit“3 oder auch „Verfassung und Lebenswirklichkeit“4. Traditionen und Normen wandeln sich im Laufe der Zeit. Die Gesellschaft verändert sich. Zugleich schreitet der technisch-wissenschaftliche Fortschritt voran. Dies kann zu einem Auseinanderfallen der Verfassungsnorm auf der einen und der auf sie bezogenen Verfassungswirklichkeit auf der anderen Seite führen. Veränderungen in der Lebenswirklichkeit können gerade im Bereich der Grundrechte Anlass geben, die tatbestandliche Gewährleistung aus Gründen ihrer Zeitgemäßheit zu überholen. Sie üben dann einen Anpas­ sungsdruck auf das geltende grundrechtliche Schutzgefüge aus. Dies wirft wiederum die allgemeine Frage auf, inwieweit das Grundgesetz selbst für „innere Anpassungen“ offen ist, wie es Veränderungen der Lebenswirklich­ keit in der verfassungsrechtlichen Überführung reflektiert und welche An­ passungsprozesse es hierfür de constitutione lata bereithält. Den beiden Vorgängen, nämlich zum einen der anfänglichen Entstehung von Dynami­ sierungsprozessen in der Lebenswirklichkeit und zum anderen ihrer an­ schließenden verfassungsrechtlichen Reflexion, gehen die folgenden Aus­ 1  Rüthers, Zeitgeist und Recht, S. 10; überblickartig Wolff, S. 18 ff.; Kägi, S. 82; H. Klein, in: Festschrift für D.  Rauschning, S. 5 (5 ff.). 2  So der Titel des KJ-Beihefts 1/2009, Kritische Justiz, Verfassungsrecht und gesellschaftliche Realität. 3  So bspw. Häberle, ZfP  21 (1974), S. 111 ff.; Kloepfer, Der  Staat  13 (1974), S. 457 (458 ff.); Würtenberger, Zeitgeist und Recht; Rüthers, Zeitgeist und Recht; Winkler, Zeit und Recht; Husserl, Recht und Zeit, S. 9 ff. 4  So bspw. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung; Smend, in: Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 119 (188 ff.); Hesse, Die normative Kraft der Ver­ fassung.

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

führungen nach. Sie konzentrieren sich auf grundrechtliche Tatbestände als zentraler Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit.

I. Technik und Werte als Parameter menschlichen Fortschritts Die Menschheit unterliegt permanenten technischen und gesellschaftli­ chen Wandelungen, die sich mit zunehmendem Entwicklungsstand und be­ schleunigenden Umweltveränderungen intensivieren.5 Solche Veränderungen erfolgen regelmäßig nicht sprunghaft, sondern sukzessive, sodass es sorgsam darauf zu achten gilt, kurzzeitige Entwicklungen in Form von „Trends“ gegenüber langfristigen gesellschaftlichen Umschwüngen abzugrenzen.6 Während der technische Fortschritt vornehmlich physisch-wissenschaftli­ che Erkenntnisse betrifft, beispielsweise in Form eines fortschrittlichen Beitrags auf dem Gebiet technischer Sicherheitsstandards oder eine Erwei­ terung des medizinischen Kenntnisstandes, drücken sich gesellschaftliche Veränderungen maßgeblich in Form gewandelter Werturteile aus, deren „Richtigkeitsempfinden“  – wie auch die gängigen straf-7 und öffentlichrechtlichen8 Definitionen verdeutlichen  – nicht dem Beweis zugänglich, sondern von Elementen subjektiver Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens geprägt ist. Anders als bei technischen Neuerungen lässt sich mit Blick auf etwaige Wertevorstellungen zunächst nicht feststellen, inwieweit die aus einem gesellschaftlichen Umschwung hervorgegangenen Werte „besser“ oder „schlechter“ gegenüber einem früheren Zustand sind. Auch ist das zu einzelnen Wertungsfragen vertretene Meinungsspektrum heterogen und durch kollidierende Extrempositionen gekennzeichnet – einer profunden Ablehnung mit Blick auf ein bestimmtes gesellschaftliches Streitthema steht dann oftmals eine zutiefst überzeugte Befürwortung für selbiges gegen­ über9. Diese Vielfalt resultiert aus der Vielzahl individueller Wertungen, die 5  Fiedler, S. 16; Schulze-Fielitz, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann, S. 139 (141 ff.); Huster, ZfRSoz  24 (2003), S. 3 (7); Ossenbühl, in: Festschrift für H. Za­ cher, S. 673 (673); Steiger, VVDStRL  45 (1987), S. 55 (74). 6  Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S. 106 f. weist beispielsweise darauf hin, dass der Ruf nach Sicherheit und Ordnung zumeist in solchen Zeiten eine große Anhängerschaft findet, in denen eine Gefährdung durch steigende Kriminalität, ein­ zelne Anschläge oder eine besondere mediale Berichterstattung vorangegangen sind; Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 90. 7  Siehe bspw. Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, § 186 Rn. 3 f. 8  Siehe bspw. Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Rn. 594 ff. 9  Exemplarisch für solche grundlegenden gesellschaftlichen Themen stehen der Atomausstieg, die Sterbehilfe oder der Schwangerschaftsabbruch.



A. Vom Anpassungsdruck der Verfassung an die Zeit 23

nicht konstant verlaufen, sondern je nach betroffenem Interessenkonflikt schwanken.10 Der Untersuchung „sozialen Wandels“ widmen sich in besonderem Maße die sozialwissenschaftlichen Disziplinen.11 So hat sich insbesondere die Soziologie dem Ethos verschrieben, Erklärungen für die Entstehung und den Wandel von Werten zu finden. In einem soziologischen Sinne umschreibt die tägliche menschliche Interaktion  – das „soziale Handeln“  – eine Orien­ tierung des Einzelnen an anderen Personen, die zum anthropologischen Grundbedürfnis gehört12. Mit zunehmender gegeneiseitiger Interaktion bil­ den sich allmählich bestimmte Muster heraus13, die in der Entstehung von Normen münden, sobald bestimmte Verhaltensmuster von einer Gruppe in­ ternalisiert wurden und ihre Abweichung gesellschaftlich  – beispielsweise durch eine bloße Missbilligung oder als ultima ratio in Form von staatlicher Strafe  – „sanktioniert“ wird. Die Gesamtheit aller Normen der Gruppe bil­ det sodann die legitime Ordnung einer Gesellschaft.14 Sie kann aus einem niedergeschriebenen Teil  (kodifizierte Rechtsordnung) und ungeschriebenen Verhaltensregeln (gesamte Rechtsordnung) bestehen. Ihrer Natur nach handelt es sich bei gesellschaftlichen Wertevorstellungen mithin um keine statische, sondern eine dynamisch-wandelbare Größe. Als solche drücken sie sich im jeweiligen Zeitgeist aus, den wiederum seine Prägekraft und fortlaufende Wandelbarkeit als Wesensmerkmale kennzeich­ nen.15 Auch das Recht kann sich diesem Sog nicht entziehen, vielmehr prägt der Zeitgeist geradezu das gegenwärtige Rechtsbewusstsein. Zeitgeschicht­ liche Ereignisse und Erfahrungen verwurzeln in der Denkweise einer Gene­ ration und sind in der Lage, psychologische Konflikte hervorrufen, die Anlass geben, bisherige Einstellungen und Ansichten neu zu reflektieren. Setzt sich schließlich ein neuer Zeitgeist in einem Generationenkonflikt durch, bei dem unterschiedliche Prägungen der älteren und jüngeren Gene­ ration aufeinandertreffen16, kann dies einen Wandel in der rechtlichen Be­ wertung ganzer Regelungsbereiche, aber auch bereits einen Wandel hinsicht­ lich des Umfangs bestimmter, nunmehr überkommener Norminhalte bewir­ 10  Zippelius,

Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, S. 125. S. 65 ff.; kritisch weist Häberle, ZfP  21 (1974), S. 111 (111) auf die bisherige Ausblendung der Sozialwissenschaften hin. 12  Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S. 23, 25; Starck, in: Festschrift für W.  Geiger, S. 40 (50 ff.). 13  Zur sozialwissenschaftlichen Herleitung instruktiv Meulemann, S. 137 ff. 14  Meulemann, S. 152 ff. 15  Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S. 21. 16  Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S. 23 f.; Germann, VVDStRL  73 (2013), S. 257 (291). 11  Fiedler,

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

ken. Ein neues Rechtsbewusstsein fußt letztlich auf einem neuen Grundkon­ sens in einer Rechtsgemeinschaft17, was in der Sache nichts anderes bedeutet, als dass ein verändertes Rechtsbewusstsein über die in einer Ge­ sellschaft nunmehr konsensfähigen Gerechtigkeitsvorstellungen besteht. An der Nahtstelle von Recht und Lebenswirklichkeit, mithin überall dort, wo die Rechtsordnung Bezug auf normative Vorgaben nimmt, kann die Rechts­ wissenschaft das Zusammenspiel von Recht und Sozialem naturgemäß nicht aus eigener Kraft erklären, sondern muss sich verstärkt um eine interdiszi­ plinäre Betrachtung, maßgeblich unter Einbezug sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse zur Normforschung18, bemühen. In der rechtlichen Reflexion werden die gesellschaftlichen Werte auf diese Weise zu einem unvermeidbaren Faktor  – sämtliches Recht ist auf Werten begründet.19 Als übergeordneter Bezugspunkt gehen von der Verfas­ sung normative Rahmenvorgaben für den Zusammenhalt, die Integration der Gesellschaft und die Regelung von Konflikten aus.20 Um diese Funktion wahrzunehmen, muss eine Verfassung nicht zwangsläufig niedergeschrieben sein, wie Großbritannien als prominentes Beispiel zeigt21, sondern entschei­ dend ist, dass es sich bei den in ihr verkörperten Werten um übergeordnete, von einem Grundkonsens geprägte grundlegende Vorstellungen des Wünsch­ baren handelt – einen Grundkonsens aller Vernünftig- und Gerecht-Denken­ den22, dessen Bewahrung im Wesentlichen durch die Kultur und öffentliche Meinung kontrolliert wird. Der Verfassungskonsens, welcher seine Legiti­ mation wiederum aus dem realen Wertkonsens der Gesellschaft schöpft23, kennzeichnet die Vitalität und Dauerhaftigkeit der Verfassung.24 Aus jenen verfassungsrechtlichen Konsensvorgaben entwickeln sich sodann ihrerseits konkretisierende Normen im zeitlichen Verlauf, welche die übergeordneten Vorstellungen mit Leben füllen und eine Dynamik von Wertevorstellungen im Verfassungsrecht ermöglichen. Die Verfassung selbst spezifiziert ihrer­ 17  Würtenberger,

Zeitgeist und Recht, S. 101 ff. S. 62; v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, S. 61 ff. 19  Winkler, Wertbetrachtung im Recht und ihre Grenzen, S. 46 f.; Starck, in: Fest­ schrift für W.  Geiger, S. 40 (41). 20  Meulemann, S. 153 f. 21  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 95. 22  Neidhardt, in: Schuppert/Bumke, S. 15 (16); Zippelius, Verhaltenssteuerung durch Recht und kulturelle Leitideen, S. 69; Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S. 22; Ehmke, VVDStRL  20 (1963), S. 53 (71 f.). 23  Prägend ist das Bild der Verfassung als Gesellschaftsvertrag, eingehend Häberle, Die  Verwaltung  26 (1993), S. 421 (421 ff.); dazu auch Ebsen, in: Schuppert/ Bumke, S. 83 (87). 24  Isensee, NJW  1977, 545 (548 ff.); Uhle, S. 46; Kloepfer, Der  Staat  13 (1974), S. 457 (458). 18  Fiedler,



A. Vom Anpassungsdruck der Verfassung an die Zeit 25

seits also nicht die Normen des Handelns, sondern bietet lediglich einen Rahmen zur Entwicklung weiterer, die Rahmenvorgaben ausfüllender Nor­ men. Treffend formuliert Meulemann: „Sie bestimmt, was in einer Gesell­ schaft zulässig sein kann, aber nicht, was in ihr zulässig ist. Sie ist die normative Grenze, aber nicht das normative Gewebe der Gesellschaft.“25

II. Wertbildung im Schichtenmodell Jene konkretisierenden, das verfassungsrechtliche Gewebe ausfüllenden Normen manifestieren sich ihrerseits im Aggregat der individuellen Verhal­ tensweisen und Moralvorstellungen auf der Makroebene, wenn die indivi­ duellen Gewissensentscheidungen den Bereich der Subjektivität verlassen und die Bildung gesellschaftlicher Gerechtigkeitsentscheidungen im Mittel­ punkt steht. Da in einer großen Gemeinschaft die Erhebung sämtlicher in­ dividueller Vorstellungen schlichtweg nicht durchführbar ist, bedient man sich bei der Ermittlung vorherrschender gesellschaftlicher Normen der ver­ schiedenen Filter einer repräsentativen Demokratie. Anschaulich lässt sich bei der Wertbildung von einem Schichtenmodell26 sprechen: Die Feststellung des Konsenses erfolgt in einem offenen Prozess, der vom kritischen und unbeeinflussten Diskurs innerhalb einer Gesellschaft lebt. Hierfür bedarf es des Rückgriffs auf bewährte Erhebungsverfahren nach der Methodik der empirischen Sozialforschung.27 Der interdisziplinäre An­ satz bildet die Brücke zu den sozialwissenschaftlichen Nachbarwissenschaf­ ten. Gesellschaftliche Werteeinstellungen lassen sich aus repräsentativen Umfragen, öffentlichkeitswirksamen Äußerungen und medialer Berichterstat­ tung extrahieren. Sie werden in einem nächsten Schritt auf politischer Ebene von den Parteien reflektiert, die sich in diesem offenen Diskurs inhaltlich platzieren. Politische Parteien treffen eine „Vorformung“28 bestimmter Wer­ teeinstellungen, die in den Parteiprogrammen zum Ausdruck kommt, sodass es die Bürger selbst in der Hand haben, eine Partei zu wählen, die mit ihren individuellen Wertevorstellungen die größte Schnittmenge aufweist. Da die Parteien regelmäßig nicht sämtliche subjektiven Vorstellungen befriedigen, geht das Individuum insoweit mit seiner Wahl einen Kompromiss ein  – es überwindet die Subjektivität zugunsten eines gesellschaftlichen Konsenses.29 25  Meulemann, 26  Volkmann,

S. 154. VVDStRL 67 (2008), S. 57 (69); Volkmann, AöR 134 (2009), S. 157

(166). 27  So auch Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S. 46. 28  Scheuner, in Listl/Rüfner, S. 347 (353). 29  Zippelius, Verhaltenssteuerung durch Recht und kulturelle Leitideen, S. 67 ff., 92.

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

In einem nächsten Schritt können sich diese Werte wiederum in der Rechts­ gestaltung widerspiegeln, wenn die gewählte Partei tatsächlich in das Parla­ ment gewählt wird und idealerweise der Parlamentsmehrheit angehört. In der Opposition haben die Parteien dagegen zumeist nur die Möglichkeit, ihre programmatischen Wertevorstellungen mit dem Ziel zu bewerben, ihnen zur Mehrheitsfähigkeit bei Neuwahlen zu verhelfen. Recht ist in diesem mehrschichtigen Verfahren das Resultat politischer Entscheidungsprozesse. Es versteht sich zugleich als geronnene Politik30 und wird zu einem wirksamen politischen Instrument der Umsetzung gesell­ schaftlicher Wertevorstellungen. An der Spitze des Schichtenmodells stehen vor allem die staatlichen Organe, die entsprechend des von unten herange­ tragenen Willens politisch besetzt werden, und hier die Ausrichtung der politischen Richtlinien für den ihr von der Verfassung gewährten Zeitraum bestimmen. Die gesellschaftlichen Werte können sich auf diese Art je nach politischen Machtverhältnissen durchsetzen. Der politische Wille ist seiner­ seits an den Willen des Volkes gekoppelt und artikuliert sich als dessen Stellvertreter.31 Er überführt die zeitlich variierenden gesamtgesellschaft­ lichen Wertevorstellungen in die rechtliche Reflexion.

III. Zeitgeprägtheit des Verfassungsrechts – verfassungstheoretische Betrachtungen Während das Zusammenspiel gesellschaftlicher Wertbildung und rechtli­ cher Reaktion im Schichtenmodell primär die Ausgestaltung der einfachen Rechtsordnung betrifft, gilt es daneben der Frage nachzugehen, inwieweit die Vorschriften des Grundgesetzes als übergeordnete Steuerungsnormen ihrer­ seits wandlungsfähig sind. Aufgrund seines normativen Gerüsts wird in der Tat auch das Verfassungsgeschehen in besonderem Maße vom Zeitgeschehen berührt.32 Die Inanspruchnahme grundrechtlicher Freiheiten ist geradezu Ausfluss menschlichen Handelns in der Zeit.33 Ändert sich folglich das Rechtsbewusstsein, kann das bisherige normative verfassungsrechtliche Ge­ webe als überholt erscheinen, sodass es zu einem Auseinanderfallen zwischen gesellschaftlicher Lebenswirklichkeit und gesetzlicher Normierung kommt.34 30  Grimm, JuS  1969, 501 (502). Das Zusammenspiel von Politik und Verfas­ sungsrecht betont auch v. der Heydte, ARSP  39 (1950/1951), S. 461 (474 f.). 31  Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S. 202 m. w. N. 32  Häberle, ZfP  21 (1974), S. 116; Huster, ZfRSoz 4 (2003), S. 3 (4); Krüger, DVBl.  1961, S. 685 (688). 33  Kloepfer, Der  Staat  13 (1974), S. 458 (460). 34  Das Kernproblem beschreibt auch Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S. 105.



A. Vom Anpassungsdruck der Verfassung an die Zeit 27

Beweglichkeit der Verfassung auf der einen Seite steht dann die Starrheit der Verfassung auf der anderen Seite gegenüber. Im Extremfall kann der Zeit­ geist gar eine Identitätskrise35 der Verfassung auslösen, wenn sich die in ihr normierten Inhalte von der Lebenswirklichkeit vollkommen entfremdet ha­ ben, sie ihre Identifikationskraft verloren hat. Diesem Dilemma in Form eines durch die zeitlichen Veränderungen an die Verfassung herangetragenen Anpassungsdrucks36 gilt es daher auch im Verfassungsrecht abzuhelfen. Prinzipiell sind zwei Auswege vorstellbar37: Mit Art. 79  GG ist ein spezielles formelles Textänderungsverfahren aus­ drücklich im Grundgesetz konstituiert, das mit der Ermächtigung, den Ver­ fassungstext nachträglich zu redigieren, ein Ventil zur Minderung des zeit­ lichen Anpassungsdrucks bereithält. Entsprechend reduzieren Befürworter eines konservativen Verständnisses die Anpassungsfähigkeit des Grundge­ setzes auf diese Möglichkeit  – mit der Folge einer „Starrheit“ bzw. gewal­ tigen Zeitresistenz verfassungsrechtlicher Schutzgehalte. Demgegenüber betonen Anhänger eines dynamisch-weitläufigen Verfassungsverständnisses den integrativen, zukunftsoffenen Charakter des Grundgesetzes, der eine Verfassungsanpassung kraft des normativen Status verfassungsrechtlicher Vorschriften auch außerhalb des in Art. 79 Abs. 1 GG vorgesehenen Verfah­ rens erlaube. In diesem Zusammenhang wird eine von der formellen Verfas­ sungstextänderung strikt zu trennende Möglichkeit der „stillen“ Verfas­ sungsänderung erwogen38, vielfach plakatiert mit dem schillernden Rechts­ begriff vom „Verfassungswandel“.39 Diese Wandlungsfähigkeiten jenseits des formellen Textänderungsverfahrens sollen  – so wird teilweise behaup­ tet40 – nicht zuletzt auch dazu dienen, die Nachteile einer formellen Verfas­ sungsänderung zu vermeiden. Beide Lager hatten im geschichtlichen Verlauf Befürworter und Gegner in ihren Reihen.41

35  Fiedler,

S. 9. nach Hillgruber, in: Festschrift für M.  Spieker, S. 47 (54). 37  So auch Walter, AöR  125 (2000), S. 517 (519, 521). 38  Vgl. bereits v. der Heydte, ARSP  39 (1950/1951), S. 461 (466). 39  Wolff, S. 105; ähnlich Zippelius, DÖV  1986, 805 (806). 40  Vgl. Roßnagel, Der  Staat  22 (1983), S. 551 (551 f.); Volkmann, Der  Staat  54 (2015), S. 35 (45 f.). 41  Schenke, AöR  103 (1978), S. 566 (568) m. w. N.; Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S. 128 f.; Benedict, JZ  2013, 477 (477) spricht von den Polen des „progressivem Anachronismus“ und der „konservativen Unverzichtbarkeit“. Ferner Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre, S. 26 ff., der zwischen statischen Ord­ nungs- und dynamischen Prozesstheorien unterscheidet. Einen Überblick über die verschiedenen verfassungstheoretischen Strömungen gibt Volkmann, Der  Staat  54 (2015), S. 35 (37 ff.). 36  Begriff

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

1. Verfassungsanpassung als formelles Verfahren Die Vorstellung einer zeitlosen, gegen Veränderungen außerhalb eines formellen Änderungsverfahrens resistenten Verfassungsordnung im Sinne eines entzeiteten Verfassungsverständnisses prägte insbesondere die wissen­ schaftliche Auseinandersetzung bis ins 20. Jahrhundert42 und wurde maß­ geblich von den Gedanken der Verfassungslehre Schmitt’s angeleitet. Die Geltungskraft der Verfassung als politische Ordnung speiste sich hier vor allem aus den Inhalten, die ihr der historische Verfassungsgeber einmalig und mit verbindlicher Wirkung für die Zukunft beigemessen hatte.43 Das entzeitete Verfassungsverständnis gipfelte sodann schließlich in der Grund­ annahme der rechtspositivistischen Staatsrechtslehre44. Im Zentrum des staatsrechtlichen Positivismus steht die Prämisse einer strikten Trennung zwischen Sein und Sollen, zwischen Recht und Moral.45 Jeder beliebige Inhalt, auch wenn er evident gegen fundamentale Gerechtig­ keitsprinzipien und Moralvorstellungen verstoße, behalte seine Kraft als positiv geltendes Recht.46 Insoweit wird der Rechtsbegriff rein formal be­ trachtet und von politischen, moralischen, religiösen oder naturwissenschaft­ lichen Kriterien vollends getrennt  – im Sinne Kelsens wird das Recht von außerrechtlichen Kriterien „gereinigt“47 und bemisst sich einzig nach den wertfreien Regeln der Logik48. Das bedeutet zugleich, dass der Sinn einer Verfassungsnorm mit ihrem Erlass für alle Zeit feststeht, denn der Einbezug weiterer bzw. neuer Kriterien ist mit einem formal-positivistischen Begriffs­ verständnis nicht zu vereinbaren. Sein und Sollen sind nach dem Rechtspo­ sitivismus von einem unüberwindbaren kategorialen Unterschied geprägt. Legt man ein solches Verständnis zugrunde, lässt sich das Verfassungsrecht nur durch gänzlich neues, vom Staat gesetztes Verfassungsrecht im Rahmen eines dafür vorgesehenen Verfahrens ersetzen. Eine Wandelbarkeit des Rechts „von innen heraus“ im Sinne einer dem bestehenden Verfassungs­ 42  Schenke,

AöR  (103) 1978, S. 570 f. Der  Staat  54 (2015), S. 35 (41 f.). 44  Berühmtester Vertreter des Rechtspositivismus ist Kelsen mit seiner Schrift „Reine Rechtslehre“. 45  Bei der hier von Kelsen vorngenommenen Trennung von Sein und Sollen als Abgrenzung von Recht und Moral steht die strenge Unterscheidung von Rechtswis­ senschaft und Rechtspolitik im Vordergrund. Diese Betrachtungsebene gilt es jedoch von Kelsens weiterer, noch bekannterer Betrachtung von Sein und Sollen im Sinne einer formallogischen Deutung des Rechts zu unterscheiden. Dazu näher R. Dreier, JZ  1972, 329 (333 f.). 46  Dazu auch R. Dreier, NJW  1986, 890 (890 ff.). 47  Meyer zu Wendischhoff, Der  Staat  52 (2013), S. 59 (60). 48  Volkmann, Der  Staat  54 (2015), S. 35 (47). 43  Volkmann,



A. Vom Anpassungsdruck der Verfassung an die Zeit 29

recht bereits von vornherein immanenten Anpassungsfähigkeit ist damit in­ des nicht zu vereinen. Anhänger eines zeitlosen Verfassungsverständnisses49 betonen die maß­ gebliche Funktion des Grundgesetzes, Kontinuität im und vor allem gegen den Wandel der Zeit sicherzustellen. Da ausschließlich der Wille des histo­ rischen Verfassungsgebers die verfassungsrechtlichen Kodifikationen präge, könnten folglich auch nur solche zukünftigen Entwicklungen Inhalt einer in Kraft befindlichen Verfassungsbestimmung sein, die bereits tatsächlicher Bestandteil der ursprünglichen Willensbildung im Parlamentarischen Rat waren, der historische Verfassungsgeber sie also bereits damals antizipiert und als solche zukünftig unter Schutz stellen wollte. Die dezionistische Entscheidung mit Blick auf den Umfang grundrechtlicher Schutzbereiche ist dann durch Statik gekennzeichnet.50 Entsprechend reduziert sich der grund­ rechtliche Schutzumfang auf starre „punktuelle Freiheitsgewährleistungen“51, eine tatbestandliche Erweiterung ist nicht ohne Durchführung eines formel­ len Verfassungsänderungsverfahrens möglich. Auf Veränderungen außerhalb dieses begrenzten Vorstellungshorizonts ließe sich allein über das formelle Verfassungstextänderungsverfahren und ausschließlich durch den dazu beru­ fenen verfassungsändernden Gesetzgeber reagieren, der sich aus den in Art. 79  Abs. 2  GG vorgesehenen qualifizierten Zweidrittelmehrheiten des Bundestags und Bundesrats zusammensetzt.52 Das in Verfahren nach Art. 79  Abs. 1  GG konstituierte formelle Verfassungstextänderungsverfah­ ren, auch als Inkorporationsgebot53 bezeichnet, sieht nun als zwingendes Erfordernis eine Abänderung des Verfassungstextes vor, sei es durch Hinzu­ fügung, Streichen oder Auswechslung des Wortlauts.54 Verfassungsdurchbre­ chungen, wie sie noch zu Weimarer Zeiten durch die bloße Verabschiedung eines einfachen Gesetzes mit entsprechenden verfassungsändernden Quoren 49  Die Reduktion des Verfassungsrechts auf eine dezionistische Entscheidung zum Zeitpunkt der Verfassunggebung betont insbesondere Schmitt, Verfassungslehre, S. 20 ff. In jüngerer Vergangenheit bspw. Isensee, in: ders./P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, § 15 Rn. 183; Hillgruber, VVDStRL 67 (2008), S. 8 ff. Hillgruber, JZ 2011, 861 (866); zustimmend auch Gärditz, JZ 2011, 930 (934); Gärditz, in: Uhle, S. 85 (85 ff., 104 f., S. 112 f.) m. w. N.; Gröpl/Georg, AöR 139 (2014), S. 125 (131 ff.). 50  So auch Volkmann, Der  Staat  54 (2015), S. 35 (47). 51  So auch Bleckmann, § 8 Rn. 4. 52  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 116; näher zu den Elementen der formellen Verfassungsänderung Masing, Der  Staat  44 (2005), S. 1 (4 f.). Der verfassungsän­ dernde Gesetzgeber ist strikt vom historischen Verfassungsgeber, das heißt dem Parlamentarischen Rat, zu unterscheiden. 53  H. Dreier, in: ders., GG, Bd. II, Art. 79 Rn. 21. 54  Loewenstein, S. 27.

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

erfolgten, sind aufgrund des klaren Textänderungsgebots von Hause aus verfassungswidrig.55 2. Verfassungsanpassung als integrativer Prozess Diesem doch sehr restriktiven Verständnis stehen die Anhänger eines progressiv-dynamischen Verständnisses56 gegenüber. Sie betonen die zeitge­ mäße Wandelbarkeit verfassungsrechtlicher Bestimmungen auch außerhalb des formellen Änderungsverfahrens. Für diesen Befund spricht zunächst einmal, dass sich in der Rechtspraxis und auch aus einer sozial-empirischen Perspektive heraus Veränderungen im Schutzgehalt der verfassungsrechtli­ chen Tatbestände trotz gleichbleibenden Wortlauts durchaus beobachten lassen.57 Zur Untermalung dieser Feststellungen wird aus verfassungstheo­ retischer Sicht insbesondere das Bild einer zeitgeprägten, dynamischen Verfassung gezeichnet, in dessen Zentrum die Smend’sche Integrationslehre steht58. Die Integrationslehre betrachtet die Verfassung als fortwährendes Integrationssystem59, dem die Aufgabe zukomme, die Erfüllung einer sich immerfort wandelnden Aufgabe, nämlich die Integration der unter der Ver­ fassung lebenden Bürger, sicherzustellen und stets möglichst optimal zu lösen.60 Die Wandelbarkeit der Verfassung werde daher zu ihrer Wesensvo­ raussetzung, gesellschaftliche Veränderungen seien als Faktoren des Verfas­ sungslebens in die rechtliche Reflexion einzubeziehen61, denn Sinn des Prozesses sei die „immer neue Herstellung der Lebenstotalität des Staates“.62 Auf diese Weise könne es zu normativen Verschiebungen, auch mit Blick auf in der Verfassung verankerte Institute, kommen, die Smend als Verfas­ sungswandlung bezeichnet.63 55  Pieroth,

in: Jarass/ders., GG, Art. 79 Rn. 3; Wolff, S. 87 f. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 79; Heller, S. 249 ff.; Kloep­fer, Der  Staat  13 (1974), S. 457 (458 ff.); E. Kaufmann, in: Scherpenberg, Bd. III, S. 272 (272 ff.); Schenke, AöR  (103) 1978, S. 566 (576); v. Arnim, Gemein­ wohl und Gruppeninteressen, S. 18 ff.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, § 1 Rn. 36 ff.; Volkmann, VVDStRL 67 (2008), S. 57 ff.; Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 111 ff., 221 ff.; Friauf, NJW  1986, 2595 (2599 f.); Höfling, S. 77 ff.; Kägi, S. 79. 57  Voßkuhle, Der  Staat  43 (2004), S. 450 (453). 58  Vgl. auch Volkmann, Der  Staat  54 (2015), S. 35 (50). 59  Volkmann, VVDStRL  67 (2008), S. 57 (67); Badura, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, S. 897 (899 ff.); eingehend zur Prägung der Recht­ sprechung des BVerfG durch die Integrationslehre Rennert, Der  Staat  53 (2014), S. 31 (31 ff., insb.  38 ff.). 60  Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 119 (241). 61  Fiedler, S. 37. 62  Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 119 (189). 63  Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 119 (241 f.). 56  Bspw.



A. Vom Anpassungsdruck der Verfassung an die Zeit 31

In der Konsequenz eines integrativen Verfassungsverständnisses liegt es, die Verfassungsbestimmungen von Natur aus auf der Höhe der Zeit zu er­ halten. Ihre Zeitgemäßheit leistet den entscheidenden Beitrag zur fortwäh­ renden staatlichen Integration. Neben dem komplexen Verfahren der formel­ len Verfassungstextänderung tragen demnach vor allem verfassungsimma­ nente Prozesse zur Aktualisierung der Gewährleistungsgehalte verfassungs­ rechtlicher Normen bei, sodass nicht in jedem Einzelfall der Weg über Art. 79 Abs. 1  GG zu beschreiten wäre. a) Demokratietheoretische Erwägungen Der Einbezug des Zeitfaktors als integraler Bestandteil des Verfassungs­ rechts kann sich insbesondere auf demokratietheoretische Überlegungen stützen. Wirkliche Verfassung und rechtliche Verfassung sind durch den normativen Bezug des Rechts auf die gesellschaftlichen Wertevorstellungen doch gerade von Natur aus untrennbar miteinander verbunden.64 Recht wird durch die Wirklichkeit geprägt und nimmt seinerseits auf die gesellschaftli­ che Entwicklung Einfluss.65 Eine demokratische Ordnung zielt vor diesem Hintergrund auf Konsens, stellt doch überhaupt erst der Konsens eine poli­ tische Ordnungsidee der in der jeweiligen Zeitepoche unter der Verfassung lebenden Bürger her. Aus diesem Grund stehen und fallen die Verfassung und ihre Werte mit dem gemeinschaftlichen Grundkonsens. Die Verfassung möchte eine objektive und normative Ordnung schaffen, frei von Willkür, die aus purer Überzeugung ihrer Bezugsobjekte gelebt wird. Daher ist sie stets auf das Neue zu legitimieren, wobei die Legiti­ mationsgrundlage des heute anzuwendenden Rechts nicht in der Vergan­ genheit, sondern in der Gegenwart liegt.66 Eine Versteinerung der Verfas­ sung lässt sich schwerlich mit ihrem Regelungsbereich, nämlich der über­ geordneten Steuerung des politisch-gesellschaftlichen Prozesses, in Ein­ klang bringen.67 Zwar beinhaltet die Verfassung zunächst einmal einen Kompromiss des historischen Verfassungsgebers, dem verschiedene Perso­ nengruppen und Sozialkräfte angehörten.68 Entsprechend war der ursprüng­ liche Kompromiss zum Zeitpunkt der Ausarbeitung des Grundgesetzes durch das damalige „Verfassungsgefühl“ geprägt.69 Änderungen des Verfas­ sungsgefühls durch Verschiebungen der gesellschaftlichen Normen im zeit­ 64  Dazu

oben Teil  2 A.  I. in: Festschrift für U. Steiner, S. 796 (798); Triepel, S. 19. 66  Zippelius, DÖV  1986, 805 (807). 67  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 19. 68  Loewenstein, S. 56 f. 69  Loewenstein, S. 57. 65  Sommermann,

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

lichen Verlauf erzeugen jedoch wiederum eine Änderungsbedürftigkeit der Verfassung, hängt die Verfassung als gemeinschaftlicher Grundkonsens doch von der gesellschaftlichen Akzeptanz der Grundwerte ab, die sie ver­ körpert.70 Dass sich das Verfassungsrecht einem Wandel nicht vollends verschließen kann und somit neue Entwicklungen nach einer Anpassung der Verfassung drängen, liegt in der Natur eines demokratischen Staatsver­ ständnisses, dessen Verfassung auf einem Wertesystem aufbaut.71 Recht soll in die Zukunft wirken und Lösungen für unvorhersehbare Ereignisse bereithalten, was zwangsläufig zur Folge hat, dass jede Verfassung mit Lücken behaftet ist.72 Die Integrationsfunktion der Verfassung, ihr normatives System, spiegelt sich vor allem in den offenen Grundrechtstatbeständen wider.73 Die general­ klauselartigen Tatbestände sind meist weder vollständig, noch vollkom­ men.74 Viele Regelungen bleiben geradezu bewusst unbestimmt und sind maßgeblich auf Konkretisierung und Ausgestaltung angewiesen.75 Offenheit und Weite der Grundrechtsbestimmungen sind gerade notwendig, denn sie ordnen geschichtliches Leben, das seiner Natur nach Veränderungen unter­ liegt.76 Die Offenheit des Wortlautes, zumal sie auch den Einbezug von Alltagssprache befördert, hält die Verfassung zur Lebenswirklichkeit hin offen.77 Dies verdeutlicht beispielsweise der Blick auf die technischen Ent­ wicklungen der letzten Jahre im Zuge der Digitalisierung. Die Väter des Grundgesetzes kannten kein Internet, keine Online-Portale, auch keine Smart Phones. Dass auch über die neuen Medien Verletzungen des Daten­ schutzes, Verletzungen des Persönlichkeitsrechts erfolgen können, dass sich hier neue Fragen um eine Art „digitales Eigentum“ oder den Jugendschutz stellen, ist eine Entwicklung erst jüngerer Zeit. Aber auch diese Fallgruppen gilt es in die bestehende Schutzsystematik des allgemeinen Persönlichkeits­ rechts zu überführen. Ihre modernen Erscheinungsformen sind keine Usur­ pationen, sondern die konsequente Fortschreibung der alten Gewährleistun­ 70  Kenntner,

DÖV  1997, 450 (451). Grundprämisse zustimmend auch Hillgruber, in: Festschrift für M. Spie­ ker, S. 47 (53 f.). 72  Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. 43. 73  Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Rn. 4; Fiedler, S. 59; Häberle, Die Wesens­ gehaltsgarantie, S. 218; Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S. 162; H. Klein, in: Festschrift für D.  Rauschning, S. 5 (15). 74  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, § 1 Rn. 19; Bryde, Verfassungsent­ wicklung, S. 80, 92. 75  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 89, 275; Schenke, NJW  1979, 1321 (1322). 76  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, § 1 Rn. 23 f.; Schuppert, AöR  120 (1995), S. 32 (66 f.). 77  Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre, S. 108. 71  Dieser



A. Vom Anpassungsdruck der Verfassung an die Zeit 33

gen in neuem Gewand.78 Ein bloß subsidiäres Auffangen durch Art. 2 Abs. 1  GG bietet dann möglicherweise keinen adäquaten grundrechtlichen Schutz, wenn gleichgelagerten Fällen durch entsprechende speziellere Grundrechtstatbestände mit einer ausgefeilten Schrankensystematik begeg­ net wird, es insofern zu eklatanten Unterschieden in der Behandlung gleich­ wertiger oder gar identischer Gefährdungslagen kommt. Es ist daher auch wenig verständlich, wenn behauptet wird, Grundrechte müssten der Realität nicht gerecht werden bzw. ihre Rationalität müsste nicht in jedem Fall nachzuvollziehen sein.79 Die Konsequenz einer solchen Betrachtung bestünde darin, dass die Vorstellungen des historischen Verfas­ sungsgebers, ein Konvent bestehend aus lediglich 65  stimmberechtigten Mitgliedern, für die Ewigkeit zementiert wären und eben jene Versammlung auch solchen Bürgern Vorgaben für die Zukunft auferlegt hätte, die zum damaligen Zeitpunkt nicht lebten und folglich vom damaligen Prozess der Normenbildung ausgeschlossen waren. Diese Art von „Bevormundung“ zieht einen Graben zwischen Recht und Wirklichkeit und fördert zugleich die Entfremdung der Verfassung von ihren Bürgern. Sie hätte kontrafakti­ schen Charakter80, gewinnt die Verfassung ihre legitimierende und regulie­ rende Funktion doch erst durch politische Gestaltung, die wiederum vom Volk getragen wird.81 In ihr verkörpert sich der Volksgeist als Träger der verfassungsgebenden Gewalt, der nicht nur auf die personelle Zusammen­ setzung zum Zeitpunkt des historisch einmaligen Aktes der Verfassungge­ bung reduziert werden darf.82 Der Sinnhaftigkeit einer demokratischen Verfassung, die vom Konsens der unter ihr lebenden Bürger getragen wird, kann nicht ein individuelles Richtigkeitsstreben einer bestimmten Gruppe zugrunde liegen, sondern Auslegungsmaxime muss das fortwährende Konsensstreben sein, dergestalt es sich aus einem offenen Kommunikationspro­ zess im Wandel der Zeit stets auf ein Neues herauskristallisiert.83 Eine wirksame Verfassung wird folglich vom Konsens der unter ihr lebenden 78  Masing,

Der  Staat  44 (2005), S. 1 (14). aber Gärditz, JZ  2011, 930 (934) m. w. N.; Gärditz, in: Uhle, S. 85 (105 f.); Hillgruber, JZ 2011, 861 (866); Hillgruber, VVDStRL 67 (2008), S. 8 (20 f.). Schief erscheint auch die von Seiler als Kritik auf dynamische Entwicklungen beim Schutz­ gehalt von Art. 6 Abs. 1  GG erhobene Formulierung: „[…] mag man die Frage aufwerfen, ob dieser „besondere Schutz“ nicht wohlmöglich im Laufe der Jahre durch eine als zeitgemäßer und wirklichkeitsgerechter empfundene Gesellschafts­ politik abgeschliffen oder zumindest relativiert worden ist.“, vgl. Seiler, in: Uhle, S. 37 (37). 80  Dazu auch Wahl, in: ders., Verfassungsänderung, S. 29 (30). 81  Kenntner, DÖV  1997, 450 (451); ausführlich Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S. 1191 ff. Dazu schon oben Teil  2 A.  II. 82  Krüger, DVBl.  1961, S. 685 (685 f.). 83  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 292; dazu schon oben Teil  2 A.  I. 79  So

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Bürger getragen. Sie verdankt ihre Legitimation nicht nur der ersten Gene­ ration, sondern ebenso der Akzeptanz durch die Folgegenerationen84, da sie soziale Veränderungen im Lebensgefühl des modernen Menschen betrifft.85 In diesem Bewusstsein muss der Gesetzgeber die Ordnung durch Willens­ akte in Geltung setzen und in Geltung erhalten.86 Verfassungsrecht beinhal­ tet damit weniger eine Statik, sondern muss vornehmlich dynamisch unter dem Ziel seiner Aktualität, seiner an der Zeit orientierten Integrationskraft, ausgelegt werden.87 Erst durch den Einbezug der gesellschaftlichen Realität kann das Grundgesetz seine gestaltende Funktion im Leben des Gemeinwe­ sens erfüllen.88 Hierin manifestiert sich schlussendlich die demokratische Dimension der Grundrechte.89 b) „Ultima ratio“-Funktion der formellen Verfassungstextänderung Ausfluss der demokratietheoretischen Notwendigkeit eines Verfassungs­ konsenses durch die aktuell unter der Verfassung lebenden Bürger ist schließlich die Forderung nach einem zurückhaltenden Umgang mit dem Instrument des formellen Verfassungstextänderungsverfahrens. Insbesondere gilt es zu bedenken, dass eine zu hohe Frequenz formeller Verfassungstext­ änderungen gerade dem Vertrauen in die Verfassung Schaden zufügt.90 Obwohl das in Art. 79 Abs. 1  GG vorgesehene Verfahren grundsätzlich den jederzeit gangbaren Weg zur Verfassungsanpassung darstellt91, der sich vor dem Hintergrund der mit ihm verbundenen Rechtsklarheit und Rechts­ sicherheit zugleich als nützlich erweist92, ist seine Durchführung tatsächlich nicht in allen Fällen erforderlich. Im Gegenteil sollte man auf das Instru­ ment der Verfassungstextänderung sogar erst dann zurückgreifen, wenn an­ dere Mechanismen verfassungsimmanenter Anpassungsprozesse an ihre Grenzen stoßen. Da die Änderungsbefugnis des verfassungsändernden Ge­ setzgebers weitestgehend grenzenlos ist, wird sie zu einem machtvollen Instrument. Erschwerend wirken sich insbesondere die qualifizierten Zwei­ 84  Kuriki,

in: Wahl, S. 13 (21). Die normative Kraft der Verfassung, S. 22. 86  Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, S. 12; Volkmann, VVDStRL  67 (2008), S. 57 (88 f.) spricht vom „Suchbild Verfassung“. 87  Pestalozza, Der  Staat  2 (1963), S. 425 (426 f.); Husserl, S. 23. 88  Hesse, in: Festschrift für U.  Scheuner, S. 123 (137). 89  Häberle, JZ  1975, 297 (302). 90  Grimm, AöR  97 (1972), S. 489 (504); Weber, in: Festgabe für T.  Maunz, S. 451 (453). 91  Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. 44. 92  Pieroth, in: Jarass/ders., GG, Art. 79 Rn. 3. 85  Hesse,



A. Vom Anpassungsdruck der Verfassung an die Zeit 35

drittelmehrheiten aus, die von einem  –  in der Parlamentspraxis nur selten zustande kommenden93  – überparteilichen Konsens abhängen. Diese hohen Anforderungen an das erforderliche Quorum führt die „ultima ratio“-Funk­ tion der Verfassungstextänderung vor Augen.94 Art. 79  GG dient der Wahrung von Verfassungstradition und der im Grundgesetz enthaltenen Identität des Gemeinwesens und verbietet daher ebenso einen unbedachten, leichtfertigen Umgang mit dem Instrument der Verfassungsänderung, der sich an tagespolitischen Interessen orientiert.95 Überhaupt besteht die Gefahr, den Verfassungstext durch eine Vielzahl an kasuistischen Einzelfallregelungen zu überfrachten und auf diese Weise Rechtsunsicherheit um den Preis der Lückenhaftigkeit zu nähren.96 Die Verfassung legt aber nur die wesentlichen Grundentscheidungen des Ge­ meinwesens und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung fest.97 Je konkreter die Verfassungsbestimmungen ausgestaltet sind, umso öfter würde die Berücksichtigung neuer technischer und sozialer Entwicklungen eine Verfassungstextänderung erfordern, umso stärker unterläge sie dem Zeitab­ lauf98 und umso öfter müsste das aufwendige und im Regelfall politisch streitbelastete Verfahren durchgeführt werden. Das hemmt den politischen Betrieb und entspricht auch nicht der Praxis. Hier büßt man ein Mehr an Rechtssicherheit ein, als dass man jene aufrechterhält. 93  Kielmansegg, S. 16. In der Tat kann es vorkommen, dass sich eine politisch eigentlich existierende Zweidrittel-Mehrheit faktisch nicht durchsetzt. Insbesondere nämlich unterliegt die Entstehung eines Quorums den ungeschriebenen Regeln des Parlamentarismus. Selbst wenn in beiden Organen politisch Mehrheiten bestehen, können in der parlamentarischen Praxis beispielsweise Einflüsse der Fraktions- und insbesondere der „Koalitionsdisziplin“ Grund dafür sein, dass eine Fraktion aus Rücksicht auf den Koalitionspartner tatsächlich gegen ihre eigenen parteipolitischen Überzeugungen und Wahlkampfaussagen stimmt, und sich auf diese Weise eine ei­ gentlich bestehende Zweidrittelmehrheit letztlich nicht durchsetzt, instruktiv v. Arnim, NJW  2009, 2934 (2396 ff.). Ein anschauliches Beispiel stellt die Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in der 17.  Legislaturperiode dar. Dieser war auf eine Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare gerichtet. Obwohl sich auch die FDP für die Öffnung in ihrem Parteiprogramm aussprach, stimmte sie in der entscheidenden Abstimmung unter Berufung auf „Formfehler“ dennoch hiergegen, vgl. die Stellungnahme des Sprechers der FDP Michael Kauch, PlenProt.  17/187, S. 22410 f. Im Falle potenzieller Abweichler in der Union hätte in der Tat eine Zwei-Drittel-Mehrheit existiert, die in der Praxis jedoch offensichtlich aus Gründen des „Koalitionszwangs“ scheiterte, vgl. die Ablehnung des Antrags bei namentlicher Abstimmung PlenProt.  17/187, S. 22413. 94  Grimm, AöR  97 (1972), S. 489 (505). 95  Robbers, NJW  1989, 1325 (1325). 96  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 87. 97  Schmitt, Verfassungslehre, S. 23 f.; P.  Kirchhoff, in: Isensee/ders., Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, § 21 Rn. 2. 98  Grimm, AöR  97 (1972), S. 489 (505).

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

Hinzu kommt schließlich, dass die Grundrechte ihrer sprachlichen Struk­ tur nach überhaupt nur schwerlich einer Änderung zugänglich sind.99 Die Elastizität und Offenheit des Wortlauts ermöglicht jedenfalls in grammati­ kalischer Hinsicht oftmals die Subsumtion neuer Tatbestände unter die bisherige Formulierung. Es geht daher vordergründig um die Überschreitung des Sinns je nach Einzelfall, nicht aber um die Überschreitung des Wort­ lauts. Der Streit verlagert sich auf die Sinnebene, der Textebene kommt kaum eine Bedeutung zu. Die nach Art. 79 Abs. 1  GG erforderliche Wort­ lautänderung ist daher für die Verfassungsentwicklung wenig geeignet100  – überspitzt ließe sich behaupten, dass es sich bei der Auslegung der Grund­ rechte gar um ein Rechtsgebiet handele, das dem verfassungsändernden Gesetzgeber fast gänzlich verschlossen sei101. Der Verzicht auf Textänderun­ gen kommt vor allem zum Tragen, wenn sich das allgemeine Begriffsver­ ständnis längst auf die anvisierte Änderung festgelegt und die Textänderung damit allenfalls deklaratorischen Charakter hätte. In der verfassungsrechtlich gelebten Praxis wird dies in dem zurückhalten­ den, beinahe gänzlich fehlenden Umgang mit dem Instrumentarium der Ver­ fassungstextänderung im Bereich des Grundrechtskatalogs deutlich. Zwar wurde das Grundgesetz bisher bereits mit 60 Änderungen102 im Vergleich zu anderen rigiden Verfassungen103 erstaunlich oft geändert104, sodass schon früh eine übertriebene Änderungssucht kritisiert105, von einem Loseblatt-Sys­ tem der Verfassung106 oder einem Deformationsprozess107 gesprochen wurde. Ausgenommen von dieser Praxis ist indes der „Abschnitt I“ über die Grund­ rechte.108 Seit seiner Verabschiedung sind allein sieben Änderungen zu ver­ 99  Bryde,

Verfassungsentwicklung, S. 136 f. auch Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 137. 101  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 161. 102  Die letzte Änderung erfolgte im Dezember 2014, BGBl. 2014, 2438 und be­ traf Art. 91b  GG. 103  Prägnantes Beispiel für einen sehr restriktiven Umgang mit dem Instrument formeller Verfassungstextänderung ist die japanische Verfassung, die in ihren Grund­ strukturen mit dem Grundgesetz vergleichbar und in den ersten 55 Jahren ihres Bestehens kein einziges Mal geändert worden ist, vgl. Masing, in: Wahl, S. 131 (131) mit Verweis auf Tidten, S. 7. 104  Vgl. Masing, in: Wahl, S. 131 (131). Hier ist jedoch zu differenzieren: Die nicht geringe Anzahl von Grundgesetzänderungen in den ersten Jahren der Bundesre­ publik kann nicht am selben Maßstab der Zurückhaltung gemessen werden wie Ände­ rungen zu einem späteren Zeitpunkt, so zutreffend Robbers, NJW 1989, 1325 (1325). 105  Bspw. I. v. Münch, VVDStRL  31 (1973), S. 51 (56 ff.). 106  Perschel, Neue Politische Literatur 1969, S. 443 (443); Seifert, Das Grundge­ setz und seine Veränderung, S. 3 f. 107  Seifert, Grundgesetz und Restauration, S. 11 ff. 108  Vgl. auch H. Klein, in: Festschrift für D.  Rauschning, S. 5 (10). 100  So



A. Vom Anpassungsdruck der Verfassung an die Zeit 37

zeichnen, darunter keine vollständige inhaltliche Neuausrichtung eines Grundrechtstatbestands. Mitursächlich für den zurückhaltenden Umgang zeichnet die besondere Sensibilität der Grundrechte, mit deren Regelungsbe­ reichen regelmäßig eine hohe politische Brisanz einhergeht. So wäre der Auf­ schrei entsprechender Wählergruppen aus politischer Sicht wohl vorprogram­ miert, beabsichtigten die Parteien beispielsweise Art. 4  GG und Art. 7 Abs. 3 GG zu Lasten der Kirchen, Art. 5 Abs. 1 GG zu Lasten der Rundfunk­ anstalten oder Art. 9 GG zu Lasten der Gewerkschaften abzuändern.109

IV. Zwischenergebnis Naturgemäß handelt es sich bei gesellschaftlichen Wertevorstellungen nicht um eine statische, sondern um eine dynamisch-wandelbare Größe. Sie prägen den jeweiligen Zeitgeist und wirken sich zugleich auf das Rechtsbe­ wusstsein der Bevölkerung aus. Normative Vorgaben kommen auf diese Weise auch in der rechtlichen Reflexion zum Ausdruck. Ihre Ermittlung bedient sich eines interdisziplinären Ansatzes: Sozialwissenschaftlich be­ währte Erhebungsverfahren geben Auskunft über die individuellen Werte­ vorstellungen auf der Mikro- sowie die kollektiven Vorstellungen auf der Makroebene. Letztere finden sich im rechtspolitischen Diskurs wieder, wo sie einzelne Parteien aufgreifen. Eine Überführung der gesellschaftlichen Wertevorstellungen in die rechtliche Reflexion erfolgt im Zuge eines mehr­ schichtigen Verfahrens, im sog. Schichtenmodell, an dessen Ende die Be­ rücksichtigung bestimmter Werte in der Gesetzgebung und Rechtsausgestal­ tung steht. Auch die Vorschriften des Grundgesetzes sind dem Zeitgeschehen ausge­ setzt. Der Schutzumfang grundrechtlicher Tatbestände beschränkt sich nicht auf die konkret-tatsächlichen Vorstellungen des historischen Verfassungsge­ bers, vielmehr drängt er nach fortwährender Integration mit dem Ziel tatbe­ standlicher Aktualität. Hierfür lassen sich demokratietheoretische Überle­ gungen anführen: Ihre Legitimationskraft, ihre Vitalität gewinnt die Verfas­ sung überhaupt erst durch den Einbezug gesellschaftlicher Realitäten. Aus­ legungsmaxime verfassungsrechtlicher Bestimmungen kann nicht das Richtigkeitsstreben eines bestimmten historischen Konvents, sondern muss stattdessen das gesellschaftliche Konsensstreben sein. Das Grundgesetz ent­ faltet seine Wirkung schließlich für die derzeitig unter ihm lebenden Bürger. Um diese verfassungstheoretische Prämisse mit Leben zu füllen, hat eine Berücksichtigung neuer gesellschaftlicher Entwicklungen nicht in jedem Einzelfall über ein formelles Verfassungstextänderungsverfahren nach Maß­ 109  Bryde,

Verfassungsentwicklung, S. 136.

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

gabe des Art. 79 Abs. 1  GG zu erfolgen, sondern die generalklauselartigen Strukturen des Grundgesetzes stellen eine Flexibilität geltender Verfassungs­ normen sicher. Auf ein formelles Verfahren ist allein als ultima ratio zurück­ zugreifen, wenn sich ein Wandel mit den bisherigen Strukturen nicht aus­ reichend Rechnung tragen lässt.

B. „Verfassungswandel“ – Strukturierung eines schillernden Rechtsbegriffs Das Grundgesetz ist bewusst als zukunftsoffenes Regelungswerk zur Ver­ wirklichung von Wertewandlungen ausgestaltet, die der politische Prozess fortwährend aufnimmt und in die Rechtsordnung einbringt. Anpassungspro­ zesse des Verfassungsrechts an gewandelte Lebenswirklichkeiten vollziehen sich nicht in jedem einzelnen Fall über den (Um-)Weg des Art. 79 Abs. 1 GG, vielmehr kommt das formelle Textänderungsverfahren einzig in Betracht, wenn andere grundrechtsimmanente Anpassungsprozesse innerhalb des nor­ mativen Verfassungssystems an ihre Grenzen stoßen. Für Feinkorrekturen ist das aufwendige Verfahren der formellen Textänderung sogar gänzlich ungeeignet.110 Möchte man dem Ansehen der Verfassung nicht schaden, ist es nicht sinnvoll, Verfassungsänderungen dort vorzunehmen, wo einem Pro­ blem im Rahmen entsprechender tatbestandlicher „Spielräume“ begegnet werden kann.111 Dieses ist – in den Termini des Verhältnismäßigkeitsgrund­ satzes – das relativ mildere Mittel, dem Bedürfnis eines Wandels Rechnung zu tragen.112 In diesem Kontext erfolgt regelmäßig die Bezugnahme auf einen „Verfas­ sungswandel“ als taugliches Instrument einer Verfassungsanpassung außer­ halb eines formellen Verfahrens.113 Seiner herkömmlichen Definition nach soll der „Verfassungswandel“ dazu befähigen, eine Änderung des ursprüng110  Masing,

Der  Staat  44 (2005), S. 1 (14). AöR  97 (1972), S. 489 (506); Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 265 findet deutliche Worte: „Demgegenüber sprechen gewichtige Bedenken dagegen, Art. 79 als Verfassungswandlungsverbot zu verstehen.“ 112  Jestaedt, in: Festschrift für J.  Isensee, S. 183 (207); in dem Sinne auch Grimm, AöR  97 (1972), S. 489 (505). 113  Siehe bereits Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 39, 46 f.; Hesse, in: Festschrift für U.  Scheuner, S. 123 (123 ff.); Roßnagel, Der  Staat  22 (1983), S. 551 (552 f.); v. der Heydte, ARSP  39 (1950/1951), S. 461 (461 ff.); Lerche, in: Festgabe für T.  Maunz, S. 285 (285 ff.); Krüger, in: Festgabe für R.  Smend, S. 151 (151 ff.); Fiedler, S. 50 ff.; Badura, in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staats­ rechts, Bd. VII, 1. Aufl., § 160 Rn. 13 ff.; Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 6 Rn. 36 ff.; Schenke, AöR 103, S. 566 (585 ff.); Bernhardt, VVDStRL 38 (1980), S. 9 (11 f.); Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 254 ff.; Benedict, JZ  2013, 477 (481 f.); 111  Grimm,



B. „Verfassungswandel“39

lichen Sinns einer Verfassungsnorm ohne Änderung des Verfassungstextes zu bewirken.114

I. Begriffliches Legitimationsproblem Einer solchen Definition lässt sich jedoch zunächst noch kein aussage­ kräftiger Gehalt für die verfassungsrechtliche Analyse entnehmen. Begibt man sich auf die Suche nach substantiierten Ausführungen bezüglich der dogmatischen Natur des „Verfassungswandels“, seinen inhaltlichen Entste­ hungs- und Anwendungsvoraussetzungen oder seiner Kontrollmöglichkeiten, fällt das Ergebnis regelmäßig ernüchternd aus. Der schillernde115, vieldeuti­ ge Begriff des Verfassungswandels ist in der verfassungsrechtswissenschaft­ lichen Aufarbeitung erstaunlich blass geblieben.116 Zugleich erfreut er sich trotz dieses Defizits ungebrochener Beliebtheit, was nicht zuletzt in den mannigfachen begrifflichen Bezugnahmen im Schrifttum zum Ausdruck kommt.117 Für den Konstitutionalisten ist dies eine unbefriedigende Situation. Wenn der „Verfassungswandel“ gar in der Lage sein soll, den vom Verfassungge­ ber ursprünglich bezweckten Sinn einer Verfassungsnorm zu verändern, kann eine solch wirkungsvolles Instrument nicht unter bloßen Rekurs auf einen undurchsichtigen, irgendwie gearteten Rechtsbegriff erfolgen. Die Diskrepanz zwischen der scheinbar tragenden Bedeutung des „Verfassungs­ wandels“ und der Leichtfertigkeit im Umgang mit dem Begriff ist zu groß, um eine Diskussion über die begriffliche Legitimation auszusparen. So mahnte bereits Voßkuhle, dass der Begriff vom „Verfassungswandel“ mehr verdecke, als dass er zur Aufklärung beitrage, und seine Verwendung daher besonders sparsam zu erfolgen habe.118 Nimmt man diese Zustimmung verdienende Forderung ernst, so bedarf es einer dezidierten Untersuchung, in deren Zentrum zunächst einmal die Fra­ Grabenwarter, in: Festschrift für W. Mantl, S. 35 (35 ff.); Wolff, S. 79 ff., insb. S. 90; Höfling, S. 186 ff.; Würtenberger, in: Wahl, S. 49 (54 ff.). 114  Wahl, in: ders., Verfassungsänderung, S. 29 (43); Bryde, Verfassungsentwick­ lung, S. 21; Stern, Staatsrecht, Bd. I, S. 161 f., Voßkuhle, Der Staat 43 (2004), S. 450 (451 f.); H. Dreier, in: ders., GG, Bd. 2, Art. 79  II Rn. 37; Pieroth, in: ders., Verfas­ sungsrecht und soziale Wirklichkeit, S. 11 (24); Schimmel, S. 111. 115  So explizit Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. II, Art. 79 Rn. 32; H. Klein, in: Festschrift für D.  Rauschning, S. 5 (15). 116  Voßkuhle, Der  Staat  43 (2004), S. 450 (450). Die lückenhafte wissenschaftli­ che Aufarbeitung bemängelt Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 254. 117  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 17. 118  Voßkuhle, Der Staat 43 (2004), S. 450 (459).

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

ge nach der Legitimation der Aufrechterhaltung des Rechtsbegriffs vom „Verfassungswandel“ steht. Angesichts der begrifflichen Unklarheiten sind verschiedene Ebenen einer Annäherung an die Figur des „Verfassungswan­ dels“ denkbar.119 Für die vorliegende Untersuchung liegt das Augenmerk vornehmlich auf der verfassungsdogmatischen und verfassungsmethodischen Perspektive, nämlich hinsichtlich der Frage, ob der „Verfassungswandel“ eine eigene dogmatische Rechtsfigur verkörpert oder ihm womöglich inner­ halb der verfassungsrechtlichen Methodenlehre eine Sonderrolle zukommt. In der Tat wurde der Rechtsbegriff vom „Verfassungswandel“ im Laufe seiner Entwicklung teils als eigenständige verfassungsdogmatische Rechts­ figur, gewissermaßen als dritte Ebene zwischen Verfassungstextänderung und Verfassungsinterpretation, eingeordnet120, in anderen Fällen dagegen  – vornehmlich in jüngerer Zeit – als genuiner Aspekt bzw. „Anwendungsfall“121 der Verfassungsinterpretation eingestuft.122

II. Dogmatische Ebene Bisherige Forschungsarbeiten, die sich mit der dogmatischen Einordnung eines Verfassungswandels beschäftigen, sind keineswegs von Übereinstim­ mung geprägt, sondern lassen sich teilweise sogar als konzeptionelle Gegen­ entwürfe auffassen, was maßgeblich auf den unterschiedlichen verfassungs­ theoretischen Hintergrund der Autoren zurückzuführen ist. 1. Anfänge – die normative Kraft des Faktischen In den Jahren 1895123 und 1907124 beobachtete Laband in einigen Berei­ chen eine Disharmonie zwischen verfassungsrechtlichen Vorgaben und tat­ 119  Voßkuhle,

Der Staat 43 (2004), S. 450 (453 ff.). Böckenförde, in: ders., Staat, Nation, Europa, S. 141 ff.; Rijsbergen, S. 118 ff., 139 ff. Offenbar gehen sowohl Schüffner, S. 187 als auch Gröpl/ Georg, AöR  139 (2014), S. 125 (144) von einem solchen Verständnis aus. Letztere formulieren: „Diejenigen Merkmale hingegen, die der Verfassungsgeber lediglich im Bedeutungsahmen der Begriffe, nicht aber als sie konstituierend ansah, sind durch Verfassungswandel, nicht aber durch Auslegung abänderbar“. 121  Bspw. spricht Volkmann, Der  Staat  54 (2015), S. 35 (52) vom „Verfassungs­ wandel“ als „Unterfall“ der Verfassungsinterpretation bei Zugrundelegung einer normativen Verfassungstheorie. 122  Voßkuhle, Der  Staat  43 (2004), S. 450 (450 ff.); zur Frage zwischen Verfas­ sungswandel und Verfassungsinterpretation auch Wahl, in: ders., Verfassungsände­ rung, S. 29 (43 ff.). 123  Laband, Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, S. 1 ff. 124  Laband, JöR  1 (1907), S. 1 ff. 120  Dahingehend



B. „Verfassungswandel“41

sächlich geübter Praxis. Er unterschied infolgedessen auch in der rechtlichen Auseinandersetzung zwischen dem Verfassungsgesetz einerseits und dem Verfassungszustand auf der anderen Seite. Die Verfassung sei  – bildlich gesprochen  – als Fundament und Fassade eines Gebäudes anzusehen, das äußerlich gleich bleibe, im Innern aber durch wesentliche Umbauten verän­ dert werden könne125, wobei diese Umgestaltung des Verfassungszustands durch den einfachen Gesetzgeber erfolge. Textänderungen in der Verfassung seien dafür in der Regel nicht erforderlich126, sondern es offenbare sich ein Ineinanderfließen beider Bereiche. Dieser Ausgangsgedanke wurde von Jellinek durch einen zweipoligen Denkansatz127 vertieft, bei dem er zwar  – ganz im Geiste der rechtspositi­ vistischen Schule  – scharf zwischen Recht und Wirklichkeit unterschied, gleichzeitig aber deren unergründliches, zeitweises Ineinandergreifen beton­ te. Die im Zentrum seiner Betrachtungen stehende Lebenswirklichkeit um­ schrieb Jellinek mit der berühmt gewordenen Metapher von der normativen Kraft des Faktischen128, die als fortdauernde Übung die Vorstellung des Normmäßigen maßgeblich präge.129 Ununterbrochene Bewegungen und damit verbundene Umbildungen in der Lebenswirklichkeit bewirkten eine Änderung der sozialen Verhältnisse und gesellschaftlichen Wertevorstellun­ gen; sie hätten gleichzeitig eine Veränderung des normativen Wertes der in Kraft befindlichen Normen zur Folge.130 Der normativen Kraft des Fakti­ schen sind nach Jellinek grundsätzlich keine Grenzen gesetzt.131 Ein Wandel gegen die Buchstaben der Verfassung sei möglich132 und könne gar das Sterben einer ganzen Verfassung bewirken. Das sei der Fall, wenn der Wert der Institution „Staat“ so tief sinke, dass niemand diese mehr begehre.133 Vor diesem Hintergrund erweiterte Jellinek die Rechtsquellenlehre schließ­ 125  Laband,

Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, S. 3. JöR  1 (1907), S. 1 (2). 127  Fiedler, S. 29. 128  Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 338 ff. 129  Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 339. 130  Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 344. 131  Am Beispiel der Wandlung beim Verständnis der Vertragsfreiheit lässt Jellinek anklingen, dass die rechtlichen Schranken eines Wandels letztlich im Ermessen der Gerichte liegen, der Richter damit praktisch ebenfalls an die Stelle des Verfassungs­ gesetzgebers treten würde. Gleichzeitig stehe der Richter aber auch bei der Beurtei­ lung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes unter gesellschaftlichem (= öffentliche Meinung) und politischem Druck, vgl. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfas­ sungswandlung, S. 19. 132  Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. 21 ff. Als prakti­ sche Beispiele führt Jellinek indes nur staatsorganisationsrechtliche Wandlungen in der Deutschen Reichsverfassung an. 133  Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. 45. 126  Laband,

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lich um die Kategorie der sog. necessitas. Gemeint waren hiermit solche geschichtlichen Ereignisse, die außerhalb des Rechts auf die Fundamente des Staates einwirken. Necessitas besäßen rechtsschöpfende Macht in be­ stimmten Ausnahmesituationen, denn bisher unbekannte Umstände könnten unerwartet auftauchen und die Verfassung wandeln. In Zeiten, in denen die Spannungen zwischen Recht und Wirklichkeit besonders stark ausgeprägt seien, strebe die Gesellschaft in besonderem Maße nach Anpassung. Um diesem Bedürfnis nachzukommen, könne eine Verfassungsänderung oder aber ein „Verfassungswandel“ vollzogen werden, die Jellinek durch die Unterscheidungskriterien der Absicht bzw. des Änderungsbewusstseins und dem Erfordernis bzw. Verzicht auf eine formell-textliche Änderung voneinan­ der abgrenzte: „Unter Verfassungsänderung will ich die durch absichtliche Willensakte herbeigeführte Änderung der Verfassungstexte, unter Verfas­ sungswandlung diejenige Änderung verstehen, die diese Texte formell unver­ ändert bestehen lässt und durch Tatsachen hervorgerufen wird, die nicht von der Absicht oder dem Bewusstsein einer solchen Änderung begleitet sein müssen.“134 Durch die gelebte Praxis des Verfassungsrechts in Behörden, Ge­ richten und Parlamenten könne sich allmählich eine ganz andere, eine ganz neue Bedeutung einer Verfassungsbestimmung durchsetzen. Eine herausra­ gende Rolle nehme insofern die politische Notwendigkeit für Wandlungen ein.135 Was in einer Zeit als verfassungswidrig erscheine, könne sich in der folgenden Epoche als verfassungsmäßig darstellen. Auf diese Art erleide die Verfassung durch Wandlung ihrer Interpretation selbst eine Wandlung.136 Diese Feststellung erstaunt, war doch Jellinek  – so wie im Übrigen auch Laband137 – ein überzeugter Anhänger der rechtspositivistischen Schule. Bei dieser aber ist die Berücksichtigung außerhalb der Norm liegender Verände­ rungen mit dem zugrunde gelegten formal-juristischen Verständnis nicht vereinbar, denn Sinn und Umfang einer Norm stehen hier mit ihrem Erlass unabänderlich fest. Die positivistische Staatslehre deutete den Befund offe­ ner Normen indes so, dass der Richter in diesem Fällen ermächtigt sei, sich außerrechtlicher Maßstäbe zu behelfen.138 Hier „finde“ der Richter kein Recht, sondern er „schaffe“ es durch den Rückgriff auf vorwiegend morali­ sche Kriterien mit verbindlicher Wirkung für den Einzelfall  – mit den deutlichen Worten von R. Dreier: „Wo die Abwägung beginnt, hört das Recht auf.“139 Setzte sich eine dem ursprünglichen Verfassungssinn wider­ 134  Jellinek,

Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. 3. Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. 21 ff. 136  Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. 9. 137  Fiedler, S. 28. 138  Dazu auch R. Dreier, NJW  1986, 890 (892). 139  Ebenda. 135  Jellinek,



B. „Verfassungswandel“43

sprechende Praxis effektiv durch, wurde sie zum neuen verbindlichen Ver­ fassungsinhalt.140 Die auf diese Weise herbeigeführte Verfassungswandlung durch neu geschaffenes Verfassungsrecht ohne Textänderung konnte sich für Jellinek in dogmatischer Hinsicht somit lediglich als eigenständige Rechts­ figur darstellen. 2. Weimarer Zeit – die Verfassung als fortwährendes Integrationssystem Smend behandelte dagegen zur Weimarer Zeit die Verfassungswandlung nicht als spezifische Fragestellung der inhaltlichen Reichweite einzelner Verfassungsbestimmungen, sondern stellte die Wandelbarkeit vielmehr in den Fokus eines übergeordneten verfassungstheoretischen Zusammen­ hangs.141 Betrachtungen zur Verfassungswandlung dürften sich nicht nur auf das Spannungsverhältnis von Sein und Sollen, von Sinn und Lebenswirk­ lichkeit bzw. von der rechtsschöpfenden Kraft des Faktischen als Rechts­ quelle beschränken, sondern im Vordergrund der Smend’schen Integrations­ lehre142 steht die noch grundsätzlichere Frage nach der spezifischen Substanz des Staates als Gegenstand rechtlicher Regelungen der Verfassung. Sinn des Integrationsprozesses müsse die immer neue Herstellung der Lebenstotalität des Staates sein.143 Die Wandelbarkeit der Verfassung werde zu ihrer We­ sensvoraussetzung und gesellschaftliche Veränderungen seien als Faktoren des Verfassungslebens in die rechtliche Reflexion einzubeziehen.144 Gegenüber früheren Denkrichtungen unterscheidet sich Smend vor allem in der fehlenden Einstufung der Lebenswirklichkeit als außerrechtliche Größe. Stattdessen wohne diese den bereits existenten Rechtsnormen als besonderes, auf Aktualisierung angewiesenes Element inne. Nicht die Orientierung an der Intention von Einzelheiten, sondern diejenige an der Totalität des staatlichen Integrationsprozesses sei maßgeblich145, sodass eine Bewertung des „Verfas­ sungswandels“ auch nicht an isoliert zu betrachtenden Einzelvorschriften der Verfassung, sondern am Gesamtvorgang staatlicher Integration zu erfolgen habe. Hierbei seien der staatlichen Integration keine Grenzen gesetzt, ziele Integration doch auf permanente Fort- und Neuentwicklung ab. Somit könne selbst der Normtext zu Integrationszwecken überwunden werden.146 140  Bryde,

Verfassungsentwicklung, S. 255 f. Der  Staat  54 (2015), S. 35 (51). 142  Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 119 (188 ff.). 143  Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 119 (189). 144  Fiedler, S. 37. 145  Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 190. 146  Fiedler, S. 36. 141  Volkmann,

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

Hsü konkretisierte den Smend’schen Integrationsgedanken und betonte ebenfalls die Natur des Staates als fortwährender Integrationsrahmen der Lebenswirklichkeit, woraus die Wandlungsmöglichkeit und Wandlungsnot­ wendigkeit des Staates und seiner Institutionen zu folgern sei.147 Die in der Verfassung normierten Institutionen müssten in ihrem Sinnzusammenhang ergänzt und erweitert werden. „Verfassungswandel“ sei etwas verfassungs­ intentional Erlaubtes148, er sei von vornherein Recht.149 Aus diesem Grund weise das Regelungswerk „Verfassung“ Besonderheiten auf: Zunächst seien ihre Rechtssätze bewusst unvollständig und normierten so eine besondere Elastizität.150 Ihrer natürlichen Notwendigkeit nach könnten sie daher nur Andeutungen enthalten. Im Gegensatz zu anderen Verbänden und Rechtsin­ stitutionen sei der Selbsterhaltungswert des Staates als regulatives Prinzip bei der rechtlichen Beurteilung unentbehrlich. Zwar könne das hohe Gut der Selbsterhaltung durchaus formal-juristisch im Widerspruch zu positiven Verfassungsnormen stehen, dies führe aber aus einer verfassungstheoreti­ schen Perspektive heraus nicht per se zur Verfassungswidrigkeit.151 Eine Grenze des Verfassungswandels könne es nicht geben. Überhaupt verwirk­ liche sich das Gesetzeswerk „Verfassung“ durch seine eigene Wertgesetz­ lichkeit.152 Ihr Bestand werde gerade nicht, wie bei den meisten Verbänden, durch eine von außen regelnde Macht bzw. Instanz, z. B. durch einfache Gesetze oder Richtersprüche, gewährleistet. Verfassungsrecht sei vielmehr werteinmalig.153 Zentrale Bedeutung für eine Verfassungswandlung komme der Frage zu, ob der Sinnzusammenhang einer Norm noch eingehalten oder verlassen würde. Nur im letzteren Fall handele es sich um eine reguläre Verfassungswandlung, denn nur hier gingen die vorzunehmenden Ergänzungen tatsäch­ lich über den ursprünglich einer Norm beigelegten Sinn hinaus und beweg­ ten sich nicht mehr entsprechend dem in der Verfassung verkörperten Sys­ tem.154 Finde der Wandel dagegen noch innerhalb des vorgegebenen sinn­ gemäßen Rahmens einer Norm statt, stelle sich die Frage nach einem Wandel erst gar nicht. Deutlich zurückhaltender sind dagegen die Ausführungen bei Heller als weiterer Vertreter der Weimarer Zeit, der einer ungedrosselten Dynamik der 147  Hsü, 148  Hsü, 149  Hsü, 150  Hsü, 151  Hsü, 152  Hsü, 153  Hsü, 154  Hsü,

S. 159. S. 164. S. 165. S. 155 f. S. 157. S. 157 f. S. 158. S. 161.



B. „Verfassungswandel“45

Lebenswirklichkeit dadurch Einhalt gebieten möchte, indem er der Notwen­ digkeit von Statik im Recht besondere Beachtung widmet.155 Es dürfe nicht übersehen werden, dass sich eine Verfassung dadurch auszeichne, indem sie sich trotz aller Dynamik dauernd wechselnder Integrationsprozesse mit re­ lativer Kontinuität behaupte.156 Die Verfassung sei nicht primär ein Prozess, sondern ein Produkt. Die von der Verfassung „normierte Normalität“ besit­ ze ihre Dauerhaftigkeit darin, dass sie solche Regelungen treffen wolle, die auf der Wahrscheinlichkeit basierten, auch zukünftig erhalten zu bleiben. Allerdings müsse sich ebenso die gesellschaftliche Normalität im Recht wiederfinden. Heller betont daher das Zusammenspiel von Normativität und Normalität, die in einem Verhältnis gegenseitiger Annäherung und gerade nicht in undialektischer Beziehungslosigkeit stünden.157 Sein und Sollen seien demnach keine Gegensätze, so wie es der staatsrechtliche Positivismus noch gelehrt hatte, sondern befänden sich in einem Verhältnis korrelativer Zuordnung.158 Da sich die Lebenswirklichkeit fortwährend ändere, erfolge auf diese Weise auch eine allmähliche Evolution der Rechtssätze bei gleich­ bleibendem Wortlaut.159 3. Unter dem Grundgesetz – die normative Kraft der Verfassung Zurückblickend wurde vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes der „Ver­ fassungswandel“ von Seiten der rechtspositivistischen Schule vornehmlich als selbstständige rechtsdogmatische Figur verstanden, um auf diese Weise der normativen Kraft des Faktischen und ihrer außerrechtlichen Natur auch im Verfassungsrecht Herr zu werden. Ein methodischer Einbezug in die Verfassungsinterpretation schloss das primär von Statik des Verfassungs­ rechts angeleitete rechtspositivistische Verfassungsverständnis aus.160 Das Fehlen einer spezifischen Verfassungsgerichtsbarkeit und des Grundsatzes vom Vorrang der Verfassung gegenüber dem sonstigen Parlamentsrecht161 öffneten Verfassungsdurchbrechungen in Form eines materiellen Abwei­ chens von der Verfassung ohne Textänderung und mit entsprechendem Quorum auf diese Weise Tor und Tür.162 155  Heller,

S. 250, 252. S. 250. 157  Heller, S. 254, 185. 158  Heller, S. 185. 159  Heller, S. 254. 160  Ausführlich Ogorek, S. 92 ff., zusammenfassend S. 138. 161  Ogorek, S. 100 f. 162  Voßkuhle, Der  Staat  43 (2004), S. 450 (451). 156  Heller,

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

Während der Weimarer Zeit rückte der „Verfassungswandel“ dagegen als methodisches Problem der Verfassungsinterpretation ins Zentrum wissen­ schaftlicher Untersuchungen. Insbesondere die Schriften von Smend und Hsü sind von dem Bestreben geleitet, die Größe „Lebenswirklichkeit“ jus­ tiziabel zu machen.163 Die Bedeutung der Berücksichtigung von Prozessen der Lebenswirklichkeit wird hier als eine dem Recht ex ante zugewiesene Funktion behandelt. Ein solches Verständnis ermöglichte ihre Qualifikation als endogenes verfassungsrechtliches Element mit der Folge einer inneren Wandlungsfähigkeit verfassungsrechtlicher Tatbestände. Erstmals wird der Begriff vom „Verfassungswandel“ in die Problemstellungen der Verfas­ sungsinterpretation überführt: Wenn die Aktualisierung den Verfassungsbe­ stimmungen bereits immanent ist, sind diese im Wege der Verfassungsinter­ pretation jeweils auf der Höhe der Zeit auszulegen. Weitläufige Tatbestände und ein hohes Abstraktionsniveau befördern eine solche Vorgehensweise. Insofern lassen sich die Arbeiten in diesem Punkt auch als diametraler ver­ fassungstheoretischer Gegenentwurf zu den rechtspositivistischen Auffas­ sungen verstehen. Der integrative Ansatz der Weimarer Zeit markiert weiterhin die entschei­ dende Weichenstellung zu einem modernen, zeitgeprägten Verfassungsver­ ständnis. Gleichwohl sieht er sich Kritik ausgesetzt: Sowohl Smend als auch Hsü bescheinigen der Verfassungswandlung die Eigenschaft eines perma­ nenten, grenzenlosen Prozesses, in dessen Konsequenz der Wandel sogar gegen den Sinn einer Norm sowie als ultima ratio auch gegen ihren Wortlaut erfolgen könne. Hierbei aber droht die Gefahr einer schier grenzenlosen Ausuferung des Wandels, eine Dynamik ad infinitum samt damit einherge­ hender Entleerung des geschriebenen Verfassungsrechts. Die Rechtsperver­ sion im Dritten Reich führt die Folgen grenzenloser Auslegung besonders tragisch vor Augen.164 Sie ist Zeugnis für eine essentielle Notwendigkeit der Begrenzung verfassungsimmanenter Dynamisierungsprozesse. Von einer verstärkt statischen Betrachtung des Verfassungsrechts zeugen die Ausführungen bei Heller, der sich dem Problem der Verfassungswand­ lung aus dem Blickwinkel einer Begrenzung der Wandelbarkeit, insbeson­ dere unter Betonung der stabilisierenden Funktion der Verfassung, nähert. Wie sich jedoch die von ihm postulierte korrelative Zuordnung von Norma­ lität und Normativität ausdrückt, wo also vor allem die Grenzen der Berück­ 163  Insbesondere Hsü entwickelt ein juristisches Erklärungsmodel, um die Wand­ lungen der Lebenswirklichkeit in das Verfassungsrecht einzubeziehen, vgl. Ogorek, S. 130. 164  Zu den Gefahren unbegrenzter Auslegung, insbesondere durch die Rechtsper­ version im Dritten Reich, eindringlich Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung; Rüthers, Entartetes Recht.



B. „Verfassungswandel“47

sichtigung gesellschaftlicher Normalität sind, dazu fehlt letztlich ebenfalls eine eingehende Auseinandersetzung.165 Der Sache nach wird die Konturen­ losigkeit des Begriffs daher auch zur Weimarer Zeit  – wie noch bei der positivistischen Staatslehre  – aufrechterhalten.166 Mit dem Erlass des Grundgesetzes änderten sich die verfassungsrechtli­ chen Rahmenbedingungen auf grundlegende Weise. Ein Novum, das zur damaligen Zeit seinesgleichen suchte167, zeigt sich in der Errichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit und der damit etablierten Stellung des BVerfG als Verfassungsorgan und Letztinterpret des Grundgesetzes.168 Ferner wurde vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Erfahrungen der Grund­ rechtsschutz verstärkt und ein zusammenhängender Grundrechtskatalog in exponierter Stellung an den Anfang des Grundgesetzes gesetzt. Dies hat Auswirkungen auf die dogmatische Einordnung eines „Verfassungswandels“ unter dem Grundgesetz. a) Interpretatorische Öffnung und Schließung der Verfassung In seiner im Jahr 1981 vorgelegten Habilitationsschrift beschreibt Bryde den gesamten Prozess der Verfassungsentwicklung  – dazu gehören das for­ melle Verfassungstextänderungsverfahren als auch daneben existente Anpas­ sungsprozesse  – als Kernproblem des fortwährenden Austarierens der Pole „Kontinuität“ und „Wandelbarkeit“.169 Die Verfassung müsse dem sozialen Wandel nicht nur durch ihre eigene Wandlung begegnen, sondern gerade ihre eigene Stabilität habe Gewähr dafür zu tragen, den Anforderungen des sozialen Wandels in der verfassungsrechtlichen Reflexion gerecht zu wer­ den.170 „Verfassungswandel“ könne nur unter dem Gebot erfolgen, ihre Kontinuität durch Fortbildung des Verfassungsrechts sicherzustellen.171 Hierin kommt ein die Stabilisierungsfunktion der Verfassung betonender Gedanke zum Ausdruck, der in ähnlicher Form bereits bei Heller anzutref­ fen war. Weiterhin weist auch Hesse in mehreren Schriften auf das korrelative Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Verfassung hin, die er mit der Wen­ auch Fiedler, S. 45, 49. in: Festschrift für U.  Scheuner, S. 123 (133); so auch die Kritik bei Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 254. 167  Schenke, NJW  1979, 1321 (1321). 168  Diese Stellung hat sich das BVerfG, maßgeblich im „Statusbericht Leibholz“, selbst erkämpft, dazu näher v. Ooyen, in: ders./Möllers, S. 99 (111 f.). 169  Pieroth, in: ders., Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit, S. 11 (24). 170  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 222 f. 171  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 292 m. w. N. 165  Ähnlich 166  Hesse,

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

dung von der „normativen Kraft der Verfassung“ nachhaltig geprägt hat.172 Eine gewisse Wandelbarkeit müsse etwas Selbstverständliches sein, möchte die Verfassung ihre Geltungskraft nicht obsolet werden lassen.173 Jede ge­ schriebene Verfassung sei von Natur aus unvollkommen. Das korrelative Verhältnis zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit führe zu einer Interdependenz, bei der die rechtliche Verfassung überhaupt erst den normativen Rahmen vorgebe, auf welchen die Wirklichkeit einwirken kön­ ne. Eine Verfassungsnorm werde somit zu einem durch die Wirklichkeit sachgeprägten Ordnungsmodell.174 Entscheidende Bedeutung für die Wah­ rung und Festigung der normativen Kraft der Verfassung komme der Ver­ fassungsinterpretation zu, deren Ziel es sei, das Gebot der optimalen Ver­ wirklichung einer Norm durchzusetzen. In den Worten von Hesse: „Wenn das Recht und namentlich das Verfassungsrecht in seiner Wirkkraft durch die konkreten Lebensverhältnisse bedingt ist, dann darf die Auslegung nicht an diesen vorübergehen.“175 Die Verfassung könne nicht nur, sondern sie müsse sich bei einem Wandel der tatsächlichen Lebensverhältnisse verän­ dern. Gegenüber den Weimarer Lehren liegt eine entscheidende Erweiterung nun in der klaren Begrenzung des Wandels.176 Den interpretatorischen Öff­ nungen der Verfassung auf der einen Seite steht auf der anderen Seite ihre interpretatorische Schließung gegenüber. In Übereinstimmung mit den Wei­ marer Ansätzen kann ein „Verfassungswandel“ ausschließlich innerhalb der vom möglichen Sinn der Verfassungsvorschriften zugelassenen Varianten des Sich-Verhaltens und damit intra constitutionem stattfinden.177 Die un­ überschreitbare Grenze jedes grundrechtsimmanenten Anpassungsprozesses sei durch Art. 79  GG positivrechtlich abgesichert178: „Wo der Sinn der normativen Regelung in einer veränderten Wirklichkeit nicht mehr realisiert werden kann, bleibt nur die Möglichkeit einer Verfassungsrevision.“179 Eine zentrale Bedeutung als Grenze der Verfassungswandlung komme dem eindeutigen Wortlaut einer Verfassungsbestimmung zu.180 Diese stecke 172  Hesse,

Die normative Kraft der Verfassung, S. 9. JZ  1995, 265 (265). 174  Hesse, in: Festschrift für U.  Scheuner, S. 123 (138) unter Rekurs auf Müller, Normstruktur und Normativität, S. 114 ff. 175  Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, S. 15. 176  Dazu allgemein Hesse, in: Festschrift für U. Scheuner, S. 123 (123 ff.); Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, S. 9. 177  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 299 unter Verweis auf BVerfGE  45,  154 (168). 178  Hesse, in: Festschrift für U.  Scheuner, S. 123 (139). 179  Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, S. 16. 180  Hesse, in: Festschrift für U. Scheuner, S. 123 (134, 139 f.). 173  Hesse,



B. „Verfassungswandel“49

bei sachbezogenen Tatbeständen zunächst einmal das mögliche Spektrum tatbestandlicher Sinngebung  ab. Ferner gelte es, die Kerninhalte und nor­ mierten Garantien als materielle Begrenzungen einzuhalten. Die Grenzen der normativen Kraft der Verfassung würden stets dort verlaufen, wo der Regelgehalt, den die Verfassung abschließend normieren möchte, nicht mehr in der individuellen Beschaffenheit der Gegenwart angelegt sei.181 Allenfalls in eklatanten Ausnahmesituationen dürfe eine Überschreitung des Textes erfolgen, wobei diese unter dem strikten Gebot stehe, den „schonendsten Ausgleich“ herbeizuführen.182 Die Verfassungsrechtswissenschaft überneh­ me die Aufgabe, das erforderliche Gleichgewicht zwischen interpretatori­ scher Öffnung und interpretatorischer Schließung der Verfassung in jedem Einzelfall herzustellen. Ein sinnvoller Ausgleich zwischen beiden Zielen sei zwar möglich, aber ständig gefährdet. Werde eine Seite überbetont, gefähr­ de das nicht nur die andere, sondern beide183; würden die Grenzen der Verfassungsänderung und des Verfassungswandels zu eng gezogen, werde die Anpassungsfähigkeit der Verfassung an gewandelte Umstände gehemmt. Eine restriktive Grenzziehung fordere dagegen zugleich illegitime Entwick­ lungen und Verfassungsbrüche heraus. Ihre praktische Handhabung sei an­ gesichts des besonders elastischen Wortlauts im Bereich der Grundrechte nur schwer zu postulieren.184 Andersherum beraube eine grenzenlose Öff­ nung der Verfassung nicht nur ihre Stabilität, sondern rufe ebenso nach einer interpretatorischen Schließung der Entwicklungsmöglichkeiten. b) Stellungnahme Für Hesse und Bryde erweist sich der „Verfassungswandel“ nicht als ei­ genständiger verfassungsdogmatischer Rechtsbegriff185, sondern er geht – in Einklang mit den Weimarer Ansätzen  – bereits vollständig im Rahmen der Verfassungsinterpretation auf. Der „Verfassungswandel“ ist dann keine ver­ fassungsexogene Größe im Sinne der von Jellinek beobachteten normativen Kraft des Faktischen. Vielmehr finden inhaltliche Veränderungen einer Ver­ fassungsbestimmung verfassungsendogen186, das heißt innerhalb des durch 181  Hesse,

Die normative Kraft der Verfassung, S. 17. in: Festschrift für U.  Scheuner, S. 123 (140). 183  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 457. 184  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 268. 185  So aber selbst noch unter dem Grundgesetz Böckenförde, Gesetz und gesetz­ gebende Gewalt, S. 388 f.; Böckenförde, in: ders., Staat, Nation, Europa, S. 141 ff., 153; Wolff, S. 89, 98 f.; Rijsbergen, S. 118 ff., 139 ff. Ähnlich klingt dies auch bei Badura, in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1. Aufl., § 160 Rn. 13 an. 186  So explizit auch Höfling, S. 189. 182  Hesse,

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

die Verfassung normativ vorgegebenen Rahmens – der normativen Kraft der Verfassung –, statt. Der Zeitfaktor wird damit von vornherein zum Bestand­ teil der normativen Kraft einer Verfassungsnorm.187 Gerade die den Grundrechtstatbeständen immanente normative Kraft er­ möglicht sodann eine gewisse Flexibilität zeitgemäßer Anpassungen durch weite, elastische Formulierungen. Grundrechtliche Gewährleistungen wirken als Schleusenbegriffe188, welche die Lebenswirklichkeit in die rechtliche Reflexion aufnehmen. Im optimalen Fall lässt sich auf diese Weise jeder zukünftige Einzelfall schon von vornherein unter die offenen Normen sub­ sumieren. Kasuistische Regelungen, die den spezifischen Einzelfall rechtlich erfassen, bringen zwar ein Mehr an inhaltlicher Bestimmtheit mit sich, lassen sich aber nur um den Preis der Lückenhaftigkeit und Überfrachtung des Verfassungstextes durch eine Vielzahl konkreter Inhalte verwirklichen.189 Die generalklauselartige Verfasstheit kann Schutzlücken vermeiden.190 Die Unbestimmtheit der Grundrechte liegt hier also gerade in der Natur der Sache.191 Die Verfassung ist speziell im Grundrechtskatalog als normativer Entwurf im Sinne einer Rahmenordnung zu verstehen.192 Sie trägt die Voraussetzun­ gen ihrer Verwirklichung bereits in sich selbst.193 Beide Pole, also Verfas­ sungsnorm als starres Element auf der einen und Lebenswirklichkeit als dynamisches Element auf der anderen Seite, müssen in gegenseitiger Annä­ herung austariert werden.194 Es gibt kein „Entweder-Oder“, sondern nur eine relative Beziehung195, ein Wechselspiel zwischen Norm und Wirklich­ keit196, ein Spannungsfeld von Ontologie und Voluntarismus197, durch wel­ che beide Pole überhaupt erst konkrete Gestalt annehmen. Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit bilden keine Gegensätze, sondern die Verfas­ sungswirklichkeit wird innerhalb der normativen Kraft der Verfassung be­ 187  Häberle,

ZfP  21 (1974), S. 111 (114). Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 388 f.; Böckenförde, in: ders., Staat, Nation, Europa, S. 149. 189  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 87; dazu bereits oben Teil  2 A.  III.  2.  b). 190  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 84. 191  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 82 m. w. N. 192  Grimm, AöR  97 (1972), S. 489 (500); Böckenförde, NJW  1976, 2089 (2091); H. Klein, in: Festschrift für D. Rauschning, S. 5 (15); dazu bereits oben Teil 2 A. III. 2. 193  Grimm, AöR  97 (1972), S. 501. 194  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 36; Schenke, AöR  (103) 1978, S. 566 (577). 195  Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, S. 7 f. 196  Grimm, AöR  97 (1972), S. 489 (501). 197  Masing, Der  Staat  44 (2005), S. 1 (3). 188  Böckenförde,



B. „Verfassungswandel“51

reits mitgedacht198  – „Verfassungswandel“ ist intra constitutionem ange­ legt.199 Gleichzeitig kommt der Untersuchung von Grenzen eine zentrale Funktion zu. Verfassungsanpassung durch Interpretation verfolgt nicht den Zweck, formelle Verfassungsänderungen möglichst zu verhindern. Aufgabe des Konstitutionalisten ist es vielmehr, legitime Änderungen von illegitimen ausfindig zu machen und zu unterbinden.200 Es lässt sich somit festhalten, dass sich das Problem des „Verfassungs­ wandels“ unter dem Grundgesetz allein als Interpretationsproblem ent­ puppt.201 Die Frage, welchen normativen Rahmen die einzelnen Verfas­ sungsbestimmungen beinhalten, ist nämlich eine solche nach der Auslegung verfassungsrechtlicher Tatbestände, und damit eine Frage der juristischen Methodik. Ein „Verfassungswandel“ im Widerspruch zum Verfassungstext ist ausgeschlossen.202 Eine umfassende, allgemeingültige verfassungsdog­ matische Theorie, eine Art „Lehre vom Verfassungswandel“203 gibt es damit nicht  –  Häberle spricht in diesem Zusammenhang von einem nicht existen­ ten „tertium“204. Vor diesem Hintergrund handelt es sich bei der „Verfas­ sungswandlung“ auch um keine eigenständige verfassungsdogmatische Rechtsfigur unter dem Grundgesetz.205

III. Methodische Ebene Auf verfassungsdogmatischer Ebene mangelt es dem Begriff vom „Ver­ fassungswandel“ mithin an seiner begrifflichen Legitimation. Die Legitima­ tionsfrage verlagert sich auf die verfassungsmethodische Analyseebene, wo der „Verfassungswandel“ womöglich einen Sonderfall der Verfassungsinter­ pretation verkörpert.206

198  Grimm,

AöR  97 (1972), S. 489 (504). Verfassungsentwicklung, S. 299. 200  Grimm, AöR  97 (1972), S. 489 (505). 201  Häberle, ZfP  21 (1974), S. 111 (130); Walter, AöR  125 (2000), S. 517 (524); Schuppert, AöR 120 (1995), S. 32 (68); v. der Heydte, ARSP 39 (1950/1951), S. 461 (472 f.). 202  P. Kirchhof, in: Isensee/ders., Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, § 21 Rn. 63. 203  Dahingehend jedoch Böckenförde, in: ders., Staat, Nation, Europa, S. 141 ff.; Ogorek, S. 92 ff., insb. S. 141. Den Begriff der „Lehre“ verwendet auch Walter, AöR  125 (2000), S. 517 ff. 204  Häberle, ZfP  21 (1974), S. 111 (130). 205  Steiner, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. IV, § 108 Rn. 4. 206  Gelegentlich ist hier die Rede vom „Verfassungswandel durch Verfassungsin­ terpretation“, so bspw. Schuppert, AöR  120 (1995), S. 32 (68 ff.). 199  Bryde,

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

1. Herkömmliche Anwendungsfälle der Verfassungsinterpretation Der Untersuchungsgegenstand der Verfassungsinterpretation betrifft die Fragestellung, inwieweit neue Entwicklungen, die der historische Verfas­ sungsgesetzgeber nicht vorhergesehen hat oder gar nicht erst vorhersehen konnte, von einem bereits existenten verfassungsrechtlichen Tatbestand an­ tizipiert sind. Bei der Auslegung grundrechtlicher Bestimmungen stellt sich mithin bei jedem Interpretationsvorgang die Frage, ob sich neue Entwick­ lungen in den Schutzbereich eines bereits bestehenden Grundrechtstatbe­ stands einfügen. Hierbei können zwei Anwendungsfälle unterschieden wer­ den: Ein erster Anwendungsbereich der Verfassungsinterpretation liegt darin, für eine bestimmte Entwicklung im Grundgesetz bereits angelegte Wertun­ gen im konkreten Einzelfall zu extrahieren. In solchen Fällen wurde die Auslegungsfrage bereits eindeutig durch den Verfassunggeber entschieden, sodass sich eine neue Entwicklung unter einen bestehenden Grundrechtstat­ bestand subsumieren lässt. In der Sache sind von diesem Anwendungsfall sowohl neu auftretende Entwicklungen, die der historische Verfassungsgeber bereits als zukünftige Herausforderungen konkret vor Augen hatte und ent­ sprechend unter Schutz stellen wollte, als auch solche Entwicklungen be­ troffen, bei denen der Verfassunggeber im Schutzbereich zwar keine Aus­ kunft über spezielle zukünftige Entwicklungen getroffen, wohl aber be­ stimmte Wesensmerkmale hinreichend umrissen hat, sodass sich die neuen Entwicklungen in diesen Rahmen nahtlos einfügen können. Entscheidende Bedeutung erlangt dabei stets die genaue Identifikation der vom historischen Verfassungsgeber bezweckten Schutzrichtung und des Schutzumfangs eines Grundrechtstatbestands im Sinne einer möglichst exakten Rekonstruktion der Gedankenwelt des historischen Verfassungsgebers. Für einen „Verfas­ sungswandel“, der auf eine tatbestandliche Sinnänderung zielen soll, besteht in diesem ersten Anwendungsfall der Verfassungsinterpretation keine Not­ wendigkeit, wird die Ebene der ursprünglichen, vom Verfassungsgeber eta­ blierten Sinnrichtung nicht verlassen. Ein weiterer Anwendungsfall der Verfassungsinterpretation – geradezu ihr „klassischer“ Anwendungsfall  – kommt dagegen erst zum Tragen, wenn eine Lücke im Verfassungsrecht identifiziert worden ist, mithin eine be­ stimmte Konstellation von den bisher im Grundgesetz angelegten Wertungen noch gar nicht geregelt wird. Es lassen sich in diesen Fällen keine bereits im Grundgesetz angelegten Wertungen ermitteln, sondern die Lücke ist im Wege der Verfassungsinterpretation unter Anwendung ihrer spezifischen Methodik zu schließen.



B. „Verfassungswandel“53

2. Der Verfassungswandel als Sonderfall der Verfassungsinterpretation? Grundsätzlich kann die Suche nach einer eigenen verfassungsrechtlichen Legitimationswirkung des „Verfassungswandels“ nur dann positiv ausfallen, wenn der „Verfassungswandel“ innerhalb der Verfassungsinterpretation eine Sonderrolle einnimmt. Um den Nachweis seiner begrifflichen Legitimation zu führen, müsste dieser nun innerhalb der beiden herkömmlichen Anwen­ dungsfelder der Verfassungsinterpretation eine hinreichende Unterschei­ dungskraft besitzen oder sich als darüberhinausgehendes methodisches Spezialproblem hervortun. So könnten neu auftauchende, bisher nicht vor­ ausgesehene Tatbestandsgehalte oder bekannte Tatbestände, die durch ihre Einordnung in den Gesamtablauf einer Entwicklung in neuer Beziehung oder Bedeutung erscheinen, möglicherweise Anlass für die Annahme eines „Verfassungswandels im methodischen Sinne“ geben, wenn hierbei eine Abkehr von der ursprünglichen, der Verfassungsnorm mitgegebenen Sinn­ richtung bzw. des ursprünglichen Schutzumfangs einherginge. Auf diese Weise würde sich der „Verfassungswandel“ als Extremfall der Verfassungs­ interpretation präsentieren, der den Willen des historischen Verfassungsge­ bers ohne formelles Textänderungsverfahren durchbreche. Hsü hat bereits solche Szenarien als reguläre Verfassungswandlung bezeichnet.207 In der Sache beschreibt eine solche Konstellation jedoch nichts anderes als den zweiten, herkömmlichen Anwendungsfall der Verfassungsinterpreta­ tion, nämlich das Schließen einer zuvor identifizierten Lücke. Allenfalls ließe sich daher noch erwägen, den zweiten Anwendungsfall der Verfas­ sungsinterpretation in ihrer Ausprägung zur Lückenschließung vom ersten Anwendungsfall der Extrahierung bereits angelegter Wertungen terminolo­ gisch abzugrenzen und diesen in allgemeiner Weise mit dem Etikett des „Verfassungswandels“ zu versehen. Demzufolge würde der „Verfassungs­ wandel“ stets solche Interpretationsvorgänge umschreiben, bei denen eine Lücke im Wege der Auslegung zu schließen wäre. Soweit sich eine solche Abschichtung von „herkömmlicher“ Verfassungsinterpretation für bereits angelegte Wertungen und dem „Verfassungswandel“ als Anwendungsfall „besonderer“ Verfassungsinterpretation zur Auffüllung identifizierter Lücken vornehmen ließe, wird ihr jene erkenntnisleitende Funktion unter dem As­ pekt ihrer tatsächlichen Durchführbarkeit wiederum unmittelbar genommen. Das Dilemma beginnt bereits im Ausgangspunkt einer solchen Unterschei­ dung, denn die möglichst eindeutige Feststellung hinsichtlich der Schutz­ richtung und des Schutzumfangs durch den historischen Verfassungsgeber mag zwar in der Theorie ein taugliches Abgrenzungskriterium an die Hand 207  Hsü,

S. 161; vgl. bereits oben Teil  2  B.  II.  2.

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

geben, in der praktischen Anwendung wird sie dagegen nur in äußerst we­ nigen Fällen gelingen. Hesse formuliert es wie folgt: „… in Fällen, für deren Lösung die Verfassung keine eindeutigen Maßstäbe enthält, d. h. aber in allen Fällen der Verfassungsinterpretation, haben die Verfassung oder der Verfassungsgeber in Wahrheit noch nicht entschieden, sondern nur mehr oder weniger zahlreiche unvollständige Anhaltspunkte für die Entscheidung gegeben.“208 Eine Unterscheidung zwischen klassischer Verfassungsinterpretation und „Verfassungswandel“ als besonderer Fall der Verfassungsinterpretation wäre mit einer doppelten Ambivalenz behaftet: Die Beantwortung der Frage näm­ lich, ob eine Wertung bereits im Grundgesetz angelegt ist, hängt ihrerseits von dem Nachweis eines eindeutigen Willens des Verfassunggebers ab. Dieser Nachweis ist aus den Materialien des Verfassungskonvents zu gewin­ nen, die jedoch nur selten zu befriedigenden Ergebnissen verhelfen werden. Der nach dem Zweiten Weltkrieg eingesetzte Parlamentarische Rat war von dem Anliegen getrieben, das Grundgesetz als bewusste Reaktion auf die nationalsozialistische Schreckensherrschaft auszugestalten. Die Verhand­ lungsprotokolle sind vor diesem Hintergrund überwiegend von parteipoliti­ schen Stellungnahmen geprägt. Präzise verfassungsdogmatische Ausführun­ gen finden sich allenfalls in Einzelfällen.209 Generell entwickelte sich die Grundrechtsdogmatik, insbesondere die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte, zeitlich erst später. Dies zeigt sich auch daran, dass in den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates über den Schutzumfang und das Schutzniveau einzelner Grundrechte zum Teil  ausgiebig gerungen, eine konsensfähige Festlegung der Inhalte schlussendlich trotzdem offen gelas­ sen210 und der späteren (wissenschaftlichen) Aufarbeitung überantwortet wurde. Insofern besteht eine erste Unsicherheit zur Abgrenzung der her­ kömmlichen Interpretation zum „Verfassungswandel“ in der Natur der Quel­ le. Zu diesem Aspekt kommt hinzu, dass sich die generalklauselartige Ver­ fasstheit des Grundgesetzes auf den Interpretationsprozess erschwerend auswirkt, indem sie die Präzision bestimmter Tatbestandsmerkmale bewusst mindert. Schließlich besteht eine weitere Unsicherheit in der Schwierigkeit einer exakten Abgrenzung der beiden skizzierten Anwendungsfelder der Verfas­ sungsinterpretation. Hesse betont treffend ihr vielfaches Ineinanderfließen. Der Auftrag, bereits im Grundgesetz angelegte Wertungen zu extrahieren, 208  Hesse,

Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 56. auch Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, S. 12. 210  So beispielsweise bei der Ausgestaltung des heutigen Art. 6 Abs. 1  GG, vgl. Seiler, in: Dolzer/Graßhof/Kahl/Waldhoff/Walter, BK-GG, Stand: Juli  2014, Art. 6 Abs. 1 Rn. 48. 209  Vgl.



B. „Verfassungswandel“55

impliziert angesichts der Problematik um die fehlende Präzisionskraft der Quelle zugleich, den Willen des Verfassungsgebers möglichst genau nach­ zuzeichnen. Die Verfassungsinterpretation kann sich dann lediglich an be­ stimmten vagen Anhaltspunkten orientieren, die allerdings regelmäßig nicht den notwendigen Grad an Exaktheit aufweisen werden, um sie als bereits im Grundgesetz angelegte Wertungen einzustufen. Eine stichhaltige Aussage bezüglich einer bereits im Grundgesetz angelegten Wertung wird sich aus den Materialien des Verfassungskonvents und der generalklauselartigen Verfasstheit verfassungsrechtlicher Tatbestände kaum gewinnen lassen. Neben die mit Unsicherheiten behaftete Quelle für die Verfassungsinter­ pretation tritt folglich die Unsicherheit hinreichender Unterscheidungskraft zwischen ihren einzelnen Anwendungsfeldern. Der Begriff der „Verfas­ sungsinterpretation“ selbst ist in der Verfassungslehre hinreichend etabliert, er vermag keinen eigenen methodologischen Beitrag zu leisten.211 Mit Recht kritisiert daher auch Jestaedt, dem sich Voßkuhle anschließt, den fehlenden methodologischen Mehrwert seiner Begriffsverwendung.212 Der „Verfas­ sungswandel“ sei seinem bisherigen Aufarbeitungsstand nach zunächst ein­ mal aus methodischer Sicht „nichts als ordinäre Auslegung  – dann freilich ist sowohl eine Sondermethodik als auch eine Sonderdogmatik schwerlich zu rechtfertigen“.213 Eine Ersetzung der herkömmlichen Anwendungsberei­ che der Verfassungsinterpretation durch den Terminus vom „Verfassungs­ wandel“ ist vor diesem Hintergrund nicht angezeigt.214

IV. Zwischenergebnis Dem so oft rezipierten Begriff vom „Verfassungswandel“ ermangelt es an seiner begrifflichen Legitimationskraft. Gemeinhin verstanden als Änderung des ursprünglichen Sinns einer Verfassungsnorm ohne gleichzeitig erfolgen­ de Änderung des Verfassungstextes geriert der „Verfassungswandel“ unter dem Grundgesetz keinen dogmatischen Mehrwert, der es rechtfertigen wür­ de, ihn als eigenständige verfassungsdogmatische Rechtsfigur zu klassifizie­ ren. Die auf dem Smend’schen Integrationsgedanken beruhende Flexibilität verfassungsrechtlicher Bestimmungen, der zur Vitalitätserhaltung verfas­ sungsrechtlicher Bestimmungen notwendige „Spielraum“ bei der Auslegung vollzieht sich allein intra constitutionem. Die normative Kraft der Verfas­ 211  Voßkuhle, Der  Staat  43 (2004), S. 450 (455); ähnlich auch Roßnagel, Der  Staat  22 (1983), S. 551 (558). 212  Jestaedt, in: Festschrift für J.  Isensee, S. 183 (196); Voßkuhle, Der  Staat  43 (2004), S. 450 (454). 213  Jestaedt, in: Festschrift für J.  Isensee, S. 183 (196). 214  So auch H. Klein, in: Festschrift für D.  Rauschning, S. 5 (15).

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

sung bzw. die spezifische normative Kraft verfassungsrechtlicher Tatbestän­ de ermöglicht ihre Wandelbarkeit bzw. Anpassungsfähigkeit von innen her­ aus, das heißt, es finden einzig verfassungsendogene Anpassungsprozesse statt. Ein Verfahren außerhalb der tatbestandlichen Auslegung, mithin zwi­ schen der formellen Verfassungstextänderung und der Auslegung einzelner Bestimmungen im Wege der Verfassungsinterpretation, ist mit der verfas­ sungstheoretischen Konzeption des Grundgesetzes nicht vereinbar. Die Of­ fenlegung des Umfangs grundrechtlicher Tatbestände erweist sich als origi­ näre Problemstellung der Verfassungsinterpretation. Der „Verfassungswan­ del“ begründet aber ebenso wenig einen Sonderfall der Verfassungsinterpre­ tation, sondern verkörpert in der Sache nichts anderes als die üblichen Anwendungsfelder der Verfassungsinterpretation. Herkömmlicherweise be­ trifft die Verfassungsinterpretation das Ausfüllen einer im Verfassungsrecht identifizierten Lücke. Auf eine solche wird man im Falle der Auslegung einer Verfassungsnorm mit Blick auf den Einzelfall beinahe immer treffen, denn es sind nur wenige Fälle vorstellbar, in denen sich ein eindeutiger Wille des (historischen) Verfassungsgebers bezüglich des konkreten Schutz­ umfangs und der Schutzreichweite einer Grundrechtsbestimmung identifi­ zieren lässt. Der Verfassungsinterpret hat bei der Lückenausfüllung somit Sorge zu tragen, dass sich eine neue Entwicklung möglichst schonend und möglichst sinnvoll in die grundrechtliche Schutzsystematik einfügt. Eine eigene begriffliche Legitimation für den „Verfassungswandel“ ist vor die­ sem Hintergrund weder unter dogmatischen noch unter methodischen As­ pekten angezeigt. Stattdessen gilt es, aus Gründen der Rechtssicherheit und terminologischer Klarheit auf derart nebulöse Rechtsbegriffe zu verzichten.

C. Methodische Anforderungen  an grundrechtliche Sinnerweiterungen Die Entfaltung der normativen Kraft grundrechtlicher Tatbestände voll­ zieht sich in entscheidendem Maße in ihrer zeitgemäßen Interpretation. Die Auslegung eines Rechtssatzes bedeutet geradezu, ihn um seiner Wirksam­ keit willen in die Zeit, also die öffentliche Wirklichkeit zu stellen.215 Vor­ nehmlich bei den Grundrechten fördert ihre generalklauselartige Verfasstheit die Entstehung von Auslegungsspielräumen für die Verfassungsinterpretati­ on. Der Interpretationsprozess selbst findet außerhalb des formellen Verfas­ sungstextänderungsverfahrens statt und wird vom Ideal geleitet, neue Ent­ wicklungen in möglichst schonender und sinnvoller Weise in die bisherige Schutzsystematik des Grundrechtskatalogs einzubinden. Dabei geht es im 215  Häberle,

ZfP  21 (1974), S. 111 (123 f.).



C. Methodische Anforderungen 57

Grunde niemals darum  –  anders als es die pauschale und kritikwürdige „Definition“ des „Verfassungswandels“ als Sinnänderung einer Verfassungs­ bestimmung suggeriert216  –, eine Abkehr von einer vom historischen Ver­ fassunggeber bezweckten Schutzrichtung im Sinne eines „Minus“ des bis­ herigen verfassungsrechtlichen Schutzniveaus vorzunehmen. Vielmehr zielt die Verfassungsinterpretation darauf ab, eine angemessene Sinnerweiterung des bisherigen Schutzumfangs, ein „Plus“ der verfassungsrechtlichen Ver­ bürgung herbeizuführen. Eine tatbestandliche Erweiterung lässt sich begriff­ lich zwar ebenfalls als eine Änderung des bisherigen Umfangs verstehen, dennoch bringt der Terminus der „Erweiterung“ das eigentliche Anliegen der Verfassungsinterpretation prägnanter zum Ausdruck, nämlich die sinn­ volle Weiterführung der vom historischen Verfassungsgeber bezweckten Sinngebung in ihren aktuellen zeitlichen Kontext. Durch diese Vorgehens­ weise gelingt es, jene Entwicklungen der Lebenswirklichkeit, die der histo­ rische Verfassungsgeber nicht vorhersehen konnte, die jedoch zur ursprüng­ lich intendierten Schutzrichtung eines bestehenden grundrechtlichen Tatbe­ stands eine offensichtliche Sachnähe aufweisen, in die Systematik des Grundrechtskatalogs zu inkorporieren. Die Möglichkeit einer allein durch Interpretation bewirkten Sinnerweiterung eines Grundrechtstatbestands kann aber nicht zuletzt auch verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen, birgt sie gelegentlich doch die Gefahr, die in gleichem Maße in der Verfassung ent­ haltene Funktion, nämlich Kontinuität, Vorhersehbarkeit und Sicherheit zu wahren, im Falle einer grenzenlosen Interpretationsmöglichkeit gänzlich zu nivellieren. Entscheidende Bedeutung für den verfassungsendogenen Vollzug einer tatbestandlichen Sinnerweiterung erlangt dann die Untersuchung des metho­ dischen Werkzeugs bzw. die Frage nach der richtigen Methode der Verfassungsinterpretation.217 Der Gesetzestext ist Träger eines in ihm niedergeleg­ ten, gleichsam aber verhüllten Sinns, den die Auslegung näher hervorbringen möchte.218 Die Aufgabe der Verfassungsinterpretation besteht folglich darin, in einem rationalen und kontrollierbaren Verfahren das verfassungsmäßig „richtige“ Ergebnis zu ermitteln und auf diese Weise Rechtssicherheit sowie 216  Vgl.

hierzu Teil  2  B.  I. AöR 101 (1976), S. 161 (161 f.): „Diese aktuelle Problematik beruht nicht so sehr […] auf verschiedenen Grundrechtstheorien, sondern wurzelt […] in der methodischen Elementarfrage, ob und inwieweit das Verfassungsrecht, vornehm­ lich die Grundrechte, vom Wandel der realen Wirklichkeit berührt werden, und sich ihre Konturen und Inhalte mit dieser Wirklichkeit im Wege juristischer Interpretati­ on wandeln und an diese Wirklichkeit anpassen lassen. Insofern sind die neueren Kontroversen nichts anderes als eine an sich überraschende Neuauflage des alten Methodenstreits um das Verhältnis von Rechtsnorm und Wirklichkeit; […]“. 218  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 313. 217  H. Rupp,

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

Vorhersehbarkeit zu gewährleisten.219 Die Frage nach einer geeigneten In­ terpretationsmethode zur Ermittlung des richtigen Sinns einer Verfassungs­ norm wird zum Hauptanliegen.220 Oft wird hierzu auf die Hermeneutik als Kunst der Auslegung, des Erklärens und Ausdrückens eines Textes zurück­ gegriffen, die ihren Ursprung in der Philosophie hat. Der Maßstab in der Rechtswissenschaft ist dagegen ein anderer, kommt es hier darauf an, tat­ sächliche Streitfälle am Maßstab des Rechts zu entscheiden, für die es verbindlicher Auslegungskriterien bedarf, welche insofern über rein philoso­ phische Erwägungen hinausgehen.221 Mit dem Erlass einer Rechtsnorm unterliegt diese unausweichlich einem Alterungsprozess. Zwischen ihrem Erlass und der Frage ihrer Anwendung können durchaus mehrere Jahrzehnte liegen, so vor allem bei der Auslegung von Grundrechten, die ganz überwiegend in ihrem Wortlaut seit dem Jahr 1949 unverändert bestehen. Angesichts der sich verändernden Lebenswirk­ lichkeit ist jede Auslegung bis zu einem gewissen Grad zeitgebunden.222 Auf der Ebene des Verfassungsrechts wird die Auslegung durch die beson­ dere Stellung des Grundgesetzes als Spitze der Normenhierarchie und seine besondere Öffnung für Werte nochmals erschwert. Die Frage nach einer speziellen verfassungsrechtlichen Methodenlehre war lange Zeit stark um­ stritten und ist auch heute nicht geklärt  – wenn eine Klärung überhaupt möglich ist223.

I. Allgemeiner Methodenstreit Bevor man sich speziell der Untersuchung einer Methode zur Verfassungs­ interpretation zuwendet, ist es für das Verständnis der dort anzutreffenden Theorien ratsam, einen kurzen Überblick über die Grundpositionen der „all­ gemeinen Methodenlehre“ im Umgang mit der Auslegung von Rechtsnormen zu verschaffen. Vertreten werden im Rahmen der allgemeinen Methodenlehre subjektive Theorien, welche das Ziel jeder Auslegung auf den historischen gesetzgeberischen Willens zurückführen, sowie objektive Theorien, die den normativen, objektiven Gesetzessinn ermitteln wollen.224 219  Hesse,

Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 51. Verfassungsentwicklung, S. 257. 221  Riedel, in: Festschrift für P. Schneider, S. 382 (385). 222  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 315; dazu ausführlich oben Teil  2 A. 223  Verneinend Pestalozza, Der  Staat  2 (1963), S. 425 ff., insb. S. 449; Wahl, in: ders., Verfassungsänderung, S. 29 (45); Walter, AöR  125 (2000), S. 517 (537); Grimm, in: Festschrift für E.  Benda S. 91 (100). 224  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 316 ff.; Rüthers/Fischer/ Birk, Rn. 471 ff. 220  Bryde,



C. Methodische Anforderungen 59

1. Subjektive Theorien Hinter jeder Rechtsnorm verbirgt sich ein rechtspolitischer Gestaltungs­ wille des Normgebers.225 Nach der subjektiven Theorie226 besteht das Ziel jeder Auslegung darin, die im Gesetz enthaltene Wertentscheidung des Normgebers, den wertenden Willensakt der normsetzenden Instanz zu ermit­ teln.227 Dabei bedient sie sich des Rückgriffs auf die von Savigny228 entwi­ ckelten Auslegungscanones. Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Systema­ tik der Verfassungsnorm komplementieren das methodische Grundgerüst jeder hermeneutischen, das heißt (gesetzes-)textorientierten Auslegung.229 Der Wortlaut markiert den Ausgangspunkt jeder Auslegung230, seine Grammatik ist aber nur begrenzt ergiebig und im Regelfall auf weitere Auslegungsmethoden angewiesen. Die historische Auslegung versucht den Normzweck aus dem Kontext seiner Entstehungsgeschichte heraus zu ver­ stehen, wobei hier vor allem die historisch-gesellschaftlichen Interessenvor­ stellungen, die parlamentarischen Beratungen und rechtspolitischen Absich­ ten des damaligen Gesetzgebers zu berücksichtigen sind.231 Eine systema­ tische Auslegung stellt hingegen den Bezug der einzelnen Norm zum ­Gesamtsystem  –  äußere Systematik  – und zu anderen Vorschriften eines Regelungsbereichs  –  innere Systematik  – her. Dabei steht insbesondere der Gedanke einer widerspruchsfreien und logischen Rechtsordnung im Vorder­ grund.232 Die verschiedenen Auslegungsmethoden unterstützen und ergänzen sich gegenseitig. Zudem unterliegen sie im Falle „gesunder“ Gesetze, mithin in den Fällen, wo der auszulegende Gesetzestext den Regelungsgegenstand und Normzweck klar zum Ausdruck bringt, keiner besonderen Stufenfolge.233 Et­ was anderes gilt für „mangelhafte“ Gesetze, die keinen klaren Regelungsge­ danken und damit einen „unbestimmten Ausdruck“ enthalten. Hier kommt es darauf an, den systematischen Gesamtzusammenhang der Norm sowie den bei der Gesetzgebung verfolgten Regelungszweck zu identifizieren und eine 225  Rüthers/Fischer/Birk,

Rn. 136 ff. Vertreter sind v. Savigny, Windscheidt und Heck, vgl. die Nachweise bei Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 160 f.; in jüngerer Zeit vor allem Rüthers/Fischer/Birk, Rn. 806 ff. 227  Rüthers/Fischer/Birk, Rn. 722. 228  v. Savigny, Juristische Methodenlehre, S. 11 ff. 229  Rüthers/Fischer/Birk, Rn. 725 ff. 230  Rüthers/Fischer/Birk, Rn. 731. 231  Rüthers/Fischer/Birk, Rn. 780 ff. 232  Rüthers/Fischer/Birk, Rn. 746 ff. 233  Savigny, System des heutigen römischen Rechts, S. 222; zur oftmals missver­ standenen Methodenkonzeption Savignys siehe Rüthers/Fischer/Birk, Rn. 701. 226  Wichtige

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

Folgenabschätzung vorzunehmen. Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Sys­ tematik stehen in diesen Fällen in einer abgestuften Folge.234 Oftmals werden die drei klassisch-hermeneutischen Auslegungsmethoden um eine teleologische Auslegungsmethode ergänzt, die nach dem Sinn und Zweck (das „Telos“) einer Regelung fragt. Eine solche Vorgehensweise verkennt jedoch Zielrichtung eines jeden Auslegungsprozesses.235 Besteht diese nun gerade darin, den Sinn und Zweck einer Norm innerhalb des Gesamtsystems „Verfassung“ zu ermitteln, so wird die teleologische Ausle­ gungsmethode zur bloßen Hülse. In dem konkreten, ursprünglich nicht er­ fassten Fall fehlt es regelmäßig an einem eindeutig feststellbaren Sinn einer Norm.236 Die teleologische Auslegungsmethode beruht insofern auf einem Zirkelschluss237 und ist nicht als eigene Auslegungsmethode des hermeneu­ tischen Kanons anzusehen, sondern betrifft stattdessen das Ergebnis der Auslegung selbst. 2. Objektive Theorien Die objektive Theorie238 möchte im Unterscheid zur subjektiven Theorie einen objektiven, das heißt dem Gesetz selbst innewohnenden, „Willen“ er­ schließen.239 Die Norminterpretation habe sich danach zu orientieren, was das Gesetz vernünftigerweise zum Ausdruck bringen will.240 Entscheidend sei nicht ein rückwärtsgewandtes Vorgehen, sondern eine gegenwartsbezoge­ ne Auslegung, die eine Antwort auf die Frage finden soll, wie die konkrete, zur Auslegung stehende Norm ein bisher ungeregeltes Problem im Kontext ihres heutigen Verständnisses, ihres zeitgemäßen Sinn und Zwecks nach lö­ 234  Savigny,

System des heutigen römischen Rechts, S. 225, 228. Rn. 730a. 236  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 57. 237  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 68; Rüthers/Fischer/Birk, Rn. 730a. 238  Als Begründer der objektiven Theorie wird Thibaut, § 9 angeführt. Nachwei­ se zu weiteren Anhängern bei Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 161 f. Die Kritik an einer strikten Anwendung der herkömmlichen Auslegungsca­ nones einhergehend mit einer Forderung nach einer Öffnung der Interpretation für Werte erfolgte maßgeblich unter dem Einfluss der Freirechtsschule, zu deren be­ kanntesten Vertretern Ehrlich, in: Rehbinder, S. 170 ff., Fuchs, Was will die Frei­ rechtsschule? und Kantorowicz, Der Kampf um die Rechtswissenschaft zählen. Auch wenn die Werteorientierung eine wichtige Auslegungsmaxime darstellt, lassen sich viele Methodenansätze der Freirechtsschule, wie z. B. von A. Kaufmann, Rechtsphi­ losophie im Wandel, S. 251 ff., dennoch vornehmlich einer hermeneutisch- bzw. text-orientierten Strömung der Verfassungsinterpretation zuweisen. 239  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 316. 240  Larenz, Richtiges Recht, S. 155. 235  Rüthers/Fischer/Birk,



C. Methodische Anforderungen 

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sen würde. Mit ihrem Erlass unterliege die Norm einer eigenen Wirksamkeit, die über die Intention des Gesetzgebers hinausgehen könne.241 Wenn die ur­ sprünglichen Vorstellungen des historischen Verfassungsgebers überholt er­ scheinen, ist die objektive Theorie somit durchaus in der Lage, eine Wandel­ barkeit des Normzwecks zu erklären.242 Die Begründung jener Abweichun­ gen vom historischen Normzweck erfolgt maßgeblich unter Rekurs auf sog. objektiv-rechtliche Kriterien.243 Bei diesen handelt es sich um objektive Zwecke des Rechts, beispielsweise der Gerechtigkeit oder Ausgewogenheit einer Regelung, die wesentliche Berücksichtigungsfaktoren für die Willenser­ mittlung der sich gegenüberstehenden Interessen und das Streben des Rechts nach Sachgemäßheit und Angemessenheit an die Hand geben.244

II. Methodisches Zwei-Stufenmodell bei Einbezug des Zeitfaktors Im Methodenstreit zwischen subjektiver und objektiver Theorie spiegelt sich im Kern abermals die verfassungstheoretische Problemstellung zum Verhältnis von Lebenswirklichkeit und Verfassungsrecht, von Zeit und Recht, wider.245 Die Verfassungstheorie determiniert geradezu die Methode der Verfassungsinterpretation.246 Während sich die subjektive Auslegungs­ methode in die Zeit der Gesetzesentstehung zurückversetzt, betrachtet die objektive Theorie den aktuellen „Willen“ einer Norm in der Gegenwartssi­ tuation. Je nach angewandter Theorie erzeugt die Auslegung somit vor­ nehmlich eine Statik oder Dynamik des Rechts. Dabei darf nicht verkannt werden, dass auch die objektive Theorie den Ausgangspunkt eines Interpre­ tationsvorgangs zunächst in der Ermittlung des gesetzgeberischen Norm­ zwecks sucht. Es würde gewiss zu weit gehen, dem historischen Normzweck und deutlich gewordenen Regelungsabsichten des Gesetzgebers jede Bedeu­ tung für die Auslegung abzusprechen.247 Weiterhin fordern der Grundsatz der Gewaltenteilung, die Gesetzesbin­ dung und das Demokratieprinzip, den Norminhalt soweit wie möglich zu 241  Larenz,

Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 317. Rn. 797 formuliert herausfordernd: „Die objektive The­ orie geht dagegen von der Vorstellung aus, das Gesetz reiße sich mit der Publika­tion vom Gesetzgeber los und sei fortan selbstständig, so daß der Wille der Normsetzer gleichgültig werde. Das Gesetz sei oft klüger als diejenigen, die es schufen.“ 243  Rüthers/Fischer/Birk, Rn. 801. 244  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 333 ff. 245  Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S. 164 f. 246  Ausführlich Volkmann, Der  Staat  54 (2015), S. 35 (35 ff.), insb. S. 48, 52 f. 247  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 318, 350 ff. 242  Rüthers/Fischer/Birk,

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

erfassen.248 Der Richter muss zunächst einmal feststellen, worin der histo­ rische Regelungszweck einer Norm besteht. Diese Kenntnisnahme ist unver­ zichtbare Voraussetzung zur Begründung möglicher Abweichungen.249 Im Anschluss daran ist darzulegen, inwieweit der Gesetzgeber eine neu zu beurteilende Situation nicht in seine damaligen Erwägungen hat einfließen lassen  –  inwieweit also eine „Lücke“ vorliegt  – und wie diese Lücke nun im Wege richterlicher Rechtsfortbildung zu schließen ist. Erst auf der zweiten Stufe ist der Zeitfaktor  –  als Konsequenz des Alte­ rungsprozesses eines Gesetzes seit seinem Erlass – zu berücksichtigen. Nun ebnet im Sinne der objektiven Theorie die ergänzende Bezugnahme auf objektiv-rechtliche Leitprinzipien den Weg für eine mögliche Anpassung des Sinns an die Wirklichkeit. Um den Ausnahmecharakter einer Abwei­ chung Rechnung zu tragen, hängt die Bezugnahme auf objektiv-rechtliche Kriterien von besonderen Voraussetzungen ab, so beispielsweise, wenn ein Verstoß gegen heutige Verfassungsgrundsätze oder anerkannte Rechtsprinzi­ pien droht. In Betracht kommen überhaupt nur grundlegende Bedeutungs­ wandel und tiefgreifende Veränderungen.250 Sie müssen zu einem Span­ nungsverhältnis führen, das ausnahmsweise nach einer Anpassung drängt, weil die Unzulänglichkeiten des bisherigen Gesetzesverständnisses evi­ dent251, weil sie untragbar252 geworden sind.

III. Methode der Verfassungsinterpretation Sind bereits auf einfach-rechtlicher Ebene die Methodenfragen umstritten und die wissenschaftliche Annäherung eine anspruchsvolle und schwierige Aufgabe, so werden sie auf Ebene der Verfassungsinterpretation noch kom­ plexer. Insbesondere in den 1970er Jahren wurde in einer Vielzahl an Pub­ likationen eine emotionale Diskussion geführt, die große Divergenz im wissenschaftlichen Schrifttum zur Folge hatte.253 Generell werden zwei große Strömungen der Verfassungsinterpretation, die sog. textorientierte bzw. hermeneutische und die problemorientierte bzw. topische Auslegung unterschieden.

248  Rüthers/Fischer/Birk,

Rn. 730c. S. 489; Ossenbühl, in: Festschrift für H. Zacher, S. 673 (683). 250  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 353. 251  Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 350. 252  Diederichsen, in: Festschrift für K.  Larenz, S. 155 (177). 253  Siehe die Nachweise bei Riedel, in: Festschrift für P.  Schneider, S. 382 (382 f.); überblicksartig auch R. Dreier, in: ders./Schwegmann, S. 13 (13 ff.). 249  Fischer,



C. Methodische Anforderungen 

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1. Hermeneutisch-textorientierte Auslegung Die textorientiert-hermeneutische Auslegungsmethode bedient sich auch im Rahmen der Auslegung von Verfassungsnormen der von Savigny254 ent­ wickelten Auslegungscanones. In einer besonders strengen Variante255 wird gar auf eine Differenzierung nach der Rechtsnatur von Verfassungsrecht und einfachem Recht gänzlich verzichtet und ausschließlich die hermeneutischen Auslegungsmethoden im Wege des syllogistischen Schlusses auf die Verfas­ sungsinterpretation angewendet.256 Eine schlichte Übertragung des Metho­ denkanons sieht sich indes vielfältiger Kritik ausgesetzt.257 Gerade im Be­ reich des Verfassungsrechts fehlt es an eindeutigen, imperativen „wenndann“-Regeln, vielmehr ist das Grundgesetz durchwoben von vagen, abs­ trakten und ausfüllungsbedürftigen Prinzipien sowie von Grundsätzen mit unmittelbaren Wertbezügen.258 Vor allem im Grundrechtskatalog trifft man fast ausschließlich auf abstrakte Regelungen, deren weitläufige Normierung den materiellen Grundkonsens zum Ausdruck bringt, auf den sich der his­ torische Verfassungsgeber einigen konnte. Diese Bestimmungen sind selbst zu konturenlos  –  Böckenförde spricht gar von „Lapidarformeln“259  –, um sie auf einen Streitfall unmittelbar anzuwenden. Ihre Wertausfüllungsbedürf­ tigkeit fordert stets, die konkreten Gehalte überhaupt erst im Wege der In­ terpretation hervorzubringen.260 Diese Werteinmaligkeit des Verfassungs­ rechts betonte schon Hsü.261 Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass Savigny seine Methodenlehre ausschließlich für das Zivilrecht entwickelte, das sich anders als die offenen Grundrechtstatbestände durch eine exaktere, detailreichere Struktur aus­ zeichnet. In seinen Abhandlungen werden keine Anhaltspunkte für die 254  v. Savigny,

Juristische Methodenlehre, S. 11 ff. in: Festschrift für C.  Schmitt, S. 35 ff.; in diese Richtung aus jün­ gerer Zeit Hillgruber, VVDStRL  67 (2008), S. 8 (43 ff.). Wohl auch Gröpl/Georg, AöR  139 (2014), S. 125 (133 ff.), die sich für eine subjektiv-konstituierende, an historischen Zwecken orientierte Auslegungsmethode aussprechen. 256  Dazu Riedel, in: Festschrift für P. Schneider, S. 382 (385); Larenz, Methoden­ lehre der Rechtswissenschaft, S. 361; P. Schneider, VVDStRL  20 (1963), S. 45 (45 f.); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 53; Böckenförde, NJW  1976, 2089 (2090). 257  Vgl. insbesondere die Erwiderung auf Forsthoff von Hollerbach, AöR  85 (1960), S. 241 (241 ff.); ferner Ehmke, VVDStRL  20 (1963), S. 53 (64); Böcken­ förde, NJW  1976, 2089 (2090 f.). 258  Riedel, in: Festschrift für P.  Schneider, S. 382 (386 f.). 259  Böckenförde, NJW  1976, 2089 (2091). 260  Riedel, in: Festschrift für P.  Schneider, S. 382 (386); Wolff, S. 162 ff. 261  Vgl. Hsü, S. 158. 255  Forsthoff,

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

Übertragbarkeit auf das öffentliche Recht erwähnt.262 Durch seine höhere Geltungsstufe weist das Grundgesetz ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber sonstigem Recht auf. Es bildet die normative Leitlinie der gesamten Rechts­ ordnung. Demzufolge fehlt der Verfassung die Einbettung in strukturgleiche Systeme.263 Eine schlichte Gleichsetzung von Verfassung und einfachem Gesetz sowie die damit verbundene bloße Übertragung der Auslegungsme­ thoden des einfachen Rechts für die Verfassungsinterpretation verbieten sich vor diesem Hintergrund.264 Im Laufe der Diskussionen um die Methode der Verfassungsinterpretation kam man stattdessen zunehmend dahin überein, die Sinnermittlung der Verfassung nicht allein aus der Hermeneutik heraus, aus dem Text selbst zu erklären. Sie habe vielmehr unter Bezugnahme auf Interessen, Zwecke und Werte zu erfolgen265, sodass die Verfassungsinter­ pretation infolgedessen erstmals eine stärkere soziale Komponente auf­ wies.266 Solche Entwicklungen sind als eine Verlagerung zur objektiven Theorie zu deuten.267 Generell herrscht heute bei der Frage nach der Methodik der Verfassungs­ interpretation weniger Streit zwischen subjektiven und objektiven Ausle­ gungsmethoden, sondern die wissenschaftliche Auseinandersetzung konzen­ triert sich unter Anerkennung des Grundgesetzes als verfassungsrechtliches Wertesystem auf die methodischen Anforderungen innerhalb einer objekti­ ven Sichtweise. So ist die textorientierte-hermeneutische Strömung, wie sie heute teilweise vertreten wird, von einem systemischen Denken geprägt. Ihr liegt der Gedanke zugrunde, das im Grundgesetz enthaltene Wertesystem sei logisch-axiomatisch aufgebaut und werthierarchisch untergegliedert. Exem­ plarisch zeigt sich ein solches Verständnis bei der Institutionenlehre Hauri­ ous, wonach jede Rechtsordnung normativ gesetzte Leitideen enthalte, die in einem sozialen Milieu Verwirklichung und Rechtsbestand fänden.268 Jene Leitideen seien in Institutionen verankert, welche wiederum durch Grün­ dungsvorgänge entstünden, die der Institution ihre Rechtsgrundlage vermit­ telten und ihren Fortbestand sicherten.269 Vornehmlich im Grundgesetz seien verschiedene Leitideen und Institutionen verortet, die ein werthierarchisches System transportierten. 262  Riedel, in: Festschrift für P.  Schneider, S. 382 (386); Pestalozza, Der  Staat  2 (1963), S. 425 (434). 263  Böckenförde, NJW  1976, 2089 (2091). 264  Riedel, in: Festschrift für P.  Schneider, S. 382 (386); Kielmansegg, S. 15. 265  Riedel, in: Festschrift für P.  Schneider, S. 382 (387 f.). 266  Riedel, in: Festschrift für P.  Schneider, S. 382 (388). 267  Schneider, VVDStRL  20 (1963), S. 45 (46). 268  Dazu Riedel, in: Festschrift für P.  Schneider, S. 382 (389). 269  Hauriou, S. 27 (35).



C. Methodische Anforderungen 

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2. Topisch-problemorientierte Auslegung Anders geht die zweite große Strömung270 der Verfassungsinterpretation vor. Sie verneint einen hierarchischen Systembezug des Grundgesetzes und stützt sich auf eine aporetische Denkweise.271 Die sog. dynamisch-topische Auslegung erfolgt problembezogen, ist auf den Einzelfall zugeschnitten und erfordert einen wertenden Argumentationsprozess272, für den sie sich be­ stimmter Prämissen bedient. Das bedeutet, es werden zusätzliche, den Ar­ gumentationsprozess vorbereitende und steuernde Gesichtspunkte in die Auslegung einbezogen. Jeder Interpret trete mit einem bestimmten Vorver­ ständnis an die Auslegung einer Norm heran273, wobei die das Vorverständ­ nis bestimmenden Gesichtspunkte als Leitprinzipien oder Topoi bezeichnet werden können. Jene seien im Laufe der Menschheit entstanden und als solche unerlässliche Voraussetzungen für ein gedeihliches menschliches Zusammenleben der Bürger.274 Dazu gehören maßgeblich Gerechtigkeitser­ wägungen, die in der Menschenwürde oder dem Minderheitenschutz Aus­ druck finden. Den Prinzipien komme eine leitende und begrenzende Wir­ kung zu, sie kennzeichneten den vorherrschenden Grundkonsens über einen bestimmten Norminhalt.275 In einer solchen Betrachtung manifestieren sich insbesondere Grundansätze der Smend’schen Integrationslehre, wonach die Grundrechte – neben ihrer subjektiv-rechtlichen Funktion – ein „Wert- oder Güter, ein Kultursystem normieren“.276 Topische Ansätze finden sich folg­ lich besonders bei den Anhängern eines zeitgeprägten Verfassungsverständ­ nisses.277 Die Topik ziele darauf ab, die Meinungsbildung durch plausible und nachvollziehbare Erörterung der im konkreten Fall relevant werdenden Leit­ prinzipien transparenter auszugestalten und die verschiedenen Topoi in ei­ 270  So Viehweg, Topik und Jurisprudenz; Esser, Vorverständnis und Methoden­ wahl; Esser, Grundsatz und Norm; Struck, Topische Jurisprudenz. 271  Dazu Riedel, in: Festschrift für P.  Schneider, S. 382 (391); Böckenförde, NJW  1976, 2089 (2091 ff.). 272  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 64, 66. 273  Grundlegend Gadamer, S. 307 ff.; siehe auch Ehmke, VVDStRL  20 (1963), S. 53 (56); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 62. 274  Brohm, NJW  2001, 1 (6). 275  Seifert, Das Grundgesetz und seine Veränderung, S. 9 spricht von „basic prin­ ciples“. 276  Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 119 (264). Teilweise wird die Auffassung Smends als eine „dritte“ Strömung der Verfassungsinterpretation in Form eines sog. wirklichkeitsorientierten Ansatzes verstanden, vgl. Böckenförde, NJW  1976, 2089 (2094) und Riedel, in: Festschrift für P.  Schneider, S. 382 (398). 277  Hierzu bereits oben Teil  2 A.  III.  2.

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

nem Diskurs gegeneinander abzuwägen.278 Am Ende des topischen Prozes­ ses stehe daher  –  anders als bei den systembezogenen hermeneutischen Ansätzen  –  kein axiomatisch-deduktives, sondern ein komparatives Ergebnis279, mit der Folge, dass die Verfassungsinterpretation offener wird. Sie durchbricht einen strikten Methodensynkretismus und ermöglicht Einzelfall­ gerechtigkeit, die am Wortlaut nicht zwingend Halt macht. Bei dieser Methode liegen Stärke und Angriffspunkt nun darin, dass zwar dem Hauptanliegen der Verfassungsinterpretation, nämlich der Gewinnung eines verfahrensmäßig „richtigen“ Ergebnisses aufgrund eines für jedes Problem individuell stattfindenden Abwägungs- und Argumentationsprozes­ ses, besser Rechnung tragen lässt, die Einzelfallgerechtigkeit aber um den Preis der Berechenbarkeit des Auslegungsergebnisses und der damit verbun­ denen Rechtssicherheit erfolgt. Besondere Gefahr birgt dies vor allem dann, wenn die Verfassung, das heißt die in ihr enthaltenen, bewusst an die Spit­ ze der nationalen Normenhierarchie gerückten Bestimmungen, selbst nur zu einem Topos neben anderen werden. Die dynamisch-topische Interpretati­ onsmethode erfährt hier eine unbegrenzte Offenheit, die Verfassung wird sinnbildlich zu einem offenen Gefäß.280 3. Auslegungsmaxime: Normativ gebundene Topik Ein tauglicher Ansatz einer methodengerechten Verfassungsinterpretation besteht daher in der Kombination der hermeneutisch-textorientierten und topisch-problemorientierten Strömungen, welche die jedem Ansatz vorteil­ haften Gemeinsamkeiten281 integriert. Häberle schlägt als „vermittelnde“ Vorgehensweise eine sog. offene Auslegung vor282, welche sich an verfas­ sungsrechtlichen Prinzipien ausrichtet, zugleich aber die bisherigen herme­ neutischen Auslegungsmethoden einbezieht. Ziel der Auslegung sei stets ein vernünftiger Interessenausgleich.283 Offene Auslegung könne auch den normativen Rahmen überwinden, sie mache nicht zwangsläufig am Wortlaut Halt, sondern die entstehungsgeschichtliche Auslegungsmethode werde zur entwicklungsgeschichtlichen.284 278  Riedel,

in: Festschrift für P.  Schneider, S. 382 (392 ff.).

279  Ebenda.

280  Böckenförde, NJW  1976, 2089 (2092 f.). Sofern man die wirklichkeitsorien­ tierte Auslegung von Smend als eigenständige Interpretationsmethode behandelt, ist dieser ebenfalls der Vorwurf unbegrenzter Offenheit entgegenzuhalten, vgl. Böckenförde, NJW  1976, 2089 (2095). 281  Näher Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 257. 282  Häberle, ZfP  21 (1974), S. 111 (121 ff.). 283  Häberle, ZfP  21 (1974), S. 111 (121). 284  Häberle, ZfP  21 (1974), S. 111 (125).



C. Methodische Anforderungen 

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Bei einer solchen Konzeption wird eine Nähe zur rein topischen Interpre­ tation deutlich. Zwar trägt der durchzuführende Argumentations- und Abwä­ gungsprozess dazu bei, eine konkrete Falllösung transparenter erscheinen zu lassen, indem beispielsweise Vergleichsmaßstäbe herangezogen und die In­ terpretation dadurch insgesamt offener wird.285 Diese Vorgehensweise birgt jedoch  –  wie bereits die Ansätze zur Weimarer Zeit zeigten  – die Gefahr einer schier grenzenlosen Interpretationsbefugnis. Der zu befürchtenden Ausuferung lässt sich nun aber mit den Mitteln des hermeneutischen Aus­ legungskanons Einhalt gebieten. Topik und Hermeneutik gehen hierbei sukzessive ineinander auf.286 Im Lichte dieser Entwicklungen und unter Betonung der Problemorientie­ rung jedes Auslegungsvorgangs steht die von Hesse entwickelte Interpreta­ tionsmethode einer normativ gebundenen Topik.287 Danach handele es sich in jedem Anwendungsfall der Verfassungsinterpretation um eine Konkreti­ sierung der Verfassung, denn eine Auslegung der Verfassung im zeitlichen Verlauf solle gerade denjenigen Verfassungsinhalt zutage fördern, der sich bisher noch nicht eindeutig manifestiert habe.288 Verfassungskonkretisierung setze ein Verstehen des Inhalts der zu konkretisierenden Vorschrift voraus, das sich nur aus dem Kontext des jeweils zu behandelnden konkreten Problems sowie aus dem Vorverständnis des Interpreten erschließe.289 Am An­ fang jeder Auslegung stehe der tatsächliche Fall, ergo ein Problem und nicht der Text.290 Im Vorverständnis spiegele sich der Zeitgeist wider. Nach Hesse wohnt der Verfassungsinterpretation nicht nur eine nachzeichnende, sondern durchaus auch eine schöpfende Kraft inne.291 Die Notwendigkeit der Verfassungsinterpretation werde immer nur dann akut, wenn das verfas­ 285  Riedel,

in: Festschrift für P.  Schneider, S. 382 (393). in: ders./Schwegmann, S. 13 (29); Schenke, NJW  1979, 1321 (1323). In Abkehr von einem unpolitisch-liberalen Verständnis, welches die Grund­ rechte ausschließlich als subjektive Abwehrrechte betrachtet, hin zur Anerkennung einer objektiv-rechtlichen Werteordnung und einem damit einhergehenden politischsozialen Grundrechtsverständnis zeigt sich die besondere Bedeutung von Werten und Prinzipien im Verfassungsrecht, vgl. dazu Michael/Morlok, Rn. 20 f. Verfas­ sungsrechtliches Denken ist stets Problemdenken, sodass durchaus eine Orientie­ rung an der topischen Grundstruktur zu erfolgen hat, vgl. Ehmke, VVDStRL  20 (1963), S. 53 (62). Prinzipien werden im Verfassungsrecht zu Hilfsmitteln der Hermeneutik, vgl. Ehmke, VVDStRL  20 (1963), S. 53 (72). Eine strikte Trennung zwischen klassisch-hermeneutischen und dynamisch-topischen Ansätzen sollte da­ her nicht stattfinden. 287  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 67. 288  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 60. 289  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 61 ff. 290  Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, § 42. 291  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 60. 286  R. Dreier,

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

sungsrechtliche Schutzniveau unklar sei, also nicht bereits eindeutige Rege­ lungen enthalte, denn der historische Verfassungsgeber habe diesen spezifi­ schen Fall gar nicht erfasst, entsprechend lasse sich sein exakter Wille in jener konkreten Situation der Gegenwart offenkundig nicht hinreichend er­ forschen. Es komme daher den Topoi der Verfassung herausragende Bedeutung zu, könnten sie doch im Einzelfall, aufgrund des mit der Generierung eines Ergebnisses verbundenen Darlegungs- und Begründungsaufwands, aufzei­ gen, warum eine Lösung sachgerechter als eine andere sein könne.292 Da diese Lösung jedoch nicht im eindeutigen Widerspruch zum Normtext ste­ hen dürfe, verkörpere die Wortlautgrenze die rationalisierende, stabilisieren­ de und machtbegrenzende Funktion der Verfassung. Sie ermögliche inner­ halb ihrer Sinndeutungen den Wandel der Verfassungsnorm, schließe aber zugleich Verfassungsdurchbrechungen im Sinne einer Abweichung vom Normtext aus.293 Die Breite der Verständnismöglichkeiten eines Textes ste­ cke das Feld topischer Interpretationsmöglichkeiten ab.294 Die Topik werde durch die hermeneutischen Auslegungsmethoden, allen voran durch die grammatikalische Auslegung, begrenzt. 4. Stellungnahme Mit der Methode der normativ gebundenen Topik wird dem Verfassungs­ interpreten ein überzeugender Maßstab an die Hand gegeben.295 Angesichts der oftmals fehlenden Rekonstruierbarkeit eines vermeintlichen Willens des Verfassungsgebers bedarf es eines methodengerechten Interpretationsansat­ zes, welcher dem integrativen Charakter des Grundgesetzes als Rahmenord­ nung der von ihm zu ordnenden Lebenswirklichkeit angemessen Rechnung trägt. Selbst in solchen Fällen, in denen sich ein bestimmtes Vorstellungsbild des historischen Verfassungsgebers einigermaßen valide rekonstruieren lässt, bleibt die Frage ungeklärt, ob der historische Verfassungsgeber unter der Prägekraft des wiederum heute vorherrschenden Zeitgeistes seine damalige Willensbildung möglicherweise anders rezipiert hätte. Hierin zeigt sich die Schwäche einer Interpretationsmethodik, welche sich ausschließlich auf den Willen des historischen Verfassungsgebers und der historischen Auslegungs­ methode beruft.296 Bei der Auslegung verfassungsrechtlicher Bestimmungen, 292  Hesse,

Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 67. Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 77. 294  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 78. 295  So auch v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, S. 54 ff.; Schenke, NJW  1979, 1321 (1322 f.); Kielmansegg, S. 17. 296  Kielmansegg, S. 19; dazu schon oben Teil  2 A.  III.  2. 293  Hesse,



C. Methodische Anforderungen 

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zumal im Bereich der weitläufigen Grundrechtstatbestände, stoßen die klas­ sischen Auslegungsmethoden an ihre Grenzen. Die Zeitgeprägtheit des Verfassungsrechts fordert eine dem Einzelfall gerecht werdende Entschei­ dung. Diesem Erfordernis lässt sich allein durch Öffnung der Interpretation zur Topik auf angemessene Weise nachkommen. Die Identifikation von re­ levanten Leitprinzipien, ihre Abwägung und vor allem die Begründung dieses Prozesses rücken somit in den Fokus der Verfassungsinterpretation.297 Auf der anderen Seite gilt es, den Rekurs auf Topoi entsprechend zu be­ grenzen und zu steuern.298 Das Abstecken des Interpretationsrahmens für eine tatbestandliche Sinner­ weiterung hat in klassischer textorientierter Auslegung zu erfolgen, um den Verfassungstext in einem ersten Schritt durch die herkömmlichen Ausle­ gungsmethoden, also einer Analyse des Wortlauts, der Historie sowie der Systematik, zu konkretisieren. Dies trägt dazu bei, mögliche Sinnvarianten in dem vom Verfassungstext abgedeckten Spielraum zu präzisieren.299 Hier­ durch wird das Normprogramm festgelegt. Unter Rekurs auf die von Mül­ ler300 eingeführte Terminologie ist dieses vom Normbereich zu unterschei­ den. Während der Normbereich den von der Norm geregelten Ausschnitt der sozialen Wirklichkeit erfasst, legt das Normprogramm innerhalb dieses Bereichs fest, welcher Ausschnitt der Wirklichkeit dem verfassungsrechtli­ chen Schutzbereich unterfällt. Das im Zuge eines strukturierten Interpretati­ onsvorgangs ermittelte Normprogramm ist dann aus dem Normbereich her­ auszuschneiden.301 Erste Konturen für die Festlegung des Normprogramms legen die herkömmlichen Auslegungscanones fest. Ihre Anwendung bildet die Richtschnur, inwieweit Dynamisierungsprozesse der Lebenswirklichkeit zu einer verfassungsrechtlichen Reflexion, das heißt einer tatbestandlichen Sinnänderung, führen oder nicht.302 Gerade dort, wo das Normprogramm bewusst auf soziale Strukturen verweist  –  allem voran bei den offenen Grundrechtstatbeständen  –, werden Sachgesichtspunkte der sozialen Wirk­ lichkeit zugleich zu Determinanten der Normkonkretisierung.303 Verfas­ sungsinterpretation in methodischer Form der normativ gebundenen Topik liegt also ebenfalls ein zweistufiges Vorgehen304 analog dem oben bereits 297  Bryde,

Verfassungsentwicklung, S. 273. AöR  103  (1978), S. 566 (587 ff.). 299  Bleckmann, § 8 Rn. 38. 300  Müller, Normstruktur und Normativität, S. 117 f.; Müller/Christensen, Rn. 230 ff., 485 ff. 301  Müller/Christensen, Rn. 485. 302  Dazu Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 259 f. 303  Müller/Christensen, Rn. 230 ff., 490. 304  Andeutung bereits bei Husserl, S. 26, der zunächst auf die historische Ausle­ gung als Ausgangspunkt abstellt, um von hier aus mögliche Veränderungen aufzu­ 298  Schenke,

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

allgemein entwickelten Zwei-Stufen-Modell der Interpretation von Rechts­ normen305 zugrunde: Dies bedeutet folglich für den Vorgang der Verfassungsinterpretation: In einem ersten Schritt hat stets eine textorientierte Auslegung des Normpro­ gramms anhand der herkömmlichen hermeneutischen Auslegungsmethoden stattzufinden. Sie sind Ausgangspunkt jeder Interpretation und im Sinne eines Optimierungsgebots306 bestmöglich anzuwenden. Zunächst ist stets der Wille des historischen Verfassungsgebers zu ermitteln.307 Das auf diese Weise gefundene Ergebnis des historischen Willens ist gegebenenfalls auf­ grund des zeitlichen Anpassungsdrucks in einem zweiten Schritt durch die Orientierung an Leitprinzipien zu ergänzen bzw. zu korrigieren. Die Leit­ prinzipien wirken innerhalb eines Dynamisierungsprozesses als treibende Faktoren. Erst in diesem Zusammenspiel einer an Leitprinzipien ausgerichteten, problemorientierten Auslegung und dem durch die klassischen, textorientier­ ten Auslegungscanones vorgegebenen normativen Rahmen wird dem Verfas­ sungsinhalt  –  trotz der zu konzedierenden Komplexität308 dieses Vorge­ hens  – zu optimaler Wirkungskraft im jeweiligen Einzelfall verholfen. Es bewirkt in begründeten Fällen eine Sinnerweiterung eines Grundrechtstatbe­ stands, wenngleich die Anforderungen hoch sind: Der Verfassungsrechtler muss mit Blick auf seine Einstellung zum Zeitfaktor zunächst immer „kon­ servativ“ sein309, es gilt somit zunächst stets die Vermutung, dass bisher zeigen, wonach die Norm „mit der Zeit mitgehen“ kann. Ähnlich Ossenbühl, in: Festschrift für H. Zacher, S. 673 (683). 305  Siehe oben Teil  2  C.  II. 306  Vgl. BVerfG, NJW  2012, 669 (670). 307  Die Ausführungen des BVerfG zum methodischen Auslegungsprogramm sind insofern missverständlich, wenn es in BVerfGE 1, 299 (312). heißt: „Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzes­ bestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsver­ fahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung. Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift kommt für deren Ausle­ gung nur insofern Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach den angegebenen Grundsätzen ermittelten Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem ange­ gebenen Weg allein nicht ausgeräumt werden können.“ Der objektive Willen, ergo der Sinn eines Tatbestands, kann sich zwar möglicherweise im Zeitverlauf verän­ dern, aus Gründen der Nachvollziehbarkeit eines Wandels muss jedoch zunächst sein ursprünglicher Sinngehalt identifiziert werden. Nur auf diese Art wird ein transpa­ rentes methodisches Vorgehen gewährleistet. 308  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 258. 309  Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3  I Rn. 195.



C. Methodische Anforderungen 71

jedenfalls noch keine Erweiterung eingetreten ist. Die Begründung für eine tatsächliche Sinnerweiterung unter Einbezug entsprechender Leitprinzipien als Dynamisierungsfaktoren erfordert Plausibilität und steht in einem argu­ mentativen Bezug zum Verfassungstext.310 Sie hat sich jedenfalls innerhalb der Deutungsbreite des Wortsinns zu bewegen.311 Die Sinnerweiterung eines Grundrechtstatbestands kann einzig das Ergebnis einer umfassenden Abwä­ gung sein. Sie bedarf der deutlichen Auseinandersetzung mit den jeweils relevanten Topoi, die als Dynamisierungsfaktoren den ursprünglichen Zu­ stand überholen.

IV. Dynamisierungsfaktoren Die Frage der zeitgemäßen Interpretation von Rechtsnormen stellt sich insbesondere dann, wenn mit dem Zeitgeist die kollektiven Gerechtigkeitsund Wertevorstellungen eine signifikante Wandlung erfahren.312 Es besteht in diesen Fällen ein gesellschaftliches Bedürfnis nach Überholung des gel­ tenden Rechts, von dem auch die verfassungsrechtlichen Bestimmungen nicht ausgenommen sind. Wandlungen des Zeitgeistes führen somit zu Wandlungen das Rechtsbewusstsein, zu veränderten Vorstellungen von Mo­ ral und Gerechtigkeit. Die Dynamisierungsprozesse im Bereich grundrecht­ licher Tatbestände ereignen sich in diesem Kontext. Ihr übergeordnetes Ziel dient folglich stets der Wahrung und Anpassung gesellschaftlicher Gerech­ tigkeitsvorstellungen, gewinnt die Verfassungsinterpretation ihre demokrati­ sche Legitimität doch erst aus der Rückbindung an die Gerechtigkeitsvor­ stellungen in der Gesellschaft313. Die Rückkopplung der Verfassungsinter­ pretation an das Gerechtigkeitsprinzip setzt geradezu die Vitalität eines zeitgeprägten Verfassungsverständnisses überhaupt erst um. Die Schwierigkeit einer Justiziabilität von „Gerechtigkeit“ liegt jedoch angesichts der jahrhundertealten philosophischen Begriffsprägung auf der Hand. Gerechtigkeit besitzt als zeitlos gültige „Idee“ einen überpositiven Rechtscharakter. Als ein objektives Gerechtigkeitsprinzip liegt es der Ver­ fassung als Ideal voraus.314 Die Justiziabilität des allgemeinen Gerechtig­ 310  Kielmansegg, S. 21. Ebenso betont Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 265 die Wichtigkeit der Begründungsbedürftigkeit eines „Verfassungswandels“. 311  Ehmke, VVDStRL  20 (1963), S. 53 (69); Hesse, in: Festschrift für U.  Scheu­ ner, S. 123 (139); anders aber Depenheuer, S. 18. 312  Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S. 38; Husserl, S. 27 klassifiziert Gerech­ tigkeit als oberstes Ordnungsprinzip. Dazu näher bereits oben Teil  2 A.  I. 313  Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S. 195; Hebeler, Generationengerechtig­ keit als verfassungsrechtliches Gebot, S. 130. 314  So noch die frühe Rechtsprechung des BVerfG: BVerfGE  3,  225 (233).

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

keitsprinzips in seiner Gänze wäre ein schier unmögliches Unterfangen. Stattdessen finden sich einzelne Ausprägungen des Gerechtigkeitsprinzips in der Rechtsordnung als konkrete rechtliche Positivierungen wieder.315 Den Gerechtigkeitsbegriff prägt damit ein zweistufiges Verhältnis: er zeigt sich als objektives, dem positiven Recht vorgeordnetes Rechtsprinzip, das durch die Kodifizierung in der Verfassung seine verfassungsrechtliche Relevanz erlangt. Hier tritt es sodann als „materiale“ Gerechtigkeit in Konkurrenz zu anderen Postulaten der Verfassung und wird zu einer abwägungsrelevanten Größe im jeweiligen Einzelfall.316 Für die rechtliche Relevanz von Gerech­ tigkeit ist aber erst die Positivierung einzelner Ausprägungen durch den Verfassungsgeber von Bedeutung.317 Vielfach wird dabei der Bezug zum Willkürverbot, zur Menschenwürde, einem gerechten Strafmaß und dem Gleichbehandlungsgebot hergestellt.318 Positiv-rechtliche Kodifizierungen dieser Gerechtigkeitserwägungen finden sich entsprechend in Art. 1 Abs. 1  GG319, in Art. 3 Abs. 1  GG und im Rechtstaatsprinzip, welches sich aus der Zusammenschau verschiedener Verfassungsbestimmungen, insbe­ sondere aus Art. 20 Abs. 3  GG320, herleiten lässt. Aus Art. 1 Abs. 1  GG als oberstes Konstitutionsprinzip folgt nicht zuletzt auch ein dem Gerechtig­ keitsgedanken entspringendes Verständnis vom Grundgesetz als systemge­ rechte Ordnung, als ein lückenloses Wert- und Anspruchssystem321, dessen Umsetzung vornehmlich über den Hebel des allgemeinen Gleichheitssatzes gesteuert wird. Der Topos systemimmanenter Kohärenz führt diese Leitvor­ stellung als Dynamisierungsfaktor der Verfassungsinterpretation zu. Bei den positiv-rechtlichen Ausprägungen des Gerechtigkeitsprinzips han­ delt es sich um Leitprinzipien bzw. Topoi.322 Diese können auf der zweiten Stufe des Vorgangs der Verfassungsinterpretation eine Überwindung der Aus­ 315  Rüfner, in: Dolzer/Graßhof/Kahl/Waldhoff/Walter, BK-GG, Stand: Oktober 1992, Art. 3  I  GG Rn. 2; Hebeler, Generationengerechtigkeit als verfassungsrechtli­ ches Gebot, S. 120. 316  Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, S. 30. Insoweit man der naturrecht­ lichen Verankerung ablehnend gegenübersteht, bleibt jedenfalls die in Art. 3 Abs. 1  GG positivierte Ausprägung von Gerechtigkeit als Gleichheitsaspekt, die als Verfassungsprinzip bei der Interpretation zu berücksichtigen ist. 317  Rüfner, in: Dolzer/Graßhof/Kahl/Waldhoff/Walter, BK-GG, Stand: Oktober 1992, Art. 3  I  GG Rn. 3. 318  Dazu Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, S. 40 ff. 319  Rüfner, in: Dolzer/Graßhof/Kahl/Waldhoff/Walter, BK-GG, Stand: Oktober 1992, Art. 3  I GG Rn. 3; dazu ausführlich Giese, S. 14 ff. 320  Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 28. 321  Grundlegend Dürig, in: Maunz/ders., GG, Erstbearbeitung  1957, Art. 1 Rn. 5 ff. 322  Die Begriffe „objektiv-rechtliche Leitprinzipien“ und „Topoi“ werden in die­ ser Arbeit als identisch angesehen.



C. Methodische Anforderungen 73

gangssituation begründen und somit eine zeitgemäße tatbestandliche Anpas­ sung grundrechtlicher Tatbestände bewirken. Aufgrund ihrer dynamischen Wirkung wirken die Topoi als treibende Kraft grundrechtlicher Dynamisie­ rungsprozesse. Ihnen kommt die Eigenschaft als zentrale Dynamisierungsfaktoren innerhalb grundrechtlicher, das heißt tatbestandlicher Dynamisierungs­ prozesse zu. Dynamisierungsfaktoren erweisen sich damit als im Grundge­ setz angelegte Hebel für die verfassungsrechtliche Reflexion herangetragener neuer Entwicklungen der Lebenswirklichkeit. Hierbei nehmen vor allem die Menschenwürdegarantie sowie der zeitgerechte Systemcharakter des Grund­ rechtskatalogs besonders wichtige Dynamisierungsfunktionen wahr. 1. Achtung der Menschenwürde Neue Entwicklungen der Lebenswirklichkeit können Anlass geben, die Schutzbereiche grundrechtlicher Tatbestände zu erweitern. In ganz besonde­ rem Maße besteht eine solche Notwendigkeit mit Blick auf den Schutz der Menschenwürde, wenn neue Entwicklungen den bisherigen Kenntnisstand überholen und als besonders schützenswerte Gehalte menschlicher Würde erweisen, die im bisherigen Schutzniveau noch gar keine Berücksichtigung gefunden oder aber bisher in besonderem Maße vernachlässigt wurden. Die Aktualisierung der zeitgemäßen Ausprägungen menschlicher Würde strahlt dann auf das Gesamtsystem „Verfassung“ aus und hat somit insbesondere Auswirkungen auf die Beurteilung des Schutzniveaus grundrechtlicher Tat­ bestände. Ein überholtes Schutzniveau der Menschenwürdegarantie und ih­ rer spezifischen Ausprägungen drängt als Dynamisierungsfaktor nach tatbe­ standlichen Sinnerweiterungen. Zwei Ausprägungen der Menschenwürdega­ rantie kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. a) Schutz personaler Identität Die Menschenwürdegarantie verkörpert das höchste wertsetzende Verfas­ sungsprinzip323 und schützt die Anerkennung und Achtung menschlicher Würde324. Art. 1 Abs. 1 GG knüpft damit insbesondere an die Persönlichkeit bzw. die Personenhaftigkeit an, welche das Wesen, den Wert und die Würde des Individuums im Kern prägt.325 Als Grundnorm personaler Autonomie, individueller Selbstwerthaftigkeit und der Subjektqualität des Menschen326 323  BVerfGE  45,  187 (227); Stern, Staatsrecht, Band  III/1, S. 23; ausführlich Häberle, in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, § 22 Rn. 5 ff. 324  Benda, in: Festschrift für W.  Geiger, S. 23 (23). 325  Dazu Stern, Staatsrecht, Band  III/1, S. 13 f.; Giese, S. 18. 326  BVerfGE 27, 344 (351); 34, 238 (245); H. Dreier, in: ders., GG, Art. 1 I Rn. 40.

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

wird die jedem Einzelnen verliehene Selbstbestimmung auf der Grundlage seines menschlichen Eigenwertes für unantastbar erklärt. Die Sicherung personaler Identität als besonders bedrohtes Schutzgut327 ist geradezu der Kern der Menschenwürde.328 Personale Identität beinhaltet sowohl einen Innen- als auch einen Außenbezug, sie umfasst den einsamen und den ge­ meinsamen Menschen.329 Die Realisierung der Selbstdarstellung und Selbst­ entfaltung erfolgt nicht zuletzt auch durch bzw. mit anderen zusammen.330 Sie betont die Natur des Menschen als gesellschaftliches Lebewesen, als „zoon politikon in der polis“ im Aristoteles’schen Sinne. Das offene Men­ schenbild des Grundgesetzes rückt damit zwar die Individualität eines Men­ schen in den Vordergrund331, ergänzt diese aber auch um einen Solidaritäts­ bezug332. Aufgrund einer fehlenden inhaltlichen Umgrenzung gewährleistet das Menschenbild die individuelle Offenheit, verschiedene Lebensperspek­ tiven einzuschlagen.333 Art. 1 Abs. 1 GG beinhaltet geradezu ein „Recht auf das je eigene Menschenbild“.334 Die Anbindung eines individuellen Verhaltens steht umso stärker unter dem unmittelbaren Schutz der Menschenwürdegarantie, je weniger der Ein­ zelne dieses beeinflussen kann bzw. je mehr sie den Charakter einer Prädis­ position annimmt. Das bedeutet: Ist ein menschliches Verhalten nicht frei wählbar, handelt es sich hierbei also um eine naturgemäße Veranlagung im Sinne eines prädispositiven menschlichen Persönlichkeitsmerkmals, ist die­ ses Verhalten entsprechend als ein Wesensmerkmal menschlicher Personen­ haftigkeit und damit als ein Kernelement menschlicher Würde einzuordnen. Die prädispositive Veranlagung wurzelt tief in der individuellen Persönlich­ keit und steht in besonderem Maße unter dem Schutz von Art. 1 Abs. 1 GG. Sie ist geradezu Ausfluss der Menschenwürde. Ein von Rechts wegen an­ geordneter Verzicht auf die Wahrung personaler Identität ist unzumutbar.335 Im Umgang mit neuen Dynamisierungsprozessen in der Lebenswirklichkeit und ihrer verfassungsrechtlichen Reflexion ist demgemäß der Schutz perso­ 327  Höfling,

in: Sachs, GG, Art. 1 Rn. 37. in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, § 22 Rn. 47; Podlech, in: Wassermann, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 34. 329  Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1 Rn. 38. 330  Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1 Rn. 38; Suhr, Entfaltung der Menschen durch die Menschen. 331  Dazu ausführlich Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, S. 37 ff., 47 ff.; Stern, Staatsrecht, Band  III/1, S. 31 f. mit Verweis auf BVerfGE 4,  7 (15 f.); ferner BVerfGE  7,  198 (205). 332  H. Hofmann, AöR  118 (1993), 353 (364). 333  Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 28. 334  Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1 Rn. 39. 335  Podlech, in: Wassermann, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 34. 328  Häberle,



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naler Identität als besonderes Schutzanliegen von Art. 1 Abs. 1  GG stets zu beachten. Er entfaltet insofern Wirkung als Dynamisierungsfaktor, wenn im Zuge eines gesellschaftlichen Fortschritts die Überholung des bisherigen Kenntnisstands zugunsten des Schutzes personaler Identität in seinem neuen Gewand angezeigt ist. b) Schutz von Minderheiten und staatliches Toleranzgebot Die feste Verankerung der Menschenwürde an der Spitze des Grundgeset­ zes ist zugleich bewusst als unmittelbare Reaktion auf die menschenverach­ tende Zeit des Nationalsozialismus zu verstehen.336 Damit weist sie weiter­ hin einen engen Zusammenhang zum Schutz von Minderheiten auf337  – Grundrechtsschutz ist vornehmlich auch Minderheitenschutz.338 Der Staat wird zum Beschützer gesellschaftlicher Minderheiten und bewahrt diese vor der „Macht der Mehrheit“339. Für Minoritäten besteht eine gesteigerte Für­ sorgepflicht340 als kompensatorischer Gegenpol zur Mehrheitsmeinung, bei der die Gefahr eines eigennützigen Machterhaltungsinteresses drohen kann.341 Eine wichtige Ausprägung des Demokratiegrundsatzes zeigt sich auch darin, dass eine Minderheit jederzeit die Möglichkeit haben muss, mehrheitsfähig zu werden.342 Um den effektiven Schutz aller auch noch so kleinen gesellschaftlichen Gruppen zu gewährleisten, ist der Staat zur Wahrung und Ausübung von Toleranz verpflichtet. Der Begriff der Toleranz wurde ursprünglich mit reli­ giöser Toleranz gleichgesetzt, hat sich jedoch im Laufe der Jahre davon gelöst und ist nunmehr als ein eigenes, allgemeingültiges Rechtsprinzip zu behandeln, das insbesondere als Kompromiss am Ende verfassungsrechtli­ cher Abwägungsprozesse stehen kann.343 Das Grundgesetz selbst verpflich­ tet sich zu positiver Toleranz.344 Dieses Prinzip wird maßgeblich durch die Menschenwürdegarantie geprägt und meint die Gewährleistung der gleichen Würde aller Menschen und Förderung des Respekts für Andersdenkende, 336  Starck,

in: v.  Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 10. in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, § 22

337  Häberle,

Rn. 24. 338  Ausführlich Lepsius, Der  Staat  52 (2013), S. 157 (173 ff.). 339  Dazu Husserl, S. 56 f. 340  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 347. 341  v. Brünneck, S. 183; Kielmansegg, S. 30; allgemein zum politischen Machter­ haltungsinteresse v. Arnim, NVwZ  2014, 846 ff. 342  H. Dreier, ZParl  1986, 94 (107); Schmitt, Legalität und Legitimität, S. 28 ff. 343  Robbers, in: Yousefi/Seubert, S. 231 (233). 344  Ebenda.

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

unabhängig von deren Individualitätsmerkmalen, kulturellem Hintergrund oder geistiger Überzeugung. Der verfassungsrechtliche Minderheitenschutz und die staatliche Tole­ ranzpflicht wirken ebenfalls als Dynamisierungsfaktoren, wenn es darum geht, die grundrechtstatbestandliche Reflexion neuer Entwicklungen der Lebenswirklichkeit zu beurteilen. Dies ist abermals dann der Fall, wenn neue Entwicklungen der Lebenswirklichkeit zu einem Überdenken des bis­ herigen Umgangs mit einer Minderheit führen bzw. wenn ein effektiver Minderheitenschutz in der Vergangenheit nur unzureichend umgesetzt wur­ de. Ein Schutzbedürfnis zugunsten einer Minderheit fällt auch hier umso gewichtiger aus, je mehr die zur Minderheit zählenden Personen durch eine Eigenschaft geprägt sind, die sie selbst nicht beeinflussen können. Insofern ist die Ausprägung des Minderheitenschutzes eng verbunden mit dem Schutz der personalen Identität, die vor allem menschliche Prädispositionen unmit­ telbar dem Würdekonzept unterstellt. 2. Der Grundrechtskatalog als Wertesystem Das Grundgesetz ist außerdem in seiner Gänze einem Systemcharakter unterworfen, wonach die einzelnen Verfassungsnormen nicht isoliert, son­ dern stets in ihrer Gesamtheit zusammenwirken.345 Der Systemcharakter des Grundgesetzes dient wiederum als Vehikel für die Überführung und das Zusammenspiel zeitgemäßer Gerechtigkeitsvorstellungen. Das Grundgesetz ist sinnbildlich als „Organismus“ ausgestaltet. Bestimmte, bereits im Grund­ gesetz verankerte Wertentscheidungen hinsichtlich eines Schutzgutes bilden dann die Richtlinie für die Beurteilung des normativen Schutzniveaus neuer Entwicklungen der Lebenswirklichkeit, deren Zielrichtung ähnlich gelagert ist. Ihre verfassungsrechtliche Reflexion erfolgt dann unter dem Topos der Wahrung zeitgerechter Systemkohärenz, der ebenfalls als ein Art. 1 Abs. 1 GG entspringender Dynamisierungsfaktor zu begreifen ist. Die Erhe­ bung des Gerechtigkeitsgedankens zum Leitprinzip grundgesetzlicher Sys­ temkompatibilität geht damit noch über die systematische Auslegungsme­ thode des hermeneutischen Kanons hinaus. a) Grundgesetz als zusammenhängendes Wertesystem Zunächst einmal fordert der Systemgedanke, dass jede Verfassungsinterpre­ tation von Einzelgrundrechten stets auch die Verfassung als Ganzes, die Ein­ 345  Schenke, AöR 103 (1978), S. 566 (582); Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie, S. 4 ff.; ausführlich Degenhart, S. 1 ff.



C. Methodische Anforderungen 77

heit des Grundgesetzes als freiheitlich-demokratische Grundordnung, ins Au­ ge fassen muss.346 In der berühmten Lüth-Entscheidung“ aus dem Jahr 1958 führt das BVerfG prägnant aus: „Ohne Zweifel sind die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öf­ fentlichen Gewalt zu sichern; […] Ebenso richtig ist aber, daß das Grundge­ setz, das keine wertneutrale Ordnung sein will […], in seinem Grundrechtsab­ schnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat und daß gerade hier­ in eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Aus­ druck kommt. […] Wie neues Recht im Einklang mit dem grundrechtlichen Wertsystem stehen muß, so wird bestehendes älteres Recht inhaltlich auf die­ ses Wertsystem ausgerichtet; von ihm her fließt ihm ein spezifisch verfas­ sungsrechtlicher Gehalt zu, der fortan seine Auslegung bestimmt.“347 Folglich stehen die verschiedenen verfassungsrechtlichen Bestimmungen zunächst einmal in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis, wonach im Falle der Auslegung einzelner Bestimmungen Widersprüche zu anderen Ver­ fassungsbestimmungen zu vermeiden sind.348 Darüber hinaus fordert der Sys­ temgedanke bei der Auslegung einzelner Bestimmungen aber ebenso die Be­ rücksichtigung normativer Vorgaben aus anderen Regelungsbereichen im Sin­ ne eines Gebotes ganzheitlicher Verfassungsauslegung.349 Hat der Verfas­ sunggeber vereinzelte, ihm seinerzeit bereits bekannte Schutzgüter unter einen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz gestellt und ihnen damit eine spezifische Werthaftigkeit beigemessen, ermöglicht der Ansatz ganzheitlicher Verfassungsauslegung unter dem Aspekt der Wahrung systemimmanenter Ko­ härenz den vergleichenden Einbezug bzw. eine mögliche Übertragbarkeit je­ ner Wertungen auf die verfassungsrechtliche Reflexion im zeitlichen Verlauf neu zu beurteilender Dynamisierungsprozesse der Lebenswirklichkeit. Der Systemgedanke kann angesichts der Zeitgeprägtheit des Verfassungsrechts keine axiomatisch-konservierende Wirkung haben.350 Dynamisierungsprozes­ se der Lebenswirklichkeit drängen ihrerseits auf eine verfassungsrechtliche Reflexion. Maßgeblich betrifft das Anstellen normativ-systematischer Ver­ gleiche naturgemäß tatbestandliche Dynamisierungsprozesse beim allgemei­ nen Gleichheitssatz.351 Des Weiteren erweist sich der Topos einer Wahrung systemimmanenter Kohärenz aber auch als Leitlinie für die Beurteilung tatbe­ standlicher Sinnerweiterungen im Schutzbereich der Freiheitsrechte, nämlich 346  Ehmke,

VVDStRL  20 (1963), S. 53 (78). 198 (204 f.). 348  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 71; Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 42 f. 349  Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie, S. 5. 350  So richtig Peine, S. 302; zur Zeitgeprägtheit bereits oben Teil  2 A.  III.  2. 351  Dazu ausführlich unten Teil  3  B.  I.  2. 347  BVerfGE  7,

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

dann, wenn es um die verfassungsrechtliche Reflexion einer neuen Entwick­ lung der Lebenswirklichkeit geht, deren Schutzbedürftigkeit ihrem Erschei­ nen nach mit der Schutzrichtung eines bereits bestehenden Grundrechtstatbe­ stand übereinstimmt.352 An diesem Punkt muss sich das Postulat von System­ kohärenz auf verfassungsrechtlicher Ebene als Gebot normativer Wertungs­ konsequenz behaupten.353 Ändern sich gesellschaftliche Wertevorstellungen im zeitlichen Verlauf und hat die Bewertung mit Blick auf das überholte Schutzgut nunmehr die normative Vergleichbarkeit mit anderen grundrechtli­ chen Schutzgütern zur Folge, wäre eine unterschiedliche normative Behand­ lung im Grunde systemwidrig. Eine widersprüchliche Behandlung des neuen, normativ als gleichwertig betrachteten Schutzgutes gegenüber dem Schutz etablierter normativer Strukturen erschiene dann als willkürliche Durchbre­ chung der bereits bestehenden normativen Selbstbindung.354 Ein solcher, auf Vergleichbarkeitserwägungen basierender Gedanke ist maßgeblich vom Gerechtigkeitsstreben geleitet. Er soll eine zeitgerechte Verarbeitung neuer Entwicklungen der Lebenswirklichkeit gewährleisten, indem er gesellschaftliche Vorstellungen über die Werthaftigkeit bestimmter Tatsachen in die bestehende Wertordnung des Grundgesetzes überführt. Regulativ wirkt hierbei vor allem der allgemeine Gleichheitssatz, dessen Maßstabsbildung über die Vergleichbarkeit bestimmter Gruppen und Sach­ verhalte dem bereichsspezifischen Gerechtigkeitsmaßstab des Grundgesetzes zur Entfaltung verhilft.355 Systemgerechtigkeit ist deshalb vornehmlich als Besonderheit der Gleichheitsdogmatik zu begreifen, welche die Bindung des Gesetzgebers an das von ihm selbst gewählte normative System, an die eigenen Gerechtigkeitsmaßstäbe betont.356 b) Mehrebenensystem: Europäisierung der Verfassungsinterpretation Das Gebot systemimmanenter Kohärenz betrifft längst nicht mehr allein die nationale Ebene, sondern die zunehmende Einbettung Deutschlands in das (europäische) Mehrebenensystem fordert die Wahrung von Kohärenz auch im supranationalen Kontext. Leitend ist dabei der Gedanke von der Einheitlichkeit einer überstaatlichen Rechtsordnung. So sind in den letzten 352  Beispielhaft zur Verarbeitung neuer technischer Entwicklungen mit Blick auf ihren verfassungsrechtlichen Schutz durch das allgemeine Persönlichkeitsrechts un­ ten Teil  3  B.  III.  3. 353  Degenhart, S. 41. 354  In diese Richtung wohl Degenhart, S. 80. 355  Eingehend Huster, S. 29 ff. 356  So ausdrücklich Huster, S. 392.



C. Methodische Anforderungen 79

Jahren zunehmend europa- und internationalrechtliche Einflüsse in den Fo­ kus der Methodenlehre gerückt, die zu einem Wandel des nationalen Ver­ fassungsrechts maßgeblich beigetragen haben.357 Bewusst installierte Integrationsklauseln wie Art. 1 Abs. 2, 23, 24, 25 und 59  GG stellen eine permanente Öffnung des Grundgesetzes zum Europaund Völkerrecht sicher, sie symbolisieren eine eigene Art der Verfassungs­ änderung.358 Würde es an den Integrationshebeln fehlen, müsste jeder zu­ künftige Integrationsschritt den Weg über die formelle Verfassungstextände­ rung gehen.359 In der Konsequenz der Integrationshebel liegt es, dass der sich aus dem überstaatlichen Recht ergebende Verfassungswandel bereits in das deutsche Grundgesetz eingebaut und Auswirkungen auf die nationale Rechtsordnung durchaus intendiert sind. Supranationale Wandlungen im Europarecht können durch die Integrationsklauseln des Grundgesetzes eine Veränderung des nationalen Verständnisses bewirken, denn sie beeinflussen jedenfalls mittelbar im Wege der völkerrechtsfreundlichen Auslegung360 die nationale Verfassungslage.361. Besonders anschaulich tritt der völkerrechtsfreundliche Charakter des Grundgesetzes im Wechselspiel mit dem Europarecht hervor: Die Einbettung der Bundesrepublik Deutschland in das europäische Mehrebenensystem ruft nach Lösungswegen, wie das Grundgesetz gerade im Zusammenspiel bzw. im Kollisionsfall mit den europa- und völkerrechtlichen Kodifikationen der – oft­ mals als „living instrument“362 bezeichneten – EMRK oder der GRCh auszu­ legen ist. Innerhalb des unionalen Anwendungsbereichs ist die Frage der Grundrechtskontrolle bei europäischen Akten durch die vom BVerfG in seiner Rechtsprechung zu den Grenzen der deutschen Integrationsgewalt in der Eu­ ropäischen Union weitgehend höchstrichterlich geklärt.363 Da auf Ebene der 357  Michael/Morlok, Rn. 34, 117 ff.; Sommermann, in: Festschrift für U.  Steiner, S. 796 (802); Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre, S. 161 ff.; Hesse, JZ  1995, 265 (269); Würtenberger, in: Wahl, S. 49 (57 ff.). 358  Bezüglich Art. 24 Abs. 1  GG Robbers, NJW  1989, 1325 (1331). 359  Sommermann, in: Festschrift für U.  Steiner, S. 796 (802 f.). 360  Dazu ausführlich Proelß, S. 43 ff.; T. Hofmann, JURA  2013, 326 (326 ff.). 361  Bei den Verhandlungen im Parlamentarischen Rat wurde ausdrücklich auf eine Orientierung des Grundgesetzes an der Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen Bezug genommen, vgl. Böhm, VVDStRL  73 (2013), S. 212 (217  Fn. 30) m. w. N. Diesen Aspekt übersehen Gröpl/Georg, AöR  139 (2014), S. 125 (145 f.). 362  Grundlegend EGMR, Tyrer v.  UK, Urteil v. 25.4.1978, no.  5856/72, Se­ ries A-26, Rn. 31. 363  Grundlegend sind die Entscheidungen Solange-I (BVerfGE  37, 271 ff.) und Solange-II (BVerfGE  73, 339 ff.) sowie die sich daran anschließenden Entscheidun­ gen Maastricht (BVerfGE  89, 155 ff.) und Bananenmarktordnung (BVerfGE  102, 147 ff.).

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

Europäischen Union ein dem Grundgesetz im Wesentlichen gleichwertiger Grundrechtsschutz besteht, verzichtet das BVerfG auf seine Prüfungskompe­ tenz. Erfolgen die dem Europarecht entstammenden und unmittelbar grund­ rechtseingreifenden Maßnahmen364 in Einklang mit den einschlägigen uni­ onsrechtlichen Vorschriften, findet keine zusätzliche nationale Grundrechts­ kontrolle statt. Insoweit besteht ein Kooperationsverhältnis zwischen EuGH und BVerfG.365 Auch außerhalb des unionalen Anwendungsbereichs können das Unionsrecht oder allgemein das Völkerrecht sowie die Rechtsprechung des EuGH und des EGMR als Rechtserkenntnisquelle Ausstrahlungswirkung auf den Inhalt des nationalen Rechts entfalten.366 Für die EMRK als völker­ rechtliches Abkommen wurde diese Wirkung in der Görgülü-Entscheidung367 ausdrücklich anerkannt.368 Der Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene beinhaltet einen dynamischen und wechselseitigen Integrationsprozess, der durch die wechselseitige Rezeption der Mitgliedsstaaten getragen wird.369 Diese Dynamik muss wiederum Grenzen unterliegen. So weicht die ­ MRK dem nationalen Recht lediglich im Kollisionsfall mit Rechtsgütern E von Verfassungsrang.370 Eine Kollision in dem Sinne, dass das Mehr an Freiheit ein Weniger der Freiheit eines anderen bezweckt, stellt sich im Falle mehrpoliger Rechtsverhältnisse.371 Die konventionsfreundliche Ausle­ gung endet dort, wo sie mit den anerkannten methodischen Grundsätzen der nationalen Verfassungsinterpretation nicht mehr in Einklang zu bringen ist.372 Beurteilungsmaßstab des BVerfG bleiben in diesem Fall ausschließ­ lich die nationalen Grundrechte. Nichts anderes muss bei konsequenter 364  Betroffen sind primärrechtliche und  – mit Ausnahme etwaiger vorgesehener Spielräume bei Richtlinien  – auch sekundärrechtliche Akte. 365  Nur im eklatanten Ausnahmefall bleibt dem BVerfG noch eine Reservekom­ petenz vorbehalten. Angesichts des Erlasses der GRCh sowie dem durch Art. 6 EUV festgelegten Beitritt der EU zur EMRK handelt es sich hierbei aber letztlich nur um einen theoretischen Notfallvorbehalt. 366  Streinz, Rn. 740; ausführlich Griebel, Der  Staat  52 (2013), S. 371 (373 ff.); Sauer, Staatsrecht  III, § 7 Rn. 15 ff. 367  BVerfGE  111, 307 ff. 368  Trotz ihres normenhierarchischen Ranges als einfaches Bundesrecht, den sie durch den innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl des Art. 59 Abs. 2 GG erhält, ist die EMRK bei der Anwendung und Auslegung des nationalen Rechts bei sämtlichen Sach- und Regelungsbereichen vollumfassend im Rahmen völkerrechtsfreundlicher Auslegung zu berücksichtigen, vgl. BVerfGE 74, 358 (370); 82, 106 (120); 111, 307 (316 f.); 120, 180 (200), 128, 326 (367). Dazu auch Proelß, S. 120 ff. 369  Michael/Morlok, Rn. 34, 118 f. 370  BVerfGE  111, 307 (328 f.); vgl. auch Sauer, Staatsrecht  III, S. 93 ff., 98 f.; Proelß, S. 43 ff. 371  BVerfGE  128, 326 (371). 372  Griebel, Der  Staat  52 (2013), S. 371 (377).



C. Methodische Anforderungen 81

Übertragung dieser Maßstäbe für die Ausstrahlungswirkung der GRCh au­ ßerhalb des Unionsrechts gelten.373 Vor dem Hintergrund der Einbettung der Bundesrepublik Deutschland in das europäische Mehrebenensystem und der damit eingegangenen Verpflich­ tung zur Berücksichtigung der einschlägigen Regelungswerke sowie der Rechtsprechung ihrer institutionellen Gerichtsbarkeiten lässt sich geradezu von einem erheblich an Bedeutung gewinnenden Prozess der Europäisierung der Verfassungsinterpretation sprechen. Verfassungsprinzipien wirken hier­ bei als Schleusen bei der Transformation normativer Gehalte der überstaatli­ chen Ebene in das nationale Verfassungsrecht.374 Der hierdurch erzeugte Grundrechtswandel kraft europäischer Integration erweist sich unter dem Aspekt der Systemkohärenz als eigener Topos der Verfassungsinterpretati­ on.375 Die vom BVerfG praktizierte Zurückhaltung und Anerkennung der eu­ ropa- und völkerrechtlichen Entwicklungen setzt im Prinzip überhaupt erst die Idee des im Maastricht-Urteil statuierten „Kooperationsverhält­nisses“376 zwischen EuGH und BVerfG um.377 Entscheidend ist somit die Einheit und Kohärenz der Anwendung nationaler und europäischer Grundrechte, die Konsequenz und Ausdruck des heutigen Mehrebenensystems sind.378 Es hat gewissermaßen eine praktische Konkordanz auf beiden Ebenen, der staat­ lichen und überstaatlichen, zu erfolgen.379 373  Ausführlich Griebel, Der  Staat  52 (2013), S. 371 (373 ff.): In den bisherigen fünf Entscheidungen des BVerfG, bei denen die GRCh Erwähnung fand, vermied das BVerfG Aussagen zum Verhältnis der GRCh und den nationalen Grundrechten. Zu­ nehmend kristallisiert sich jedoch heraus, dass das BVerfG zwei unterschiedliche Standards anlegt: Mit Blick auf die GRCh hält es an der strikten, im Wege der Solan­ ge-Rechtsprechung aufgestellten Trennung zwischen dem Prüfungsverzicht im An­ wendungsbereich des Unionsrechts und der vollen Prüfungsbefugnis außerhalb dieses Anwendungsbereichs fest. Dagegen hat es der EMRK und der hierauf beruhenden Rechtsprechung des EGMR gerade eine über den Status einfachen Gesetzesrechts hinausgehende Bedeutung attestiert. Mit Blick auf den in Art. 1 Abs. 2 GG zum Aus­ druck kommenden besonderen Schutzauftrag gegenüber allen internationalen Men­ schenrechtsmanifesten gebietet sich aber eine Gleichbehandlung der Wirkung beider Kodifikationen. Doppelstandards müssen konsequenterweise vermieden werden und lassen sich wohl zukünftig auch nicht mehr aufrechterhalten. Perspektivisch ist sogar eine Aufwertung der Unionsgrundrechte noch über den Status der EMRK denkbar, da die Unionsgrundrechte dem Anwendungsvorrang des Unionsrechst im deutschen Recht unterfallen, vgl. Griebel, Der Staat 52 (2013), S. 371 (399). 374  Sommermann, in: Festschrift für U.  Steiner, S. 796 (804). 375  Angedeutet auch bei Michael, NJW  2010, 3537 (3540). 376  BVerfGE  89, 155 (175). 377  Michael, NJW  2010, 3537 (3540). 378  Michael, NJW  2010, 3537 (3541); Sommermann, in: Festschrift für U.  Stei­ ner, S. 796 (804). 379  Lediglich am Rande sei noch auf einen weiteren Aspekt aus verfassungsver­ gleichender Perspektive hingewiesen: Infolge des Zusammenwachsens Europas, aber

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

V. Zwischenergebnis Eine zeitgemäße Auslegung grundrechtlicher Bestimmungen erfordert ein methodengerechtes Verfahren. Die Verfassungstheorie beeinflusst ihrerseits die Methodenwahl. Jedem Vorgang der Verfassungsinterpretation liegt ein zweistufiger Aufbau zugrunde: Den Ausgangpunkt stellt die möglichst ex­ akte Aufarbeitung des historischen Zeitpunkts der betroffenen Vorschrift dar. Ist eine solche Rekonstruktion nicht realisierbar, liegt mithin eine Rege­ lungslücke vor, eröffnet sich der Anwendungsbereich für die Verfassungsin­ terpretation. Daneben stellen sich Interpretationsfragen regelmäßig dann, wenn sich ein ursprünglicher Regelungswille des historischen Verfassungs­ gebers zwar nachzeichnen lässt, Dynamisierungsprozesse der Lebenswirk­ lichkeit jedoch heute auf eine erneute zeitgemäße Anpassung der entspre­ chenden grundrechtlichen Schutzverbürgung drängen. Die Überholung der Ausgangslage erfolgt unter Rekurs auf entsprechende objektiv-rechtliche Leitprinzipien bzw. verfassungsrechtliche Topoi. Nichtsdestotrotz ist die Dynamik an entsprechende Grenzen gebunden. Ein angemessener methodi­ scher Interpretationsansatz liegt in einem normativ gebundenen topischen Vorgehen, wonach die Bezugnahme auf Leitprinzipien zwar grundsätzlich möglich, zugleich jedoch durch den hermeneutischen Kanon begrenzt wird. Übergeordnetes Ziel des ausgelösten Dynamisierungsprozesses ist die Wah­ rung geltender gesellschaftlichen Gerechtigkeitsvorstellungen im Verfas­ sungsrecht. Leitprinzipien, die im Einzelfall zu berücksichtigen sind, wirken auch der allgemeinen weltweiten Vernetzung, verlagern sich Grundrechtsfragen im­ mer mehr auf eine internationale Ebene, sodass schließlich auch die Rechtsverglei­ chung, insbesondere die Verfassungsvergleichung, für die Interpretation an Bedeu­ tung gewinnt, vgl. Michael/Morlok, Rn. 34, 120; Hesse, Grundzüge des Verfassungs­ rechts, Rn. 71; Häberle, JZ  1989, 913 (916) spricht gar von einer „fünften“ Auslegungsmethode. Dies hat Implikationen für den nationalen Gesetzgeber, der zu überprüfen hat, ob das durch Rechtsvergleichung gewonnene Ergebnis des EGMR in dieser Art auch auf den nationalen Raum und die dortigen Kulturvorstellungen übertragbar ist. Leitender Maßstab der nationalen Verfassungsinterpretation bleiben zwar nach wie vor die nationalen Grundrechte. Dennoch verpflichtet der völker­ rechtsfreundliche Charakter des Grundgesetzes – jedenfalls auf implizite Weise – zu einer möglichst reibungslosen Harmonisierung. Um gemeinsame Werte eines Ver­ bunds, insbesondere der Europäischen Union, und den länderübergreifenden Aus­ tausch, so z. B. im Rahmen der unionsrechtlichen Grundfreiheiten nach Art. 28 ff. AEUV, auch langfristig zu gewährleisten, lässt sich die angestrebte Harmonisierung im Idealfall erreichen, wenn die Verfassungen der Mitgliedsstaaten in einem über­ einstimmenden Sinne ausgelegt werden. Insofern ist der Methode der Verfassungs­ vergleichung, die sich mit Entwicklungen ausländischer Verfassungen befasst, jeden­ falls eine indizielle, wenn auch keine absolute, Wirkung für die völkerrechtskonfor­ me Auslegung beizumessen. Dazu Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 71; Häberle, in: ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, S. 3 (6 ff.); Häberle, in: ders., Europäische Rechtskultur, S. 279 (306 f.).



D. Ergebnis zu Teil  283

als Dynamisierungsfaktoren. Insbesondere Art. 1 Abs. 1  GG stellt mit dem Schutz personaler Identität, dem Minderheitenschutz sowie der Forderung nach der Wahrung grundrechtlicher Systemkohärenz im nationalen und su­ pranationalen Kontext materielle Vorgaben auf, die bei der verfassungs­ rechtlichen Reflexion von Dynamisierungsprozessen der Lebenswirklichkeit eine Aktualisierung befördern.

D. Ergebnis zu Teil 2 Das Verfassungsrecht bleibt vom Anpassungsdruck der Zeit nicht unbe­ rührt. Technischer Fortschritt sowie Wandlungen der gesellschaftlichen Werte wirken als zeitliche Parameter auf die grundrechtlichen Tatbestände ein und erzeugen ein Bedürfnis nach zeitgemäßer Anpassung. Sie üben ei­ nen verfassungsrechtlichen Anpassungsdruck an die Zeit aus. Ein verfas­ sungstheoretisches, maßgeblich auf dem Smend’schen Integrationsgedanken fußendes Verständnis, welches die Verfassungsanpassung nicht als starren, einzig über Art. 79 Abs. 1  GG bestreitbaren, sondern als integrativ-dynami­ schen Prozess versteht, kann sich auf demokratietheoretische Erwägungen stützen. Das Grundgesetz entfaltet seine Wirkungskraft vor allem für die unter ihm lebenden Bürger und muss somit die im zeitlichen Verlauf entste­ henden Veränderungen mithilfe seiner verfassungsrechtlichen Strukturen verarbeiten können. Auch außerhalb des formellen Verfassungstextände­ rungsverfahrens, auf das lediglich als ultima ratio zurückzugreifen ist, kön­ nen verfassungsimmanente Anpassungsprozesse eine Aktualisierung der von ihnen in Bezug genommenen Verfassungstatbestände herbeiführen. In diesem Zusammenhang ist allerdings eine schlichte Bezugnahme auf die so oft verwendete Rechtsmetapher vom „Verfassungswandel“ zu unprä­ zise und unreflektiert. Weder kann ihr aus dem Blickwinkel einer verfas­ sungsdogmatischen noch aus einer verfassungsmethodischen Perspektive eine Eigenständigkeit bzw. ein genuiner Mehrwert zugesprochen werden, der eine begrifflich exponierte Legitimationskraft rechtfertigen würde. Der „Verfassungswandel“ erweist sich nicht als eigenständige dogmatische Rechtsfigur, er ist vor allem nicht als tertium zwischen Verfassungstextän­ derung und Verfassungsinterpretation einzuordnen. Vielmehr begegnet dem Konstitutionalisten die mit ihm verbundene Frage nach der Anpassung von Grundrechtstatbeständen außerhalb des in Art. 79 Abs. 1  GG konstituierten Textänderungsverfahrens, mithin die Suche nach grundrechtsimmanenten Anpassungsprozessen, als originäres Interpretationsproblem. Es lässt sich zeigen, dass eine rein hermeneutische Auslegung den werteinmaligen Cha­ rakter des Verfassungsrechts nicht hinreichend berücksichtigt. Ein sinnvoller methodischer Ansatz für die Auslegung grundrechtlicher Tatbestände ver­ knüpft vielmehr hermeneutische Auslegungsmethoden  –  als Rahmen jedes

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Teil 2: Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Tatbestände

Auslegungsvorgangs – mit topischen Elementen. Eine solche Vorgehenswei­ se wurde von Hesse als normativ gebundene Topik bezeichnet. Das dabei praktizierte zweistufige Interpretationsverfahren erfordert in einem ersten Schritt die möglichst exakte Rekonstruktion des historischen Schutzzwecks und Schutzumfangs. Zeitlich später erfolgende Abweichungen können auf der zweiten Stufe in begründeten Fällen und unter Einbezug zentraler ob­ jektiver Leitprinzipien eine zeitgemäße Aktualisierung des grundrechtlichen Tatbestands zur Folge haben. Die Leitzprinzipien wirken entsprechend als Dynamisierungsfaktoren. Sie sind maßgeblich vom Gerechtigkeitsprinzip angeleitet, dessen positivrechtliche Ausprägung vor allem in der Menschenwürdegarantie ihren Nie­ derschlag findet. Konkretisierende Elemente der Menschenwürdegarantie sind ihrerseits der Schutz personaler Identität, der Minderheitenschutz und die Wahrung zeitgerechter Systemkohärenz verfassungsrechtlicher Bestim­ mungen sowohl im nationalen und supranationalen Kontext. Die Berück­ sichtigung von Dynamisierungsfaktoren bei der Anwendung normativ ge­ bundener Topik führt jedoch nicht zu einer vollständigen tatbestandlichen Sinnänderung, vielmehr findet eine Sinnerweiterung des bisherigen Schutz­ umfangs, ein „Mehr“ an grundrechtlicher Freiheit, statt, die das ursprüngli­ che Schutzanliegen vor dem Hintergrund aktueller Dynamisierungsprozesse der Lebenswirklichkeit auf sinnvolle Weise im grundrechtlichen Tatbestand ergänzt.

Teil 3

Überlegungen zu einer „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“ A. Vorbemerkungen Grundrechtliche Tatbestände stehen im Fluss der Zeit. Die verfassungs­ rechtliche Reflexion von Dynamisierungsprozessen der Lebenswirklichkeit, das heißt der mögliche Vollzug einer zeitgemäßen Anpassung grundrechtli­ cher Tatbestände, ermöglicht die im Tatbestand enthaltene normative Kraft. Die Ausgangslage zur Beurteilung eines jeden Dynamisierungsprozesses bildet eine Abweichung von historischen Vorstellungen durch zeitlich erst nachträglich aufkommende Entwicklungslinien, die in dieser Form bisher noch nicht Gegenstand verfassungsrechtlicher Reflexion waren. Sie liefern entscheidende Impulse für eine mögliche Überholung des bisherigen grund­ rechtlichen Schutzniveaus. Am Ende eines grundrechtlichen Interpretations­ vorgangs, der sich der Methode normativ gebundener Topik und damit der Berücksichtigung von Dynamisierungsfaktoren bedient, kann eine tatbe­ standliche Sinnerweiterung stehen. Erst dann hat der in der Lebenswirklich­ keit ausgelöste und von dort an das Grundgesetz herangetragene Dynami­ sierungsprozess auch innerhalb eines grundrechtlichen Schutzgehalts Aus­ druck gefunden, erst dann hat sich ein grundrechtlicher Dynamisierungspro­ zess schlussendlich in der verfassungsrechtlichen Reflexion manifestiert.

I. Unterschiede in der tatbestandlichen Natur grundrechtlicher Bestimmungen Die verfassungsrechtliche Analyse eines grundrechtlichen Dynamisie­ rungsprozesses kennzeichnet demgemäß ein zweistufiges Verfahren: Zu­ nächst ist die historische Ausgangslage möglichst exakt nachzuzeichnen, um von hier aus in einem zweiten Schritt nachträgliche Korrekturen im tatbe­ standlichen Schutzgehalt vorzunehmen. Die Anforderungen an tatbestandli­ che Korrekturen bemessen sich ihrerseits nach der Art des betroffenen Grundrechts. Grundrechtliche Tatbestände sind nicht strukturgleich ausge­ staltet, sondern können je nach Schutzrichtung und Schutzgegenstand unter­ schiedliche Anforderungen aufstellen. So gibt es allgemeine und spezielle

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

Freiheitsrechte, Gleichheitsrechte in allgemeiner und besonderer Form oder aber auf weitere Ausgestaltung angewiesene normgeprägte Grundrechtstat­ bestände. Die unterschiedliche Typisierung grundrechtlicher Bestimmungen1 markiert die erste entscheidende Weichenstellung zur Extrahierung der An­ forderungen an den Umgang mit tatbestandlicher Dynamik, der in den ge­ genwärtigen Diskussionen allerdings kaum Rechnung getragen wird. Jeder Typus weist aber strukturelle Besonderheiten auf, die ihn von anderen Grundrechtstypen unterscheiden. Die Verarbeitung tatbestandlicher Dynamik orientiert sich an diesem Befund. Vor diesem Hintergrund bemessen sich die Anforderungen an den tatbestandlichen Umgang mit grundrechtlicher Dyna­ mik stets nach dem einschlägigen grundrechtlichen Typus. Die Methode normativ gebundener Topik muss dabei nicht immer das alleinige Werkzeug für tatbestandliche Sinnerweiterungen sein. Erste Überlegungen hinsichtlich der Berücksichtigung von Unterschieden in der Natur grundrechtlicher Bestimmungen und deren Einfluss auf tatbe­ standliche Sinnerweiterungen finden sich bei der von Bryde erstellten „Ty­ pologie des Verfassungswandels“.2 Danach könne eine Zuordnung der Er­ scheinungsformen des „Verfassungswandels“ in die drei Kategorien der Öffnung durch Verweisung, der Öffnung durch Anpassung des Normsinns sowie der Öffnung für neue Wertungen erfolgen.3 Um einen Verfassungswandel in Form einer Öffnung durch Verweisung handele es sich, wenn neu auftauchende, verfassungsrelevante Tatbestände von den bestehenden Verfassungsnormen bereits von vornherein antizipiert seien. Hierzu gehöre vor allem der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1  GG, der an das Vorhandensein von Vergleichsgruppen anknüpfe. Eine Vergleichbarkeit hänge jeweils von den neuen konkreten Umständen ab, auf die sie sich beziehe.4 Des Weiteren unterfalle dieser Fallgruppe auch der verfassungsrechtliche, aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Grund­ satz der Verhältnismäßigkeit, der es ermögliche, neue Erkenntnisse und Entwicklungen auf seinen verschiedenen Ebenen Rechnung zu tragen.5 Verfassungswandlungen der zweiten Kategorie, nämlich mittels Öffnung durch Anpassung des Normsinns, träten dann auf, wenn  –  nach der schon früh berühmt gewordenen Formel des BVerfG  – in dem Bereich einer Ver­ fassungsbestimmung „neue, nicht vorausgesehene Tatbestände auftauchen Sachs, in: ders., GG, Vor Art. 1 Rn. 24. auch Voßkuhle, Der  Staat  43 (2004), S. 450 (458). 3  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 283 ff. 4  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 284; zustimmend Walter, AöR  125 (2000), S. 517 (525). 5  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 284. 1  Vgl.

2  Dahingehend



A. Vorbemerkungen87

oder bekannte Tatbestände durch ihre Einordnung in den Gesamtablauf einer Entwicklung in neuer Beziehung oder Bedeutung erscheinen“.6 Weniger Probleme bereite der Einbezug neuer Entwicklungen, wenn ihre Interessen­ lage parallel zu bisher akzeptierten Anwendungsfällen verlaufe.7 Besondere Relevanz erlange diese Kategorie jedoch dann, wenn gänzlich neue Tatbe­ stände auftauchten, die Anlass gäben, den bisher zugrunde gelegten Sinn einer Verfassungsnorm in ein neues Licht zu rücken. Bryde nennt als Bei­ spiel neue Erkenntnisse im Bereich der Grundrechtstheorie, namentlich die Erweiterung der Grundrechtsfunktionen vom Verständnis als bloße subjekti­ ve Abwehrrechte hin zu objektiven Leistungsrechten. Insbesondere die bri­ santen Fälle, die nicht recht in den bisherigen Sinnzusammenhang eines Verfassungsverständnisses passten, würden zuletzt durch einen Verfassungs­ wandel in Gestalt der dritten Gruppe  –  der Öffnung für neue Wertungen  – ermöglicht. Diese beträfen Wandlungen in der „Suprastruktur“, denen im Regelfall gewandelte verfassungstheoretische Erkenntnisse vorausgingen.8 Anlass hierfür könnten Akzentverschiebungen bei dem Verständnis von Gerechtigkeits- und Rechtsvorstellungen liefern. Obwohl sich die Ausführungen von Bryde auf den „Verfassungswandel“ beziehen, dessen begriffliche Legitimationskraft abzulehnen ist9, lassen sich der vorgenommenen Einteilung gleichwohl erste Impulse für die typo­ logische Erfassung grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse abgewinnen. So verdeutlicht jedenfalls der zuerst genannte Typus einer „Öffnung durch Verweisung“ die Existenz solcher Grundrechtstatbestände, deren tatbestand­ liche Natur bereits von vornherein auf eine dynamische Erweiterung ihres Schutzbereichs ausgerichtet ist. Ihre unmittelbare dynamische Verweisungs­ kraft hebt sie wiederum von anderen Grundrechten ab, bei denen auf eine ex ante-Sinnerweiterung gerade bewusst verzichtet wurde. Während somit einige grundrechtliche Tatbestände bewusst dynamisch ausgestaltet sind, verhaften andere vornehmlich einer statischen Schutzbereichsbestimmung. Bei letzteren kann sich eine tatbestandliche Dynamik entsprechend nur un­ ter strengeren Voraussetzungen vollziehen. Bryde versucht diese Tatbestände mittels der beiden Typen der „Öffnung durch Anpassung des Normsinns“ sowie der „Öffnung für neue Wertungen“ zu erfassen, wenngleich die Gren­ zen zwischen den beiden Kategorien bei ihm letztlich dennoch fließend bleiben. Eine tatbestandliche Sinnerweiterung statisch ausgerichteter Grund­ rechtstatbestände kann aber grundsätzlich im Zuge eines umfassenden Inter­ 380 (401); Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 286. Verfassungsentwicklung, S. 286. 8  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 287 f. 9  Dem Begriff des „Verfassungswandels“ mangelt es an einer verfassungsrecht­ lichen Begriffslegitimation, dazu ausführlich oben Teil  2  B. 6  BVerfGE  2, 7  Bryde,

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

pretationsvorgangs stattfinden. Entsprechend ist hierfür die Methode norma­ tiv gebundener Topik10 anzuwenden. Aufgrund ihres statischen Charakters lassen sich diese Typen vorzugsweise als retardierende Grundrechtstatbe­ stände bezeichnen. Keine Berücksichtigung finden bei Bryde die normgeprägten Grundrecht­ statbestände. Diese zeichnen sich durch ihre tatbestandliche Abhängigkeit von einer, den Schutzgehalt erst konstituierenden, einfach-rechtlichen Aus­ gestaltungslage aus. Ihr Schutzgehalt ist zwar einerseits im Falle einer Überholung der einfach-rechtlichen Ausgestaltungslage jederzeit tatbestand­ licher Dynamik zugänglich, auf der anderen Seite erfordert die Schutzbe­ reichsbestimmung jeweils aber zunächst ein Tätigwerden des Ausgestal­ tungsgesetzgebers, der damit das Tempo an Dynamik regulieren kann. Führt man diese Überlegungen nun zusammen, lässt sich eine entspre­ chende Typologie grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse mit drei Kate­ gorien herleiten. Hierzu zählen der Typus „dynamischer Verweisungsnormen“, die „normgeprägten Grundrechtstatbestände“ sowie die „retardierenden Grundrechtstatbestände“. Jeder Typus enthält spezifische Anforderungen an die tatbestandliche Verarbeitung der an ihn herangetragenen Entwicklun­ gen aus der Lebenswirklichkeit. Erst unter Berücksichtigung der jeweiligen tatbestandlichen Eigendynamik eines grundrechtlichen Typus lässt sich eine Bewertung über die Zulässigkeit einer verfassungsrechtlichen Reflexion von Dynamisierungsprozessen der Lebenswirklichkeit treffen. Überlegungen zu einer „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“ bauen auf diesen Feststellungen auf. Ziel einer solchen Lehre ist es, ein Prüfprogramm vorzulegen, mit dem die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von tatbestandlichen Erweiterungen einzelner Grundrechte im zeitlichen Verlauf beurteilt werden kann. Zur Bewertung grundrechtlicher Dynamisie­ rungsprozesse bedarf es stets der Zuordnung einer Entwicklung der Lebens­ wirklichkeit zu einem möglicherweise einschlägigen grundrechtlichen Tat­ bestand, der diese tatbestandlich erfassen könnte. In einem nächsten Schritt gilt es, die tatbestandliche Struktur des ausgewählten Grundrechtstatbestands einem Dynamisierungstypus zuzuordnen, um auf diese Weise die konkreten tatbestandlichen Anforderungen an die Verarbeitung von Dynamik zu iden­ tifizieren. Während dynamische Verweisungsnormen unmittelbar und jeder­ zeit neue Entwicklungen einer tatbestandlichen Dynamik zuführen, soll dagegen eine tatbestandliche Sinnerweiterung im Bereich retardierender Grundrechtstatbestände die Ausnahme bleiben. Die Unterschiede in der tatbestandlichen Natur grundrechtlicher Bestimmungen sind daher von im­ menser Bedeutung. 10  Zur

Methode der Verfassungsinterpretation vgl. oben Teil  2  C.  III.



A. Vorbemerkungen89

II. Holistischer Ansatz Der Untersuchungsansatz für eine „Lehre grundrechtlicher Dynamisie­ rungsprozesse“ soll ferner ein ganzheitlicher sein. Dies bedeutet, dass sich die Bewertung grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse nicht nur auf die Zuordnung einer Entwicklung der Lebenswirklichkeit zu einem bestimmten Grundrechtstypus beschränken, sondern darüber hinaus auch die Grenzen und verfassungsrichterliche Kontrolle tatbestandlicher Sinnerweiterungen zum Gegenstand ihrer Betrachtungen macht. Grundrechtliche Dynamisie­ rungsprozesse unterliegen absoluten verfassungsimmanenten Grenzen, die keine tatbestandliche Dynamik durchbrechen kann. Ihre Herausarbeitung ist damit ein ebenso wichtiger Aspekt für die Legitimitätsfrage grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse. Schließlich soll auch noch die verfassungsrichter­ liche Perspektive in die Überlegungen einfließen. Die hat insbesondere die Kontrollmöglichkeiten und Kontrollpflichten grundrechtlicher Dynamisie­ rungsprozesse durch das BVerfG zur Aufgabe. Während bisherige Auseinandersetzungen unter dem Aspekt grundrechtli­ cher Dynamik allenfalls punktuell geführt werden, trägt überhaupt erst ein solcher holistischer Ansatz dazu bei, die verschiedenen Einzeldiskurse in einem ganzheitlichen Modell zusammenzuführen, um hieraus entsprechende Wechselwirkungen abzuleiten. Erstaunlicherweise gibt es bislang noch keine grundrechtsspezifische Arbeit in diese Richtung. Auf dieses Defizit weist auch Voßkuhle im Zusammenhang mit seinen Untersuchungen zum „Verfas­ sungswandel“ hin. In Übereinstimmung mit der hiesigen Untersuchung spricht er ebenso dem „Verfassungswandel“ seine begriffliche Legitimati­ onskraft ab. Allenfalls auf einer heuristischen Untersuchungsebene, so deu­ tet Voßkuhle darüber hinaus an, könne der „Verfassungswandel“ möglicher­ weise als erkenntnisleitendes Mittel für die Rekonstruktion von Verfas­ sungsentwicklungen und daran anknüpfend für Prognosen in die Zukunft dienen: „Um diese Funktion zu erfüllen, müsste eine Lehre vom Verfas­ sungswandel, die diesen Namen verdient, aber eigene Ordnungsbegriffe, Typologien, Leitgedanken oder Theoriegebäude zur Verfügung stellen, mit denen die zeitbedingte Veränderung des Verständnisses einer Norm ange­ messen beschrieben werden kann.“11 Diesem Arbeitsauftrag soll der hier gewählte holistische Ansatz zur Kon­ zeption einer Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse nachkommen. Mit Blick auf das angestrebte Unterfangen, grundrechtsspezifische, von der normativen Kraft geleitete Steuerungsprozesse aufzudecken und für die Verfassungsdogmatik systematisch zu erfassen, ist terminologisch jedoch 11  Voßkuhle,

Der  Staat  43 (2004), S. 450 (458).

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

anstelle des konturenlosen Begriffs vom „Verfassungswandel“ von einer „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“ zu sprechen.

B. Typologie grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse Grundrechtliche Tatbestände lassen sich also ihrerseits bestimmten Typen zuweisen, deren Natur unterschiedliche Anforderungen an die dynamische Anpassungsfähigkeit des Tatbestands und damit an einen grundrechtlichen Dynamisierungsprozess vorsieht. Die Typologie grundrechtlicher Dynami­ sierungsprozesse umfasst den Typus der dynamischen Verweisungsnormen, den Typus der normgeprägten Grundrechtstatbestände sowie den Typus der retardierenden Grundrechtstatbestände. Sie weisen in ihren Anforderungen an die Verarbeitung von Dynamisierungsprozessen der Lebenswirklichkeit graduelle Abstufungen auf.

I. Dynamische Verweisungsnormen – ex ante-Anpassung Den höchsten Grad an tatbestandlicher Dynamik beinhalten die dynami­ schen Verweisungsnormen. Ihre Einzigartigkeit liegt in der besonderen Ausgestaltung tatbestandlicher Strukturen. Dynamische Verweisungsnorme sind von vornherein  – ex ante  – in die Zukunft gerichtet. Ihre Tatbestände sollen zukünftige Dynamisierungsprozesse der Lebenswirklichkeit in die verfassungsrechtliche Reflexion überführen, ohne dass dabei eine sachliche Beschränkung erfolgt. Die fortwährende sachoffene Bezugnahme der Tatbe­ stände auf Vorgänge in der Lebenswirklichkeit entspricht geradezu der In­ tention des Verfassunggebers. Dem Typus der dynamischen Verweisungs­ normen gehören die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1  GG) und der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1  GG) an. 1. Art. 2 Abs. 1 GG – ein zukunftsoffenes Auffanggrundrecht Die extensivste Ausprägung tatbestandlicher Dynamik enthält Art. 2 Abs. 1  GG. Als „Hauptfreiheitsrecht“12 bzw. „Muttergrundrecht“13 kommt der allgemeinen Handlungsfreiheit, dergestalt sie seit dem Elfes-Urteil14 allgemein anerkannt ist15, in Zusammenschau mit ihrer systematischen Ein­ 12  Dürig,

in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1  I Rn. 11. in: Bettermann/Nipperdey, Bd. IV/2, S. 741 (759). 14  BVerfGE  6, 32 ff. 15  Cornils, in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl., § 168 Rn. 1, 7; Schnapp, NJW  1998, 960 (960). 13  Nipperdey,



B. Typologie grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse91

bettung nach der Menschenwürdegarantie und vor dem allgemeinen Gleich­ heitssatz eine zentrale Bedeutung im Gefüge des Grundgesetzes zu16. Zu­ gleich besitzt Art. 2 Abs. 1  GG zur Abrundung eines lückenlosen dynami­ schen Schutzsystems einen subsidiären Auffangcharakter.17 Die allgemeine Handlungsfreiheit ist als umfassend anzusehen und erfasst in ihrem Schutzbereich jede Form menschlichen Handelns.18 Plastisch for­ muliert das BVerfG: „Was nicht verboten ist, ist erlaubt.“19 In ihrer nega­ tiven Ausprägung ist die allgemeine Handlungsfreiheit zudem als Prinzip negativer Selbstbestimmungsfreiheit zu verstehen, welches die Freiheit zur Wahl eigener Lebensentwürfe und Lebensweisen gegen die Vorstellungen einer Mehrheit und deren Wertekonzepte sichert.20 In diesem Punkt, den heute vor allem auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt, wird eine Anbindung an die Menschenwürdegarantie sichtbar, die jedem Menschen in gleicher Weise zukommt und infolgedessen jeden einzelnen im Rahmen seiner persönlichen Selbstentfaltung dazu befähigt, über die Selbstgemäß­ heit und Valenz von Verhaltensvarianten frei zu entscheiden.21 a) Tatbestandliche Erweiterung durch unmittelbaren Einbezug bisher gänzlich unbekannter Tatsachen Die dynamische Ausgestaltung des Tatbestands der allgemeinen Hand­ lungsfreiheit wirkt in die Zukunft und erfasst prima facie jedes verfassungs­ rechtlich relevante Verhalten, unabhängig von der konkreten Art der Betäti­ gung. Bislang unbekannte Tatsachen, die der historische Verfassungsgeber nicht kannte, gelangen über den Weg des Art. 2 Abs. 1  GG unmittelbar in das grundrechtliche Schutzgefüge, ohne dass weitere Anforderungen an den Einbezug zu stellen sind. Der jedenfalls durch Art. 2 Abs. 1  GG garantierte Schutz ist als verfassungsrechtlicher Mindestschutz zu verstehen. In Falle des Auftretens bisher gänzlich unbekannter Tatsachen findet also erstmalig eine entsprechende tatbestandliche Erweiterung der allgemeinen Handlungs­ freiheit statt, handelt es sich doch um gänzliche neue Entwicklungen, die naturgemäß bisher noch gar keine Berücksichtigung in der verfassungsrecht­ 16  Cornils, in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl. § 168 Rn. 7. 17  Ebenda. 18  BVerfGE  6, 32 (36); 80, 137 (152). 19  BVerfGE  84, 372 (380). 20  Cornils, in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl, § 168 Rn. 12, 87. 21  Cornils, in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl, § 168 Rn. 12 m. w. N.

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

lichen Reflexion finden konnten. Exemplarisch lässt sich die aus techni­ schem Fortschritt resultierende Möglichkeit zur Nutzung des Internets an­ führen, mit der Verhaltensweisen verbunden sind, die dem historischen Verfassungsgeber gänzlich unbekannt waren. Jedenfalls subsidiär werden sie über Art. 2 Abs. 1 GG erstmals unter verfassungsrechtlichen Schutz gestellt. An dieser Stelle wird der Unterschied zu solchen Konstellationen deutlich, bei denen nicht das Aufkommen einer gänzlich neuen Tatsache im Fokus steht, sondern lediglich eine zum gegenwärtigen Zeitpunkt bereits bekannte Tatsache im zeitlichen Verlauf als überholt erscheint. Dann geht es nicht um die erstmalige Berücksichtigung jener Tatsache im Verfassungsrecht, auf wel­ che die allgemeine Handlungsfreiheit abzielt. Vielmehr ist die überholte Tat­ sache dem historischen Verfassungsgeber als Faktum der Lebenswirklichkeit bereits bekannt gewesen und damit jedenfalls seit jeher a priori Bestandteil des grundrechtlichen Schutzsystems, zumindest der allgemeinen Handlungs­ freiheit, gewesen. Die Überholung bereits bekannter Tatsachen betrifft regel­ mäßig normative Wandlungen: Einzig die normative Bewertung im Umgang mit einem Bezugsobjekt kann sich im zeitlichen Verlauf wandeln, die Exis­ tenz des faktischen Bezugsobjekts ist dagegen seit jeher bekannt. b) Zum „Sittengesetz“ als dynamische Schrankenregelung Grundrechtsdynamik betrifft den Vollzug tatbestandlicher Sinnerweiterun­ gen und vollzieht sich damit stets auf der Tatbestandsebene eines Grund­ rechts. Die dynamische Verweisung der allgemeinen Handlungsfreiheit ist mithin bereits in der tatbestandlichen Struktur des Art. 2 Abs. 1  GG ange­ legt. Zwar schließt es der unmittelbare tatbestandliche Einbezug neuer Dy­ namisierungsprozesse der Lebenswirklichkeit nicht aus, ein an sich tatbe­ standlich geschütztes Verhalten unter Einhaltung der Schrankensystematik des Art. 2  Abs. 1  GG wiederum zu beschneiden. Die Tatbestandsebene ist jedoch strikt von der Rechtfertigungsebene eines Grundrechtseingriffs zu unterscheiden. Grundrechtsdynamik findet allein im Tatbestand bzw. im sachlichen Schutzbereich statt. Diese hinreichende Unterscheidung zwischen Tatbestands- und Rechtfer­ tigungsebene vernachlässigt die speziell von Hillgruber vorgetragene Auf­ fassung22, die eine Dynamik des Art. 2 Abs. 1  GG vornehmlich in der dort genannten Schranke des Sittengesetzes verorten wollen. In der verfassungs­ rechtlichen Reflexion verarbeitet bereits die dynamisch ausgestaltete Tatbe­ standsstruktur von Art. 2  Abs. 1  GG eo ipso das Aufkommen neuer Ent­ wicklungen der Lebenswirklichkeit im tatbestandlichen Schutzniveau. Die 22  So

Hillgruber, in: Festschrift für M.  Spieker, S. 47 (54).



B. Typologie grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse93

Schranke des Sittengesetzes ist daher nicht das entscheidende Regulativ zur Beurteilung der generellen Schutzfähigkeit eines bestimmten Verhaltens, sie vermag keine Ausklammerungen aus dem Schutzbereich zu erzeugen, son­ dern kann ein prima facie geschütztes Verhalten allenfalls auf der nachge­ lagerten Ebene der grundrechtlichen Schrankensystematik als Grundrechts­ schranke beschneiden. Sowieso muss im Umgang mit der Schranke des Sittengesetzes Vorsicht walten. Ihre Fähigkeit, grundrechtlich geschützte Verhaltensweisen aufgrund sittlicher Vorstellungen zu begrenzen, begegnet verfassungsrechtlichen Be­ denken. Ganz überwiegend wird die Schranke des Sittengesetzes heutzutage sogar für funktionslos gehalten.23 Bereits im Parlamentarischen Rat herrschte Unklarheit mit Blick auf die genaue Bedeutung der Formulierung eines „Sittengesetzes“24, teilweise wurde gar eine Entbehrlichkeit erwo­ gen.25 Die rechtspolitische Forderung nach einer Streichung der Schranke des Sittengesetzes setzt sich bis in die Gegenwart fort.26 In der höchstrich­ terlichen Rechtsprechung ist sie gleichsam in der Bedeutungslosigkeit ver­ schwunden. Einzig in der vielfach kritisierten Homosexuellen-Entscheidung aus dem Jahr 195727 hat das BVerfG auf das Sittengesetz Bezug genom­ men28, um männlicher Homosexualität unter Verweis auf christlich-abend­ ländische Wertevorstellungen ihre Strafbarkeit zu bescheinigen. Für eine Funktionslosigkeit der Schranke des Sittengesetzes spricht die Tatsache, dass der Rekurs auf das Sittengesetz den Zugang zu außerrechtli­ chen Legitimationsgründen eröffnet, deren Überprüfbarkeit und Validität er­ heblichen Bedenken unterliegt, indem vor allem klare Maßstäbe für die rechtliche Reflexion fehlen.29 Es besteht eine erhöhte Anfälligkeit zum Miss­ brauch, der zur schlichten Durchsetzung subjektiver Präferenzen dient.30 Ins­ besondere ließen sich auf diese Weise unerwünschte Verhaltensweisen unter dem Etikett eines Sittenverstoßes aus dem verfassungsrechtlichen Schutz 23  Vgl. bereits Stern, Staatsrecht  III/2, S. 504; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2 Rn. 99; Kunig, in: I.  v.  Münch/Kunig, GG, Art. 2 Rn. 28; Risse, S. 83 m. w. N. 24  Starck, in: v.  Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2 Abs. 1 Rn. 38; Starck, in: Festschrift für W.  Geiger, S. 259 (263) führt an, dass die Entstehungsgeschichte für die Auslegung der Schranke des Sittengesetzes wenig ergiebig ist. 25  Risse, S. 78. 26  Beispielsweise Schwabe, ZRP  1991, 361 (362); Kunig, in: I.  v.  Münch/Kunig, GG, Art. 2 Rn. 27. 27  BVerfGE  6, 389 (433 ff.). 28  Starck, in: v.  Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2 Abs. 1 Rn. 36. 29  Kritisch auch Cornils, in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl, § 168 Rn. 87; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1 Rn. 45; Kunig, in: I.  v.  Münch/Kunig, GG, Art. 2 Rn. 26. 30  Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1 Rn. 45.

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

ausklammern. Angesichts der Tatsache, dass sich der damalige Sittenmaßstab maßgeblich aus christlichen Moralvorstellungen speiste, wären davon vor al­ lem christlichen Werten widersprechende Verhaltensweisen betroffen. Eine originäre Bewertung verfassungsrechtlich schützenswerter Verhaltensweisen lässt sich indes nicht mit der negativen Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG in Einklang bringen.31 Auch ist die Bezugnahme auf die vorherrschenden Sit­ ten dem Vorwurf eines Zirkelschlusses ausgesetzt. Das Sittengesetz beruht auf einer Entscheidung der zu seiner Setzung legitimierten Instanz, nämlich des Gesetzgebers, der wiederum durch die verschiedenen Mehrheitsverhält­ nisse entsprechende gesellschaftliche Interessen bündelt und politisch um­ setzt. Jedes vor diesem Hintergrund erlassene Gesetz würde somit den vor­ herrschenden sittlichen Maßstab determinieren und den hierauf gestützten Grundrechtseingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit rechtfertigen. Das Pendel im Spannungsverhältnis zwischen Grundrecht und Majoritätsinteresse würde dann immer zugunsten letzterem ausschlagen.32 Entscheidend ist vor allem, dass eine solche Leseart der Schranke des Sittengesetzes bereits in Widerspruch zur tatbestandlichen Gewährleistung, dem Prinzip der negativen Selbstbestimmungsfreiheit, steht, das gerade be­ sonders eng mit der Menschenwürde verzahnt ist.33 Art. 2 Abs. 1  GG soll die „freie“ Entfaltung der Persönlichkeit gewährleisten.34 Die Schranke des Sittengesetzes kann daher allenfalls deklaratorische Bedeutung dahingehend besitzen, die geschützte Verhaltensweise auf ein Maß wechselseitiger Ver­ träglichkeit mit anderen Schutzpositionen zu begrenzen. Sie ist insofern lediglich als an den Gesetzgeber gerichteter „Appel an das Bewußtsein ethischer Gebundenheit“35 im Sinne einer Erinnerung zur Beachtung der Menschrechtstradition36 zu verstehen.37 In der Verfassungslehre besitzt daher heute lediglich noch die Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung eine eigene Bedeutung. Die daneben aufgeführten Schranken der „Rechte anderer“ sowie des „Sittengesetzes“ sind bereits Teil  der verfassungsmäßi­ gen Ordnung, sie werden von ihr inkorporiert.38 31  Risse, S. 85; Kunig, in: I.  v.  Münch/Kunig, GG, Art. 2 Rn. 28; Wasmuth, Der  Staat  40 (2001), S. 47 (61). 32  Risse, S. 89. 33  Cornils, in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl, § 168 Rn. 87. 34  Risse, S. 90. 35  Stern, Staatsrecht, Bd. IV/1, S. 969. 36  Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2 Abs. 1 Rn. 41. 37  Cornils, in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl, § 168 Rn. 87. 38  Cornils, in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl, § 168 Rn. 82 f.; Starck, in: v.  Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2 Abs. 1 Rn. 36.



B. Typologie grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse95

2. Art. 3 Abs. 1 GG – Gewährleistung von Gleichheit in der Zeit Dynamisierungsprozesse der Lebenswirklichkeit können zur zeitgemäßen Reflexion gleichheitsrechtlicher Fragestellungen Anlass geben. Die Notwen­ digkeit tatbestandlicher Wandelbarkeit resultiert mitunter aus dem Zusam­ menspiel des allgemeinen Gleichheitssatzes und Art. 2 Abs. 1  GG, dürfte in derselben Verfassung eine statische Gleichheitsbetrachtung die dynamische Entfaltungsfreiheit der allgemeinen Handlungsfreiheit doch nicht nivellie­ ren.39 Überhaupt können von solchen Verschiebungen im Gesamtsystem der Verfassung, die das Resultat grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse sind, Fernwirkungen auf die Vergleichsmaßstäbe des allgemeinen Gleich­ heitssatzes ausgehen. Obwohl Art. 2 Abs. 1  GG sowie Art. 3 Abs. 1  GG beide dem Typus dy­ namischer Verweisungsnormen unterfallen, unterscheidet sich der allgemei­ ne Gleichheitssatz in Berücksichtigung von Dynamisierungsprozessen je­ doch erheblich. Zunächst einmal stellen sich gleichheitsrechtliche Fragen nicht nur im Falle des Aufkommens bisher gänzlich unbekannter Tatsa­ chen  –  hierauf beschränkt sich die Dynamik bei Art. 2 Abs. 1  GG40  –, son­ dern auch im Falle der Überholung bereits bekannter Tatsachen. Die Schutzrichtung von Art. 3 Abs. 1  GG ist eine andere: Während Art. 2 Abs. 1  GG jedes Verhalten überhaupt erstmals dem grundrechtlichen Schutzsystem zuführen soll und dieser Prozess unmittelbar erfolgt, zielt der Gleichheitssatz dagegen darauf ab, zusätzlich auch solche gesellschaft­ lichen Veränderungen unter gleichheitsrelevanten Gesichtspunkten zu erfas­ sen, die bereits bekannte Tatsachen überholen und somit heute auf eine erneute zeitgemäße Anpassung drängen. Gegenüber den anderen Typen unterscheidet sich Art. 3 Abs. 1  GG durch seine sachliche Offenheit. Diese Eigenschaft teilt der allgemeine Gleichheitssatz wiederum mit Art. 2 Abs. 1  GG. Die Vergleichsgruppenbildung kann zunächst einmal mit Blick auf jede relevante Entwicklung der Lebenswirklichkeit erfolgen, der Tatbe­ stand von Art. 3 Abs. 1  GG ist nicht von vornherein auf bestimmte Sach­ bereiche beschränkt. Um die Kriterien der Verarbeitung von Dynamik durch Art. 3 Abs. 1  GG herauszuarbeiten, ist zunächst eine dogmatische Aufarbeitung des Grund­ rechts erforderlich. Der allgemeine Gleichheitssatz gilt gemeinhin als an­ spruchsvolles Grundrecht, seine Dogmatik ist seit jeher zutiefst umstritten41 und birgt wohl kaum so viele nicht abschließend gelöste Fragen wie die 39  Dürig,

in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3  I Rn. 194. oben Teil  3 B.  I.  1.  a). 41  Boysen, in: v.  Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 1. 40  Dazu

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

anderen Grundrechtsgarantien42. Diese Ausgangslage erschwert die Durch­ dringung von Art. 3 Abs. 1  GG. a) Gerechtigkeit als Gleichheitsprimat Als konsentiert gilt jedenfalls, dass sich der allgemeine Gleichheitssatz nicht nur als besonders wichtige Ausprägung der Menschenwürdegarantie erweist43, sondern seiner ideengeschichtlichen Entstehung nach vor allem als positiv-rechtliche Konkretisierung des objektiven Gerechtigkeitsprinzips anzusehen ist44. Der in Art. 3 Abs. 1  GG niedergelegte Gleichheitsgedanke bildet die Brücke zum – der Verfassung vorgelagerten – Gerechtigkeitsprin­ zip45. Gleichheit als grundlegende46 Ausprägung von Gerechtigkeit, als tiefste Erfahrung menschlichen Gerechtigkeitsempfindens47 wird auf diese Weise zu einem Einfallstor der Berücksichtigung von Gerechtigkeitserwä­ gungen für die Auslegung des Verfassungsrechts.48 Sie stellt ein Verfas­ sungsprinzip unter Verfassungsprinzipien dar49, das sowohl der Herstellung von Individualgerechtigkeit dient als auch zur Förderung des Gemeinwohls beiträgt50. Gerechtigkeit ist somit geradezu Maßstab für Gleichheit.51 Während sich Gerechtigkeitserwägungen im Gleichheitssatz konkretisie­ ren52, verpflichtet der Gleichheitsgedanke seinerseits zur Herstellung von Gerechtigkeit im Zeitverlauf.53 42  Stern,

Staatsrecht, Bd. IV/2, S. 1469. in: H. Dreier, GG, 3. Aufl., Art. 3 Rn. 16; Krieger, in: Schmidt-Bleib­ treu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 3 Rn. 12. 44  P. Kirchhof, in: Isensee/ders., Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII,§ 181 Rn. 22; Kloepfer, in: Hinske/Müller, S. 34 (34); überblicksartig Huster, in: Friauf/ Höfling, GG, Stand  2002, Art. 3 Rn. 24 ff. 45  Kloepfer, Gleichheit als Verfassungsfrage, S. 1 ff.; zum Gerechtigkeitsprinzip bereits oben Teil  2  C.  IV. 46  Rüfner, in: Dolzer/Graßhof/Kahl/Waldhoff/Walter, BK-GG, Stand: Oktober 1992, Art. 3  I GG Rn. 3. 47  Kloepfer, in: Hinske/Müller, S. 34 (34). 48  Rüfner, in: Dolzer/Graßhof/Kahl/Waldhoff/Walter, BK-GG, Stand: Oktober 1992, Art. 3  I GG Rn. 4. 49  Ausführlich Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, S. 26 ff. 50  v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, S. 7. 51  So ausdrücklich Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, S. 90; vgl. auch Huster, Rechte und Ziele, S. 35; Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Stand  2002, Art. 3 Rn. 32. 52  Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, S. 37; Osterloh/Nußberger, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 3. 53  Rüfner, in: Dolzer/Graßhof/Kahl/Waldhoff/Walter, BK-GG, Stand: Oktober 1992, Art. 3  I GG Rn. 3. 43  Heun,



B. Typologie grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse97

Das Gerechtigkeitsstreben findet seinen Niederschlag in der rechtlichen Gleichheit aller Menschen, Gerechtigkeit wird zum Primat jeglicher Gleich­ heit. Ihre Verknüpfung hat zur Folge, dass der allgemeine Gleichheitssatz seinerseits zu einer ergebnisoffenen Verfassungsnorm wird. Er ist nicht von vornherein auf bestimmte Gerechtigkeitsmaximen beschränkt, sondern ent­ faltet im Gegenteil seine ergebnisoffene Wirkung gegenüber jeder an ihn he­ rangetragenen gleichheitsrelevanten Beurteilungskonstellation. Dabei geht es ganz überwiegend nicht allein um Aspekte der Rechtsanwendungsgleichheit, sondern im Vordergrund gleichheitsrechtlicher Fragestellungen steht die Pro­ blematik der Rechtsetzungsgleichheit54. Während die Rechtsanwendungs­ gleichheit allein der Durchsetzung von Gleichheit im Falle bereits existenter Norminhalte dient, ermöglicht überhaupt erst die Forderung nach Rechtset­ zungsgleichheit, einen von Verfassungs wegen bestehenden Anspruch auf gleichheitskonforme Ausgestaltung der Rechtsordnung durchzusetzen.55 Leistungs- und Teilhaberechte, die im Zentrum von Gleichbehandlungs­ begehren stehen, existieren in solchen Lebensbereichen, wo der Staat einer Personengruppe Leistungen vorenthält, die er einer vergleichbaren Perso­ nengruppe gewährt.56 Wesentlich Gleiches darf nicht ungleich, wesentlich Ungleiches nicht gleich behandelt werden.57 In einem ersten Schritt fordert ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Gleichbehandlung stets das Vorhan­ densein einer bestimmten Vergleichsgruppe, gegenüber derer eine Ungleich­ behandlung bestehen soll. Die Vergleichsgruppenbildung unter einen ge­ meinsamen Oberbegriff (genus proximum) oder eines gemeinsamen Merk­ mals (tertium comparationis) bildet den Einstieg in die Prüfung gleichheits­ relevanter Problemstellungen.58 Sie markiert zugleich die entscheidende Weichenstellung für die dogmatischen Strukturfragen im Umgang mit dem allgemeinen Gleichheitssatz. Art. 3 Abs. 1 GG beinhaltet selbst keine verfas­ sungsimmanenten Gerechtigkeitsmaßstäbe, mit denen sich seine tatbestand­ lich in Bezug genommene Gleichheit ermitteln ließe.59 In einer isolierten Leseweise ist der allgemeine Gleichheitssatz zunächst einmal „semantisch leer“.60 Diese Ergebnisoffenheit ist der zentrale Dreh- und Ankerpunkt für Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 31 ff. Gleichheit als Verfassungsfrage, S. 29; Kloepfer, in: Hinske/Müller,

54  Ausführlich 55  Kloepfer,

S. 34 (41). 56  BVerfGE  110, 412 (431); 112, 164 (174); 116, 164 (180); 124, 199 (218); 126, 400 (416). 57  St. Rspr., vgl. BVerfGE  116, 164 (180); 122, 210 (230). 58  BVerfGE  52, 277 (280); Epping, Rn. 782; Krieger, in: Schmidt-Bleibtreu/ Hofmann/Henneke, GG, Art. 3 Rn. 24. 59  Boysen, in: v.  Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 52. 60  Osterloh/Nußberger, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 5; P. Kirchhof, in: Isensee/ ders., Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII, § 181 Rn. 23.

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

die verschiedenen eingeschlagenen dogmatischen Ansätze zur Prüfung und Beurteilung von Gleichheitsverstößen.61 Umstritten ist nun insbesondere, ob dem allgemeinen Gleichheitssatz ein rein deskriptiver, das heißt ein wert­ freier und ausschließlich anhand formaler Kriterien zu bestimmender, Gleichheitsbegriff zugrunde liegt, oder aber bereits die Maßstabsbildung der Vergleichsgruppen eine normative Einkleidung erhält. Im Kern geht es um die Frage, auf welcher strukturellen Ebene von Art. 3 Abs. 1  GG  –  nämlich entweder auf der nachgelagerten Ebene der Rechtfertigung einer Ungleich­ behandlung oder bereits im vorgelagerten Schritt der tatbestandlichen Ver­ gleichsgruppenbildung – aus dem Gerechtigkeitsprinzip fließende Wertungs­ fragen zu verarbeiten sind.62 b) Ansätze zur Gleichheitsdogmatik Die mittlerweile nur noch schwerlich überschaubare Fülle vertretener Ansätze hinsichtlich des Umgangs mit dem in Art. 3 Abs. 1 GG enthaltenen Gleichheitsbegriff lässt sich dabei im Grunde  –  freilich auf einem gewissen Abstraktionsniveau  – zwei gegensätzlichen Strömungen zuteilen.63 aa) Deskriptiver Gleichheitsbegriff und zweistufige Gleichheitsdogmatik Ganz überwiegend wird zu Art. 3 Abs. 1 GG eine Sonderdogmatik gegen­ über den sonstigen Freiheitsrechten vertreten.64 Auch das BVerfG hat sich zu einer solchen Sichtweise bekannt.65 Der allgemeine Gleichheitssatz schütze allein gegen unsachliche Differenzierungen, sodass insbesondere das Kriterium der sachlich vernünftigen Rechtfertigung einer bestehenden Ungleichbehandlung die Prüfung von Art. 3 Abs. 1  GG dominiere. Lasse sich ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung anführen, liege kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1  GG vor. Im Unterschied zu den klassischen Freiheitsrechten gehe es bei Art. 3 Abs. 1  GG somit nicht darum, einen 61  Osterloh/Nußberger, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 7 m. w. N.; Stern, Staatsrecht, Bd. IV/2, S. 1483. 62  Vgl. auch Boysen, in: v.  Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 51 f. 63  So auch Boysen, in: v.  Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 53. 64  Heun, in: H. Dreier, GG, 3. Aufl., Art. 3 Rn. 18 ff.; Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 7 ff.; Osterloh/Nußberger, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 43; Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 59. Weitere Nachweise zum Schrifttum bei Huster, Rechte und Ziele, S. 54 f.; Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Stand 2002, Art. 3 Rn. 51 Fn. 89. 65  Vgl. bereits BVerfGE 24, 300 (358); 49, 148 (165); 72, 141 (150); ausführlich zur Rechtsprechung Britz, NJW  2014, 346 (346 ff.).



B. Typologie grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse99

Schutzbereich anhand normativer Kriterien zu bestimmen und etwaige Ein­ griffe auf ihre Rechtmäßigkeit zu untersuchen. Vielmehr sei die Vergleichs­ gruppenbildung rein formal zu treffen66 und die Rechtfertigung der Un­ gleichbehandlung ins Zentrum zu rücken67. Den einzig „normativen“ Aspekt der Vergleichbarkeit bestimmter Personen oder Gruppen markiere das Kri­ terium der „wesentlichen“ Gleichheit, deren Beurteilung allerdings nicht bereits im Rahmen der deskriptiven Vergleichsgruppenbildung, sondern erst auf Ebene der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung zu erfolgen habe.68 Der Gleichheitssatz wirke daher vornehmlich modal: Er betrachte nicht das „Ob“ eines etwaigen abwehrrechtlichen Gehalts, sondern befinde vor allem das „Wie“ einer Ungleichbehandlung für begründungsbedürftig.69 Insofern sei er lediglich als Gebot schematischer Gleichheit zu verstehen, deren Ab­ weichung rechtfertigungsbedürftig sei. Grundrechtsdogmatisch findet also mit der Feststellung einer Ungleichbe­ handlung zweier Vergleichspaare und deren Rechtfertigung durch einen sach­ lichen Grund ein zweistufiger Prüfungsaufbau statt.70 Kriterien einer formallogischen Struktur von Gleichheit bilden beispielsweise der Berufsstand, der Wohnort oder das Einkommen. Inwieweit nun eine auf diesen Kriterien beru­ hende Ungleichbehandlung verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist, hängt von dem sachlichen Erwägungsgrund ab. Die Frage der Rechtfertigung ist wiede­ rum Einfallstor für die Berücksichtigung bestimmter Arten einer Ungleichbe­ handlung. Während ursprünglich noch eine reine Willkürkontrolle gefordert wurde  –  das heißt, für eine Ungleichbehandlung ließ sich zunächst jeder sachlich vernünftige, nicht willkürliche Grund anführen –, wurde die binäre Kontrollmöglichkeit durch eine ausdifferenzierte Sonderdogmatik ergänzt, die vom Gedanken geleitet war, die Prüfung des Verhältnismäßigkeitsprin­ zips in die Gleichheitsprüfung einzubauen.71 Nach der vom BVerfG entwi­ ckelten „neuen Formel“ bemaßen sich die Rechtfertigungsanforderungen je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmal. Sie hatten entwe­ der eine bloße Willkürkontrolle oder aber eine strenge Bindung an den Ver­ 66  Ausdrücklich Heun, in: H. Dreier, GG, 3. Aufl., Art. 3 Rn. 19; Boysen, in: v.  Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 53 m. w. N. 67  Vgl. Heun, in: H. Dreier, GG, 3. Aufl., Art. 3 Rn. 26, wonach die zentrale Frage eines Gleichheitsverstoßes die Frage der Rechtfertigung einer Ungleichbe­ handlung betreffe. Britz, NJW  2014, 346 (346) benennt diese als „Herzstück“ der Gleichheitsprüfung. 68  Heun, in: H. Dreier, GG, 3. Aufl., Art. 3 Rn. 25; Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 7; Osterloh/Nußberger, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 82. 69  Überblicksartig zum Schrifttum Stern, Staatsrecht, Bd. IV/2, S. 1484; zum modalen Charakter vgl. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Stand 2002, Art. 3 Rn. 42 ff. 70  Vgl. Epping, Rn. 775; Heun, in: H. Dreier, GG, 3. Aufl., Art. 3 Rn. 29 f. 71  Britz, NJW  2014, 346 (346 f.).

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

hältnismäßigkeitsgrundsatz zum Gegenstand.72 Speziell im Falle personenbe­ zogener Ungleichbehandlungen mussten Unterschiede von erheblicher Art und erheblichem Gewicht nachgewiesen werden, um eine Ungleichbehand­ lung zu rechtfertigen.73 Das entscheidende Kriterium für die Rechtfertigungs­ kontrolle bildete damit die Intensität der Ungleichbehandlung im Einzelfall74: Während für personenbezogene Ungleichbehandlungen ein strenger, am Ver­ hältnismäßigkeitsprinzip orientierter Kontrollmaßstab galt, genügte für sach­ verhalts- und verhaltensbezogene Ungleichbehandlungen bereits ein sachli­ cher, willkürfreier Grund.75 Die kategoriale Unterscheidung zwischen perso­ nenbezogenen auf der einen und sachverhalts- oder verhaltensbezogenen auf der anderen Seite ist indes seit dem Jahr 2010 – unter Anstoß des Ersten Se­ nats bereits durch die zweite Transsexuellen-Entscheidung im Jahr 199376 – einer stufenlosen Maßstabsbildung gewichen.77 An ihre Stelle ist ein einheit­ licher Prüfungsmaßstab getreten, der sich stets am Verhältnismäßigkeits­ grundsatz orientiert und die Frage der Intensität einer Ungleichbehandlung in diesem Zusammenhang auf der Ebene der Angemessenheit verortet.78 Je nach betroffenem Sach- und Regelungsbereich werden andere eingestellt.79 Die Anforderungen sind dabei umso strenger, je weniger der Einzelne sie beeinflussen kann und je mehr sich eine Vergleichbarkeit der Persönlichkeits­ merkmale mit denen des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG aufdrängt.80 bb) Normativer Gleichheitsbegriff und dreistufige Gleichheitsdogmatik Der überwiegenden Literatur steht eine im Vordringen befindliche Auffas­ sung81 gegenüber, die maßgeblich von Huster82 entwickelt wurde. Sie legt 72  BVerfGE  88,

87 (98). BVerfGE  55, 72 (88, 91). 74  Epping, Rn. 797. 75  Im Überblick Britz, NJW  2014, 346 (347). 76  BVerfGE  88, 87 (96 ff.). 77  Britz, NJW  2014, 346 (347). 78  Epping, Rn. 798 f. 79  BVerfGE  129, 49 (68); 132, 72 (81); 132, 179 (188 f.). 80  BVerfGE  88, 87 (96); 97, 169 (181); 124, 199 (220); 129, 49 (69); 130, 240 (254); 131, 239 (256); vgl. auch Michael, NJW 2010, 3537 (3539); Britz, NJW 2014, 346 (349 f.). 81  Stern, Staatsrecht, Bd. IV/2, S. 1485 f. m. w. N.; Kloepfer, Gleichheit als Ver­ fassungsfrage, S. 54 ff.; Kloepfer, in: Hinske/Müller, S. 34 (50 f.). 82  Grundlegend Huster, Rechte und Ziele. Komprimierte Darstellungen finden sich bei Huster, JZ  1994, 346 (346 ff.); Huster, in: Friauf/Höfling, Stand  2002, Art. 3 Rn. 42 ff. 73  Grundlegend



B. Typologie grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse101

der Vergleichsgruppenbildung einen normativen, materiellen Gleichheitsbe­ griff zugrunde und wendet auch im Falle von Art. 3 Abs. 1  GG den „klas­ sischen“, dreistufigen Aufbau der Verletzung eines Grundrechts  –  nament­ lich die Feststellung eines Schutzbereichs, die Identifikation eines Eingriffs sowie die Frage der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung – an. Ein solches Eingriffsmodell betrachtet die Gleichbehandlung zweier Gruppen als spezi­ fisches Schutzgut von Art. 3 Abs. 1 GG. Der Schutzbereich des allgemeinen Gleichheitssatzes, das heißt die „Vergleichbarkeitsmaßstäbe“, ist normativ geprägt, die Aufgabe des Verfassungsrechtlers besteht in der sachbereichs­ spezifischen Konkretisierung des Gleichheitsprinzips für die jeweilige Gleichheitsfrage.83 Die Maßstäbe für die Vergleichsgruppenbildung entstam­ men ihrerseits den jeweiligen Maßstäben der Gerechtigkeit. Huster formu­ liert: „Den Schutzbereich des Gleichheitssatzes konstituiert die Behandlung, die dem jeweiligen Gerechtigkeitsmaßstab bzw. den jeweiligen Gleichheits­ rechten der Vergleichsperson entspricht.“84 Gerechtigkeitsmaßstäbe seien dabei als Konkretisierungen des fundamentalen Gleichheitsgebotes zu ver­ stehen, das alle Menschen prima facie und unter Berücksichtigung ihrer Interessen als gleich betrachte.85 Eine Behandlung zweier Vergleichspaare nach dem jeweils zeitgemäßen Gerechtigkeitsmaßstab widerspreche nicht dem Gleichheitssatz, sondern verwirkliche ihn im Gegenteil sogar erst. Die normative Vergleichsgruppenbildung nach dem Gerechtigkeitsmaßstab er­ laube dabei alleine die Berücksichtigung von Gerechtigkeitserwägungen im engeren Sinne, das heißt von gesellschaftlichen Wertevorstellungen. Reine Zweckmäßigkeitserwägungen, die einen Güterkonflikt zweier kollidierender Rechtsgüter entscheiden, werden hierbei ausgeklammert. Die maßgebliche Kompetenz zur Beurteilung der jeweils zeitgemäßen Gerechtigkeitsmaßstä­ be im Hinblick auf die Frage der Vergleichbarkeit zweier Gruppen obliege dem Gesetzgeber, die Kriterien der Vergleichsgruppenbildung seien damit einzig einer Evidenzkontrolle zugänglich.86 Entsprechend dem dreistufigen Aufbau der Prüfung grundrechtlicher Ver­ letzungen sei im Anschluss an die Festlegung des Schutzbereichs nach dem normativen Gleichheitsbegriff ein Eingriff in diesen zu prüfen.87 Ein­ griffe in den Gleichheitssatz lägen vor, wenn die auf der Schutzbereichs­ ebene festgestellten spezifischen Gerechtigkeitsnormen zugunsten solcher 83  Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Stand  2002, Art. 3 Rn. 38; ähnlich Kloepfer, in: Hinske/Müller, S. 34 (41, 50 f.). 84  Huster, JZ  1994, 541 (547). 85  Ebenda. 86  Ebenda. 87  Huster, Rechte und Ziele, S. 225 ff.; Stern, Staatsrecht, Bd. IV/2, S. 1486; Kloepfer, Gleichheit als Verfassungsfrage, S. 56 ff.

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

Zwecke durchbrochen würden, die im öffentlichen Interesse lägen. Dann sei ein Abweichen von dem selbst gewählten Gerechtigkeitsvorstellungen zu Lasten Einzelner auszumachen.88 Derartige Eingriffe ließen sich auf der dritten Stufe möglicherweise verfassungsrechtlich rechtfertigen, wenn sie auf tauglichen Zweckmäßigkeitserwägungen beruhten.89 Als Zweckmäßig­ keitserwägungen könnten rechtspolitische Vorstellungen zugunsten des Ge­ meinwohls, wie beispielsweise wirtschafts-, finanz- oder sozialpolitische Ziele, dienen.90 Diese seien nun nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeits­ grundsatzes zu überprüfen, sodass ein angemessener Ausgleich geschaffen werde.91 cc) Stellungnahme Ein entscheidender Vorteil der dreistufigen Struktur des Gleichheitssatzes liegt in dem systemkompatiblen Einbau der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung dient der Herstellung praktischer Konkor­ danz.92 Sie bezweckt mithin einen angemessenen Ausgleich von Rechts­ güterkonflikten, so wie dies bei Eingriffen in Freiheitsrechte zugunsten eines anderen Freiheitsrechts oder eines Schutzgutes von Verfassungsrang der Fall ist.93 Es geht dann um die Beurteilung einer angemessenen Mittel-ZweckRelation im jeweiligen Einzelfall. Legt man nun ein formal-deskriptives Gleichheitsverständnis dem allgemeinen Gleichheitssatz zugrunde, das tat­ sächliche Ungleichbehandlungen unter Anführung eines Rechtfertigungs­ grundes gestattet, lassen sich die beiden Größen – rechtliche Differenzierung auf der einen und tatsächliche Unterschiede auf der anderen Seite  – gar nicht erst in ein gegenseitiges Verhältnis setzen.94 Beide stellen keine ­konfliktfähigen Rechtsgüter dar, vielmehr hat alleine die Ungleichbehand­ lung dem Differenzierungsmaßstab der tatsächlichen Unterschiede zu ent­ sprechen. Mangels Annahme eines entsprechenden Schutzbereichs von Art. 3 Abs. 1  GG gibt es hier kein Rechtsgut, das gegenüber kollidierenden Schutzpositionen abzuwägen wäre.95 Der herkömmliche Aufbau der Verhält­ nismäßigkeitsprüfung (legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit, An­ 88  Huster,

JZ  1994, 541 (548). JZ  1994, 541 (548 f.). 90  Huster, JZ  1994, 541 (545). 91  Huster, JZ  1994, 541 (549). 92  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 317 f. 93  Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Stand  2002, Art. 3 Rn. 73; ausführlich Huster, Rechte und Ziele, S. 67 ff. 94  Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Stand  2002, Art. 3 Rn. 73. 95  Ebenda. 89  Huster,



B. Typologie grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse103

gemessenheit) wird dann entfremdet, er hat nicht seine herkömmliche Funktion als Maßstab zur Regelung von Rechtsgüterkonflikten, sondern alleine eine genauere Kontrollintensität für bestimmte Differenzierungskon­ stellationen zur Aufgabe.96 Während der Einbau der Verhältnismäßigkeitsprüfung in eine zweistufige Gleichheitsdogmatik somit gekünstelt erscheint, kann ihr dreistufiges Gegen­ konzept dem Bedürfnis nach Abwägung besser Rechnung tragen. Indem „in­ terne Zwecke“, die alleine den Maßstab der Gerechtigkeit betreffen97, bereits auf Schutzbereichsebene in die normative Vergleichsgruppenbildung einzu­ stellen sind, lassen sich Eingriffe zugunsten „externer Zwecke“, mithin zu­ gunsten von Nützlichkeitserwägungen hinsichtlich eines bestimmten rechts­ politisch angestrebten Schutzes oder einer Förderung, im Rahmen der dritten Stufe der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung in die Verhältnismäßigkeits­ prüfung integrieren. Normative Gleichheit als Schutzgut von Art. 3 Abs. 1 GG wird auf diese Weise zu einem prima facie-Recht.98 In der Differenzierung99 zwischen „internen“ gerechtigkeitswahrenden Zwecken und „externen“ rechtspolitischen Zwecken liegt die Stärke der von Huster angestoßenen drei­ stufigen Gleichheitsdogmatik. Erstere betreffen die Identifikation normativer Unterschiede zwischen den Vergleichspersonen, letztere sind alleine im Lich­ te des Gemeinwohls zu betrachten und haben mit den Vergleichspersonen gar nichts zu tun.100 Es ist überhaupt erst diese präzise Differenzierung, welche die Eigenschaft des Gleichheitssatzes als Ausprägung des der Verfassung vor­ gelagerten Gerechtigkeitsprinzips angemessen abbildet. Die Vergleichsgruppenbildung erfordert somit stets eine normative Beur­ teilung der Vergleichsmaßstäbe, die vom Gerechtigkeitsstreben geleitet ist.101 Zeitlich divergierende Gerechtigkeits- und Wertevorstellungen über das zeitgemäße Verständnis von „Gleichheit“102 entspringen ihrerseits der dynamischen Natur gesellschaftlicher Wertevorstellungen.103. Die Maßstäbe der Vergleichsgruppenbildung speisen sich aus den gesellschaftlichen Wer­ tevorstellungen und erfahren auf diese Weise mögliche Veränderungen im zeitlichen Verlauf. Während bei einer rein formalen Vergleichsgruppenbil­ dung die Gefahr droht, eine Vergleichbarkeit anhand deskriptiver Kriterien 96  Huster,

in: Friauf/Höfling, GG, Stand  2002, Art. 3 Rn. 74. Huster, Rechte und Ziele, S. 147 ff. 98  Huster, JZ  1994, 541 (547). 99  Vgl. dazu Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Stand  2002, Art. 3 Rn. 82 ff. 100  Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Stand  2002, Art. 3 Rn. 77. 101  Eingehend Huster, Rechte und Ziele, S. 29 ff. 102  Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3  I Rn. 15. 103  Dazu oben Teil  2 A.  I. 97  Ausführlich

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

vorschnell anzunehmen104, ermöglicht erst der normative Gleichheitsbegriff eine umfassende Auseinandersetzung mit gewandelten Wertevorstellungen, die sich auf die Vergleichsgruppenbildung ausgewirkt haben und eine Ak­ tualisierung hinsichtlich des Vergleichbarkeitsmaßstabs zweier Personen oder Gruppen fordern könnten. Insbesondere dann, wenn es im Zuge menschlichen Fortschritts zu grundlegenden Erkenntnisgewinnen kommt, können Dynamisierungsfaktoren eine Aktualisierung des Gerechtigkeits­ maßstabs zur Folge haben. Zwingend ist dies nicht zuletzt bei einem Fort­ schritt, der die Vorstellungen über den Gehalt menschlicher Würde unmit­ telbar berührt. Art. 1 Abs. 1  GG entfaltet dann seine Wirkung als Dynami­ sierungsfaktor.105 c) Tatbestandliche Dynamik durch normative Maßstabsbildung der Vergleichsgruppen Eine schwerpunktmäßige Hervorhebung der normativen Vergleichsgrup­ penbildung im Schutzbereich von Art. 3 Abs. 1  GG fügt sich somit insbe­ sondere in die hier angestellten Überlegungen der „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“ ein, die Dynamik als tatbestandliche Sinnerweite­ rungen begreift. aa) Herstellung von Gleichheit in der Zeit Die Vergleichsgruppenbildung beinhaltet stets wertende Elemente.106 Sie impliziert, dass jede Generation die Gleichheitsmaßstäbe nach ihrem Selbstverständnis ausfüllt107 und sich die Vergleichbarkeit nach den neuen konkreten Umständen bemisst, auf die sie sich fortwährend bezieht. Wand­ lungen der gesellschaftlichen Wertevorstellungen sorgen für die notwendi­ ge Überführung neuer Gerechtigkeitsvorstellungen in die verfassungsrecht­ liche Reflexion, sie wirken sich unmittelbar auf die Verfassungsinterpreta­ tion der Vergleichsgruppenbildung von Art. 3 Abs. 1  GG aus. In der zeit­ lich wandelbaren Maßstabsbildung der Vergleichspaare kommt überhaupt erst die besondere tatbestandliche Dynamik des Art. 3  Abs. 1  GG zum 104  Dies gesteht gewissermaßen auch Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 7 zu. Ähnlich Epping, Rn. 783. 105  Dazu bereits Teil  2  C.  IV.  1. 106  Heun, in: H. Dreier, GG, Art. 3 Rn. 22; Rüfner, in: Dolzer/Graßhof/Kahl/ Waldhoff/Walter, BK-GG, Stand: Oktober 1992, Art. 3 I GG Rn. 14; Hesse, AöR 77 (1951/1952), S. 167 (174). 107  Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie, S. 383; Hebeler, Generationengerechtig­ keit als verfassungsrechtliches Gebot, S. 129.



B. Typologie grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse105

Ausdruck.108 Normative Gleichheit beschreibt hier keinen tatsächlichen Zustand, sondern ein fortwährend anzustrebendes Handlungsziel.109 Die Abwesenheit spezifischer, vom Verfassungsrecht selbst vorgegebener Ver­ gleichsmaßstäbe110 bedingt, dass Art. 3 Abs. 1  GG bei der Feststellung der Vergleichsgruppenbildung zu einer ergänzungsbedürftigen Norm wird. Ihr tatbestandlicher Bezugspunkt, der sich auf die Beurteilung der Vergleich­ barkeit bestimmter Gruppen erstreckt, unterliegt dem Zeitgeschehen.111 In der Literatur wird diese Besonderheit des Gleichheitssatzes unter dem As­ pekt der notwendigen Herstellung von Gleichheit in der Zeit112 diskutiert. Das Ziel, Gleichheit in der Zeit herzustellen, um auf diese Weise den vorherrschenden gesellschaftlichen Gerechtigkeitsvorstellungen im Rahmen ihrer verfassungsrechtlichen Reflexion Rechnung zu tragen, macht den Ein­ bezug von Dynamisierungsfaktoren113 in die tatbestandliche Vergleichsgrup­ penbildung von Art. 3 Abs. 1  GG erforderlich. Dies gilt sowohl für die verfassungsrechtliche Reflexion gänzlich neuer Entwicklungen der Lebens­ wirklichkeit als auch für die grundlegende Überholung bereits bekannter Tatsachen. Bei letzteren ist die Berücksichtigung von Dynamisierungsfakto­ ren vor allem dann angezeigt, wenn der überholte Gehalt einen Aspekt be­ trifft, der zuvor noch nicht hinreichend bekannt war oder bislang stark vernachlässigt wurde, sodass ein besonderer Anpassungsdruck erzeugt wird. Nicht nur fordert hier die Menschenwürdegarantie die Achtung elementarer Basisgleichheit.114 Insbesondere präsentiert sich der Topos systemkohärenter Gerechtigkeit als zentrale Richtlinie für die normative Beurteilung der Maß­ stabsbildung zeitgerechter Vergleichsgruppen.115 Die angesprochenen Kons­ tellationen betreffen die typischen Anwendungsfelder der „Lehre grund­ rechtlicher Dynamisierungsprozesse“. In ihrem Lichte fällt der Blick hierbei 108  Ossenbühl, in: Festschrift für H. Zacher, S. 673 (682); Hebeler, Generationen­ gerechtigkeit als verfassungsrechtliches Gebot, S. 129. 109  Dazu Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Stand  2002, Art. 3 Rn. 31. 110  Ossenbühl, in: Festschrift für H. Zacher, S. 673 (682); Michael, Der allgemei­ ne Gleichheitssatz, S. 224. 111  P. Kirchhof, in: Isensee/ders., Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 2. Aufl., § 124 Rn. 22; Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S. 108 ff.; Ossenbühl, in: Fest­ schrift für H. Zacher, S. 673, 682; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 I Rn. 232; Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3  I Rn. 194. 112  Dazu Heun, in: H. Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl., Art. 3 Rn. 39 ff.; Hebeler, Ge­ nerationengerechtigkeit als verfassungsrechtliches Gebot, S. 123 ff., insb.  127 ff.; Ossenbühl, in: Festschrift für H. Zacher, S. 673 (682 ff.); Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 3  I GG, Rn. 194 ff. 113  Hierzu schon oben Teil  2  C.  IV. 114  Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1 Rn. 35; Podlech, in: Wassermann, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 29; Damm, S. 379 ff. 115  Peine, S. 302.

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

nicht  –  wie so oft im Kontext der Systemgerechtigkeit angeführt  – auf die Folgerichtigkeit einfach-rechtlicher Wertungen116, sondern es geht um die Extrahierung von Maßstäben für die verfassungsrechtliche Reflexion ge­ wandelter Gerechtigkeitsvorstellungen innerhalb der tatbestandlichen Ver­ gleichsgruppenbildung des allgemeinen Gleichheitssatzes. bb) Herstellung normativer Systemgerechtigkeit Das Grundgesetz bildet ein in einem Zusammenhang stehendes objektives Wertesystem.117 Gilt es nun, die zeitgemäßen Gerechtigkeitsvorstellungen für die Vergleichsgruppenbildung im Schutzbereich des allgemeinen Gleich­ heitssatzes feszulegen, dient vor allem das aus dem Topos zeitgerechter Systemkohärenz herrührende Gebot ganzheitlicher Verfassungsauslegung118 als Maßstab für die normative Bewertung gewandelter Gerechtigkeitsvor­ stellungen in der Lebenswirklichkeit. Das bereits bestehende objektivrechtliche Wertesystem des Grundgesetzes legt dem Gesetzgeber mit Blick auf die Rechtsetzungsgleichheit eine Selbstbindung auf.119 Neue Gerechtig­ keitsvorstellungen über die Vergleichbarkeit zweier Gruppen oder Personen, die auf einem neuen gesellschaftlichen Erkenntnisgewinn beruhen, orientie­ ren sich an dem bestehenden normativen Wertesystem und fordern eine Einordnung in dieses unter dem Aspekt ihrer normativ-systematischen Ver­ gleichbarkeit zu bestehenden Wertentscheidungen im Grundrechtskatalog. Trifft das Grundgesetz an bestimmten Stellen Aussagen zu der Werthaftig­ keit eines bestimmten Schutzgutes, lassen sich ihr normativer Gehalt und damit ihre verfassungsrechtliche Schutzintensität auf eine zeitgerechte Neubewertung eines verwandten Schutzgutes übertragen. Das objektivrechtliche Wertesystem dient hier als Maßstab für die verfassungsrechtliche Abbildung überholter Gerechtigkeitsvorstellungen, dass als solches dann zum Maßstab für die Bildung normativer Vergleichsgruppen aushilft. Es beschränkt zudem seinen Fokus nicht nur auf die nationale Ebene, sondern bezieht auch die supranationale Dimension ein. Der völkerrechtsfreundliche Charakter des Grundgesetzes fordert die adäquate Berücksichtigung interna­ tionalrechtlicher Entwicklungen für die Verfassungsauslegung. Vor allem für Entwicklungen auf europäischer Ebene gebietet dies der Topos von der Europäisierung der Verfassungsinterpretation.120 Europäische Regelungswer­ ke und hierzu ergangene Rechtsprechung der berufenen Organe werden auf nur Osterloh/Nußberger, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 98. bereits oben Teil  2  C.  IV.  2. 118  Auch hierzu bereits oben Teil  2  C.  IV.  2.  a). 119  Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Stand  2002, Art. 3 Rn. 110, 112. 120  Dazu ausführlich oben Teil  2  C.  IV.  2.  b). 116  Vgl.

117  Dazu



B. Typologie grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse107

diese Weise ebenfalls zu Indikatoren für die Ermittlung zeitgemäßer Ge­ rechtigkeitsvorstellungen für Art. 3 Abs. 1  GG. Die zeitoffene Konzeption verfassungsrechtlicher Gleichheit und das Ge­ bot ganzheitlicher Verfassungsauslegung zur Herstellung zeitgerechter Sys­ temkohärenz betreffen im Übrigen nicht nur den allgemeinen Gleichheits­ satz, sondern auch die speziellen, in Art. 3 Abs. 2 und Art. 3 Abs. 3  GG enthaltenen Gleichheitssätze.121 Zwar erscheinen bei anfänglicher Betrach­ tung die dort genannten Schutzgüter, beispielsweise die Kriterien des Ge­ schlechts, der Abstammung oder Rasse, hinreichend spezifiziert und damit weniger offen formuliert als der allgemeine Gleichheitssatz. In der Literatur herrscht dagegen seit jeher Ungewissheit über die tatsächlichen Normgehal­ te. Schutzgüter wie der Glaube, religiöse oder politische Anschauungen sind insbesondere von Wertungen abhängig. Wandlungen der Lebensgewohnhei­ ten und gesellschaftliche Werteverschiebungen nehmen somit Einfluss auf die Tatbestandsmerkmale und führen diese einer Dynamik zu. Auch diese sind unter Kohärenzgesichtspunkten in das bestehende Wertesystem des Grundgesetzes einzubinden. Exemplarisch stehen hierfür die jüngsten Ent­ wicklungen im Bereich von Intersexualität und Transsexualität mit Blick auf das Kriterium des „Geschlechts“122. Historisch betrachtet sind diese Formen nicht vom grundrechtlichen Tatbestand erfasst gewesen. Der weitläufige Wortlaut lässt unter Aspekten grundrechtlicher Dynamisierung jedoch einen möglichen Anpassungsdruck aufkommen, mit dem eine Reihe von Fragen verbunden sind: Genügt beispielsweise heutzutage das geschlechtliche Selbstempfinden oder aber ist alleiniger Anknüpfungspunkt für das von Art. 3 Abs. 3  GG erfasste „Geschlecht“ noch das biologische Geschlecht zum Zeitpunkt der Geburt? Inwieweit hängen Geschlechtsidentität und se­ xuelle Identität zusammen? Wie ist weiterhin mit intersexuellen Menschen umzugehen, bei denen eine eindeutige Geschlechtszuordnung nicht möglich ist? Die Beantwortung dieser Fragen wird maßgeblich durch die dahinter­ stehenden, vorherrschenden gesellschaftlichen Wert- bzw. Gerechtigkeits­ vorstellungen beeinflusst. Aufgrund der engen Verknüpfung des Geschlechts­ empfindens als Persönlichkeitsmerkmal erlangt als Dynamisierungsfaktor maßgeblich die in Art. 1 Abs. 1  GG enthaltene Verpflichtung zur Achtung der Menschenwürdegarantie, speziell ihre Ausprägungen als Schutz der personalen Identität und als Minderheitenschutz, Bedeutung. Neben der Anwendung von Dynamisierungsfaktoren fordert die sachbereichsspezifi­ sche Beschränkungen der genannten Schutzgüter weiterhin eine Bindung an den hermeneutischen Kanon, insbesondere darf sich eine Auslegung nicht Ossenbühl, in: Festschrift für H. Zacher, S. 673 (684). Adamietz, Geschlecht als Erwartung; Kolbe, Intersexualität, Zwei­ geschlechtlichkeit und Verfassungsrecht. 121  Zustimmend 122  Ausführlich

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

über den Wortlaut eines Schutzguts von Art. 3 Abs. 3 GG hinwegsetzen, der eingedenk der generalklauselartigen Verfasstheit grundrechtlicher Tatbestän­ de123 allerdings nur wenig Bedeutung zuteil wird.

II. Normgeprägte Grundrechtstatbestände – verfassungsrechtlicher Gestaltungsauftrag Um einen weiteren Typus grundrechtlicher Dynamik handelt es sich so­ dann bei den normgeprägten Grundrechten. Ihre Erhebung zu einer eigenen Kategorie mit spezifischen tatbestandlichen Anforderungen an die Verarbei­ tung eines grundrechtlichen Dynamisierungsprozesses rechtfertigt sich vor dem Hintergrund ihrer tatbestandlichen Abhängigkeit auf eine einfach-ge­ setzliche Ausgestaltung. 1. Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtskonkretisierung Die Ausgestaltungsgesetzgebung begründet im Bereich normgeprägter Grundrechte geradezu ein spezielles Betätigungsfeld des einfachen Gesetz­ gebers.124 Ihr unterfallen beispielsweise der von Art. 6 Abs. 1  GG erfasste verfassungsrechtliche Eheschutz, bei dem erst das einfache Recht festlegt, wann ein Zusammenleben von Personen eine Ehe begründet125, sowie wei­ terhin die Eigentumsgarantie des Art. 14  GG, zu deren Inhaltsbestimmung der Gesetzgeber durch deklaratorischen Hinweis in Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG explizit aufgerufen ist126. Grundsätzlich sind zwar sämtliche im Verfassungsrecht verankerte Rechtsprinzipien und offene Bestimmungen notwendigerweise auf eine Konkretisierung angewiesen.127 Gleichwohl ist aber zwischen zwei Arten gesetzgeberischer Betätigung zu unterscheiden128: Eingriffe in den Schutz­ bereich eines Grundrechts müssen mit der Schrankensystematik vereinbar sein und können nur innerhalb ihrer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung erfolgen, so beispielsweise bei gesetzgeberischer Betätigung im Rahmen der dem Gesetzgeber obliegenden staatlichen Schutzpflicht, wo Konflikte zwi­ 123  Hierzu

bereits oben Teil  2 A.  III.  2.  b). Ausgestaltung von Grundrechten, S. 17. 125  Sanders, in: Emmenegger/Wiedmann, Bd. 2, S. 351 (355) bezeichnet die Ehe prägnant als „Produkt des Rechts“. 126  Mainzer, S. 132; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Rn. 226; Gellermann, S. 4, 127. 127  Schenke, AöR  (103) 1978, S. 566 (586). 128  Siehe dazu Michael/Morlok, Rn. 41 ff.; Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie, S. 180 ff. 124  Bumke,



B. Typologie grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse109

schen Privaten geregelt oder Gefahren abgewehrt werden. Indes kann der einfache Gesetzgeber in die Grundrechte nicht nur eingreifen, sondern in einigen Fällen dem Grundrechtstatbestand überhaupt erst seine existentiellen inhaltlichen Konturen verleihen, die den Umfang seiner Freiheitsgewährleis­ tung konstituierend festlegen. Der Gesetzgeber verfolgt in solchen Fällen keine Grundrechtsbeeinträchtigung, sondern praktiziert Grundrechtspoli­ tik129, durch welche die Voraussetzungen der Inanspruchnahme der Freiheit gefördert bzw. gewährleistet oder sogar überhaupt erst eröffnet werden. Diese Art der gesetzgeberischen Betätigung wird als Grundrechtskonkreti­ sierung bzw. Grundrechtsausgestaltung bezeichnet,130 wobei sich die Unter­ scheidung zwischen Konkretisierung und Ausgestaltung nach dem Bedürfnis auf Rechtsprägung des Schutzbereiches richtet.131 Eine Grundrechtskonkre­ tisierung findet bei solchen Grundrechten statt, die nicht rechtsgeprägt sind. Hier kann der Gesetzgeber durch den Erlass begleitender Gesetze den Grundrechtsgebrauch erleichtern oder fördern.132 Die Ausübung der grund­ rechtlichen Freiheiten ist jedoch auch ohne konstituierende Ausgestaltung möglich. Dagegen ist die Ausgestaltung eines Schutzbereiches zur konstituierenden Gewährleistung der grundrechtlichen Freiheit zwingende Voraussetzung bei den normgeprägten Grundrechten. Bei diesen Grundrechtstatbeständen ist der Einzelne zum Grundrechtsgebrauch nicht schon durch seine Natur im Stande, sondern überhaupt erst die Rechtsordnung schafft das Substrat der tatbestandlich geschützten Rechtsgüter.133 Das einfache Recht konturiert somit maßgeblich die verfassungsrechtlichen Wertgehalte.134 Durch die Grundrechtsausgestaltung werden der Rahmen bzw. die Bahnen135 der grundrechtlichen Freiheit festlegt. Der Gesetzgeber ist in diesen Fällen kein „Feind der Grundrechte“, sondern ihm obliegt die positive Aufgabe der näheren Ausgestaltung einer normgeprägten Freiheitsgewährleistung.136 Ge­ 129  Häberle,

VVDStRL  30 (1972), S. 43 (75). Ausgestaltung von Grundrechten, S. 46 ff.; grundlegend Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande; Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte. 131  Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Rn. 225 ff.; Hesse, Grundzüge des Verfas­ sungsrechts, Rn. 305; Lerche, in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 2. Aufl., § 121  Rn. 38 ff. 132  Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Rn. 231, 233. 133  Herzog, in: Festschrift für W.  Zeidler, S. 1415 (1417 ff.). 134  Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 1301; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Rn. 225; Degenhart, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. III, § 61 Rn. 20; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 304. 135  Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Rn. 233. 136  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 304. 130  Bumke,

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

rade im Wege der Grundrechtsausgestaltung lassen sich daher die prägenden Zeit- und Wertevorstellungen im einfachen Recht abbilden.137 Hier wird deutlich, dass die rechtspolitischen Präferenzen der regierungsfähigen Mehr­ heit das Zusammenspiel von offenem Tatbestand und normgeprägter Grund­ rechtsstruktur in der Staatspraxis maßgeblich determinieren.138 Der einfache Gesetzgeber wird im Bereich der normgeprägten Grundrechte zum wesent­ lichen Motor tatbestandlicher Aktualisierung. Er ist geradezu durch die Verfassung dazu aufgefordert, seine politischen Vorstellungen rechtlich umzusetzen – er muss Politik betreiben. Die Verpflichtung zur Konturierung der tatbestandlichen Freiheit als Ausdruck gesetzgeberischer Ausgestal­ tungsentscheidungen unterscheidet die normgeprägten Grundrechte von „sonstigen“ Grundrechten, bei denen es einer solchen konstituierenden Ausgestaltung gerade nicht bedarf. Bei grundrechtsausgestaltenden Betätigungen handelt es sich nicht um grundrechtseingreifende Maßnahmen.139 Ebenso haben bestehende Ausge­ staltungslagen keinen Verfassungsrang, sodass mit ihrer einfach-gesetzlichen Umgestaltung kein Grundrechtseingriff einhergeht.140 Grundrechtsausgestal­ tende Maßnahmen nehmen nur dann die Natur eines ungerechtfertigten Eingriffs an, wenn sie die Grenze zu den verfassungsrechtlichen Kernvor­ gaben, den materiellen Wesensgehalt eines Grundrechts, überschreiten.141 Somit wirkt die Grundrechtsausgestaltung in zweierlei Richtungen: Sie ist auf der einen Seite eingrenzend-konkretisierend, auf der anderen Seite po­ sitiv sichernd-entfaltend.142 Im konkretisierenden Element deckt sich die Ausgestaltung mit der Grundrechtskonkretisierung.143 137  Schenke,

AöR  (103) 1978, S. 566 (586). in: Maunz/Dürig, GG, Art. 79 Rn. 32. 139  Epping, Rn. 434. 140  Epping, Rn. 442; Ausnahmen sollen nach der Rechtsprechung des BVerfG jedoch für Art. 14 Abs. 1 GG sowie die in Art. 2 Abs. 1 GG garantierte Vertragsfrei­ heit gelten, bei denen mit der Umgestaltung ein Eingriff in Bezug auf bereits beste­ hende Rechtspositionen einhergehe, vgl. Epping, Rn. 443. Diese Sonderbehandlung gegenüber anderen normgeprägten Grundrechten ist durchaus kritisierbar, zumal die vom BVerfG angeführten Vertrauensschutzgesichtsspunkte nicht unbedingt als Uni­ kate der Eigentumsgarantie und Vertragsfreiheit einzuordnen sind. 141  Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 104 f.; wohl auch Pieroth/Schlink/ Kingreen/Poscher, Rn. 229. Anders aber Epping, Rn. 428 f., der auf die Rechtspre­ chung zu Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG und die strikte Abgrenzung zwischen Enteignung und Inhaltsbestimmung verweist. Hierbei wird jedoch vernachlässigt, dass es sich bei Art. 14 Abs. 1 GG um ein Sonderproblem handelt, da eine Enteignung unter strengen Voraussetzungen durch die Verfassung ermöglicht wird, während bei anderen normge­ prägten Grundrechten der materielle Kern gar nicht erst zur Disposition steht. 142  Degenhart, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. III, § 61 Rn. 18. 143  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 305. Im Übrigen ist im Bereich der Grundrechtsausgestaltung nach wie vor vieles streitig, sei es die Wahl einer 138  Herdegen,



B. Typologie grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse111

2. Tatbestandliche Dynamik durch rechtspolitische Gestaltungsentscheidung Gegenüber der Gruppe der dynamischen Verweisungsnormen ist die tat­ bestandliche Dynamik beim Typus der normgeprägten Grundrechte redu­ ziert, erfolgt ihre Ausgestaltung speziell mit Blick auf die von der Norm­ prägung in Bezug genommenen sachlichen Lebensbereiche. Anders als bei Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG nehmen normgeprägte Grundrechts­ tatbestände nicht bereits jede zukünftige Entwicklung unmittelbar in Bezug. Vielmehr werden Dynamisierungsprozesse der Lebenswirklichkeit vom Schutzbereich eines normgeprägten Grundrechtstatbestands nur dann reflek­ tiert, wenn ihnen eine entsprechende rechtspolitische Ausgestaltungsent­ scheidung vorausgegangen ist. Grundvoraussetzung ist dafür zunächst ein­ mal ein besonderer sachlicher Bezug des Dynamisierungsprozesses der Le­ benswirklichkeit zu dem konkreten Schutzbereich eines normgeprägten Grundrechts. In einem nächsten Schritt obliegt es dann der Entscheidungs­ freiheit des Ausgestaltungsgesetzgebers, einen grundrechtlichen Dynamisie­ rungsprozess im Tatbestand eines normgeprägten Grundrechts herbeizufüh­ ren, indem er die Entwicklung der Lebenswirklichkeit durch entsprechende konstituierende Ausgestaltung der Rechtsordnung in den sachlichen Schutz­ bereich des normgeprägten Grundrechts tatsächlich einbezieht. Normgepräg­ te Grundrechte eröffnen damit dem Ausgestaltungsgesetzgeber Spielräume für die Verwirklichung rechtspolitischer Gestaltungskonzepte. Ihr Schutzum­ fang bemisst sich nach der Ausrichtung und Schwerpunktsetzung der ein­ fach-gesetzlichen Ausgestaltungslage. Eine bisherige Ausgestaltungslage kann durch eine neue ersetzt oder modifiziert werden. Veränderungen inner­ halb der politischen Ausgestaltungslagen bewirken also durchaus eine Dy­ namik in der Zeit, die vom historischen Verfassungsgeber als solche auch gewollt ist. Vor diesem Hintergrund ist es gerechtfertigt, die Einstufung der normgeprägten Grundrechte als eigenständigen Typus grundrechtlicher Dy­ namik zu betrachten. Exemplarisch für eine Dynamik durch rechtspolitische Gestaltungsent­ scheidung steht die in jüngerer Zeit festzustellende Tendenz, den in Art. 6 einheitlichen Terminologie, die Frage nach der Abgrenzungsschwelle zwischen aus­ gestaltender und grundrechteingreifender Betätigung des Staates oder aber – wie bei der Grundrechtskonkretisierung sichtbar wird  – der Einbezug und Umgang von Regelungen, die den Grundrechtsgebrauch zwar erleichtern und fördern, jedoch an­ ders als die normgeprägten Grundrechte, die zwingend auf eine Ausgestaltung ange­ wiesen sind, keine verfassungsrechtliche Notwendigkeit innehaben. Einen Überblick zu den gegenwärtigen Problemfeldern einer Ausgestaltungsdogmatik geben Gellermann, S. 21 ff.; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 595 f.; Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 13 ff.; Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, S. 1 ff.

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

Abs. 1  GG vorgesehenen Eheschutz zunehmend von möglichen Verbindun­ gen zu familiären Elementen abzutrennen und den Schutzumfang der Ehe vornehmlich auf die partnerschaftliche Bindung der Eheleute zu konzentrie­ ren.144 Diese Entwicklung entspringt gewandelten gesellschaftlichen Werte­ vorstellungen im Hinblick auf die Bedeutung der Ehe sowie einer signifi­ kanten Zunahme nichtehelicher Familien in der Lebenswirklichkeit. Die historische Ausgangslage zeichnete noch ein anderes Bild: Zur Entstehungs­ zeit des Grundgesetzes stand maßgeblich die Bedeutung der Ehe als beson­ dere Vorstufe zur Familie im Zentrum rechtspolitischer Vorstellungen. Dementsprechend enthielt die Rechtsordnung verschiedene Anreize zuguns­ ten von Ehegatten, die auf das Hervorbringen von Kindern oder die Grün­ dung einer ehebasierten Familie ausgerichtet waren. Diese werden in der heutigen Zeit zunehmend abgebaut und verstärkt dem verfassungsrechtlichen Familienschutz zugewiesen. Unabhängig von der verfassungsrechtlichen Bewertung einer Konnexität der Schutzgüter von Ehe und Familie145 zeigt sich damit jedenfalls eine sukzessive Verlagerung des Eheschutzes auf die Individualsphäre, die den heutigen rechtspolitischen Gestaltungswillen wi­ derspiegelt.

III. Retardierende Grundrechtstatbestände – ex post-Anpassung Sämtliche Grundrechtstatbestände außerhalb der dynamischen Verwei­ sungsnormen und normgeprägten Grundrechte stellen schließlich den dritten Typus grundrechtlicher Dynamisierung dar, der sich als sog. Gruppe retar­ dierender Grundrechtstatbestände bezeichnen lässt. 144  Bumke, in: Bucerius Law School, S. 155 (165 f.). Diese Entwicklung beobach­ ten ebenfalls, wenn auch kritisch, Seiler, in: Uhle, S. 37 (45); Seiler, in: Dolzer/ Graßhof/Kahl/Waldhoff/Walter, BK-GG, Stand: Juli  2014, Art. 6 Rn. 240 ff.; Di Fabio, NJW  2003, 993 (998); Zippelius, Verhaltenssteuerung durch Recht und kultu­ relle Leitideen, S. 27 f.; Friauf, NJW  1986, 2595 (2598). 145  Diese Frage ist in der Literatur stark umstritten. Während teilweise eine zwin­ gende, von Verfassungs wegen vorgesehene Konnexität zwischen Ehe und Familie behauptet wird, vgl. bereits v. Coelln, in: Sachs, GG, Art. 6 Rn. 6 m. w. N., stuft mitt­ lerweile ein Großteil der Literatur die beiden Schutzgüter des Art. 6 Abs. 1  GG als voneinander „entkoppelt“ ein, so bspw. Michael, NJW  2010, 3537 (3538); Stüber, FPR  2006, 117 (119); Freytag, DÖV  2002, 445 (450); Beck, NJW  2001, 1894 (1897 f.); Zuleeg, NVwZ 1986, 800 (806); Brosius-Gersdorf, Demografischer Wandel und Familienförderung, S. 224 f.; Nesselrode, S. 101, 122 ff., 164 ff.; Seiler, in: Dol­ zer/Graßhof/Kahl/Waldhoff/Walter, BK-GG, Stand: Juli 2014, Art. 6  Rn. 88 f.; Gärditz, in: Uhle, S. 85 (123); E. v. Münch, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, § 9 Rn. 14; Coester-Waltjen, in: I.  v.  Münch/Kunig, GG, Art. 6 Rn. 4; Koschmieder, JA  2014, 566 (569). Eine Entkopplung von Ehe und Familie entspricht nun auch der Linie des BVerfG, vgl. erstmals BVerfGE 124, 199 (225 f.).



B. Typologie grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse113

1. Statische Grundprägung des Tatbestands Die retardierenden Grundrechtstatbestände, welche freilich die überwie­ gende Zahl der Grundrechte umfassen, zielen nicht von vornherein auf den tatbestandlichen Einbezug jeglicher zukünftiger Entwicklungen, sondern sind auf bestimmte Verhaltensweisen und Lebensbereiche begrenzt. Anders als die normgeprägten Grundrechte erfordert die Bestimmung der sachlichen Schutzbereiche keine konstituierende einfach-rechtliche Ausgestaltung. Die tatbestandliche Offenheit der retardierenden Grundrechtstatbestände macht zunächst einmal an der ursprünglichen Sinngebung Halt, die Schutzbereiche sind verstärkt von Statik geprägt. Gegenüber anderen Typen grundrechtlicher Dynamik vollzieht sich die Anpassung bei den retardierenden Grundrechtstatbeständen damit grund­ sätzlich unter strengeren Voraussetzungen. Die statische Grundprägung der retardierenden Grundrechtstatbestände lässt sich lediglich im Wege der Verfassungsinterpretation unter Einbezug topischer Leitprinzipien als Dyna­ misierungsfaktoren einer gedrosselten Dynamik zuführen. Hierfür bedarf es stets einer begründeten und nachvollziehbaren Abwägungsentscheidung.146 Eine vollzogene Aktualisierung ergänzt den ursprünglich vom Verfassung­ geber aufgestellten Schutzumfang, ohne ein formelles Textänderungsverfah­ ren zu durchlaufen. Es kommt zu einer Erweiterung des Schutzumfangs, ein Mehr an freiheitlicher Gewährleistung wird für solche Entwicklungen der Lebenswirklichkeit geschaffen, die einen engen sachlichen Bezug zum bis­ herigen Regelungsbereich aufweisen und somit eine sinnvolle zeitgemäße Ergänzung des grundrechtlichen Schutzanliegens mit sich bringen. 2. Tatbestandliche Dynamik unter Anwendung der Methode normativ gebundener Topik Eine nachträgliche tatbestandliche Aktualisierung zugunsten der Anpas­ sung an den Wandel der Zeit lässt sich also in diesen Fällen nur ausnahms­ weise unter Anwendung der Methode normativ gebundener Topik vollzie­ hen. Sie trägt dem integrativen Charakter der Verfassung Rechnung, der unter Zuhilfenahme von Dynamisierungsfaktoren eine ex post-Erweiterung des ursprünglichen Schutzumfangs eines Grundrechtstatbestands als Resul­ tat umfassender Einzelfallabwägungen erlaubt. Die Frage nach dem Auslösen eines grundrechtlichen Dynamisierungspro­ zesses im Bereich eines retardierenden Grundrechtstatbestands stellt sich stets bei dem Auftauchen bisher gänzlich unbekannter Tatsachen als auch in 146  Dazu

oben Teil  2  C.  IV.

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

den Fällen der Überholung bereits bekannter Tatsachen aufgrund techni­ schen Fortschritts oder normativer Veränderungen. Die zwischen Statik und Dynamik bestehende reziproke Beziehung ist nicht starr, sondern relativ und bedarf ein entsprechendes Austarieren. Setzt sich ein neues Rechtsbewusst­ sein am Ende eines vielschichtigen Prozesses für die Ermittlung vorherr­ schender gesellschaftlicher Wertevorstellungen147 durch, erweitert es ent­ sprechend den bisherigen verfassungsrechtlichen Schutzgehalt im retardie­ renden Grundrechtstatbestand. 3. Beispiel: Sinnerweiterung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts im digitalen Zeitalter Eine im Wege der Verfassungsinterpretation vollzogene Sinnerweiterung eines retardierenden Grundrechtstatbestands lässt sich in den vergangenen Jahren an keinem anderen Grundrecht so prägnant nachvollziehen wie an­ hand des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1  GG), dessen Schutzzweck die Wahrung der engen, persönlichen Lebenssphäre und den Erhalt ihrer Grundbedingungen zum Gegenstand hat148. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht hat im Laufe seiner geschichtli­ chen Entwicklung zunehmend neue Ausprägungen erfahren149, unter anderen ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung150 und Datenschutz151 oder ein Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informa­ tionstechnischer Systeme152. Die Erweiterungen des Normprogramms lassen sich auf technische Neu­ erungen im Zuge der Digitalisierung153 und den dadurch notwendig gewor­ denen Schutz vor neuartigen Verhaltensweisen  –  z. B. Datenausspähung, Hacking, Stigmatisierungen, insbesondere in Form sog. „Shitstorms“  – so­ wie auf gewandelte gesellschaftliche Einstellungen im Umgang mit der Wertigkeit der Privatsphäre154 zurückführen. Sämtliche Entwicklungen hatte der Verfassungsgeber im Jahr 1949 Jahren noch nicht vor Augen. Er konn­ te nicht einmal absehen, dass es diese modernen Technologien und daraus resultierenden Möglichkeiten überhaupt einmal geben würde. Aus verfas­ 147  Zur

Wertbildung im Schichtenmodell vgl. bereits oben Teil  2 A.  II. 148 (153); 72, 155 (170); 121, 69 (90). 149  Siehe die Übersicht bei Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 2 Rn. 37. 150  BVerfGE  96, 171 (181); 115, 166 (187); 117, 202 (228); 118, 168 (184). 151  BVerfGE  65, 1 ff. 152  BVerfGE  120, 274 (303). 153  Überblicksartig Koschmieder, Die Verbreitung öffentlich-rechtlicher Fern­ sehangebote, S. 21 ff. 154  Dazu Schertz, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch  2013, S. 39 (39 ff.). 148  BVerfGE  54,



B. Typologie grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse115

sungsrechtlicher Sicht interessiert nun die Frage der tatbestandlichen Anpas­ sung, nämlich wie sich die neuen Entwicklungen in die bestehende verfas­ sungsrechtliche Schutzsystematik einfügen, und ob gar eine Sinnerweiterung der retardierenden Grundrechtstatbestände angezeigt ist. Für Anhänger eines strikt konservativen Verständnisses ist der Sinn eines grundrechtlichen Tatbestands zeitresistent ausgestaltet und bemisst sich demzufolge ausschließlich nach dem punktuellen Kenntnisstand des histo­ rischen Verfassungsgebers zum Zeitpunkt des Erlasses der Norm. In der Konsequenz liegt es, dass neuartige Entwicklungen, die außerhalb dieses Kenntnisstandes und außerhalb des ursprünglichen Schutzumfangs angesie­ delt sind, einzig über die dynamische Verweisungsnorm des Art. 2 Abs. 1 GG verfassungsrechtlichen Schutz genießen würden. Eine Subsumtion unter den sachlichen Schutzbereich eines spezielleren Grundrechts155 ließe sich nur im Wege einer formellen Verfassungstextänderung vollziehen.156 Mit Blick auf die im Zuge der Digitalisierung zutage getretenen Entwicklungen würde dies bedeuten, dass sie mangels Existenz einer nachträglich erlasse­ nen, diese speziellen Entwicklungen tatbestandlich erfassenden Grund­ rechtsbestimmung allein dem Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit unterfielen. Diese enge Sichtweise ist jedoch mit der dynamisch-integrativen Natur des Grundgesetzes nicht in Einklang zu bringen.157 Vielmehr stellen grund­ rechtliche Dynamisierungsprozesse die Zeitgemäßheit grundrechtlicher Tat­ bestände unter gleichzeitiger Wahrung ihrer absoluten Grenzen sicher. Die­ ses verfassungstheoretische Verständnis bildet die Ausgangsprämisse dieser Arbeit, dergestalt sie in Teil  2 herausgearbeitet worden ist. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht wurzelt in Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art  1 Abs. 1  GG und schützt entsprechend seiner Entstehungsgeschichte158 den besonders sensib­ len Bereich einer engen persönlichen Lebenssphäre. Durch seine enge An­ bindung an die Menschenwürdegarantie geht der Schutzbereich des allge­ meinen Persönlichkeitsrechts über die allgemeine Handlungsfreiheit hinaus, er ist insofern nicht als Typus einer dynamischen Verweisungsnorm einzu­ stufen. Angesichts seines von Natur aus vorgegebenen Schutzumfangs, für die es keiner konstituierenden einfach-rechtlichen Ausgestaltung bedarf, unterfällt er ebenso wenig der Gruppe der normgeprägten Grundrechte. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht wird somit schließlich von der dritten typo­ zur Problematik der Grundrechtskonkurrenzen Michael/Morlok, Rn. 50 ff. bspw. ausdrücklich Hillgruber, in: Festschrift für M.  Spieker, S. 47 (54). 157  Zum integrativen Charakter des Grundgesetzes siehe oben Teil  2 A.  III.  2. 158  Dazu ausführlich Kube, in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl., § 148 Rn. 2 ff., insb. Rn. 18; siehe auch Holznagel, in: Pieroth, S. 29 (29 ff.). 155  Näher 156  So

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

logischen Gruppe grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse, nämlich den retardierenden Grundrechtstatbeständen, erfasst. Der Typus der retardierenden Grundrechtstatbestände ist zunächst durch tatbestandliche Statik gekennzeichnet, jedoch vermag er im Einzelfall eine Sinnerweiterung des bisherigen Schutzumfangs zugunsten der neuen digita­ len Entwicklungen im Wege der Verfassungsinterpretation zu vollziehen. Vordergründig beeinflusst in diesem Fall maßgeblich der technische Fort­ schritt als Entwicklungsparameter den Dynamisierungsprozess. Er gibt An­ lass, den Persönlichkeitsschutz um eine digitale Dimension zu erweitern. Insbesondere der Kernbereich des Persönlichkeitsschutzes, mithin der Schutz personaler Identität als besondere Ausprägung menschlicher Würde, wirkt in der verfassungsrechtlichen Reflexion der neuen technischen Entwicklungen als Dynamisierungsfaktor, indem er eine tatbestandliche Sinnerweiterung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als Ausdruck eines zeitgemäßen Per­ sönlichkeitsschutzes im digitalen Zeitalter fordert.159 Der Schutz personaler Identität steht auch in der digitalen Welt vor gleichen Herausforderungen wie ihnen der Parlamentarische Rat zum Entstehungszeitpunkt des Grund­ gesetzes für die ihm seinerzeit bekannten Problemstellungen begegnen wollte. Der ursprüngliche Schutzzweck des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bezieht sich auf den Schutz der engen persönlichen Lebenssphäre, der bei­ spielsweise eine Beeinträchtigung in Form von Ehrverletzungen, persönli­ chen Enthüllungen aus dem Privatleben oder der Ausnutzung persönlicher Bildnisse droht. Angesichts der fehlenden Vorhersehbarkeit der digitalen Entwicklungen zum Zeitpunkt des Verfassungskonvents ist der ursprüngli­ che Schutzumfang im Wege eines normativ gebundenen topischen Interpre­ tationsvorgangs zu erweitern. Beispielsweise der Missbrauch privater Daten zum Zwecke der systematischen Erfassung eines „gläsernen“ Menschen hat im Zuge der Digitalisierung ungeahnten Aufschwung erhalten. Unternehmen profitieren von privaten Kundeninformationen, mit denen sich beispielswei­ se neue Werbeformen noch zielgruppenaffiner zuschneiden lassen, der Mensch soll mithin in seiner Gänze „gelesen“ werden, um auf diese Weise weitere Kenntnis über seine privaten Vorlieben und persönlichen Interessen zu erfassen. Von einer solchen Profilbildung geht gleichzeitig ein erhöhtes Missbrauchspotential aus, gelangen die hoch sensiblen Informationen erst einmal in die falschen Hände. Gerade im Internet lässt sich beispielsweise die Verbreitung kompromittierender Bildnisse und stigmatisierender Darstel­ lungen nur noch schwerlich kontrollieren. Regelmäßig bleibt eine vollum­ fängliche Löschung zu einem späteren Zeitpunkt unmöglich. Derartige Be­ 159  Dahingehend auch am Beispiel des Rechts auf informationelle Selbstbestim­ mung Geminn/Roßnagel, JZ  2015, 703 (707 f.).



B. Typologie grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse117

einträchtigungen betreffen dann ebenfalls die enge persönliche Lebenssphä­ re. Die Gefährdungen in und aus der digitalen Welt sind nicht minder schützenswert als die dem historischen Verfassungsgeber seinerzeit vor­ schwebenden Gefahren, wie beispielsweise Persönlichkeitsverletzungen durch die damalige Zeitungs- oder Rundfunkberichterstattung, sondern sie stimmen mit der ursprünglich beabsichtigten Schutzrichtung  –  nämlich der Wahrung einer engen persönlichen Lebenssphäre  – überein. Die Zuordnung der damals nicht vorhersehbaren digitalen Entwicklungen unter die Schutz­ intention des allgemeinen Persönlichkeitsrechts lässt sich demnach insofern damit rechtfertigen, dass die in den Neuen Medien erfolgenden Beeinträch­ tigungen der persönlichen Entfaltung die gleiche Intensität aufweisen, folg­ lich grundrechtlich relevante Positionen in gleichem Maße tangiert werden. Eine Erweiterung des ursprünglichen Schutzumfangs zugunsten der neuen Entwicklungen stellt eine sinnvolle Ergänzung, ein Mehr grundrechtlich verbürgerter Freiheit, dar. Vor diesem Hintergrund geht der Vorwurf, durch den Einbezug der neuen Entwicklungen in den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts würde stets ein gänzlich neues Grundrecht „erfunden“ und ein altes Grund­ recht „abgeschafft“160, unter zwei Gesichtspunkten fehl: Zunächst einmal verkennt dies den integrativen Charakter des Grundgesetzes und die normati­ ve Kraft grundrechtlicher Tatbestände. Auch wird außer Acht gelassen, dass der bisherige Schutzumfang lediglich erweitert wird. Eine Beschneidung des bisher geltenden Schutzumfangs findet damit nicht statt. Der Einbezug neuer, gleichwertiger Gefährdung ausgesetzter Entwicklungen, die schlicht aus dem zeitlichen Verlauf entspringen, stellt vielmehr einen sinnvollen und notwen­ digen Schritt dar, dem dynamischen Charakter der Verfassung zu entspre­ chen, sodass ein Zusatz an grundrechtlicher Freiheit verbürgt wird. Zugege­ benermaßen sind Wortschöpfungen wie ein „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ bei blo­ ßer Betrachtung ihrer Bezeichnung leicht misszuverstehen. Nichtsdestotrotz findet auch in diesen Fällen keine Neuschöpfung, sondern einzig eine das ursprüngliche Schutzanliegen des Verfassunggebers erweiternde Lü­ ckenschließung statt, die sich von Verfassungs wegen im Zuge eines verfas­ sungsimmanenten, dynamischen Prozesses realisiert.

IV. Zwischenergebnis Die drei grundrechtlichen Typen der dynamischen Verweisungsnormen, der normgeprägten sowie der retardierenden Grundrechtstatbestände erlau­ ben allesamt eine zeitgemäße Anpassung ihrer Tatbestände. Sie bilden den 160  So

Hillgruber, JZ 2011, 861 (863 ff.).

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

Rahmen für das Einsetzen grundrechtliche Dynamisierungsprozesse, weisen in ihren tatbestandlichen Anforderungen an die Verarbeitung von Dynami­ sierungsprozessen der Lebenswirklichkeit jedoch graduelle Abstufungen auf. Die Kategorie der dynamischen Verweisungsnormen kennzeichnet ihre tat­ bestandliche Offenheit, die von vornherein auf den dynamischen Einbezug sämtlicher zukünftiger Entwicklungen angelegt ist. Art. 2 Abs. 1  GG stellt als subsidiäres Auffanggrundrecht bisher unbekannte sowie zukünftig unge­ wisse Entwicklungen und Verhaltensweisen erstmals unter den Schutz der Verfassung. Art. 3  Abs. 1  GG dient darüber hinaus zur Herstellung von Gleichheit in der Zeit. Die Beurteilung der Vergleichbarkeit, das heißt die normative Maßstabsbildung der Vergleichstauglichkeit bestimmter Gruppen, fußt letztlich auf dem übergeordneten Ziel, Gerechtigkeitsvorstellungen im zeitlichen Verlauf umzusetzen. In diesem Kontext sind auch die Dynamisie­ rungsfaktoren als justiziable Ausprägungen des Gerechtigkeitsprinzips in den Tatbestand des allgemeinen Gleichheitssatzes ex ante einbezogen. Dynamik innerhalb des Typus der normgeprägten Grundrechtstatbestände kann dagegen nicht jeden Dynamisierungsprozess der Lebenswirklichkeit unmittelbar in Bezug nehmen, sondern ist auf den Sachgegenstand des Tat­ bestands beschränkt. Gegenüber den dynamischen Verweisungsnormen ist die tatbestandliche Offenheit insoweit auf den Lebensbereich des sachlichen Schutzbereichs reduziert. Normgeprägte Grundrechtstatbestände sind den­ noch besonders anfällig für einen grundrechtlichen Dynamisierungsprozess, da ihr Schutzbereich von einer konstituierenden Ausgestaltungsgesetzgebung abhängt. Diese Abhängigkeit erlaubt wiederum verschiedene tatbestandliche Ausrichtungen und Schwerpunktsetzungen entsprechend den rechtspoliti­ schen Vorstellungen des Ausgestaltungsgesetzgebers, die sich im zeitlichen Verlauf ändern können. Schließlich gilt es den Typus der retardierenden Grundrechtstatbestände zu unterscheiden, der die Mehrzahl grundrechtlicher Bestimmungen betrifft. Retardierende Grundrechte kennzeichnet ihre statische Grundprägung, ihr Schutzumfang orientiert sich zunächst einmal an dem Vorstellungsbild des historischen Verfassungsgebers. Erst im Wege der Verfassungsinterpretation, nämlich unter Anwendung der Methode normativ gebundener Topik und der hiermit verbundenen Darlegungs- und Begründungserfordernisse, lässt sich in begründeten Fällen ausnahmsweise eine Sinnerweiterung auf Höhe der Zeit herbeiführen. Vornehmlich war von solchen Prozessen bislang der Tat­ bestand des allgemeinen Persönlichkeitsrechts betroffen.



C. Kontinuitätswahrung119

C. Kontinuitätswahrung – materielle Grenzen grundrechtlicher Dynamik Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse leisten einen essentiellen Bei­ trag für ein lebendiges Verfassungsrecht. Sie bewirken die Ersetzung über­ kommener tatbestandlicher Schutzgehalte durch neue, zeitgemäße Vorstel­ lungen und tragen auf diese Weise dem integrativen Charakter des Grund­ gesetzes Rechnung. Als Rahmenordnung überlässt die Verfassung dem In­ terpreten zur Ausfüllung zwar bestimmte Spielräume und etabliert auf diese Weise den Erhalt der Resorptionsfähigkeit der Verfassung in einem dynami­ schen Kontext.161 Die Anpassungsfähigkeit grundrechtlicher Gehalte betrifft damit stets die Tatbestandsebene. Jedoch erfolgt eine tatbestandliche Dyna­ mik nicht um jeden Preis, sondern sie unterliegt Begrenzungen, die ihre Wirkung relativ oder absolut entfalten können. Die Verfassungsinterpretation endet stets dort, wo die Ausfaltung des ursprünglichen Gehalts nicht mehr begründbar ist162, wo insbesondere die Wortlautgrenze überschritten wird. Rechtssicherheit, Vertrauen in die Unverbrüchlichkeit der Verfassung, Ach­ tung vor demokratisch zustande gekommenen Entscheidungen sind ihrerseits Gerechtigkeits- und Gemeinwohlvorstellungen und Bestandteil der Idee des objektiv „Richtigen“.163 Die Verlässlichkeit der Verfassung ist ein ihr eben­ so immanenter hoher Wert. Diese begrenzenden Faktoren sind nun ebenfalls bereits auf der grund­ rechtlichen Tatbestandsebene in die zeitgemäße Beurteilung der Reichweite eines sachlichen Schutzbereichs einzustellen. Sie betreffen die Anwendbar­ keit eines Grundrechtstatbestands unter dem Aspekt ihrer Resorptionsfähig­ keit einer bestimmten Entwicklung der Lebenswirklichkeit. Gesichtspunkte der Rechtfertigung von Eingriffen in einen grundrechtlichen Schutzbereich stellen sich dagegen immer erst auf nachgelagerter Ebene, sodass auch für die Bewertung der materiellen Grenzen grundrechtlicher Dynamisierungs­ prozesse die strikte Trennung von Tatbestands- und Rechtfertigungsebene zu beachten ist. Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse  –  auch die Frage der Anwendbarkeit eines sachlichen Schutzbereichs und ihrer ex ante be­ stehenden Begrenzungen  – vollziehen sich ausschließlich auf der Tatbe­ standsebene. In den Fällen, wo tatbestandliche Dynamik unter Anwendung von Dyna­ misierungsfaktoren erfolgt, hat eine umfassende Abwägung stattzufinden, 161  Sommermann,

in: Festschrift für U.  Steiner, S. 796 (801). Der  Staat  44 (2005), S. 1 (15). 163  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrecht, Rn. 14 f.; Bryde, Verfassungsentwick­ lung, S. 262. 162  Masing,

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

bei der die Dynamisierungsfaktoren der bisher vorgefundenen Ausgangslage gegenübergestellt und bewertet werden. Bei diesem Abwägungsvorgang ist zu berücksichtigen, dass sich die Verlässlichkeit der Verfassung oder die Berufung auf Tradition164 ihrerseits als hohe Werte der Verfassung erwei­ sen.165 Den Gegenpol zur verfassungsrechtlichen Dynamisierung markieren geradezu die Verfassungstradition und -kontinuität. Sie können im Abwä­ gungsvorgang gegenüber den Dynamisierungsfaktoren durchaus Vorzug er­ halten und sind dementsprechend stets als relative abwägungsrelevante Po­ sitionen zu behandeln. So verbirgt sich hinter der „Tradition“ ein Verfas­ sungsprinzip, mit dem die Berufung auf Bewährtes, auf die „Weisheit des ersten Wortes“, verbunden ist.166 Unser Vorverständnis der Welt ist an kul­ turelle Leitideen angebunden, welche wiederum die demokratische Staatsge­ walt legitimieren und Bedeutung für das politische Handeln haben.167 Die Prägekraft des Zeitgeistes beeinflusst das individuelle und kollektive Be­ wusstsein und führt zur Sozialisation von kultureller Tradition.168 Das Rechtsbewusstsein wird nicht nur von Dynamik, sondern auch von Bestän­ digkeit dominiert.169 Kontinuität gewährleistet Rechtssicherheit und stiftet Geschichte.170 Von noch größerer Bedeutung sind ferner die absoluten verfassungimma­ nenten Grenzen als äußerste, auch im Wege der Verfassungsinterpretation bzw. des Abwägungsvorgangs nicht überwindbare Rahmenvorgaben. Abso­ lute Grenzen markieren den Rahmen der Verfassung, dessen Stabilität eine ebenso wichtige Grundvoraussetzung der Verfassung ist. Auch im Falle der Einhaltung verfassungsrechtlicher Kompetenzen erfolgt die Wandelbarkeit der Verfassung nicht um jeden Preis. Die dynamische Wandlungsfähigkeit der Verfassung an die Zeit hilft dem an sie herangetragenen Anpassungs­ druck ab. Zugleich wird sie aber an bestimmte Verfahren und materielle Grenzen gebunden.171 Ein zu progressives Vorgehen, ein Verfallen dem „Kult des Dynamischen“172 hätte die Entleerung der Verfassung zur Folge. Notwendig sind daher sowohl die verfassungsrechtliche Normierung jeder­ mann zustehender Freiheitsgewährleistungen in Form unantastbarer verfas­ sungsrechtlicher Kerngehalte als auch eine Strukturierung des politischen Leisner, DÖV  2013, 503 ff. Verfassungsentwicklung, S. 262. 166  Leisner, DÖV  2013, 503 (503 ff., 508). 167  Zippelius, Verhaltenssteuerung durch Recht und kulturelle Leitideen, S. 20. 168  Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S. 43. 169  Dazu Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S. 140 ff. 170  Masing, Der  Staat  44 (2005), S. 1 (3). 171  P. Kirchhof, in: Isensee/ders., Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl., § 21 Rn. 61. 172  Schenke, AöR  (103) 1978, S. 566 (587). 164  Ausführlich

165  Bryde,



C. Kontinuitätswahrung121

Prozesses, die einer Machtkonzentration und einem Machtmissbrauch entge­ genwirkt.173 Als materielle Grenzen wurden Art. 79 Abs. 3  GG und Art. 19 Abs. 2  GG ausdrücklich im Grundgesetz festgeschrieben. Darüber hinaus beinhalten die Einrichtungsgarantien der normgeprägten Grundrechtstatbe­ stände materielle Vorgaben, die einen grundrechtstatbestandlichen Dynami­ sierungsprozess begrenzen.

I. Ewigkeitsgarantie – Art. 79 Abs. 3 GG Aus Art. 79 Abs. 3  GG folgt die Unzulässigkeit einer Änderung des Grundgesetzes, welche die in Art. 1 und Art. 20  GG niedergelegten Grund­ sätze berührt. Seiner systematischen Stellung nach begrenzt die Vorschrift Verfassungsänderungen im Rahmen des formellen Textänderungsverfahrens nach Art. 79  Abs. 1,  Abs. 2  GG. Argumentum a fortiori beansprucht diese Grenze aber ebenso Geltung für die Verfassungsinterpretation. Von einer „Berührung“ der in Art. 1 und Art. 20  GG niedergelegten Grundsätze lässt sich grundsätzlich nur im Falle einer prinzipiellen Preisga­ be sprechen, wobei insbesondere bereits eine irgendwie geartete Beeinträch­ tigung der Menschenwürde unzulässig ist.174 Andere Grundrechte sind nur dann berührt, soweit ihre normativen Wirkungen zugleich Ausfluss des Menschenwürdegehalts sind.175 Für die Verfassungsinterpretation bedeutet dies, dass eine im Wege normativ gebundener Topik ermittelte tatbestandli­ che Sinnerweiterung niemals mit einer Beeinträchtigung der Menschenwür­ de einhergehen kann. Die Menschenwürde einer bestimmten Gruppe kann nie Vorrang gegenüber der Menschenwürde einer anderen Gruppe genießen.

II. Wesensgehaltsgarantie  – Art. 19 Abs. 2  GG Eine absolute Grenze für jeden Dynamisierungsprozess beinhaltet auch die sog. Wesensgehaltsgarantie. Art. 19 Abs. 2  GG muss im Lichte seines historischen Kontextes gelesen werden, soll die Vorschrift doch der Dena­ turierung und Aushöhlung grundrechtlicher Gehalte entgegenwirken wie sie bereits zur Weimarer Zeit und sodann in besonders drastischer Form wäh­ rend der nationalsozialistischen Herrschaft stattgefunden haben.176 Die Vorschrift verbietet das Antasten eines Grundrechts in seinem Wesensgehalt, 173  Zippelius,

Verhaltenssteuerung durch Recht und kulturelle Leitideen, S. 89. in: Jarass/ders., GG, Art. 79 Rn. 7. 175  Pieroth, in: Jarass/ders., GG, Art. 79 Rn. 10; eingehend auch Murswiek, in: Wahl, S. 261 (261 ff.). Noch extensiver bzgl. der Frage, was die Verfassungsidentität kennzeichnet Robbers, NJW  1989, 1325 (1325 f.). 176  Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 864. 174  Pieroth,

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

wenngleich umstritten bleibt, was den Begriff der Wesensgehaltgarantie tatsächlich prägt.177 So wird vertreten, den Inhalt subjektiv-individuell auf den einzelnen Grundrechtsinhaber oder objektiv-generell auf das Grundrecht zu beziehen.178 Eine subjektive Lesart wendet Art. 19 Abs. 2  GG als letzte Schranke eines jeden Grundrechtseingriffs mit der Folge eines Verbots der Antastung einer jeden subjektiven Rechtsposition in ihrem Kerngehalt an. Bei einem generellen Verständnis eines von Art. 19 Abs. 2  GG in Bezug genommenen „Grundrechts“ kommt es dagegen nur darauf an, dass dieses seine grundsätzliche Geltung für die Rechtsordnung behält, selbst wenn es im Einzelfall vollständig weichen muss. Die relativen Theorien behandeln die Wesensgehaltsgarantie als abwägba­ re, das heißt im jeweiligen Einzelfall relative Größe.179 Dieser Sichtweise liegt regelmäßig ein objektives Normverständnis zugrunde. Soweit höhere Interessen oder Werte es erfordern, müsse der Grundrechtsschutz diesem jedenfalls teilweise, in ganz besonderen Einzelfällen sogar vollständig wei­ chen. Er werde somit zur relativen Größe für den Abwägungsvorgang. Im Ergebnis läuft die relative Theorie des Wesensgehalts damit auf eine Gleich­ setzung mit einer Verhältnismäßigkeitsprüfung hinaus.180 Art. 19 Abs. 2  GG hätte dann nur deklaratorischen Charakter181 und würde als Topos in die Verfassungsinterpretation einfließen. Innerhalb grundrechtlicher Dynamisie­ rungsprozesse käme ihm dann lediglich die Eigenschaft als relative Dyna­ misierungsgrenze, nicht aber als absolute, unüberwindbare Rahmenvorgabe zu. Einen starren, unabwägbaren Charakter bescheinigen Art. 19 Abs. 2  GG dagegen die sog. absoluten Theorien182. Der Wesensgehalt eines Grund­ rechts wird hier als Grenze im Sinne eines feststehenden Kerns verstanden, der jeglichem Zugriff entzogen ist.183 Hierfür spricht der klare Wortlaut von Art. 19 Abs. 2  GG, der die Antastung des Wesensgehalts in keinem Fall erlaubt. Nimmt man diese Formulierung ernst, kann es gegenüber dem We­ sensgehalt keine höheren, abwägungsrelevanten Güter geben.184 Für grund­ rechtliche Dynamisierungsprozesse wird die Wesensgehaltsgarantie damit 177  Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 19 Rn. 9; dazu näher Mainzer, S. 187 ff.; Herbert, EuGRZ  1985, 321 (323 ff.). 178  Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 19 Rn. 9. 179  So bspw. Alexy, S. 271 f.; Schneider, S. 158 f. 180  Alexy, S. 269, 272. 181  Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie, S. 234 ff. 182  Vgl. bereits Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 865 f. m. w. N. 183  Vgl. bspw. Leisner-Egensperger, in: Merten/Papier, Grundsatzfragen der Grundrechtsdogmatik, S. 57 (64 ff.). 184  So ausdrücklich und zutreffend Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 867.



C. Kontinuitätswahrung123

zur absoluten Dynamisierungsgrenze. Im Regelfall liegt den absoluten Theorien auch ein subjektives Grundrechtsverständnis zugrunde. Reduziert man den Wesensgehalt auf den Menschenwürdekern der einzelnen Grund­ rechte185, ergibt sich zwar keine Abweichung gegenüber Art. 79 Abs. 3 GG.186 Die vermeintliche Gefahr einer überflüssigen Dopplung der beiden Vor­ schriften besteht gleichwohl nicht, richten sich Art. 79  Abs. 3  GG sowie Art. 19 Abs. 2  GG doch an unterschiedliche Adressatenkreise.187 Während Art. 79 Abs. 3  GG den verfassungsändernden Gesetzgeber adressiert, stellt Art. 19 Abs. 2  GG bereits der Verfassungstextänderung vorgelagerte Maß­ stäbe für den grundrechtseingreifenden als auch grundrechtsausgestaltenden Gesetzgeber auf.

III. Einrichtungsgarantien normgeprägter Grundrechte Als absolute Grenze sind zudem die in normgeprägten Grundrechten in­ korporierten Einrichtungsgarantien zu qualifizieren. Ihr Kernbereichsschutz ist dabei in der Tat mit dem Wesensgehaltsschutz aus Art. 19 Abs. 2  GG verwandt.188 Bei den Einrichtungsgarantien des Grundgesetzes unterscheidet man herkömmlicherweise zwischen den privatrechtlichen Institutsgarantien und den öffentlich-rechtlichen institutionellen Garantien.189 Obwohl „Ein­ richtungsgarantien“ als zum festen Arsenal der Staatsrechtswissenschaft gehörige dogmatische Figur190 bezeichnet werden, täuscht eine solche Pau­ schalisierung über die vielen dogmatischen Unklarheiten und Streitfelder hinweg, die eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema zutage fördert. 1. Verfassungsdogmatische Klassifizierung einer Figur von den Einrichtungsgarantien In der Tat finden sich bereits seit Bestehen der Weimarer Reichsverfas­ sung Bezugnahmen auf den Begriff der Einrichtungsgarantie und seiner Unterkategorien. Gleichwohl trifft man nur selten auf substantielle Ausfüh­ rungen zu ihren dogmatischen Wurzeln, ihrer zeitgemäßen Anwendbarkeit 185  So bspw. BVerwGE  47, 330 (358); Zeidler, DVBl.  1950, 598 (600); Denninger, in: Wassermann, AK-GG, Art. 19 Rn. 10. 186  So auch Kokott, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. I, § 22 Rn. 89. 187  Kokott, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. I, § 22 Rn. 75. 188  Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 865 f. 189  Bereits Schmitt, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 140 (148). 190  Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 755.

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

oder aber den konkreten Ausformungen bestimmter unantastbarer Struktur­ prinzipien. Vielmehr erfreut sich der schlichte Verweis auf die Existenz ei­ ner „Einrichtungsgarantie“ großer Beliebtheit.191 Insbesondere in jüngerer Zeit hält die Einrichtungsgarantie im Zusammenhang mit den nicht minder unreflektiert erfolgenden Verweisen auf den Begriff vom „Verfassungswan­ del“ als vermeintliches Argument zur Negierung grundrechtlicher Dynamik her. Trotz aller Kritik am nebulösen Rechtsbegriff des „Verfassungswandels“ soll eine Einrichtungsgarantie damit jedenfalls als begrenzendes Faktum der tatbestandlichen Dynamik durch Verfassungsinterpretation gegenübergestellt werden. Ihrer dogmatischen Aufarbeitung als Grenze tatbestandlicher Sinnerweiterungen kommt damit auch in einer Arbeit, die sich mit grund­ rechtlichen Dynamisierungsprozessen befasst, ein besonderes Gewicht zu. a) Entstehungsgeschichte in der Weimarer Zeit Die dogmatische Figur der Einrichtungsgarantien hat eine lange Ge­ schichte hinter sich.192 Sie baut auf dem Institutionendenken auf, welches zu Beginn des 20. Jahrhunderts entscheidend durch Hauriou vorangetrieben wurde. Hauriou definierte eine Institution  –  vornehmlich aus einer soziolo­ gischen Perspektive heraus  – als eine Idee eines Werkes oder einer Unter­ nehmung, die in einem sozialen Milieu Verwirklichung und Rechtsbestand erfährt.193 Die Umsetzung der Idee bzw. des Leitbildes sei von Gemeinsam­ keitsbekundungen der Beteiligten gekennzeichnet und führe zur Herausbil­ dung von institutionellen Organen. In Bezug auf Grundrechte wurde der Institutsgedanke sodann erstmals von Kaufmann im Jahr 1926 vorgetragen, wonach Institute etwas Vorgefundenes, eine objektive Normierung der sitt­ lichen Ordnung transportierten. Jeder Generation käme die Aufgabe zu, die Institute mit ihrem Geist zu erfüllen, obgleich das Institut einen Wesenskern beinhalte, die seine Eigengesetzlichkeit begründe.194 Zu einer selbstständigen verfassungsdogmatischen „Rechtsfigur“ verfes­ tigten sich die Einrichtungsgarantien zur Weimarer Zeit. Die Weimarer Reichsverfassung zeichnete sich durch weit gefasste Gesetzesvorbehalte und eine nahezu unbegrenzte Zugriffsmöglichkeit des einfachen Gesetzgebers 191  So auch Mainzer, S. 17 f.: „Eine Durchsicht der allgemeinen Lehr- und Kom­ mentarliteratur zeigt freilich, daß die Existenz von Einrichtungsgarantien meist als unzweifelhaft gegeben und keiner Diskussion mehr würdig vorausgesetzt wird.“. Dieser Satz hat auch 10 Jahre später nicht an Bedeutung verloren. Ein prägnantes Beispiel hierfür findet sich bei Ipsen, in: Isensee/P.  Kirchhof, Handbuch des Staats­ rechts, Bd. VII, 3. Aufl., § 154 Rn. 8 ff. 192  Dazu im Überblick Mainzer, S. 39 ff.; Bleckmann, § 11 Rn. 63 ff. 193  Hauriou, S. 27 (34). 194  E. Kaufmann, VVDStRL  3 (1927), S. 2 (15).



C. Kontinuitätswahrung125

auf die tatbestandliche Reichweite der Grundrechte aus.195 Überhaupt wur­ den die Grundrechte noch als bloße Programmsätze deklariert. Schmitt be­ tonte nun erstmals die Notwendigkeit eines materiellen Grundrechtsver­ ständnisses, das sich am Inhalt der jeweiligen Verfassung auszurichten ha­ be.196 Einem bürgerlich-rechtsstaatlichen Verständnis zufolge seien die Grundrechte Ausdruck eines fundamentalen Verteilungsprinzips zwischen Staat und Individuum, deren Inhalt die im Prinzip grenzenlose Freiheit des Individuums und die nur begrenzte Befugnis des Staates zu staatlichen Maßnahmen kennzeichne.197 Die Grundrechte des Individuums ließen sich aus vor- und überstaatlichem Recht ableiten und schützten dessen Freiheits­ sphäre in ihrer Funktion als Abwehrrechte gegenüber dem Staat. Mit dem Austritt aus der Individualsphäre auf die politische bzw. staatliche Ebene verliere das Individuum hingegen seine prinzipiell grenzenlose Freiheit, indem es sich zur gemeinsamen Interessenverfolgung organisiere.198 Ent­ sprechend kategorisierte Schmitt die Vorschriften der Weimarer Reichsver­ fassung: Neben den echten Grundrechten enthielten die verbleibenden Ver­ fassungssätze unter anderem auch sog. „institutionelle Garantien“, die eine Sonderstellung einnähmen: „Institutionelle Garantien sind von Grundrechten zu unterscheiden. Durch verfassungsrechtliche Regelung kann bestimmten Einrichtungen ein besonderer Schutz gewährt werden. Die verfassungsrecht­ liche Regelung hat dann den Zweck, eine Beseitigung im Wege der einfa­ chen Gesetzgebung unmöglich zu machen. […] Auch dann, wenn mit der institutionellen Garantie subjektive Rechte von Einzelnen oder Korporatio­ nen verbunden sind, […], liegen keine Grundrechte vor. Die institutionelle Garantie ist ihrem Wesen nach begrenzt. Sie besteht nur innerhalb des Staates und beruht nicht auf der Vorstellung prinzipiell unbegrenzter Frei­ heitssphäre, sondern betrifft eine rechtlich anerkannte Institution, die als solche immer etwas Umschriebenes und Umgrenztes, bestimmten Aufgaben und bestimmten Zwecken Dienendes ist […].“199 Schmitt unterteilte die institutionellen Garantien nochmals in zwei Grup­ pen – die privatrechtlichen Institutsgarantien und die institutionellen Garan­ tien im engen Sinne, welche öffentlich-rechtliche Institutionen betreffen.200 Mainzer, S. 57 ff. in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 181 (190). 197  Schmitt, Verfassungslehre, S. 24, 31. 198  Schmitt, Verfassungslehre, S. 175. 199  Schmitt, Verfassungslehre, S. 170 f. 200  Zu den Einrichtungsgarantien der WRV zählte Schmitt den Schutz von Ehe und Familie (Art. 119  WRV), den Schutz von Gemeinden und Gemeindeverbänden (Art. 127  WRV), den Schutz nationaler Minderheiten (Art. 113  WRV) und die Ge­ währleistung des Status der Religionsgesellschaften als Körperschaft des öffent­lichen Rechts (Art. 137  WRV). 195  Überblicksartig 196  Schmitt,

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

Diese Systematisierung wird bis heute aufrechterhalten, wenngleich beide Gruppen nunmehr üblicherweise unter den Oberbegriff der „Einrichtungsga­ rantien“ gefasst werden.201 Vor dem Hintergrund ihrer sprachlich präziseren Unterscheidbarkeit findet der Oberbegriff der „Einrichtungsgarantien“ auch im Folgenden Anwendung. In der Schmitt’schen Konzeption sind Einrichtungsgarantien dem Staat nach- und untergeordnet, sie begründeten eine Kategorie schwächeren Schutzes. Rechtliche Ausformung und Eingriffe seitens des Staates erfolgten auf legitime Art und Weise.202 Eine Bindung des einfachen Gesetzgebers an die Einrichtungsgarantien erfolge nur dahingehend, die geschützten Institute nicht vollends zu beseitigen oder grundlegend umzugestalten. Es bestünde somit einzig Schutz vor Abschaffung und Aushöhlung der Institute.203 Wann diese Schwelle überschritten sei, lässt Schmitt dagegen weitestgehend of­ fen.204 Oftmals wurde die Grenze zwischen zulässiger Ausgestaltung und unzulässiger Aushöhlung mit bloßen Verweisen auf das „Wesentliche“, das „historisch Überkommene“ oder der „überlieferten, typisch historischen Entwicklung jenes Instituts“205 festgelegt.206 b) Fortschreibung unter dem Grundgesetz Schon in der Anfangszeit der Bundesrepublik wurde die Figur der Ein­ richtungsgarantien unmittelbar für das Grundgesetz rezipiert207, dabei zu­ meist jedoch außer Acht gelassen, dass die verfassungsrechtlichen Rahmen­ bedingungen mit dem Grundgesetz gegenüber der Weimarer Reichsverfas­ sung grundlegende Veränderungen erfahren hatten.208 Zunächst einmal liegt der Konzeption der Grundrechte des Grundgesetzes ein materielles Ver­ Mager, S. 27. Verfassungslehre, S. 170 f.; ferner Mager, S. 24 ff.; Mainzer, S. 71 ff. Unterschiede bestanden auch mit Blick auf die formelle Verfassungsänderung: Als absolut veränderungsfest, d. h. auch nicht im Wege der formellen Verfassungsände­ rung nach Art. 76  WRV abänderbar, waren für Schmitt ausschließlich die Kerne der echten Grundrechte, vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 177; Schmitt, in: ders., Ver­ fassungsrechtliche Aufsätze, S. 181 (221). Dagegen treten bei ihm die Einrichtungs­ garantien als konnexe oder komplementäre Institute neben die Grundrechte, deren Abänderung der Verfassungsänderung zugänglich waren. 203  Schmitt, Verfassungslehre, S. 173. 204  Mager, S. 31. 205  Schmitt, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 140 (166). 206  Mager, S. 33. 207  Erstmals Scheuner, in: Listl/Rüfner, S. 709 (728 ff.); Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 795, 859 f. 208  Mainzer, S. 108 mit zahlreichen Nachweisen zu der (problematischen) Ver­ wendung in Literatur und Rechtsprechung. Kritisch auch Mager, S. 405 f. 201  Dazu

202  Schmitt,



C. Kontinuitätswahrung127

ständnis zugrunde, um das sich Schmitt seinerzeit noch bemühte. Die Grundrechte des Grundgesetzes beinhalten nicht bloß Programmsätze, son­ dern subjektiv-rechtliche Abwehrrechte gegen staatliche Beeinträchtigungen. Ergänzend tritt ihre objektiv-rechtliche Funktion hinzu, die auf die Garantie freiheitlicher Ordnung eines Lebensbereichs ausgerichtet ist.209 Weiterhin diente die von Schmitt konstruierte Figur der Einrichtungsga­ rantie ursprünglich noch dazu, Personenverbände und Organisationen mit einem gewissen Grundrechtsschutz auszustatten, der ihnen unter der Wei­ marer Reichsverfassung nicht zuteilwurde. Die Aufnahme von Art. 19 Abs. 3  GG erweitert dagegen den Grundrechtsschutz erstmalig zugunsten juristischer Personen.210 Für natürliche Gemeinschaften wie Ehen und Fa­ milien folgt zwar aus Art. 19 Abs. 3  GG selbst keine Grundrechtsberechti­ gung, gleichwohl sind solche Gemeinschaften verfassungsrechtlich nicht schutzlos, da sich stets die Einzelmitglieder auf die entsprechenden Grund­ rechtspositionen berufen können. Eine „Ableitung“ von Schutzpositionen für Personenzusammenschlüsse entsprechend der zur Weimarer Zeit konzi­ pierten Figur der Einrichtungsgarantie bedarf es angesichts der veränderten Rahmenbedingungen unter dem Grundgesetz nicht mehr.211 Tatsächlich fehlt es damit heute an der dogmatischen Notwendigkeit, auf die Figur der Einrichtungsgarantien in der von Schmitt entwickelten Kon­ zeption zurückzugreifen.212 Eine vollumfassende Adaption der Dogmatik zur Rechtsfigur von den Einrichtungsgarantien aus der Weimarer Zeit 209  Scheuner, in: Listl/Rüfner, S. 709 (732); näher Mager, S. 73. Häberle betonte in den 1960er Jahren den Doppelcharakter der Grundrechte, der sich aus einer individu­ alrechtlichen als auch einer institutionellen Seite zusammensetzte, vgl. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie, S. 71. Der hier getroffene Institutsbegriff wird nirgends exakt definiert, lässt sich jedoch in der Gesamtbetrachtung als Inkorporierung der objektiven Lebensverhältnisse zu Normenkomplexen einordnen, vgl. Mainzer, S. 51. Zur institu­ tionellen Seite der Grundrechte gehöre die fortwährende Orientierung der Norm an der Wirklichkeit  –  Recht und soziales Substrat seien nicht trennbar, so Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie, S. 124. Grundrechte könnten nur dann als Institute angesehen werden, wenn sie von der sozialen Wirklichkeit immer wieder auf ein Neues in Voll­ zug gesetzt würden, vgl. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie, S. 106 ff. Ändere sich die soziale Realität, unterfiele auch das Institut einem dauernden Wandel. Die objek­ tiv-rechtliche Dimension integriert daher das Hauptanliegen der Lehre von den Ein­ richtungsgarantien, nämlich die Begründung objektiv-rechtlicher Grundrechtsgehalte. 210  Hierzu Mager, S. 403 f. 211  Mainzer, S. 57, 203; Mager, S. 403. 212  Schmitt begreift echte Grundrechte als vorstaatliche, unbegrenzte Abwehrrech­ te des Bürgers gegen den Staat. Sie sollten einem Verständnis der Grundrechte als bloße Programmsätze vorbeugen. Durch Art. 1 Abs. 3  GG sowie Art. 20 Abs. 3  GG sind alle drei Staatsgewalten an die Verfassung und damit auch an die Grundrechte gebunden. Aufgrund dieser Bindung verbietet sich heute eine Auslegung als bloße Programmsätze, vgl. Kunig, in: I. v. Münch/ders., GG, Art. 1 Rn. 50; Mager, S. 399.

128

Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

kommt für das Grundgesetz von vornherein nicht in Betracht.213 Dies be­ deutet wiederum, dass die den Einrichtungsgarantien heute nach wie vor häufig attestierte Eigenschaft, auch unter dem Grundgesetz eine eigene verfassungsdogmatische Figur zu formen, nur noch dann überzeugt, wenn die Figur der Einrichtungsgarantien in Folge einer Neukonzeption einen echten „Mehrwert“ für die verfassungsrechtliche Diskussion und Strukturie­ rung des geltenden Verfassungsrechts aufweist.214 Eine Betrachtung der derzeitigen Heterogenität vermeintlicher Neukonzeptionen, bei denen die dogmatischen Inhalte variieren215, lässt hieran berechtigte Zweifel aufkom­ men. Eine „herrschende Meinung“ ist nur schwerlich festzustellen.216 Vor diesem Hintergrund wird eine Neukonzeption von einigen Autoren sogar gänzlich abgelehnt217, zum Teil  wird stattdessen auf die Wesensgehaltsga­ rantie des Art. 19 Abs. 2  GG verwiesen, welche unter dem Grundgesetz die Funktionen der bisherigen Figur übernommen habe.218 Die übrigen Autoren sind sich jedenfalls bei der Einstufung von bestimm­ ten Vorschriften einig, die eine Einrichtungsgarantie enthalten sollen.219 Während die Institutsgarantien privatrechtliche Rechtsinstitute umschreiben, erfassen die institutionellen Garantien dagegen Einrichtungen mit einem öffentlich-rechtlichen Charakter. Zu den gemeinhin angeführten Institutsga­ rantien zählen die Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) und die in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenen verfassungsrechtlichen Garantien von Ehe und Familie.220 Als 213  Mager,

S. 405 f., zusammenfassend S. 482. S. 395 f., 398. 215  Mainzer, S. 54, 97; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 765 ff., 776 ff., 866. 216  Mainzer, S. 55. 217  Besonders prägnant Waechter, Die  Verwaltung  29 (1996), S. 47 (47), der von „dogmatischer Versteinerung“ spricht. Ferner Alexy, S. 444; Kahl, S. 451 f. 218  Eine solche Konzeption kann sich durchaus auf gewichtige Argumente stüt­ zen, hierzu näher Mainzer, S. 187 ff. Die Annahme eines Funktionsschutzes kann im Übrigen nur dann erfolgen, wenn man Art. 19 Abs. 2  GG einen über die Menschen­ würde hinausgehenden Inhalt zuspricht. Dann aber stellt sich das Folgeproblem, wie diese „überschießenden“ Merkmale zu identifizieren sind, vgl. Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 874: „Jede Erarbeitung eines eigenständigen Schutzgehalts des Art. 19 Abs. 2 GG hat mit dem schwer zu bestimmenden Begriff ‚Wesensgehalt‘ zu kämp­ fen. Seine philosophische Herkunft ist nicht zu leugnen.“ In der Rechtsprechung und Literatur lassen sich angesichts der bisher zu einem Großteil ausgeblendeten Ausei­ nandersetzung mit Art. 19 Abs. 2  GG kaum hilfreiche Ausführungen und Anleitun­ gen finden, vgl. Leisner-Egensperger, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. III, § 70 Rn. 71 ff., insb. Rn. 71. Ziel einer Wesensgehaltsbestimmung müsste es sein, die typusbestimmenden Wesensgehaltskriterien für jedes einzelne Grundrecht zu ermitteln und näher zu konkretisieren, vgl. Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 874 f. 219  Überblicksartig Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 795 ff. 220  Vgl. nur Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 822 ff.; Mainzer, S. 147 ff.; Mager, S. 175 ff., 195 ff. 214  Mager,



C. Kontinuitätswahrung129

institutionelle Garantien werden zudem regelmäßig der Bereich des Schul­ wesens (Art. 7  GG), die Organisationsfreiheit der Universitäten (Art. 5 Abs. 3  GG) und das Recht auf kommunale Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 1  GG) genannt.221 Nach Mager reduziert sich der heutige Anwendungsbereich der Einrich­ tungsgarantien ausschließlich auf den Bereich normgeprägter Grundrechte. Um hier wiederum solche normgeprägten Grundrechtstatbestände zu identi­ fizieren, die tatsächlich eine Einrichtungsgarantie enthalten, bedürfe es ne­ ben der tatbestandlichen Angewiesenheit auf Rechtsetzung einer funktionalen Gemeinsamkeit, die in der Gewährleistung von Autonomie als Selbst­ zweck bestehe.222 In normgeprägten Grundrechten mit Einrichtungsgarantien statte die enthaltene Autonomie die geschützten Individuen mit der Rechts­ macht aus, ihre eigenen Rechtsbeziehungen – insbesondere gegenüber ande­ ren Individuen und damit im Verhältnis der Bürger zueinander – selbständig zu gestalten. Dieser autonome Bereich müsse gegenüber dem Staat abge­ schirmt werden. Zwar besäße der Staat die Definitionsmacht hinsichtlich der Anerkennung sämtlicher Rechtsbeziehungen, obgleich er an den Normen­ komplexen selbst nicht teilhabe.223 Einrichtungsgarantien begrenzten jedoch die staatliche Definitionsmacht und verpflichteten den Staat zur Schaffung von solchen Rechtsnormen, welche die Ausübung von Autonomie gewähr­ leisteten.224 Institutsgarantien würden mithin im Grunde ausschließlich die Existenz eines die individuelle Freiheit fördernden Normenkomplexes ga­ rantieren, während institutionelle Garantien zusätzlich noch das Bestehen und Funktionieren der Organisation gewährleisteten.225 Die einfach-rechtliche Ausgestaltung der das Binnenverhältnis der Indivi­ duen betreffenden Autonomiegewährleistungen sei ihrerseits an der Verfas­ sung zu messen.226 Als autonomiebegrenzend wirken sich die in den Rechtsinstitutsgarantien verbundenen Grundrechte aus  –  dieses Mal in ihrer schutzrechtlichen Dimension. Der Erlass von Normen, welche die Autono­ mie weder ermöglichten noch förderten, gehe daher fehl und stelle einen Eingriff in die abwehrrechtliche Dimension dar. Bei den institutionellen Garantien sei zudem die an Stelle des subjektiven Freiheitsrechts tretende verfassungsrechtlich vorgegebene Funktion zu berücksichtigen. Inwieweit der vom Grundrecht gewährte Autonomiebereich reiche, bestimme sich 221  Vgl. nur Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 797 ff.; Mainzer, S. 151 ff.; Mager, S. 328 ff. 222  Mager, S. 406 f. 223  Mager, S. 407 f. 224  Mager, S. 408. 225  Mager, S. 410 f. 226  Mager, S. 436 ff.

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dann jeweils seinerseits nach Maßgabe des verfassungsrechtlichen Leitbil­ des227, dem unantastbaren Kernbereich jeder Ausgestaltung. c) Stellungnahme Der Überblick über den bisherigen Forschungsstand zu den Einrichtungs­ garantien macht deutlich, dass sich die bisherigen verfassungsrechtlichen Diskussionen überwiegend auf die dogmatische Zuordnung bestimmter Verfassungsvorschriften unter den Anwendungsbereich einer Figur der Ein­ richtungsgarantien beschränken. Eine derart einseitige Auseinandersetzung blendet jedoch die grundsätzliche Unterscheidung zweier Problemfelder aus: Der Streit um die Legitimation und den Mehrwert einer eigenen verfas­ sungsdogmatischen Figur ist von der Frage zu trennen, anhand welcher Kriterien die inhaltlichen bzw. materiellen Gehalte der unantastbaren Garan­ tiekerne in der Verfassung normierter Einrichtungen zu bestimmen sind. Während sich die bisherigen verfassungsrechtlichen Diskurse fast aus­ schließlich auf den ersten Aspekt konzentrieren, fällt die Suche nach Anlei­ tungen zur Inhaltsbestimmung der jeweiligen Einrichtungen bzw. Institute nahezu ernüchternd aus228, was vor dem Hintergrund ihrer doch eigentlich wesentlich bedeutsameren Praxisnotwendigkeit, namentlich der Identifika­ tion unüberwindbarer inhaltlicher Rahmenvorgaben für tatbestandliche Sinnerweiterungen, erstaunt. Eine dogmatische Untersuchung darf sich nicht allein auf die Überprüfung gemeinsamer tatbestandlicher Kriterien von Ver­ fassungsvorschriften mit dem Ziel der Ausarbeitung eines möglichen An­ wendungsbereichs der Rechtsfigur beschränken. Mit anderen Worten: Einer Klärung von Begrifflichkeiten und Kategorisierungen bedarf es grundsätz­ lich erst, wenn die noch grundlegendere Frage nach dem eigentlichen Schutzanliegen und ihrem inhaltlichen Schutzumfang hinreichend geklärt ist. Im Lichte des vorliegenden Untersuchungsgegenstands, der grundrecht­ liche Dynamisierungsprozesse und ihre Grenzen zum Gegenstand hat, steht damit weniger die verfassungsdogmatische Bewertung der allgemeinen Le­ gitimation einer Rechtsfigur „Einrichtungsgarantien“ im Vordergrund, son­ dern vielmehr soll die Eigenschaft von verfassungsrechtlich kodifizierten Einrichtungen innerhalb grundrechtlicher Tatbestände als Grenze von Wand­ lungsprozessen der Verfassung aufgearbeitet werden. Dies erfordert einer­ seits eine Auseinandersetzung mit dem konkreten Schutzanliegen, das in der 227  Mager,

S. 437. auch Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 866. Weitere Ausführungen zum Schutzumfang finden sich bei Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 853 ff., wobei auch hier die Gewichtung der historischen Aufarbeitung der Rechtsfigur deutlich über­ wiegt. Exemplarisch für eine pauschale Betrachtung Gellermann, S. 326 ff. 228  Kritisch



C. Kontinuitätswahrung131

Begrenzung von tatbestandlicher Dynamik besteht, sowie andererseits eine Bestimmung des jeweiligen Schutzumfangs, ergo die Extrahierung der je­ weils die Ausgestaltung begrenzenden inhaltlichen Merkmale. Da sich für die Begrenzung normgeprägter Grundrechtstatbestände der Begriff der „Ein­ richtungsgarantie“  –  bzw. der „Institutsgarantie“ und „institutionellen Ga­ rantie“  – etabliert hat, soll er auch bei dieser Untersuchung  –  unabhängig von der Frage, ob er eine eigene verfassungsdogmatische Figur begründet oder in Art. 19 Abs. 2  GG aufgegangen ist  – aufrechterhalten werden. 2. Schutzzwecke a) Innenverhältnis: Begrenzung tatbestandlicher Dynamik durch absolute Strukturmerkmale Einrichtungsgarantien möchten einen unantastbaren, verfassungsrechtlich verbürgten Kern dem Zugriff des ausgestaltenden Gesetzgebers entziehen. Ihr primäres Schutzanliegen ist entsprechend in der Begrenzung der den Schutzgehalt konstituierenden grundrechtspolitischen Maßnahmen, also in der Begrenzung tatbestandlicher Dynamik, zu suchen.229 Vorgaben aus den Einrichtungsgarantien stehen der konkreten tatbestandlichen Ausgestal­ tungsbefugnis des einfachen Gesetzgebers als absolute Grenzvorgaben ge­ genüber. Damit entfalten Einrichtungsgarantien ihre Wirkung „lokal“, das heißt im Innenverhältnis des normgeprägten Grundrechtstatbestands. Sie begrenzen unmittelbar die Reichweite tatbestandlicher Dynamik, wirken als tatbestandliche Rahmenvorgaben. Auf diese Weise werden unmittelbare Beeinträchtigungen der vom normgeprägten Schutzbereich erfassten Adres­ saten verhindert. Insofern stellt auch Mager zunächst einmal zutreffend fest, dass sich der Anwendungsbereich der Einrichtungsgarantien auf die normgeprägten Grundrechtstatbestände konzentriert.230 Normgeprägte Grundrechtstatbestän­ de beinhalten eine besondere Anfälligkeit für die zeitgemäße Berücksichti­ gung gewandelter gesellschaftlicher und technischer Entwicklungen. Sie orientieren sich an der von ihr betroffenen sozialen Wirklichkeit, indem die normative Kraft der Verfassung Impulse der Lebenswirklichkeit empfängt und die Prozesshaftigkeit überkommener Traditionen und Weltanschauungen garantiert. Der vollzogene Wandel drückt sich in einer Ersetzung einer über­ kommenen Ausgestaltungslage durch eine neuere, zeitgemäße Ausgestal­ tungslage aus. 229  Mager, 230  Dazu

S. 15 m. w. N.; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 761. oben Teil  3  C.  III.  1.  b).

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

Ausgestaltungsgesetzgebung ist Verwirklichung von Grundrechtspolitik. Sie kann die normgeprägten Grundrechtstatbestände innerhalb des von der Verfassung ebenfalls vorgegebenen Rahmens mit Inhalten ausfüllen. Dies darf indes nicht missverstanden werden mit einer schier grenzenlosen Ausge­ staltungsbefugnis, welche die normgeprägten Tatbestände als in der Verfas­ sung installierte Blankettverweise auf eine jeweils vorherrschende einfachrechtliche Ausgestaltunglage versteht. Eine solche Gleichsetzung von Verfas­ sungsnorm und einfachem Gesetz hätte zur Folge, dass normgeprägte Grund­ rechte lediglich die rechtliche Existenz einer Ausgestaltungslage fordern würden, ohne sie mit spezifischen Inhalten oder Vorgaben der Verfassung zu verknüpfen. Die einzige von Verfassung wegen bestehende Forderung bestün­ de bei diesem Verständnis darin, den Gesetzgeber fortwährend zu verpflich­ ten, einen einfach-rechtlichen Rahmen zur Verwirklichung der normgeprägten Grundrechte zu schaffen und fortzubilden, der seinen rechtspolitischen Vor­ stellungen entspräche und an keine weiteren Vorgaben gebunden sei.231 Ein solcher Ansatz führt jedoch unmittelbar zu einer Kollision mit dem Grundsatz vom Geltungsvorrang der Verfassung vor dem einfachen Ge­ setz232. Das Grundgesetz befindet sich auf der ranghöchsten Stufe der natio­ nalen Normenhierarchie und bindet nach Art. 1 Abs. 3 GG auch den Gesetz­ geber. Das gesamte einfache Recht muss sich an der Verfassung messen lassen und wird von ihr beeinflusst. Würde nun ausnahmsweise die jeweils mit einfacher Mehrheit vom Gesetzgeber verabschiedete unterverfassungs­ rechtliche Rechtsordnung ihrerseits die normgeprägten Grundrechtstatbe­ stände ausfüllen, führte dies zu einer Beeinflussung des Verfassungsrechts durch das einfache Recht und somit zu einer umgekehrten Dominanz von unten nach oben. Einfache Gesetze würden dann ausschließlich den Umfang der verfassungsrechtlich verbürgten Garantien festlegen. Möglicherweise würden sie sogar selbst in den Verfassungsrang erhoben.233 Mit der Aufnahme spezifisch verfassungsrechtlicher Garantien in das Grundgesetz werden diese aber in abstrakter Weise auf einer höheren Stufe geschützt als es bei einfach-rechtlichen Einrichtungen ohne Verfassungsrang der Fall ist.234 Ansonsten droht die Gefahr des „Leerlaufens“235 eines Grundrechtstatbestands.236 Einrichtungsgarantien werden auf diese Weise 231  Michael/Morlok,

Rn. 34. Badura, in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1. Aufl., § 160 Rn. 3 ff., insb. Rn 6; Lerche, in: Festgabe für T. Maunz, S. 285 (287). 233  Ablehnend Epping, Rn. 430: „Bestehende Ausgestaltungen haben keinen Ver­ fassungsrang.“ 234  Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 790. 235  M. Kemper, S. 30. 236  BVerfGE  7, 377 (403). 232  Dazu



C. Kontinuitätswahrung133

nicht nur mit Verfassungsrang ausgestattet, sondern sie heben sich von bloß einfach-gesetzlich geschützten Einrichtungen ab237, indem sie am Verfas­ sungsschutz der qualifizierten Mehrheit des Art. 79 Abs. 2 GG teilnehmen.238 Dagegen werden im Wege der einfach-rechtlichen Ausgestaltung lediglich komplementäre Normen geschaffen, welche die Freiheit zwar erst näher konturieren, dabei aber nicht selbst den Kerngehalt der Verfassungsgarantie konstituieren.239 Der Inhalt der Verfassungsgarantie kann sich nicht aus dem einfachen Recht erschließen, sondern muss ausschließlich aus der verfas­ sungsrechtlichen Grundnorm extrahiert werden.240 Kennzeichnend für verfassungsrechtliche Garantien ist es folglich, dass diese einen unveränderlichen Kernbestand an Strukturprinzipien gegenüber sich wandelnden äußeren Bedingungen schützen.241 Üblicherweise wird daher zwischen einem eingriffsresistenten Kernbereich und einem unge­ schützten Randbereich unterschieden.242 Gemäß diesem „Alles-oder-NichtsPrinzip“243 obliegt allein der Randbereich der Ausgestaltungsdisposition des Gesetzgebers. Lediglich der Randbereich ermöglicht somit die Entwick­ lungsoffenheit244 der Einrichtungsgarantie, während sich der Kernbereich durch einen konservierenden Charakter auszeichnet245, der die tatbestandli­ che Ausgestaltung des Randbereichs materiell begrenzt. Betonte Schmitt noch die aus Einrichtungsgarantien fließende Schutzver­ stärkung subjektiver Rechtspositionen, wird die Figur der Einrichtungsgaran­ tien heute nach überwiegender Ansicht als objektive Gewährleistung verstan­ den.246 Subjektiv-rechtlich lässt sich eine Verletzung der Einrichtungsgaranti­ en nur rügen, wenn mit einer staatlichen Maßnahme zugleich ein Eingriff in den Kernbereich der Institutsgarantie einhergeht.247 Eine solche subjektiv237  Stern,

Staatsrecht, Bd. III/1, S. 867. Staatsrecht, Bd. III/1, S. 853; Abel, S. 61. 239  M. Kemper, S. 29. 240  St. Rspr. BVerfGE  31, 16 (162); 36, 146 (162); 53, 224 (246); Gaier, in: Lobinger/Pieckenbrock/Stoffels, S. 85 (93); Erichsen, JURA 1995, 550 (550); anders jedoch Zuck, NJW  2001, 3240 (3240). 241  Vgl. bereits BVerfGE  31, 58 (69 f.); 36, 146 (162); 105, 313 (345); Kloepfer, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. II, § 43 Rn. 68; Ruffert, S. 82. 242  So bereits Abel, S. 61, 64; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 868 f.; Ruffert, S. 80. 243  Manssen, S. 168. 244  Abel, S. 61; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 868. 245  Schmidt-Jortzig, S. 38 malt das Bild zweier konzentrischer Kreise, das im Inneren durch die prinzipiell unantastbaren Essentialia und im Außenbereich durch den der Gesetzgebung zugänglichen Bereich der Akzidentalia geprägt sei. 246  Abel, S. 27, 48; Papier, Der  Staat  27 (1988), S. 33 (35 f.); Isensee, Subsidia­ ritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 282; Mainzer, S. 123. 247  Mainzer, S. 124 f. 238  Stern,

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

rechtliche Wendung kann jedoch nie weiter gehen als der objektive Schutz der Einrichtung selbst.248 Beide Dimensionen stehen zwar nebeneinander, unterstützen sich indes gegenseitig.249 Im Bereich der Grundrechte entschärft sich diese Problematik jedenfalls bei den Institutsgarantien, da diese ohnehin auch als subjektive Freiheitsrechte zu begreifen sind. Die Institutsgarantien stärken dann ihrerseits die subjektiven Grundrechtsgehalte250, indem sie funktionelle Veränderungen durch tatbestandliche Ausgestaltungsentschei­ dungen der Disposition des einfachen Gesetzgebers entziehen. b) Außenverhältnis: Ausstrahlungswirkung als Wertentscheidung für die gesamte Rechtsordnung Der Schutzzweck von Einrichtungsgarantien, ergo die Begrenzung tatbe­ standlicher Dynamik durch Auferlegung absoluter Grenzen gegenüber dem Ausgestaltungsgesetzgeber, betrifft das Innenverhältnis eines normgeprägten Grundrechtstatbestands. Hierin liegt sicherlich ein Hauptanliegen einer Ein­ richtungsgarantie. Indes greift der alleinige Blick auf das Innenverhältnis zu kurz. Ein weiterer Schutzzweck der Einrichtungsgarantien besteht nämlich auch in der Etablierung materieller Dynamisierungsvorgaben, die als objek­ tive Wertentscheidung in die gesamte Rechtsordnung ausstrahlen. Auf diese Weise werden die Strukturvorgaben der Einrichtungsgarantie aus dem In­ nenverhältnis in das Außenverhältnis übertragen. Der objektive Schutz der Einrichtung im Außenverhältnis sichert dann nicht nur die ungestörte sub­ jektiv-rechtliche Inanspruchnahme der Einrichtung im Innenverhältnis, sondern stellt sich zusätzlich als absolute Wertentscheidung, als Auslegungs­ richtlinie für sämtliche staatlichen Maßnahmen dar, die einen sachlichen Bezug zum Schutzgut der Einrichtung aufweisen. Der Begriff der Ausstrah­ lungswirkung meint in der Sache die Notwendigkeit verfassungskonformer Auslegung.251 Beeinträchtigungen des Kernbereichs einer Einrichtungsga­ rantie durch Gesetzgebung, Verwaltung oder Rechtsprechung sind verfas­ sungswidrig. In der Konsequenz der Ausstrahlungswirkung liegt eine Aus­ dehnung der materiellen Kernbereichsvorgaben als Grenze für die gesamte Rechtsordnung, mithin auch als Begrenzung grundrechtlicher Dynamisie­ rungsprozesse jenseits des normgeprägten Grundrechtstatbestands, das heißt für Sinnerweiterungen in anderen grundrechtlichen Tatbeständen. 248  de Wall, Der  Staat  38 (1999), S. 377 (390); Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 875. 249  Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 795 m. w. N. 250  Ru. Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 236 Fn. 31, S. 241; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 873. 251  So auch Mager, S. 426.



C. Kontinuitätswahrung135

3. Materieller Schutzumfang – funktionale Ausrichtung der Strukturmerkmale Die Feststellung der normenhierarchischen Überordnung von Einrich­ tungsgarantien als „lokale“ Grenze des einen normgeprägten Grundrechts­ tatbestand ausgestaltenden Gesetzgebers sowie darüber hinaus als äußere Grenze jeder staatlichen Betätigung führt nunmehr zu der Frage, auf welche Weise sich ihre übergeordneten, zeitresistent geschützten Inhalte, ihre jewei­ ligen änderungsresistenten Strukturmerkmale ermitteln lassen. Im Mittel­ punkt steht das „Greifbar-Machen“ des jeweiligen Schutzumfangs im Sinne einer Offenlegung seiner essentiellen, materiellen Bestandteile. Sichtet man die bisherigen Beiträge im Schrifttum, finden sich regelmä­ ßig lediglich vage und konturenlose Argumentationstopoi, mit denen die Grenze zwischen zulässiger Ausgestaltung und unzulässiger Aushöhlung der inhaltlichen Verfassungsvorgaben zu bestimmen sei. Typischerweise heißt es, dass sich die inhaltlichen Vorgaben der verfassungsrechtlichen Tatbe­ standsmerkmale nach bestimmten „verfassungsrechtlichen Leitbildern“252, nach dem „Wesen“253, dem „Essentialem“254 und „Vorgefundenem“255, dem „historisch Überkommenen“256, der „überlieferten, typisch historischen Ent­ wicklung jenes Instituts“257 bzw. dem „charakteristischen Erscheinungsbild“258 richten. Ein solcher Strauß an plakativen Schlagwörtern verspricht für eine exakte Konturierung verfassungsrechtlicher Kernvorgaben keinen großen Ertrag, sondern ermöglicht stattdessen den selektiven Einbezug solcher in­ haltlichen Merkmale, die ein interessengeleitetes Vorverständnis fördern. Übereinstimmend kommen die angeführten Topoi lediglich dahingehend überein, als dass es sich bei der geschützten Einrichtung stets um ein historisches gewachsenes Gebilde zu handeln habe. Der Ausgangspunkt jeder Inhaltsbestimmung ist daher zunächst im Zeit­ punkt der historischen Etablierung einer Einrichtung zu suchen, mithin re­ sultieren die zugrunde gelegten Vorstellungen über den Sinn und Zweck einer Einrichtungsgarantie aus dem Zeitpunkt ihrer Konzeptionsphase. Für die im Grundgesetz verankerten Einrichtungsgarantien markiert der Verfas­ sungskonvent den entsprechenden Zeitpunkt. Die Übernahme vorkonstitu­ 252  Mager,

S. 433, 437; Gellermann, S. 351. Thoma und Anschütz, zit. nach Stern, Staatsrecht, Bd.III/1, S. 856. 254  Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 869; Stern, AfK  1964, S. 81 (87); Ru. Scholz, Das Wesen und die Entwicklung der gemeindlichen Einrichtungen, S. 55. 255  Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 788 f. 256  Schmitt, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 140 (166). 257  Ebenda. 258  Schmidt-Jorzig, S. 42 m. w. N. 253  So

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

tioneller Vorstellungen auch für das Grundgesetz ist zulässig, sofern sie Bestandteil der Willensbildung im Parlamentarischen Rat waren – beispiels­ weise indem auf sie ausdrücklich rekurriert wurde und mit ihrer Aufnahme in das Grundgesetz gerade keine bewusste Abkehr gegenüber vergangenen Anschauungen verbunden sein sollte. Bei den unantastbaren Strukturprinzipien des Kernbereichs – dem Essenti­ alen der Einrichtung – handelt es sich nicht um formale, sondern um qualita­ tive Merkmale.259 Es kommt auf die Ermittlung der materiellen struktur- und typusbestimmenden Bestandteile der Einrichtung an  –  jene Bestandteile, die der Einrichtung ihr spezifisches Gepräge, ihr charakteristisches Erschei­ nungsbild geben260. Hierfür bedarf es stets einer ganzheitlichen Betrach­ tungsweise. Aufbauend auf der historischen Gewachsenheit sind auch Gegen­ warts- und Zukunftsperspektiven in die Bestimmung des charakteristischen Erscheinungsbildes zum Zeitpunkt der rechtlichen Entstehung einer Einrich­ tungsgarantie einzustellen. Gleichzeitig nämlich lebt die Einrichtungsgarantie aufgrund ihrer engen Anbindung an außerrechtliche Lebensverhältnisse von der Möglichkeit regelmäßiger tatbestandlicher Aktualisierung im Randbe­ reich.261 Angesichts dieser Komplexität wird die Bestimmung der im Kernbe­ reich anzutreffenden Strukturmerkmale zu einem schwierigen Unterfangen. Man kann ihr einzig Herr werden kann, indem die Strukturmerkmale des Kernbereichs möglichst allgemein gefasst und sie zugleich auf ihren wesent­ lichen Funktionen, auf ihren Sinn262 im verfassungsrechtlichen Gefüge und die damit einhergehende Bedeutung für Staat und Gesellschaft, reduziert. Einrichtungsgarantien schützen die Existenz und die inhaltliche Ausge­ staltung bestimmter Institute und Institutionen, weil sich diese im Laufe der Geschichte besonders bewährt haben, sei es, indem sie Ordnung und Stabi­ lität gewährleistet, das Zusammenleben der Menschen erleichtert oder für eine Fortentwicklung des Individuums oder des Kollektivs gesorgt haben. Ihr Nutzen liegt zuvörderst in der funktionellen Gewährleistung von Ein­ richtungen, von denen Individuen oder das Kollektiv profitieren. Auch eine Bestimmung inhaltlicher Strukturmerkmale einer Einrichtungsgarantie hat auf der funktionalen Ebene anzusetzen. Primäres Ziel von Einrichtungsga­ rantien ist die Verfolgung eines übergeordneten Zwecks, der in der effekti­ ven und ungestörten funktionalen Gewährleistung der Einrichtung überhaupt zu erblicken ist. Einrichtungsgarantien sichern in einem Lebensbereich über die Zeit hinweg spezielle Funktionen für Staat und Gesellschaft, die auf übergeordneter Ebene sowohl das Gemeinwohl als auch die Stellung des 259  Ruffert,

S. 80; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 869. Staatsrecht, Bd. III/1, S. 869. m. w. N. 261  Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 870. 262  Zutreffend Schmidt-Jorzig, S. 41 f. 260  Stern,



C. Kontinuitätswahrung137

Individuums fördern. Die Aufnahme von Einrichtungsgarantien im Verfas­ sungsrecht zielt auf einen zeitlosen Schutz ihrer Funktionen, auf einen umfassenden Funktionsschutz ab.263 Erst innerhalb einer bestimmten Funk­ tionsebene sind sodann einzelne Kriterien, die zur ungestörten Funktions­ ausübung zwingend erforderlich sind, als absolute Strukturmerkmale zu identifizieren. Ist somit die Rede von „unantastbaren Strukturprinzipien der Einrichtungsgarantien“, sind hiermit in der Sache solche inhaltlichen Vor­ aussetzungen umschrieben, die sich funktionssichernd auswirken und für das funktionale Bestehen der Einrichtung existentiell sind. Eine solche Reduktion der Einrichtungsgarantien auf die Wahrung der den jeweiligen normgeprägten Tatbestand zugrundeliegenden Funktionen ermöglicht die Aufrechterhaltung eines unabänderlichen Kernbestands sowie die gleichzeitige Entwicklungsoffenheit der Einrichtungsgarantie im Rand­ bereich. Eine Wandelbarkeit des Kernbereichs264, eine Veränderung der Funktionen im Wege der Ausgestaltungsgesetzgebung ist nicht durchführbar. Allein im Randbereich kann der ausgestaltende Gesetzgeber seine rechtspo­ litischen Vorstellungen zur konkretisierenden Förderung der funktionalen Vorgaben der Einrichtung entsprechend realisieren. Regelmäßig liegen den Einrichtungen dabei zwei Funktionen zugrunde. Zunächst leisten die Einrichtungen einen Beitrag zur Förderung individuel­ ler Freiheit.265 Sie dienen  –  wie es Mager richtig betont266  – der Wahrung und Entfaltung individueller Autonomie. Diese individuell-freiheitliche Funktion wird überdies um Aspekte des Gemeinwohls ergänzt.267 Die her­ kömmlichen Bezugnahmen auf historische Ordnungsvorstellungen verdeut­ lichen geradezu, dass mit den Einrichtungsgarantien bestimmte soziale Vorstellungen, die über eine rein individuumsbezogene Betrachtung hinaus­ gehen, verbunden sein können. Einrichtungsgarantien beinhalten damit nicht nur eine freiheitlich-individuelle, sondern zumeist auch eine gemeinschaftlich-soziale Funktionsebene, deren Verwirklichung und Schutzanliegen sich nicht gegeneinander ausspielen lassen, sondern gegenseitig ergänzen. Mit der Errichtung der Einrichtungen wird das staatliche Gemeinwohl gefördert, sei es, indem die staatliche Hand entlastet wird oder die Einrichtungen dazu dienen, das Gemeinwohl zu fördern, beispielsweise durch Bildung oder Informationen. auch Mager, S. 436. aber Schmidt-Jortzig, S. 45; bzgl. der Wandelbarkeit von Institutsgarantien auch M. Kemper, S. 33 f. 265  Hwang, KritV  2014, S. 133 (148 f.). 266  Mager, S. 408. 267  Diese Erweiterung der Funktionsebenen lassen Hwang, KritV  2014, S. 133 (148 f.) und Mager, S. 408 vermissen. 263  So 264  So

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

4. Besonderheiten einer Leitbildfunktion Neben die individuell-freiheitliche und die gemeinschaftliche-soziale Funktionsebenen kann in besonderen Fällen schließlich eine sog. Leitbildfunktion als dritte Ebene treten. Ziel einer Leitbildfunktion ist es, Orientie­ rungswirkung für eine erstrebenswerte Zielvorgabe zu übernehmen, die ge­ sellschaftlich besonders anerkannt ist, da sie die individuelle Entfaltung und das Gemeinwohl besonders fördert. Zugleich wirkt die Leitbildfunktion als an den Staat gerichteten Auftrag, der auf das Setzen von Anreizen zur Ver­ wirklichung des Leitbildes abstellt. Im Unterschied zu den individuell-frei­ heitlichen und gemeinschaftlich-sozialen Funktionen ist die Leitbildfunktion von einem Materialisierungsgedanken geleitet und scheint daher auf den ersten Blick im Widerspruch zu einem originär funktionalen Verständnis grundrechtlicher Einrichtungsgarantien zu stehen. Diesem Dilemma lässt sich nur abhelfen, indem der Materialisierungsgedanke in ein funktionales Korsett gekleidet wird. Um eine solche Konzeption nachzuvollziehen, muss man sich zunächst einmal die allgemeinen verfassungsdogmatischen Struk­ turen eines Leitbildes vor Augen führen. a) Normative Leitbilder und Verfassungsrecht Obwohl die Bezugnahme auf Leitbilder im öffentlichen Sprachgebrauch und auch in der Verfassungsrechtswissenschaft ungebrochen Karriere zu ma­ chen scheint268, fristet seine verfassungsrechtliche Aufarbeitung ein stiefmüt­ terliches Dasein.269 Ähnlich wie im Falle eines Rekurses auf den schillernden Begriff vom „Verfassungswandel“ bleibt die Bezugnahme auf ein bestimmtes Leitbild aus verfassungsdogmatischer Perspektive im Regelfall ebenso un­ präzise und nebulös. Trotzdem behilft sich auch das BVerfG nicht selten mit der Verwendung verfassungsrechtlicher Leitbilder270, beispielsweise rekur­ riert es in seinen Entscheidungen auf das Leitbild des Abgeordneten271, das Leitbild des vollzeitbeschäftigten Beamten272 oder das Leitbild der Haus­ 268  Allgemeiner Überblick bei Giesel, S. 23 ff.; speziell für die Verfassungslehre siehe bereits die Diskussionen eines Leitbildes von Ehe und Familie unten Teil  4  B.  IV.  1.  d); Teil  4  E.  III.  2. 269  Erste Vertiefungen finden sich lediglich bei Volkmann, AöR  134 (2009), S. 157 (157 ff.) sowie Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre, S. 89 ff., 148 ff., 225 ff. Mit Blick auf Leitbilder im Verwaltungsrecht vgl. Baer, in: Schmidt-Aßmann/ Hoffmann-Riem, S. 223 (232 ff.). 270  Die Suche nach den Begriffen „Leitbild“ und „BVerfG“ verzeichnet bei „ju­ ris“ bereits 200 Treffer, Stand August  2015. 271  BVerfGE  118, 277 (328). 272  BVerfGE  121, 241 (258).



C. Kontinuitätswahrung139

haltsführungsehe273. Eine Aufzählung verfassungsrechtlicher Leitbilder ließe sich anhand zahlreicher Beispiele fortführen, wobei sich diese nicht allein mit Blick auf verfassungsrechtliche Strukturentscheidungen, sondern auch in einzelnen Abschnitten oder sogar in einzelnen Normen finden lassen.274 Volkmann meint gar, dass die entsprechenden Leitbilder mittlerweile den un­ geschriebenen und eigentlichen Kern der Verfassung bilden, auf den die ge­ schriebenen Normen sachlich und funktional bezogen seien.275 Angesichts der Vielfalt an Bezugnahmen auf im Verfassungsrecht ver­ meintlich enthaltene Leitbilder scheint es ein schier unmögliches Unterfan­ gen, ein dogmatisches Konzept zu entwickeln, dass der Komplexität des Leit­ bildbegriffs angemessen Rechnung trägt. Ebenso wenig hilft ein interdiszip­ linärer Ansatz weiter, vermag der Rückgriff auf den sozialwissenschaftlichen Forschungsstand der Leitbildproblematik nämlich nur wenig Abhilfe zu leis­ ten. Hier wird erneut deutlich, dass ein interdisziplinäres Leitbildkonzept im Sinne einer einheitlichen Begriffsverwendung nicht existiert, stattdessen fin­ det der Begriff des Leitbildes je nach betroffenen und selbst innerhalb be­ stimmter Forschungsdisziplinen unterschiedliche Verwendungen.276 Lediglich lassen sich gewisse Grundübereinstimmungen, eine Art „Mini­ malkonsens“, bei der Konstruktion von Leitbildern identifizieren. So zeigen sich jedenfalls Übereinstimmungen dahingehend, Leitbilder als Bündel so­ zial geteilter Vorstellungen über einen erwünschten Zustand zu betrachten, der durch entsprechendes Handeln realisiert werden soll.277 Die vom Leit­ bild in Bezug genommene Institution beinhaltet demnach einen entsprechen­ den Sinn  –  einen Zweck, der ausdrückt, was das Leitbild zusammenhält, und welche Elemente es von innen her prägen.278 Das Element der sozialen Vorstellungen weist auf das Erfordernis eines gesellschaftlichen Konsenses hin, der wiederum eine Brücke zu den Gerechtigkeits- und Ordnungsvorstel­ lungen der Gesellschaft schlägt279, aus der sich der erwünschte Zustand herausfiltert. Entsprechend können drei verschiedene Aspekte angeführt werden, die sich in einem Leitbild zu einer Einheit zusammenfinden280: ein ethisch-konsensuales Moment, ein soziologisch-empirisches Moment sowie 273  BVerfGE  105,

1 (9). AöR  134 (2009), S. 157 (168). 275  Volkmann, AöR  134 (2009), S. 157 (158). 276  Zusammenfassend Giesel, S. 193 ff. 277  Definition nach Giesel, S. 194. 278  Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre, S. 90. 279  Volkmann, AöR 134 (2009), S. 157 (159); Volkmann, Grundzüge einer Verfas­ sungslehre, S. 90. 280  Volkmann, AöR 134 (2009), S. 157 (173); Volkmann, Grundzüge einer Verfas­ sungslehre, S. 90 ff. 274  Volkmann,

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

ein juristisch-normatives Moment. Diese drei Momente bringen das Span­ nungsverhältnis eines Leitbildes zwischen der Ordnungs- und Stabilisie­ rungsfunktion und seiner gleichzeitigen Bezugnahme auf die Lebenswirk­ lichkeit zum Ausdruck. Leitbilder sind ethisch-konsensual von bestimmten außerrechtlichen Gerechtigkeits- und Moralvorstellungen geprägt. Inwieweit diese in der Realität Ausdruck finden, das heißt auf welche Weise sie gelebt werden, drückt das soziologisch-empirische Moment aus. Hinzu tritt das juristisch-normative Moment, welches versucht, das normativ aufgeladene Leitbild in die Rechtsordnung zu integrieren bzw. es für die rechtliche Re­ flexion zu rezipieren. Leitbilder stillen das anthropologische Bedürfnis nach Orientierung und Sinngebung, indem sie bestimmte Verhaltensweisen als erstrebenswert und sozial erwünscht herausstellen.281 Für die verfassungsrichterliche Kontrolle ist diese Funktion von besonderer Bedeutung, da ein einmal identifiziertes Leitbild die verfassungsrechtliche Abwägung steuern kann. Während Prinzi­ pien und Werte im Einzelfall gegeneinander abgewogen werden, um prakti­ sche Konkordanz bzw. Optimierung herzustellen, stehen die Leitbilder „da­ hinter“ und steuern die übergeordnete Richtung der Abwägung.282 Ist die Existenz eines Leitbildes gemeinhin anerkannt, wird seine Legitimation vor­ erst nicht in Frage gestellt – so treffend Volkmann: „Einmal formuliert, müs­ sen sie nicht in jeder Entscheidung neu begründet werden, sondern gelten zunächst als Prämisse, die dann auch für nachfolgende Entscheidungen Gül­ tigkeit beansprucht und dadurch gleichfalls Kontinuität gewährleistet.“283 Eine Reduktion auf die Kontinuität sicherstellende Orientierungs- und Stabilisierungsfunktion wird jedoch der Natur des Leitbildes in seiner Gän­ ze nicht gerecht. Die Anbindung von Leitbildern an gesellschaftliche Ge­ rechtigkeitsvorstellungen und an die Lebenswirklichkeit beinhaltet von Na­ tur aus eine Variabilität, eine Wandelbarkeit des Leitbildes.284 Jedem Leitbild ist insofern eine Dialektik zwischen Stabilität und Flexibilität immanent285, wobei die Änderungen nicht beliebig zulässig, sondern zunächst einmal darzulegen sind. Die Argumentationslast trägt vor dem Hintergrund der Stabilisierungsfunktion derjenige, der einen Wandel anstrebt.286 281  Volkmann, AöR  134 (2009), S. 157 (178 f.); Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 497. 282  Volkmann, AöR  134 (2009), S. 157 (173 f.); Volkmann, Grundzüge einer Ver­ fassungslehre, S. 148 ff. 283  Volkmann, AöR  134 (2009), S. 157 (180). 284  Volkmann, AöR  134 (2009), S. 157 (180 f.); zu der dynamischen Natur von Werten vgl. oben Teil  2 A.  I. 285  Giesel, S. 231. 286  Volkmann, AöR  134 (2009), S. 157 (190 f.).



C. Kontinuitätswahrung141

b) Leitbilder als integraler Bestandteil von Einrichtungsgarantien Werden nun Leitbilder in eine Einrichtungsgarantie inkorporiert, dann bedarf es eines Ausgleichs, welcher die Doppelnatur des Leitbildes von Stabilisierung und Variabilität, von Statik und Dynamik angemessen abbil­ det. Einrichtungsgarantien markieren die äußere Grenze des dem einfachen Gesetzgeber zustehenden Ausgestaltungsspielraums. Sie wahren die Funk­ tionen der Einrichtung durch absolute Strukturmerkmale. Auch ein in der Einrichtungsgarantie verankertes Leitbild kann ebenfalls nur eine bestimmte Funktion erfüllen, so dass es sich anbietet, insofern von der Leitbildfunktion als dritte Funktionsebene der Einrichtungsgarantie zu sprechen. Es kommt darauf an, den „schonendsten“ Ausgleich herzustellen, der bei Wahrung ei­ nes funktionellen Verständnisses die materialisierten Elemente eines Leitbil­ des nach wie vor gebührend berücksichtigt. aa) Unterscheidung zwischen übergeordnetem Zweck und normativem Substrat Zur Umsetzung der im Leitbild enthaltenen Pole von Statik und Dynamik erfolgt eine Einteilung der Leitbildfunktion in zwei hierarchische Elemente. Leitbilder verfolgen ein bestimmtes Ziel im Sinne eines übergeordneten Zwecks  –  ein Ziel des Leitbildes287  –, das Orientierungswirkung ausstrahlt. Der übergeordnete Zweck des Leitbildes liegt regelmäßig in einer zu ver­ mittelnden Ordnung und Stabilität, der als Zustand zu bewahren ist. Damit verwirklicht der übergeordnete Zweck den statischen Pol des Leitbildes. So lässt sich beispielsweise im Zusammenhang der ehelichen Leitbildfunktion des Art. 6 Abs. 1 GG288 der auf Stabilisierung zielende übergeordnete Zweck in der Signalwirkung der Ehe als besonders stabile partnerschaftliche Bezie­ hungsform erblicken. Von den übergeordneten Zwecken des Leitbildes ist sodann  –  auf einer untergeordneten Ebene  – ihr normatives Substrat zu unterscheiden, in dem sich wiederum die in dialektischer Beziehung zur Starrheit stehende Offen­ heit eines Leitbildes ausdrückt.289 Entsprechend der in Leitbildern enthalte­ nen Dialektik von Statik und Dynamik realisiert sich im normativen Subst­ rat eines Leitbildes  –  anders als beim zeitlos zu wahrenden übergeordneten Zweck  – demzufolge gerade nicht das statische, sondern das dynamische Element. Diese Konzeption ist ebenfalls in besonderer Weise mit der auf Baer, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem, S. 223 (236). ausführlich unten Teil  4  B.  IV.  1.  d).  aa). 289  Hierzu auch Baer, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem, S. 223 (248). 287  Ähnlich 288  Hierzu

142

Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

Ausgestaltung angewiesenen dogmatischen Natur normgeprägter ­Grundrechte kompatibel, die ihrerseits maßgeblich auf den gesellschaftlichen Anschauun­ gen beruht und vor diesem Hintergrund entwicklungsoffen ist. Leitbilder sind in großem Maße normativ geprägt und damit von Werten abhängig. Sie beruhen somit ihrerseits auf gesellschaftlichen Gerechtigkeitsund Wertevorstellungen. Ihrer Natur entsprechend sind Werte keine zeitlosen Parameter, sondern vornehmlich eine dynamische Größe290, sodass das Substrat eines Leitbildes also durchaus Wandlungen erfahren kann. Das Substrat eines Leitbildes enthält die Summe der jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen Wertevorstellungen, die für die Verwirklichung des über­ geordneten Zwecks als zu einem bestimmten Zeitpunkt von der Gesellschaft gewünschte Kriterien gefordert werden. Im Beispiel des Eheleitbildes bün­ delt das normative Substrat demnach diejenigen gesellschaftlichen Werte­ vorstellungen, die an die Verwirklichung des übergeordneten Zwecks, nämlich an die Wahrung der besonderen Stabilität einer Paarbeziehung, gestellt werden.291 Die bei einer solchen Konzeption getroffene Unterscheidung zwischen übergeordnetem Zweck und untergeordnetem Substrat führt gleichzeitig zu einem harmonischen Zusammenspiel zwischen Einrichtungsgarantie und Leitbild. Sie trägt in angemessener Weise der Ermittlung der struktur- und typusbestimmenden Merkmale Rechnung, die im Rahmen ihrer ganzheitli­ chen Betrachtungsweise neben der historischen Komponente durchaus auch Gegenwart und Zukunft als prägende Faktoren zu berücksichtigen hat.292 Die Leitbildfunktion ist auf Verwirklichung des übergeordneten Zwecks ausgerichtet, den die einfach-rechtliche Ausgestaltungslage in keinem Fall denaturieren kann. Soweit sich die Wandlungen im normativen Substrat außerhalb der vom übergeordneten Zweck vorgegebenen Orientierung voll­ ziehen, findet keine Beeinträchtigung des Leitbildes statt. Der übergeordne­ te Zweck bleibt dann ungestört aufrecht erhalten, es ändern sich lediglich die für seine Realisierung erforderlichen normativen Voraussetzungen.293 290  Dazu

oben Teil  2 A.  I. VVDStRL  45 (1987), S. 7 (50) formuliert: „Es zeigt sich einmal mehr, daß der Staat auch im Bereich von Ehe und Familie von sittlichen Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann, von deren Vorhandensein er aber abhängig ist.“ 292  So explizit die Forderung bei Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 870. Dazu schon oben Teil  C.  III.  4. 293  Schmidt-Jorzig, S. 45 f. unterwirft selbst den Kernbereich einer Einrichtungs­ garantie der Wandelbarkeit. Aus normenhierarchischen Gründen ist eine solche Be­ trachtung jedoch abzulehnen. Allerdings lassen sich seine Überlegungen durchaus in modifizierter Weise auf das hier skizzierte Modell einer Leitbildfunktion übertragen, bei der eine Wandelbarkeit im Substrat möglich ist. 291  v. Campenhausen,



C. Kontinuitätswahrung143

Angesichts der Vermutungswirkung zugunsten der normativen Struktur­ merkmale, indem die sie kennzeichnenden Werte nämlich nach wie vor als dem vorherrschenden gesellschaftlichen Konsens entsprechend angesehen werden, ist die valide Behauptung eines Wandels im normativen Substrat mit besonders hohen Nachweis- und Begründungspflichten verknüpft. Der­ jenige, der sich auf einen vermeintlichen Wandel beruft, trägt die „Beweisund Darlegungslast“. Ein aussagekräftiger Indikator ist einerseits in empiri­ schen Erhebungen zu erblicken. Zudem kommt der Gesetzgebung eine ­tragende Rolle hinsichtlich der Beurteilung gesellschaftlicher Wertevorstel­ lungen zu.294 Entsprechend dem, für die Ermittlung vorherrschender gesell­ schaftlicher Werte dienenden Schichtenmodell, das bereits in Teil  2 vorge­ stellt wurde295, bündeln politische Parteien in den Parteiprogrammen ver­ schiedene gesellschaftliche Überzeugungen. Im Falle einer Regierungsfähig­ keit können sie diese in ihrer Funktion als Gesetzgeber anschließend in die Rechtsordnung tatsächlich einbringen. Aus diesem Vorgang lässt sich wie­ derum darauf schließen, dass die nunmehr von der Mehrheit der Bevölke­ rung gewählte Regierung ihrerseits auch mehrheitsfähige Werte verkörpert und diese Werte in ihren rechtspolitischen Maßnahmen zum Ausdruck kommen. Jeder, der eine Norm lebt, interpretiert diese schließlich auch mit.296 Der „Volksgeist“ übernimmt dann eine „Zubringeraufgabe“297 für rechtspolitische Gestaltungsentscheidungen. Aus ihm entstammen die Im­ pulse, die von der Politik aufgegriffen, in Gesetzen verarbeitet und sodann wiederum Gegenstand verfassungsgerichtlicher Kontrolle sein können. Die Interdependenzen zwischen gesellschaftlichen Wandlungen, ihrer ge­ setzgeberischen Reflexion in der Ausgestaltung der einfachen Rechtsord­ nung und die hiervon ausgehenden Auswirkungen auf das Verfassungsrecht hat bereits Lerche mit dem berühmt gewordenen Begriff des „stillschwei­ genden Verfassungswandels“ geprägt.298 Es zeigt sich, dass ab einer gewis­ sen Intensitätsschwelle, vor allem ab einer gewissen Zeitdauer299, die kor­ respondierende Verfassungsnorm mittelbar durch eine gewandelte einfachrechtliche Rechtsordnung berührt wird.300 In den Worten von Lerche: „Die stets zulässig bleibende allmähliche, schrittweise Fortbildung des unterver­ fassungsgesetzlichen Rechts kann auf die Dauer nicht ohne Einfluss auf die insbesondere Höfling, S. 194 f. ausführlich oben Teil  2 A.  II. 296  Häberle, JZ  1975, 297 (297). 297  Häberle, JZ  1975, 297 (298). 298  Der Begriff wurde schon von v. der Heydte, ARSP  39 (1950/1951), S. 461 (461 ff.) eingeführt. 299  Lerche, in: Festgabe für T.  Maunz, S. 285 (292). 300  Lerche, in: Festgabe für T.  Maunz, S. 285 (291); v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, S. 17. 294  Vgl.

295  Dazu

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

Definition der Struktur der jeweiligen Materie selbst bleiben.“301. Die jewei­ lige Ausgestaltung der einfachen Rechtsordnung durch die vom Volk ge­ wählte Regierung beeinflusst zwar nicht unmittelbar die Strukturmerkmale einer Einrichtungsgarantie, sie besitzt aber durchaus indizielle Wirkung für die Ermittlung vorherrschender gesellschaftlicher Wertevorstellungen. Der Gesetzgeber wirkt als Schrittmacher einer Anpassung an die Zeit.302 Bereits aus einem Machterhaltungsinteresse heraus sind Regierung und Parlament darauf angewiesen, die Rechtsordnung in Übereinstimmung mit Kollektivin­ teressen auszurichten und im zeitlichen Verlauf aufrechtzuerhalten.303 Mit Wahl lässt sich daher zutreffend feststellen: „Wenn die Politik Reformen unter Berufung auf gewandelte Verhältnisse durchführt, dann ist eine Ver­ fassungswidrigkeit schon im Ansatz unwahrscheinlich.“304 bb) Unterscheidung zwischen absoluten und normativen Strukturmerkmalen Es entspricht der gängigen verfassungsdogmatischen Terminologie, die unabänderlichen, funktionssichernden Inhaltsvoraussetzungen einer Einrich­ tungsgarantie als „Strukturmerkmale“ zu bezeichnen. Ferner sollte man vor dem Hintergrund der hier aufgezeigten hierarchischen Zweiteilung einer Leitbildfunktion in den übergeordneten Zweck und ihr normatives Substrat sowie aus Gründen der Rechtsklarheit eine weitere terminologische Unter­ scheidung zwischen den im Folgenden als absolut und normativ bezeichne­ ten Strukturmerkmalen vornehmen. Die beiden Gruppen beinhalten eine abgestufte Schutzintensität: Absolute Strukturmerkmale sichern die individu­ ell-freiheitliche und gemeinschaftlich-soziale Funktionen sowie den unan­ tastbaren übergeordneten Zweck des Leitbildes. Der einfache Gesetzgeber kann sie nicht aushöhlen. Normative Strukturmerkmale sind dagegen Ausdruck gesellschaftlicher Wertevorstellungen, die der Leitbildfunktion im Substrat zugrunde liegen. Als solche haben die den Parlamentarische Rat seinerzeit prägenden gesell­ schaftlichen Wertevorstellungen Einzug als normative Strukturmerkmale in die Leitbildfunktion erhalten. Diese besitzen zunächst einmal eine stabilisie­ rende Wirkung, sie sind auf Kontinuität ausgerichtet. Zugunsten der Gel­ tungskraft normativer Strukturmerkmale spricht stets eine Vermutungswir­ kung. Ist ein normatives Strukturmerkmal einmal identifiziert, bleibt es grundsätzlich zeitresistent bestehen, es sei denn, es werden zu einem späte­ 301  Lerche,

in: Festgabe für T.  Maunz, S. 285 (293). NJW  1979, 1321 (1324). 303  Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S. 148 f. 304  Wahl, in: Festschrift für R.  Frank, S. 31 (48). 302  Schenke,



C. Kontinuitätswahrung145

ren Zeitpunkt überzeugende Belege für den nunmehrigen Verlust der Eigen­ schaft als vorherrschender gesellschaftlicher Wert angeführt. Folgerichtig weisen die normativen Strukturmerkmale einen grundlegen­ den Unterschied zu den absoluten Strukturmerkmalen auf. Da sie auf norma­ tiven Vorgaben beruhen, ist es nicht ausgeschlossen, dass eben jene Wertun­ gen im Laufe der Zeit Schwankungen unterliegen  –  das normative Substrat kann im Falle der Validität eines tatsächlich erfolgten gesellschaftlichen Wandels Veränderungen erfahren und die bisherige Wertung der normativen Strukturmerkmale vermag durch neue Wertevorstellungen ersetzt oder gar überfällig werden. Die normativen Strukturmerkmale sind daher insgesamt – anders als die absoluten Strukturmerkmale  – nicht gänzlich unabänderlich, sondern unter besonderen Voraussetzungen durchaus variabel.

IV. Zwischenergebnis Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse sind nicht grenzenlos. Vielmehr unterliegen sie bereits auf der Tatbestandsebene verfassungsimmanenten Begrenzungen. Explizit sind diese in der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3  GG und der Wesensgehaltsgarantie in Art. 19 Abs. 2  GG festge­ schrieben. Eine spezielle Grenze ist ferner in den Einrichtungsgarantien zu erblicken. Diese sind in normgeprägten Grundrechtstatbeständen verankert, entfalten jedoch ihre Wirkung als materielle Dynamisierungsgrenze nicht nur für tatbestandliche Dynamik im Innenverhältnis, das heißt innerhalb des normgeprägten Grundrechtstatbestands, sondern darüber hinaus auch im Außenverhältnis als normative Vorgaben der gesamten Rechtordnung. In der zeitlosen Wahrung unantastbarer Kernbereichsvorgaben liegt ihr primärer Schutzzweck. Diese materiellen Vorgaben strahlen daher im Sinne funda­ mentaler Direktiven in die gesamte Rechtsordnung aus, sodass letztlich sämtliche grundrechtlichen Dynamisierungsprozesse innerhalb und jenseits der normgeprägten Grundrechtstatbestände von der begrenzenden Wirkung erfasst werden. Die strukturellen Merkmale des Kernbereichs bestimmen sich in materieller Hinsicht wiederum allein nach den von der Einrichtung unter verfassungsrechtlichen Schutz gestellten Funktionen. Innerhalb einer solchen funktionalen Schutzausrichtung beinhalten Einrichtungsgarantien regelmäßig eine individual-freiheitliche und eine gemeinschaftlich-soziale Funktionsebene. Gelegentlich tritt als dritte Funktionsebene eine sog. Leit­ bildfunktion hinzu. Verfassungsrechtliche Leitbilder prägt eine Dialektik von Statik und Dy­ namik. Auch in der rechtlichen Reflexion ist daher strukturell zwischen der statisch-zeitlosen Ebene, dem sog. übergeordneten Zweck eines Leitbildes, und der dynamisch-wandelbaren Ebene, dem sog. normativen Substrat, zu

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

unterscheiden. Das normative Substrat enthält die gesellschaftlichen Werte­ vorstellungen, die an die effektive Wahrung des übergeordneten Zwecks gestellt werden. Sie sind als normative Strukturmerkmale den absoluten Strukturmerkmalen, die den übergeordneten Zweck kennzeichnen, gegen­ überzustellen und bilden ein Einfallstor für die angemessene Berücksichti­ gung von Werten im Verfassungsrecht.

D. Verfassungsrichterliche Kontrolle grundrechtlicher Dynamik Im Anschluss an die Herausarbeitung der verschiedenen Typen grundrecht­ licher Dynamisierungsprozesse und ihrer Grenzen soll  –  entsprechend des hier verfolgten Ansatzes einer holistischen Betrachtung grundrechtlicher Dy­ namisierungsprozesse305 – abschließend die verfassungsrichterliche Perspek­ tive, speziell die Anforderungen an die verfassungsrichterliche Kontrolle grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse im Rahmen der Verfassungsrecht­ sprechung, in die bisherigen Überlegungen Einzug erhalten. Gemäß der kon­ zeptionellen Ausrichtung des Grundgesetzes ist das BVerfG zur abschließen­ den autoritativen Entscheidung über die Auslegung spezifischen Verfassungs­ rechts von Verfassungs wegen ermächtigt. Es ist das zur Letztinterpretation der Verfassung ermächtigte Organ306 und wird damit zum wesentlichen Mo­ tor für eine durch Interpretation bewirkte Änderung grundrechtlicher Tatbe­ stände.307 Das BVerfG bestimmt die Verfassungsbestimmungen nach metho­ dischen Grundsätzen rechtsbildend mit.308 Zugleich überwacht es die Einhal­ tung des Rahmens der dynamischen und wertoffenen Struktur des Grundge­ setzes, ohne dabei eine Rangfolge von Werten festzusetzen.309 Im Lichte der „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“ betrifft die Rolle des BVerfG damit zum einen den Aspekt einer generellen, von Ver­ fassungs wegen vorgesehenen Verpflichtung des Verfassungsgerichts zur Kontrolle und Darlegung grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse in seiner Entscheidungspraxis, zum anderen die Reichweite des spezifischen verfas­ sungsrichterlichen Kontrollumfangs. Eine verfassungsrichterliche Verpflich­ 305  Siehe

Teil  3 A.  II. beispielsweise bei Kenntner, DÖV  1997, 450 (456); vgl. auch Isensee, in: Piazolo, S. 49 (53). 307  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 161: „Die bei weitem größte Aktivität ent­ faltet das BVerfG bei der Auslegung der Grundrechte, also einem Gebiet, das dem verfassungsändernden Gesetzgeber fast ganz verschlossen ist.“ 308  Badura, in: Starck, Bd. II, S. 1 (1); Walter, AöR  125 (2000), S. 517 (521 f.); Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 107, 147. 309  Seifert, Das Grundgesetz und seine Veränderung, S. 9. 306  So



D. Verfassungsrichterliche Kontrolle grundrechtlicher Dynamik 147

tung zur Auseinandersetzung mit den grundrechtlichen Dynamisierungspro­ zessen beurteilt sich nach den kompetenziellen Verhältnissen des Verfas­ sungsgerichts gegenüber dem verfassungsändernden Gesetzgeber als berech­ tigtem Organ zur Verfassungstextänderung. Verfassungsinterpretation seitens des BVerfG kann ausschließlich innerhalb verfassungsrechtlicher Kompeten­ zen stattfinden, eine Überschreitung dieser Kompetenzen wäre verfassungs­ widrig. Den von Verfassungs wegen zugeteilten Kompetenzen kann sich das BVerfG jedoch wiederum nicht entziehen, es ist zu seiner effektiven Wahr­ nehmung verpflichtet. Bestünde eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Auseinandersetzung und hinreichenden Abbildung der grundrechtlichen Dy­ namisierungsprozesse in den Entscheidungsbegründungen des BVerfG, riefe dies in einem nächsten Schritt eine Beschäftigung mit den spezifischen, für jeden einzelnen Typus grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse geltenden verfassungsrichterlichen Kontrollmaßstäben auf den Plan.310 Diesem Aspekt wendet sich der zweite Teil dieses Abschnitts zu.

I. Kompetenzen als formell-rechtliche Grenzen grundrechtlicher Dynamik Die im Zuge der Verfassungsrechtsprechung vollzogenen Beiträge des BVerfG zur Wahrung des dynamisch-integrativen Charakters des Grundge­ setzes können insbesondere in Konflikt zu weiteren Akteuren treten, die ihrerseits alleinige Kompetenzen für die Anpassung der Verfassung an ge­ änderte Lebenswirklichkeiten in Anspruch nehmen. Wesentliche Bedeutung erlangt daher die Abgrenzung der im Grundgesetz vorgesehenen kompeten­ ziellen Verhältnisse sämtlicher staatlicher Gewalten. Das Kompetenzgefüge begrenzt die grundrechtlichen Dynamisierungsprozesse in formell-rechtlicher Hinsicht, seine strikte Einhaltung fordert das Demokratieprinzip. 1. Gewaltenteilungsgrundsatz als Maßstab formaler Grenzziehung Bei dem Grundgesetz handelt es sich um eine rigide Verfassung, die an­ ders als flexible oder völlig unantastbare Verfassungen nur unter den er­ schwerten Bedingungen des Art. 79  GG abzuändern ist.311 Das formelle Verfassungstextänderungsverfahren, dessen alleinige Kompetenzwahrneh­ 310  Untersuchungen zur verfassungsrichterlichen Kontrolle unter dem Aspekt der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen werden hier ausgespart, da der Aspekt einer dynamischen Erweiterung des Schutzumfangs ausschließlich die Tatbestands­ ebene eines Grundrechts betrifft. 311  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 57, insbesondere bzgl. Art. 79 Abs. 3  GG, S. 235 ff. Vor allem das Erfordernis qualifizierter Mehrheiten (Art. 79 Abs. 2  GG)

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

mung dem verfassungsändernden Gesetzgeber312 obliegt, wird daher zu ei­ ner wichtigen formellen Stabilitätsgrenze.313 Daneben ermächtigt die vom Grundgesetz vorgesehene Verfassungsgerichtsbarkeit  –  im Sinne eines „Gegenpols“ zur Rigidität314  – zur Interpretation offener Verfassungsnor­ men. Gerade das Zusammenspiel dieser beiden vom Grundgesetz berufenen Organe steht bei der Fortschreibung des Verfassungsrechts im Vorder­ grund.315 Beide Akteure prägen maßgeblich die Verfassungsentwicklung, ringen ihrerseits aber um die jedweden Kompetenzen. Demzufolge markiert die entscheidende Schnittstelle zwischen Verfas­ sungsrechtsprechung und Politik, zwischen Rigidität des Grundgesetzes und der Konkretisierbarkeit einzelner Vorschriften im Wege der Interpretation316, die zwingende Notwendigkeit der Durchführung eines formellen Verfas­ sungstextänderungsverfahrens. Entscheidende Bedeutung für die Abgrenzung der verschiedenen Kompetenzen zwischen Rechtsprechung und Politik er­ langt somit der Gewaltenteilungsgrundsatz. Art. 20 Abs. 2 GG weist den Or­ ganen der Legislative, Exekutive und Judikative unterschiedliche Kompeten­ zen zu und etabliert durch Verteilung der Staatsmacht auf die drei Gewalten eine Kompetenzausübung in gegenseitiger Kontrolle und Abhängigkeit.317 Jede verfassungsrechtliche Gewalt besitzt folglich ihre eigenen, originären Kernkompetenzen und hat damit einen bestimmten Verantwortungsbereich inne, innerhalb dessen sie ihre Staatsaufgabe effizient zu erledigen hat.318 Übergriffe in den Kompetenzbereich eines anderen Organs verstoßen gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz.319 bringe die verfassungsrechtliche Rigidität des Grundgesetzes zum Ausdruck, so Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 116. 312  Bei dem verfassungsändernden Gesetzgeber handelt es sich um keinen Akteur der Verfassungsinterpretation. Zwar kann dieser grundsätzlich in einem formellen Verfahren Verfahrungsrechtssätze vollständig abändern, entfernen oder neu einfügen, wobei ihm die Freiheit zusteht, den zu ändernden Gegenstand selbst zu wählen. Ebenso sind ihm bei der textlichen Ausgestaltung keine Grenzen gesetzt. Entschei­ dend ist jedoch, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber im Rahmen seines Tä­ tigwerdens die Verfassung nicht interpretiert, sondern durch ein formelles Verfahren weiterentwickelt. Er betrachtet nicht die Auslegung einer existenten Norm, sondern schafft gänzlich neues Verfassungsrecht. Interpretationsfragen stellen sich für ihn vor diesem Hintergrund nicht. 313  Näher Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 264 ff. 314  Ehmke, VVDStRL  20 (1963), S. 53 (68); ähnlich Krüger, in: Festgabe für R.  Smend, S. 151 (156). 315  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 112. 316  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 112; dazu ausführlich oben Teil  2  C.  III. 317  Robbers, in: Dolzer/Graßhof/Kahl/Waldhoff/Walter, BK-GG, Stand: Janu­ ar  2014, Art. 20 Abs. 2 Rn. 3198 f., 3203 ff. 318  BVerfGE  131, 130 (146). 319  BVerfGE  65, 196 (215); 111, 54 (107); 126, 369 (392).



D. Verfassungsrichterliche Kontrolle grundrechtlicher Dynamik 149

Dem BVerfG wurde nun im Laufe seiner Rechtsprechungsgeschichte in mannigfacher Weise ein gesetzgeberisches Tätigwerden, eine Entmachtung des Verfassungs- und Gesetzgebers sowie das Jonglieren mit unvorherseh­ baren Abwägungsergebnissen320 vorgeworfen. Mit harscher321 und zum Teil auch theatralischer Kritik322 ist dabei nicht gespart worden. Leitend war und ist nach wie vor die Vorstellung, das Verfassungsgericht – zum Teil un­ wirsch als „Richteroligarchie aus Karlsruhe“323 bezeichnet  – würde sich zunehmend die Rolle eines Ersatzgesetzgebers anmaßen und das Parlament in seinem originären Hoheitsrecht zur Gesetzgebung entmachten.324 Es wer­ de vom Hüter der Verfassung zu ihrem Neuschöpfer. Dieser Vorwurf erfolgt nicht selten zu voreilig. Zwar obliegt das Recht zur Gesetzgebung dem Verantwortungsbereich der Legislative, zugleich be­ schränkt es sich jedoch hierauf, denn eine im Nachgang durch das Parlament erfolgende authentische Interpretation seiner selbst hervorgebrachten Gesetze sieht die Verfassung nicht vor. Vielmehr bleibt die Interpretationsfrage der Rechtsprechung vorbehalten325, wenngleich die Verfassungsrechtsprechung wiederum als Sonderfall hervorsticht. Das BVerfG nimmt innerhalb der Ge­ waltenteilung eine besondere Rolle ein, seine Betätigung ist nicht mit der Rechtsprechung durch die Fachgerichte vergleichbar.326 Die Entscheidungen des BVerfG binden alle anderen Gewalten, auch den Gesetzgeber (§ 31 bei Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 166 Fn. 4. nur Krey, JR  1995, 221 (221 ff.); Großfeld, NJW  1995, 1719 (1719 ff.); Ru. Scholz, APuZ  B16/1999, 3 (3 ff.). 322  Aus jüngerer Zeit vor allem Hillgruber, JZ  2011, 861 (861 ff.), der u. a. von „Grundrechtshypertrophie“, „Verfassungsgerichtlicher Ersatzgesetzgebung“, „Demo­ kratischen Kollateralschäden“ oder der „Erfindung“ neuer und „Abschaffung“ alter Grundrechte spricht. 323  Brohm, NJW  2001, 1 (1 ff.). 324  Siehe z. B. Hillgruber, JZ 2011, 861 (863); ausführlich Bryde, Verfassungsent­ wicklung, S. 333 ff. Bei den erhobenen Vorwürfen muss man jedoch stets den par­ teipolitischen Hintergrund der Akteure vor Augen führen. Die Offenheit der Verfas­ sungsbestimmungen sowie der verfassungsrechtliche Anspruch auf Vollständigkeit des Grundgesetzes führen dazu, dass der politische Prozess in Form des Parteien­ kampfes darüber entscheidet, ob der status quo beibehalten oder die Verfassung an neue Gegebenheiten angepasst wird, vgl. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 259 ff., zusammenfassend S. 457. Rechtssoziologisch lässt sich der Einfluss von parteipoli­ tischer Machtverteilung und das korrespondierende interpretative Vorverständnis nachweisen. Kritiker des status quo fordern dann nach einer aktivistischeren Recht­ sprechung des BVerfG, während Befürworter der Mehrheitsmeinung zur Zurückhal­ tung des BVerfG aufrufen, vgl. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 260 mit Verweis auf Schenke, NJW  1979, 1321 (1321 f.), Hufen, in: Schuppert/Bumke, S. 61 (62). 325  Robbers, in: Dolzer/Graßhof/Kahl/Waldhoff/Walter, BK-GG, Stand: Januar 2014, Art. 20 Abs. 2 Rn. 3210; dies betont Gaier, vgl. Barley/Gaier/Rath/Robbers/ Raab, S. 17 ff. 326  Dies verkennt Rieble, NJW  2011, 819 (821). 320  Nachweise 321  Siehe

150

Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

BVerfGG). Bei Streitigkeiten entscheidet das Gericht autoritativ über den Handlungsspielraum anderer Organe und besitzt damit in gewisser Weise selbst einen Rang oberhalb jener Gewalten. Teilweise wird gar von einer vier­ ten Gewalt in Form einer sog. „Verfassungsgewalt“ gesprochen.327 Ange­ sichts des beschleunigten Wandels der gesellschaftlichen Verhältnisse, der begrenzten Reaktionsmöglichkeiten des Gesetzgebers sowie der offenen For­ mulierung zahlreicher Normen gehört die durch Verfassungsinterpretation er­ zeugte Anpassung des geltenden Verfassungsrechts an veränderte Verhältnisse zu den Aufgaben des BVerfG328 und ist ebenso dessen originäre Kompetenz. Diese Kompetenzausübung darf indes nicht dazu führen, dass das Verfas­ sungsgericht seine eigenen materiellen Gerechtigkeitsvorstellungen an die Stelle des Gesetzgebers setzt.329 Es hat seine Prüfung auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts zu beschränken und sich dabei vom Maßstab des Verfassungsrechts unter Einhaltung der methodischen Regeln der Ver­ fassungsinterpretation leiten zu lassen.330 Die politische Auseinandersetzung widmet sich der Frage einer bestmöglichen Verwirklichung des Gemein­ wohls und entsteht in einem gesellschaftlichen Diskurs, für den das unmit­ telbar demokratisch legitimierte Parlament ein angemessenes Diskussionsfo­ rum bereithält.331 Verfassungsrichterliche Betätigungen haben dagegen die Auslegung des Verfassungsrechts nach dem Maßstab der für die Verfas­ sungsinterpretation anzuwendenden Methodik zum Gegenstand. Methoden­ fragen werden damit stets zu Verfassungsfragen, welche die Machtverteilung zwischen Legislative und Judikative betreffen.332 Die Kompetenz zur Aus­ legung von Verfassungsvorschriften folgt der Methode333 mit der Folge, dass Kompetenz- und Methodenfragen korrespondierend zu beantworten sind.334 Seine Kompetenz überschreitet das BVerfG erst dann, wenn es sich über den ihm von Verfassungs wegen vorgegebenen methodischen Maßstab hinwegsetzt.335 Es betreibt in diesen Fällen eine Verfassungsfortbildung contra legem und greift in den originären Bereich des (verfassungsändern­ den) Gesetzgebers über. Bei der politischen Willensbildung und der juristi­ schen Auslegung handelt es sich demnach um unterschiedliche Instrumente Kielmansegg, S. 24. Rspr. BVerfGE  49, 304 (318); 82, 6 (12); 96, 375 (394); 122, 248 (267); 128, 193 (210). 329  BVerfGE 82, 6 (12); BVerfG, NJW  2012, 669 (670); BVerfGK  8, 10 (14). 330  Robbers, in: Dolzer/Graßhof/Kahl/Waldhoff/Walter, BK-GG, Stand: Januar 2014, Art. 20 Abs. 2 Rn. 3230. 331  Schenke, NJW  1979, 1321 (1323). 332  Rüthers/Fischer/Birk, S. 417, Rn. 696, 706. 333  Gaier, in: Lobinger/Pieckenbrock/Stoffels, S. 85 (97). 334  So wohl auch Walter, AöR  125 (2000), S. 517 (539). 335  Dazu ausführlich oben Teil  2  C.  III.  4. 327  So

328  St.



D. Verfassungsrichterliche Kontrolle grundrechtlicher Dynamik 151

der Legislative und Judikative, die jeweils unterschiedliche Anforderungen an ihren Kompetenzträger stellen.336 Dieser Zusammenhang zwischen verfassungsrichterlicher Kompetenz und Methodik ist von grundlegender Bedeutung und wird in den gegenwärtigen Diskussionen vielfach vernachlässigt, wenn nicht selten sogar vollständig ausgeblendet. Beide Aspekte bedingen einander und erfordern eine zusam­ menhängende Betrachtung. Stattdessen werden in beiden Bereichen derzeit jeweils kaum noch überschaubare Einzeldiskurse337 geführt. Geht man von einem extensiven Maßstab der zulässigen Methodenwahl aus, folgt hieraus zwangsläufig eine weitläufigere Kompetenz des BVerfG. Besteht indes eine enge Methodenbindung, ist auch die Kompetenz entsprechend restriktiv zu handhaben. Dies bedeutet: Mit je mehr Kompetenzen man das BVerfG aus­ stattet, desto eher wird eine durch Interpretation bewirkte Erweiterung tat­ bestandlicher Gewährleistungsgehalte ermöglicht.338 2. Kompetenzielle „Grauzonen“ in der Verfassungspraxis Recht und Politik müssen der Sache nach getrennt bleiben. Während der Gesetzgeber eine Abwägung ohne nähere Begründung und allein kraft sei­ ner Legitimation treffen kann, obliegt dem BVerfG eine Bringschuld, das gefundene Interpretationsergebnis methodengerecht zu begründen. Die gele­ gentlich zu hörende Forderung nach gerichtlicher Zurückhaltung, nach ei­ nem sog. judicial self-restraint339, kann sich folglich alleine auf eine Enthal­ tung des BVerfG im politischen Diskurs beziehen.340 Der irreführende Be­ griff vom Grundsatz des judicial self-restraint bedeutet demnach keine Verkürzung seiner Kompetenz, sondern einzig den Verzicht „Politik zu treiben“, also den von der Verfassung geschaffenen Raum zur freien politi­ schen Gestaltung für den Gesetzgeber offenzuhalten.341 Dies darf indes von Gaier, vgl. Barley/Gaier/Rath/Robbers/Raab, S. 20, insb. S. 33. umfangreichen Schrifttum der Kompetenzfrage siehe die Nachweise bei Steiner, in: Karpen, S. 27 (28). 338  Schulze-Fielitz, in: Wahl, S. 219 (230 f.). 339  Vgl. bereits Schenke, NJW  1979, 1321 (1324 ff.). 340  Kritisch sind vor diesem Hintergrund auch sog. obiter dicta, bei denen das BVerfG in rechtlich unverbindlicher Weise und ohne hierzu im konkreten Fall auf­ gefordert zu sein, richtungsweisende Impulse und Handlungsaufträge für den Ge­ setzgeber vorgibt, wie ein etwaiger  –  zukünftig auftretender bzw. sich bereits jetzt abzeichnender  – Verfassungskonflikt voraussichtlich vermieden werden könne, vgl. Schenke, NJW  1979 1321 (1328 f.); Ru. Scholz, in: Karpen, S. 15 (24). 341  BVerfGE 35, 1 (14 f.); aufgrund der irreführenden Bezeichnung sollte auf den Begriff des judicial self-restraint grundsätzlich verzichtet werden, siehe die Äuße­ rung von Robbers, vgl. Barley/Gaier/Rath/Robbers/Raab, S. 27 f. 336  Äußerung 337  Zum

152

Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

nicht missverstanden werden mit einer Zurückhaltung des Gerichts hinsicht­ lich der Wahrnehmung seiner Kompetenzen. Eine solche wäre verfassungs­ widrig, sind die berufenen Organe doch zur Ausübung von Verfassungs wegen zugeteilter Kompetenzen verpflichtet.342 Zu konzedieren ist, dass die strikte Trennung von Recht und Politik in der Verfassungspraxis nur schwerlich einzuhalten ist, und die kompetenziel­ len Grenzen fließend bleiben343. Der Überschneidungsbereich folgt bereits aus der inneren Struktur des Grundgesetzes344, er ist in der Verfassung an­ gelegt, denn Verfassungsrecht ist seiner Natur nach politisches Recht.345 Der Grat zwischen Recht und Politik verrinnt an der Schnittstelle, an welcher das BVerfG angesiedelt ist.346 Es gibt keine andere Instanz, die in der Lage wäre, diesen Konflikt zu lösen. Das BVerfG muss von Verfassungs wegen politisch brisante Entscheidungen treffen, die zwar politische Folgen mit sich bringen, aber nicht aus politischen Motiven ergehen.347 Es gerät mit seinen Entscheidungen aus der Natur der Sache mitten hinein in die gesell­ schaftlichen Wertekonflikte.348 Die vornehmste Pflicht des BVerfG ist es, Macht zu kontrollieren und einen effektiven Grundrechtsschutz sicherzustellen. Für richterliche Enthalt­ samkeit ist in diesen normativ geprägten Bereichen, allem voran in der sensiblen Grundrechtsjudikatur, kein Raum, muss das BVerfG seine Kom­ petenz doch vollständig wahrnehmen. Es kann gar ein energisches Ein­ greifen gefordert sein, auch auf die Gefahr hin, gegen ein anderes Verfas­ sungsorgan anzuecken.349 Dies gilt ebenso für Fälle, in denen es der Ge­ setzgeber  –  wohl auch unter dem Einfluss machtvoller gesellschaftlicher Interessengruppen und aus wahltaktischen Erwägungen  – versäumt, längst überfällige Rechtsbereiche zu reformieren.350 Der politisch im Vorfeld kal­ kulierte Gang nach Karlsruhe – getreu dem Motto: „Wir machen das so und schauen mal, was Karlsruhe dazu sagt“  – gehört durchaus zum politischen 342  Robbers, in: Dolzer/Graßhof/Kahl/Waldhoff/Walter, BK-GG, Stand: Janu­ ar  2014, Art. 20 Abs. 2 Rn. 3198 f., 3233. 343  Schulze-Fielitz, in: Wahl, S. 219 (232); dazu auch Walter, AöR  125 (2000), S. 517 (542). Den Begriff der „Grauzone“ verwendet Gaier, vgl. Barley/Gaier/Rath/ Robbers/Raab, S. 19. 344  Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 1309. 345  Leibholz, JöR  6 (1957), S. 109 (111 f.); Ehmke, VVDStRL  20 (1963), S. 53 (65). 346  Vorländer, APuZ  2011, 15 (16 f.). 347  Herzog, ZG  1987, 290 (292). 348  Hufen, in: Schuppert/Bumke, S. 61 (69). 349  Limbach, in: Karpen, S. 11 (13). 350  Dass solche Situationen real sind, bestätigt Leutheusser-Schnarrenberger, in: Karpen, S. 39 (42).



D. Verfassungsrichterliche Kontrolle grundrechtlicher Dynamik 153

Alltag.351 Das hängt auch damit zusammen, dass politisches Geschehen aus den beschriebenen Interessen heraus nicht selten kurzfristig orientiert ist, das BVerfG dagegen die Langzeitperspektive der Verfassung im Blick be­ hält.352 Nicht zu vernachlässigen ist schließlich auch das fortwährend hohe Ver­ trauen, welches man in der Bevölkerung dem BVerfG  –  im Unterschied zu politischen Entscheidungsträgern353  – entgegenbringt.354 In Bemühungen um eine gerechte Entscheidungsfindung, der Verwirklichung von Zielen und Werten der Verfassung wird dem Verfassungsgericht regelmäßig ein entspre­ chender Sachverstand zugesprochen.355 Daraus lässt sich durchaus eine ge­ wisse Legitimität seines Handelns in den beschriebenen Grauzonen herlei­ ten. Weiterhin wird die Problematik kompetenzieller Überschneidungen durch die Rolle des Gerichts als „reagierendes“ Organ gemindert. Das BVerfG wird nur im Falle seiner Anrufung tätig356, seine Entscheidungsge­ genstände werden ihm erst zugetragen, sodass sich die Interpretation inso­ fern auf den punktuellen Beschwerdegegenstand in einer reaktiven Rolle beschränkt. Im Übrigen bleibt es dem verfassungsändernden Gesetzgeber nicht zuletzt vorbehalten, einem durch richterliche Interpretation herbeige­ führten Wandel mit einer formellen Textänderung entgegenzutreten.357

II. Verfassungsrichterlicher Kontrollumfang tatbestandlicher Dynamisierungsprozesse Ausgangspunkt eines jeden grundrechtlichen Dynamisierungsprozesses ist das Aufkommen gänzlich neuer oder die Überholung bereits bekannter Tatsachen aufgrund von Dynamisierungsprozessen in der Lebenswirklich­ keit. Diese üben einen Anpassungsdruck auf den bisherigen Schutzumfang eines grundrechtlichen Typus aus und können bei Zugrundelegegung eines 351  Schenke, NJW  1979, 1321 (1324). Eine solche Praxis gesteht auch die SPDAbgeordnete Barley ein, vgl. Barley/Gaier/Rath/Robbers/Raab, S. 23. 352  Brohm, NJW  2001, 1 (2). 353  So wird die Arbeit des Bundestages zum Teil  als Ort charakterisiert, an dem vermehrt Parteiinteressen durchgesetzt als dem Gemeinwohl gedient werde, vgl. Vorländer/Brodocz, in: ders., Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 259 (267). 354  Dazu Vorländer/Brodocz, in: ders., Die Deutungsmacht der Verfassungsge­ richtsbarkeit, S. 259 (259 ff.); Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S. 144 f.; Kielmansegg, S. 32; Vorländer, APuZ  2011, 15 (21). 355  Näher Vorländer/Brodocz, in: ders., Die Deutungsmacht der Verfassungsge­ richtsbarkeit, S. 259 (265 f.). 356  Steiner, in: Karpen, S. 27 (27). 357  Würtenberger, in: Wahl, S. 49 (56).

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

dynamisch-integrativen Verfassungsverständnisses zur tatbestandlichen Sinnerweiterung eines Grundrechtstatbestands führen, soweit die tatbestand­ lichen Anforderungen an die Verarbeitung von Dynamik erfüllt sind. Wird das BVerfG als Kontrollorgan angerufen, hat es sich mit der Möglichkeit eines grundrechtlichen Dynamisierungsprozesses zu befassen. Eine mögli­ cherweise stattgefundene tatbestandliche Sinnerweiterung außerhalb des in Art. 79 Abs. 1  GG vorgesehenen formellen Verfassungstextänderungsver­ fahrens betrifft unmittelbar einen Vorgang der Verfassungsinterpretation, zu dessen Kontrolle das BVerfG nicht nur wahrnehmungsberechtigt, sondern aus kompetenziellen Gründen wahrnehmungsverpflichtet ist. Die Verpflich­ tung zur Verfassungsinterpretation entspricht doch gerade dem originären Kompetenzbereich des BVerfG im Zusammenspiel mit anderen staatlichen Organen. 1. Ausgangsprämissen und judizielle Praxis Dem Zusammenspiel von Verfassungsrecht und Lebenswirklichkeit, von Verfassungsnorm auf der einen und der auf sie einwirkenden gesellschaftli­ chen Realität auf der anderen Seite muss sich das BVerfG demzufolge in jeder Entscheidung auf ein Neues stellen. Das Verfassungsgericht hat damit die Dynamisierungsprozesse der Lebenswirklichkeit nicht bloß zur Kenntnis zu nehmen, sondern ist im Gegenteil von Verfassungs wegen zur Kontrolle grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse verpflichtet. Hierzu gehört zu­ nächst einmal die generelle Offenlegung einer im zeitlichen Verlauf aufge­ tretenen Divergenz hinsichtlich der Beurteilung der Reichweite eines Grundrechtstatbestands. Ferner hat eine Begründung der tatbestandlichen Sinnerweiterung, speziell unter Anwendung von Dynamisierungsfaktoren, zu erfolgen. Die herausgestellten Grundannahmen der Lehre „grundrechtli­ cher Dynamisierungsprozesse“ bestimmen ihrerseits einen Interpretations­ vorgang durch das BVerfG. Tatbestandliche Sinnerweiterungen ohne formel­ les Verfassungstextänderungsverfahren bauen auf einem entzeiteten verfas­ sungstheoretischen Grundverständnis auf und finden unter Anwendung der für die Verfassungsinterpretation angemessenen Methode normativ gebunde­ ner Topik statt. Tatsächlich fußt auch die judizielle Praxis auf diesen Ausgangsprämissen. Schon in der Anfangszeit der Verfassungsrechtsprechung hat das BVerfG die Vitalität der Verfassung mit der berühmt gewordenen Formel vom „Bedeutungswandel“358 geprägt. Danach forderten zwei Szenarien eine dy­ namische Anpassung einer Verfassungsbestimmung heraus: Erstens das Auftauchen neuer, bisher unbekannter Tatbestände, sowie zweitens die Neu­ 358  BVerfGE  2,

380 (401); 3, 407 (422); 7, 342 (351).



D. Verfassungsrichterliche Kontrolle grundrechtlicher Dynamik 155

bewertung bzw. Verschiebung bekannter Tatbestände durch neue Entwick­ lungen.359 Die vom BVerfG genannten Erscheinungsformen eines Bedeu­ tungswandels stimmen auch mit den hier angestellten Überlegungen zu den grundrechtlichen Dynamisierungsprozessen überein.360 Entscheidender Aus­ löser für einen Bedeutungswandel ist zunächst einmal eine neue Entwick­ lung in der Lebenswirklichkeit, sei es infolge eines technischen Fortschritts oder als Resultat gesellschaftlicher Wertewandlungen, aus denen ein Anpas­ sungsdruck auf das geltende Verfassungsrecht hervorgeht. Während die vom BVerfG angeführte Alternative eines Hervorbringens gänzlich neuer Tatbe­ stände vornehmlich im technologischen Bereich anzusiedeln ist, bezieht sich die zweite Alternative der Einordnung neuer Tatbestände in den Gesamtab­ lauf ihrer Entwicklung wohl insbesondere auf normative Veränderungen. Die Grundannahmen des hier vorgelegten Konzeptes einer „Lehre grund­ rechtlicher Dynamisierungsprozesse“ entsprechen dem praktizierten metho­ dischen Selbstverständnis des BVerfG. Zwar wird teils behauptet, eine konsequente Anwendung einer bevorzugten Interpretationsmethodik, ein bestimmtes methodisches Selbstverständnis, ließe sich beim BVerfG nur schwer erkennen.361 Gleichwohl aber liegt ein offenkundiges Bekenntnis des Verfassungsgerichts zur objektiven Theorie vor362  –  verbunden mit einer klaren Absage an die subjektiven Theorie, wenn das Gericht ausführt, die subjektive Methode widerspräche den vom BVerfG anerkannten Grundsät­ zen über Ziel und Methode der Gesetzesauslegung.363 So hat sich das Ver­ fassungsgericht bereits zu einem frühen Zeitpunkt für eine hermeneutische Sichtweise der Verfassungsinterpretation ausgesprochen, gleichzeitig aber schon betont, dass es seinem methodischen Selbstverständnis nach vor al­ lem auf die Feststellung des objektiven Gesetzesinhalts ankomme364, wie er sich aus dem Wortlaut und dem Sinnzusammenhang, in welchen die Norm hineingestellt worden sei, ergebe365. Der subjektiven Vorstellung der am Entstehungsprozess einer Norm Beteiligten  –  der historischen Auslegungs­ methode – misst das BVerfG dagegen nur eine die Richtigkeit der gefunde­ nen Auslegung bestätigende oder Zweifel behebende Bedeutung bei.366 359  BVerfGE  2,

380 (401). wohl Zippelius, DÖV  1986, 805 (807). 361  Ehmke, VVDStRL  20 (1963), S. 53 (59) spricht gar von „Methoden-Chaos“. 362  BVerfGE  1, 299 (312); 7, 198 (205); 11, 126 (129 f.); 34, 269 (280 ff.). 363  Gaier, in: Lobinger/Pieckenbrock/Stoffels, S. 85 (87); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 54; Volkmann, VVDStRL  67 (2008), S. 57 (67); Müller/ Christensen, Rn. 25. 364  St. Rspr. BVerfGE  11, 126 (130); 35, 263 (278 f.). 365  BVerfGE  1, 299 (312). 366  St. Rspr. BVerfGE 1, 299 (312); 62, 1 (45); dazu auch: Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 54. 360  Dahingehend

156

Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

Dieses methodische Selbstverständnis des Verfassungsgerichts entspringt seiner verfassungstheoretischen Vorstellung vom integrativen Charakter des Grundgesetzes, die ihren Ausgangspunkt in der Smend’schen Integrations­ lehre hat.367 Eine ausdrückliche Bezugnahme auf diese Lehre sucht man in der Rechtsprechung zwar vergeblich, dennoch finden sich stellenweise Be­ kenntnisse zu einem dynamisch-integrativen Verfassungsverständnis. In be­ sonderer Deutlichkeit kamen diese in der Lüth-Entscheidung zum Ausdruck, präsentiert sich die dort skizzierte Werttheorie des Grundgesetzes als Leit­ gedanke einer gesellschaftlichen Werteverwirklichung.368 Im Laufe der Jahre369 hat das BVerfG seine Entscheidungen zunehmend unter Rekurs auf objektiv-rechtliche Prinzipien gestützt.370 Es hat von Beginn an keinen Zweifel daran gelassen, dass die Fortentwicklung des Verfassungsrechts zu seinen Aufgaben und Befugnissen gehöre.371 Hier ist dann die Rede von „fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft“372, „fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit“373, „sozialer Gerechtigkeit“374 oder es wird anhand einer „Gesamtschau des verfassungsrechtlichen Normbestandes“375 bzw. aus „Bildern“376 mittels Abwägung377 judiziert. Ebenso wird in zahlreichen Entscheidungen auf die verfassungsrechtlichen Grundwerte von Freiheit und Menschenwürde sowie das Menschenbild des Grundgesetzes rekurriert.378 Zunehmend wurde dabei eine am konkreten Problem orientierte Abwä­ gung und Wertargumentation im Einzelfall getroffen. Das Grundgesetz wird vom Verfassungsgericht als ein lückenloses, normatives System verstanden, unter das sich jeder Sachverhalt durch Einzelfallwertung subsumieren las­ 367  Eingehend Rennert, Der  Staat  53 (2014), S. 31 (31 ff.); wie hier Schenke, NJW  1979, 1321 (1322); Volkmann, Der  Staat  54 (2015), S. 35 (50 f.). 368  Rennert, Der  Staat  53 (2014), S. 31 (38). 369  Genau genommen beginnt eine schemenhafte Werterechtsprechung bereits mit dem Süd-West-Staat-Urteil in BVerfGE  1, 14 ff; vgl. Bryde, Verfassungsentwick­ lung, S. 175; Roellecke, in: Starck, Bd. II, S. 22 (32). 370  Badura, in: Starck, Bd. II, S. 1 (7 f.). 371  BVerfGE  1, 351 (359); Gaier, in: Lobinger/Pieckenbrock/Stoffels, S. 85 (95). 372  BVerfGE  9, 339 (349). 373  BVerfGE  23, 98 (106 f.). 374  BVerfGE  39, 316 (327). 375  BVerfGE  39, 1 (45). 376  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 175 mit Verweis auf das Beispiel des „Ab­ geordnetenbilds“ im Diätenurteil, BVerfGE  40, 296 (301 ff.). Auch „Bilder“ sind wandelbar, vgl. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, S. 26 f. 377  Dazu Roellecke, in: Starck, Bd. II, S. 22 (27 ff.). 378  Vgl. nur BVerfGE  6, 32 (36, 40 f.); 30, 1 (39); 45, 187 (227); 50, 166 (175); 61, 126 (137).



D. Verfassungsrichterliche Kontrolle grundrechtlicher Dynamik 157

se.379 Dies ist nicht misszuverstehen mit einem Selbstverständnis, nach dem in der Verfassung bereits jede Problemlage von vornherein „drin steht“. Vielmehr liegt die entscheidende Aufgabe des Gerichts darin, unter Anwen­ dung seiner spezifischen Interpretationsmethodik aus dem bestehenden System normative Wertungen für neue Problemlagen zu treffen. Dies ist kennzeichnend für eine problemorientiert-topische Herangehensweise. So führt das BVerfG aus: „Vornehmstes Interpretationsprinzip ist die Einheit der Verfassung als eines logisch-teleologischen Sinngebildes, weil das We­ sen der Verfassung darin besteht, eine einheitliche Ordnung des politischen und gesellschaftlichen Lebens der staatlichen Gemeinschaft zu sein.“380. Das BVerfG kombiniert hierfür die klassischen Auslegungscanones mit ei­ ner wertenden Topik381 und folgt damit im Ergebnis auch der hier für vor­ zugswürdig befundenen Methode einer Verfassungsinterpretation durch normativ gebundenes topisches Vorgehen.382 Auffallend ist, dass das BVerfG nicht selten konkrete, präzise Festlegun­ gen vermeidet und stattdessen bei der Verfassungsinterpretation vage For­ meln verwendet. Diesem Vorgehen liegt das berechtigte Interesse zugrunde, den interpretatorischen Spielraum nicht durch Präjudizen zu schließen, sondern vielmehr für zukünftige Abwägungsfragen im jeweiligen Einzelfall offen zu halten.383 Überhaupt trifft das BVerfG keine grundsätzliche Bin­ dungswirkung an seine Entscheidungen. Präjudizen haben allenfalls eine Verzögerungswirkung in sachlicher und zeitlicher Hinsicht, können aber nicht verhindern, dass das BVerfG über eine Streitfrage nach einiger Zeit nochmals entscheidet und aufgrund eines festgestellten grundlegenden Wan­ dels384, also aufgrund eines grundrechtlichen Dynamisierungsprozesses, zu einer Neubewertung kommt.385 Dies trägt gerade dem dynamischen Charak­ ter grundrechtlicher Tatbestände Rechnung. Eine Bindung an Präjudizen386 muss aber im Falle grundlegender Wandlungen seit Ergehen des ursprüng­ lichen Judikats nicht aufrechterhalten werden387, sofern ein vermeintlich ausgemachter Wandel auch tatsächlich validiert und vom Gericht nachvoll­ 379  Roellecke,

in: Starck, Bd. II, S. 22 (33). 206, 220. 381  Siehe auch Roellecke, in: Starck, Bd. II, S. 22 (24). 382  Dazu Teil  2  C.  III.  3. 383  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 174 f. 384  Lange, JuS  1978, 1 (3); Vogel, in: Starck, Bd. I, S. 568 (595 f.). Veränderte Rechtsauffassungen lassen sich als „neue Tatsache“ i. S. d. § 41  BVerfGG begreifen, vgl. Brox, in: Festschrift für W.  Geiger, S. 809 (822 f.). 385  Ausführlich Seyfarth, S. 183 ff., zusammenfassend S. 217 f. 386  Eingehend Sachs, Die Bindung des Bundesverfassungsgerichts an seine Ent­ scheidungen. 387  Schenke, AöR  103 (1978), S. 566 (585). 380  BVerfGE  19,

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

ziehbar begründet worden ist.388 Insofern verschließen Präjudizen nicht die Abkehr von früheren Rechtsansichten. 2. Abgestuftes Konzept verfassungsrichterlicher Kontrollmaßstäbe Der kompetenzielle Rahmen des Verfassungsgerichts folgt also zugleich der für die Verfassungsinterpretation anzuwendenden Methode, die den Prüfungsmaßstab für einen grundrechtlichen Dynamisierungsprozess fest­ legt. Die methodischen Anforderungen an eine tatbestandliche Sinnerweite­ rung bemessen sich wiederum nach dem einschlägigen grundrechtlichen Typus. Die im Grundgesetz angelegte Typologie grundrechtlicher Dynami­ sierungsprozesse enthält seinerseits unterschiedliche Grade an verfassungs­ richterlicher Kontrolldichte, die sich als abgestuftes Konzept erweisen. Der verfassungsrichterliche Kontrollumfang kann von einer vollumfänglichen Kontrolle einer tatbestandlichen Erweiterung, über eine deutlich abge­ schwächte Willkürkontrolle bis hin zu einer gänzlich fehlenden Kontroll­ möglichkeit reichen. Angesichts der Übereinstimmung der in dieser Arbeit erarbeiteten Grundanforderungen an die tatbestandliche Reflexion von Dy­ namisierungsprozessen der Lebenswirklichkeit mit dem methodischen Selbstverständnis des BVerfG beansprucht das im Folgenden vorgestellte Konzept der abgestuften verfassungsrichterlichen Kontrollmaßstäbe auch für die Entscheidungspraxis des BVerfG Geltung. a) Verfassungsrichterliche Kontrolle im Bereich dynamischer Verweisungsnormen aa) Keine Kontrollmöglichkeit bei tatbestandlichen Erweiterungen des Art. 2 Abs. 1  GG Bei der verfassungsrichterlichen Kontrolle im Typus der dynamischen Verweisungsnormen gilt ein unterschiedlicher Kontrollmaßstab für Art. 2 Abs. 1  GG auf der einen und Art. 3 Abs. 1  GG auf der anderen Seite. Die allgemeine Handlungsfreiheit unterstellt sämtliche zukünftig auftretende und bislang gänzlich unbekannte Dynamisierungsprozesse der Lebenswirklich­ keit prima facie unter (subsidiären) verfassungsrechtlichen Schutz.389 Die tatbestandliche Dynamik kommt ohne normative Bezugnahmen auf Dyna­ 388  Die hohen Begründungsanforderungen betonen Kriele, Die nicht-therapeuti­ sche Abtreibung vor dem Grundgesetz, S. 1 ff.; Sachs, Die Bindung des Bundesver­ fassungsgerichts an seine Entscheidungen, S. 129; Frowein, DÖV  1971, 793 (794). 389  Dazu oben Teil  3  B.  I.  1.  a).



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misierungsfaktoren aus. Der unmittelbare Einbezug bislang unbekannter Dynamisierungsprozesse der Lebenswirklichkeit entspricht der verfassungs­ politischen Intention der Vorschrift. Vor diesem Hintergrund ist eine Kont­ rolle tatbestandlicher Sinnerweiterungen des Art. 2 Abs. 1  GG durch das BVerfG faktisch ausgeschlossen. Diesen Maßstab hat sich das BVerfG auch in der judiziellen Praxis bereits früh auferlegt. Im Reiten-im-Walde-Beschluss stellt es heraus, dass der um­ fassende Schutz menschlicher Handlungsfreiheit durch Art. 2 Abs. 1  GG trotz der Gefahr einer möglichen Banalisierung des Grundrechtsschutzes eine wertvolle Funktion der Freiheitssicherung von substanziellem Gewicht erfülle. Jeder Versuch einer wertenden Einschränkung des Schutzbereichs  – gemeint ist eine tatbestandliche Schutzbereichsverkürzung  – würde nämlich ansonsten zu einem Verlust des Freiheitsraums für den Bürger führen.390 bb) Strenger Kontrollmaßstab bei tatbestandlichen Erweiterungen des Art. 3 Abs. 1  GG Anderes gilt für die verfassungsrichterliche Kontrolle grundrechtlicher Dynamik beim allgemeinen Gleichheitssatz, in deren Rahmen das BVerfG an einen strengen Kontrollmaßstab gebunden ist. In seiner Eigenschaft als dynamische Verweisungsnorm ergänzt Art. 3 Abs. 1  GG zwar zunächst die allgemeine Handlungsfreiheit, indem Dynamisierungsprozesse der Lebens­ wirklichkeit unter Umständen neue gleichheitsrelevante Situationen hervor­ bringen können. Der normative Gehalt des allgemeinen Gleichheitssatzes bestimmt sich stets nach der Eigenart des zu regelnden Sachbereichs, inso­ weit ist der Tatbestand von Art. 3 Abs. 1 GG grundsätzlich wertungsoffen.391 Mit Blick auf die Maßstabsbildung der Vergleichsgruppen ist stets eine normative Entscheidung auf Tatbestandsebene zu treffen, die maßgeblich auf der Anwendung von Dynamisierungsfaktoren beruht.392 Das Gerechtig­ keitsprinzip wird hier zum Gleichheitsprimat.393 Gleichheit dient demnach der Realisierung gesellschaftlicher Gerechtigkeitsvorstellungen. Die erforderliche Auseinandersetzung mit den Dynamisierungsfaktoren in der normativen Vergleichsgruppenbildung bedingt in der Konsequenz wie­ derum eine intensive verfassungsrichterliche Kontrolldichte. Zwar ließe sich behaupten, dass gerade in solchen Konstellationen, wo der Gesetzgeber normative Abwägungen vornimmt, grundsätzlich eine zurückhaltende Evi­ 390  BVerfGE  80,

391  Ausdrücklich

137 (154). Kokott, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht,

S. 127 (129). 392  Näher oben Teil  3  B.  I.  2.  c). 393  Dazu oben Teil  3  B.  I.  2.  a).

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

denzkontrolle des Verfassungsgerichts angezeigt ist, darf dieses doch seine Gerechtigkeitsvorstellungen nicht per se an die Stelle der gesetzgeberischen Überzeugung setzen.394 Wohl aber ist das BVerfG kompetenziell dazu ver­ pflichtet, tatbestandliche Dynamisierungsprozesse immer dann einer stren­ geren Kontrolle zu unterwerfen, wenn in einen Interpretationsvorgang – wie es im Falle der Herstellung von Gleichheit in der Zeit für die aktualisierte Berücksichtigung ursprünglich noch unbekannter Wertungsaspekte regelmä­ ßig erforderlich ist  – Dynamisierungsfaktoren zur Überwindung der histori­ schen Ausgangssituation einzustellen sind. Nichts anderes versucht im Prinzip  –  allerdings auf Ebene der Rechtfertigung einer Ungleichbehand­ lung  – auch die überwiegend zu Art. 3 Abs. 1  GG vertretene zweistufige Dogmatik mithilfe der Anwendung der „neuen Formel“ bzw. neuerdings durch Integration einer stufenlosen Abwägung.395 Eine generalisierende Lösung gibt es nicht396, hat doch eine Unterscheidung nach nach Rege­ lungsbereich und -gegenstand stattzufinden. Auch hier gilt dann aber: Die Anforderungen der verfassungsrichterlichen Kontrolle sind umso strenger, je weniger der Einzelne sie beeinflussen kann und je mehr sich eine Vergleich­ barkeit der Persönlichkeitsmerkmale mit denen des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG aufdrängt. Aus diesem Grund wird man für die überwiegende Anzahl nor­ mativer Maßstabsbildungen einen strengen Kontrollmaßstab des BVerfG postulieren müssen. Dem Verfassungsgericht obliegt jedenfalls in Fällen der Anwendung von Dynamisierungsfaktoren, die Art. 1 Abs. 1 GG entspringen, regelmäßig eine vollumfängliche Überprüfung des grundrechtlichen Dyna­ misierungsprozesses. Es legt den Schutzumfang eines grundrechtlichen Tatbestands unter Ermittlung der für eine Sinnerweiterung sprechenden Topoi selber aus und überprüft diesen Maßstab auf seine Konformität mit der gesetzgeberischen Wertentscheidung. In der judziellen Praxis bestehen insoweit jedoch Defizite. Die schwer­ punktmäßige Auseinandersetzung bundesverfassungsrichterlicher Maßstabs­ bildung der Vergleichsgruppen findet regelmäßig auf der Rechtfertigungs­ ebene von Art. 3 Abs. 1 GG, das heißt im Zusammenhang der Rechtfertigung einer zuvor identifizierten Ungleichbehandlung, statt.397 Damit wendet das BVerfG gerade nicht den dreistufigen Aufbau der klassischen Grundrechts­ prüfung (Schutzbereich  – Eingriff  – Rechtfertigung) auf die Dogmatik des Gleichheitssatzes an, sondern hält an dem kritikwürdigen zweistufigen Auf­ bau fest398, bei dem eine normative Abwägungsentscheidung nicht im Tat­ 394  Huster,

in: Friauf/Höfling, GG, Stand  2002, Art. 3 Rn. 90. oben Teil  3  B.  I.  2.  b).  aa). 396  So wiederum auch Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Stand  2002, Art. 3 Rn. 90. 397  Vgl. bspw. BVerfGE  1, 14 (52); 4, 144 (155); 55, 72 (88). 398  Boysen, in: v.  Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 53. 395  Dazu



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bestand des allgemeinen Gleichheitssatzes, sondern erst auf Ebene der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung erfolgt.399 Die in der Verfassungs­ rechtsprechung praktizierte zweistufige Dogmatik des allgemeinen Gleich­ heitssatzes trennt allerdings nicht hinreichend zwischen „internen“, den Gerechtigkeitsmaßstab der Vergleichsgruppenbildung betreffenden Zwecken und „externen“ Zwecken, die sich an Nützlichkeitsorientierungen zugunsten des Gemeinwohls orientieren. Diese Schwäche geht zu Lasten der kompe­ tenziellen Verpflichtung des Verfassungsgerichts zur Offenlegung und Be­ gründung grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse und sollte daher durch die Anwendung einer dreistufigen Gleichheitsdogmatik vermieden werden. b) Verfassungsrichterliche Kontrolle im Bereich normgeprägter Grundrechte Im Bereich der normgeprägten Grundrechte gelten hingegen innerhalb eines Tatbestands verschiedene Maßstäbe für die verfassungsrichterliche Kontrolle. Dies bedingt die strikte Unterscheidung zwischen dem Rand- und Kernbereich der Einrichtungsgarantien. Aufgrund der tatbestandlichen ­Abhängigkeit von einer einfach-rechtlichen Ausgestaltungslage wird der Gesetzgeber zunächst einmal befähigt, die inhaltliche Ausrichtung des normgeprägten Grundrechtstatbestands bis zur Grenze der absoluten Struk­ turmerkmale je nach politischen Mehrheiten und ihren Grundausrichtungen auszufüllen. Daraus folgt: Hat der ausgestaltende Gesetzgeber bestimmte Entwicklungen und Verhaltensweisen der Lebenswirklichkeit in den Schutz­ bereich des normgeprägten Grundrechtstatbestands einbezogen, nehmen sie von nun an am verfassungsrechtlichen Schutz des speziellen Grundrechtstat­ bestands teil. Hat er dagegen auf eine Unterschutzstellung verzichtet oder diese bisher unterlassen, bleibt den neuen Entwicklungen – solange sie nicht zu einem späteren Zeitpunkt einfach-rechtlich einbezogen werden  – der Schutz vorenthalten. Folglich definieren die rechtspolitischen Vorstellungen des Ausgestal­ tungsgesetzgebers im Falle der normgeprägten Grundrechte die Reichweite und den Umfang des sachlichen Schutzbereichs. Die Ausgestaltung konsti­ tuiert diesen überhaupt erst. Der einfache Gesetzgeber ist zur Grundrechts­ ausgestaltung, zum Erlass konstituierender einfach-rechtlicher Regelungen im Bereich normgeprägter Grundrechte ausdrücklich von Verfassung wegen ermächtigt und auch verpflichtet.400 Er wird auf diese Weise zum wesentli­ chen Interpreten normgeprägter Verfassungsnormen. Dieser Gestaltungs­ 399  Dazu 400  Dazu

ausführlich oben Teil  3  B.  I.  2.  c). oben Teil  3  B.  II.

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

spielraum wirkt auf die Kontrollmöglichkeiten des BVerfG im Bereich normgeprägter Grundrechtstatbestände ein.401 aa) Willkürkontrolle im Randbereich Korrespondierend zur primären Interpretationsbefugnis des Ausgestal­ tungsgesetzgebers reduziert sich der Kontrollumfang des BVerfG jenseits der durch die im Kernbereich der Einrichtungsgarantie absolut geschützten Strukturmerkmale auf eine bloße Evidenz- bzw. Willkürkontrolle. Das Verfas­ sungsgericht darf entsprechend der kompetenziellen Verhältnisse die politi­ schen Ausgestaltungsentscheidungen grundsätzlich nicht mehr auf ihre Ange­ messenheit überprüfen, sondern eine Kontrolle kann im Randbereich nur da­ hingehend erfolgen, die Einhaltung der funktionssichernden absoluten Struk­ turmerkmale der Einrichtungsgarantien festzustellen.402 Eine Intervention durch das BVerfG erfolgt dann einzig im Falle der Verletzung einer Einrich­ tungsgarantie.403 Im Rahmen der Ausgestaltungsgesetzgebung vorgenomme­ ne Änderungen im Randbereich der Einrichtungsgarantie werden dagegen, entsprechend der reduzierten Kontrollmöglichkeit, in der Rechtsprechung des BVerfG nachgezeichnet, sodass es naturgemäß im Bereich normgeprägter Grundrechte vermehrt zu Rechtsprechungsänderungen kommt, die sich an der vom einfachen Gesetzgeber vorgenommenen Ausgestaltung orientie­ ren.404 Aufgrund der Ausgestaltungsbefugnis des einfachen Gesetzgebers können die Voraussetzungen, die für die Gewährleistung der verfassungs­ rechtlichen Funktionen des Grundrechtstatbestands erforderlich sind, je nach 401  BVerfGE  21,

1 (6); 48, 346 (366); 62, 323 (333). Rn. 34; Wahl, in: Festschrift für R. Frank, S. 31 (36 ff., 48 f.); dahingehend auch Seiler, Grundzüge eines öffentlichen Familienrechts, S. 66; G. Kirchhof, AöR  129 (2004), S. 542 (562). Dagegen noch ungenau BVerfGE  76, 1 (51), wonach eine Überprüfung über eine Evidenzkontrolle hinaus auch im Bereich normgeprägter Grundrechte möglich sei: „Die Dichte der verfassungsgerichtlichen Kontrolle entspricht vielmehr dem Rang und der Bedeutung des auf dem Spiele stehenden Grundrechtsgutes und der Eigenart des betroffenen Sachbereiches.“ Kon­ sequenz dieser Aussage wäre, dass jedes Grundrecht aufgrund seines bedeutsamen personalen Bezugs und seiner herausgehobenen Stellung im Grundgesetz einer voll­ umfänglichen Kontrolle zuzuführen wäre. Bei den normgeprägten Grundrechten kann eine derart weitreichende Kontrolle indes nur im Kernbereich, nicht dagegen im Randbereich erfolgen, dürfen die Kompetenzen doch nicht überschritten werden. 403  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 305. 404  Siehe die Beispiele im Bereich des normgeprägten Grundrechtstatbestands des Art. 6 Abs. 1  GG bei Seyfarth: zur Witwerrente, S. 107 ff., zum Familienexistenzmi­ nimum, S. 139 ff. Eine Rechtsprechungsänderung ist überdies in allen drei Typen grundrechtlicher Dynamik vorstellbar. Kennzeichnend für sie sind erstens die end­ gültige Aufgabe der alten Rechtsansicht sowie zweitens die Falsifizierung jener alten Rechtsprechung, vgl. Seyfarth, S. 102 f. 402  Michael/Morlok,



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politischer Mehrheitskonstellation unterschiedlich ausfallen, beispielsweise indem sie tendenziell konservativ, liberal oder verstärkt sozial ausgestaltet sind, ohne dass damit eine Sinnänderung, also eine Abkehr von dem Rege­ lungswillen des historischen Verfassungsgebers, verbunden sein muss. Das Zusammenspiel politischer Ausgestaltung und ihrem Niederschlag in der Verfassungsrechtsprechung entspricht der judiziellen Praxis des BVerfG und lässt sich insbesondere anhand Entscheidungen zu Art. 14  GG verdeut­ lichen. Beispielsweise entschied das BVerfG im Jahr 1980, rentenversiche­ rungsrechtliche Positionen dem Schutzumfang der Eigentumsgarantie zu unterstellen.405 Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es das Gericht dahingestellt, ob und in welchem Umfang sozialversicherungsrechtliche Positionen in den Genuss des Eigentumsschutzes kommen würden.406 Vielmehr ging es zu­ nächst davon aus, dass Art. 14  GG keine öffentlich-rechtlich begründeten Vermögenswerte umfasse.407 Später rückte es von einem kategorischen Ausschluss sozialversicherungsrechtlicher Positionen sukzessive ab, indem es zwar zunächst offen ließ408, ob solche tatbestandlich vom Eigentums­ grundrecht erfasst werden, schließlich bejahte es indessen einen Einbezug sozialversicherungsrechtlicher Positionen durch Art. 14  GG. In den Fällen, wo ein subjektiv-öffentliches Recht dem Einzelnen eine solche Position verschaffe, die mit derjenigen eines Eigentümers vergleichbar und so schüt­ zenswert sei, dass ihre ersatzlose Entziehung dem rechtsstaatlichen Gehalt des Grundgesetzes widerspräche, müsse die Möglichkeit eines Einbezugs in den Schutzbereich des Art. 14  GG statthaft sein.409 Gerade bei der Sozialversicherung handelt es sich von vornherein um eine auf Änderungen angelegte Institution, die fortlaufend auf gesellschaft­ liche Änderungen reagiert.410 Konsequenterweise unterfallen daher auch solche vermögenswerten subjektiv-öffentlichen Rechtspositionen dem ver­ fassungsrechtlichen Eigentumsschutz, wenn sie nach Art eines Ausschließ­ lichkeitsrechts dem Rechtsträger als privatnützig zugeordnet sind, auf nicht unerheblichen Eigenleistungen beruhen und seiner Existenzsicherung die­ nen.411 Den Maßstab für die tatsächliche Existenz solcher Rechtspositionen bildet jeweils die gegenwärtige Ausgestaltung der einfachen Rechtsordnung entsprechend den rechtspolitischen Vorstellungen des Gesetzgebers, dem es 405  BVerfGE  53,

257 (289 f.). 185 (189 ff.); 36, 73 (85). 407  BVerfGE  1, 264 (277 f.); 2, 380 (399 ff.). 408  BVerfGE  40, 65 (82 f.). 409  BVerfGE  53, 257 (289 f.). 410  BVerfGE  51, 356 (363); näher Hebeler, Generationengerechtigkeit als verfas­ sungsrechtliches Gebot, S. 104 ff. 411  BVerfGE  97, 271 (284). 406  BVerfGE  31,

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

freisteht, bestimmte subjektive vermögenswerte Rechtspositionen zu schaf­ fen und konstituierend in den normgeprägten Tatbestand von Art. 14  GG einzubeziehen. Das BVerfG empfängt diese Impulse im Bereich normge­ prägter Grundrechte und setzt sie in seinen Entscheidungen um. Überhaupt wird bei Art. 14 GG die Bezugnahme auf die Wandelbarkeit des Eigentums­ begriffs deutlich, indem das BVerfG sämtliche Rechtspositionen dem Schutzbereich unterordnet, die zu einem bestimmten Zeitpunkt im einfachen Recht als Eigentum definiert werden.412 Ein permanenter Einbezug zukünf­ tiger vermögenswerter Positionen in die verfassungsrechtliche Reflexion ist auf diese Weise sichergestellt. Eine andere, mit Blick auf Art. 14 Abs. 1 GG relevante Entscheidung jün­ gerer Zeit zeigt sich im Urteil des BVerfG zum Braunkohlentagebau Garz­ weiler.413 Hierbei befasste sich das Gericht mit den Voraussetzungen einer Enteignung zum Wohle der Allgemeinheit. Es betonte, dass auch die eine Enteignung leitenden Gemeinwohlziele dem Wandel der Zeit unterliegen: „Vor allem mit Rücksicht darauf, dass die Einschätzung, welche Ziele für die Gesellschaft besonders wichtig sind, im Laufe der Zeit Veränderungen unter­ liegen kann, ist die Aufgabe, die eine Enteignung tragenden Gemeinwohlzie­ le auszuwählen, allein dem Gesetzgeber überantwortet. Bei der Auswahl der Gemeinwohlziele steht dem Gesetzgeber ein weiter Spielraum zu.“414 Erneut zeigt sich das Zusammenspiel zwischen dem ausgestaltenden Gesetzgeber als Interpreten einerseits und dem BVerfG als zur Willkürkontrolle berufenes Or­ gan auf der anderen Seite. Das Verfassungsgericht empfängt im Falle einer gewandelten Ausgestaltungslage die vom Gesetzgeber im einfachen Recht zum Ausdruck gebrachten Wertungen, unterwirft sie mit Blick auf die unan­ tastbaren Garantiekerne einer Evidenzkontrolle und spiegelt sie bei einer aus­ bleibenden Verletzung der absoluten Strukturmerkmale in der eigenen Ent­ scheidungspraxis wider. So wird in der Entscheidung zum Braunkohlentage­ bau deutlich die Möglichkeit einer im Zeitverlauf flexiblen Ausgestaltung des nationalen Energiemixes hervorgehoben. Eine neue, vom Gesetzgeber ver­ folgte Zielsetzung bietet durchaus Anlass, anstelle des bisherigen Braunkoh­ lentagebaus einen neuen Energiemix unter Aspekten des Klimaschutzes in den Vordergrund zu rücken. Die damit einhergehende, vom Gesetzgeber ge­ troffene Wertentscheidung einer erklärten Beendigung der Braunkohlever­ stromung, deren Abbau nicht mehr im Interesse des Gemeinwohls liegt und somit nicht länger ein zur Enteignung taugliches Ziel darstellt415, beinhaltet 412  Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Rn. 977; Hesse, Grundzüge des Verfas­ sungsrechts, Rn. 442 f. 413  BVerfG, NVwZ  2014, 211 ff. 414  BVerfG, NVwZ  2014, 211 (214, Rn. 172). 415  Siehe auch Frenz, NVwZ  2014, 194 (196).



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mit dem Ziel des Klimaschutzes einen sachlichen Grund. Eine solche rechts­ politische Neuausrichtung ist jedenfalls nicht willkürlich. Da die vom Gesetz­ geber getroffene Wertentscheidung im Randbereich der Eigentumsgarantie erfolgte, reduziert sich der Maßstab verfassungsrichterlicher Kontrolldichte entsprechend auf eine Willkürkontrolle. Mit der vom BVerfG vorgenomme­ nen Herausarbeitung des Klimaschutzes als sachlich vernünftigem Grund der neuen Ausgestaltungslage hat das Gericht seinerseits den ihm obliegenden Kontrollmaßstab einer Evidenzkontrolle eingehalten. Die gesetzgeberische Maßnahme wird folgerichtig in der Urteilsbegründung hinreichend gewürdigt. bb) Interventionsrecht im Falle längerer gesetzgeberischer Untätigkeit? Im Randbereich der Einrichtungsgarantien besitzt der Ausgestaltungsge­ setzgeber die primäre Interpretationsbefugnis hinsichtlich der Reichweite des tatbestandlichen Schutzgehalts. Diesem Vorrang trägt der auf eine Will­ kürkontrolle reduzierte verfassungsrichterliche Kontrollmaßstab Rechnung. Einzig im Falle einer eklatanten Ausnahmesituation ließe sich daher über­ haupt noch ein über die Willkürkontrolle hinausgehendes, Notfällen vorbe­ haltenes Interventionsrecht des BVerfG erwägen.416 Eine solche Ausnahme­ situation könnte vorherrschen, wenn der Gesetzgeber sehenden Auges eine zeitgerechte Ausgestaltung verweigert, obwohl sich die gesellschaftlichen Werte seit Erlass der ursprünglichen Ausgestaltungsgesetzgebung grundle­ gend verschoben haben und nunmehr ein langfristiges Auseinanderklaffen zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit droht. Bei einer derartigen Überlegung ist jedoch große Vorsicht geboten417: Mit Blick auf zukünftige Wahlen müssen die erkennbaren Mehrheitsmeinungen ohnehin in die politische Ausrichtung aufgenommen werden.418 Aus diesem Grund wäre die skizzierte Ausnahmesituation, zumal angesichts des Auf­ fangcharakters von Art. 2 Abs. 1  GG, nur schwerlich denkbar und bleibt damit im Grunde mehr ein theoretisches als ein praktisches Problem. Über­ haupt würde sich die Erneuerung der bestehenden einfach-rechtlichen Aus­ gestaltungslage im Wege einer originär erfolgenden verfassungsrichterlichen Neuinterpretation besonders drastisch auswirken, wenn die bisherige Ausge­ staltung in der Konsequenz als verfassungswidrig eingestuft und damit der bestehende Wille des einfachen Gesetzgebers gänzlich beseitigt wird. Das BVerfG wäre in einem solchen Fall als Reformer anstelle des eigentlich 416  Eine solche Möglichkeit deutet Hesse, in: Festschrift für U.  Scheuner, S. 123 (140) an. 417  Dahingehend Frowein, DÖV  1971, 793 (796). 418  Zippelius, Verhaltenssteuerung durch Recht und kulturelle Leitideen, S. 108.

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

befugten Gesetzgebers tätig. Zugleich begibt sich das BVerfG offenkundig auf das politische Spielfeld, spricht ein vermeintliches „Notfallrecht“ dem Gesetzgeber doch sein originäres Hoheitsrecht zur Grundrechtsausgestaltung ab. Zwar ließe sich dem Gesetzgeber womöglich die bewusste Vernachläs­ sigung oder gar das Augen-Verschließen vor einem bedeutsamen Wandel vorwerfen  –  Aufgabe des Gesetzgebers ist es immerhin auch, veraltete Gesetze zu überholen.419 Wird der Gesetzgeber rechtsgestaltend tätig, trifft ihn eine Beobachtungs-420 und gegebenenfalls auch eine Korrekturpflicht.421 Eventuell ließe sich aus dieser Verpflichtung eine Beobachtungspflicht des einfachen Gesetzebers dahingehend herleiten, gesellschaftliche Entwicklun­ gen laufend zu verfolgen und die Rechtsordnung entsprechend zu überholen. Zweifelhaft ist jedoch bereits, ob eine solche Pflicht für normgeprägte Grundrechtstatbestände angenommen werden kann, beruhen sie doch, jeden­ falls im Falle des Vorhandenseins einer in der Einrichtungsgarantie inkor­ porierten Leibildfunktion, maßgeblich auf gesellschaftlichen Wertevorstel­ lungen. Allenfalls ließe sich die Rechtsprechung zur Aktualisierungspflicht im Rahmen von Prognosen bei der Eingriffsgesetzgebung begrenzt übertra­ gen. Prognostische Elemente aber drehen sich vor allem um den polizei­ rechtlichen Gedanken einer effektiven Gefahrenabwehr422, der vornehmlich in Bereichen zur Anwendung kommt, in denen technische Schutzvorkehrun­ gen, Szenarioprognosen oder finanzielle Kalkulationen im Raum stehen. Von derartigen Problemstellungen sind die normprägte Grundrechte nicht betroffen, vielmehr hängt ihre Ausgestaltung naturgemäß von einer gesetz­ geberischen Bewertung in Bezug auf einen gesellschaftlichen Wertekonflikt ab, dessen „Richtigkeit“ ebenso wenig allgemeingültig feststellbar ist. Die Einschätzungsprärogative des einfachen Gesetzgebers drückt sich in Form einer korrespondierenden Ausgestaltungsprärogative aus, wonach die Letzt­ bewertung der vorherrschenden Ausgestaltungslage in den Verantwortungsund Bewertungsbereich des einfachen Gesetzgebers fällt. cc) Strenge Validitätskontrolle eines Wandels im normativen Substrat einer Leitbildfunktion Im Unterschied zur Willkürkontrolle im Randbereich der Einrichtungsga­ rantie eines normgeprägten Grundrechts gilt schließlich für die Kontrolle eines möglichen Wandels innerhalb der Leitbildfunktion ein besonders 419  I. v. Münch,

NJW  2000, 1 (5); Huster, ZfRSoz  24 (2003), S. 3 (8 f.). Pabst, ZG 2012, 386 (386 ff., zustimmend insb. S. 395); Augsberg/Augsberg, VerwArch  98 (2007), 290 (290 ff.); Huster, ZfRSoz  24 (2003), S. 3 (3 ff.). 421  BVerfGE  25, 1 (13); 88, 203 (308); 123, 186 (242); Schulze-Fielitz, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann, S. 139 (162 f.). 422  Augsberg/Augsberg, VerwArch  98 (2007), 290 (306). 420  Dazu



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strenger Maßstab. Dies resultiert auch aus der Notwendigkeit, bloße Trends von grundlegenden, langfristig eingetretenen gesellschaftlichen Änderungen herauszufiltern. Die Leitbildfunktion ist ihrerseits an der Schnittstelle zwi­ schen dem unantastbaren Kernbereich und dem Randbereich angesiedelt. Als absolutes Strukturmerkmal ist der übergeordnete Zweck des Leitbildes auf der einen Seite änderungsresistent, andererseits sind Änderungen im normativen Substrat, die ihrerseits Ausdruck in den normativen Struktur­ merkmalen finden, unter besonderen Entstehungsvoraussetzungen statthaft. Hier spricht jedoch stets zunächst eine Vermutung dafür, dass sich bisher kein Wandel im normativen Substrat vollzogen hat, die ursprünglichen nor­ mativen Strukturmerkmale somit nach wie vor in Kraft sind.423 Wird nun ein Wandel im normativen Substrat behauptet, muss er im Ein­ zelfall konkret nachgewiesen sowie nachvollziehbar begründet sein, wofür sich bestimmte Indikatoren, vornehmlich das vorhandene empirische Daten­ material, die sich sukzessiv wandelnde einfache Rechtsordnung sowie inter­ nationalrechtliche Einflüsse, heranziehen lassen. Insbesondere der „Volks­ geist“ bereitet innerhalb des Schichtenmodells424 die Entscheidungen der Gerichte als Vorinterpret425 empirisch vor. Der Darlegungs- und Begrün­ dungsprozess eines Wandels im normativen Substrat unterliegt wiederum der vollumfänglichen verfassungsrichterlichen Kontrolle, die am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgt. Das BVerfG muss die Kriterien des Wandels würdigen und die gesetzgeberische Abwägungsentscheidung entsprechend überprüfen. Hier besteht ein Bedarf nach dogmatischer Über­ holung des bisherigen Prüfungsaufbaus mit Blick auf den allgemeinen Gleichheitssatz für die judizielle Praxis, wird bislang der dialektischen Natur verfassungsrechtlicher Leitbilder, speziell ihrer Wandlungsfähigkeit im normativen Substrat, keine ausreichende Beachtung beigemessen. c) Verfassungsrichterliche Kontrolle im Bereich retardierender Grundrechtstatbestände Auch bei grundrechtlichen Dynamisierungsprozessen im Typus der retar­ dierenden Grundrechtstatbestände sind Dynamisierungsfaktoren in den Ab­ wägungsprozess einzustellen.426 Korrespondierend hierzu obliegt dem BVerfG, wie bei der strengen Validitätskontrolle im Bereich normgeprägter Grundrechte, eine umfassende Kontrollpflicht. Retardierende Grundrechts­ tatbestände kennzeichnet eine statische Grundprägung. Anders als bei den 423  Dazu

oben Teil  3  C.  III.  4.  b). oben Teil  2 A.  II. 425  Häberle, JZ  1975, 297 (297). 426  Siehe oben Teil  3  B.  III.  2. 424  Dazu

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

anderen beiden Typen grundrechtlicher Dynamik soll eine Veränderung weniger die Regel sein, sondern Ausnahme bleiben. Lediglich in Einzelfäl­ len lässt sich unter Anwendung der Methode normativ gebundener Topik der vom historischen Verfassungsgeber begründete Schutzumfang einer Norm im Zuge ihrer zeitgemäßen Interpretation durch eine zusätzliche Sinn­ gebung erweitern. Bei der Überprüfung, ob eine neue Entwicklung womöglich einen grund­ rechtlichen Dynamisierungsprozess im Tatbestand eines retardierenden Grundrechts, das heißt eines speziellen Grundrechts außerhalb der dynami­ schen Verweisungsnormen und der normgeprägten Grundrechtstatbestände, bewirkt hat, beschränkt sich die Kontrolle des BVerfG demnach nicht auf eine bloße Willkürkontrolle. Vielmehr hat das Verfassungsgericht den statt­ gefundenen Abwägungsvorgang nachzuvollziehen und eine konkrete Ein­ zelfallentscheidung über dessen Umfang und Reichweite zu treffen. Jede Gerichtsentscheidung bewirkt insofern eine weitere Konkretisierung des Schutzbereichs.427 Dafür bedarf es einer umfassenden Aufarbeitung des Dynamisierungsvorgangs, welche die historische Ausgangssituation rekons­ truiert und später erfolgende Abweichungen im Rahmen einer Zusammen­ schau der relevanten Topoi belegt  –  exemplarisch haben dies für die judizi­ elle Praxis des BVerfG die tatbestandlichen Sinnerweiterungen des allge­ meinen Persönlichkeitsrechts im Zuge der Digitalisierung deutlich ge­ macht.428 Der strenge Kontrollmaßstab ist zwingend einzuhalten. Zu leicht besteht ansonsten die Gefahr, subjektive Richtigkeitsvorstellungen vorschnell mit dem vorherrschenden Zeitgeist gleichzusetzen.429

III. Zwischenergebnis Das BVerfG ist von Verfassungs wegen als autoritatives Organ zur Kon­ trolle grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse berufen. Sein methodisches Selbstverständnis entspricht der auch hier dargestellten und für vorzugswür­ dig befundenen Methode normativ gebundener Topik. Die verfassungsrich­ terliche Kontrolle ist in zwei Richtungen begrenzt. In formeller Hinsicht darf das Verfassungsgericht die durch das Grundgesetz zugewiesenen Kom­ petenzen nicht überschreiten. Die Kompetenz folgt wiederum der Methode, das heißt, das Verfassungsgericht überschreitet seine verfassungsrechtlichen Kompetenzen erst dann, wenn es sich über den zulässigen methodischen Maßstab zur Verfassungsinterpretation, also über eine normativ gebundene Interpretationsmethodik, hinwegsetzt. Die exakte Grenzziehung zwischen 427  Hesse,

Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 60 ff. oben Teil  3  B.  III.  3. 429  Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S. 213. 428  Dazu



E. Ergebnis zu Teil  3

169

Rechtsprechung und Verfassungspolitik ist dabei nicht immer möglich, ist Verfassungsrecht doch seiner Natur nach typischerweise politisches Recht. Die verfassungsrichterliche Kontrolldichte grundrechtlicher Dynamisie­ rungsprozesse bemisst sich stets nach dem betroffenen Typus. Im Anwen­ dungsbereich der dynamischen Verweisungsnorm des Art. 2  Abs. 1  GG findet eine verfassungsrichterliche Kontrolle tatbestandlicher Erweiterungen angesichts des prima facie Einbezugs jeglicher gänzlich unbekannter Tatsa­ chen nicht statt. Bei der Herstellung von Gleichheit in der Zeit im Rahmen der dynamischen Verweisungsnorm des Art. 3 Abs. 1  GG ist das BVerfG dagegen an einen strengen Kontrollmaßstab gebunden. Dies resultiert aus dem Einbezug der Dynamisierungsfaktoren in die normative Maßstabsbil­ dung der Vergleichsgruppen. Für die – einer dreistufigen Gleichheitsdogma­ tik folgende  – Vergleichsgruppenbildung im Schutzbereich von Art. 3 Abs. 1 GG gelten damit strenge Begründungsanforderungen, die das BVerfG umfassend nachzuprüfen hat. Innerhalb des Typus der normgeprägten Grundrechtstatbestände variiert der Kontrollmaßstab mit dem betroffenen Bereich, sodass abgestufte Kontrolldichten anzutreffen sind. Die auf eine reine Willkürkontrolle reduzierte Kontrollmöglichkeit des BVerfG im Rand­ bereich unterscheidet sich deutlich von der umfassenden Kontrollmöglich­ keit im Kernbereich. Die absoluten Strukturmerkmale können nicht verletzt werden, ihre Einhaltung hat das BVerfG vollumfänglich zu überprüfen. Gleiches gilt für die normativen Strukturmerkmale innerhalb der Ebene der Leitbildfunktion. Die Feststellung der Validität eines Wandels im normati­ ven Substrat einer institutionellen Leitbildfunktion bemisst sich ebenfalls nach dem strengen Kontrollmaßstab. Dieser gilt schließlich auch für die retardierenden Grundrechtstatbestände, wird hier doch ebenfalls eine tatbe­ standliche Sinnerweiterung erst unter Bezugnahme auf Dynamisierungsfak­ toren ermöglicht, deren Abwägung das Verfassungsgericht nachzuvollziehen hat.

E. Ergebnis zu Teil 3 Die normative Kraft grundrechtlicher Tatbestände stellt ihre zeitgemäße tatbestandliche Aktualisierung sicher. Vor diesem Hintergrund lassen sich anhand eines holistischen Ansatzes Überlegungen zu einer „Lehre grund­ rechtlicher Dynamisierungsprozesse“ anstellen, die sich mit den verschiede­ nen Typen von Dynamik, ihren Grenzen und ihrer verfassungsrichterlichen Kontrolle befassen. Ein erster Typus der Grundrechtsdynamik ist in der Gruppe der dynamischen Verweisungsnormen zu erblicken, dem die allge­ meine Handlungsfreiheit und der allgemeine Gleichheitssatz angehören. Beiden Vorschriften ist gemein, dass ihre Zukunftsoffenheit bereits vom historischen Verfassungsgeber intendiert gewesen, die tatbestandliche Natur

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Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

damit ex ante dynamisch ausgestaltet worden ist und hierbei keinen sach­ lichen Beschränkungen unterliegt. Art. 2 Abs. 1  GG bezieht als subsidiäres Auffanggrundrecht zukünftige Verhaltensweisen unmittelbar in seinen tatbe­ standlichen Schutzgehalt ein. Ergänzend tritt der allgemeine Gleichheitssatz hinzu. Im zeitlichen Verlauf können sich die Bezugspunkte der Vergleichs­ gruppenbildung wandeln. Diese haben ihre Ursache in einem Wandel der gesellschaftlichen Gerechtigkeitsvorstellungen, die wiederum über den He­ bel des Art. 3 Abs. 1  GG als positiv-rechtliche Konkretisierung des Gerech­ tigkeitsprinzips Einzug in die Beurteilungen gleichheitsrelevanter Problem­ stellungen nehmen. Bei der bereits auf tatbestandlicher Ebene stattfindenden Maßstabsbildung der Vergleichsgruppen von Art. 3 Abs. 1  GG handelt es sich demnach um einen normativen Bewertungsvorgang, der im Fluss der Zeit steht. Die normgeprägten Grundrechtstatbestände stellen sodann einen zweiten Typus grundrechtlicher Dynamik dar. Gegenüber anderen Grundrechten kennzeichnet die tatbestandliche Natur normgeprägter Grundrechte ihre Abhängigkeit von einer einfach-rechtlichen Ausgestaltung. Entsprechend sind sie besonders anfällig für zeitgemäße Veränderungen. Der verfassungs­ rechtlich gewährleistete Umfang an Freiheit kann somit je nach den politi­ schen Vorstellungen der Regierungsmehrheit im zeitlichen Verlauf unter­ schiedliche Ausprägungen finden und eine andere Schwerpunktsetzung er­ fahren. Die normgeprägten Grundrechte weisen infolgedessen stets eine hohe Bindung an die Lebenswirklichkeit auf. Dem dritten Typus grundrechtlicher Dynamik, den sog. retardierenden Grundrechtstatbeständen, unterfallen schließlich sämtliche übrigen grund­ rechtlichen Bestimmungen. Anders als die dynamischen Verweisungsnormen und normgeprägten Grundrechte sind sie vornehmlich von Kontinuität ge­ prägt. Ihre Schutzbereiche lassen sich nur in begründeten Fällen einer Ak­ tualisierung im Wege der Verfassungsinterpretation zuführen. Grundrechtli­ che Dynamik kann hier nur unter Einhaltung der Methode normativ gebun­ dener Topik, insbesondere unter Anwendung von Dynamisierungsfaktoren, stattfinden. Für alle grundrechtlichen Dynamisierungsprozesse gilt bereits auf tatbe­ standlicher Ebene eine Bindung an verfassungsimmanente Grenzen. Insbe­ sondere die bewegte deutsche Vergangenheit hat die Gefahren grenzenloser Auslegung zutage gefördert. In bewusster Reaktion wurden im Grundgesetz die materiellen Grenzen des Art. 79 Abs. 3  GG und Art. 19 Abs. 2  GG ver­ ankert, welche die unantastbare äußere Grenze jeder Wandlung markieren. Zudem ist eine weitere materielle Dynamisierungsgrenze in den Einrich­ tungsgarantien zu erblicken. Diese schützen einen unabänderlichen Kern normgeprägter Grundrechtstatbestände, der nicht ausgehöhlt, nicht denatu­



E. Ergebnis zu Teil  3171

riert werden darf. Die Strukturmerkmale des Kernbereichs wirken als abso­ lute materielle Rahmenvorgaben. Sie entfalten ihre Grenzwirkung nicht nur für die konkreten Ausgestaltungsentscheidungen des spezifischen normge­ prägten Grundrechtstatbestands, das heißt im Innenverhältnis, sondern strah­ len im Außenverhältnis als objektive Fundamentalvorgaben in die gesamte Rechtsordnung aus. Die absoluten Strukturmerkmale wirken auf diese Wei­ se zugleich als normative Grenzvorgaben sämtlicher staatlicher Betätigungs­ formen. Der Inhalt der zeitresistenten Strukturmerkmale des Kernbereichs einer Einrichtungsgarantie orientiert sich wiederum einzig an den mit der Einrich­ tung bezweckten Funktionen, sie garantieren ausschließlich einen Funk­ tionsschutz, der sich im Regelfall aus einer individuell-freiheitlichen und einer gemeinschaftlich-sozialen Dimension der zu schützenden Einrichtung zusammensetzt. Daneben wird als dritte Funktionsebene nicht selten eine Leitbildfunktion diskutiert. Eine Untersuchung des bisher nur stiefmütterlich behandelten Begriffs vom verfassungsrechtlichen „Leitbild“ zeigt, dass die­ ser jedenfalls sowohl eine Kontinuität sichernde Orientierungs- und Stabili­ sierungsfunktion als auch eine Dynamisierungsfunktion beinhaltet. Die Re­ ziprozität von Statik und Dynamik muss sich ihrerseits in der verfassungs­ rechtlichen Reflexion niederschlagen. Leitbilder vermitteln eine fortwähren­ de Orientierungssicherheit, sie verfolgen einen übergeordneten Zweck, dessen Anforderungen von gesellschaftlichen Wertevorstellungen abhängen. Auch bei den in Einrichtungsgarantien inkorporierten Leitbildern ist daher zwischen dem übergeordneten Zweck als absolutem Strukturmerkmal und seinem normativ wandelbaren Substrat zu unterscheiden. Während der über­ geordnete Zweck den statischen Pol des Leitbildes verwirklicht und zeitlos erhalten bleibt, können die gesellschaftlichen Anschauungen mit Blick dar­ auf, wie dieser Zweck zu erfüllen ist, unter besonderen Voraussetzungen Veränderungen erfahren und eine Dynamik bewirken. Abschließend komplementieren die „Lehre grundrechtlicher Dynamisie­ rungsprozesse“ Überlegungen zum verfassungsrichterlichen Kontrollumfang tatbestandlicher Dynamik. Als Letztinterpret der Verfassungsinterpretation betreibt und bestätigt das BVerfG durch seine Rechtsprechung grundrechtli­ che Dynamisierungsprozesse. Dabei hat es allerdings seine ihm von Verfas­ sungs wegen zugewiesenen kompetenziellen Grenzen einzuhalten. Eine Kompetenzüberschreitung, ein Übergriff in den für einen grundrechtlichen Dynamisierungsprozess bestehende Zuständigkeit eines anderen Akteurs, kommt erst bei einer Überschreitung der für das Verfassungsgericht gelten­ den methodischen Maßstäbe für die Verfassungsinterpretation als formelle Grenze seines Kompetenzbereichs zustande. Dabei gilt es indes zu beachten, dass Methodenwahl und Kompetenzwahrnehmung miteinander korrespon­ dieren, die Kompetenz folgt der Methodik. Stattet man das BVerfG mit einer

172

Teil 3: „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“

weitreichenden, den jeweiligen Einzelfall berücksichtigenden und eine Ab­ wägung vorzunehmenden Methode aus, so muss auch der Kompetenzbereich entsprechend weit gesteckt werden. Das Verfassungsgericht ist verpflichtet, seine von Verfassungs wegen zugewiesenen originären Kompetenzen stets umfassend wahrzunehmen. Für die drei Typen grundrechtlicher Dynamik gelten unterschiedliche Maßstäbe für die verfassungsrichterliche Kontrolle eines grundrechtlichen Dynamisierungsprozesses. Diese können zwischen einer vollumfänglichen Überprüfung bis hin zum gänzlichen Ausschluss der verfassungsrichterli­ chen Kontrolle reichen. Letzteres ist im Bereich des Art. 2 Abs. 1  GG in seiner Eigenschaft als dynamische Verweisungsnorm der Fall, ist hier doch der unmittelbare Einbezug zukünftiger Entwicklungen in das verfassungs­ rechtliche Schutzsystem tatbestandlich intendiert. Ein besonders strenger Maßstab für die verfassungsrichterliche Kontrolle gilt dagegen für den all­ gemeinen Gleichheitssatz. Zwar unterfällt auch dieser dem Typus der dyna­ mischen Verweisungsnormen. Da sich die tatbestandliche Dynamik bei der Maßstabsbildung der Vergleichsgruppen jedoch maßgeblich nach der Ausei­ nandersetzung mit Dynamisierungsfaktoren bemisst, hat das BVerfG diesen Vorgang im Rahmen einer umfassenden verfassungsrichterlichen Kontrolle nachzuzeichnen. Beim Typus der normgeprägten Grundrechte findet sodann lediglich eine Willkürkontrolle der bestehenden Ausgestaltungslage statt. Das BVerfG hat insoweit die exponierte Rolle des Ausgestaltungsgesetzge­ bers als primären Interpreten der Normprägung zu achten und seine Kont­ rolle entsprechend auf die Feststellung eines sachlich vernünftigen Grundes für die neue Ausgestaltungslage, auf eine Willkürkontrolle zurückzunehmen. Eine Ausnahme gilt für den Nachweis eines Wandels im normativen Subs­ trat einer Leitbildfunktion, dessen Existenz angesichts der notwendigen Beurteilung grundlegender normativer Veränderungen vollumfänglich durch das Verfassungsgericht zu überprüfen ist. Eine derart weitreichende Kon­ trolle gilt schließlich auch für den dritten Typus der retardierenden Grund­ rechtstatbestände, bei denen im Einzelfall eine Sinnerweiterung des Schutz­ umfangs erfolgt. Das BVerfG überprüft insoweit den vom Gesetzgeber vorgenommenen Abwägungsprozess auf seine Verfassungskonformität unter Anwendung der Methode normativ gebundener Topik.

Teil 4

Gleichgeschlechtliche Partnerschaften im Lichte der Grundrechtsdynamik A. Einführung – Implementierung von Teil 3 Grundrechtlichen Dynamisierungsprozessen liegt ein Wandel im gesell­ schaftlichen Rechtsbewusstsein zugrunde. Technik und Werte als Parameter gesellschaftlichen Fortschritts zeichnen für die Notwendigkeit der Erweite­ rung eines grundrechtlichen Schutzbereichs verantwortlich. In der verfas­ sungsrechtlichen Analyse bemisst sich ein solcher Dynamisierungsprozess anhand eines zweistufigen interpretativen Vorgehens: Ausgehend von der möglichst exakten Rekonstruktion der historischen Ausgangslage einer grundrechtlichen Schutzverbürgung lassen sich in einem zweiten Schritt Abweichungen in Form materieller Tatbestandserweiterungen auf ihre Ver­ fassungsmäßigkeit bewerten. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen variieren dabei abhängig vom grundrechtlichen Typus. Entsprechend der in Teil  3 vorgestellten „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“ ist zwischen den Typen der dynamischen Verweisungsnormen, den normge­ prägten und schließlich den retardierenden Grundrechtstatbeständen zu un­ terscheiden. Erst die sorgfältige Zuordnung gesellschaftlicher Entwicklungen zu dem entsprechenden grundrechtlichen Dynamisierungsprozess ermöglicht die verfassungsrechtliche Bewertung ihres tatsächlichen grundrechtlichen Schutzniveaus. Nun haben seit Erlass des Grundgesetzes in wohl kaum einem anderen Lebensfeld gesellschaftliche Entwicklungen derart tiefgreifende Umschwün­ ge1 bewirkt wie in den Bereichen von Partnerschaft und Familie.2 In ganz besonderem Maße hat dabei der gesellschaftliche und verfassungs­ rechtliche Umgang mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften die familien­ 1  Siehe bereits Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S. 117 ff., 133 ff.; Burgi, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 6 Rn. 13. 2  Wahl, in: Festschrift für R.  Frank, S. 31 (31 f.); Steiner, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. IV, § 108 Rn. 2 f. Einen Überblick über die grund­ legenden Veränderungen geben Böhm, VVDStRL 73 (2013), S. 212 (212 ff., 223 ff.); Benedict, JZ  2013, 477 (481 f.); Classen, DVBl.  2013, 1086 (1086 ff.); Henrich, in: Festschrift für P.  Lerche, S. 239 (239 ff.); Lecheler, DVBl.  1986, 905 (908 ff.).

174

Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

rechtlichen Diskussionen der vergangenen Jahre bestimmt.3 Den Anstoß der zumeist hitzig geführten, gelegentlich mehr von Emotionalität als von Rationalität angeleiteten4 Debatte lieferte die endgültige Abschaffung der Strafbarkeit männlichen homosexuellen Verhaltens im Jahr 1994. Rasant haben die Diskussionen sodann vor allem mit der Einführung des Instituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft im Jahr 2001 an Fahrt aufgenom­ men.5 Seit der Verabschiedung des Lebenspartnerschaftsgesetzes (LPartG) können gleichgeschlechtliche Paare, die herkömmlicherweise vom Ehebe­ griff des Art. 6 Abs. 1  GG ausgeschlossen sind, erstmalig in der deutschen Geschichte ihrer Beziehung durch öffentliche Eintragung einen rechtlichen Rahmen verleihen. Der Gesetzgeber hat sich auf eine rechtliche Anerken­ nung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften jedoch nicht beschränkt. Im Gegenteil: In jüngerer Zeit wurden beide Institute zunehmend einander an­ gepasst. Nach wie vor ist der Gleichstellungsprozess in vollem Gange. Zusätzlich werden gegenwärtig die Rufe nach einer institutionellen Zusam­ menführung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft unter dem Dach der Ehe immer lauter.6 Diese Forderung hat bereits Einzug in das politische Geschehen gefunden und ist insofern als eines der brisanten ge­ sellschafts- und familienpolitischen Themen in naher Zukunft anzusehen. Die Entwicklung der gleichgeschlechtlichen Partnerschaften in Deutsch­ land erweist sich gleichzeitig als prägnantes Beispiel für die Dynamisierung 3  Siehe nur Hillgruber, FAZ v.  21.02.2014, S. 7 und die Erwiderung von A. Mangold, verfassungsblog.de v.  22.02.2014; Baer, NZS  2014, 1 (4, Fn. 34); Blüm, FAS v.  05.01.2014, Nr. 1, S. 6; Krings, NVwZ  2011, 26 (26 f.); Braun, JuS  2003, 21 ff. und die Kritik von Bryde, in: Festschrift für M.  Bruns, S. 14 Fn. 2: „[…] was eine so undifferenziert einseitige, Vorurteil pflegende Polemik eines Be­ teiligten in einer Ausbildungszeitschrift (!) zu suchen hat, wird Geheimnis der Re­ daktion bleiben“. Tettinger, in: Essener Gespräche  35 (2001), S. 117 (119 f.) beklagt einen Missbrauch der Verfassungswerte von Ehe und Familie durch das „massen­ mediale Trommelfeuer“. Die grundlegende Spaltung des vertretenen Meinungsspek­ trums in der Rechtswissenschaft zeigt sich auch anhand der Diskussionsbeiträge zum Thema „Grundrechtsdogmatik von Ehe und Familie“ auf der Staatsrechtslehrerta­ gung 2013, VVDStRL  2013, S. 296 ff. 4  Kritisch auch Sauer, HFR  2002, 64 (64): „[…] hat das Gericht mit begrüßens­ werter Knappheit und Klarheit die Debatte wieder versachlicht, nachdem in der politischen Auseinandersetzung mit juristischer Polemik nicht gespart worden war.“ 5  So auch Germann, VVDStRL  73 (2013), S. 257 (259), der heute von einer „völlig veränderte[n] Lage“ spricht. Ferner heißt es auf S. 259 f.: „Selbstverständlich gibt es noch etliche andere Bewegungen im Recht von Ehe und Familie als diese; aber wenn wir nach Dynamik suchen, finden wir sie hier in exemplarischer Präg­ nanz.“ 6  Zuletzt bestimmten die Diskussionen um eine Öffnung der Ehe in Deutsch­ land vor allem im Mai 2015 im Nachgang zur vollzogenen Öffnung der Ehe in Ir­ land die Schlagzeilen, vgl. exemplarisch Reimer, Das Parlament, Heft 26–27/2015, S. 1.



A. Einführung  – Implementierung von Teil  3175

eines ganzen Lebensbereichs. In der Summe haben einzelne grundrechtliche Dynamisierungsprozesse, ausgelöst durch unterschiedliche Entwicklungen in der Lebenswirklichkeit, für einen fundamentalen Umschwung im Umgang mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften gesorgt. Die Gegensätze könnten deutlicher nicht sein: Sie reichen von einer ursprünglichen Pönalisierung bis zur heutigen Forderung nach einer Aufnahme unter den verfassungsrechtli­ chen Ehebegriff. Schichtet man die Entwicklungsstufen im Dynamisierungs­ bereich ab, lassen sich insgesamt vier grundrechtliche Dynamisierungspro­ zesse in der Entwicklung aus dem Lebensbereich „gleichgeschlechtliche Partnerschaft“ voneinander unterscheiden7: Erstens die generelle Anerken­ nung des Lebens in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft als persönlich­ keitsrelevante Schutzposition verbunden mit der Einführung der eingetrage­ nen Lebenspartnerschaft als eigenständiges statusrechtliches Institut für gleichgeschlechtliche Paare. Zweitens die Anpassung von eingetragener Le­ benspartnerschaft und Ehe. Drittens die möglicherweise bevorstehende Öff­ nung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. Als vierter Dynamisierungs­ prozess, der über die Paarbeziehung hinausgeht, ist jüngst die Öffnung des verfassungsrechtlichen Familienbegriffs für gleichgeschlechtliche Partner­ schaften mit Kindern, sog. Regenbogenfamilien, hinzugetreten. In Teil  4 dieser Arbeit soll nun eine Implementierung der im vorherigen Kapitel entwickelten Überlegungen zu einer „Lehre grundrechtlicher Dyna­ misierungsprozesse“ am Beispiel des Dynamisierungsbereichs „gleichge­ schlechtliche Partnerschaften“ stattfinden. Dies erlaubt vor allem die verfas­ sungsrechtliche Bewertung mit Blick auf die Zulässigkeit der einzelnen grundrechtlichen Dynamisierungsprozesse sowie darüber hinaus eine kriti­ sche Bestandsaufnahme ihrer Abbildung in der einschlägigen Verfassungs­ rechtsprechung. Jeder einzelne der vier grundrechtlichen Dynamisierungs­ prozesse zur gleichgeschlechtlichen Partnerschaft wird bei der folgenden Vorgehensweise in Kapitel  B bis  E entsprechend dem entwickelten „Drei­ klang“ der Lehre  – Typologische Zuweisung, Analyse der Grenzen, Bewer­ tung der verfassungsrichterlichen Kontrolle  – der Analyse zugeführt. Je nach dem betroffenen grundrechtlichen Typus trifft ein dynamischer Prozess dabei nicht nur auf unterschiedliche tatbestandliche Anforderungen seiner verfassungsrechtlichen Reflexion, ebenfalls gelten jeweils verschiedenartige, das heißt typusabhängige Maßstäbe für seine verfassungsrichterliche Kont­ rolle. Die Anwendung der „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozes­ se“ erlaubt somit Aussagen über die Verfassungsmäßigkeit der einzelnen Dynamisierungsprozesse, konkret über die Zulässigkeit tatbestandlicher Sinnerweiterungen zugunsten eines zeitgemäßen verfassungsrechtlichen Schutzes gleichgeschlechtlicher Partnerschaften. 7  So

schon Risse, S. 37 f.; ferner Sanders, FF  2012, 391 (391).

176

Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

B. Dynamisierungsprozess 1: Verfassungsrechtlicher Schutz gleichgeschlechtlicher Partnerschaften als persönlichkeitsrelevante Entfaltung und ihre statusrechtliche Anerkennung Der erste grundrechtliche Dynamisierungsprozess, den es im Dynamisie­ rungsbereich „gleichgeschlechtliche Partnerschaften“ zu untersuchen gilt, betrifft ihre erstmalige verfassungsrechtliche Anerkennung als persönlich­ keitsrelevante Schutzposition sowie die damit verbundene Anerkennung ei­ nes eigenen statusrechtlichen Anspruchs aus der Verfassung. Ausgangspunkt eines jeden grundrechtlichen Dynamisierungsprozesses sind Entwicklungen in der Lebenswirklichkeit, die auf ihre entsprechende verfassungsrechtliche Reflexion drängen. Ihr Einbezug in das grundrechtliche Schutzsystem kann zu tatbestandlichen Sinnerweiterungen einzelner Grundrechtstatbestände führen. Solche Erweiterungen vollziehen sich in einem zweistufigen Inter­ pretationsvorgang. Um einzelne Veränderungen im Zeitverlauf überhaupt identifizieren zu können, muss man sich zunächst die historische Ausgangs­ lage vor Augen führen. Erst im Anschluss lassen sich Abweichungen vom ursprünglichen Schutzniveau bewerten.

I. Historische Ausgangssituation Bei historischer Betrachtung8 ist die rechtliche Bewertung von Homosexu­ alität zumeist mit strafrechtlichen Sanktionen verknüpft gewesen.9 Für diesen Befund zeichnet insbesondere der Einfluss christlicher Moralvorstellungen verantwortlich10, wonach Homosexualität als Ausfluss einer angeborenen, krankhaften Veranlagung missbilligt wurde. Diese Vorstellung vermochte sich auch im Laufe der Geschichte nicht gegen spätere Reformbestrebungen behaupten.11 Die Nationalsozialisten verabschiedeten im Jahr 1935 eine Neu­ fassung des Straftatbestands männlicher homosexueller Verhaltensweisen (§ 175  StGB), der diese als widernatürliche Unzucht unter Strafe stellte. Nach der nationalsozialistischen Ideologie gefährdeten homosexuelle Men­ schen die Reinheit des arischen Volkes und wurden als moralisch völlig de­ 8  Historischer Überblick über die Strafbarkeit männlicher Homosexualität bei Schüffner, S. 56 ff.; v. der Tann, FamFR  2012, 195 (196). 9  Schüffner, S. 56. 10  Risse, S. 24: „Mit der Christianisierung Süd- und Mitteleuropas im 3. und 4. Jahrhundert n. Chr. endete die tolerante Haltung gegenüber der Homosexualität abrupt.“ 11  Dazu ausführlich BVerfGE  6, 389 (390 ff.).



B. Dynamisierungsprozess  1177

generierte Personen gebrandmarkt.12 Der Begriff der Unzucht wurde zudem in einem extensiven Sinne ausgelegt und konnte damit auch über beischlaf­ ähnliche Verhaltensweisen hinausgehen. Nach 1945 wurde der auf jenem ­nationalsozialistischen Gedankengut fußende Straftatbestand auch in § 175 StGB a. F. unverändert fortgeführt.13 Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Grundgesetzes waren männliche homosexuelle Verhaltensweisen somit noch mit der Strafe als schwerstes staatliches Sanktionsmittel belegt. Auch in der Folgezeit ignorierten die deutschen Fachgerichte bei der Anwendung von § 175  StGB a. F. die ursprüngliche „rassenhygienische Motivation des Ge­ setzgebers von 1935“.14 Insgesamt kam es zu viermal so vielen Verurteilun­ gen als noch zur Weimarer Zeit.15 Die Strafbarkeit und sittliche Missbilli­ gung von Homosexualität prägte dementsprechend die vorherrschende öf­ fentliche Meinung in der Entwicklungszeit nach dem Zweiten Weltkrieg.

II. Dynamisierungsprozesse der Lebenswirklichkeit Eine grundlegende politische Weichenstellung erfolgte erst viele Jahre später, schlussendlich im Jahr 1994, mit der Entscheidung zur vollständigen Abschaffung der Strafbarkeit homosexuellen Verhaltens. Im Jahr 2001 brach der Gesetzgeber sodann mit der Historie endgültig. Als Reaktion auf die grundlegende gesamtgesellschaftliche Veränderung im Umgang mit dem Thema Homosexualität führte die seinerzeitige rot-grüne Bundesregierung das nach skandinavischem Vorbild16 ausgestaltete statusrechtliche Institut der eingetragenen Lebenspartnerschaft ein. Erstmalig in der deutschen Ge­ schichte erhielten gleichgeschlechtliche Paare die Möglichkeit, ihrer Bezie­ hung durch öffentliche Eintragung einen rechtlichen Rahmen zu verleihen. Das verabschiedete Lebenspartnerschaftsgesetz (LPartG17  –  bzw. in der ursprünglichen Fassung bezeichnet als „Gesetz zur Beendigung der Diskri­ minierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspartnerschaften mit den Regelungen zur eingetragenen Lebenspartnerschaft und zu den wesentlichen damit verbundenen Rechtsfolgen“) sieht verschiedene Regeln und Pflichten für die eingetragenen Lebenspartner vor und verweist in vie­ len Bereichen auf die eherechtlichen Vorschriften des BGB. 12  Risse,

S. 26. näher Schüffner, S. 57 f. 14  Risse, S. 27. 15  Risse, S. 27 f. 16  Schimmel, S. 48 ff.; Robbers, JZ  2001, 779 (779); Burgi, Der  Staat  39 (2000), S. 487 (491). 17  BGBl. I  2001, S. 266; näher zum Gesetzgebungsverfahren BVerfGE  105, 313 (314 ff.). 13  Dazu

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

Der augenscheinliche Gegensatz  –  von der Pönalisierung homosexueller Lebensweisen zur eigenständigen statusrechtlichen Anerkennung gleichge­ schlechtlicher Partnerschaften  – findet seinen Ursprung in technischen als auch normativen Veränderungen, nämlich einem medizinisch-wissenschaft­ lichen Erkenntnisgewinn sowie einem grundlegenden normativen Wandel der gesellschaftlichen Sexualmoral, der schließlich Einzug in die Rechtsord­ nung erhalten hat. In beiden Fällen handelt es sich um typische Parameter menschlichen Fortschritts.18 1. Fortschritt medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnis Auch wenn der Forschungsstand zu den Ursachen menschlicher Homo­ sexualität nach wie vor keine eindeutigen Aussagen zulässt, gehen die ­Erkenntnisse der vergangenen Jahre jedenfalls zunehmend in die Richtung überein, Homosexualität als von Geburt an angeborenes Merkmal einzustu­ fen.19 Demnach sucht sich der Mensch seine Sexualität nicht aus, er hat keine „Wahl“, sondern vielmehr ist jedem Menschen seine Sexualität von Natur aus und von Geburt an in die Wiege gelegt.20 Als solche ist sie Teil  individueller Persönlichkeit. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine Eilpetition der Generalversammlung des Weltärztebundes aus dem Oktober 2013: Es wurde eine Stellungnahme verabschiedet, die sich ausdrücklich gegen die Einstufung von Homosexuali­ tät als Krankheit stellte.21 Oftmals seien falsche Annahmen und unwissen­ schaftliche Argumentationen Grundlage für eine Diskriminierung homosexu­ eller Menschen. Bei der sexuellen Orientierung handele es sich aus medizini­ scher Sicht vielmehr um „eine mehrdimensionale und individuell flexible Zusammensetzung aus der sexuellen und emotionalen Anziehung zum eige­ nen (homo), zum anderen (hetero) oder zu beiden (bisexuell) Geschlechtern […]. Ob ein Mensch überwiegend oder ausschließlich homo- oder heterose­ xuell empfindet, ist daher nie soziokulturell beeinflussbar: Man kann weder zur hetero- noch zur homosexuellen Orientierung erzogen, verführt, gewor­ ben oder therapiert werden. Darüber hinaus muss aufgrund der Mehrdimen­ sionalität der sexuellen Orientierung sowie aufgrund der Vielfältigkeit des Auslebens das Konstrukt einer Dichotomie in „die Heterosexualität“ und „die Homosexualität“ grundsätzlich infrage gestellt werden.“22 Die Eigenschaft 18  Hierzu

bereits oben Teil  2 A.  I. vor allem eine renommierte Studie aus dem Jahr 2012 von Rice/Friberg/ Gavrilets, The Quarterly Review of Biology, Vol.  87, No. 4, S. 343 ff. 20  Risse, S. 21 ff. 21  Möller, DÖV  2005, 64 (68) m. w. N. 22  Mahler, Deutsches Ärzteblatt 2014, S. 122 f. 19  Vgl.



B. Dynamisierungsprozess  1179

der sexuellen Identität als prädispositives Persönlichkeitsmerkmal eines Men­ schen wird auch dieser Untersuchung als Ausgangsprämisse zugrunde gelegt. 2. Normativer Wandel der gesellschaftlichen Sexualmoral Seit den 1960er Jahren hat in Deutschland überdies ein tiefgreifender Wandel der Sexualmoral eingesetzt, der auch eine Enttabuisierung der ge­ sellschaftlichen Einstellung zur Homosexualität zur Folge hatte.23 Seit der endgültigen Abschaffung der Strafbarkeit männlicher Homosexualität ist ein deutlicher Aufschwung an Akzeptanz und Toleranz gegenüber homosexuel­ len Menschen zu verzeichnen. Der EGMR hat die Strafbarkeit homosexuel­ len Verhaltens für konventionsrechtswidrig erklärt.24 Für die Strafverfol­ gung in der Vergangenheit hat sich der Deutsche Bundestag in einer Ent­ schließung im Jahr 2000 bei den betroffenen homosexuellen Menschen entschuldigt.25 Es wurde herausgestellt, dass die strafrechtliche Verfolgung Homosexueller nach dem heutigen Verständnis gegen das freiheitliche Men­ schenbild des Grundgesetzes, insbesondere gegen Art. 1 Abs. 1  GG, versto­ ßen habe. Ferner sprach sich der Bundestag für eine Rehabilitierung der im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen aus. In der Tat lässt sich heute von einer völlig veränderten Lage26, von einer Kehrtwende27 mit Blick auf die gesellschaftliche Bewertung von Homose­ xualität sprechen. Seit den 1990er Jahren ermitteln die Meinungsforscher regelmäßig eine stetig wachsende gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber homosexuellen Menschen und gleichgeschlechtlichen Partnerschaften.28 Seit der Jahrtausendwende befürwortet eine jährlich ansteigende Mehrheit der deutschen Bevölkerung die rechtliche Gleichstellung homosexueller Lebensgemeinschaften.29 Insgesamt hat auch die Anzahl offen gelebter 23  Würtenberger,

Zeitgeist und Recht, S. 117; Benedict, JZ  2013, 477 (481). NJW  1984, 541 (543 f.). 25  Einstimmige Annahme der BT-Drucks.  14/4894; Beschluss dokumentiert im PlenProt.  14/140, S. 13745. 26  So Germann, VVDStRL  73 (2013), S. 257 (259). 27  Beck, NJW  2001, 1894 (1894). 28  Nachweise zu Meinungsumfragen bis ins Jahr 2001 bei Beck, NJW  2001, 1894 (1894, Fn. 4). 29  In der Focus-Ausgabe 34/2010, S. 17 wird unter Verweis auf eine TNS Em­ nid-Umfrage eine Befürwortung von 66 % gemeldet. Der ARD-DeutschlandTREND aus März 2013 bestätigt unter Verweis auf eine Erhebung von Infratest dimap eine Befürwortung von 66 %. Innerhalb der Gruppe der Befragten zwischen 18–29  Jahre befürworten sogar 77 %, in der Gruppe der 30–44  Jährigen 74 % und in der Gruppe der 45–59  Jährigen 71 % eine Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaften mit der Ehe. 24  EGMR,

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in den vergangenen Jahren sukzessi­ ve zugenommen. Laut dem vom Statischen Bundesamt erhobenen Mikro­ zensus 2011 gab es in Deutschland 73.000 gleichgeschlechtliche Lebensge­ meinschaften, in denen die Partner in einem Haushalt zusammen leben, wobei diese Ziffer als Untergrenze einzuordnen ist.30 Die in der Lebenswirklichkeit zu beobachtende Zunahme offen gelebter Homosexualität fußt auf dem gesellschaftlichen Wertewandel. Gerade für jüngere Generationen wird ein toleranter Umgang mit homosexuellen Men­ schen zunehmend zur Selbstverständlichkeit und auch in älteren Generatio­ nen schwinden die verbleibenden Vorbehalte schrittweise. Nicht nur in der Bevölkerung, sondern allmählich sogar in den Kirchen  –  insbesondere in der Evangelischen Kirche Deutschland31  – wird Homosexualität jedenfalls seit Veröffentlichungen der Orientierungshilfe des Rates der EKD im Jahr 2013 als ein aus christlich-theologischer Sicht gleichwertiger Lebensentwurf anerkannt32. Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau hat die Seg­ nung homosexueller Paare sogar weitgehend mit der Trauung gleichge­ stellt.33 Ab 2016 sollen nach Beschluss der Landessynode auch in BerlinBrandenburg gleichgeschlechtliche Paare in evangelischen Gottesdiensten getraut werden können.34 3. Einführung des Rechtsinstituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft Die Überholung des medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstands sowie der grundlegende normative Wandel im gesellschaftlichen Umgang mit Homosexualität haben als entscheidende Entwicklungsparameter den politischen Weg für die Einführung der eingetragenen Lebenspartnerschaft geebnet. Die von der Rechtsordnung gewährte Möglichkeit zur statusrecht­ lichen Absicherung einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft bildet den Schlusspunkt des Dynamisierungsprozesses. Sie ist zugleich Ausdruck einer gesellschaftlichen Wertbildung im Schichtenmodell.35 Die gewandelten ge­ 30  Statistisches

Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2014, S. 57. insbesondere Gerhard, Zeitschrift für evangelische Ethik  51 (2007), S. 267 (267 ff.); dagegen exemplarisch für den ablehnenden, emotional aufgeladenen Standpunkt der katholischen Kirche Spieker, in: Uhle, S. 11 (11 ff.). 32  Evangelische Kirche in Deutschland, Zwischen Autonomie und Angewiesen­ heit, Orientierungshilfe des Rates der EKD, S. 266. 33  Böhm, VVDStRL 73 (2013), S. 211 (226, Fn. 74). 34  Keller, Homo-Ehe in der Kirche ab 2016 möglich, tagesspiegel.de vom 25.04.2015, http://www.tagesspiegel.de/berlin/evangelische-landeskirche-berlin-bran denburg-homo-ehe-in-der-kirche-ab-2016-moeglich/11689068.html. 35  Vgl. dazu oben  Teil  2 A.  II. 31  Vgl.



B. Dynamisierungsprozess  1181

sellschaftlichen Wertevorstellungen zur gleichgeschlechtlichen Partnerschaft wurden von den damaligen Regierungsparteien in ihren rechtspolitischen Programmen rezipiert. Die Partei BÜNDNIS 90 / Die Grünen warb bereits im Bundestagswahlkampf 1998 mit der Einführung eines statusrechtlichen Instituts.36 Die Verabschiedung des LPartG überführte den Dynamisierungs­ prozess schlussendlich in die Ausgestaltung der geltenden Rechtsordnung.

III. Verfassungsrechtliche Reflexion Der in der Einführung des LPartG eingemündete Dynamisierungsprozess der Lebenswirklichkeit übt seinerseits einen Anpassungsdruck auf das gel­ tende Verfassungsrecht aus. Wie der Vergleich zur historischen Ausgangssi­ tuation eindrucksvoll belegt, hat es bis zur erstmaligen statusrechtlichen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften mehr als 50 Jahre seit Erlass des Grundgesetzes gedauert. Die verfassungsrechtliche Reflexion kann den offenkundigen Befund des gegensätzlichen Umgangs mit gleich­ geschlechtlichen Partnerschaften nicht ignorieren. Infolgedessen sind aus dem Blickwinkel grundrechtlicher Dynamik eine Reihe von Fragen aufge­ worfen: Wie lässt sich dem Dynamisierungsprozess in der verfassungsrecht­ lichen Reflexion nunmehr Rechnung tragen? Welcher Typus grundrecht­ licher Dynamik ist hierfür heranzuziehen? Kam es möglicherweise zu Sinn­ erweiterungen einzelner Grundrechtstatbestände? 1. Bestimmung des grundrechtlichen Dynamisierungstypus a) Dynamische Verweisungsnorm: Art. 2 Abs. 1 GG? Sofern gleichgeschlechtliche Partnerschaften bisher noch nicht als verfas­ sungsrechtliche Schutzposition anerkannt waren, würde sich ihr erstmaliger Schutz zumindest durch dynamischen Einbezug in den Tatbestand der all­ gemeinen Handlungsfreiheit vollziehen. In ihrer Ausgestaltung als dynami­ sche Verweisungsnorm sowie ihrem gleichzeitigen Charakter als subsidiäres Auffanggrundrecht erfasst die in Art. 2 Abs. 1  GG konstituierte allgemeine Handlungsfreiheit zunächst einmal jeden Dynamisierungsprozess der Le­ benswirklichkeit bzw. jedes daraus resultierende grundrechtsrelevante Ver­ halten. Ein grundrechtlicher Dynamisierungsprozess bei Art. 2 Abs. 1  GG erfolgt jedoch nur dann, wenn neue, bislang gänzlich unbekannte Tatsachen erstmalig auftreten und folglich auch erstmals in den Schutz der Verfassung 36  BÜNDNIS 90/Die Grünen, Grün ist der Wechsel, Programm zur Bundestags­ wahl 1998, S. 123 f.

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

einzubeziehen sind.37 Dies trifft auf gleichgeschlechtliche Partnerschaften indes nicht zu, war ihre Existenz doch bereits zum Zeitpunkt der Verfas­ sunggebung gemeinhin bekannt. Die ursprüngliche Pönalisierung homose­ xuellen Verhaltens hat bei der Beurteilung des tatbestandlichen Einbezugs außen vor zu bleiben, entscheidend ist allein die damalige Kenntnis von der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft als Faktum. Homosexuelle Lebensweisen sind daher im Grunde seit jeher prima fa­ cie als Schutzposition im Tatbestand von Art. 2 Abs. 1  GG angelegt gewe­ sen. Insofern ist es irreführend, mit Blick auf den grundsätzlichen verfas­ sungsrechtlichen Schutz von Homosexualität und gleichgeschlechtlicher Partnerschaft von einem „Wandel“ auf der Tatbestandsebene zu sprechen, impliziert dies doch ihre bisherige Ausklammerung aus dem Schutzgefüge des Grundrechtskatalogs. Ursächlich für die bisherige Ausblendung zeich­ net sich nicht zuletzt die Homosexuellen-Entscheidung38 aus der frühen Rechtsprechungspraxis des BVerfG. Im Jahr 1957 noch urteilte das Verfas­ sungsgericht, dass die durch § 175  StGB a. F. geregelte Bestrafung einver­ nehmlicher sexueller Handlungen von Männern mit dem Grundgesetz in Einklang stehe. Diese Entscheidung wurde vielfach kritisiert39, insbesonde­ re aufgrund ihrer grundrechtsdogmatischen Unzulänglichkeiten40. Bei der ursprünglichen Straf­an­drohung durch § 175  StGB a. F. handelte es sich um keine Schutzbereichsverengung, sondern einzig um eine Schranke der all­ gemeinen Handlungsfreiheit. Nicht nur aber sind Tatbestands- und Recht­ fertigungsebene in grundrechtsdogmatischer Hinsicht strikt voneinander zu unterscheiden, auch die Beurteilung grundrechtlicher Dynamisierungspro­ zesse bemisst sich alleine nach der Tatbestandsebene, denn sie betrifft die Frage eines grundrechtlichen Schutzumfangs und seiner tatbestandlichen Erweiterung.41 Folglich ist die Schranke des Sittengesetzes, auf die sich möglicherweise in der damaligen Zeit ein Rechtfertigungsgrund für das Verbot und die Bestrafung homosexueller Lebensweisen stützen ließ, über­ haupt erst im Rahmen der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriff, nicht aber bereits bei der Bestimmung der tatbestandlichen Reichweite der all­ gemeinen Handlungsfreiheit, von Bedeutung. Die dogmatischen Defizite aus der Homosexuellen-Entscheidung hat das BVerfG offenbar selbst er­ kannt, wenn es in den Folgejahren seiner Rechtsprechungsgeschichte um ihre Verdrängung bemüht ist, was sich daran zeigt, dass jegliche Bezug­ nahmen in späteren Entscheidungen ausbleiben. 37  Dazu

oben Teil  3  B.  I.  1.  a). 389 ff. 39  Einen Überblick gibt Risse, S. 46 ff. 40  Vgl. Risse, S. 49, 66. 41  Dazu oben Teil  3 A.  II. 38  BVerfGE  6,



B. Dynamisierungsprozess  1183

Wird die Schranke des Sittengesetzes heute allgemein als „Fremdkörper“ im Grundgesetz begriffen und für funktionslos erklärt42, wäre sie auch bei gegenteiliger Auffassung heutzutage ohnehin nicht mehr in der Lage, einen grundrechtlichen Schutz gleichgeschlechtlicher Partnerschaften zu rechtfer­ tigen. Angesichts des grundlegenden Wandels im gesellschaftlichen Umgang mit Homosexualität ist das Leben in einer gleichgeschlechtlichen Partner­ schaft seit dem Einsetzen des Dynamisierungsprozesses jedenfalls nicht mehr als gesellschaftlicher Sittenverstoß zu werten.43 b) Retardierender Grundrechtstatbestand: Allgemeines Persönlichkeitsrecht Der in der Einführung des LPartG resultierende Dynamisierungsprozess der Lebenswirklichkeit hat demnach zu keinem grundrechtlichen Dynami­ sierungsprozess von Art. 2 Abs. 1  GG geführt. Vielmehr war der Schutz gleichgeschlechtlicher Partnerschaften seit jeher prima facie im Tatbestand der allgemeinen Handlungsfreiheit angelegt. Dieser Befund schließt indes nicht das mögliche Einsetzen grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse jenseits von Art. 2 Abs. 1 GG aus, das heißt innerhalb anderer Typen grund­ rechtlicher Dynamik. Als subsidiäres Auffanggrundrecht schützt Art. 2 Abs. 1 GG jedes grundrechtsrelevante Verhalten, konkretere Schutzgewährleistun­ gen enthalten dagegen aber die Typen der normgeprägten und der retardie­ renden Grundrechtstatbestände, die für einzelne Sachbereiche ein spezifi­ scheres Schutzniveau vorsehen. Von großem Interesse ist also die Frage, ob gleichgeschlechtliche Partnerschaften womöglich ein über Art. 2 Abs. 1  GG hinausgehendes verfassungsrechtliches Schutzniveau zuzuschreiben ist bzw., ob in den anderen beiden Typen grundrechtliche Dynamisierungsprozesse stattgefunden haben. Aufgrund der Strafbarkeit homosexuellen Verhaltens zur Entstehungszeit des Grundgesetzes war ein Einbezug gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in den Schutzumfang eines sonstigen grundrechtlichen Tatbestands zwar ursprünglich nicht intendiert. Die seitdem eingetretenen Dynamisierungspro­ zesse der Lebenswirklichkeit könnten aber nachträglich die tatbestandliche Sinnerweiterung eines bisher existierenden Grundrechtstatbestands ohne Durchführung eines formellen Textänderungsverfahrens bedingt haben. Na­ heliegender Weise ließe sich eine tatbestandliche Erweiterung des verfas­ 42  Dazu

oben Teil  3  B.  I.  1.  b). auch Hillgruber, in: Festschrift für M.  Spieker, S. 47 (54), der offenbar nach wie vor die Schranke des Sittengesetzes anwenden möchte. Er unterscheidet jedoch ebenfalls nicht hinreichend zwischen Schutzbereichs- und Schrankenebene von Art. 2 Abs. 1  GG. 43  So

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

sungsrechtlichen Ehebegriffs um gleichgeschlechtliche Partnerschaften er­ wägen, schützt Art. 6 Abs. 1  GG doch gerade mit der Ehe eine besondere Form partnerschaftlichen Zusammenlebens. Jedoch entspricht es dem tradi­ tionellen Verständnis, dass der institutionelle Zugang zur Ehe alleine ver­ schiedengeschlechtlichen Paaren vorbehalten ist, die Verschiedengeschlecht­ lichkeit der Ehepartner mithin zu den ehelichen Strukturmerkmalen der In­ stitutsgarantie des normgeprägten Grundrechtstatbestands zählt  –  dies traf jedenfalls auf den Beurteilungsmaßstab zum Zeitpunkt der Einführung des Instituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft im Jahr 2001 zu, den es bei dem hier im Fokus stehenden Dynamisierungsprozess der statusrechtlichen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften allein zu beurteilen gilt.44 Eine Erweiterung des verfassungsrechtlichen Ehebegriffs für gleich­ geschlechtliche Paare wurde mit dem Erlass des LPartG aber auch nicht bezweckt, sollte die eingetragene Lebenspartnerschaft doch gerade als von der Ehe zu unterscheidendes Institut ausgestaltet werden. In Betracht kommt jedoch die tatbestandliche Sinnerweiterung eines an­ deren Grundrechtstatbestands. Das Ausleben von Sexualität gehört zu den anthropologischen Trieben eines jeden Menschen.45 Als spezielles Grund­ recht schützt insbesondere das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1  GG) die sexuelle Identität bzw. sexuelle Selbstbestim­ mung einer Person.46 Das allgemeine Persönlichkeitsrecht wurde im We­ sentlichen im Wege der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelt.47 Als Folge der extensiven Schutzbereichsauslegung und gleichzeitigen Ab­ lehnung der ursprünglich zu Art. 2 Abs. 1  GG teilweise vertretenen engeren Persönlichkeitskerngarantie in der Elfes-Entscheidung, wurde die im Tatbe­ stand des Art. 2 Abs. 1 GG genannte „Persönlichkeit“ in einen neuen, enge­ ren Sinn- und Funktionszusammenhang überführt.48 Das BVerfG betont, dass dem Staat ein Eindringen in den Persönlichkeitsbereich, eine umfas­ sende Einsichtnahme in die persönlichen Verhältnisse seiner Bürger ver­ wehrt sei, da dem Einzelnen um der freien und selbstverantwortlichen Entfaltung seiner Persönlichkeit willen ein „Innenraum“ verbleibe müsse, in 44  Näher

zum möglichen Einbezug in der heutigen Zeit unten Teil  4  D. S. 60. 46  BVerfGE  115, 1 (14); 87, 234 (267); 121, 175 (191 f.); 128, 109 (124); Gärditz, in: Uhle, S. 85 (109); Cornils, ZJS  2009, 85 (85); Möller, DÖV  2005, 64 (68); Hohmann-Dennhardt, KJ Beiheft  1/2009, S. 125 (127); Bräcklein, StAZ  2008, 297 (302); Grünberger, JZ  2006, 516 (517). Schutz wird überdies durch Art. 8 Abs. 1  EMRK gewährleistet, vgl. EGMR, NJW  2011, 1421 (1424); B. Klein, Das neue Eheverbot, S. 145 ff. 47  Grundlegend ist die Mikrozensus-Entscheidung, BVerfGE  27, 1 ff. 48  Kube, in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl., § 148 Rn. 23 ff., insb. Rn. 25. 45  Risse,



B. Dynamisierungsprozess  1185

dem er sich selbst besitze.49 Entsprechend schütze die allgemeine Hand­ lungsfreiheit die freie Entscheidung des Menschen über Tun und Unterlas­ sen jedweder Betätigungen, das allgemeine Persönlichkeitsrecht erfasse da­ gegen ergänzend den Schutz der Vertraulichkeit des privaten Bereichs.50 Es sichert folglich einen engeren Bereich, welcher namentlich der Entstehung freier und autonomer Individualität dient51, und ist insofern als lex specia­ lis von der allgemeinen Handlungsfreiheit abzugrenzen52. 2. Anforderungen an die tatbestandliche Sinnerweiterung a) Tatbestandliche Dynamik bei retardierenden Grundrechtstatbeständen Der Grundrechtstatbestand des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist in typologischer Hinsicht der Gruppe retardierender Grundrechtstatbestände zuzuordnen.53 Deren Wesensmerkmal ist die statische Grundprägung des Tatbestands, die Sinnerweiterungen des bisherigen Schutzumgangs nur aus­ nahmsweise und allein unter Anwendung der Methode normativ gebundener Topik ermöglicht. Für die tatbestandliche Erweiterung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts um die nunmehrige Anerkennung eines statusrechtli­ chen Schutzes gleichgeschlechtlicher Partnerschaften als persönlichkeitsre­ levanter Belang bedarf es daher zum einen der Bezugnahme auf einschlägi­ ge Dynamisierungsfaktoren, zum anderen ist die Bindung an den hermeneu­ tischen Kanon zu beachten. Letztere schreibt vor allem die Einhaltung der Wortlautgrenze vor, die jedoch angesichts der vielfältigen Natur persönlich­ keitsrelevanter Verhaltensweisen nur eine untergeordnete Rolle spielt. Insbe­ sondere im Falle der Beurteilung menschlicher Sexualität besteht keine Gefahr einer möglichen Überschreitung der Wortlautgrenze, findet Sexualität doch geradezu im Intimbereich statt und prägt in besonderem Maße die individuelle Persönlichkeit. Auch das Leben in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft lässt sich jedenfalls als persönlichkeitsrelevantes Verhalten verstehen, das vom Wortlaut des allgemeinen Persönlichkeitsrechts umfasst wäre. 49  BVerfGE  27,

1 (6 f.). in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch § 148 Rn. 23 ff., insb. Rn. 28 f. 51  Kube, in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch § 148 Rn. 29. 52  Kube, in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch § 148 Rn. 30; Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Bd. IV/1, S. 301. 53  Dazu schon oben Teil  3  B.  III.  3. 50  Kube,

des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl., des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl., des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl., Art. 2 Rn. 38; Stern, Staatsrecht,

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

b) Dynamisierungsfaktoren Entscheidende Bedeutung für eine tatbestandliche Sinnerweiterung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts um den Einbezug gleichgeschlechtlicher Partnerschaften kommt damit der Identifizierung relevanter Dynamisie­ rungsfaktoren zu. Dynamisierungsfaktoren tragen insbesondere der Überfüh­ rung und zeitgemäßen Aufrechterhaltung des Gerechtigkeitsprinzips im Verfassungsrecht Rechnung.54 aa) Sexuelle Identität als Ausdruck der Menschenwürde Als justiziable Größe kommt der Gerechtigkeitsgedanke maßgeblich in der Positivierung der Menschenwürdegarantie zum Ausdruck, die im Rah­ men des allgemeinen Persönlichkeitsrechts einen besonderen Stellenwert besitzt. Ausgehend von der systematischen Stellung des Art. 2 Abs. 1  GG als Basisnorm sämtlicher grundrechtlicher Verbürgungen ist der Bezug zur individuellen Persönlichkeitsentfaltung gerade an die Menschenwürdegaran­ tie des Art. 1 Abs. 1  GG gekoppelt. Die Verbindung des allgemeinen Per­ sönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1  Abs. 1  GG wirkt schutzverstärkend55, indem sie der individuellen Persönlichkeitsentwicklung ihre Würdeerheblichkeit zuspricht.56 Nach der zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht entwickelten Sphärentheorie weist vor allem die Intimsphäre als Kernbereich privater Lebensgestaltung eine ganz besondere Nähe zur Menschenwürde auf.57 Sie schützt einen Raum, der sich grundsätzlich der rechtlichen Ausgestaltung und tatbestandlicher Erfassung entzieht.58 Einen ganz wesentlichen Schutzgegenstand der Intim­ sphäre bildet wiederum die Sexualsphäre.59 Sexuelle Ausrichtung und Menschenwürdekern sind über die Identität einer Person eng miteinander verflochten, sodass die sexuelle Identität vorrangig in dem Menschenwürde­ gehalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu verorten ist.60 Der typische 54  Dazu

schon oben Teil  2  C.  IV. in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl., § 148 Rn. 32. 56  Kube, in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl., § 148 Rn. 23 ff., insb. Rn. 31 f. 57  Epping, Rn. 648; Geminn/Roßnagel, JZ  2015, 703 (705). 58  BVerfGE  109, 279 (313); 119, 1 (29 f.); P. Kirchhof, FÜR  2001, 436 (438). 59  Benda, in: Festschrift für W.  Geiger, S. 23 (32). 60  Risse, S. 61 f. Fehl gehen insofern die Ausführungen bei Schüffner, S. 376 f., der gleichgeschlechtlichen Beziehungen einen Schutz durch das allgemeine Persön­ lichkeitsrecht mit dem Argument eines „Aktivitätspotenzials“ absprechen will. Da die Paare aus dem privaten Bereich hinaustreten, liege eine nach außen bekundete 55  Kube,



B. Dynamisierungsprozess  1187

Anwendungsfall des allgemeinen Persönlichkeitsrechts besteht geradezu im Schutz von Sexualität.61 An diesem Punkt ist nun auch der medizinische Erkenntnisfortschritt62 im Bereich von Homosexualität in die verfassungsrechtliche Reflexion zu überführen. Als bestimmte Ausprägung menschlicher sexueller Identität ist Homosexualität als prädispositives Persönlichkeitsmerkmal zu behandeln. Über die sexuelle Identität als Persönlichkeitsmerkmal kann der Einzelne nicht verfügen, sie ist nicht wählbar.63 Diese Erkenntnis überholt das bis­ herige Verständnis von Homosexualität und gleichgeschlechtlichen Partner­ schaften. Eine Strafbarkeit homosexueller Lebensweisen erfolgte ursprüng­ lich unter moralischen Gesichtspunkten, Homosexualität wurde zu diesem Zeitpunkt noch als frei beeinflussbare, als eine frei wählbare Verhaltenswei­ se verstanden. Der medizinische Kenntnisstand der heutigen Zeit hat diese Vorstellung des historischen Verfassungsgebers wiederlegt. Gibt der medizinische Fortschritt Anlass zur Rejustierung des bisherigen rechtlichen Umgangs mit einer bestimmten Tatsache bzw. mit bestimmten Verhaltensweisen, hat dieser umso größere Bedeutung, je mehr er bestimm­ te Persönlichkeitsmerkmale als menschliche Prädispositionen in ein neues Licht rückt, die zugleich Ausfluss menschlicher Würde sind. Die Achtung der Menschenwürdegarantie erweist sich als zwingender Dynamisierungs­ faktor, wenn zeitgemäße Gerechtigkeitsvorstellungen und wissenschaftliche Erkenntnisgewinne menschliche Prädispositionen zum Gegenstand haben. Bei der nunmehr belegten Verwurzelung der sexuellen Identität als prädis­ positives Persönlichkeitsmerkmal in der Menschenwürdegarantie handelt es sich geradezu um ein Paradebeispiel für einen notwendigen grundrechtli­ chen Anpassungsbedarf, dient sie doch dem Schutz personaler Identität, auf die das Individuum keinen willentlichen Einfluss nehmen kann. bb) Verwurzelung von sexueller Identität und Partnerschaftsform In einem unmittelbaren Zusammenhang mit der sexuellen Identität des Einzelnen muss auch seine Entscheidung für eine bestimmte Form partner­ Aktivität vor. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt nach seiner Ansicht indes nur die private Integrität. Bei einer solchen Konzeption wird verkannt, dass es nicht auf das Hinaustreten aus dem privaten Bereich, sondern vielmehr auf die Tatsache ankommt, dass die sexuelle Identität besonders eng mit der Menschenwürde ver­ zahnt und Teil  der identitätsstiftenden Persönlichkeitsmerkmale ist. 61  BVerfGE  47, 46 (73 f.); 60, 123 (134); 88, 87 (97); 119, 1 (29 f.); vgl. auch Epping, Rn. 648. 62  Dazu oben Teil  4  B.  II.  1. 63  Bruns, ZRP  1996, 6 (8).

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

schaftlichen Zusammenlebens gesehen werden. Die sexuelle Identität be­ dingt geradezu die Partnerwahl, sie ist zwangsläufige Konsequenz der sexu­ ellen Identität eines Menschen: Während heterosexuelle Menschen nur eine Partnerschaft mit einer Person des anderen Geschlechts eingehen können, ist dies bei homosexuellen Menschen eine Person des gleichen Geschlechts. Sexuelle Identität und Partnerschaftsform sind untrennbar miteinander ver­ bunden. Dies trifft in gleicher Weise auf die Wahl einer institutionellen Partner­ schaftsform zu. Zwar verpflichten in der Tat weder die Ehe noch die einge­ tragene Lebenspartnerschaft zur Geschlechtsgemeinschaft64, sodass unter rein formellen Gesichtspunkten sowohl heterosexuelle Menschen gleichen Geschlechts eine eingetragene Lebenspartnerschaft als auch homosexuelle Menschen verschiedenen Geschlechts eine Ehe begründen können.65 Eine solch oberflächliche Betrachtung verhaftet jedoch zu sehr an Formalia und verkennt die Realität.66 Letztlich spiegelt sich nämlich in den Oberbegrif­ fen „Ehe“ und „eingetragene Lebenspartnerschaft“ jeweils die Beziehung zweier Menschen wider, die sich entweder durch ihre Verschiedenge­ schlechtlichkeit oder Gleichgeschlechtlichkeit und damit durch ihre sexuelle Ausrichtung auszeichnet.67 Selbst beim Ausbleiben der ehelichen Privilegi­ en werden homosexuell ausgerichtete Menschen wohl kaum eine Ehe mit einem verschiedengeschlechtlichen Partner eingehen.68 Genauso abwegig erscheint andersherum die Möglichkeit, dass zwei heterosexuelle Menschen desselben Geschlechts  –  jedenfalls angesichts der öffentlichen Wahrneh­ mung als „Homo-Ehe“  – eine Lebenspartnerschaft begründen.69 Die Ent­ scheidung für eine Ehe oder eine eingetragene Lebenspartnerschaft sind also kaum trennbar mit der sexuellen Identität des Einzelnen verbunden. Dies entspricht auch der Intention des Gesetzgebers70, stand diesem doch klar vor Augen, mit der Einführung der eingetragenen Lebenspartnerschaft bestehende Diskriminierungen gegenüber homosexuellen Menschen abzu­ 64  Für die eingetragene Lebenspartnerschaft wird eine solche Rechtspflicht ver­ neint, vgl. Kemper, in: Bruns/ders., § 1 Rn. 6, § 2 Rn. 15. Ob sie dagegen für die Ehe besteht, ist umstritten. Die Beantwortung kann jedoch dahinstehen, da die Verletzung einer solchen Pflicht ohnehin „kein Gegenstand eines Herstellungsverlangens“ sein kann, vgl. Hahn, in: Bamberger/Roth, BGB, § 1353 Rn. 9. Die Geschlechtsgemein­ schaft unterfällt der Intimsphäre des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Insofern be­ steht in beiden Instituten keine tatsächliche Pflicht zur Geschlechtsgemeinschaft. 65  Kemper, in: Bruns/ders., § 1 Rn. 6, § 2 Rn. 15. 66  BVerfGE  124, 199 (221); Wiemann, NJW  2010, 1427 (1428). 67  Mahlmann, EuZW  2008, 318 (319); Stüber, NJW  2006, 1775. 68  Bruns, NJW  2008, 1929 (1930). 69  Grünberger, FPR  2010, 203 (205). 70  Wiemann, NJW  2010, 1427 (1428).



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bauen und zur Anerkennung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften durch Staat und Gesellschaft beizutragen. Die sexuelle Identität des Einzelnen bedingt damit zwangsläufig die Entscheidung für die von ihm wählbare institutionelle Partnerschaftsform. Sexuelle Identität und Partnerschaftsform sind miteinander verwurzelt. Die Freiheit der Eheschließung wird als eines der wesentlichen Men­ schenrechte angesehen.71 Werden nun homosexuelle Menschen vom Zugang zur Ehe ausgeschlossen und stattdessen auf ein eigenständiges Rechtsinstitut verwiesen, ist im Umkehrschluss die Freiheit zur Begründung einer status­ rechtlichen Partnerschaft nach diesem Institut ebenfalls als wesentliches Menschenrecht zu behandeln. Eine Besserstellung einer in der Würde des Menschen verankerten Prädisposition gegenüber einer selbigen lässt sich anderenfalls mit der Verfassung und der an der Spitze der Verfassung ste­ henden Menschenwürdegarantie nicht in Einklang bringen. cc) Minderheitenschutz homosexueller Menschen und staatliches Toleranzgebot Weitere Ausprägung der Menschenwürdegarantie stellen der Schutz ge­ sellschaftlicher Minderheiten und die staatliche Toleranzverpflichtung zu ihren Gunsten dar.72 Beide wirken ebenfalls als Dynamisierungsfaktor eines grundrechtlichen Dynamisierungsprozesses, wenn bei historischer Betrach­ tung die entsprechende staatliche Schutz- und Förderverpflichtung zuguns­ ten der betroffenen Minderheit bisher nur unzureichend umgesetzt wurde. Der verfassungsrechtliche Schutz homosexueller Menschen sowie der spezifische Schutz der von ihnen eingegangenen gleichgeschlechtlichen Partnerschaften betreffen im Kern die Schutzgewährleistung zugunsten einer gesellschaftlichen Minderheit.73 Der medizinische Erkenntnisgewinn hin­ sichtlich der Einstufung der sexuellen Identität als prädispositives Merkmal macht deutlich, dass homosexuelle Veranlagungen von Geburt an einen Menschen prägen, er hierauf keinen Einfluss hat. Zwar kann der Anteil homosexueller Menschen an der Gesamtbevölkerung nach wie vor nur ge­ schätzt werden. Er soll jedoch zwischen zwei und zehn Prozent liegen – be­ troffen wären nach der gegenwärtigen deutschen Bevölkerungszahl ca. 1,6 Mio. bis 8 Mio. Menschen –, wobei die Schwankungen auf unterschied­ liche Erhebungsmethoden zurückzuführen sind.74 58 (68); auch Zuleeg, NVwZ  1986, 800 (801). oben Teil  2  C.  IV.  1. 73  Zu diesem Aspekt Pierlings, in: Menzel/Müller-Terpitz, S. 706 (712 f.). 74  Verweise auf Studien bei Schüffner, S. 45. 71  BVerfGE  31, 72  Dazu

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

Zugunsten homosexueller Menschen, die zu Zeiten des Nationalsozialis­ mus verfolgt und entwürdigt wurden, streitet Art. 1 Abs. 1  GG dementspre­ chend für eine besondere staatliche Fürsorge- und Toleranzpflicht. Die Ge­ setzesbegründung zum LPartG bringt deutlich das Bestreben des Gesetzge­ bers zum Ausdruck, dieser gesteigerten, historisch vernachlässigten Fürsor­ gepflicht gerecht zu werden. So soll das Rechtsinstitut der eingetragenen Lebenspartnerschaft schließlich dazu beitragen, bestehende Diskriminierun­ gen homosexueller Menschen zu mindern.75 Mit diesem politischen Schritt wollte der Gesetzgeber nicht nur dem Wunsch homosexueller Paare nach­ kommen, ein der Ehe vergleichbar verbindliches Rechtsinstitut als Förde­ rung der Persönlichkeit zu schaffen76, sondern leistete überhaupt erstmals einen wesentlichen Beitrag zur gesellschaftlichen Anerkennung und Toleranz im Umgang mit Homosexualität, die zugleich bestehende Vorurteile und Stigmatisierungen abbaut. 3. Folgen der tatbestandlichen Dynamik Der Art. 1 Abs. 1  GG entspringende Schutz der sexuellen Identität und dem Leben in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft sowie die verfas­ sungsrechtliche Fürsorgepflicht zugunsten der homosexuellen Minderheit tragen als Dynamisierungsfaktoren zu einer tatbestandlichen Dynamik in­ nerhalb des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bei. Trotz seiner Eigenschaft als retardierender Grundrechtstatbestand hat die Berücksichtigung der Dy­ namisierungsfaktoren eine tatbestandliche Erweiterung zur Folge, insbeson­ dere die Verwurzelung der sexuellen Identität in der Menschenwürde als prädispositives Persönlichkeitsmerkmal lässt in diesem speziellen Fall kei­ nen Raum für ihre Abwägung gegenüber möglichen anderen Schutzpositio­ nen. Menschenwürde ist gegen die Menschenwürde anderer nicht abwägbar. So kann ausnahmsweise auch die Wahrung von Verfassungskontinuität an­ gesichts der besonderen Persönlichkeitsrelevanz und engen Anbindung zur Menschenwürdegarantie eines Lebens in einer gleichgeschlechtlichen Part­ nerschaft keinen abwägungsrelevanten Belang begründen. Aus diesem Be­ fund resultiert die Notwendigkeit des Einsetzens eines grundrechtlichen Dynamisierungsprozesses in Form einer tatbestandlichen Erweiterung des Schutzbereichs von Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1  GG um gleichge­ schlechtliche Partnerschaften.

75  BT-Drucks.  14/3751, 76  So

(325 f.).

S. 33. die Stellungnahme der rot-grünen Bundesregierung in BVerfGE  105, 313



B. Dynamisierungsprozess  1191

a) Persönlichkeitsrelevanter Schutzanspruch gleichgeschlechtlicher Partnerschaften In der verfassungsrechtlichen Reflexion eines verfassungsrechtlichen Schut­zes von Homosexualität und gleichgeschlechtlichen Partnerschaften sind beide nunmehr als persönlichkeitsrelevante Schutzpositionen  –  ange­ sichts der durch Dynamisierungsprozesse der Lebenswirklichkeit überholten historischen Ausgangssituation – im Tatbestand des allgemeinen Persönlich­ keitsrechts anzusiedeln.77 Geschützt sind damit die homosexuelle Identität eines Individuums sowie die damit im Zusammenhang stehende Entschei­ dung für das Eingehen einer gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft.78 Unmittelbare Folge des tatbestandlichen Einbezugs ist das Entstehen eines subjektiven Abwehrrechts der betroffenen Personen sowie ein an den Ge­ setzgeber gerichteter Auftrag zur Gewährleistung eines effektiven verfas­ sungsrechtlichen Schutzes zugunsten homosexueller Menschen. Wenn es sich um Gesetze handelt, die sich auf die tatsächliche Bildung homosexuel­ ler Lebensgemeinschaften negativ auswirken, dann hat der Staat den Erlass entsprechender Eingriffsgesetze zu unterlassen. Er hat sie im Sinne des Art. 1 Abs. 1 Satz  2  GG „zu achten und zu schützen“. Einen verfassungs­ rechtlichen Minimalschutz gebietet stets das Untermaßverbot. Im Bereich der staatlichen Schutzpflichten gilt es als ein allgemein anerkannter Maßstab und verlangt lediglich einen irgendwie gearteten, nicht völlig unzureichen­ den Schutz. Eine evidente Verfehlung staatsrechtlicher Schutzpflichten liegt allein dann vor, wenn der Staat Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen hat oder getroffene Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen.79 Oberhalb dieser Schwelle ist die staatliche Betätigung wiederum frei.80 Dem Gesetz­ geber steht insbesondere eine Einschätzungsprärogative zu.81 Der rechtliche Individualschutz eines eingetragenen Lebenspartners be­ zieht sich zunächst nur auf die eigene Identität. Zusätzlich greift er als Reflex auch auf den Lebenspartner über, sodass das allgemeine Persönlich­ keitsrecht sowohl die eingetragenen Lebenspartner als originäre Grund­ rechtsträger als auch deren Lebenspartnerschaftsverhältnis erfasst.82 77  Den Einbezug von Homosexualität in den Schutz der freien Entfaltung der Persönlichkeit bejahend Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Abs. 1 Rn. 47; Risse, S. 60 f.; Freytag, DÖV  2002, 445 (446). 78  Risse, S. 61; Jarass, NJW  1989, 857 (859); A. Klein, FPR  2001, 434 (435); Bruns, ZRP  1996, 6 (7). 79  BVerfGE  88, 203 (254). 80  Epping, Rn. 129. 81  BVerfGE  49, 89 (131). 82  B. Klein, Das neue Eheverbot, S. 148; Eichenhofer, FamFR  2010, 416 (417).

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

b) Originärer verfassungsrechtlicher Leistungsanspruch auf tatsächliche Schaffung eines statusrechtlichen Instituts Ob der Gesetzgeber weiterhin womöglich sogar von Verfassungs wegen zur Schaffung eines eigenständigen statusrechtlichen Instituts für gleichge­ schlechtliche Paare  –  so wie es sich beispielsweise bei der „eingetragenen Lebenspartnerschaft“ um ein solches handelt  – verpflichtet ist, betrifft eine vom Untermaßverbot zu trennende Fragestellung. Es geht hierbei nicht mehr um die Anerkennung eines allgemeinen Schutzes für ein Leben in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft als persönlichkeitsrelevanter Be­ lang, sondern um ein aktives Tätigwerden des Staates, ein verfassungsrecht­ licher Anspruch auf Institutionalisierung einer statusrechtlichen Partner­ schaftsform für gleichgeschlechtliche Paare. Originäre verfassungsrechtliche Leistungsrechte können jedoch grundsätzlich in nur wenigen Ausnahmefäl­ len zur Gewährung konkreter Leistungen oberhalb der Schwelle des Unter­ maßverbotes verpflichten. Denkbar sind derart weitreichende Leistungsan­ sprüche einzig dann, wenn im Falle eines Ausbleibens der bisher noch nicht gewährten Leistung ein evidenter verfassungswidriger Zustand aufrecht er­ halten bleibt.83 So wurde ein solcher Leistungsanspruch bislang einzig bei der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums84 ange­ nommen, ist diese doch essentieller Ausfluss menschlicher Würde.85 Auch im Falle eines verfassungsrechtlichen Leistungsanspruchs auf Schaffung eines statusrechtlichen Instituts für gleichgeschlechtliche Paare lässt sich das Vorliegen einer solchen Sonderkonstellation erwägen. Die sexuelle Identität des Einzelnen als prädispositives Persönlichkeitsmerkmal ist unmittelbarer Ausdruck der Menschenwürde. Sie determiniert ferner den Zugang zu einer bestimmten Partnerschaftsform, welche ein Mensch auf­ grund seiner sexuellen Identität einzugehen in der Lage ist. Sexuelle Iden­ tität und die Wahl einer Partnerschaftsform sind auf unabänderliche Weise miteinander verwurzelt. Die Entfaltung durch das Leben in einer status­ rechtlich abgesicherten Partnerschaft ist als wesentliches Menschenrecht einzuordnen, das einen bedeutsamen Anteil für die Persönlichkeitsentfaltung leistet. Das Zusammenleben in einer partnerschaftlichen Beziehung stillt ein anthropologisches Grundbedürfnis. In der Tat ist es angesichts des naturge­ mäßen Zusammenhangs von sexueller Identität und Partnerwahl sowie vor dem Hintergrund des menschlichen Bedürfnisses nach einer umfassenden Bindung daher naheliegend, einen originären leistungsrechtlichen Gehalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts auf tatsächliche Schaffung eines 83  Epping,

Rn. 16. 60 (85); 125, 175 (222). 85  Epping, Rn. 597. 84  BVerfGE  82,



B. Dynamisierungsprozess  1193

status­rechtlichen Instituts für gleichgeschlechtliche Paare anzunehmen.86 Ein so verstandenes originäres Leistungsrecht, das auch bei verschiedenge­ schlechtlichen Beziehungen in gleichem Maße Anwendung finden muss, ist Ausdruck eines verfassungsrechtlich verbürgten, unmittelbar aus der Men­ schenwürde herrührenden Anspruchs auf ein menschenwürdiges Leben in einer rechtlich abgesicherten Partnerschaft.

IV. Art. 6 Abs. 1 GG als materielle Dynamisierungsgrenze Die Reichweite grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse bemisst sich nach materiellen verfassungsimmanenten Grenzen, die eine tatbestandliche Sinnerweiterung gänzlich untersagen oder jedenfalls in ihrer Reichweite einschränken können.87 Zu den materiellen Dynamisierungsgrenzen gehö­ ren insbesondere auch die in normgeprägten Grundrechten verankerten Einrichtungsgarantien. Diese beinhalten absolute Strukturvorgaben, über die sich der Ausgestaltungsgesetzgeber bei der Ausgestaltung des Schutzbe­ reichs  – im Innenverhältnis  – nicht hinwegsetzen kann. Die Strukturmerk­ male strahlen darüber hinaus als äußere Grenze der in Schutz genommenen Einrichtung in die gesamte Rechtsordnung aus und statuieren auf diese Weise ein bei jeder staatlichen Betätigung zu wahrendes Beeinträchtigungs­ verbot der institutionellen Strukturvorgaben.88 Auch der hier im Raum stehende grundrechtliche Dynamisierungsprozess im Tatbestand des allgemeinen Persönlichkeitsrechts unterliegt somit mate­ riellen Dynamisierungsgrenzen. Insbesondere könnte der tatbestandlichen Erweiterung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zugunsten der Schutzpo­ sitionen für gleichgeschlechtliche Paare aufgrund ihrer Sachnähe die im normgeprägten Grundrechtstatbestand des Art. 6 Abs. 1  GG inkorporierte Institutsgarantie entgegenstehen.89 Mögliche Folgen wären gegebenfalls ein aus Art. 6 Abs. 1  GG herrührendes Verbot oder jedenfalls eine Beschrän­ kung hinsichtlich der tatbestandlichen Reichweite einer verfassungsrechtli­ chen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften als persönlich­ 86  So auch Berning, in: Becker/Lange, Bd. 3, S. 167 (173 f.); Beck, NW  2001, 1894 (1895). Aus Art. 3 Abs. 1  GG leitet indes Grünberger, FPR  2010, 203 (204) einen Anspruch her. 87  Zur Begrenzung der Dynamisierungsprozesse oben Teil  3  C. 88  Siehe oben Teil  3  C.  III.  2.  b). 89  Art. 79 Abs. 3  GG ist für die Frage des tatbestandlichen Einbezugs gleichge­ schlechtlicher Partnerschaften in den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeits­ rechts ohne Relevanz, verstößt dieser jedenfalls doch nicht gegen die Menschenwür­ de. Dies gilt auch hinsichtlich der Eigenschaft von Art. 19 Abs. 2  GG, jedenfalls in einer solchen Leseart, die den Wesensgehalt auf den Menschenwürdegehalt reduziert, vgl. dazu Teil  3  C.  II.

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

keitsrelevanter Schutzgehalt von Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG. Dies gilt in gleicher Weise für die Anerkennung eines originären Leistungsan­ spruchs auf Institutionalisierung einer gleichgeschlechtlichen Partnerschafts­ form. Die Behandlung von Art. 6 Abs. 1  GG in seiner Eigenschaft als ma­ terielle Dynamisierungsgrenze erfolgt dabei bereits bewusst an dieser Stelle in umfassender Weise, um die verschiedenen Facetten dieser in jeglicher Hinsicht besonderen Verfassungsnorm im Gesamtkontext aufzuzeigen. Auch bei den weiteren, an späterer Stelle erörterungsbedürftigen Dynamisierungs­ prozessen im Dynamisierungsbereich „gleichgeschlechtliche Partnerschaf­ ten“ spielt die Eigenschaft des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie als mögliche materielle Dynamisierungsgrenze eine wichtige Rolle. Die umfassende Aufarbeitung der Eigenschaft als Dynamisierungsgrenze bereits in diesem Kapitel soll dort einer entzerrten Darstellung vorbeugen, bei der jeweils nur fragmentarische Aspekte beleuchtet würden. Nicht ohne Grund wird Art. 6 Abs. 1  GG aus verfassungsdogmatischer und -methodischer Perspektive als eine der großen Herausforderungen im Grundrechtskatalog90, als ein bemerkenswerter Verfassungssatz91 bezeich­ net. Der verfassungsrechtliche Schutz von Ehe und Familie besitzt einen mehrdimensionalen Charakter92 und enthält einen normgeprägten Tatbe­ stand  –  die Voraussetzungen von Ehe und Familie sind im Recht nicht a priori vorgefunden, sondern müssen erst im Wege einfacher Gesetzgebung geschaffen bzw. näher konturiert werden93. Die Vorschrift beinhaltet zudem nicht nur ein klassisches subjektives Abwehrrecht, das zur Abwehr staatli­ cher Eingriffe in den Schutz von Ehe und Familie dient94, sondern darüber hinaus eine, jeweils den Kernbestand von Ehe und Familie wahrende, Ins­ titutsgarantie. Sie entfaltet weiterhin Wirkung als objektiv-rechtliche Wert­ entscheidung für den gesamten Bereich des die Ehe und Familie betreffen­ den Rechts.95 In ihrer Eigenschaft als materielle Dynamisierungsgrenze des 90  Steiner,

in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. IV, § 108 Rn. 1. NJW  2003, 993 (994). 92  Vgl. v. Campenhausen, VVDStRL  45 (1987), S. 7 (25); Burgi, Der  Staat  39 (2000), S. 487 (495); Friauf, NJW  1986, 2595 (2599). Die Charakterisierung als „mehrdimensional“ ist in der Sache für sich genommen indes irreführend, vermittelt sie doch keinen weitergehenden Schutz als sie bereits in der subjektiv-rechtlichen Dimension und der objektiv-rechtlichen Dimension zum Schutz von Ehe und Fami­ lie enthalten ist, vgl. Ipsen, in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, § 154 Rn. 7; Herzmann, JURA  2015, 248 (259). Vielmehr ist diese Zwei­ dimensionalität eines subjektiven und objektiven Schutzes allen Grundrechten eigen. 93  Gusy, JA  1986, 183 (183). 94  BVerfGE  6, 55 (71); v. Campenhausen, VVDStRL  45 (1987), S. 7 (27 f.); Gusy, JA  1986, 183 (188 f.); Schüffner, S. 205 ff. m. w. N. 95  St. Rspr., vgl. bereits BVerfGE  31, 58 (69); bestätigend Badura, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 6 Rn. 6 ff.; Coester-Waltjen, in: I.  v.  Münch/Kunig, GG, Art. 6 91  Di Fabio,



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eingesetzten grundrechtlichen Dynamisierungsprozesses im Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts kommt allein den beiden zuletzt ge­ nannten Dimensionen des verfassungsrechtlichen Eheschutzes eine zentrale Bedeutung zu. Nicht nur finden der normgeprägte Grundrechtstatbestand des Art. 6 Abs. 1  GG und die aus dieser Eigenschaft resultierenden rechts­ politischen Ausgestaltungsentscheidungen96 ihre Grenze in den Institutsga­ rantien von Ehe und Familie. Die Strukturmerkmale der Institutsgarantien von Ehe und Familie entfalten darüber hinaus eine Wirkung im Außenver­ hältnis als materielle Grenze, die nicht die konkrete tatbestandliche Ausge­ staltung von Art. 6 Abs. 1  GG, sondern jeden grundrechtlichen Dynamisie­ rungsprozesses jenseits von Art. 6 Abs. 1  GG betreffen. Diese Ausstrah­ lungswirkung wird überhaupt erst durch das strukturelle Zusammenspiel der Institutsgarantien mit der objektiv-rechtlichen Dimension von Ehe und Fa­ milie als umfassende rechtliche Wertentscheidung möglich. 1. Eheinstitutsgarantie a) Die Eheinstitutsgarantie als entmaterialisierter Funktionsschutz Grundsätzlich orientieren sich die inhaltlichen Kriterien der Struktur­ merkmale  –  ihrer dogmatischen Natur entsprechend  – an den Funktionen der in Schutz genommenen Einrichtung. Sie stellen damit einen umfassenden Funktionsschutz sicher.97 Der Sache nach müssten somit auch die herkömmlicherweise aufgeführten Strukturmerkmale des Art. 6  Abs. 1  GG funktionssichernd wirken, indem sie die vom historischen Verfassungsgeber der Ehe und Familie intendierten Aufgaben bewahren. Nun wird jedoch teilweise behauptet, der verfassungsrechtliche Schutz des Art. 6 Abs. 1  GG gehe ausnahmsweise über einen reinen Funktions­ schutz hinaus, indem er eine einzigartige Stellung im grundrechtlichen Gefüge einnehme. Er beinhalte gar einen substantiellen Schutz98, der aus einem speziellen, der Norm zugrundliegendem Leitbild99 folge, sodass der besondere Schutz von Ehe und Familie als übergeordnete, vorrechtliche Rn. 1; Papier, NJW 2002, 2129 (2129 f.); v. Campenhausen, VVDStRL 45 7 (25 ff.); Robbers, in: v.  Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Abs. 1 Rn. 8; Henrich, in: Fest­ schrift für P.  Lerche, S. 239 (239). 96  Zur tatbestandlichen Dynamik normgeprägter Grundrechtstatbestände oben Teil  3  B.  II. 97  Dazu oben Teil  3  C.  III.  3. 98  Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 6 Rn. 38 f. 99  Dazu näher Germann, VVDStRL  73 (2013), S. 257 (266 ff.).

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

Leitnorm mit Direktivwirkung fungiere100 und einen materialisierten Subs­ tanzschutz fordere.101 Im Ehebegriff seien traditionell die Strukturmerkmale der Einehe, die Verschiedengeschlechtlichkeit der Partner, die grundsätzliche Unauflösbarkeit der Ehebindung sowie die staatliche Mitwirkung an der Eheschließung als absolute materialisierte Vorgaben enthalten.102 Vornehmlich Badura führt an, dass es sich bei dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie um eine übergeordnete Leitnorm handele, de­ ren besonderer Schutz den von ihr erfassten Lebensgemeinschaften gelte, so wie sie sich aus langer Tradition als überkommene Institute103 etabliert hätten.104 Von ihrer Genese gingen vorrechtliche direktive Vorgaben aus, die das Fundament des Art. 6  Abs. 1  GG beeinflussten. Ein Rechtfertigungs­ grund dieser einzigartigen verfassungsdogmatischen Sonderbehandlung sei aus dem ungewöhnlichen Wortlaut zu folgern, wonach Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz des Staates stehen105. Zugunsten dieser Posi­ tion ließe sich nicht zuletzt die Äußerung des Ausschutzvorsitzenden von Mangoldt (CDU) im Parlamentarischen Rat anführen, wonach die verfas­ sungsrechtliche Ausgestaltung des Schutzes von Ehe und Familie vom Be­ zug auf die überlieferten Grundzüge von Ehe und Familie abzuleiten sei.106 Der Schutz der Lebensgemeinschaften in ihrer Substanz würde somit über einen Funktionsschutz hinausgehen. Die gewachsenen Leitbilder, wie sie zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Grundgesetzes im Jahre 1949 bestan­ den, würden die Ehe dann als unauflösliche, monogame Verbindung von Mann und Frau kennzeichnen. Konsequenterweise müsste wohlbemerkt auch die Aufrechterhaltung der ehelichen Rollenverteilung hinzu gezählt 100  Noch offen gelassen bei BVerfGE  29, 166 (176). Die Formulierung „Auch wenn man in Art. 6 Abs. 1 GG eine Grundrechtsnorm mit übergesetzlichem und vorstaatlichem Inhalt sieht, […]“ ist eher hypothetisch als feststellend. 101  So bspw. Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 6 Rn. 38 f.; Burgi, in: Friauf/ Höfling, GG, Stand  2002, Art. 6 Rn. 17; Risse, S. 216 ff. Diesen entscheidenden Unterschied übersieht B. Klein, Das neue Eheverbot, S. 9 f. 102  BVerfGE  105, 313 (345). 103  Die verfassungsdogmatische Figur der Institutsgarantie ist abzugrenzen von der oftmals im Alltag gebräuchlichen Bezeichnung der Ehe als „Institut“. Trotz der gleichlautenden Terminologie meint diese allgemeine Bezeichnung lediglich den gesamten Normenkomplex, in dem das Statusverhältnis der Partner verrechtlicht ist, also sämtliche einfach-rechtlichen Vorschriften, die Regelungen für Ehepartner vor­ sehen, vgl. Koschmieder, JA  2014, 566 (567). 104  Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 6 Rn. 38, Badura, in: Bitburger Gesprä­ che, Jahrbuch 2001, S. 87 (91 f.). 105  Badura, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 2001, S. 87 (88); zweifelnd Classen, DVBl.  2013, 1086 (1089). 106  Abgeordneter und Ausschussvorsitzender v. Mangoldt (CDU), vgl. Deutscher Bundestag/Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/II, S. 827.



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werden, denn auch sie entsprach der damals überkommenen Vorstellung von Ehe und Familie107. Das Verständnis des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie im Sinne eines absoluten, vorrechtlichen Substanzschutzes speist sich also aus den ideengeschichtlich gewachsenen Strukturen von Ehe und Familie, dergestalt sie bei Erlass des Grundgesetzes unter dem maßgeblichen Einfluss christlicher Dogmen vorgefunden wurden. An dieser Stelle begegnet die Be­ gründung des besonderen Schutzes von Ehe und Familie allein mithilfe ihrer historisch überkommenen Evolution jedoch unter verfassungs- und demokra­ tietheoretischen Erwägungen erheblichen Zweifeln.108 Ein an der Vergangen­ heit verhaftetes Verständnis birgt in ganz besonderem Maße die Gefahr, dass es zu einem Auseinanderfallen von Verfassungsrecht und Lebenswirklichkeit kommt.109 Es beinhaltet eine besondere Anfälligkeit für die statische Auf­ rechterhaltung stereotyper Vorstellungen110, die keinen Raum für einen zeit­ gemäßen Überholungsbedarf vorsehen. Materialisierte Orientierungsvorga­ ben können zwar aufgrund ihres geschichtlichen Überdauerns zur kulturellen Stabilisierung beitragen, ist die Ordnungsvorgabe indes von Dynamisierungs­ prozessen der Lebenswirklichkeit überholt, wirkt sie gerade nicht mehr als Integrations-, sondern als destabilisierender Störfaktor der Gesellschaft.111 Verwunderlich ist zunächst einmal, warum ausschließlich im Rahmen des Art. 6 Abs. 1  GG materielle Bezugnahmen auf die Existenz überrechtlicher normativer Wertvorgaben erfolgen, währenddessen eine solche Konzeption bei anderen Institutsgarantien überhaupt nicht zur Diskussion steht. Inkon­ sequent ist dies vor allem mit Blick auf die ebenfalls normgeprägte Bestim­ mung des Art. 14  GG. Nach der überwiegenden Meinung in der Literatur sind die konstitutiven Inhalte der Eigentumsgarantie  –  vorbehaltlich der damit verbundenen normhierarchischen Bedenken  – aus ihren Definitionen innerhalb der einfach-gesetzlichen Rechtsordnung zu ermitteln.112 Demge­ 107  Vgl. BVerfGE  17, 1 (18) und insbesondere die Äußerung des Abgeordneten Süsterhenn (CDU), vgl. Deutscher Bundestag/Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/II, S. 643. Ein Wandel findet seine Vollendung erst später in der zweiten Entscheidung zur Witwerrente, BVerfGE  39, 169 (182 ff.). Ausführlich zur Recht­ sprechungsänderung Seyfarth, S. 108 ff. 108  Kritisch hierzu auch Bumke, in: Bucerius Law School, S. 155 (159); zum zeitgeprägten Verfassungsverständnis ausführlich oben Teil  2 A.  III.  2. 109  Dazu schon oben Teil  2 A.  III.  2. 110  Germann, VVDStRL  73 (2013), S. 257 (273). 111  Zippelius, Verhaltenssteuerung durch Recht und kulturelle Leitideen, S. 21, 37 f.; Wasmuth, Der Staat 40 (2002), S. 47 (63): „Der Topos der Exklusivität der Ehe schützt demgegenüber ein vornehmlich kirchlich geprägtes Vorurteil, das im der Toleranz verpflichteten Rechtsstaat als Unwerturteil einzustufen ist.“ 112  Zu diesem Dilemma Jasper, DÖV  2014, 872 (874 ff.).

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

genüber wird mit Blick auf die Gehalte von Ehe und Familie derselbe Vorgang eines Anknüpfens an einfach-rechtliche Definitionen regelmäßig entschieden abgelehnt. Die vermeintliche Sonderbehandlung des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie dient offenbar der Zementierung christlich-theologi­ scher Moralvorstellungen durch die dahinterstehenden Gruppen.113 Ein his­ torischer Überblick über die Entwicklung von Ehe und Familie verdeutlicht indes, dass  –  anders als die gebräuchlichen Termini „überkommen“ und „vorrechtlich“ suggerieren  – das in Bezug genommene christlich-abendlän­ dischen Verständnis in seiner geschichtlichen Entwicklung durchaus ver­ schiedene Ausprägungen erfahren hat.114 Vor allem das Institut der Ehe blickt auf eine lange rechtliche Tradition zurück, die viele kulturelle und religiöse Überlieferungen in sich aufgenommen hat.115 Das Fundament des Eheverständnisses im Parlamentarischen Rat, die von ihm in Bezug genom­ menen „überlieferten Grundzüge“ von Ehe und Familie, fußt zwar durchaus auf christlich-abendländischen Moralvorstellungen.116 Mit Einsetzen des 113  So auch v. Campenhausen, VVDStRL  45 (1987), S. 7 (11 f., 14); CoesterWaltjen, in: I.  v.  Münch/Kunig, GG, Art. 6 Rn. 3, welche im Falle einer allein an den sozialen und rechtlichen Gegebenheiten zur Entstehungszeit des Art. 6 Abs. 1 GG orientierte Begriffsbestimmung die Gefahr einer Petrifizierung der Institutionen sieht, der es vorzubeugen gelte. 114  Ideengeschichtlich reicht der verfassungsrechtliche Schutz der Ehe bis in die vorchristliche Zeit zurück, vgl. Brosius-Gersdorf, in: H. Dreier, GG, 3. Aufl., Art. 6 Rn. 1; ausführlich Schwab, Wertewandel und Familienrecht, S. 1 ff. Die Ehe war zu römischer und germanischer Zeit weniger ein Rechtsverhältnis als vielmehr eine sozi­ ale Lebensform, die allein auf dem Konsens der Eheleute beruhte und nicht zwingend von einem formellen Eheschließungsakt abhing, vgl. E.  v. Münch, in: Limbach/ Schwenzer, Familie ohne Ehe, S. 1 (3 f.); Stern, Staatsrecht, Bd. IV/1, S. 340 ff. Erst mit Beginn des Mittelalters nahm die Ehe allmählich ihre heute bekannte Form an, wofür vor allem der enorme Einfluss der christlichen Kirchen auf das Eheverständnis verantwortlich zeichnete, vgl. Kingreen, Die verfassungsrechtliche Stellung der nicht­ ehelichen Lebensgemeinschaft, S. 30 ff.; Schwab, Wertewandel und Familienrecht, S. 8 ff. Christliche Lehren betrachten die Ehe als eine in der Schöpfung angelegte, grundsätzlich unauflösbare, monogame Verbindung zwischen Mann und Frau, die vom gegenseitigen Konsens getragen ist, vgl. Brosius-Gersdorf, in: H. Dreier, GG, 3. Aufl., Art. 6 Rn. 1. Die Reformation lockerte zumindest die Voraussetzung der Unauflösbar­ keit in Ausnahmefällen wie dem Ehebruch, vgl. Rölli-Alkemper, S. 35, 38. Erst das Zeitalter der Aufklärung dämmte die Vorherrschaft der christlichen Großkirchen ver­ stärkt ein und erzielte den Durchbruch in Form der Einführung einer obligatorischen Zivilehe als verweltlichte bürgerlich-rechtliche Ehe. Die politische Obrigkeit, und da­ mit nicht mehr die christliche Heiligkeit, besaß nun die Kompetenz zur Ausgestaltung des Eherechts, vgl. Schwab, Wertewandel und Familienrecht, S. 13; Uhle, S. 262 f. 115  Seiler, in: Dolzer/Graßhof/Kahl/Waldhoff/Walter, BK-GG, Stand: Juli  2014, Art. 6 Rn. 66. 116  Zu den theologischen Standpunkten Spieker, in: Uhle, S. 11 (11 ff.); ferner Schüffner, S. 68 ff.



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Zeitalters der Aufklärung wurde die kirchliche Vorherrschaft in den Berei­ chen von Ehe und Familie hingegen durchaus zurückgedrängt. Insbesondere zeigt sich eine zunehmende Entwicklung des Ehebegriffs zu einem verstärkt individualistischen Verständnis der Ehe als privater Autonomie- und Intim­ bereich.117 Obgleich der Parlamentarische Rat christlich geprägt war, stand ihm kein materialisiertes Leitbild, sondern das Leitbild der „verweltlichen“ bürgerlich-rechtlichen Ehe vor Augen.118 Mit dem Grundgesetz wurde ein säkularer Staat geschaffen, verbunden mit einer gleichzeitigen Absage ge­ genüber religiösen Sichtweisen, die eine Auslegung der Grundrechte allein auf Basis religiöser Moralvorstellungen und Werte vornehmen wollen.119 Das Verbot genuin religiös-motivierter Verfassungsauslegung folgt nicht zuletzt aus der negativen Religionsfreiheit des Art. 4  Abs. 1  GG.120 Dass folglich aus der ideengeschichtlichen Entstehungsgeschichte eine einheitli­ che, naturrechtliche Direktive des Ehebegriffs abgeleitet werden könne, lässt sich in dieser Eindeutigkeit aus dem ideengeschichtlichen Verlauf nicht schlussfolgern. Die durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Institute erhalten somit ihre kon­ stitutive Bedeutung überhaupt erst Kraft des Rechts.121 Für das weltliche Verfassungsrecht besteht seit der Entsakralisierung des Rechts die Bewah­ rung eines übergeordneten, von einer göttlichen Ordnung vorgegebenen Wesens der Ehe kein Raum.122 Allenfalls lassen sich im gesellschaftlichen Konsens entstandene (christliche) Werte im Rahmen einer Leitbildfunktion berücksichtigen.123 Wenn ein bloßer Funktionsschutz nun teilweise mit dem Argument abgelehnt wird, er würde unakzeptable Spielräume für die Ver­ fassungsinterpretation öffnen124, verkennt dies nicht zuletzt auch die norma­ 117  Schwab, Familienrecht, § 7 Rn. 32; Stern, Staatsrecht, Bd. IV/1, S. 345 f.; Ramm, in: ders., Familienrecht. Verfassung, Geschichte, Reform, S. 121 (141 f.); Schwab, Wertewandel und Familienrecht, S. 14. Die verfassungshistorische Entwick­ lung zu einem verstärkt subjektiv-individualistischen Verständnis erwähnen auch Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/ders./Henneke, GG, Art. 6 Rn. 2; Steiger, VVD­ StRL  45 (1987), S. 55 (67). 118  BVerfGE  31, 58 (82 f.); siehe auch Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Abs. 1 Rn. 31; Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/ders./Henneke, GG, Art. 6 Rn. 14. 119  Deutlich: Michael/Morlok, Rn. 250: Eine Versteinerung christlicher Vorstel­ lungen widerspricht der religiösen Neutralität des Verfassungsrechts; ferner Sanders, FF  2012, 391 (395). 120  Wasmuth, Der  Staat  41 (2002), S. 47 (60 f.). 121  Bumke, in: Bucerius Law School, S. 155 (158 f.). 122  Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Abs. 1 Rn. 31. 123  In diesem Sinne wohl Seiler, in: Dolzer/Graßhof/Kahl/Waldhoff/Walter, BK-GG, Stand: Juli  2014, Art. 6 Rn. 66; ferner Schüffner, S. 145 ff. 124  So Burgi, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 6 Rn. 17.

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tive Kraft als integralen Bestandteil eines jeden grundrechtlichen Tatbe­ stands. Aus institutioneller Sichtweise besteht eine Vermutung zugunsten der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, denn der institutionelle Schutz soll die freiheitliche Perspektive nicht schwächen, sondern diese stärken.125 Freiheitsausübung und Institutsgarantie stehen in einer dualistischen Bezie­ hung und sind nicht gegeneinander auszuspielen.126 Daher ist der Inhalt der Institutsgarantie allein aus einem entmaterialisierten funktionalen Interpreta­ tionsansatz heraus zu ermitteln127, die dem Selbstverständnis der grund­ rechtlichen Freiheit entspricht. Der historische Verfassungsgeber wollte und konnte Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1  GG somit allein um ihrer Funktionen wegen unter verfas­ sungsrechtlichen Schutz stellen.128 Der Kernbereich der Institutionsgarantie bestimmt sich allein aus den wesentlichen Funktionen von Ehe und Familie und bleibt somit auch für den einfachen Gesetzgeber verbindlich.129 Die den Rechtsinstituten des Art. 6 Abs. 1  GG zugewiesenen Funktionen lassen sich in eine individuelle, eine gemeinschaftliche und eine Leitbildfunktionsebene unterteilen, die erst im Zusammenspiel das gesamte Schutzanliegen gemäß den Vorstellungen des historischen Verfassungsgebers wiederspiegeln. Sie beeinflussen sich wechselseitig.130 Mit Blick auf das hier verfolgte Anlie­ gen, die Eigenschaft von Art. 6 Abs. 1 GG als materielle Grenze grundrecht­ licher Dynamisierungsprozesse herauszuarbeiten, lässt sich daher zunächst einmal feststellen, dass die Grenzvorgaben allein den drei Funktionsebenen des Eheinstituts entspringen. Der Rekurs auf vermeintliche überrechtliche Vorgaben taugt hierzu nicht. Aufgrund ihrer begrenzenden Wirkung kommt es nunmehr entscheidend darauf an, sich die einzelnen Gehalte jeder Funk­ tionsebene näher vor Augen zu führen. 125  Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Abs. 1 Rn. 11 f.; Gröschner, in: H. Dreier, GG, 2. Aufl., Art. 6 Rn. 37. 126  Gröschner, in: H. Dreier, GG, 2. Aufl., Art. 6 Rn. 37; Pirson, in: Dolzer/Graß­ hof/Kahl/Waldhoff/Walter, BK-GG, Stand:  1996, Art. 6 Rn. 6 ff. 127  So auch Hwang, KritV 2014, 133 (145 ff.); Bumke, Ausgestaltung von Grund­ rechten, S. 34. 128  Besonders prägnant Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Abs. 1 Rn. 31; siehe ferner Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 506; Burgi, Der Staat 39 (2000), S. 487 (500); Freytag, DÖV 2002, 445 (450); Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 248; wohl auch Brosius-Gersdorf, in: H. Dreier, GG, 3. Aufl., Art. 6 Rn. 19, 50, 78; Stüber, FPR  2006, 117 (119); Möller, DÖV  2005, 64 (68); Steiger, VVDStRL  45 (1987), S. 55 (77). B. Klein, Das neue Eheverbot, S. 10 kommt ebenfalls zu diesem Ergebnis, nimmt allerdings keine konsequente Abgren­ zung zwischen dem überrechtlichen Gehalt und einem entmaterialisierten Funktions­ schutz vor. 129  Robbers, in: v.  Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Abs. 1 Rn. 2. 130  Robbers, in: v.  Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Abs. 1 Rn. 12.



B. Dynamisierungsprozess  1201

b) Individual-freiheitliche Funktion der Ehe Während der Verhandlungen im Parlamentarischen Rat rangen die ver­ schiedenen Lager lange Zeit über die Frage der rechtlichen Verbindlichkeit und Subjektivität der Vorschrift. In bewusster Abgrenzung zur Weimarer Reichsverfassung sollte der verfassungsrechtliche Schutz von Ehe und Fa­ milie gezielt in den Grundrechtskatalog des Grundgesetzes aufgenommen werden und damit mehr sein als ein bloßer Programmsatz.131 Diese indivi­ duell-rechtliche Funktion setzte sich im Parlamentarischen Rat ausdrücklich durch132, sodass die aus der Vorschrift fließenden subjektiven Rechte einen wesentlichen Bedeutungsgehalt von Art. 6 Abs. 1  GG konstituieren.133 Indem Art. 6 Abs. 1  GG den einfachen Gesetzgeber zur rechtlichen Aus­ gestaltung von Ehe verpflichtet, findet für diesen ein subjektiver Freiheits­ gewinn statt, der mit der Auflösung der Institute verloren wäre.134 Dieser drückt sich in den individuellen Entscheidungsmöglichkeiten aus, eine Ehe mit einem Partner einzugehen. Der verfassungsrechtliche Schutz der Ehe wirkt somit freiheitsfördernd  –  er verstärkt die persönliche Freiheit135 und ist Teil  der Privatsphäre136. Maßnahmen, die auf eine Beseitigung des indi­ viduellen Freiheitsraums der Ehegatten abzielen, sind als Verstoß gegen die individuell-freiheitliche Funktion des Eheinstituts einzustufen und dement­ sprechend als verfassungswidrig anzusehen. c) Gemeinschaftlich-soziale Funktion der Ehe Der verfassungsrechtliche Schutz von Ehe und Familie ist jedoch nicht allein auf die Stärkung subjektiver Rechte zu reduzieren.137 Ihm wohnt 131  Äußerungen des Abgeordneten und Ausschutzvorsitzenden v. Mangoldt (CDU), vgl. Deutscher Bundestag/Bundesarchiv, Parlamentarischer Rat, Bd. 5/II, S. 645, 814. 132  Dazu näher Schüffner, S. 298 ff.; Brosius-Gersdorf, in: H. Dreier, GG, 3. Aufl., Art. 6 Rn. 10; Brosius-Gersdorf, Demografischer Wandel und Familienförderung, S. 183. 133  Robbers, in: v.  Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Abs. 1 Rn. 12. 134  Robbers, in: v.  Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Abs. 1 Rn. 11. 135  Äußerung des Abgeordneten und Ausschutzvorsitzenden v. Mangoldt (CDU), vgl. Deutscher Bundestag/Bundesarchiv, Parlamentarischer Rat, Bd. 5/II, S. 645; vgl. auch B. Klein, Das neue Eheverbot, S. 64 f. 136  Di Fabio, NJW  2993, 993 (994); Gusy, JA  1986, 183 (183). 137  Eine Reduzierung auf eine überwiegend subjektiv-rechtliche Funktion, so bspw. bei Herzmann, JURA  2015, 248 (249) und Ramm, in: ders., Familienrecht. Verfassung, Geschichte, Reform, S. 28 (40), verkennt den umfassenden funktionellen Schutzcharakter der Institutsgarantie.

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zugleich ein überindividueller, gemeinschaftlicher Bezug inne138, der die soziale Dimension des Schutzauftrags sicherstellt. Art. 6 Abs. 1  GG ist sei­ ner systematischen Stellung nach eingebettet in eine Reihe verfassungs­ rechtlicher Gewährleistungen (Art. 7, 8 und 9 GG), die einen institutionellen und gemeinschaftsbezogenen Bezug aufweisen.139 Sie betreffen die staatlichschulische und die soziale Gemeinschaftsbildung. Auch das Eingehen einer freiwilligen, von Gegenseitigkeit geprägten zwischenmenschlichen Ver­ pflichtung leistet einen Beitrag zum staatlichen Gemeinwohl und beinhaltet damit neben der individuellen Freiheitsausübung eine starke gemeinschaft­ lich-soziale Komponente.140 Mit Blick auf die inhaltlichen Implikationen der gemeinschaftsbezogenen Funktion des Eheschutzes werden nun zwei Kriterien diskutiert. aa) Beistands- und Verantwortungsgemeinschaft als Entlastung der öffentlichen Hand Die Ehe ist zunächst einmal eine Verantwortungs- und Beistandsgemein­ schaft. In einer repräsentativen Befragung der deutschen Bevölkerung im Er­ hebungsjahr 2010 wurde als wichtigstes Motiv einer Heirat die Verleihung eines festen sozialen und rechtlichen Rahmens für eine bestehende Partner­ schaft genannt.141 Ehepartner übernehmen eine besondere rechtliche Ein­ standspflicht, mit der bestimmte Rechte und Pflichten verbunden sind.142 Die damit angesprochene Funktion der Ehe als Verantwortungsgemeinschaft drückt sich darin aus, dass sie der Partnerschaft umfassende Lebenshilfe bie­ tet143 und als Solidargemeinschaft gleichzeitig den Staat entlastet144, indem die Partner füreinander aufkommen.145 Hierdurch unterscheidet sich die Ehe 138  Robbers, in: v.  Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Abs. 1 Rn. 13; Burgi, in: Friauf/Höfling, GG, Stand  2002, Art. 6 Rn. 2, 4; Lecheler, in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, § 133 Rn. 3. 139  Robbers, in: v.  Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Abs. 1 Rn. 13. 140  Seiler, in: Uhle, S. 37 (38 f.); Seiler, in: Dolzer/Graßhof/Kahl/Waldhoff/Wal­ ter, BK-GG, Stand: Juli  2014, Art. 6 Rn. 53; B. Klein, Das neue Eheverbot, S. 65; Seiler, Grundzüge eines öffentlichen Familienrechts, S. 18 ff. 141  Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Partnerschaft und Ehe  – Entscheidungen im Lebensverlauf, Berlin 2014, S. 11, 25. 142  Brosius-Gersdorf, in: H. Dreier, GG, 3. Aufl., Art. 6 Rn. 57; Ipsen, in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl., § 154 Rn. 18. 143  Robbers, in: v.  Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Rn. 33; Pirson, in: Dolzer/ Graßhof/Kahl/Waldhoff/Walter, BK-GG, Stand  1996, Art. 6 Rn. 16, 104; A. Klein, FPR  2001, 434 (435). 144  Schüffner, S. 173 f.; Stüber, KJ  2000, S. 594 (598). 145  Nesselrode, S. 102 f.; Michael, NJW  2010, 3537 (3538); Stüber, KJ  2000, S. 594 (598); Beck, NJW  2001, 1894 (1898); Seiler, in: Dolzer/Graßhof/Kahl/Wald­



B. Dynamisierungsprozess  1203

von den nichtehelichen Lebensgemeinschaften. Zwar dient die gegenseitige Verantwortungsübernahme grundsätzlich auch der individuellen Freiheitsent­ faltung. Indem der Staat jedoch einen rechtlichen Rahmen für stabile Lebens­ gemeinschaften schafft, stabilisiert er vor allem zugleich sich selbst.146 Die Fürsorge der Ehepartner entlastet die staatliche Verantwortung, die freige­ wordenen Kapazitäten lassen sich auf andere politische Bereiche verteilen. Der Staat wird im Bereich übernommener eherechtlicher Pflichten lediglich zum subsidiären Verantwortungsträger.147 Dies fördert das Gemeinwohl. bb) Reproduktionsfunktion der Ehe? Während die partnerschaftliche Verantwortungs- und Beistandsgemein­ schaft anerkanntermaßen als wichtiger Gehalt der gemeinwohlbezogenen Funktion des Eheschutzes betrachtet wird, zeichnet sich beim zweiten als gemeinwohlfördernd diskutierten Aspekt ein nicht annähernd so eindeutiges Bild. Nicht selten wird behauptet, dem verfassungsrechtlichen Eheschutz wohne zusätzlich eine Reproduktionsfunktion148 inne, was in der Sache nichts anderes als die potenzielle Ausrichtung der Ehe auf ein leibliches Kind und damit auf Nachkommenschaft meint.149 Hinter dem Reproduk­ tionsgedanken verbirgt sich das Kernanliegen vom Erhalt des deutschen Staatsvolkes150  –  ein Gedanke, der in der Vorgängervorschrift des Art. 119 Abs. 1  WRV durch seine ausdrückliche Normierung noch mit aller Deut­ lichkeit im Wortlaut verankert war.151 Zugleich impliziert eine Reproduk­ tionsfunktion das Erfordernis der Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehegat­ ten als unumgängliche Notwendigkeit für ihre Zeugungsfähigkeit. Ideengeschichtlich lässt sich eine Konnexität von Ehe und Familie in der Tat nicht von der Hand weisen. Die Ehe  –  wie auch die Familie  – waren hoff/Walter, BK-GG, Stand: Juli  2014, Art. 6 Rn. 58; B. Klein, Das neue Eheverbot, S. 66. 146  Burgi, in: Friauf/Höfling, GG, Stand  2002, Art. 6 Rn. 39. 147  Schüffner, S. 174. 148  P. Kirchhof, FPR 2001, 436 (438); Lindenberg/Micker, DÖV 2003, 707 (713); Ipsen, in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl., § 154 Rn. 14 f.; Gade/Thiele, DÖV  2013, 142 (150); Schüffner, S. 177; Robbers, in: v.  Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Rn. 46. 149  Nesselrode, S. 110; Wächtler, S. 106. 150  BVerfGE  6, 55 (71); Robbers, in: v.  Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Rn. 46; Di Fabio, NJW  2003, 993 (994); Ipsen, in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl., § 154 Rn. 15. 151  Art. 119 Abs. 1 Satz 1 WRV lautete noch explicite: „Die Ehe steht als Grund­ lage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation unter dem besonderen Schutz der Verfassung.“

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im Laufe ihrer Geschichte insbesondere Garanten für die Erzeugung und Erziehung von Kindern und somit für den Erhalt der Gesellschaft.152 So diente die Eheschließung vornehmlich dazu, Nachkommen zu zeugen und diesen ein verlässliches Umfeld zum Aufwachsen bereitzustellen. Auch dem historischen Verfassungsgeber stand zunächst einmal ein solches Verständ­ nis vor Augen. Der Ausschuss für Grundsatzfragen verstand unter einer Ehe die rechtmäßige Form der Lebensgemeinschaft von Mann und Frau. Der ursprünglich im Parlamentarischen Rat von der CDU / CSU-Fraktion einge­ brachte Vorschlag zur Aufnahme der Bestimmung eines verfassungsrechtli­ chen Schutzes von Ehe und Familie lautete noch: „Die Ehe als die recht­ mäßige Form der dauernden Lebensgemeinschaft von Mann und Frau und die aus ihr wachsende Familie sowie die aus der Ehe und Zugehörigkeit zur Familie fließenden Rechte und Pflichten stehen unter dem besonderen Schutz der Verfassung“.153 In seiner letzten Sitzung definierte der Parlamen­ tarische Rat die Ehe gar als Grundlage der Familie.154 Dass diese Formu­ lierung nicht Eingang in den heutigen Art. 6  Abs. 1  GG gefunden hat, ist allein auf ein Kürzungsanliegen des Hauptausschusses zurückzuführen und sollte in der Sache nichts anderes meinen.155 Nicht zu leugnen ist mithin das den historischen Verfassungsgeber prägende Junktim von Ehe und Fa­ milie.156 Für eine Einstufung der Reproduktion als besondere Ausprägung der ge­ meinschaftlich-sozialen Funktion der Eheinstitutsgarantie  –  und damit nicht zuletzt auch als materielle, in die gesamte Rechtsordnung ausstrahlende Grenzvorgabe grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse  – kommt es dage­ gen maßgeblich darauf an, in welcher Form und in welchem Umfang die Vorstellung der Ehe als Grundlage der Familie Eingang in die tatsächliche Ausgestaltung des Grundrechtsschutzes im Grundgesetz gefunden hat. Ein Verständnis des Konnexes im Sinne eines die Reproduktion betonenden Ausschließlichkeitskriteriums hätte zur Folge, dass die Potenzfähigkeit der Ehegatten über den Zugang zur Ehe entscheidet, denn nur zeugungsfähige und zugleich zeugungswillige Paare könnten tatsächlich zum Erhalt des Staatsvolkes beitragen.157 Gegen eine solche Sichtweise sprechen jedoch ganz erheblich die Bemühungen des Abgeordneten Heuss (FDP) im Parla­ 152  Brosius-Gersdorf, 153  Deutscher

in: H. Dreier, GG, 3. Aufl., Art. 6 Rn. 1. Bundestag/Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/II,

S. 634 Fn. 28. 154  Deutscher Bundestag/Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/II, S. 935. 155  Pauly, NJW  1997, 1955 (1955). 156  Insoweit ist zunächst einmal auch Hillgruber, in: Festschrift für M.  Spieker, S. 47 (55) zuzustimmen. 157  Näher Möller, DÖV  2005, 64 (69 f.).



B. Dynamisierungsprozess  1205

mentarischen Rat, den Ehebegriff des Grundgesetzes auch für kinderlose Paare zu öffnen.158 Um eine Abstempelung kinderloser Ehen als „Ehen zweiter Klasse“ zu verhindern, schlug er vor, die Formulierung „und die aus ihr wachsende Familie“ durch die Worte „und die mit ihr gegebene Familie“ zu ersetzen. Hierdurch sollte der gleichwertige Einbezug kinderloser Ehen in den verfassungsrechtlichen Eheschutz hinreichend deutlich werden. Diese Änderung traf weitestgehend auf Einvernehmen und wurde sodann auch vom Hauptausschuss in der 21. Sitzung des Hauptausschusses vom 7.12.1948 als Art. 7a Abs. 1 mit elf zu zehn Stimmen angenommen.159 Der Wortlaut des vom Ausschuss für Grundsatzfragen erarbeiteten Formulierungsvor­ schlags weicht daher in diesem Punkt von Art. 119 Abs. 1 Satz  1  WRV gezielt ab.160 Im Übrigen wäre eine zwangsweise Bestimmung zum Hervor­ bringen von Kindern verfassungsrechtlich unzulässig, da sie in den von der unantastbaren Menschenwürde geschützten Intimbereich und die dort be­ rührte Frage der Potenzfähigkeit eingreifen würde.161 Ihr stehen Zeugungs­ unfähigkeit oder aber der ausdrückliche Wunsch der Partner entgegen, keine Kinder zu bekommen.162 Beides sind höchst individuelle und bei gesund­ heitlichen Beeinträchtigungen auch indisponible Verhaltensweisen, die ihrer­ seits bedeutenden grundrechtlichen Schutz genießen.163 Bei genauer Betrachtung der Vorgängervorschrift offenbart sich eine strikte Unterscheidung zwischen zwei separaten Schutzanliegen von Art. 119 Abs. 1 Satz  1  WRV. Es wird dort einerseits die Ehe als Grundla­ ge des Familienlebens geschützt, auf der anderen Seite soll sie dem Erhalt und der Vermehrung des Volkes dienen. Während der erst genannte Aspekt von der Vorstellung der Ehe als Grundlage des Familienlebens die Ehe als „Idealtyp“164 eines partnerschaftlichen Zusammenlebens, als den optimalen Ort für die Familiengründung und das Aufwachsen von Kindern versteht, 158  So

auch Brosius-Gersdorf, in: H. Dreier, GG, 3. Aufl., Art. 6 Rn. 11. Bundestag/Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat, Bd. 14/1,

159  Deutscher

S. 611. 160  Wasmuth, Der Staat 41 (2002), S. 47 (59); Tettinger, in: Essener Gespräche 35 (2001), S. 117 (127 ff.); Stüber, KJ  2000, S. 594 (598); Trimbach/Webert, NJ  1998, 63 (66); Freytag, DÖV  2002, 445 (450). 161  Ipsen, in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl., § 154 Rn. 17; Möller, DÖV  2005, 64 (69 f.); wohl auch Schimmel, S. 145. 162  Wasmuth, Der  Staat  41 (2002), S. 47 (59); A. Klein, FPR  2001, 434 (435); Burgi, Der  Staat  39 (2000), S. 487 (491); Stüber, KJ  2000, S. 594 (597); Pauly, NJW  1997, 1955 (1955). Infolge einer Reduktion der Ehe auf eine reine Reproduk­ tionsfunktion wird kinderlosen Ehen jeder eigenständige Wert abgesprochen, obwohl diese in gleichem Maße in den Schutzbereich des Art. 6 I GG einzubeziehen sind, vgl. Bryde, in: Festschrift M.  Bruns, S. 14 (19). 163  Koschmieder, JA  2014, 566 (568). 164  Di Fabio, NJW  2993, 993 (995).

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

bezieht sich der zweite Schutzaspekt auf den eigentlichen Reproduktions­ akt. Letzterer Aspekt findet sich allerdings in dem Vorschlag des Aus­ schusses für Grundsatzfragen gerade nicht mehr wieder. Er wurde in dieser Form auch nicht diskutiert und ist infolgedessen ebenso wenig ausdrück­ lich in Art. 6 Abs. 1  GG festgeschrieben worden. Das gilt auch für die zuweilen hervorgebrachte Behauptung, es genüge die potenzielle Fortpflan­ zungsfähigkeit der Ehegatten und der Verfassungsgeber dürfe aus diesem Grunde eine Typisierung dahingehend vornehmen, kinderlose Ehen eben­ falls in den verfassungsrechtlichen Schutz einzubeziehen165. Solche Argu­ mente verkennen die hinreichende Unterscheidung zwischen der Ehe als ideales Umfeld der Familie und einer auf Kindererzeugung ausgerichteten Reproduktionsfunktion. Es kommt nicht auf eine mögliche Typisierung an, sondern entscheidend ist allein die Tatsache, dass der historische Verfas­ sungsgeber  –  anders als Art. 119 Abs. 1  WRV  – die Fortpflanzungsfähig­ keit nicht als ehespezifische Funktion schützen wollte166, wohl aber die Ehe als potenziell sicheren Ort der Familiengründung anerkannte. Mögen diese Aspekte auf den ersten Blick ähnlich erscheinen, offenbart sich da­ gegen bei genauerer Betrachtung eine unterschiedliche Akzentuierung. Es wird nämlich der eigentliche Reproduktionsakt von der Kindererziehung abgekoppelt. Anders als die Reproduktion bzw. Fortpflanzungsfähigkeit der Ehegatten wurde dagegen das Verständnis der Ehe als „Grundlage der Familie“ gleich an mehreren Stellen im Parlamentarischen Rat zum Ausdruck gebracht. Diese Vorstellung wurde um die Tatsache ergänzt, dass die in der Ehe vor­ zufindenden Kinder nicht zwingend leibliche Nachkommen sein müssen, sondern auch Eheleute mit Adoptivkindern der Grundlage der Familie im verfassungsrechtlichen Sinne angehören. Dazu betonte der Abgeordnete Greve (SPD): „ ‚Mit ihr gegeben‘ ist deshalb besser, weil eine Familie ge­ geben sein kann, ohne daß die Familie aus der Ehe wächst. Ich denke an das Zusammenleben der Eltern mit Adoptivkindern. Auch das muß man als Familie bezeichnen, ohne daß die Familie aus der Ehe gewachsen ist.“167 In der Sache ist also genau zu unterscheiden zwischen der Ehe in ihrer Vorstellung als potenzieller, idealer Aufzugsort für Kinder auf der einen und der sexuellen Fortpflanzung der Ehegatten auf der anderen Seite. Das Attri­ but potenziell soll dabei verdeutlichen, dass es in der Ehe Kinder geben soll, Schüffner, S. 151 ff. ausdrücklich auch BVerfGE  49, 286 (300); ferner Sanders, in: Emmeneg­ ger/Wiedmann, Bd. 2, S. 351 (368 f.). Anders dagegen Gade/Thiele, DÖV 2013, 142 (143 f.); Gärditz, in: Uhle, S. 85 (124). 167  Äußerung des Abgeordneten Greve (SPD), vgl. Deutscher Bundestag/Bundes­ archiv, Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/II, S. 828. 165  Bspw. 166  So



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solche jedoch nicht geben muss. Einzig der erste Aspekt nimmt entspre­ chend dem Willen des historischen Verfassungsgebers am Schutz des Art. 6 Abs. 1  GG teil.168 Er ist jedoch nicht als Ausprägung der gemeinschaftlichsozialen Funktion von Ehe und Familie zu behandeln, sondern ist als mate­ rialisierte Idealvorgabe der Leitbildfunktionsebene zuzuordnen. Festhalten lässt sich somit, dass das verfassungsrechtliche Eheinstitut keine Reproduktionsgemeinschaft zur ihrer institutionellen Funktionsge­ währleistung erfordert. Der besondere Schutz der Ehe hat mithin auf seiner gemeinschaftlich-sozialen Funktionsebene nicht den Schutz ehelicher Re­ produktion zum Gegenstand. Entsprechend kann es sich bei der Reproduk­ tion auch nicht um eine in Art. 6 Abs. 1  GG enthaltene absolute Vorgabe handeln, der als materielle Dynamisierungsgrenze Wirkung bei jedem Pro­ zess tatbestandlicher Dynamik zukäme. d) Leitbildfunktion der Ehe Als dritte Funktionsebene beinhalten die Schutzgüter von Ehe und Fami­ lie schließlich jeweils ein normatives Leitbild.169 Gemäß dem Vorstellungs­ bild des Parlamentarischen Rates prägt die Ehe die Grundlage der mensch­ lichen Gesellschaft.170 Damit ist indes nicht gemeint, die Ehe als exklusiven Lebensentwurf zu verstehen. Art. 6 Abs. 1  GG beinhaltet keine Ausschließ­ lichkeitsfunktion.171 Vielmehr hat der Verfassungsgeber ebenfalls honoriert, dass neben der Ehe alternative Formen partnerschaftlichen Zusammenlebens in der Lebenswirklichkeit vorzufinden sind. Die Normierung eines verfas­ sungsrechtlichen Eheschutzes hebt die Ehe aber zugleich als besondere Form partnerschaftlichen Zusammenlebens von anderen Beziehungstypen ab. Der Staat hat ein Interesse daran, Anreize für das Eingehen einer Ehe zu setzen, denn von der Ehe soll eine Signal- und Orientierungswirkung als besonders erstrebenswerte Form partnerschaftlichen Zusammenlebens aus­ gehen. Genau diese Funktion sichert das Leitbild der Eheinstitutsgarantie. Eine Beeinträchtigung des Eheleitbildes würde einen verfassungswidrigen Verstoß gegen die Leitbildfunktion bedeuten. Entsprechend hat auch diese Funktionsebene Bedeutung als materielle Dynamisierungsgrenze für Pro­ 168  Diese dezidierte Unterscheidung wird von Schüffner, S. 137 nicht vorgenom­ men. In diesem Punkt ebenfalls ungenau Seiler, in: Dolzer/Graßhof/Kahl/Waldhoff/ Walter, BK-GG, Stand: Juli  2014, Art. 6 Rn. 62. 169  Speziell zu Art. 6 Abs. 1 GG Sachs, JR 2001, 45 (48 f.); Nesselrode, S. 172 ff.; Germann, VVDStRL 73 (2013), S. 257 (271); B. Klein, Das neue Eheverbot, S. 106; Coester-Waltjen, in: I.  v.  Münch/Kunig, GG, Art. 6 Rn. 4. 170  Siehe die Äußerungen des Abgeordneten Greve (SPD), vgl. Deutscher Bundestag/Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/II, S. 826. 171  Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Abs. 1 Rn. 48.

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zesse grundrechtlicher Dynamik. Sinnerweiterungen im Tatbestand von Art. 6  Abs. 1  GG selbst, aber auch tatbestandliche Sinnerweiterungen in sämtlichen anderen grundrechtlichen Tatbeständen dürfen das Eheleitbild nicht beeinträchtigen. Bei einem funktionalen Verständnis der Eheinstitutsgarantie kann das ihr zugrundeliegende Leitbild jedoch keine überrechtlichen, absolut materiali­ sierten Vorgaben transportieren, sondern ist in das Konzept einer Leitbild­ funktion zu überführen. Dieses unterscheidet einen übergeordneten Zweck des Leitbildes, dessen Anforderungsprofil sich wiederum aus normativen Vorgaben, aus den geltenden gesellschaftlichen Gerechtigkeitsvorstellungen speist.172 aa) Übergeordneter Zweck: Idealtypische Stabilitätsgewähr ehelicher Beziehungen Der übergeordnete Zweck des Eheleitbildes hat aufgrund seiner Eigen­ schaft als absolutes Strukturmerkmal der Institutsgarantie zeitlose Gültig­ keit. Er ist nicht einschränkbar, denn seine zeitresistente Wahrung bildet geradezu das Kernanliegen der Leitbildfunktion. Um seinen Inhalt festzu­ stellen, muss man sich die ideellen Vorstellungen vor Augen führen, welche die Hervorhebung der Ehe gegenüber anderen Formen partnerschaftlichen Zusammenlebens begründen sollen. Anders als Partner in nichtehelichen Lebensgemeinschaften treffen Ehe­ partner die bewusste Entscheidung für ein rechtlich verbindliches Aufeinan­ der-Einlassen in der gesamten Lebensführung. Die rechtliche Verantwor­ tungsübernahme sowie der originäre Raum an Privatheit und Intimität sta­ bilisiert die Beziehung der Ehegatten in höherem Maße als bei den nichte­ helichen Lebensgemeinschaften, die auf die Verrechtlichung ihrer Beziehung bewusst verzichten. Nach dieser idealtypischen Vorstellung ist die Partner­ schaftsform der Ehe Ausdruck einer stabilen Beziehungsform.173 Entspre­ chend ist der übergeordnete Zweck des normativen Leitbildes in der ideal­ typischen partnerschaftlichen Stabilitätsgewähr zu erblicken, die in diesem Maße ausschließlich in der Ehe vorzufinden ist.174 Die Ehe bietet damit Orientierungsgewissheit für Paare zur Entfaltung des höchsten Maßes an persönlicher Individualität, das in einer Partnerschaft gelebt werden kann.175 172  Dazu

oben Teil  3  C.  III.  4.  b). noch BVerfGE  6, 55 (71), wonach die Ehe mit keiner anderen menschlichen Verbindung vergleichbar sei. 174  Krings, FPR  2001, 7 (10). 175  Robbers, in: v.  Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Abs. 1 Rn. 36. 173  Prägnant



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Zusätzlich könnte als ein weiterer übergeordneter Zweck des Eheleitbil­ des möglicherweise auch die bereits angesprochene Vorstellung der Ehe als potenziell idealer Ort für die Familiengründung und ein gedeihliches Auf­ wachsen von Kindern anzuführen sein. Leitend wäre demzufolge die ideel­ le Überzeugung, dass sich die Ehe in einer Familie manifestiert, dass sie ihre Finalität in der Familie findet176. Die partnerschaftliche Stabilitätsge­ währ der Ehe bietet von vornherein stabile Verhältnisse, sodass sie mittelbar auch stabile Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von Kindern aufzei­ gen könnte. Eine solche Idealvorstellung der Ehe als Vorstufe der Familie ist jedoch entscheidend geprägt durch das Vorhandensein von Kindern. Im Vordergrund steht nicht die Zwei-Personen-Beziehung der Nupturienten, sondern die Perspektive wird um den Aspekt der Optimierung des Kindes­ wohls und damit um mindestens eine dritte Person ergänzt. Die Lebensge­ meinschaft von Eltern und ihren Kindern ist aber wiederum nicht dem verfassungsrechtlichen Eheschutz zuzuordnen, sondern eine solche Perso­ nenkonstellation ist geradezu charakteristisch für die Gemeinschaft der Fa­ milie. Folglich prägt die Lebensgemeinschaft von Eltern und Kindern nicht die Ehe als Beistandsgemeinschaft der Eltern, sondern vielmehr eine beste­ hende familiäre Beziehung. Die Leitvorstellung der Ehe als idealer Ort der Familiengründung erweist sich nicht als Teil  des Eheleitbildes, sondern ist ausschließlich dem verfassungsrechtlichen Familienleitbild zuzuordnen. Hierfür spricht auch der Befund, dass es sich bei der Ehe des Grundgesetzes gerade um keine von Verfassungs wegen vorgesehene Reproduktionsge­ meinschaft handelt.177 Alleine die idealtypische Stabilitätsgewähr einer ehelichen Beziehung kennzeichnet somit den übergeordneten Zweck des Eheleitbildes. Sie wird in ihrer Eigenschaft als absolutes Strukturmerkmal zur unabänderlichen materiellen Dynamisierungsgrenze der Eheinstitutsgarantie. bb) Normatives Substrat: Heterosexualität als gesellschaftliche Erwartung an die eheliche Stabilität Das normative Substrat eines Leitbildes enthält die vorherrschenden ge­ sellschaftlichen Wertevorstellungen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt an die effektive Verwirklichung des übergeordneten Zwecks gestellt werden. Als solche kommen sie in normativen Strukturmerkmalen des Leitbildes zum Ausdruck. Zum Entstehungszeitpunkt des Grundgesetzes hat der his­ 176  So bspw. Pauly, NJW  1997, 1955 (1955); v. Campenhausen, VVDStRL  45 (1987), S. 7 (15, 21). 177  Dazu oben Teil  4  B.  IV.  1.  c)  bb).

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

torische Verfassungsgeber die ursprünglich vorherrschenden Vorstellungen in Form normativer Strukturmerkmale im Substrat des Leitbildes gebün­ delt. Für sie streitet die grundsätzliche Vermutung, dass sie, solange ihre Legitimationskraft nicht hinreichend entkräftet worden ist, nach wie vor den vorherrschenden gesellschaftlichen Wertekonsens zur Verwirklichung des vom Leitbild geforderten übergeordneten Zwecks entsprechen. Übertra­ gen auf das hier im Raum stehende Eheleitbild kennzeichnet das normati­ ve Substrat nun diejenigen gesellschaftlichen Wertevorstellungen, die an die Verwirklichung des übergeordneten Zwecks, nämlich die Gewährleis­ tung der besonderen partnerschaftlichen Stabilität in einer Ehe zu stellen sind. Als ein solches normatives Strukturmerkmal ist das Erfordernis der Ver­ schiedengeschlechtlichkeit der Ehepartner, das sog. Heterosexualitätsprin­ zips178, einzuordnen.179 Es entsprach zur Entstehungszeit des Grundgesetzes und auch in den darauf folgenden Jahrzehnten den vorherrschenden gesell­ schaftlichen Wertevorstellungen, dass alleine heterosexuelle Paare den vom übergeordneten Zweck geforderten Grad an partnerschaftlicher Stabilität garantieren konnten. Auch wenn diese Vorstellung im Parlamentarischen Rat nicht ausdrücklich zur Rede kam, ist sie aus dem Gesamtzusammenhang der Entstehungszeit konkludent zu erschließen. So fand die Vorstellung von der Ehe als Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau bereits in dem ur­ sprünglichen Formulierungsvorschlag der Union explizit Ausdruck.180 Die Existenz des § 175  StGB a. F. ist weiterhin Beleg für die sittliche Missbil­ ligung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften zur damaligen Zeit. Entspre­ chend dieser fundamentalen gesetzgeberischen Wertung fehlte es gleichge­ schlechtlichen Paaren augenscheinlich an der erforderlichen, gesellschaftlich zugeschriebenen Fähigkeit zum Führen einer ausreichend stabilen Bezie­ hung. Die Vorstellung einer künftigen gesellschaftlichen Billigung gleichge­ schlechtlicher Beziehungen lag schlicht außerhalb des damaligen Vorstel­ lungshorizonts.181 In den Augen des historischen Verfassungsgebers konnten nach Benedict, JZ  2013, 477 (478, insb. S. 483 f.). bereits Stüber, KJ  2000, S. 594 (597); Willutzki, MDR  1993, 117 (117); Ott, NJW  1998, 117 (118); Zuck, NJW  2009, 1449 (1452). 180  Deutscher Bundestag/Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/II, S. 634 Fn. 28; ebenso Äußerung des Abgeordneten Greve (SPD), vgl. Deutscher Bundestag/ Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat, Bd. 14/2, S. 1345. 181  Michael, NJW 2010, 3537 (3538): „[…]  – vielmehr wurde Homosexualität in der jungen Bundesrepublik noch bestraft. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben das offenbar nicht für einen verfassungsrechtlich zu verhindernden Zustand gehalten.“. Anders jedoch Bruns/Beck, MDR 1991, S. 832 (833); Möller, DÖV 2005, 64 (66 f.); Schimmel, S. 100, die aus dem Schweigen des historischen Verfassungs­ gebers zur gleichgeschlechtlichen Partnerschaft einen Interpretationsspielraum für einen heutigen Einbezug herleiten wollen. 178  Begriff 179  Vgl.



B. Dynamisierungsprozess  1211

einzig heterosexuelle Paare die vom Leitbild geforderte Beziehungsstabilität tatsächlich sicherstellen. Die Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehegatten ist daher in der Tat als ein den historischen Verfassungsgeber prägendes normatives Strukturmerkmal der Ehe zu behandeln.182 e) Zwischenergebnis Die drei Funktionsebenen des Eheinstituts fordern für ihre effektive Ge­ währleistung den absoluten Schutz von drei Strukturvorgaben. Hierzu zählen der individuelle Freiheitsraum der Ehegatten als partnerschaftliche Intim­ sphäre, die Eigenschaft der Ehe als gegenseitige partnerschaftliche Bei­ stands- und Verantwortungsgemeinschaft sowie die Orientierungswirkung der Ehe als idealtypische und daher erstrebenswerteste partnerschaftliche Beziehungsform. Diese drei funktionalen Vorgaben beanspruchen absolute und zeitlose Geltung, die keine staatliche Maßnahme jemals einschränken kann. Auf diese Weise werden sie zu unantastbaren verfassungsimmanenten Rahmenvorgaben und entfalten somit stets Wirkung als materielle Dynami­ sierungsgrenzen für jeden Prozess grundrechtlicher Dynamik. 2. „Besonderer“ Schutz – Eheschutz als objektiv-rechtliche Wertentscheidung Art. 6 Abs. 1  GG besitzt nicht nur eine subjektiv-rechtliche Abwehrdi­ mension, sondern ist ferner als objektive Grundsatznorm ausgestaltet.183 Was sich jedoch hinter der objektiven Strukturebene verbirgt, insbesondere das Verhältnis der Eigenschaft der Ehe als objektiv-rechtliche Wertentschei­ dung zur Eheinstitutsgarantie, bleibt vielfach im Dunkeln. Hier ist eine präzise Differenzierung zwischen dem Innen- und Außenverhältnis des Eheinstituts und den entsprechenden Schutzwirkungen geboten184: Instituts­ garantien treffen lediglich eine Binnenstrukturierung des von ihnen in Bezug genommenen institutionellen Schutzobjekts.185 Die Strukturierung im Innen­ verhältnis kann zunächst einmal nicht mehr schützen als das Institut und seine konstituierenden funktionalen Merkmale. Die Institutsgarantie wirkt demnach aus eigener Kraft nur „lokal“, sie entfaltet ihre unmittelbaren 182  Gröpl/Georg,

AöR  139 (2014), S. 125 (142). 55 (72 ff.) mit Verweisen auf die Entstehungsgeschichte. Siehe auch Cremer, in: Gedächtnisschrift für B.  Jeand’Heur, S. 59 (74); Schüffner, S. 293; Koschmieder, JA  2014, 566 (570); Seiler, Grundzüge eines öffentlichen Familien­ rechts, S. 42. 184  Schüffner, S. 245. 185  So richtig Schüffner, S. 241. 183  BVerfGE  6,

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

Schutzwirkungen allein für die Bezugsadressaten des entsprechenden norm­ geprägten Schutzbereichs, die nur im Falle konkreter tatbestandlicher Aus­ gestaltung des Eheschutzes sui generis berührt werden. Für die Eheinstituts­ garantie aus Art. 6 Abs. 1  GG bedeutet dies, dass ihr unmittelbares Schutz­ anliegen zunächst einmal nur den vom Schutzbereich erfassten Ehepaaren gilt. Gesetzgeberische Ausgestaltungsentscheidungen im Kontext von Art. 6 Abs. 1  GG haben unmittelbare Auswirkungen auf die tatbestandlich in Be­ zug genommenen Ehepartner und finden ihre Grenze in den absoluten Strukturmerkmalen der Eheinstitutsgarantie. Eine Aussage über die (mittel­ baren) Außenbeziehungen der Institutsgarantie zu anderen Rechtsinstituten der Gesamtrechtsordnung ist in der Binnenstrukturierung allerdings noch nicht enthalten.186 a) Ausstrahlungswirkung des funktionellen Eheschutzes in die Rechtsordnung Erst über die Eigenschaft des Art. 6 Abs. 1  GG als objektiv-rechtliche Wertentscheidung wird nun der funktionale Kernbereichsschutz der Eheins­ titutsgarantie tatsächlich in die Rechtsordnung hinaustransportiert und kann dort seine Kraft als materielle Dynamisierungsgrenze grundrechtlicher Dy­ namisierungsprozesse jenseits der tatbestandlichen Ausgestaltungsebene von Art. 6 Abs. 1  GG entfalten. Die Bedeutung des von der Institutsgarantie unter Schutz gestellten Rechtsinstitut „Ehe“ und ihre Vorgaben als materi­ elle Dynamisierungsgrenze erschließen sich somit nicht bereits allein im Art. 6 Abs. 1  GG-spezifischen Innenverhältnis des Eheschutzes, sondern sind  –  wie Schüffner richtig herausarbeitet187  – eine Frage des Außenver­ hältnisses, ergo eine Frage der Wertentscheidung der Verfassung zugunsten der Ehe als in der Gesamtrechtsordnung zu bewahrendes Rechtsinstitut. In seiner Dimension als objektiv-rechtliche Wertentscheidung wird Art. 6 Abs. 1 GG folglich zur Auslegungsrichtlinie sämtlichen Rechts188 und damit auch zur Rahmenvorgabe für jegliche staatlichen Maßnahmen, die sich als Rechtsanwendung darstellen. Die funktionalen Vorgaben des institutionellen Eheschutzes beeinflussen auf diese Weise jedes staatliche Handeln, das den Eheschutz tangieren könnte.189 186  Ebenda.

187  Schüffner,

S. 245. JA  1986, 183 (188). 189  So auch Burgi, in: Friauf/Höfling, GG, Stand  2002, Art. 6 Rn. 34; Papier, NJW  2002, 2129 (2129 f.). Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 6 Rn. 14; Sachs, JR 2001, 45 (48) betont insbesondere die Verbreitung der Leitbildfunktion. Dagegen ungenau Germann, VVDStRL  73 (2013), S. 257 (268), der die objektiv-rechtliche Werteordnung als eine über den abwehrrechtlichen Schutz und die Institutsgarantie 188  Gusy,



B. Dynamisierungsprozess  1213

Probleme bereitet nun, welchen Umfang das „besondere“ Schutzgebot statuiert. Die Ehe hat im verfassungsrechtlichen Schutzsystem jedenfalls keine Monopolstellung in dem Sinne inne, dass sie einzelne Strukturelemen­ te ausschließlich für die Ehe reservieren190 oder gar andere Lebensformen bekämpfen will191. Weder dem Wortlaut noch der Entstehungsgeschichte lässt sich eine Singulargarantie der Ehe entnehmen, die ihre Exklusivität zu einem Strukturmerkmal des Art. 6 Abs. 1  GG erhebt.192 Der Gesetzgeber muss anderen  –  zumindest durch Art. 2 Abs. 1  GG geschützten  – Formen menschlichen Zusammenlebens nicht jeden Schutz und jede Anerkennung versagen.193 Ehe und Familie stehen aber expressis verbis unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Der im Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 GG explizit betonte objektiv-rechtliche Schutzauftrag wirkt dabei in zwei Rich­ tungen194: Negativ verlangt er, dass der Staat Beeinträchtigungen zu unter­ lassen hat. Positiv folgt aus ihm ein Fördergebot der Ehe. Der Begriff des „Schützens“ bedeutet seinem Wortsinn nach die Förderung des Schutzgutes, die Abwehr von Störungen oder Schädigungen durch Dritte und vor allem den Verzicht des Staates auf eigene störende Eingriffe.195 Förderung meint dagegen die rechtliche Gewährung von Vorteilen und Ergänzungen, die sich an den Funktionen der Ehe und der Familie orientieren. So stellt beispiels­ weise die steuerliche Zusammenveranlagung von Ehegatten eine zulässige Form der Förderung dar. Dem Gesetzgeber steht bei der tatsächlichen Aus­ gestaltung der Förderungsverpflichtung ein weiter Gestaltungsspielraum zu, hinausgehende Ebene einordnet, auf der Ehe und Familie als verfassungsrechtliche Leitbilder wirken sollen. Die Leitbildfunktion entspringt aber zunächst einmal der Institutsgarantie. Ebenfalls unpräzise Herzmann, JURA  2015, 249 (259). 190  So aber Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/ders.Henneke, GG, Art. 6 Rn. 19; Sondervotum Papier, BVerfGE  105, 313 (358); Sondervotum Haas, BVerfGE  105, 313 (361). 191  So aber Scholz/Uhle, NJW  2001, 393 (397); Pauly, NJW  1997, 1955 (1956); Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 294 (928). Pawlowski, in: ders., Die „Bürgerliche Ehe“ als Institution, S. 15 (17) will gar ein Gebot der Pönalisierung von Homo­ sexualität aus dem verfassungsrechtlichen Eheschutz ableiten, wofür sich jedoch im  Wortlaut des Art. 6  Abs. 1  GG sowie in der Entstehungsgeschichte gar keine Anhaltspunkte finden lassen. Zu Recht kritisch Risse, S. 14 f. 192  Schüffner, S. 241 ff. 193  BVerfGE  82, 6 (15 f.); 87, 234 (267); Robbers, JZ  2001, 779 (781 f.); v. Coelln, in: Sachs, GG, Art. 6 Rn. 47; Zippelius, DÖV 1986, 805 (808 f.); Beck, NJW  2001, 1894 (1899); Krings, FPR  2001, 7 (10); Stern, Staatsrecht, Bd. IV/1, S. 475. 194  BVerfGE  6, 55 (76); 28 (104 (113); 99, 216 (231 f.); 105, 313 (346); Classen, JZ 2010, 411 (411); Stüber, NJW 2006, 1774 (1775); Di Fabio, NJW 2003, 993 (994); Papier, NJW  2002, 2129 (2130); Freytag, DÖV  2002, 445 (448); Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/ders./Henneke, GG, Art. 6 Rn. 10. 195  BVerfGE  6, 55 (76).

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

der lediglich durch das Untermaßverbot begrenzt wird.196 Der verfassungs­ rechtliche Auftrag fordert eine Mindestförderung, die eine Schlechterstel­ lung der Ehe im Verhältnis zu anderen Förderleistungen, welche sich an andere Formen partnerschaftlichen Zusammenlebens richten, stets verbietet. b) „Besonderer Schutz“ als Abstandsgebot der Ehe? Umstritten ist, ob das Attribut „besonders“ über das Niveau eines her­ kömmlichen Schutzes und der Mindestförderung gar noch hinausgeht und womöglich ein sog. Abstandsgebot enthält, das den Gesetzgeber in die Pflicht nähme, zwischen der Ehe und allen übrigen Formen des Zusammen­ lebens einen deutlichen rechtlichen „Abstand“ einzuhalten.197 Nach Ansicht einiger Autoren soll die besondere Erwähnung des Eheschutzes im Verhält­ nis zu anderen Schutzgütern in der Tat hervorgehoben und privilegiert sein.198 Besonderer Schutz sei stärker als allgemeiner Schutz199, insbeson­ dere als das einzig im Grundgesetz genannte „einfache“ Schutzgebot in Art. 1 Abs. 1 Satz  2  GG200. Bei der rechtlichen Ausgestaltung sonstiger partnerschaftlicher Institute wären dann allenfalls punktuelle Annäherungen an die Institutionen von Ehe- und Familie möglich. Der Blick auf die Entstehungsgeschichte des Art. 6 Abs. 1  GG macht indes die zahlreichen Textänderungen deutlich, welche die Vorschrift bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes bereits im Parlamentarischen Rat erfahren hat.201 Diese wechselten jeweils zwischen der Formulierung eines „einfa­ chen“ und eines „besonderen“ Schutzes. Als Reaktion auf den Korrekturvor­ schlag des Deutschen Sprachvereins, nach dem Ehe und Familie „unter dem Schutz der Verfassung“ stehen, stellte der Ausschutzvorsitzende von Man­ goldt (CDU) in der 32.  Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen 196  BVerfGE 9, 237 (247); 47, 1 (19); 87, 234 (255 f.); 99, 216 (232 f.); 105, 313 (346); v. Coelln, in: Sachs, GG, Art. 6 Rn. 35. 197  Scholz/Uhle, NJW  2001, 393 (398); Krings, ZRP  2000, 409 (413); Pauly, NJW 1997, 1955 (1956); Stern, Staatsrecht, Bd. IV/1, 2006, S. 476; Braun, JZ 2002, 23 (25 f.); Burgi, Der  Staat  2000, S. 487 (501 ff.); Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/ ders./Henneke, GG, Art. 6 Rn. 19; Steiner, in: Merten/Papier, Handbuch der Grund­ rechte, Bd. IV, § 108 Rn. 28. 198  Kleffmann, S. 240; Robbers, in: v.  Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Abs. 1 Rn. 20; Nesselrode, S. 158 f.; Krings, ZRP  2000, 409 (412); Braun, JZ  2002, 23 (26); B. Klein, Das neue Eheverbot, S. 54 ff. 199  Braun, JuS  2003, 21 (22); Tettinger, JZ  2002, 1146 (1151); B. Klein, Das neue Eheverbot, S. 56; Ipsen, in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl., § 154 Rn. 55; Stern, Staatsrecht, Bd. IV/1, S. 446. 200  Sondervotum Haas, BVerfGE  105, 313 (361); Kirchhof, FPR  2001, 436 (438). 201  Vgl. auch Teil  4  B.  IV.  c)  bb).



B. Dynamisierungsprozess  1215

(11. Januar 1990) klar: „Inhaltlich ist es genau dasselbe, aber in der Formu­ lierung besser.“202 Die Äußerung ist Beleg dafür, dass mit den wechselhaf­ ten Formulierungen keine inhaltlichen Abweichungen im Sinne eines stär­ keren oder weniger starken verfassungsrechtlichen Schutzes bezweckt wa­ ren, sondern es allein um das jeweilige Sprachempfinden ging.203 Weitergehende Anhaltspunkte dahingehend, dem Attribut besonders noch eine gänzlich eigenständige Bedeutung beizumessen, nach welcher der Ehe­ schutz die Einhaltung eines deutlichen rechtlichen Abstands gegenüber an­ deren Lebensformen fordere, sind den Beratungen des Parlamentarischen nicht zu entnehmen. Der besondere Schutz der Ehe erfasst damit im Ergeb­ nis nur das, was für die effektive Gewährleistung des Schutzgutes erforder­ lich ist, namentlich einen rechtlich und tatsächlich funktionsfähigen Rahmen für die Ehe.204 Bei einer genauen Durchsicht der Entstehungsgeschichte muss man daher zu dem Ergebnis kommen, dass sich zumindest kein ein­ deutiger Wille des historischen Verfassungsgebers zugunsten eines in Art. 6  Abs. 1  GG enthaltenen Abstandsgebots feststellen lässt, der einen deutlichen rechtlichen Abstand zwischen den Instituten des Art. 6 Abs. 1 GG und anderen Lebensformen fordern würde.205 202  Äußerung des Abgeordneten und Ausschutzvorsitzenden v. Mangoldt (CDU), vgl. Deutscher Bundestag/Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/II, S. 935. 203  Die von Tettinger in JZ 2002, 1146 (1148 f.) erhobene Kritik, im Rahmen der 21. Sitzung des Hauptausschusses vom 7.12.1948  sei mit Blick auf die zwei vorlie­ genden Sprachvorschläge sehr wohl diskutiert worden, welcher Vorschlag der wei­ tergehende sei  – während der Vorschlag der Union einen „besonderen Schutz“ vor­ sah, beschränkte sich der Vorschlag der SPD allein auf einen einfachen „Schutz“  –, geht fehl. Diese Diskussion um die Reichweite der einzelnen Formulierungen bezog sich nicht auf das Schutzniveau selbst, sondern hatte einzig die konkretisierenden Elemente der Ehe im Vorschlag der Union zum Gegenstand. Auch in dem von Tettinger, JZ 2002, 1146 (1149) in Bezug genommenen Änderungsantrag des Abgeord­ neten Greve (SPD) in der 43. Sitzung des Hauptausschusses vom 18.1.1949 wird auf das Attribut „besonders“ in keiner Weise näher eingegangen. Überhaupt hatte der Streit um die Formulierung der Schutzform weniger die Bedeutung des Attributs, als vielmehr die generelle Länge bzw. die allgemeine Kürzung des ausformulierten Grundrechtstatbestands zum Gegenstand. Der ursprüngliche Vorschlag der CDU/ CSU-Fraktion war umfangreicher als die schließlich verabschiedete Formulierung des Art. 6 Abs. 1  GG. Man befürchtete, durch eine kürzere Formulierung die kon­ kretisierenden Schutzelemente auszublenden. Inhaltlich sollte die verabschiedete Formulierung jedoch keine Unterschiede zum ursprünglichen Entwurf beinhalten, so grdsl. auch Hillgruber, JZ  2011, 861 (865). 204  Classen, JZ  2010, 411. 205  So zutreffend auch BVerfGE  105, 313 (350). Wie hier, jedoch teils mit ande­ rer Begründung bspw. Freytag, DÖV  2002, 445 (448 ff.); Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Altauflage 1980, Art. 6 Rn. 7; Berghahn, KJ  1993, 397 (403); Gröschner, in: H. Dreier, GG, 2. Aufl., Art. 6 Rn. 33; Beck, NJW  2001, 1894 (1899); Wahl, in: Festschrift für R.  Frank, S. 31 (33); selbst auch Krings, ZRP  2000, 409 (411).

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

c) „Besonderer Schutz“ als Privilegierungsgebot der Ehe Das „besondere“ Fördergebot fordert freilich nicht die Einhaltung eines deutlichen institutionellen Abstands, wohl aber die Vermeidung einer vollständigen Austauschbarkeit von Ehe mit anderen, ihr nahezu gleichkom­ menden Formen partnerschaftlichen Zusammenlebens. Die Beurteilung der Gefahr einer institutionellen Austauschbarkeit bemisst sich wiederum nach den Funktionen des Eheschutzes und ihrem Adressatenkreis. Die Besonder­ heiten des Eheinstituts, namentlich ihre individuell-freiheitliche, ihre ge­ meinschaftlich-soziale und ihre Leitbildfunktion dürfen sich nicht in gleicher Form innerhalb anderer Beziehungsformen wiederfinden. Ihr Schutz ist al­ lein der Ehe vorbehalten und in der gesamten Rechtsordnung sicherzustel­ len. Insbesondere die eheliche Leitbildfunktion soll gerade Anreize dafür setzen, den Schritt von einem partnerschaftlichen Zusammenleben in einer bloß nichtehelichen Lebensgemeinschaft zur Ehe zu vollziehen. Dies indi­ ziert zugleich, dass diesen Personen auch der tatsächliche Zugang zur Ehe offen stehen muss. Die sexuelle Identität determiniert die Partnerschafts­ form.206 Adressaten der Leitbildfunktion sind somit ausschließlich ver­ schiedengeschlechtliche Paare. Im Falle einer Austauschbarkeit der Ehe mit anderen partnerschaftlichen Lebensformen, deren Adressaten Zugang zur Ehe haben, würden diese in Konkurrenz zur Ehe treten. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn der Gesetzgeber ein anderes Institut mit denselben Funktionen schüfe und die­ ses mit gleichen Rechten, aber geringeren Pflichten ausstatten würde.207 Ein solches Institut würde einen illegitimen Anreiz setzen, auf das Eingehen einer Ehe zugunsten des anderen Instituts zu verzichten. Folglich ist es dem Gesetzgeber untersagt, die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit dem glei­ chen Bündel an ehelichen Rechten auszustatten, fehlt es dort doch an einer äquivalenten rechtlichen Einstandspflicht.208 Die Vermeidung von Aus­ tauschbarkeit beinhaltet also durchaus ein gewisses Abstandsgebot, jedoch nicht im Sinne der Einhaltung eines „deutlichen“ Abstandes, sondern nur in Form der Vermeidung einer institutionellen Austauschbarkeit. Es sollte in­ soweit vornehmlich von einer Privilegierung der Ehe gesprochen werden, wonach eine deutliche Annäherung im Rahmen des dem Gesetzgeber zuste­ henden Ausgestaltungsspielraums durchaus möglich erscheint, eine Über­ 206  Dazu

oben Teil  4  B.  III.  2.  b)  bb). 313 (350 f.). 208  Gleiches würde zudem für die objektiv-rechtliche Dimension des verfas­ sungsrechtlichen Familienschutzes gelten. Aufgrund des „besonderen“ Schutzes der Familie und dem daraus resultierenden Privilegierungsgebot der Familie folgt, dass der Gesetzgeber Kinderlosen nicht die gleichen Vorteile wie Familien gewähren darf, vgl. auch Seiler, Grundzüge eines öffentlichen Familienrechts, S. 45 f. 207  BVerfGE  105,



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schreitung der Grenze einer vollständigen Austauschbarkeit jedoch letztlich stets zu unterbleiben hat. 3. Beeinträchtigung des Eheschutzes durch Einführung der eingetragenen Lebenspartnerschaft? Die Eheinstitutsgarantie des Art. 6 Abs. 1  GG wirkt als materielle Dyna­ misierungsgrenze eines jeden grundrechtlichen Dynamisierungsprozesses. Diese Eigenschaft entfaltet sie dabei auf zwei unterschiedlichen Ebenen: Die Institutsgarantie selbst verbietet zum Schutze der Ehepartner die Be­ schneidung der Ehefunktionen, die bereits vom Schutzbereich erfasste Ehe­ paare unmittelbar berührt. Hiervon in Bezug genommen sind allein tatbe­ standliche Ausgestaltungsentscheidungen, die speziell zu Art. 6 Abs. 1  GG ergehen. In ihrer Dimension als objektiv-rechtliche Wertentscheidung  –  die im Wortlaut des „besonderen“ Schutzes zutage tritt  – fordert die Eheinsti­ tutsgarantie zudem im Außenverhältnis ein Privilegierungsgebot der Ehe gegenüber anderen Formen partnerschaftlichen Zusammenlebens. Diese beiden Implikationen bilden die Richtlinie für die Beurteilung der Zulässig­ keit grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse. Hinsichtlich des eingesetzten grundrechtlichen Dynamisierungsprozesses im retardierenden Grundrechts­ tatbestands des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist folglich zu überprüfen, ob der Einbezug gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in den Schutzbereich Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG nicht doch noch durch die begrenzen­ den Implikationen der Eheinstitutsgarantie ausgeschlossen oder jedenfalls in seiner tatbestandlichen Reichweite zu beschränken wäre. a) Innenverhältnis: Keine unmittelbare Beeinträchtigung der Funktionsebenen Beeinträchtigungen der ehelichen Institutsgarantie im Innenverhältnis können allein solche staatlichen Maßnahmen hervorrufen, die zu einer kon­ kreten Veränderung der geschützten Funktionen führen und unmittelbare Auswirkungen auf die vom Schutzbereich bereits erfassten Ehepartner ha­ ben. Hieran gemessen haben weder die verfassungsrechtliche Anerkennung des Lebens in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft als persönlichkeits­ relevanter Belang noch die Einführung der eingetragenen Lebenspartner­ schaft als statusrechtliches Institut zu einer unmittelbaren Beeinträchtigung der Funktionen der Eheinstitutsgarantie geführt.209 Mit einer bloß nichtehe­ 209  BVerfGE  105, 313 (344 f.); Freytag, DÖV  2002, 445 (446); Scholz/Uhle, NJW  2001, 393 (396); Beck, NJW  2001, 1894 (1899); Burgi, Der  Staat  39 (2000), S. 487 (495).

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

lichen gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft wird augenscheinlich noch keine Ehe begründet. Aber auch die eingetragene Lebenspartnerschaft ist bewusst von der Ehe abzugrenzen. Das LPartG hat die ehelichen Struk­ turprinzipien, die eine ungestörte Funktionsausübung des Eheinstituts ge­ währleisten, nicht verändert.210 Die individuell-freiheitliche Funktion der Ehe als Determinante persönlicher Freiheitentfaltung bleibt auch bei Einfüh­ rung der eingetragenen Lebenspartnerschaft unbeeinträchtigt. Der persönli­ che Freiheitsraum der Ehepartner wird durch sie in keiner Weise beschränkt. Dies gilt in gleichem Maße für die gemeinschaftlich-soziale Funktion. Die Entlastung des Staates durch die Verantwortungs- und Beistandsübernahme der Ehegatten erfährt bereits durch die Existenz der eingetragenen Le­ benspartnerschaft keine unmittelbare Einbuße. Schließlich findet auch keine Beeinträchtigung der ehelichen Leitbild­ funktion statt, wird die Gewährleistung der Ehe als idealer Ausdruck part­ nerschaftlicher Stabilität durch ein eigenes statusrechtliches Institut für gleichgeschlechtliche Paare gar nicht erst berührt. Unverändert schließt das Heterosexualitätsprinzip als normatives Strukturmerkmal des Eheleitbildes gleichgeschlechtliche Paare vom unmittelbaren Zugang zur Ehe aus. Die idealtypische Stabilitätsgewähr einer Ehe können nach wie vor nur hetero­ sexuelle Paare verwirklichen. Insofern ist in der tatbestandlichen Dynamik durch Einbezug gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in den Schutzumfang des allgemeinen Persönlichkeitsrechts kein unmittelbarer Verstoß gegen das Innenverhältnis der Eheinstitutsgarantie zu erblicken. b) Außenverhältnis: Keine Beeinträchtigung des Privilegierungsgebots der Ehe aufgrund verschiedener institutioneller Adressatenkreise Aussagen zum Verhältnis der Ehe gegenüber anderen partnerschaftlichen Lebensformen sind keine Frage des Innenverhältnisses, sondern betreffen ausschließlich das Außenverhältnis des institutionellen Ehefunktionsschut­ zes. Der grundrechtliche Dynamisierungsprozess in Form der tatbestandli­ chen Erweiterung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts um den Einbezug gleichgeschlechtlicher Partnerschaften und der originäre leistungsrechtliche Anspruch auf Schaffung eines statusrechtlichen Instituts könnten somit vor allem durch materielle Vorgaben beschränkt sein, welche die Eheinstitutsga­ rantie in ihrer Eigenschaft als Auslegungsmaxime sämtlicher rechtlicher Pro­ zesse aufstellt. Der Schutz der Eheinstitutsgarantie im Außenverhältnis mani­ 210  BVerfGE  105, 313 (346); Kloepfer, in: Merten/Papier, Handbuch der Grund­ rechte, Bd. II, § 43 Rn. 70; Sachs, JR 2001, 45 (48); Wasmuth, Der Staat 41 (2002), S. 47 (54); Beck, NJW  2001, 1894 (1899).



B. Dynamisierungsprozess  1219

festiert sich in einem Privilegierungsgebot der Ehe. Dieses ist Ausfluss ihrer Dimension als objektiv-rechtliche Wertentscheidung und verbietet eine Aus­ tauschbarkeit der Ehe mit anderen Formen partnerschaftlichen Zusammenle­ bens, die trotz geringerer Pflichtenbindung das gleiche Maß an Rechten be­ reithalten. Insofern könnte einzig die konkrete Ausgestaltung des statusrecht­ lichen Instituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft Probleme bereiten. Bei der materiellen Ausgestaltung der eingetragenen Lebenspartnerschaft als sta­ tusrechtliches Institut war der Gesetzgeber zum Zeitpunkt der Einführung um die Vermeidung einer bewussten Gleichstellung mit der Ehe bemüht. Die ein­ getragene Lebenspartnerschaft sollte einerseits mit Blick auf ihre Funktionen eheähnlich ausgestaltet sein, bezüglich der Rechte und Pflichten jedoch noch ausreichende Unterschiede wahren. Ob diese Form der institutionellen Aus­ gestaltung den Anforderungen des Privilegierungsgebots der Ehe genügend Beachtung erfahren hat211, kann im Ergebnis aber ausnahmsweise dahinste­ hen. Speziell im Fall der Einführung eines statusrechtlichen Instituts für gleichgeschlechtliche Paare kommt es auf die Frage seiner institutionellen rechtlichen Ausgestaltung nämlich überhaupt nicht an. Das Privilegierungs­ gebot des Art. 6 Abs. 1 GG findet von vornherein auf solche Partnerschaften keine Anwendung, die auf die eherechtlichen Vorteile bewusst verzichten wollen sowie  –  und das ist freilich entscheidend  – hierauf auch verzichten können. Ist es der Sinn und Zweck des ehelichen Privilegierungsgebotes, eine Austauschbarkeit mit anderen Instituten zu vermeiden, stellt sich dieses Pro­ blem lediglich dann, wenn die konkrete Gefahr einer Austauschbarkeit auch tatsächlich droht. Im Unterschied zu nichtehelichen Lebensgemeinschaften erklären sich eingetragene Lebenspartner jedoch gerade dazu bereit, ihrer Be­ ziehung einen rechtlichen Rahmen mit entsprechenden Pflichten zu verlei­ hen. Gleichzeitig ist ihnen aufgrund ihrer sexuellen Identität aber bereits von vornherein der Zugang zur Ehe verschlossen.212 Ehe und eingetragene Lebenspartnerschaft stellen sich demzufolge als nicht substituierbare aliud-Institute dar. Zunächst einmal ist die inhaltliche Ausgestaltung des Instituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft in keiner Weise mit den nichtehelichen Lebensgemeinschaften vergleichbar. Für letz­ tere hat der Gesetzgeber bislang gar auf eine umfassende Institutionalisie­ rung verzichtet. Die Besonderheit der eingetragenen Lebenspartnerschaft besteht vielmehr darin, dass sie ein Institut normiert, welches dieselbe213 211  Dies befürwortend bspw. Robbers, JZ  2001, 779 (784); Freytag, DÖV  2002, 445 (453); Beck, NJW  2001, 1894 (1898). 212  Robbers, JZ  2001, 779 (779); grundsätzlich zunächst einmal auch v. Coelln, in: Sachs, GG, Art. 6 Rn. 47; dazu näher oben Teil  4  B.  III.  2.  b)  bb). 213  Insoweit muss auch Gärditz, in: Uhle, S. 85 (91) einräumen, dass Ehe und eingetragene Lebenspartnerschaften in den allermeisten Lebensbereichen vergleich­ bar sind.

220

Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

rechtliche Verbindlichkeit wie für Eheleute vorsieht, und welche eingetrage­ ne Lebenspartner auch tatsächlich in gleichem Maße zu übernehmen bereit sind. Ehe und eingetragene Lebenspartnerschaft sind also mit Blick auf die individuell-freiheitliche und die gemeinschaftliche-soziale Funktionsebenen funktionsgleich ausgestaltet.214 Die eingetragene Lebenspartnerschaft ver­ bleibt gerade nicht im Bereich der Privatheit215, sondern weist analog zur Ehe einen gemeinschaftlich-sozialen Bezug auf. Ehe und eingetragene Lebenspartnerschaft unterscheiden sich dagegen grundlegend in ihrem jeweiligen Adressatenkreis, in dessen Zentrum die sexuelle Identität der Paare steht. Homosexuellen Menschen ist der Zugang zur Ehe aufgrund ihrer Sexualität verschlossen; dies gilt andersherum für den Zugang heterosexueller Menschen zur eingetragenen Lebenspartner­ schaft. Beide Institute treten damit faktisch gar nicht erst in Konkurrenz. Eine Gefahr der Austauschbarkeit beider Institute besteht  –  anders als zwi­ schen Ehe und heterosexuellen nichtehelichen Lebensgemeinschaften  – ge­ rade nicht. Stattdessen sind Ehe und eingetragene Lebenspartnerschaft auf­ grund ihres jeweils eigenen, durch die sexuelle Orientierung klar abgrenz­ baren Adressatenkreises nicht substituierbar. Der besondere Schutz des Art. 6 Abs. 1  GG rechtfertigt Besserstellungen der Ehe im Verhältnis zur ungebundenen Partnerbeziehung, mithin zur nichtehelichen Lebensgemein­ schaft, nicht aber ohne weiteres auch im Verhältnis zu einer rechtlich ge­ ordneten Lebensgemeinschaft, die sich von der Ehe durch die Gleichge­ schlechtlichkeit der Partner unterscheidet und somit an einen Adressatenkreis richtet, der von vornherein keine Ehe eingehen kann. Die Einstufung als aliud-Institute ist auch der Grund, warum das Leitbild der Eheinstitutsgaran­ tie im Außenverhältnis keine Beeinträchtigungen durch die Einführung der eingetragenen Lebenspartnerschaft erfahren kann.

214  Das LPartG verstößt auch nicht, wie Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/ders./ Henneke, GG, Art. 6 Rn. 21 behauptet, gegen Art. 3 Abs. 1  GG, weil sonstigen Ein­ standsgemeinschaften, z. B. zwischen Geschwistern oder Verwandten, kein äquiva­ lentes Rechtsinstitut zur Verfügung gestellt wird. Die Funktionsgleichheit von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft spiegelt sich bei diesen Einstandsgemein­ schaften nicht in gleicher Form wider. Insbesondere verkennt eine solche Forderung die enge Anbindung der sexuellen Identität an die Menschenwürdegarantie, welche bei den sonstigen Einstandsgemeinschaften fehlt. Darüber hinaus besitzt die einge­ tragene Lebenspartnerschaft in Parallele zur Ehe eine entsprechende Leitbildfunktion für homosexuelle Menschen. Im Ergebnis auch Beck, NJW  2001, 1984 (1901). Vgl. auch Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 611 ff. 215  So aber P. Kirchhof, FPR  2001, 436 (438).



B. Dynamisierungsprozess  1221

4. Konsequenz: Vollendung eines grundrechtlichen Dynamisierungsprozesses im Tatbestand des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Die Unanwendbarkeit des ehelichen Privilegierungsgebots gegenüber eingetragenen Lebenspartnerschaften hat zur Folge, dass nicht nur die grundsätzliche Einführung eines statusrechtlichen Instituts für gleichge­ schlechtliche Paare neben der Ehe, sondern auch dessen eheähnliche Aus­ gestaltung zulässig gewesen ist.216 Angesichts der ausbleibenden Substitu­ ierbarkeit der institutionellen Adressatenkreise tritt die eingetragene Le­ benspartnerschaft gar nicht erst in ein Spannungsverhältnis zum Eheschutz. Der im Tatbestand des allgemeinen Persönlichkeitsrechts eingesetzte grund­ rechtliche Dynamisierungsprozess, der durch einen medizinisch-wissen­ schaftlichen Erkenntnisfortschritt sowie einem grundlegenden Wandel der gesellschaftlichen Sexualmoral initiiert wurde und zur Verabschiedung des LPartG geführt hat, wird folglich im Ergebnis nicht durch materielle Vorga­ ben des verfassungsrechtlichen Eheschutzes beschränkt. Art. 6 Abs. 1  GG entfaltet bei diesem grundrechtlichen Dynamisierungsprozess keine Wirkung als materielle Dynamisierungsgrenze. Dies muss erst recht für die allgemei­ ne Anerkennung des Lebens einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft als persönlichkeitsrelevante Schutzposition im Tatbestand des allgemeinen Per­ sönlichkeitsrechts gelten, bleibt diese in ihrer Intensität doch noch hinter dem originären Leistungsanspruch auf statusrechtliche Institutionalisierung der eingetragenen Lebenspartnerschaft zurück. Der grundrechtliche Dynamisierungsprozess im Tatbestand des allgemei­ nen Persönlichkeitsrechts ist somit zu einem vollkommenen Abschluss ge­ kommen. Aus der tatbestandlichen Sinnerweiterung um den Einbezug gleichgeschlechtlicher Partnerschaften folgen die nunmehrige Anerkennung eines subjektiv-rechtlichen Schutzes gleichgeschlechtlicher Partnerschaften und sogar die Anerkennung eines originären leistungsrechtlichen Anspruchs auf entsprechende Institutionalisierung.

V. Verfassungsrichterliche Kontrolle Der vollzogene grundrechtliche Dynamisierungsprozess mit dem Ergebnis einer tatbestandlichen Erweiterung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts um den ergänzenden Einbezug gleichgeschlechtlicher Partnerschaften und ihre statusrechtliche Institutionalisierung war auch Gegenstand verfassungsrich­ terlicher Entscheidung. Die viel beachtete Entscheidung zur Verfassungskon­ formität des LPartG aus dem Jahr 2002 soll abschließend im Lichte der ho­ 216  So

auch Coester-Waltjen, in: I.  v.  Münch/Kunig, GG, Art. 6 Rn. 17.

222

Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

listischen „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“ unter dem As­ pekt der spezifischen Anforderungen an die verfassungsrichterliche Kontrolle grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse im Fokus stehen. 1. Kontrollmaßstab Für grundrechtliche Dynamisierungsprozesse im Typus eines retardieren­ den Grundrechtstatbestands wie das allgemeine Persönlichkeitsrecht gilt ein strenger Maßstab für die verfassungsrichterliche Kontrolle.217 Der grund­ rechtliche Dynamisierungsprozess erfolgt bei diesem Typus unter Anwen­ dung der Methode normativ gebundener Topik und darf nicht durch materi­ elle Dynamisierungsgrenzen ausgeschlossen oder beschränkt sein. Dieser Maßstab für die Verfassungsinterpretation entspricht auch dem methodischen Selbstverständnis des BVerfG.218 Die Auseinandersetzung mit einem grund­ rechtlichen Dynamisierungsprozess in der Begründung verfassungsrichterli­ cher Entscheidungen erweist sich als kompetenzielle Verpflichtung des Verfassungsgerichts, erfordert die Methode der Verfassungsinterpretation doch stets ein zweistufiges Verfahren, das Abweichungen von der histori­ schen Ausgangssituation zunächst einmal überhaupt möglichst exakt identi­ fizieren und sodann begründen muss. Demzufolge hat auch die verfassungsrichterliche Kontrolle hinsichtlich des Einbezugs gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in den Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1  GG zunächst einmal den Dynamisie­ rungsprozess als solchen zu identifizieren. Der konträre gesellschaftliche Umgang mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften zum Entstehungszeit­ punkt des Grundgesetzes und zum Zeitpunkt der Einführung der eingetrage­ nen Lebenspartnerschaft hat sich in der verfassungsrichterlichen Reflexion widerzuspiegeln. Der strenge Kontrollmaßstab des Dynamisierungsprozesses im Typus eines retardierenden Grundrechtstatbestands fordert vom BVerfG ebenso die Auseinandersetzung mit relevanten Dynamisierungsfaktoren, in diesem konkreten Fall die Verwurzelung von sexueller Identität und Men­ schenwürde sowie die Umsetzung des Minderheitenschutzes. 2. Stellungnahme zu BVerfGE 105, 313 Im Zentrum der Entscheidung BVerfGE 105, 313 ff. aus dem Jahr 2002219 stand die verfassungsrechtliche Bewertung des statusrechtlichen Instituts der 217  Dazu

oben Teil  3  D.  III.  3. oben Teil  3  D.  II.  1. 219  BVerfGE  105, 313 ff. 218  Dazu



B. Dynamisierungsprozess  1223

eingetragenen Lebenspartnerschaft. Erstmals seit der Homosexuellen-Ent­ scheidung aus dem Jahr 1957220 ging es erneut um die Frage der verfas­ sungsrechtlichen Reflexion von Homosexualität und gleichgeschlechtlicher Partnerschaft. Erklärte das BVerfG im Jahr 1957 die Strafbarkeit männlicher Homosexualität ausdrücklich für verfassungswidrig, bekundete es nun 45  Jahre später die Verfassungskonformität der eingetragenen Lebenspart­ nerschaft. Es kam zu dem Ergebnis, die Einführung der eingetragenen Le­ benspartnerschaft verstoße nicht gegen Art. 6 Abs. 1  GG. Dieser gegensätz­ liche Umgang mit gleichgeschlechtlicher Partnerschaft ist in jeglicher Hin­ sicht bemerkenswert, anerkennt das BVerfG doch nunmehr homosexuellen Personen ein ihnen von Verfassung wegen zustehendes Recht, in einer rechtlich abgesicherten Partnerschaft zu leben, obwohl sich die einschlägi­ gen Bestimmungen des Grundgesetzes seit der Homosexuellen-Entscheidung in keiner Weise geändert haben. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Notwendigkeit verfassungsrichterlicher Auseinandersetzung mit einem grundrechtlichen Dynamisierungsprozess im Tatbestand des allgemeinen Persönlichkeitsrechts für die Entscheidung aus dem Jahr 2002 geradezu auf. Gleichwohl sucht man in der Entscheidungsbegründung vergeblich nach einer entsprechenden Aufarbeitung. Bei einer Durchsicht der Entscheidungs­ gründe springt sofort die fehlende Auseinandersetzung des Verfassungsge­ richts mit dem grundrechtlichen Dynamisierungsprozess im Tatbestand des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ins Auge. Lediglich beiläufig erwähnt das BVerfG an einer einzigen Stelle und –  angesichts der hohen Aussagekraft  – in unverhältnismäßiger Kürze, dass der Gesetzgeber mit der Anerkennung von Rechten gleichgeschlechtlicher Paare dem aus Art. 2 Abs. 1  GG und Art. 3 Abs. 1, Abs. 3 GG fließenden Schutzanspruch Rechnung trage, diesen Personen zu einer besseren Entfaltung ihrer Persönlichkeit zu verhelfen und Diskriminierungen abzubauen.221 In diesem Punkt gibt die Entscheidung insofern berechtigten Anlass zu grundlegender Kritik. Angesichts des offen­ kundigen Rechtsprechungswandels bei der Bewertung des verfassungsrecht­ lichen Schutzes gleichgeschlechtlicher Paare wäre eine dezidierte Auseinan­ dersetzung mit dem zugrundeliegenden Dynamisierungsprozess erforderlich gewesen. Der pauschale Verweis auf bessere Entfaltungsmöglichkeiten der Persönlichkeit und den Abbau von Diskriminierungen durch einen verfas­ sungsrechtlichen Schutz gleichgeschlechtlicher Partnerschaften genügt nicht den strengen Anforderungen, die an die verfassungsrichterliche Kontrolle im Bereich retardierender Grundrechtstatbestände zu stellen sind. Mit keinem Wort benennt das BVerfG die Entwicklungsparameter der Lebenswirklich­ keit, die überhaupt erst dazu geführt haben, Homosexualität und gleichge­ 220  BVerfGE  6,

389 ff. 313 (346).

221  BVerfGE  105,

224

Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

schlechtliche Partnerschaft als Ausprägung der individuellen Persönlichkeit zu begreifen. Ebenfalls fehlt die Herausstellung der in diesem Fall besonders relevant werdenden Eigenschaft von Art. 1 Abs. 1  GG als Dynamisierungs­ faktor. Die enge Verwurzelung der sexuellen Identität als prädispositives Persönlichkeitsmerkmal in der Menschenwürdegarantie und ihr Einfluss auf die Partnerwahl sowie die damit im Zusammenhang stehende menschen­ rechtliche Gewährleistung eines entsprechenden statusrechtlichen Instituts für gleichgeschlechtliche Paare vermitteln sogar einen originären verfas­ sungsrechtlichen Leistungsanspruch auf entsprechende Institutionalisierung. Angesichts der gänzlich ausbleibenden Verknüpfung von sexueller Identität und menschlicher Würde verkennt das Verfassungsgericht einen imminent wichtigen Dynamisierungsfaktor für seine Entscheidungsbegründung. Dabei hatte das BVerfG in früheren Fällen die Frage nach einem originären Leis­ tungsrecht auf Schaffung eines statusrechtlichen Instituts für gleichge­ schlechtliche Paare zumindest schon einmal aufgeworfen.222 Deutlichere Worte, aus denen sich die Anerkennung eines Leistungsrechts auf Instituti­ onalisierung ableiten lässt223, finden sich schlussendlich erst in der späteren Transsexuellen-Rechtsprechung, konkret neun Jahre nach der Entscheidung zur Verfassungskonformität der eingetragenen Lebenspartnerschaft, wenn das Gericht im Jahr 2011 formuliert: „Zu der von Artikel 2 Absatz I GG geschützten freien Persönlichkeitsentfaltung gehört das Recht jedes Men­ schen, mit einer Person seiner Wahl eine dauerhafte Partnerschaft einzuge­ hen und diese in einem der dafür gesetzlich vorgesehenen Institute rechtlich abzusichern.“224 Indem das BVerfG in der Entscheidung zum LPartG aus dem Jahr 2002 lediglich einen Schutz zur Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 GG herleitet, erkennt es das eigentliche Schutzniveau, nämlich einen Einbezug gleichgeschlechtlicher Partnerschaft in den Tatbestand des allgemeinen Per­ sönlichkeitsrechts als Folge eines grundrechtlichen Dynamisierungsprozes­ ses, insgesamt also nur unzureichend. Angesichts dieses Befunds überrascht die teils massive Kritik225 an der Entscheidung nicht. Sie fußt auf einem Mangel an Transparenz im Umgang mit dem grundrechtlichen Dynamisie­ rungsprozess, der die Nachvollziehbarkeit der Entscheidung erschwert. Einzig die Ausführungen des Verfassungsgerichts zur fehlenden Begrenzung des Dynamisierungsprozesses durch die Institutsgarantie und das Privilegie­ 222  BVerfGK,

NJW  1993, 3058 (3058 f.). auch Sanders, in: Emmenegger/Wiedmann, Bd. 2, S. 351 (363). 224  BVerfG, NJW  2011, 909 (910) mit Verweis auf BVerfGE  115, 1 (24). 225  So sprechen bspw. Scholz/Uhle, NJW  2001, 393 (398 f.) von einer „verfas­ sungswidrigen Maßnahme“. Vehemente Kritik kommt auch von Braun, JZ  2002, 23 (23 ff.); Braun, ZRP  2001, 14 (14 ff.). 223  So



B. Dynamisierungsprozess  1225

rungsgebot der Ehe verdienen in ihrem Ergebnis Zustimmung. Das BVerfG erörtert zumindest in gebotener Ausführlichkeit die fehlende Substituierbar­ keit der institutionellen Adressatenkreise und stuft dementsprechend Ehe und eingetragene Lebenspartnerschaft zu Recht als aliud-Institute ein.

VI. Zwischenergebnis Ein erster Meilenstein im Dynamisierungsbereich „gleichgeschlechtliche Partnerschaften“ ist in dem vollzogenen grundrechtlichen Dynamisierungs­ prozess des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu erblicken. Ausgelöst durch Dynamisierungsprozesse in der Lebenswirklichkeit, die auf einem medizi­ nisch-wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn über die Eigenschaft der sexuel­ len Identität als prädispositives Persönlichkeitsmerkmal, einem gesellschaft­ lichen Wandel bei der Sexualmoral sowie der rechtspolitischen Entscheidung zur Einführung der eingetragenen Lebenspartnerschaft als statusrechtliches Institut für gleichgeschlechtliche Paare beruhen, hat in der verfassungsrecht­ lichen Reflexion eine tatbestandliche Erweiterung im Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrecht stattgefunden. Bisher waren homosexuelle Verhaltensweisen, insbesondere auch das Leben in einer gleichgeschlechtli­ chen Partnerschaft, alleine durch die allgemeine Handlungsfreiheit unter verfassungsrechtlichen Schutz gestellt. Ihr nunmehriger Einbezug in den Tatbestand des allgemeinen Persönlichkeitsrechts erweist sich als grund­ rechtlicher Dynamisierungstypus innerhalb eines retardierenden Grundrecht­ statbestands, den zunächst einmal seine tatbestandliche Statik prägt. Der Vollzug einer tatbestandlichen Sinnerweiterung ist hier nur ausnahmsweise zulässig und bedarf der Berücksichtigung gewichtiger Dynamisierungsfak­ toren. Im Falle des Einbezugs gleichgeschlechtlicher Partnerschaften wirken die enge Verwurzelung der sexuellen Identität mit der Menschenwürdega­ rantie, die aufgrund ihrer prädispositiven Eigenschaft auch zu einer Achtung der Lebensentscheidung für ein Leben in einer gleichgeschlechtlichen Part­ nerschaft verpflichtet, sowie der durch Art. 1 Abs. 1 GG ebenfalls geforder­ te Minderheitenschutz als Dynamisierungsfaktoren. Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse unterliegen materiellen Gren­ zen. Ein eingesetzter grundrechtlicher Dynamisierungsprozess findet daher erst seinen Abschluss, wenn er nicht durch andere verfassungsimmanente Vorgaben ausgeschlossen ist. Zu den materiellen Dynamisierungsgrenzen zählen vor allem auch die institutionellen Strukturvorgaben der in Art. 6 Abs. 1  GG verankerten Eheinstitutsgarantie, deren ungestörte Funktions­ wahrung über die Dimension des verfassungsrechtlichen Eheschutzes als objektiv-rechtliche Wertentscheidung für die gesamte Rechtsordnung im Außenverhältnis sichergestellt wird. Die tatbestandliche Sinnerweiterung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts um den Schutz gleichgeschlechtlicher

226

Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

Partnerschaften tangiert dieses Schutzniveau der Ehe indes nicht. Bei der Ehe und der eingetragenen Lebenspartnerschaft handelt es sich vielmehr um nicht substituierbare statusrechtliche Institute, die sich an unterschiedliche Adressatenkreise richten. Der grundrechtliche Dynamisierungsprozess in Form des Einbezugs gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in den Schutz­ umfang des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist damit tatsächlich zu ­seinem Abschluss gekommen. In der Konsequenz liegt es, dass die Partner einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft einen subjektiv-rechtlichen Schutzanspruch auf Achtung ihrer Partnerschaft erhalten. Aufgrund der en­ gen Anbindung der sexuellen Identität als Ausprägung menschlicher Würde besteht sogar ein originäres verfassungsrechtliches Leistungsrecht homose­ xueller Menschen auf tatsächliche Schaffung eines statusrechtlichen Instituts für gleichgeschlechtliche Paare. Für die verfassungsrichterliche Kontrolle grundrechtlicher Dynamisie­ rungsprozesse im Typus retardierender Grundrechtstatbestände gilt ein be­ sonders strenger Kontrollmaßstab, in dessen Zusammenhang das BVerfG die Berücksichtigung der Dynamisierungsfaktoren, die ausnahmsweise zu einer tatbestandlichen Sinnerweiterung geführt haben, genau darzulegen hat. Diesen Anforderungen wird die Entscheidung des Verfassungsgerichts zur Verfassungskonformität des LPartG aus dem Jahr 2002 nicht gerecht. Le­ diglich beiläufig weist das BVerfG auf einen heutzutage bestehenden Schutz gleichgeschlechtlicher Paare aus Art. 2 Abs. 1  GG hin, ohne diesen jedoch überhaupt in den Kontext grundrechtlicher Dynamik zu stellen. Der Bezug zur Menschenwürde wird verkannt. Die fehlende Befassung mit dem grund­ rechtlichen Dynamisierungsprozess erstaunt angesichts der zur Entstehungs­ zeit des Grundgesetzes noch vorherrschenden Auffassung einer rechtmäßi­ gen Strafbarkeit homosexueller Lebensweisen, haben sich die einschlägigen verfassungsrechtlichen Vorschriften seither doch nicht verändert. Einzig die Ausführungen zur fehlenden Begrenzung der tatbestandlichen Dynamik durch Art. 6 Abs. 1  GG verdienen im Ergebnis Zustimmung.

C. Dynamisierungsprozess 2: Gleichbehandlung von eingetragener Lebenspartnerschaft und Ehe I. Gleichbehandlung als aktuelle gesellschaftliche Gerechtigkeitsvorstellung Mit der Vornahme weiterer Anpassungen der eingetragenen Lebenspart­ nerschaft an die Ehe hat der Gesetzgeber einen zweiten, ausschließlich auf die eingetragene Lebenspartnerschaft zugeschnittenen Dynamisierungspro­ zess ins Rollen gebracht. Im Nachgang zur Entscheidung des BVerfG zum



C. Dynamisierungsprozess 2227

LPartG nahm er weitere Anpassungen bezüglich der Ausgestaltung beider Institute vor, die im Jahr 2005 durch das Gesetz zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts (LPartGErG)226 in Kraft getreten sind.227 Auch gegenwärtig gibt es Bestrebungen, eine Angleichung beider Institute voll­ ständig herbeizuführen.228 Diese Maßnahmen sind von dem Gedanken ge­ tragen, bestehende Ungleichbehandlungen abzubauen und auf diese Weise Diskriminierungen der Vergangenheit zu rehabilitieren. Trotz des verfas­ sungskonformen Nebeneinanders von Ehe und eingetragener Lebenspartner­ schaft ist zunächst allerdings weder gesagt, dass der Gesetzgeber zur insti­ tutionellen Angleichung von Verfassungs wegen verpflichtet war, geschwei­ ge denn zu weiterer Angleichung verpflichtet ist. Überhaupt mutet es auf den ersten Blick befremdlich an, einerseits Ehe und eingetragene Le­ benspartnerschaft aufgrund ihrer nicht austauschbaren Adressatenkreise als aliud-Institute einzustufen, andererseits ihre vollständige Gleichbehandlung zu postulieren.229 Der institutionelle Angleichungsprozess ist jedoch eindrucksvoller Beleg für eine Wertbildung und ihrer rechtlichen Umsetzung auf Grundlage des bereits in Teil  1 vorgestellten Schichtenmodells.230 Das Schichtenmodell filtert die Vielzahl individueller Moralvorstellungen einer Gesellschaft, in­ dem die vom Volk in regelmäßigen Wahlen in das Parlament gewählten Parteien, insbesondere solche mit tatsächlicher Regierungsverantwortung, eine „Vorformung“ bestimmter Wertevorstellungen treffen und diese schließ­ lich in die Gesetzgebung, das heißt in die konkrete Ausgestaltung der gel­ tenden Rechtsordnung, einbringen. Recht symbolisiert auf diese Weise ge­ ronnene Politik. Die jeweils zeitliche Rechtsordnung ist ein Abbild gegen­ wärtiger Werte- und Moralvorstellungen. Der grundlegende gesellschaftliche Wandel im Umgang mit den Themen Homosexualität und gleichgeschlechtlicher Partnerschaft war bereits ein richtungsweisender Entwicklungsparameter der Lebenswirklichkeit für die rechtspolitische Entscheidung der damaligen rot-grünen Bundesregierung zur Einführung der Lebenspartnerschaft. Seit dem Jahr 2001 hat sich die 226  BGBl. I  2004,

S. 3396. den einzelnen Anpassungen ausführlich Muscheler, FPR  2010, 227 (227 ff.); Wellenhofer, NJW  2005, 705 (705 ff.). 228  Am 27.5.2015 hat die Bundesregierung den Gesetzentwurf zur „Bereinigung des Rechts der Lebenspartner“ beschlossen, zu dem bereits der Bundesrat Stellung genommen hat, vgl. BR-Drucks.  259/15. Vgl. ferner auch den derzeitigen Gesetzes­ entwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN BT-Drucks.  18/3031, der auf eine vollständige Beendigung verbleibender Ungleichbehandlungen zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft ausgerichtet ist. 229  Siehe beispielsweise Schüffner, S. 347. 230  Dazu oben Teil  2 A.  II. 227  Zu

228

Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

gesellschaftliche Toleranz gegenüber Homosexuellen nochmals intensiviert. Demoskopische Erhebungen der Folgezeit waren Beleg für ein wachsendes gesellschaftliches Vorstellungsbild, das einer Angleichung der eingetragenen Lebenspartnerschaft an die Ehe positiv gegenübersteht.231 Heutzutage be­ fürwortet eine deutliche Mehrheit der deutschen Bevölkerung die Gleich­ stellung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft. Laut einer reprä­ sentativen forsa-Umfrage232 im Jahr 2013 sprechen sich hierfür Drei-Viertel aller Deutschen aus. Diese gesellschaftliche Entwicklung kommt  – der Wertbildung im Schichtenmodell entsprechend  – wiederum in den Ergän­ zungsgesetzen zum LPartG und weiteren Regelungen zugunsten eingetrage­ ner Lebenspartner, die in der Folgezeit erlassen wurden, zum Ausdruck. Heute finden sich auch in den entsprechenden Fachgesetzen, beispielsweise im Beamten- und Steuerrecht233, Bezugnahmen auf eingetragene Le­ benspartner im Sinne des LPartG. In politischer Hinsicht hat der schwarz-gelbe Regierungswechsel im Jahr 2005 den Angleichungsprozess dagegen gebremst. Insbesondere christlichkonservative Vorbehalte in den Reihen der Union zeichnen für einen zu­ rückhaltenden Umgang in der rechtspolitischen Förderung gleichgeschlecht­ licher Partnerschaften verantwortlich. Gleichwohl lehnen CDU und CSU einen Schutz gleichgeschlechtlicher Partnerschaften nicht gänzlich ab, son­ dern betonen lediglich die hervorgehobene Stellung der Ehe aufgrund ih­ rer  –  dem funktionalen Eheinstitutsschutz aber eigentlich gerade nicht zu entnehmenden234  – Eigenschaft als ideale Grundlage der Familie, die auch gegenüber gleichgeschlechtlichen Partnerschaftsformen zu bewahren sei. Im Grundsatz anerkennt aber auch die Union das Leben in gleichgeschlechtli­ chen Partnerschaften als Ausdruck individueller Persönlichkeit und spricht sich für ein staatliches Toleranzgebot zur Vermeidung von Diskriminierun­ gen gleichgeschlechtlicher Partnerschaften aus.235

auf Erhebungen bei Beck, NJW  2001, 1894 (1894, Fn. 4). stern.de vom 27.02.2013, vgl. http://www.stern.de/politik/ deutschland/stern-umfrage-deutsche-sagen-ja-zur-homo-ehe-1976664.html. 233  Vgl. § 17b  BBesG; §§ 2  Abs. 8  EStG; § 15 Abs. 1  Nr. 1 Alt.  2  ErbStG; § 3  GrEstG. 234  Dazu zuvor Teil  4 B.  IV.  1.  c)  bb). 235  Dies haben CDU/CSU ausdrücklich in ihr Wahlprogramm 2013 niederge­ schrieben, vgl. CDU/CSU, Gemeinsam erfolgreich für Deutschland, Regierungspro­ gramm 2013–2017, S. 38. 231  Nachweise

232  Forsa-Umfrage,



C. Dynamisierungsprozess 2229

II. Verfassungsrechtliche Reflexion 1. Dynamische Verweisungsnorm: Art. 3 Abs. 1  GG Die Frage nach einer institutionellen Gleichbehandlung betrifft im Kern die Umsetzung der fundamentalen Prinzipien von Gleichheit und Tole­ ranz.236 Angesichts der ursprünglichen Pönalisierung homosexueller Lebens­ weisen zum Zeitpunkt des Erlasses des Grundgesetzes kann es sich bei der Untersuchung der Vergleichbarkeit von Ehe und eingetragener Lebenspart­ nerschaft nur um einen grundrechtlichen Dynamisierungsprozess handeln, der eine entsprechende verfassungsrechtliche Reflexion herausfordert. Er soll im Folgenden anhand des dreistufigen Prüfprogramms der „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“ näher untersucht werden. Im Zentrum steht dieses Mal die Frage, ob und in welchem Umfang sich über den Hebel des allgemeinen Gleichheitssatzes ein nach Maßgabe von Art. 3 Abs. 1  GG erfolgender grundrechtlicher Dynamisierungsprozess zur Her­ stellung von Gleichheit in der Zeit zwischen beiden Instituten tatsächlich realisieren lässt. Der allgemeine Gleichheitssatz unterfällt in der „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“ dem Typus der dynamischen Verweisungsnormen. Als gewichtige positiv-rechtliche Ausprägung eines vorgeordneten Gerechtigkeitsprinzips sorgt die dynamische Natur des Art. 3 Abs. 1  GG für die Herstellung gerechter Gleichheitsvorstellungen in der Zeit.237 Nicht nur wird die Zeit zur offenen Flanke des Gleichheitssatzes238, ebenso wird die Gleichheit zum Gerechtigkeitsprimat, zu einem Schlüssel­ begriff von Gerechtigkeit239. Bereits auf tatbestandlicher Ebene und damit im Schutzbereich des allge­ meinen Gleichheitssatzes hat  –  bei der in dieser Arbeit befürworteten drei­ stufigen Gleichheitsdogmatik – eine normative Vergleichsgruppenbildung zu erfolgen, deren Maßstäbe den zeitgemäßen Gerechtigkeitsvorstellungen entstammen.240 Das Kernanliegen, tatbestandliche Dynamik durch Herstel­ lung von Gleichheit in der Zeit zu wahren und fortwährend sicherzustellen, erfolgt unter Rekurs auf objektiv-rechtliche Leitprinzipien. Diese überführen die neuen bzw. überholten Vorstellungen in die verfassungsrechtliche Refle­ xion der Maßstabsbildung von Art. 3 Abs. 1  GG, indem sie bereits im 236  Benedict,

JZ  2013, 477 (484). oben Teil  3  B.  I.  2.  b). 238  Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3  I Rn. 194. 239  Rüfner, in: Dolzer/Graßhof/Kahl/Waldhoff/Walter, BK-GG, Stand: Oktober 1992, Art. 3  I Rn. 2; Hebeler, Generationengerechtigkeit als verfassungsrechtliches Gebot, S. 120. 240  Ausführlich oben Teil  3  B.  I.  2.  b)  cc). 237  Dazu

230

Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

Grundgesetz enthaltene Wertentscheidungen zur Orientierung bietenden Leitlinie im normativen Umgang mit den neu zu integrierenden Gerechtig­ keitsvorstellungen machen. Zu ihren wesentlichen Pfeilern gehören die Beachtung der Menschenwürdegarantie bzw. ihrer Ausprägungen sowie vornehmlich die Herstellung kohärenter Systemgerechtigkeit hinsichtlich der Bestimmung des aktualisierten normativen „Stellenwerts“ eines durch gesellschaftliche Gerechtigkeitsvorstellungen überholten Schutzgutes. Beide wirken als Dynamisierungsfaktoren der Gerechtigkeit, beide treiben die zeitgerechte Maßstabsbildung bei der Beurteilung von Vergleichsgruppen voran. 2. Dynamisierungsfaktoren der zeitgerechten Vergleichsgruppenbildung a) Achtung der Menschenwürde Auch die Beurteilung der Maßstabsbildung von Eheleuten und eingetra­ genen Lebenspartnern als normatives und damit zeitgerechtes Vergleichspaar hat die besondere Stellung der sexuellen Identität als wesentliche Ausprä­ gung menschlicher Würde zu berücksichtigen. Art. 1 Abs. 1  GG wirkt auf den Beurteilungsmaßstab der Vergleichbarkeit als Dynamisierungsfaktor ein, fordert er doch gerade eine zeitgemäße Berücksichtigung der Menschenwür­ de in all ihren Erscheinungsformen. Weiterhin streitet die ebenfalls Art. 1  Abs. 1  GG entspringende staatliche Verpflichtung zum Schutze ge­ sellschaftlicher Minderheiten und zur gleichzeitigen Förderung gesellschaft­ licher Toleranz für einen zeitgerechten Umgang mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften.241 Der Minderheitenschutz ist in die Waagschale der Maß­ stabsbildung einzustellen. b) Wahrung zeitgerechter Systemkohärenz Bei der Herstellung von Gleichheit in der Zeit, das heißt bei der zeitge­ mäßen Maßstabsbildung von Eheleuten und eingetragenen Lebenspartnern als Vergleichspaare, spielt vor allem der Topos zeitgerechter Systemkohä­ renz eine besondere Bedeutung als Dynamisierungsfaktor.242 Das Grundge­ setz bildet ein in einem Gesamtzusammenhang stehendes System, das vom Leitgedanken der Systemgerechtigkeit getragen wird.243 Gerechtigkeitsvor­ 241  Dazu

oben Teil  2  C.  IV.  1. oben Teil  2  C.  IV.  2, Teil  3.  B.  I.  2.  c)  bb). 243  Dazu oben Teil  2  C.  IV.  2. 242  Dazu



C. Dynamisierungsprozess 2231

stellungen sind an die gesellschaftlichen Wertevorstellungen gekoppelt, die naturgemäß einen dynamischen Charakter besitzen. Verschiebungen in der Suprastruktur der Gerechtigkeitsvorstellungen können ihrerseits dazu anre­ gen, die Systemgerechtigkeit des Grundgesetzes zu überholen. Hierbei be­ misst sich der normative Stellenwert einer überholten Gerechtigkeitsvorstel­ lung hinsichtlich eines bestimmten Schutzgutes nach dem systematischen Gedanken ganzheitlicher Verfassungsauslegung, das heißt die nunmehrige verfassungsrechtliche Reflexion des überholten normativen Schutzgutes vollzieht sich anhand normativer Vergleiche mit ähnlich gelagerten Wertent­ scheidungen, die in der Verfassung bereits als selbstbindende Elemente enthalten sind. Die Wahrung zeitgerechter Systemkohärenz als Dynamisie­ rungsfaktor erlaubt vergleichende Betrachtungen mit Blick auf die Norma­ tivität gänzlich neuer oder aber auch überholter Tatsachen. Die Auslegungs­ problematik um die normative Maßstabsbildung der Vergleichspaare Eheleu­ te und eingetragene Lebenspartnerschaften ist damit in den Kontext einer ganzheitlichen Betrachtung zu stellen, welche die materiellen Vorgaben der Verfassung als Einheit  –  sowohl im nationalen als auch im supranationalen Kontext  – nicht aus dem Blick verliert.244 aa) Wertbestimmung der sexuellen Identität analog der Schutzgüter aus Art. 3 Abs. 3  GG Die Wertigkeit der sexuellen Identität als grundrechtliche Schutzposition ist angesichts der Dynamisierung im Bereich „gleichgeschlechtlicher Part­ nerschaften“ zu überholen. Für eine Rejustierung ihres verfassungsrechtli­ chen Schutzniveaus bietet vor allem Art. 3 Abs. 3  GG eine Orientierungs­ hilfe, weisen die dort aufgeführten Schutzgüter doch in sachlicher Hinsicht ebenfalls enge Bezüge zur Menschenwürdegarantie auf.245 Art. 3 Abs. 3 GG wurde vor allem als bewusste Reaktion auf die Verfolgung von Minderhei­ ten während des Nationalsozialismus in das Grundgesetz aufgenommen.246 Die sexuelle Identität als verfassungsrechtliches Schutzgut teilt diese Ei­ genschaften. Sexuelle Identität als Ausprägung der Menschenwürde sowie die Verfolgung und Entwürdigung homosexueller Menschen durch die Na­ tionalsozialisten wegen eines prädispositiven Persönlichkeitsmerkmals las­ sen bei der Bewertung des Persönlichkeitsmerkmals der sexuellen Identität eine deutliche Parallele zur Zielsetzung der Schutzgüter des Art. 3 Abs. 3 Möller, DÖV  2005, 64 (67). in: v.  Mangoldt/Klein/ders., GG, Art. 3 Abs. 3 Rn. 367; Dürig, in: Maunz/ders., Art. 3 Abs. 3 Rn. 1. 246  Wiemann, NJW  2010, 1427 (1428) m. w. N.; Michael, NJW  2010, 3537 (3539). 244  Betonend 245  Starck,

232

Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

Satz  1  GG erkennen.247 Obwohl Art. 3 Abs. 3  GG das Merkmal der sexuel­ len Identität nicht nennt und es auch nicht stillschweigend in die Vorschrift hineinzulesen ist248, verbietet die Wahrung von Systemkohärenz als Dyna­ misierungsfaktor wiederum nicht das Anstellen normativ-systematischer Vergleiche, um den Wert der sexuellen Identität als grundrechtliche Schutz­ position näher zu bestimmen, sondern fordert eine solche Vorgehensweise für die Wertbestimmung geradezu. Dabei geht es gerade nicht darum, den Katalog des Art. 3 Abs. 3  GG stillschweigend um das Merkmal der sexuel­ len Identität zu erweitern249, sondern schlicht um die systemgerechte Her­ stellung von Gleichheitsbezügen. Gleichheitsrechtliche Probleme können nie alleine aus dem allgemeinen Gleichheitssatz selbst heraus entschieden werden, sondern ihre Einordnung ist das Resultat einer Auseinandersetzung mit den in der Gesellschaft jeweils vorherrschenden Gerechtigkeits- und Wertevorstellungen, die im Laufe der Zeit divergierende Vorstellungen über den Vergleichsmaßstab hervorbringen.250 Bei der Herstellung von Gleichheit in der Zeit ist im Rahmen der Ver­ gleichsgruppenbildung angesichts des Erkenntnisfortschritts die Wertung der analog liegenden Schutzgüter von Art. 3 Abs. 3  GG entsprechend auf das Merkmal der sexuellen Identität zu übertragen. Art. 3 Abs. 3  GG stuft die von ihm in Bezug genommenen Schutzgüter als besonders schützens­ wert ein und verbietet damit Ungleichbehandlungen, die an eines der Schutzgüter als Differenzierungsmerkmal anknüpfen. Dieser Stellenwert und die damit einhergehende Auslegungsmaxime für die Beurteilung beste­ hender Ungleichbehandlung sind auch bei dem Kriterium der sexuellen Identität zu beachten. Die sexuelle Identität einer Person kann vor diesem Hintergrund für sich allein nicht ausschlaggebendes Kriterium für die Ge­ währung oder den Vorenthalt rechtlicher Vorteile sein. Hetero- und homo­ sexuelle Personen bilden ceteris paribus zunächst einmal ein zeitgerechtes Vergleichspaar.

247  Diesen Aspekt scheint Gärditz, in: Uhle, S. 85 (110) zu vernachlässigen, wenn er fragt, weshalb die sexuelle Identität gegenüber anderen persönlichen Iden­ titäten besonders hervorzuheben sei. 248  Die im Jahr 1993 eingesetzte Verfassungskommission hat sich bewusst gegen eine weitere Ausdifferenzierung der Gruppen des Art. 3 Abs. 3 GG entschieden, vgl. BT-Drs.  12/6000, S. 54; dazu auch Risse, S. 111 f. 249  Zu diesem Ergebnis aber kommt Kischel, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 3 Rn. 131. 250  Siehe dazu auch oben Teil  3  B.  I.  2.



C. Dynamisierungsprozess 2233

bb) Europäische Einflüsse auf die Gleichbehandlung von eingetragener Lebenspartnerschaft und Ehe Systemkohärenz hat nicht nur die nationale Perspektive, sondern auch den supranationalen Bezug des Grundgesetzes im Auge zu behalten. Die Bundes­ republik Deutschland ist eingebettet in ein internationales, insbesondere euro­päisches Mehrebenensystem, von dem es Impulse empfängt, die es wie­ derum mit seinen verfassungsimmanenten Strukturen verarbeitet.251 So gilt es bei der Beurteilung von Gleichbehandlungsansprüchen zwischen Ehegat­ ten und eingetragenen Lebenspartnern, welche aus dem Blickwinkel der Grundrechtsdynamik die zeitgerechte Maßstabsbildung beider Institute als Vergleichspaar betrifft, die Impulse und Entwicklungen im Europarecht, allen voran durch die ergangene Rechtsprechung des EuGH und EGMR zur Gleichbehandlung von Ehe und eingetragenen Lebenspartnerschaften bzw. äquivalenten Instituten der Mitgliedsstaaten, gebührend zu berücksichti­ gen.252 Die nationale Rechtsprechung und die ihr vorgelagerten europarecht­ lichen Entscheidungen sind dabei als zwei Seiten einer Medaille zu lesen.253 In einer Entscheidung aus dem Jahr 2009 verweist das BVerfG auf die Berücksichtigung von Art. 21 Abs. 1  GRCh254, der explizit eine unmittelba­ re Diskriminierung wegen sexueller Orientierung verbietet. Ebenso setzt sich das BVerfG in seiner Entscheidungsbegründung mit der Rechtsprechung des EGMR auseinander, wonach die sexuelle Orientierung unter das in Art. 14  EMRK enthaltene Tatbestandsmerkmal des „sonstigen Status“ zu subsumieren sei.255 Art. 14 i. V. m. Art. 8 EMRK erfordere besonders triftige Gründe für eine Ungleichbehandlung aufgrund der sexuellen Orientierung.256 Die Vergleichbarkeit sei umso eher anzunehmen, wenn in den Mitglieds­ staaten ein der Ehe im Wesentlichen gleichkommendes Institut für gleich­ geschlechtliche Paare geschaffen wurde.257 Im Jahr 2008 hat der EuGH nach Vorlage des VG München im Fall Maruko entschieden, dass eine Hinterbliebenenversorgung, die im Rahmen 251  Dazu

näher oben Teil  2  C.  IV.  2.  b). Michael, NJW  2010, 3537 (3539 ff.); ferner Eichenhofer, Fam­ FR  2010, 416 (419). 253  Grünberger, FPR  2010, 203 (204). 254  BVerfGE  124, 199 (220). 255  Zur Verbindlichkeit Böhm, VVDStRL  73 (2013), S. 212 (217, insb. Fn. 30, S. 244 ff.). 256  EGMR, ÖJZ  2003, 394 (394); ÖJZ  2004, 36 (37 f.); ÖJZ  2003, 395 (395 f.); NJW  2000, 2089 (2089 ff.); NJW  2009, 3637 (3637 ff.); NJW  2011, 1421 (1425); NVwZ  2011, 31 (31). 257  Argumentum e contrario aus EGMR, NVwZ  2011, 31 (32). 252  Ausführlich

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

eines berufsständischen Versorgungssystems gewährt wird, in den Geltungs­ bereich der Antidiskriminierungsrichtlinie 2000 / 78 / EG falle. Nach Art. 1 i. V. m. Art. 2 der Richtlinie stehe auch einem überlebenden gleichgeschlecht­ lichen Lebenspartner eine Hinterbliebenenversorgung zu.258 Dies sei jeden­ falls der Fall, wenn das Recht des Mitgliedsstaates ein verrechtlichtes Ins­ titut für gleichgeschlechtliche Paare bereithalte. Lebenspartner befänden sich in einer mit Ehegatten rechtlich und tatsächlich vergleichbaren Situa­ tion. Zwar fiele der Erlass von Rechtsvorschriften über den Familienstand nach dem 22.  Erwägungsgrund der Richtlinie in die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten und überließe daher den nationalen Gerichten, die Ver­ gleichbarkeit im Einzelfall festzustellen.259 Gleichwohl hätten die Gerichte der Mitgliedsstaaten dem unionsrechtlichen Grundsatz der Nichtdiskriminie­ rung260 stets zu beachten. Auf derselben Linie liegen die Urteile des EuGH im Fall Römer261 aus dem Jahr 2011, wonach eine unmittelbare Diskrimi­ nierung eingetragener Lebenspartner hinsichtlich der Gewährung von Zu­ satzversorgungsbezügen angenommen wurde, sowie in der Rechtssache Dittrich u. a.262 aus dem Jahr 2012, in welcher der EuGH den ungerechtfer­ tigten Ausschluss eingetragener Lebenspartner aus der Beihilfe rügte. Die supranationale Dimension der Systemkohärenz statuiert folglich eine Berücksichtigungspflicht der dortigen Regelungswerke und insbesondere der dazu ergangenen Rechtsprechung ihrer institutionellen Gerichtsbar­ keit263, bei der die Verfassungsprinzipien als Schleusen der Transformation von normativen Gehalten der überstaatlichen Ebene in das nationale Verfas­ sungsrecht wirken.264 Unionsrechtlich wird ein Gleichbehandlungsgebot von Ehe und eingetragener Partnerschaft vorgegeben; davon zeugen die Ent­ scheidungen des EGMR und EuGH. Diese Vorgabe schlägt sich wiederum in der nationalen Verfassungsinterpretation nieder. Der völkerrechtsfreundli­ che Charakter des Grundgesetzes und die Einbettung der Bundesrepublik in den gemeinsamen europäischen Staatenverbund verpflichten die nationalen Gerichte zu einer möglichst harmonisierenden Auslegung der nationalen Rechtsordnung.265 Die Europäisierung der Verfassungsinterpretation drängt 258  EuGH,

NJW  2008, 1649 (1649 ff.). NJW  2008, 1649 (1653); Wiemann, NJW  2010, 1427 (1427). 260  Zur unionsrechtlichen Herleitung dieses Grundsatzes Grünberger, FPR  2010, 203 (203 f.). 261  EuGH, NJW  2011, 2187 (2187 ff.). 262  EuGH, NVwZ  2013, 132 (132 ff.). 263  Böhm, VVDStRL  73 (2013), S. 212 (242). 264  Sommermann, in: Festschrift für U.  Steiner, S. 796 (804). 265  Zum Zusammenspiel zwischen europäischem und nationalem Verfassungs­ rechts bereits oben Teil  2  C.  IV.  2.  b). 259  EuGH,



C. Dynamisierungsprozess 2235

nach einer dynamischen Anpassung im Rahmen der Auslegung nationaler verfassungsrechtlicher Vorschriften. Sie wirkt hinsichtlich der Beurteilung einer institutionellen Vergleichbarkeit von Ehe und eingetragener Le­ benspartnerschaft als Dynamisierungsfaktor. 3. Folge: Vergleichbarkeit von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft Die Gleichheit als fundamentales Verfassungsprinzip lässt sich nicht al­ lein durch den Verweis auf eine entgegenstehende Tradition entkräften266, wenn sie gesellschaftlichen Gerechtigkeitsvorstellungen zuwiderläuft. Die Vergleichbarkeit gesellschaftlicher Gruppen fällt im zeitlichen Verlauf unter­ schiedlich aus, die erforderliche Maßstabsbildung bei der dynamischen Verweisungsnorm Art. 3 Abs. 1  GG findet dabei unter Berücksichtigung relevanter Dynamisierungsfaktoren statt. Im Lichte dieser verfassungsrecht­ lichen Rahmenbedingungen hat die Beurteilung der Vergleichbarkeit von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft zu erfolgen. Die gesellschaftli­ che Forderung nach einer Gleichstellung beider Institute, die teilweise be­ reits vom Gesetzgeber aufgegriffen und umgesetzt wurde, drängt nach einer zeitgerechten Aktualisierung der Vergleichsgruppenbildung beider Institute. Hierbei wirken insbesondere die Beachtung der Menschenwürdegarantie und die Erforderlichkeit zeitgerechter Systemkohärenz im nationalen und internationalen Kontext des Grundgesetzes als Dynamisierungsfaktoren. Ihre Anwendung als Gerechtigkeitsfaktoren auf den Beurteilungsmaßstab der institutionellen Vergleichbarkeit von Ehe und eingetragener Lebenspartner­ schaft, die im Kern die Vergleichbarkeit hetero- und homosexueller Men­ schen zum Gegenstand hat, führt im Ergebnis zur Annahme einer normati­ ven Vergleichbarkeit beider Institute. Zugleich manifestiert sich in der Sinnerweiterung ein grundrechtlicher Dynamisierungsprozess innerhalb von Art. 3 Abs. 1  GG in seiner Eigenschaft als dynamische Verweisungsnorm. Partnerschaftliche Beziehungen in einer Ehe oder einer eingetragenen Le­ benspartnerschaft werden im Zuge jenes grundrechtlichen Dynamisierungs­ prozesses zu prinzipiell vergleichbaren statusrechtlichen Instituten. Grund­ rechtliche Dynamisierungsprozesse finden stets auf der Tatbestandsebene statt, im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG betrifft die grundrechtliche Dynamik demnach die tatbestandliche Maßstabsbildung der Vergleichsgruppen, wel­ che eine normative Abwägungsentscheidung erfordert. Ob dagegen im Einzelfall eine Ungleichbehandlung gleichwohl verfassungsrechtlich zu rechtfertigen ist, betrifft einen von der Vergleichsgruppenbildung strikt zu trennenden Aspekt der Rechtfertigungsebene. 266  Möller,

DÖV  2005, 64 (70).

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

III. Begrenzung der Tatbestandsdynamik durch Art. 6 Abs. 1  GG? Die funktionalen Strukturvorgaben aus Art. 6 Abs. 1 GG, insbesondere ihr Schutz im Außenverhältnis über die Dimension des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie als objektiv-rechtliche Wertentscheidungen, könnten den grundrechtlichen Dynamisierungsprozess bei der Maßstabsbil­ dung indes begrenzen. Die in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltene Eheinstitutsgaran­ tie kommt nicht nur „lokalen“ Ausgestaltungsentscheidungen mit Blick auf den normgeprägten Ehetatbestand eine beschränkende Wirkung zu, sondern entfaltet in der gesamten Rechtsordnung Wirkung als materielle Dynamisie­ rungsgrenze.267 1. Innenverhältnis: Keine unmittelbare Beeinträchtigung der ehelichen Funktionsebenen Im Innenverhältnis wäre eine Beeinträchtigung der Eheinstitutsgarantie einzig in einer Aushöhlung des institutionellen Funktionsschutzes zu erbli­ cken, welche die Eheleute unmittelbar berührt. Die individuell-freiheitliche Funktion der Ehe erfährt jedoch abermals keine Beeinträchtigung durch eine institutionelle Gleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartner­ schaft. Die Gleichbehandlung der eingetragenen Lebenspartnerschaft mit der Ehe tangiert den individuellen Freiheitsraum der Ehegatten auf keine Weise. Auch die gemeinschaftlich-soziale Funktion bleibt unverändert, wird der Charakter der Ehe als Verantwortungs- und Beistandsgemeinschaft, welche die öffentliche Hand entlastet, durch das Hinzutreten eines statusrechtlichen Instituts für gleichgeschlechtliche Paare nicht verändert. Schließlich büßt ebenso wenig die Leitbildfunktion der Ehe durch eine Gleichstellung der ein­ getragenen Lebenspartnerschaft an ihrer Signalwirkung als stabilste  – und damit erstrebenswerteste  – Form partnerschaftlichen Zusammenlebens ein. Voraussetzung des Zugangs zur Ehe ist nach wie vor das Erfordernis der Verschiedengeschlechtlichkeit der Partner. Gegenüber dem tatsächlichen Ad­ ressatenkreis  der Ehe, nämlich gegenüber heterosexuellen Paaren, kommt diese Orientierungswirkung unverändert zur Geltung. 2. Außenverhältnis: Keine Beeinträchtigung des Privilegierungsgebots der Ehe Der Schutz der funktionalen Kernvorgaben der Eheinstitutsgarantie im Außenverhältnis vollzieht sich über die objektiv-rechtliche Dimension von 267  Dazu

bereits oben Teil  4  B.  IV.  2.



C. Dynamisierungsprozess 2237

Art. 6 Abs. 1  GG.268 Das Privilegierungsgebot der Ehe als objektive Wert­ entscheidung für jegliches staatliche Handeln und gleichzeitige Auslegungs­ maxime rechtlicher Veränderungsprozesse fordert die Vermeidung der Aus­ tauschbarkeit der Ehe mit konkurrierenden Instituten, die mit demselben Maß an staatlichen Privilegien, aber weniger partnerschaftlichen Verpflich­ tungen ausgestaltet sind. Gegenüber gleichgeschlechtlichen Paaren in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft kommt das Privilegierungsgebot aber gar nicht erst zum Tragen269: Die eingetragene Lebenspartnerschaft erweist sich als ein gleichwertiges statusrechtliches Institut, das hinsichtlich der auferlegten lebenspartnerschaftlichen Pflichten keine Unterschiede zur Pflichtenbindung von Eheleuten vorsieht.270 Aufgrund der fehlenden Subs­ titutionsmöglichkeit ihrer institutionellen Adressatenkreise sind Ehe und eingetragene Lebenspartnerschaft einerseits als aliud-Institute zu charakteri­ sieren, andererseits gebietet ihre vollumfängliche, funktionale Übereinstim­ mung eine rechtliche Gleichbehandlung. Ist die Ehe wegen ihrer besonderen institutionellen Funktionen in privilegierter Form verfassungsrechtlich ge­ schützt, liegt es wiederum in der Konsequenz eines funktionalen Verständ­ nisses, die eingetragene Lebenspartnerschaft, deren Adressatenkreis vom Zugang zur Ehe ausgeschlossen ist, angesichts ihrer funktionalen Identität an den ehelichen Privilegien zu beteiligen.271 In einer solchen Betrachtung manifestieren sich schlussendlich zeitgerechte Wertevorstellungen, die in Maßstabsbildung der Vergleichbarkeit von Eheleuten und eingetragenen Lebenspartnern Einzug erhalten haben. Der bloße Verweis auf Art. 6 Abs. 1 GG kann somit eine Vergleichbarkeit zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft nicht per se ausschlie­ ßen.272 Die Eigenschaft von Art. 6 Abs. 1  GG als spezieller Gleichheitssatz kommt einzig gegenüber nichtehelichen Lebensgemeinschaften zur Anwen­ dung, nicht aber bei eingetragenen Lebenspartnern.273

268  Dazu

oben Teil  4  B.  IV.  2. oben Teil  4  B.  IV.  3.  b). 270  Freytag, DÖV  2002, 445 (450); Bruns, NJW  2008, 1929 (1929); Robbers, JZ  2001, 779 (781). 271  Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 555, 581. 272  Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Stand 2005, Art. 3 Rn. 94. 273  BVerfGE  99, 216 (232); Papier, NJW  2002, 2129 (2130); Tettinger, JZ  2002, 1146 (1148); Schüffner, S. 393 f.; Gärditz, in: Uhle, S. 85 (103 ff.); Gärditz, JZ 2011, 930 (933); v. Coelln, in: Sachs, GG, 7. Aufl., Art. 6 Rn. 19; Hillgruber, JZ 2010, 41 (42 f.); Hillgruber, JZ  2013, 843 (843 f.). 269  Dazu

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

3. Fazit: Ehe und eingetragene Lebenspartnerschaft als funktionsgleiche aliud-Institute Ehe und eingetragene Lebenspartnerschaft bleiben daher mit Blick auf ihre jeweiligen Adressatenkreise aliud-Institute, in ihrer funktionalen Ausgestal­ tung sind sie indessen identisch. Entscheidendes Zugangskriterium entweder zur Ehe oder aber zur eingetragenen Lebenspartnerschaft ist die sexuelle Identität der Partner. Sowohl bei der Ehe als auch bei der eingetragenen Le­ benspartnerschaft handelt es sich um eigenständige Statusverhältnisse.274 Sie sind jeweils auf Dauer angelegte, aus freiem Entschluss und unter staatlicher Mitwirkung eingegangene rechtlich verfestigte Partnerschaften275, wodurch sie sich von den nichtehelichen Lebensgemeinschaften unterscheiden.276 Knüpft man allein an dieses partnerschaftliche Verhältnis an, bilden eingetra­ gene Lebenspartner und Eheleute heute ein zeitgerechtes Vergleichspaar.277 Damit ist der grundrechtliche Dynamisierungsprozess einer Überholung der Maßstabsbildung von Art. 3 Abs. 1  GG zu seinem Ende gekommen. Insbe­ sondere Art. 6 Abs. 1  GG kann diese grundrechtliche Dynamik nicht be­ schränken, da der Funktionsschutz der Ehe keine Beeinträchtigung erfährt.

IV. Verfassungsrichterliche Kontrolle Nun verbleibt als dritter Untersuchungsbereich der „Lehre grundrechtli­ cher Dynamisierungsprozesse“ die Abbildung dieses grundrechtlichen Dy­ namisierungsprozesses in der einschlägigen Verfassungsrechtsprechung. Seit dem Jahr 2009 sind insgesamt sechs Entscheidungen278 des BVerfG ergan­ gen, die sich mit der Gleichbehandlung von Ehe und eingetragener Le­ benspartnerschaft beschäftigten. Entsprechend der Verpflichtung des Verfas­ sungsgerichts zur Erörterung grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse in der Entscheidungsbegründung279 hätte die Herausstellung der aktualisierten 274  Grünberger,

FPR  2010, 203 (203). soziologische Untersuchungen widerlegen die Annahme man­ gelnder Bindungs- und Partnerschaftsfähigkeit homosexueller Menschen. Dazu Wegner, ZfRSoz  1995, S. 170 (183 ff.); Risse, S. 19 f.; Schimmel, S. 39 f. 276  BVerfGE  124, 199 (222); 126, 400 (423); HansOLG Hamburg, FamRZ  2011, 1312 (1313); Gärditz, JZ  2011, 930 (933); Stüber, FPR  2006, 117 (118); Bruns, ZRP  1996, 6 (8); Zuck, NJW  2009, 1449 (1451). 277  Classen, JZ  2010, 411 (411). 278  BVerfGE  124, 199 ff. –  Hinterbliebenenversorgung; BVerfGE  126, 400 ff. –  Erbschaftsteuer; BVerfGE  131, 239 ff. –  Familienzuschlag; BVerfGE  132, 179 ff. –  Grunderwerbsteuer; BVerfGE  133, 59 ff. –  Sukzessivadoption; BVerfGE  133, 377 ff. –  Ehegattensplitting. 279  Dazu oben Teil  3  D.  II., III. 275  Umfangreiche



C. Dynamisierungsprozess 2239

Maßstabsbildung innerhalb von Art. 3 Abs. 1  GG Gegenstand verfassungs­ richterlicher Entscheidungsfindung sein müssen. 1. Kontrollmaßstab Eine aktualisierte Maßstabsbildung bezüglich der Vergleichsgruppen Ehe und eingetragene Lebenspartnerschaft erweist sich angesichts der ursprüng­ lichen Pönalisierung von Homosexualität und der nunmehrigen Anwendbar­ keit des allgemeinen Gleichheitssatzes auf eben jene Vergleichspaare als begründungsbedürftig. Entsprechend muss sich auch die verfassungsrichter­ liche Kontrolle mit der Bewertung tatbestandlicher Dynamik bei der norma­ tiven Maßstabsbildung innerhalb von Art. 3 Abs. 1  GG befassen. Dabei gilt für die Kontrolle grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse innerhalb des allgemeinen Gleichheitssatzes ein strenger Kontrollmaßstab.280 Dies resul­ tiert aus der notwendigen Anwendung von Dynamisierungsfaktoren, die das BVerfG vollumfänglich zu überprüfen hat. Die Einhaltung des strengen Kontrollmaßstabs soll im Folgenden untersucht werden. 2. Stellungnahme zu den Gleichbehandlungsentscheidungen des BVerfG Seit dem Jahr 2009 hat das BVerfG in bislang in sechs Entscheidungen Stellung zur Gleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartner­ schaft und damit zum Verhältnis zwischen Art. 3 Abs. 1  GG und Art. 6 Abs. 1  GG bezogen.281 Im Mittelpunkt dieser Entscheidungen standen vor allem beamtenrechtliche282 (Hinterbliebenenversorgung283 und Familien­ zuschlag284) und steuerrechtliche (Erbschaft- und Schenkungsteuer285, Grunderwerbsteuer286 sowie Ehegattensplitting287) Themen sowie die fami­ lienrechtliche Gleichbehandlung bei der Sukzessivadoption288. Das Verfas­ sungsgericht stellte in jedem Fall einer bestehenden rechtlichen Ungleichbe­ handlung der beiden insitutionellen Partnerschaftsformen einen Verstoß ge­ gen Art. 3 Abs. 1  GG fest. 280  Dazu

bereits oben Teil  3  D.  III.  1.  b). Koschmieder, JA  2014, 566 (570 f.). 282  Näher Hebeler, Die  Verwaltung  47 (2014), S. 548 (558 f.). 283  BVerfGE  124, 199 ff. 284  BVerfGE  131, 239 ff. 285  BVerfGE  126, 400 ff. 286  BVerfGE  132, 179 ff. 287  BVerfGE  133, 377 ff. 288  BVerfGE  133, 59 ff. 281  Überblicksartig

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

a) Wesentliche Entscheidungsgehalte Zunächst bewertete der Erste Senat die Ungleichbehandlung eingetrage­ ner Lebenspartner gegenüber Ehegatten bei der Zahlung einer Hinterbliebe­ nenrente als Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz.289 Sie knüpfe an das personenbezogene Merkmal der sexuellen Identität an, sodass ein besonders hoher Rechtfertigungsbedarf bestünde, seien die Anforderungen an die Rechtfertigung doch umso strenger, je mehr das Differenzierungskri­ terium mit den Schutzgütern des Art. 3 Abs. 3  GG vergleichbar sei und auf diese Weise zur Diskriminierung einer Minderheit führe.290 In einer weite­ ren Entscheidung aus dem Jahr 2010, in der sich eingetragene Lebenspartner mittels Verfassungsbeschwerde gegen ihre Einordnung in die Steuerklas­ se  III als „übrige Erwerber“  –  so wie entfernte Verwandte oder Fremde  – bei der Entrichtung der Erbschaftsteuer nach dem ErbStG richteten, bestä­ tigte der Erste Senat Verstöße seine aufgestellten Grundsätze.291 Er betonte nochmals, dass die Entscheidung des Einzelnen für eine Ehe oder eingetra­ gene Lebenspartnerschaft kaum trennbar mit seiner sexuellen Orientierung verbunden sei, so dass die Regelungen zur Ehe typischerweise heterosexu­ elle und die Regelungen zur eingetragenen Lebenspartnerschaft homosexu­ elle Menschen adressieren würden.292 Mit Spannung wurde im Juni 2012 eine erstmalige Stellungnahme des Zweiten Senats erwartet, der über die Verfassungsmäßigkeit der Nichtge­ währung eines Familienzuschlags gegenüber eingetragenen Lebenspartnern zu entscheiden hatte. Die bisherigen Entscheidungen des Ersten Senats in Fragen der Ungleichbehandlungen zwischen Ehe und eingetragener Le­ benspartnerschaft standen im brisanten Widerspruch zur Beschlusspraxis der Ersten Kammer des Zweiten Senats (Richter Hassemer, Di  Fabio, Landau), die noch zuvor entsprechende Verfassungsbeschwerden homosexueller Paare gar nicht erst zur Entscheidung angenommen hatten.293 Tatsächlich aber folgte der Zweite Senat nunmehr der vom Ersten Senat eingeschlagenen Rechtsprechungslinie zum Verhältnis von Art. 3 Abs. 1  GG und Art. 6 Abs. 1  GG. Er stellte ebenfalls fest, dass das Vorenthalten des Familienzu­ 289  BVerfGE  124,

199 (217 f.). 199 (220). 291  BVerfGE  126, 400 ff. 292  BVerfGE  126, 400 (419). 293  BVerfGK  12, 169 = NJW  2008, 209 (209 ff.); BVerfGK, FamRZ  2008, 487 (487 ff.); BVerfGK  13, 501 = NJW  2008, 2325 (2325 ff.). Dem Kammerentschluss hatten sich bis dahin auch die obersten Bundesgerichte angeschlossen, vgl. ­BVerwGE 125, 79 (82 ff.); BVerwG, NJW 2008, 868 (869 f.); BFH, NJW 2007, 3455 (3455 f.); NJW  2006, 1837 (1837 f.); VGH Mannheim, DÖD  2005, 87 (87 ff.). Einzig das BAG nahm eine Vergleichbarkeit an, vgl. BAG, NZA  2009, 489 (489 ff.). 290  BVerfGE  124,



C. Dynamisierungsprozess 2241

schlags294 gegenüber eingetragenen Lebenspartnern gegen Art. 3 Abs. 1  GG verstoße.295 Im Falle von Differenzierungen nach der sexuellen Orientie­ rung der Partner seien die Anforderungen an die Rechtfertigung besonders streng, da die im Raum stehende Ungleichbehandlung der eingetragenen Lebenspartner zur Diskriminierung einer Minderheit führe.296 Dem ließe sich auch nicht entgegen halten, die Annahme gesteigerter Rechtfertigungs­ anforderungen an Diskriminierungen wegen der sexuellen Orientierung ig­ noriere die Entscheidung des verfassungsändernden Gesetzgebers, die sexu­ elle Orientierung gerade nicht als zusätzliches Differenzierungsverbotsmerk­ mal in Art. 3 Abs. 3  GG aufzunehmen.297 In den weiteren Entscheidungen, die Ungleichbehandlungen bei der Grunderwerbsteuer298, bei der Sukzessivadoption eines Kindes durch den Partner299 und schließlich beim Ehegattensplitting300 zum Gegenstand hat­ ten, wurden die aufgestellten Grundsätze jeweils in ähnlicher Form wieder­ holt. Die Rechtsprechung zur Gleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft gilt vor diesem Hintergrund als hinreichend gefestigt. b) Bewertung im Lichte der „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“ Die Bewertung der sechs Entscheidungen zur Gleichbehandlungsthematik konzentriert sich im Lichte der „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungspro­ zesse“ auf die von Verfassungs wegen stehende Verpflichtung des BVerfG zur Herausarbeitung der wesentlichen Dynamisierungsfaktoren in der Ver­ fassungsrechtsprechung. Insbesondere in der ersten Entscheidung zur Gleichbehandlungsproblematik aus dem Jahr 2009 war eine Auseinanderset­ zung mit dem grundrechtlichen Dynamisierungsprozess bei der Maßstabs­ bildung von Art. 3 Abs. 1 GG zur Begründung der vom BVerfG getroffenen 294  Bei der Bemessung der Beamtenbezüge wird seit jeher der Familienstand des Beamten berücksichtigt. Insbesondere der in den §§ 39 ff.  BBesG geregelte Fami­ lienzuschlag stellt eine besondere Form der Beamtenbesoldung dar, der sich in einen ehebezogenen Anteil (Stufe 1) und einen kinderbezogenen Anteil (Stufe  2) aufteilt. Der Begriff „Familienzuschlag“ ist insofern leicht misszuverstehen, da er nicht aus­ schließlich an eine existente Familie im Sinne von Eltern und Kindern anknüpft, sondern der ehebezogene Anteil bereits auch bloßen Ehegatten ohne Kind zugute­ kommt. 295  BVerfGE  131, 239 (255). 296  BVerfGE  131, 239 (256). 297  BVerfGE  131, 239 (257). 298  BVerfGE  132, 179 ff. 299  BVerfGE  133, 59 ff. 300  BVerfGE  133, 377 ff.

242

Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

Entscheidung zwingend geboten. Mit der Forderung einer institutionellen Gleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft bestätig­ te er damit in der Sache nicht zuletzt den Vollzug eines grundrechtlichen Dynamisierungsprozesses hinsichtlich der normativen Beurteilung der Maß­ stabsbildung beider Institute. Letzterer Aspekt ist allerdings mit Vorsicht zu genießen, denn auch in der Entscheidung zur Hinterbliebenenversorgung wird das BVerfG den verfas­ sungsrichterlichen Anforderungen an die Kontroll- und Dokumentations­ pflichten grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse in der Verfassungsrecht­ sprechung nur bedingt gerecht. Die Unzulänglichkeiten der angemessenen Abbildung grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse in der Rechtsprechung beruhen maßgeblich auf der vom Verfassungsgericht stets praktizierten zweistufigen Gleichheitsdogmatik, die nicht hinreichend zwischen Gerech­ tigkeits- und Nützlichkeitserwägungen differenziert und somit das Gerech­ tigkeitsprinzip im Gleichheitssatz nur unzureichend umsetzt.301 Grundrecht­ liche Dynamik findet vielmehr bereits bei der normativen Maßstabsbildung der Vergleichsgruppen, nicht erst auf der Rechtfertigungsebene statt. Der Senat bejaht eine potenzielle Vergleichbarkeit von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft ohne nähere Ausführungen, er übergeht die Tatbestand­ sebene und prüft sodann einzig das Bestehen möglicher Rechtfertigungs­ gründe für die Ungleichbehandlung. Diese Vorgehensweise erfüllt nicht die Anforderungen des strengen Kontrollmaßstabs für die Kontrolle grundrecht­ licher Dynamisierungsprozesse bei Art. 3 Abs. 1  GG. Mit den einzelnen Dynamisierungsfaktoren befasst sich der Erste Senat in der Entscheidung zur Hinterbliebenenrente nur am Rande. Lediglich in ei­ nem Satz stellt er fest, dass es sich bei der sexuellen Orientierung um ein Persönlichkeitsmerkmal handele, das mit denen des Art. 3 Abs. 3  GG ver­ gleichbar sei.302 Der Bedeutung der sexuellen Identität für die menschliche Würde und dem Schutz personaler Identität wird damit abermals nicht die gebührende Bedeutung beigemessen. Implizit lässt sich ein von der Men­ schenwürde angeleitetes Verständnis der sexuellen Identität allenfalls in die mehrfachen Betonungen hineinlesen, wonach die sexuelle Orientierung des Einzelnen kaum trennbar mit der Entscheidung für eine Ehe oder eingetra­ gene Lebenspartnerschaft verbunden sei.303 Die Entscheidung enthält ferner Bezugnahmen auf aktuelle europarechtliche Entwicklungen und ihre Be­ rücksichtigungspflichten für die Auslegung des nationalen Rechts.304 Dies­ 301  Dazu

oben Teil  3  B.  I.  2.  b)  cc); Teil  3  D.  II.  2.  a)  bb). 199 (220). 303  BVerfGE  124, 199 (221). 304  BVerfGE  124, 199 (220) mit Verweis auf EGMR, ÖJZ  2004, 36 (38) sowie BVerfGE  124, 199 (222) mit Verweis auf EuGH, NZA  2009, 489 (492). 302  BVerfGE  124,



C. Dynamisierungsprozess 2243

bezüglich greift das BVerfG jedenfalls den Dynamisierungsfaktor der Her­ stellung von Systemkohärenz im supranationalen Kontext und seine Beein­ flussung des nationalen Verfassungsverständnisses fragmentarisch auf. Aus den weiteren fünf, zeitlich späteren Entscheidungen zur Gleichbe­ handlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft sticht schließlich einzig das Urteil zur Sukzessivadoption aus dem Jahr 2013 positiv hervor.305 Überhaupt zum allerersten Mal in der Rechtsprechung aus dem Dynamisie­ rungsbereich „gleichgeschlechtliche Partnerschaften“ befasst sich das Verfas­ sungsgericht ausdrücklich mit der abweichenden Behandlung gleichge­ schlechtlicher Partnerschaften in der verfassungsrechtlichen Reflexion. Dazu stellt es die heutige Forderung nach einer institutionellen Gleichbehandlung der Pönalisierung von Homosexualität zur Entstehungszeit des Grundgeset­ zes gegenüber.306 Im Spiegel der Verfassungsrechtsprechung drückt sich dies in einer vergleichenden Betrachtung der überholten Homosexuellen-Ent­ scheidung aus BVerfGE 6, 389 und der neuen Bewertung durch die Entschei­ dung zur Verfassungskonformität des LPartG in BVerfGE  105,  313 aus307, die das BVerfG auch anführt. Mit Verweis auf die Abschaffung des Straftat­ bestands im Jahr 1994, der Einführung der eingetragenen Lebenspartner­ schaft im Jahr 2001 und der zunehmenden rechtlichen Angleichung beider Institute in den Folgejahren nennt das BVerfG schließlich die wesentlichen Entwicklungsparameter, die zur heutigen Dynamik im Wesentlichen beigetra­ gen haben. Die Entscheidung zur Sukzessivadoption verarbeitet des Weiteren auch internationale, insbesondere europäische, Rechtsentwicklungen308, die als Topos zeitgerechter Systemkohärenz Einzug in den grundrechtlichen Dy­ namisierungsprozess erhalten. Zuvor hatte bereits der Zweite Senat in der Entscheidung zum Familien­ zuschlag309 das Gebot ganzheitlicher Verfassungsauslegung mit Blick auf die analoge Beurteilung des Schutzguts der sexuellen Identität gegenüber den Schutzgütern des Art. 3 Abs. 3  GG spezifiziert.310 Er verwies darauf, dass zwar noch im Jahr 1993 die nach der Wiedervereinigung eingesetzte Verfassungskommission eine Erweiterung des Art. 3 Abs. 3  GG hinsichtlich des Merkmals der sexuellen Identität unter anderen mit der Begründung ablehnte, eine weitere Ausdifferenzierung müsse vermieden werden. In jün­ gerer Zeit sei auf die Aufnahme des Merkmals der sexuellen Identität jedoch nur noch alleine deswegen verzichtet worden, weil sich der vom BVerfG 305  BVerfGE  133, 306  BVerfGE  133, 307  BVerfGE  133, 308  BVerfGE  124, 309  BVerfGE  131, 310  BVerfGE  131,

59 ff. 59 (79 f.). 59 (80). 199 (220); 133, 59 (80 f.). 239 ff. 239 (257).

244

Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

praktizierte Schutz zu Art. 3 Abs. 1  GG im Falle von Diskriminierungen wegen der sexuellen Orientierung bereits mit Art. 3 Abs. 3  GG decke. Eine Erweiterung des Art. 3 Abs. 3  GG um das Schutzgut der sexuellen Identität würde daher lediglich eine überflüssige „Symbolpolitik“ darstellen.311 Die­ se Aussage soll nicht suggerieren, die sexuelle Identität könne nunmehr als ungeschriebenes Merkmal in Art. 3 Abs. 3  GG hineingelesen werden. Sie zeigt vielmehr den besonderen Stellenwert der sexuellen Identität als ver­ fassungsrechtliches Schutzgut auf. Soll Art. 3  Abs. 3  GG gerade solchen Schutzpositionen eine gesteigerte verfassungsrechtliche Schutzbedürftigkeit zusprechen, die zu Zeiten des Dritten Reiches Unrecht in besonderem Maße erfahren haben, fließt diese verfassungsrechtliche Wertentscheidung auch in die Bewertung der sexuellen Identität als Schutzgut ein. Der gesellschaftli­ che Erkenntnisfortschritt über die Eigenschaft der sexuellen Identität als prädispositives Persönlichkeitsmerkmal drängt nach einer zeitgerechten Überholung dieses Schutzgutes. Abhilfe leistet hier vor allem der Dynami­ sierungsfaktor einer Wahrung zeitgerechter Systemkohärenz, der die Paral­ lele zu den Schutzgütern des Art. 3 Abs. 3  GG fordert. Die vom Zweiten Senat hervorgebrachten Ausführungen verdienen in diesem Punkt Zustim­ mung, wenngleich sie im Lichte der „Lehre grundrechtlicher Dynamisie­ rungsprozesse“ insgesamt hätten präziser ausfallen müssen. Insgesamt lässt sich festhalten, dass das BVerfG auch bei der Kontrolle des grundrechtlichen Dynamisierungsprozesses der Maßstabsbildung von Art. 3 Abs. 1  GG den verfassungsrechtlich vorgegebenen Kontrollmaßstab nicht hinreichend umsetzt. Die fehlende Gegenüberstellung des konträren gesellschaftlichen und rechtlichen Umgangs mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften in der als erstes relevant gewordenen Entscheidung zur Hinterbliebenenrente ist dabei besonders zu kritisieren. Erst in den späteren Entscheidungen nennt das Verfassungsgericht an verschiedenen Stellen we­ sentliche Kriterien für die zeitgerechte Maßstabsbildung bei Art. 3 Abs. 1  GG. Nichtsdestotrotz lassen auch die Entscheidungen zur Gleichbe­ handlungsproblematik ein Bewusstsein um die Notwendigkeit der dezidier­ ten Herausstellung grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse vermissen.

V. Zwischenergebnis Der zweite grundrechtliche Dynamisierungsprozess im Lebensbereich „gleichgeschlechtliche Partnerschaft“ betrifft die Gleichstellung von einge­ tragener Lebenspartnerschaft und Ehe. Sie beruht auf der stetig wachsenden gesellschaftlichen Akzeptanz gegenüber gleichgeschlechtlichen Paaren. Ak­ 311  BVerfGE  131,

239 (257).



C. Dynamisierungsprozess 2245

tuell befürwortet eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung eine institutionel­ le Angleichung, auch der Gesetzgeber hat bereits weitere Anpassungen vorgenommen. Bei der Gleichbehandlungsthematik handelt es sich um einen zweiten grundrechtlichen Dynamisierungsprozess, der sich im Typus des allgemeinen Gleichheitssatzes, dem die Eigenschaft als dynamische Verwei­ sungsnorm zukommt. Die grundsätzliche Frage nach der Vergleichbarkeit eingetragener Lebenspartner und Ehegatten erfordert die Berücksichtigung normativer Veränderungen, steht sie doch offenkundig im Widerspruch zu historischen Vorstellungen. Gleichheitsbestrebungen werden von Gerechtig­ keitsvorstellungen einer Gesellschaft angeleitet. Die normative Maßstabsbil­ dung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft als Vergleichsgruppen erfolgt demzufolge unter Berücksichtigung relevanter Dynamisierungsfakto­ ren, zu denen in diesem Falle die Beachtung der sexuellen Identität als Wesensmerkmal personaler Entfaltung und die Herstellung systemgerechter Kohärenz zählen. In der verfassungsrechtlichen Reflexion der neuen Ge­ rechtigkeitsmaßstäbe im gesellschaftlichen Umgang mit Homosexualität und gleichgeschlechtlicher Partnerschaft fordert das Gebot zeitgerechter System­ kohärenz nach einer ganzeinheitlichen Verfassungsauslegung, die systemati­ sche Vergleiche bei der Ermittlung der normativen Schutzbedürftigkeit der sexuellen Identität als zu aktualisierendes Schutzgut gebietet. Hierbei lassen sich insbesondere Parallelen zum Schutzniveau der in Art. 3 Abs. 3  GG genannten Schutzgüter herstellen. Die Übertragung des hohen Schutzniveaus auf die sexuelle Identität hat zur Folge, dass hetero- und homosexuelle Paare entsprechend der heutigen Gerechtigkeitsvorstellungen ein den zeitge­ mäßen Gerechtigkeitsvorstellungen entsprechendes Vergleichspaar bilden, kann die sexuelle Identität selbst doch kein Kriterium für eine Besserstel­ lung der Ehe, sondern nur regulierender Zugangsfaktor zu einem bestimm­ ten statusrechtlichen Institut sein. Dies bekräftigen auch die derzeitigen in­ ternationalrechtlichen, insbesondere europäischen, Entwicklungen, die ihrer­ seits unter dem Aspekt supranationaler Systemkohärenz als Dynamisie­ rungsfaktor in die Gleichbehandlungsthematik hineinwirken. Art. 6 Abs. 1  GG vermag auch in diesem Fall keine Wirkung als materi­ elle Dynamisierungsgrenze auf die tatbestandliche Maßstabsbildung von Eheleuten und eingetragenen Lebenspartnern als Vergleichspaare erzeugen. Weder werden die Strukturmerkmale des Eheinstituts selbst durch eine Gleichstellung unmittelbar verletzt, noch verstößt die Gleichbehandlung gegen das Privilegierungsgebot der Ehe als objektive Wertentscheidung. Bei den Instituten von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft handelt es sich aufgrund der fehlenden Substituierbarkeit der jeweiligen Adressaten­ kreise um aliud-Institute, wenngleich beide Beziehungsformen funktional vollkommen identisch ausgestaltet sind. Gerade deswegen kann das Privile­ gierungsgebot gegenüber eingetragenen Lebenspartnern keine Anwendung

246

Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

finden, zielt es doch ausschließlich darauf ab, einer Austauschbarkeit gegen­ über solchen Lebensformen vorzubeugen, die weniger verbindlich sind und tatsächlich potentiellen Zugang zur Ehe haben. Dazu gehört die eingetrage­ ne Lebenspartnerschaft gerade nicht. In sechs Entscheidungen befasst sich das BVerfG mit der Gleichbehand­ lung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft. Die Kontrolle des grundrechtlichen Dynamisierungsprozesses, ergo die zeitgemäße Aktualisie­ rung der Vergleichsmaßstäbe, vernachlässigt das Verfassungsgericht dabei jedoch erneut. Angesichts der Berücksichtigung von Dynamisierungsfakto­ ren obliegt dem BVerfG ein strenger Kontrollmaßstab für die Überprüfung grundrechtlicher Dynamik von Art. 3 Abs. 1 GG. Lediglich in der Entschei­ dung zur Sukzessivadoption legt der Erste Senat erstmals die Abweichung im heutigen verfassungsrechtlichen Umgang mit der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft gegenüber der Entstehungszeit des Grundgesetzes ausführlich dar. Zuvor hatte er allenfalls punktuell auf verschiedene Aspekte mit Rele­ vanz für die Dynamisierung hingewiesen, so beispielsweise auf europarecht­ liche Impulse und den gesellschaftlichen Wertewandel, der politisch zur Einführung des LPartG geführt hatte.

D. Dynamisierungsprozess 3: Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Partnerschaften I. Eheöffnung als mittelfristige gesellschaftliche Gerechtigkeitsvorstellung Die beiden grundrechtlichen Dynamisierungsprozesse im Dynamisie­ rungsbereich „gleichgeschlechtliche Partnerschaften“ haben zu einer Über­ holung des grundrechtlichen Schutzniveaus geführt, ohne dass es hierzu eines formellen Verfassungstextänderungsverfahrens bedurft hätte. Tatbe­ standliche Dynamik entspricht der Natur grundrechtlicher Tatbestände, sie ist in ihrer normativen Kraft angelegt. Richtungsweisend ist nicht nur die zeitgemäße Anerkennung der besonderen Schutzbedürftigkeit nach einem Leben in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft als wichtiger Aspekt der Persönlichkeitsentfaltung homosexueller Menschen gewesen. Auch die gesellschaftliche Achtung der eingetragenen Lebenspartnerschaft als status­ rechtliches Ehependant für homosexuelle Menschen erweist sich als Mei­ lenstein deutscher Verfassungsgeschichte. Aktuelle Entwicklungen führen nunmehr zu einer nahezu vollständigen Angleichung der rechtlichen Sta­ tusverhältnisse von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft. Formell unterscheiden diese sich mittlerweile nur noch durch die Geschlechterkom­ bination und damit im Kern durch die sexuelle Identität ihrer Adressaten­



D. Dynamisierungsprozess  3247

kreise.312 Nicht ohne Grund mehren sich daher gegenwärtig die Stimmen, welche sich für eine gänzliche Öffnung des Eheinstituts auch für die ein­ getragenen Lebenspartner als Schlussstein der gesamten Dynamik im Le­ bensfeld „gleichgeschlechtlicher Partnerschaften“ aussprechen.313 Ziel ist es, beide Institute zukünftig unter dem Dach eines einheitlichen Ehebe­ griffs zu vereinigen.314 Nicht selten wird diese Vorstellung damit begrün­ det, dass bereits die bewusste Nichtbezeichnung der eingetragenen Le­ benspartnerschaft als Ehe jene lediglich als „Ehe zweiter Klasse“ etikettie­ re und dabei gleichgeschlechtliche Beziehungen diskriminiere, die sich von Eheleuten nicht mehr unterschieden.315 Die eingetragene Lebenspartner­ schaft erweise sich gerade nicht als adäquater Ersatz einer „echten“ Ehe.316 Der gesellschaftliche Impuls hat mittlerweile auch die Politik erreicht.317 Zwar gab es bereits in der Vergangenheit durchaus politische Bestrebungen in Deutschland, den Tatbestand des Art. 6 Abs. 1  GG durch eine Neudefini­ tion zu redigieren, um auch weitere Formen des Zusammenlebens explizit in den Schutzbereich einzubeziehen.318 Regelmäßig scheiterten derartige 312  Koschmieder,

JA  2014, 566 (569 f., 572). einer repräsentativen Umfrage aus Juni 2015 befürworten ZweiDrittel der Deutschen eine Öffnung der Ehe, vgl. INSA-Meinungsumfrage im Auf­ trag der „Bild“-Zeitung v.  02.06.2015, http://www.zeit.de/news/2015-06/03/deutsch land-bild-umfrage-zwei-drittel-befuerworten-homo-ehe-03085609. 314  Sanders, StAZ  2011, 175 (179); Sanders, in: Emmenegger/Wiedmann, Bd. 2, S. 351 (372); Beck, FPR  2010, 220 (220 ff.); Michael, NJW  2010, 3537 (3542); Muscheler, FPR 2010, 227 (228); Eichenhofer, FamFR 2010, 416 (417); Benedict JZ 2013, 477 (486 f.); Sanders, NJW 2013, 2236 (223 f.); Sanders, FF 2012, 391 (395); BrosiusGersdorf, FamFR 2013, 169 (171 f.); Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG. 3. Aufl, Art. 6 Rn. 79 ff.; Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 252; Hoppe, DVBl. 2009, 1516 (1519); Bömelburg, NJW 2012, 2753 (2758); Schimmel, S. 131; Trimbach/Webert, NJ 1998, 63 (66); Hoppe, DVBl. 2009, 1516 (1519); Möller, DÖV 2005, 64 (70). 315  Möller, DÖV  2005, 64 (71); Bryde, in: Festschrift für M.  Bruns, S. 14 (18): „So bleibt die Zuweisung von Homosexuellen und Heterosexuellen an unterschied­ liche Rechtsinstitute für ihr Zusammenleben im Kern diskriminierend. Die einzige nicht diskriminierende Lösung wäre die Öffnung der Ehe für alle.“; angedeutet auch bei M. Rupp, FPR  2010, 185 (186). 316  Möller, DÖV  2005, 64 (64). 317  Vgl. die jüngste Entschließung des Bundesrats hinsichtlich einer „Ehe für alle“, BR-Drucks.  274/15. Im Jahr 2013 hatte der Bundesrat bereits eine entspre­ chende Gesetzesinitiative eingebracht, vgl. BR-Drucks.  196/13. In den Ausschüssen des Bundesrates wird derzeit ein erneuter Gesetzesantrag behandelt, vgl. BRDrucks.  273/15. 318  So der weitgehende Vorschlag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Jahr 1994, der lautete: „Der Staat schützt und achtet alle Lebensformen.“, vgl. BTDrucks.  12/6686. Einen Überblick über entsprechende Gesetzesinitiativen der Ver­ gangenheit gibt Schüffner, S. 101 ff.; ferner Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 6 Rn. 58a. 313  Gemäß

248

Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

Unterfangen jedoch am Widerstand einer konservativen Regierungsmehr­ heit.319 Während man in der CDU und CSU heute nach wie vor Vorbehal­ te gegen eine Öffnung der Ehe hegt, stehen andere Parteien diesem Schritt indes zunehmend positiv gegenüber. Ausdrücklich warben bereits sowohl SPD320 als auch BÜNDNIS 90 / Die Grünen321 im Wahlkampf zur Bundes­ tagswahl 2013 für eine Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. Daneben sprach sich auch die Partei Die Linke322 für die rechtliche Ein­ führung der Möglichkeit einer Heirat zwischen gleichgeschlechtlichen Paa­ ren aus. Die gesellschaftliche Gerechtigkeitsvorstellung einer Ehe unabhän­ gig von der sexuellen Identität der Partner findet sich – analog zur Wertbil­ dung im Schichtenmodell323  – also bereits in vielen Wahl- und Parteipro­ grammen wider. Es zeichnet sich bereits heute ab, dass der Streit um die Eheöffnung eines der großen politischen Themen der nahen Zukunft bilden wird. Dies belegt auch der Blick in das Ausland. Eine Vielzahl von Staaten hat die Eheöffnung bereits vollzogen.324 Gerade im Nachgang des erfolgrei­ chen Volksreferendums zur Öffnung der Ehe im katholisch geprägten Irland im Mai 2015 beherrschte die Debatte um eine deutsche Eheöffnung für mehrere Tage die Schlagzeilen.325 Erstmals gab es auch vereinzelte Stim­ men aus der Union, die einen solchen Schritt befürworteten.326 Die folgenden Ausführungen wagen bereits den Blick in die mittelfristige Zukunft und haben das Szenario einer möglichen Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare als dritten grundrechtlichen Dynamisierungspro­ zess aus dem Lebensbereich „gleichgeschlechtliche Partnerschaften“ zum Gegenstand.

319  Benedict,

JZ  2013, 477 (482). Das WIR entscheidet, Regierungsprogramm 2013–2017, S. 50. 321  BÜNDNIS 90/Die Grünen, Zeit für den GRÜNEN Wandel, Bundestagswahl­ programm 2013, S. 238. 322  Die Linke, 100 % sozial, Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2013, S. 40. 323  Dazu oben Teil  2 A.  II. 324  In mittlerweile 20 Staaten wurde weltweit die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet. Hierzu gehören beispielsweise liberale Länder wie die Niederlande, Belgien, Frankreich, Norwegen, Schweden und Kanada, aber durchaus auch konser­ vative und vor allem auch katholisch geprägte Staaten wie Irland, Spanien, Portugal, Südafrika, Brasilien sowie einige US-amerikanische Staaten, vgl. Scherpe, FPR 2010, 211 (212 f.) m. w. N.; Überhaupt waren einige diese Länder nicht selten Vorreiter bei der Stärkung der Rechte Homosexueller. Sie könnten daher auch für die zukünftige nationale Entwicklung richtungsweisend sein, vgl. Beck, FPR  2010, 220 (226). 325  Exemplarisch Reimer, Das Parlament, Heft 26–27/2015, S. 1. 326  Vgl. nur tagesschau.de v.  26.05.2015, CDU diskutiert Homo-Ehe, Der Druck auf die Blockierer wächst, http://www.tagesschau.de/inland/homo-ehe-diskussiondeutschland-101.html. 320  SPD,



D. Dynamisierungsprozess  3249

II. Verfassungsrechtliche Reflexion 1. Normgeprägter Grundrechtstatbestand: Art. 6 Abs. 1 GG Die verfassungsrechtliche Reflexion einer Öffnung der Ehe betrifft unmit­ telbar den verfassungsrechtlichen Eheschutz sui generis. Mit dem normge­ prägten Grundrechtstatbestand des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie stellt der Verfassunggeber Institutionen zur freien Lebensgestal­ tung in gelebter Partnerschaft und familiärer Gemeinschaft zur Verfügung327, die der Gesetzgeber in einer ihrer Natur und Funktionen entsprechenden Weise auszugestalten hat.328 Dies ergibt sich aus der untrennbaren Verbin­ dung des Grundrechts mit der Institutsgarantie, die notwendigerweise eine rechtliche Ordnung verlangt.329 Art. 6 Abs. 1  GG beinhaltet dementspre­ chend einen normgeprägten Grundrechtstatbestand330, bei dem erst der einfache Gesetzgeber näher bestimmt, wann überhaupt aus einem Zusam­ menleben von Personen eine Ehe entsteht und wer alles der Familienge­ meinschaft unterfällt.331 Seit jeher lässt sich die Auslegung des Eheschutzes als allmählicher Wan­ del begreifen, der zunehmend an Fahrt aufgenommen hat. Dabei stehen regelmäßig auch Veränderungen der Leitbilder von Ehe und Familie im Vordergrund.332 Allgemein wurde im Zusammenhang mit vermeintlichen Änderungen der Schutzgehalte von Ehe und Familie vielfach auf einen damit einhergehenden „Verfassungswandel“ verwiesen, um die eingetretene Veränderung im Schutzbereich zu begründen und legitimieren.333 Dass ein solcher Verweis angesichts der fehlenden begrifflichen Legitimationskraft des Terminus vom „Verfassungswandel“ fehl geht, hat bereits Teil  2 dieser 327  Robbers,

in: v.  Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Abs. 1 Rn. 11. Rspr. BVerfGE  31, 58 (69 f.); 62, 323 (330); 81, 1 (6 f.); zur Ausgestal­ tungsgesetzgebung oben Teil  3  B.  II.  1. 329  BVerfGE  31, 58 (69 f.). 330  Vgl. bereits Epping, Rn. 505. 331  Burgi, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 6 Rn. 17. 332  Die Leitbilder werden bspw. angesprochen von Karpen, JuS  1987, 593 (597); Beck, NJW  2001, 1894 (1899); v. Campenhausen, VVDStRL  45 (1987), S. 7 (11); Stüber, KJ 2000, S. 594 (599); Krings, FPR 2001, 7 (10); Zuleeg, NVwZ 1986, 800 (800); Seiler, Grundzüge eines öffentlichen Familienrechts, S. 37; Steiner, in: Mer­ ten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. IV, § 108 Rn. 15; Sachs, JR  2001, 45 (48 f.); Nesselrode, S. 172 ff.; allgemein kritisch gegenüber einer normativen Verfas­ sungsauslegung, auch speziell mit Blick auf vermeintliche „Leitbilder“ des Art. 6 Abs. 1  GG Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 497 ff. 333  Allein in jüngerer Zeit beispielsweise Benedict, JZ  2013, 477 (484): „Der Verfassungswandel steht kurz vor seinem Abschluss.“ 328  St.

250

Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

Arbeit gezeigt.334 Stattdessen verkennen die Ausflüchte auf einen „Verfas­ sungswandel“ nicht selten die spezifischen Besonderheiten des normgepräg­ ten Grundrechtstatbestands. Bei diesem handelt es sich um einen eigenen Typus grundrechtlicher Dynamik, dessen Voraussetzungen jeweils mit Blick auf den Einzelfall herauszuarbeiten sind.335 Mag Art. 6 Abs. 1 GG aufgrund der ursprünglichen Verbindung der Ehe zu religiösen Vorstellungen in einem starken Maße konservativ geprägt336 und auf Kontinuität angelegt sein, ist zugleich aber zu berücksichtigen, dass seine Eigenschaft als normgeprägtes Grundrecht in ganz besonderem Maße für Veränderungen in der sozialen Wirklichkeit337 und damit für einen gesellschaftlichen Wandel offen ist338. Die Strukturprinzipien des Eheinstituts im Randbereich bestimmen sich zunächst einmal aus der außerrechtlichen Lebensordnung.339 2. Eheöffnung als rechtspolitische Gestaltungsentscheidung Der einfache Gesetzgeber wird im Bereich normgeprägter Grundrechte zum maßgeblichen Interpreten des vom Normbereich in Bezug genomme­ nen Schutzobjekts und kann diese entsprechend seiner rechtspolitischen Vorstellungen bis zur Grenze der institutionellen Wesensgehaltskerne, den Einrichtungsgarantien, ausgestalten. Sofern sich die tatbestandliche Ausge­ staltung außerhalb der wesentlichen Strukturmerkmale vollzieht, lassen sich bestimmte rechtspolitische Vorstellungen mit unterschiedlichen Schwer­ punkten verwirklichen. Bei der konstituierenden Ausgestaltung des normge­ prägten Eheschutzes kann der Gesetzgeber demnach verschiedene Förder­ ziele im zeitlichen Verlauf seiner rechtspolitischen Zielsetzung entsprechend verfolgen. Aus diesem Grund ist auch die rechtspolitische Gestaltungsent­ scheidung, den Ehebegriff im einfachen Recht, z. B. durch Erweiterung des § 1353  BGB340, für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen als originäre Entscheidung des Ausgestaltungsgesetzgebers einzustufen. Der Wortlaut „Ehe“ eröffnet ganz allgemein entsprechende Auslegungs­ potentiale für den Einbezug gleichgeschlechtlicher Paare.341 Dies zeigt sich 334  Vgl.

zusammenfassend Teil  2  B.  IV. richtig Brosius-Gersdorf, in: H. Dreier, GG, 3. Aufl., Art. 6 Rn. 25. 336  Zum konservativen Ausgangspunkt des Art. 6 Abs. 1  GG Schwab, in: Fest­ schrift für F.  Bosch, S. 893 (894 f.). 337  v. Campenhausen, VVDStRL  45 (1987), S. 7 (48); so grundsätzlich auch Stern, Staatsrecht  III/1, S. 824 f.; B.  Klein, Das neue Eheverbot, S. 16 f. 338  Michael, NJW  2010, 3537 (3538). 339  BVerfGE  10, 59 (66). 340  Dazu Röthel, FamRZ  2015, 1241 (1241 f.). 341  Böhm, VVDStRL  73 (2013), S. 212 (217). 335  So



D. Dynamisierungsprozess  3251

auch daran, dass in der Bevölkerung, insbesondere auch in der medialen Wahrnehmung, der rechtliche Unterschied zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft zunehmend verschwimmt. So wird das Institut der ein­ getragenen Lebenspartnerschaft heutzutage vielfach mit dem Schlagwort „Homo-Ehe“ umschrieben.342 Auch wird im Volksmund nicht von der „Eingehung einer Partnerschaft“, sondern von „Heiraten“ gesprochen. Der Ehebegriff ist somit längst nicht mehr zwingend im Sinne einer Gemein­ schaft heterosexueller Paare zu verstehen.343

III. Begrenzung der Tatbestandsdynamik durch Art. 6 Abs. 1  GG? Die Öffnung der Ehe als Resultat rechtspolitischer Gestaltung würde ei­ nen eigenen grundrechtlichen Dynamisierungsprozess innerhalb des Art. 6 Abs. 1  GG bewirken, der die Ergänzung der bisherigen Ausgestaltungslage zum Gegenstand hat. Aber auch die Ausgestaltung der Normprägung voll­ zieht sich allein unter Achtung verfassungsimmanenter Dynamisierungs­ grenzen. 1. Die Eheinstitutsgarantie als materielle Dynamisierungsgrenze In diesem Fall bemisst sich die Reichweite der tatbestandlichen Dynamik erneut vor allem nach der Eheinstitutsgarantie. Der grundrechtliche Dyna­ misierungsprozess einer Öffnung der Ehe berührt Art. 6 Abs. 1 GG auf zwei Ebenen: Während die tatbestandliche Erweiterung des Ehebegriffs, der eine rechtspolitische Gestaltungsentscheidung vorausgeht, den sachlichen Schutz­ umfang von Art. 6 Abs. 1 GG betrifft, enthält die in Art. 6 Abs. 1 GG eben­ falls verankerte Eheinstitutsgarantie im Innenverhältnis zugleich begrenzen­ de Strukturvorgaben für die tatbestandliche Ausgestaltung. Anders als bei den bisherigen zwei Dynamisierungsprozessen beim allgemeinen Persön­ lichkeitsrecht und dem allgemeinen Gleichheitssatz, vollzieht sich der grundrechtliche Dynamisierungsprozess damit ausschließlich innerhalb von Art. 6 Abs. 1  GG. Die Öffnung der Ehe betrifft unmittelbar das Innenver­ hältnis des institutionellen Eheschutzes. Insofern ließe sich auch von einem „intra“ Art. 6 Abs. 1  GG-Konflikt sprechen, der exemplarisch für grund­ 342  Beck, NJW  2001, 1894 (1898, Fn. 76); Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 252; Wächtler, S. 91; Schimmel, S. 76; Wegner, ZfRSoz  1995, S. 170 (186). 343  Koschmieder, JA  2014, 566 (572); Michael, NJW 2010, 3538. So definieren Michael/Morlok, Rn. 252 die Ehe im Lehrbuch bereits als: „Ehe ist der grundsätz­ lich unauflösbare Bund zwischen zwei (noch: verschiedengeschlechtlichen) Partner, der unter staatlicher Mitwirkung zustande kommt.“

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

rechtliche Dynamisierungsprozesse innerhalb des Typus der normgeprägten Grundrechtstatbestände steht. Obwohl die individuell-freiheitliche Funktion der Ehe als individueller Raum der Eheleute zur persönlichen Entfaltung und die gemeinschaftlichsoziale, den Staat durch gegenseitige Verantwortungsübernahme entlastende Funktion der Ehe auch im Falle einer Öffnung der Ehe für gleichgeschlecht­ liche Paare keine Beeinträchtigung erfahren, führte ein solcher Schritt je­ doch zu einer Kollision mit der bisherigen Leitbildfunktion der Ehe. Tradi­ tionell wird die Ehe nämlich als Vereinigung eines Mannes mit einer Frau zu einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft verstanden.344 Dieses Bild erfolgt zumeist unter Verweis auf die Selbstverständlichkeit einer sol­ chen Interpretation und den herkömmlichen Wortsinn der Ehe.345 2. Wandel im normativen Substrat des Eheleitbildes: Entbehrlichkeit des Heterosexualitätsprinzips im Zeitverlauf Das Kriterium des Heterosexualitätsprinzips könnte indes heutzutage sei­ ne Bedeutung als Strukturmerkmal der Eheinstitutsgarantie eingebüßt haben. Ein verfassungsrechtliches, in Einrichtungsgarantien inkorporiertes Leitbild prägen die Pole zeitloser Statik und zeitgemäßer Aktualisierung. Vor diesem Hintergrund ist bei der Betrachtung eines verfassungsrechtlichen Leitbildes strukturell zwischen dem übergeordneten Zweck des Leitbildes als statischer Pol und dem normativen Substrat als dynamisches Element zu unterschei­ den. Während der übergeordnete Zweck das Ideal des Leitbildes unantastbar im zeitlichen Verlauf garantiert, können die im normativen Substrat zum Ausdruck kommenden Anforderungen der Gesellschaft an die Gewährleis­ tung bzw. das Erreichen des Leitbildideals Veränderungen unterliegen.346 Der übergeordnete Zweck des Eheleitbildes, nämlich die Vorstellung der Ehe als idealtypische, von besonderer Stabilität gekennzeichnete Partner­ schaftsform, ist als absolutes und damit uneinschränkbares Strukturmerkmal der Leitbildfunktion zu behandeln. Das normative Substrat des Eheleitbildes 344  Vgl. bereits Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/ders./Henneke, GG, Art. 6 Rn. 9; Krings, ZRP  2000, 409 (410). 345  Exemplarisch Louven, ZRP  1993, 12 (13); Krings, FPR  2001, 7 (8); Burgi, Der  Staat  39 (2000), S. 487 (495); Lecheler, FamRZ  1979, 1 (4); Lecheler, in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, § 133 Rn. 19 möchte auf naturrechtliche Gegebenheiten Bezug nehmen. Auf die unsubstantiierten Bezugnah­ men weisen auch Zuck, NJW  2009, 1449 (1450); Möller, DÖV  2005, 64 (65) hin; ähnlich Schimmel, S. 63; Ott, NJW 1998, 117 (118); Zuleeg, NVwZ 1986, 800 (802, Fn. 47). 346  Dazu oben Teil  3  C.  III.  4.  b)  aa).



D. Dynamisierungsprozess  3253

speist sich demgegenüber aus denjenigen gesellschaftlichen Anforderungen bzw. Wertevorstellungen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt an die effek­ tive Gewährleistung der ehelichen Stabilität in normativer Hinsicht gestellt werden. Spezifische Wertevorstellungen kommen ihrerseits in normativen Strukturmerkmalen zum Ausdruck. Anders als der absolute, zeitlose Charak­ ter des übergeordneten Zwecks sind normative Strukturmerkmale angesichts der naturgemäßen Wandlungsfähigkeit gesellschaftlicher Wertevorstellungen durchaus für Veränderungen im Zeitverlauf anfällig. Die daraus resultieren­ de Behauptung eines Wandels bei einem normativen Strukturmerkmal ist jedoch ausdrücklich zu belegen sowie dezidiert zu begründen. Hat ein be­ stimmter gesellschaftlicher Wert erst einmal den Charakter eines normativen Strukturmerkmals angenommen, spricht zugunsten seiner nach wie vor be­ stehenden Geltungskraft zunächst einmal eine Vermutungswirkung. Angesichts der ursprünglichen Pönalisierung und gesellschaftlichen Miss­ billigung von Homosexualität und damit implicite auch von gleich­ geschlechtlichen Partnerschaften wurde ursprünglich allein verschieden­ geschlechtlichen Paaren die Fähigkeit zur Verwirklichung der vom über­ geordneten Zweck des Leitbildes geforderten partnerschaftlichen Stabilität beigestanden. Bei dem Kriterium der Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehepartner, das sog. Heterosexualitätsprinzip, handelt es sich demzufolge um ein normatives Strukturmerkmal des Eheleitbildes347, das für eine effek­ tive Gewährleistung der idealtypischen ehelichen Stabilitätsgewähr aus­ schlaggebende Bedeutung besaß. Diese Zuordnung ist nicht misszuverstehen mit dem Charakter einer, für das Grundgesetz gerade nicht intendierten Reproduktionsfunktion der Ehe348, sondern betrifft als Teil des Eheleitbildes allein die im normativen Substrat enthaltene gesellschaftlich erwünschte Vorstellung einer Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehepartner. Heute bestehen an einem solchen Verständnis erhebliche Zweifel. Die Ausgangssituation ist vor dem Hintergrund des einzigartigen Wandels im gesellschaftlichen Umgang mit der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft enormem zeitlichem Anpassungsdruck ausgesetzt. Zuletzt hat der EGMR im Jahr 2010 entschieden, dass  –  auch unter Berücksichtigung von Art. 9 GRCh  – das in Art. 12  EMRK garantierte Recht, eine Ehe einzugehen, nach teleologischer Reduktion nicht mehr auf die Ehe zwischen zwei Part­ nern unterschiedlichen Geschlechts beschränkt sei.349 Die Beurteilung eines solchen Wandels müsse zwar den Mitgliedsstaaten selbst überlassen wer­ den, dennoch sei ein zunehmender Konsens für die Öffnung der Ehe sicht­ 347  Dazu

bereits oben Teil  4  B.  IV.  1.  d)  bb). näher oben Teil  4  B.  IV.  1.  c)  bb). 349  EGMR, NJW  2011, 1421 (1423); siehe auch Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 12 Rn. 3. 348  Dazu

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

bar.350 Die überstaatliche Ordnung stünde damit einer nationalen Öffnung jedenfalls nicht entgegen. Wendet man darüber hinaus den Blick dem deut­ schen Verfassungsrecht zu, so zeigt sich, dass auch ein überwiegender Teil  in der juristischen Fachliteratur die grundsätzliche Möglichkeit eines Wandels beim Ehebegriff nicht generell ausschließt, sondern allenfalls be­ hauptet, dass die Voraussetzungen eines Begriffswandels noch nicht erfüllt seien.351 Tatsächlich lässt sich der Nachweis eines Wandels im normativen Subst­ rat des Eheleitbildes, konkret der Befund eines Bedeutungsverlusts des Heterosexualitätsprinzips, bereits zum heutigen Zeitpunkt führen. Die bishe­ rigen grundrechtlichen Dynamisierungsprozesse im Bereich „gleichge­ schlechtliche Partnerschaften“, die bereits in Kapitel  B und  C untersucht wurden, haben nicht nur eine generelle Aufwertung des verfassungsrechtli­ chen Schutzes gleichgeschlechtlicher Partnerschaften herbeigeführt, sondern die grundsätzliche institutionelle Vergleichbarkeit der eingetragenen Le­ benspartnerschaft mit der Ehe zur Folge gehabt. Beide Institute beinhalten das gleiche Maß an rechtlicher Verbindlichkeit. Der einzig verbleibende, für die Frage der Eheöffnung entscheidende Unterschied zwischen beiden Ins­ tituten betrifft heutzutage nur noch die der Ehe zugrundeliegende normative Leitbildfunktion, konkret die Legitimationskraft des Erfordernisses der Ver­ schiedengeschlechtlichkeit der Ehepartner als normatives Strukturmerkmal. Trotz der strengen Voraussetzungen streiten für eine Überwindung des Heterosexualitätsprinzips nun abermals der gesellschaftliche Wandel der vergangenen Jahre und seine rechtliche Reflexion. Die in der Lebenswirk­ lichkeit zu beobachtende stetig ansteigende Befürwortung einer Öffnung der Ehe ist Ausdruck eines grundlegenden gesellschaftlichen Wertewandels im Hinblick auf die Zugangsvoraussetzungen zum Eheinstitut. Vor allem käme heutzutage der rechtspolitischen Gestaltungsentscheidung einer Öffnung der Ehe eine besondere Indizwirkung dahingehend zu, sie als Beleg für einen vollständig vollzogenen gesellschaftlichen Wandel im normativen Substrat des Eheleitbildes anzusehen. Gesetzgeberische Maßnahmen stehen am Ende der Wertschöpfungskette des der Ermittlung vorherrschender gesellschaft­ licher Vorstellungen dienenden Schichtenmodells.352 Die bisherigen grund­ rechtlichen Dynamisierungsprozesse im Lebensbereich „gleichgeschlechtli­ 350  Sanders,

StAZ  2011, 175 (178 f.). beispielsweise Coester-Waltjen, in: I.  v.  Münch/Kunig, GG, Art. 6 Rn. 9, 13; Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 6 Rn. 58; Seiler, in: Dolzer/Graßhof/ Kahl/Waldhoff/Walter, BK-GG, Juli 2014, Art. 6 Abs. 1 Rn. 237; Sachs, JR 2001, 45 (45). Einen Wandel schon früh bejahend Bruns, ZRP  1996, 6 (7); Ott, NJW  1998, 117 (118). 352  Dazu oben Teil  2 A.  II. 351  Siehe



D. Dynamisierungsprozess  3255

che Partnerschaften“ haben die erforderlichen Vorarbeiten für einen solchen Prozess geleistet. Sie dienen als Wegbereiter für die Einleitung der letzten Entwicklungsstufe, welche die vollständige institutionelle Gleichheit nicht nur in rechtlicher, sondern auch in normativ-moralischer Hinsicht zum Ziel hat. Der Wandel im normativen Substrat des Eheleitbildes hat schon vor längerer Zeit eingesetzt. Als entscheidender Wendepunkt für ein gesell­ schaftliches sowie daran anknüpfendes rechtliches Umdenken gilt der von der rot-grünen Bundesregierung im Jahr 2001 vollzogene Schritt zur Ein­ führung der eingetragenen Lebenspartnerschaft.353 Denn mit der Schaffung eines eigenständigen statusrechtlichen Instituts für gleichgeschlechtliche Paare und ihrer eheähnlichen Ausgestaltung hat der Gesetzgeber gleichge­ schlechtlichen Paaren die Fähigkeit zugesprochen, zum Führen einer der Ehe gleichwertig stabilen partnerschaftlichen Beziehung fähig zu sein. Die rechtlich hervorgehobene Stellung der partnerschaftlichen Pflichten, die wiederum Ausdruck der besonderen Stabilitätsgewähr der Ehe sind, ist im gleichen Maße auf eingetragene Lebenspartnerschaft übertragbar. Nicht nur übernehmen die eingetragenen Lebenspartnerschaften eine individuell-frei­ heitliche und gemeinschaftlich-soziale Funktion für ihren Adressatenkreis, das heißt für homosexuelle Menschen, sondern von ihr geht ebenfalls eine Signalwirkung als idealtypische Beziehungsform gleichgeschlechtlicher Paa­ re aus. Das die Ehe bislang kennzeichnende besondere Maß an partner­ schaftlicher Stabilität ist vor diesem Hintergrund nicht mehr länger aus­ schließlich in der Ehe, sondern in gleicher Form und Intensität auch in der eingetragenen Lebenspartnerschaft vorzufinden. Insofern könnten eingetra­ gene Lebenspartner auch die partnerschaftliche Stabilitätsanfordernisse der Ehe in vollem Umfang erfüllen, von dem sie bisher ausgeschlossen sind. Die Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehepartner erweist sich somit in der heutigen Zeit nicht mehr als ausschlaggebendes Kriterium, das sich zuguns­ ten der Ehe als eine einzigartige, jeglichen anderen Formen partnerschaftli­ chen Zusammenlebens überlegene partnerschaftliche Stabilitätsgewähr an­ führen lässt. Mit der rechtspolitischen Entscheidung einer einfach-rechtlichen Öffnung der Ehe fände der Wandel im normativen Substrat des Eheleitbildes schlussendlich seinen Abschluss. Das Heterosexualitätsprinzip hätte zugleich seine Bedeutung als normatives Strukturmerkmal der Ehe verloren. Verab­ schiedet nun eines Tages eine Regierungsmehrheit tatsächlich die einfachrechtliche Öffnung der Ehe, würde hierin der gesellschaftliche Konsens für eine solche Maßnahme zum Ausdruck kommen. Es obliegt den rechtspoliti­ 353  Richtigerweise führt auch der BFH unter Beachtung der Rechtsprechung des BVerfG im Urteil v. 26.6.2014 aus, dass vor der Einführung des LPartG eine Un­ gleichbehandlung von Ehepartnern und zusammenlebenden homosexuellen Paaren nicht zu beanstanden war, vgl. BFH, FamRZ  2014, 1550 (1551).

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

schen Gestaltungsvorstellungen des einfachen Gesetzgebers, zwei funktions­ gleiche Institute für ihre jeweiligen Adressatenkreise aufrechtzuhalten oder beide mittelfristig unter dem Dach der Ehe zu vereinheitlichen.

IV. Verfassungsrichterlicher Kontrollmaßstab Abschließend gilt es im Rahmen des holistischen Untersuchungsansatzes der „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“ der Frage nachzuge­ hen, welche Anforderungen an den Kontrollmaßstab des BVerfG zu stellen wären, sollte das Verfassungsgericht  –  was angesichts der gegenwärtigen intensiven Diskussionen als ein realistisches Szenario einzustufen ist  – im Nachgang einer einfach-rechtlichen Öffnung der Ehe über die Verfassungs­ mäßigkeit einer solchen Maßnahme zu entscheiden haben. Die verfassungs­ richterliche Kontrolldichte eines grundrechtlichen Dynamisierungsprozesses beim Typus der normgeprägten Grundrechtstatbestände fällt im Kern- oder Randbereich der im normgeprägten Grundrechtstatbestand verankerten Ein­ richtungsgarantie unterschiedlich aus.354 Während für die Kontrolle im Randbereich eine bloße Evidenzkontrolle durchzuführen ist, gilt für die Kontrolle des Nachweises von Veränderungen im normativen Substrat der institutionellen Leitbildfunktion ein besonders strenger Maßstab. Die verfas­ sungsrichterliche Kontrolle der Eheöffnung bedingt die Überprüfung eines tatsächlichen Wandels im normativen Substrat des Eheleitbildes. Entspre­ chend hat eine strenge Validitätskontrolle des normativen Wandels stattzu­ finden, welche die Kriterien für den Wandel exakt herausarbeitet. Die potenzielle Wandlungsfähigkeit des Leitbildes hatte das BVerfG be­ reits in einem Kammerbeschluss aus dem Jahr 1993 nicht kategorisch aus­ geschlossen, sondern zu diesem Zeitpunkt lediglich hervorgehoben, dass dessen Voraussetzungen jedenfalls noch nicht erfüllt seien. Es fehle an hinreichenden Anhaltspunkten „für einen grundlegenden Wandel des Ehe­ verständnisses in dem Sinne, daß der Geschlechtsverschiedenheit keine prägende Bedeutung mehr zukäme“355. Das BVerfG deutet insofern aber durchaus – in Einklang mit dem hier vorgelegten Konzept einer Wandlungs­ fähigkeit im normativen Substrat des Eheleitbildes  – die Möglichkeit einer Überwindung des Heterosexualitätsprinzips an. Wenngleich die rechtspolitische Grundsatzentscheidung einer einfachrechtlichen Öffnung der Ehe bisher noch nicht vollzogen wurde, lässt sich 354  Dazu

oben Teil  3  D.  III.  2. NJW  1993, 3058 (3058); darauf rekurrierend auch BVerwG, NVwZ  1997, 189 (190). Ähnliche Ausführungen hat die 2.  Kammer des 1. Senats im Übrigen auch hinsichtlich eines Wandels bei dem Rechtsverständnis von Eltern­ schaft (Art. 6 Abs. 2  GG) getroffen, vgl. BVerfGK  16, 118 (120 f., insb. Rn. 13). 355  BVerfGK,



D. Dynamisierungsprozess  3257

bereits heute in der Verfassungsrechtsprechung eine auffällig zurückhaltende Rhetorik hinsichtlich der Notwendigkeit der Einstufung des Heterosexuali­ tätsprinzips als Strukturmerkmal der Ehe beobachten. Die noch in den An­ fangsjahren der Verfassungsrechtsprechung regelmäßig anzutreffende Beto­ nung der personellen Exklusivität der Ehe als Vereinigung zwischen Mann und Frau im Sinne eines der Ehe innewohnenden Wesensmerkmals findet sich zuletzt in der Entscheidung zur Verfassungskonformität des LPartG aus dem Jahr 2002356. Sie liegt somit bereits 13  Jahre zurück. In den späteren Entscheidungen zur Gleichstellungsproblematik hätte der Erste Senat durch­ aus mehrfach Gelegenheit zur erneuten Klarstellung gehabt, worauf er je­ doch verzichtete. Rixen kommentiert treffend: „Dass das ein Zufall ist, mag man kaum glauben.“357 Anders fällt der Befund dagegen beim Zweiten Senat aus. Dieser hatte in seinen Entscheidungen zum Familienzuschlag aus dem Jahr 2012358 und zum Ehegattensplitting aus dem Jahr 2013359 nochmals ausdrücklich auf ein traditionelles Verständnis der Ehe als Vereinigung von Mann und Frau hin­ gewiesen. Es könnte also durchaus zu Spannungen zwischen beiden Senaten hinsichtlich der verfassungsrichterlichen Bewertung einer Eheöffnung kom­ men. Zusätzlich befeuert wird eine solche Entwicklung insbesondere durch ein in der Entscheidung des Ersten Senats zur Sukzessivadoption enthaltenes obiter dictum360, das sich mit dem Einbezug eingetragener Lebenspartner in den verfassungsrechtlichen Elternbegriff nach Art. 6 Abs. 2  GG auseinan­ dersetzt. Hier hat das Gericht bereits im Jahr 2013 ausdrücklich die Öffnung des Elternbegriffs für gleichgeschlechtliche Paare festgestellt.361 Dieser Sachverhalt ist im Prinzip gleichgelagert mit der Frage einer Eheöffnung.

V. Zwischenergebnis Gegenwärtig werden die Rufe nach einer Öffnung der Ehe für gleichge­ schlechtliche Paare in Deutschland zunehmend lauter. Es ist vorstellbar, dass der Dynamisierungsbereich „gleichgeschlechtlicher Partnerschaften“ mittelfristig seine Vollendung in der tatsächlichen Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare finden wird. So haben nicht nur zahlreiche aus­ ländische Staaten den Schritt bereits vollzogen, auch in den Wahlprogram­ 356  Vgl.

BVerfGE  105, 313 (342 f., 345). JZ  2013, 864 (871). 358  BVerfGE  131, 239 (259). 359  BVerfGE  133, 377 (409). 360  Kritik an den obiter dicta in der Sukzessivadoptionsentscheidung üben Reimer/Jestaedt, JZ  2013, 468 (471). 361  BVerfGE  133, 59 (79 ff.). 357  Rixen,

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

men von SPD, BÜNDNIS 90 / Die Grünen und Die Linke zur vergangenen Bundestagswahl fand sich die Öffnung der Ehe als politische Grundsatzent­ scheidung wieder. Die verfassungsrechtliche Reflexion dieser Entwicklung kann sich nur über einen grundrechtlichen Dynamisierungsprozess im Tat­ bestand von Art. 6 Abs. 1  GG in seiner Eigenschaft als normgeprägter Grundrechtstatbestand vollziehen. Bei der Entscheidung für eine Öffnung der Ehe handelt es sich angesichts der Natur des Art. 6 Abs. 1 GG als norm­ geprägtes Grundrecht zunächst einmal um eine rechtspolitische Gestaltungs­ entscheidung des einfachen Gesetzgebers. Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse im Bereich normgeprägter Grundrechte haben die im Tatbestand inkorporierten materiellen Vorgaben der Einrichtungsgarantie als absolute Dynamisierungsgrenze zu achten. Im Innenverhältnis von Art. 6 Abs. 1  GG entfaltet die Eheinstitutsgarantie ihre Wirkung als Grenze tatbestandlicher Ausgestaltungsentscheidungen. Die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare kollidiert hierbei mit der ehelichen Leitbildfunktion. Seit jeher gehört das Heterosexualitätsprinzip der Ehepartner zu den normativen Strukturmerkmalen des Eheleitbildes. Es handelt sich hierbei um eine ursprüngliche gesellschaftliche Anforderung an die effektive Gewährleistung des übergeordneten Zwecks des Eheleitbildes, nämlich die zu bewahrende ehespezifische Stabilitätsgewähr in der Partner­ schaft. Die Ehe kennzeichnet als idealtypische und damit erstrebenswerte Partnerschaftsform ein einzigartiges Maß an partnerschaftlicher Verbindlich­ keit. Entsprechend dem strukturellen Konzept verfassungsrechtlicher Leit­ bilder ist eine Dynamik im normativen Substrat eines Leitbildes unter Wahrung der strengen Darlegungs- und Begründungserfordernisse durchaus zulässig, verwirklicht sich hierin doch gerade der dynamische Pol des Leit­ bildes. Normative Strukturmerkmale können ihre Bedeutung einbüßen, wenn sie nach den heutigen gesellschaftlichen Wertevorstellungen nicht länger ein normatives Kriterium für die Gewährleistung ehelicher Stabilität bilden  –  so geschehen im Falle des Heterosexualitätsprinzips. Verschieden­ geschlechtlichkeit ist heute kein Ausschließlichkeitskriterium für partner­ schaftliche Stabilität. Die bisherigen grundrechtlichen Dynamisierungspro­ zesse im Lebensbereich „gleichgeschlechtliche Partnerschaften“ waren gera­ dezu Wegbereiter für einen gesellschaftlichen Wandel, an dessen Ende sich nunmehr auch das Zusammenleben gleichgeschlechtlicher Paare in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft als eine der Ehe identische partnerschaft­ liche Stabilitätsgewährleistung erweist. Die rechtspolitische Entscheidung einer Öffnung der Ehe würde das überholte vorherrschende Verständnis ei­ ner „Ehe für alle“ letztlich untermauern. Gesellschaftliche Wertbildung vollzieht sich im Schichtenmodell, an dessen Ende die Berücksichtigung gegenwärtiger Wertevorstellungen in der Ausgestaltung der Rechtsordnung steht.



E. Dynamisierungsprozess  4259

Sollte es zu diesem Schritt kommen, gälte für das BVerfG bei der Kont­ rolle des grundrechtlichen Dynamisierungsprozesses schließlich ein beson­ ders strenger Maßstab. Es hätte eine Validitätskontrolle des Wandels im normativen Substrat zu erfolgen, infolgedessen das bisher geltende norma­ tive Strukturmerkmal des Heterosexualitätsprinzips seine Bedeutung verlo­ ren hat. Vereinzelte Aussagen bzw. eine zurückhaltende Rhetorik des Ersten Senats in der jüngsten Rechtsprechung zum Ehebegriff des Art. 6 Abs. 1 GG weisen in die Richtung, dass das Verfassungsgericht  –  jedenfalls der Erste Senat  – einen solchen Wandel voraussichtlich mittragen würde.

E. Dynamisierungsprozess 4: Öffnung der Familie für gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern Als vierter Dynamisierungsprozess aus dem Lebensbereich „gleichge­ schlechtliche Partnerschaften“ soll schließlich der Einbezug von sog. Re­ genbogenfamilien, bei denen Kinder mit einem gleichgeschlechtlichen Paar zusammenleben362, in den verfassungsrechtlichen Familienbegriff untersucht werden. Dieser unterscheidet sich von den bisherigen Dynamisierungspro­ zessen um die Erweiterung der Paarbeziehung um die Perspektive des Zu­ sammenlebens mit einem oder mehreren Kindern. Im Fokus steht nun die für die Familie typische Drei- oder Mehr-Personenkonstellation.

I. Dynamisierungsprozesse der Lebenswirklichkeit Für die Öffnung des verfassungsrechtlichen Familienbegriffs zeichnen die allgemeine Pluralisierung familiärer Lebensformen in Deutschland sowie das damit im Zusammenhang stehende Aufkommen von Regenbogenbogen­ familien als Entwicklungen der Lebenswirklichkeit verantwortlich. 1. Pluralisierung familiärer Lebensformen Die Bedeutung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft hat in den letzten Jahrzehnten eine Veränderung erfahren363, wie sie der historische Verfas­ sungsgeber nicht erahnen konnte364. Gingen im Jahre 1950 noch rund 362  Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung – bpb (Hrsg.), Familienbande, Heft 32/2003, S. 3. 363  Nesselrode, S. 30 f.; ausführlich zu den nichtehelichen Lebensgemeinschaften Kingreen, Die verfassungsrechtliche Stellung der nichtehelichen Lebensgemein­ schaft, S. 1 ff. 364  Zippelius, DÖV  1986, 805 (805).

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

750.452 Paare eine Ehe ein, sind es im Jahr 1980 nur noch 496.603, im Jahr 2013 gerade einmal 373.655.365 Die Zahl der Eheschließungen ist in Deutschland seit der Gründungszeit bis zur Gegenwart um mehr als 50 % gesunken. Dass heute selbst ein Bundespräsident in einer „wilden Ehe“ lebt, war zur damaligen Zeit schlicht unvorstellbar. Die nichteheliche Lebensge­ meinschaft, früher geringschätzig als „Konkubinat“ bezeichnet366, wird zu­ nehmend zum Ehesubstitut367 und fordert entsprechende Reformen in der Familienpolitik ein.368 Es hat eine Pluralisierung familiärer Lebensformen in der Lebenswirklichkeit stattgefunden.369 Eine wachsende Zahl von Kindern lebt in einer nichtehelichen Familie mit beiden leiblichen Elternteilen zu­ sammen. Weitere Ausdifferenzierungen stellen die Patchworkfamilie  –  bei der mindestens ein Elternteil eigene Kinder aus einer vorherigen Beziehung in die Partnerschaft mitbringt  –, sowie Familien im Falle alleinerziehender Elternteile und ihren Kindern dar. Bei den in einer Familie lebenden Kin­ dern kann es sich um die eigenen, leiblichen Nachkommen, um Adoptivund Stiefkinder oder um Kinder des anderen Partners handeln, zu denen keine biologische oder rechtliche Verbindung besteht. 2. Entstehen von Regenbogenfamilien Im Zuge der Pluralisierung familiärer Lebensformen ist es weiterhin zu dem Entstehen einer gänzlich neuen Familienform gekommen, deren Model schlichtweg außerhalb des Vorstellungshorizonts des historischen Verfas­ sungsgebers lag. Der grundlegende gesellschaftliche Wandel im Umgang mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und die grundrechtlichen Dyna­ misierungsprozesse aus diesem Lebensfeld haben zu dem Entstehen von Regenbogenfamilien geführt. Der Zensus aus dem Jahr 2011 ermittelte eine Zahl von 3.800 Kindern in Deutschland, die in einer Regenbogenfamilie mit einem gleichgeschlechtlichen Paar, zu einem ganz überwiegenden Teil  mit zwei Frauen, lebten.370 Diese Familienform wird heute auch von der Rechts­ 365  Statistisches Bundesamt, GENESIS-Online Datenbank, Statistik der Ehe­ schließungen, abrufbar unter http://www-genesis.destatis.de/genesis/online, Code 12611–001. 366  Der Begriff des „Konkubinats“ stammt aus der Zeit des Römischen Reiches und beschreibt ursprünglich eine Lebensform für Personengruppen, denen aufgrund ihres Ranges, ihrer Volkszugehörigkeit oder ihres Standes eine Ehe versagt war, vgl. Thomas, S. 23. 367  Grziwotz, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, Rn. 10. 368  Krings, FÜR  2001, 7 (8); näher E. v. Münch, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, § 9 Rn. 10 ff., insb. Rn. 11; Diederichsen, Fam­ RZ  1988, 889 (889 f.). 369  Brosius-Gersdorf, JöR  62 (2014), S. 179 (179 ff.) m. w. N. 370  Vgl. BT-Drucks.  18/2174, S. 5.



E. Dynamisierungsprozess  4

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ordnung ausdrücklich anerkannt. Insbesondere § 9  LPartG sieht verschiede­ ne Regelungen für einen Lebenspartner in Bezug auf die Kinder seines Partners vor und trägt auf diese Weise familiären Bindungen zwischen Kindern und eingetragenen Lebenspartnern Rechnung.

II. Verfassungsrechtliche Reflexion: Art. 6 Abs. 1  GG als normgeprägter Grundrechtstatbestand Die Entstehung von Regenbogenfamilien als gänzlich neue, angesichts der ursprünglichen Pönalisierung homosexueller Lebensweisen ebenso als eine von der Vorstellungswelt des historischen Verfassungsgebers fundamental ab­ weichende Entwicklung in der Lebenswirklichkeit, drängt nach einer entspre­ chenden verfassungsrechtlichen Reflexion. In den Mittelpunkt rückt dabei die Öffnung des verfassungsrechtlichen Familienbegriffs für Regenbogenfa­ milien, die sich als grundrechtlicher Dynamisierungsprozess innerhalb des Tatbestands von Art. 6 Abs. 1  GG erweist. Die rechtliche Anerkennung von Regenbogenfamilien als Familie im verfassungsrechtlichen Sinne ist da­ mit  –  angesichts der normgeprägten Tatbestandsstruktur des Art. 6 Abs. 1 GG  – Ausdruck einer rechtspolitischen Gestaltungsentscheidung des einfa­ chen Gesetzgebers. Auch wenn teilweise behauptet wird, die Anerkennung einer Familie sei gegenüber der stärker verrechtlichen Entstehung einer Ehe vornehmlich von faktischen Elementen geprägt371, negiert dies nicht den normgeprägten Charakter des Familiengrundrechts. Tatsächlich gibt es näm­ lich auch rein rechtlich begründete Familienformen.372

III. Die Familieninstitutsgarantie als materielle Dynamisierungsgrenze? Einfach-rechtliche Maßnahmen zur konstituierenden Ausgestaltung des Familiengrundrechts können bereits im Innenverhältnis des Art. 6 Abs. 1 GG durch Strukturvorgaben der Familieninstitutsgarantie begrenzt sein. In Par­ allele zu dem bereits im vorherigen Kapitel thematisierten grundrechtlichen Dynamisierungsprozess einer möglichen Öffnung des verfassungsrechtlichen Ehebegriffs373 wirkt nämlich auch beim Familiengrundrecht die Familien­ institutsgarantie als materielle Dynamisierungsgrenze tatbestandlicher Ei­ gendynamik. Der Herausarbeitung der Strukturvorgaben der Familieninsti­ tutsgarantie kommt damit eine zentrale Bedeutung zu, sollen sie doch die 371  v. Coelln,

in: Sachs, GG, Art. 6 Rn. 15; Mager, S. 210 f. dann im Ergebnis aber auch v. Coelln, in: Sachs, GG, Art. 6 Rn. 15. 373  Dazu oben Teil  4  B.  IV.  1.  a). 372  So

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

Aufrechterhaltung des verfassungsrechtlichen Familienbegriffs zeitresistent schützen. Nur wenn die rechtliche Anerkennung von Regenbogenfamilien nicht mit den Strukturvorgaben des Familienbegriffs kollidiert, ist ihr dyna­ mischer Einbezug in den Tatbestand von Art. 6 Abs. 1  GG, ist der grund­ rechtliche Dynamisierungsprozess überhaupt, verfassungskonform. Wie die Eheinstitutsgarantie374 orientiert sich auch die Institutsgarantie der Familie allein an einem entmaterialisierten Funktionsschutz. Eine Fami­ lie umfasst die aus Eltern und Kindern bestehende Gemeinschaft  –  Familie ist, wo Kinder sind375. Kinderlose Ehen sind danach nicht als Familien im verfassungsrechtlichen Sinne einzustufen. Ein solches Verständnis war trotz missverständlicher Aussagen376 auch im Parlamentarischen Rat gegenwär­ tig. Der Ausschutzvorsitzende von Mangoldt (CDU) machte gegen Ende der Beratungen noch einmal deutlich, dass mit der Ehe die Familie „noch nicht gegeben sei“377. Im Zentrum des verfassungsrechtlichen Familienschutzes steht somit al­ lein die umfassende Gemeinschaft zwischen Eltern und ihren Kindern, aus denen die elterlichen Rechte und Pflichten zur Pflege und Erziehung der Kinder erwachsen.378 Die Familie besitzt eine Doppelnatur, da sie neben der individuellen Funktion zur persönlichen Entfaltung auch eine gemein­ wohlfördernde, soziale Funktion aufweist.379 1. Individual-freiheitliche und gemeinschaftlich-soziale Funktionen der Familie Die Familie trägt  –  ebenso wie die Ehe  – zu einer Förderung individuel­ ler Entfaltungsmöglichkeiten bei. Mit der Gründung einer Familie findet ein subjektiver Freiheitsgewinn statt.380 Vor allem aber besteht der Zweck des verfassungsrechtlichen Familienschutzes maßgeblich darin, die Familie als 374  Gröschner, 375  Epping,

in: H. Dreier, 2. Aufl., Art. 6 Rn. 73. Rn. 506; Sanders, FF  2013, 350 (353); v. der Tann, FamFR  2012,

195 (198). 376  Einem solchen Missverständnis unterliegt vermutlich Pechstein, S. 100, wenn er ausführt, der historische Verfassungsgeber sei ersichtlich davon ausgegangen, auch die kinderlose Ehe als Familie zu qualifizieren. 377  Äußerung des Abgeordneten und Ausschussvorsitzenden v. Mangoldt (CDU), vgl. Deutscher Bundestag/Bundesarchiv, Parlamentarische Rat, Bd. 5/II, S. 828. 378  BVerfGE  10, 59 (66); 48, 327 (339); Robbers, in: v.  Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Abs. 1 Rn. 77; Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 6 Rn. 60; CoesterWaltjen, in: I.  v.  Münch/Kunig, GG, Art. 6 Rn. 11. 379  Häberle, Verfassungsschutz der Familie, S. 1. 380  Seiler, Grundzüge eines öffentlichen Familienrechts, S. 16 f.; Hufen, Staats­ recht  II, § 16 Rn. 14 spricht vom „Recht auf Fortpflanzung“; Robbers, in: v.  Man­



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Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zu fördern. Beide Funktionen gehören zusammen381, lassen sich jedoch nicht gegeneinander ausspielen. Es zeigt sich eine gewisse Parallele zur ehelichen Beistands- und Verantwortungsge­ meinschaft, die jedoch mit einer anderen Akzentuierung versehen ist. Das Schutzniveau der Familie ist von der prinzipiellen Schutzbedürftigkeit des heranwachsenden Kindes bestimmt.382 Das Kinschaftsverhältnis wird durch Abstammung (Geburt) oder durch besonderen Rechtsakt bei der Adoption (Annahme als Kind) vermittelt.383 Die Familie entlastet den Staat, indem ihre Mitglieder Aufgaben der Kindererziehung übernehmen und auf diese Weise eine auf gegenseitiger Verantwortung und Hilfe beruhende Gemein­ schaft aufbauen.384 Es ist gerade die familiäre Sozialisation, die einen qua­ litativen Aspekt der Kindererziehung von herausragender Bedeutung leis­ tet.385 Auch dient das familiäre Zusammenleben der Vermittlung kultureller Grundwerte.386 Sie erweist sich als ein Forum für offene Diskussionen, zur Ausübung von Kritik und die Internalisierung kultureller Leitbilder durch die Eltern, die auf diese Weise generationsübergreifend weitergegeben wer­ den.387 In der Funktion der Familie als umfassende Lebens- und Erzie­ hungsgemeinschaft übernimmt sie somit eine besonders wichtige gemein­ schaftsbezogene-soziale Aufgabe. Ist eine Reproduktionsfunktion für die Ehe abzulehnen388, bleibt schließ­ lich zu klären, ob eine solche Funktion womöglich dennoch im verfassungs­ rechtlichen Schutz der Familie enthalten ist, ob die Familie mithin als „biologische Grundvoraussetzung“ des Staates, als dessen „Keimzelle“389 bestandssichernd wirken390 oder sich stattdessen ihre Funktion allein auf das Vorhandensein sowie das Aufwachsen von Kindern und die damit ver­ goldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Abs. 1 Rn. 11; B. Klein, Das neue Eheverbot, S. 64 f.; Pechstein, S. 62 ff. 381  Häberle, Verfassungsschutz der Familie, S. 30. 382  BVerfGE  10, 59 (66); Robbers, in: v.  Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Abs. 1 Rn. 82; Nesselrode, S. 104 f. 383  Seiler, in: Dolzer/Graßhof/Kahl/Waldhoff/Walter, BK-GG, Stand: Juli  2014, Art. 6 Rn. 76. 384  Brosius-Gersdorf, in: H. Dreier, GG, 3. Aufl., Art. 6 Rn. 129. 385  Pechstein, S. 65 ff.; G. Kirchhof, AöR  129 (2004), S. 542 (545); aus soziolo­ gischer Perspektive Meulemann, S. 218 ff. 386  Häberle, Verfassungsschutz der Familie, S. 31; Pechstein, S. 67 f.; Nesselrode, S. 106 ff., 110. 387  Nesselrode, S. 106 f. 388  Dazu oben Teil  4  B.  IV.  1.  c)  bb). 389  BVerfGE  6, 55 (71); 24, 119 (149). 390  So beispielsweise Brosius-Gersdorf, Demografischer Wandel und Familien­ förderung, S. 187 ff.; Di Fabio, NJW  2003, 993 (997); Pechstein, S. 62; wohl auch Nesselrode, S. 106.

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bundene Erziehung von Kindern, nicht jedoch auf den Reproduktionsakt selbst, beschränkt. Aus den Verhandlungen im Parlamentarischen Rat lassen sich jedenfalls keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine Reproduktions­ funktion der Familie entnehmen.391 Auch Art. 119 Abs. 1  WRV als Vorgän­ gervorschrift betonte allein die dort noch ausdrücklich vorgesehene repro­ duktive Funktion der Ehe, schrieb diese aber im Umkehrschluss gerade nicht der Familie zu.392 Der Familienbegriff in der Weimarer Reichsverfas­ sung knüpfte erst an das Hervorbringen von Kindern an und lässt sich vielmehr dahingehend verstehen, dass die Familie in ihrer gemeinschaftsbe­ zogenen Dimension allein das geordnete Aufwachsen der Kinder zur Auf­ gabe hatte. Gleiches muss bereits denklogisch auch für den Familienbegriff des Grundgesetzes gelten. Das Vorhandensein eines Kindes ist zwingende Vor­ aussetzung einer Familie im Sinne des Art. 6 Abs. 1  GG, der eigentliche Reproduktionsakt einer solchen Konstellation ihr hingegen stets vorgelagert. Die typische Drei- oder Mehrpersonenkonstellation der Familie existiert zum Zeitpunkt des Reproduktionsaktes noch nicht. Würde man den Schutz der Familie trotzdem auf diesen Zeitpunkt ausweiten und den Reproduk­ tionsakt zum zwingenden Erfordernis einer Familie erklären, hätte dies zwangsläufig die Ausklammerung sämtlicher Beziehungen zwischen Eltern und ihren nicht-leiblichen Kindern aus dem verfassungsrechtlichen Fami­ lienbegriff zur Folge. Dieses Ergebnis widerspricht indes wiederum dem Vorstellungsbild im Parlamentarischen Rat, der gerade auch den Einbezug von Adoptionskindern in den Familienbegriff beabsichtigte. Als grundrecht­ liche Gewährleistung enthält Art. 6 Abs. 1 GG keine Reproduktionsfunktion der Familie. Dem einfachen Gesetzgeber steht es innerhalb seines Ausge­ staltungsspielraums frei, Anreize für eine Zunahme an Geburten zu setzen.393 Verpflichtet ist er hierzu indes von Verfassungs wegen nicht.394 Sofern man Art. 6 Abs. 1  GG über seinen grundrechtlichen Charakter hinaus als bloßen Programmsatz im Sinne einer objektiven Staatszielbestim­ 391  Dazu näher Brosius-Gersdorf, Demografischer Wandel und Familienförde­ rung, S. 182 ff., insb. S. 185. Aus der Aussage des Abgeordneten Süsterhenn (CDU), die Familie sei „die natürliche und fundamentale Zelle der Gesellschaft“ (vgl. Deutscher Bundestag/Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/II, S. 643), wird nicht hinreichend deutlich, ob hiermit ausschließlich ein Reproduktionsaspekt ange­ sprochen oder die Familie als generelles gemeinschaftliches Umfeld in Bezug ge­ nommen wird. 392  Brosius-Gersdorf, Demografischer Wandel und Familienförderung, S. 182. 393  Zuleeg, NVwZ  1986, 800 (806) spricht trotz fehlenden verfassungsrechtli­ chen Reproduktionsauftrags von einem legitimen politischen Anliegen, für die Er­ neuerung der Gesellschaft zu sorgen. 394  So auch Burgi, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 6 Rn. 38.



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mung bzw. eines Verfassungsauftrags begreift395  –  von der Fragwürdigkeit einer solchen Konstruktion einmal abgesehen –, der den Staat in die Pflicht nähme, eine aktive Geburtenpolitik zu betreiben, ließe sich allenfalls über diesen Ansatz ein staatlicher Reproduktionsauftrag herleiten.396 Eine solche Eigenschaft wäre jedoch strikt von der objektiv-rechtlichen Dimension als Grundrecht zu unterscheiden, die den am Individuum orientierten grund­ rechtlichen Schutzgehalt spiegelbildlich zur abwehrrechtlichen Funktion auf staatlicher Seite komplementiert. Der Frage nach einer im verfassungsrecht­ lichen Familienbegriff gleichzeitig enthaltenen Staatszielbestimmung zur Bevölkerungsreproduktion braucht hier aber nicht weiter nachgegangen werden. Da Staatszielbestimmungen gerade keine grundrechtliche Position des Einzelnen zu begründen in der Lage sind397, sondern es sich hierbei ausschließlich um objektives Recht handelt398, lässt sich für eine Untersu­ chung, die sich auf den grundrechtlichen Gewährleistungsgehalt konzent­ riert, jedenfalls eine Reproduktionsfunktion der Familie nicht begründen. 2. Leitbildfunktion der Familie Schließlich beinhaltet die Familieninstitutsgarantie ebenfalls eine Leit­ bildfunktion. Der verfassungsrechtliche Familienbegriff fußt auf einer Vor­ stellung von der Familie als idealer Ort für das gedeihliche Aufwachsen von Kindern.399 Dem Parlamentarischen Rat kam es darauf an, die Aufrechter­ haltung der umfassenden familiären Lebensgemeinschaft zwischen Eltern und ihren Kindern unter verfassungsrechtlichen Schutz zu stellen. Gegen­ über anderen Konstellationen, in denen Kinder mit fürsorgenden Aufsichts­ personen zusammentreffen, so beispielsweise im Kindergarten oder in der Schule, hebt sich die Familie durch ihre besondere Intensität und Intimität der gelebten familiären Bindung ab. Als absolutes Strukturmerkmal ist  –  analog zur Ehe  – die Stabilitätsgewähr der familiären Beziehungen, das heißt die Bindung zwischen Eltern und ihren Kindern, einzustufen.400 Hierbei handelt es sich um den übergeordneten Zweck des Familienleitbil­ des, dessen Einschränkung um keinen Preis erfolgen darf.

395  Dahingehend Lecheler, in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, § 133 Rn. 52. 396  So Brosius-Gersdorf, Demografischer Wandel und Familienförderung, S. 187 ff. 397  Vgl. bereits Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 90 Rn. 109. 398  BVerfGE  13, 54 (96 f.). 399  Sanders, FF  2013, 350 (353). 400  Vgl. auch Gusy, JA  1986, 183 (185).

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

a) Ursprünglich: Ehebasierte Familie als verfassungsrechtliches Leitbild Das normative Substrat des Familienleitbildes setzt sich aus den norma­ tiven Strukturmerkmalen zusammen, die ihrerseits Ausdruck vorherrschen­ der gesellschaftlicher Wertevorstellungen sind. Als solche bilden sie die sozialen Kriterien bzw. gesellschaftlichen Anforderungen, die an die Ver­ wirklichung der familiären Stabilitätsgewähr als übergeordneter Zweck des Familienleitbildes zu stellen sind. Zum Zeitpunkt der Entstehung des Grundgesetzes repräsentierte das Erfor­ dernis einer bestehenden Ehe noch die notwendige Vorstufe zur Familie.401 Am besonderen Schutz der Verfassung nahmen darüber hinaus aber auch un­ verheiratete Mütter mit ihren Kindern teil. Sie formten nach dem damaligen Verständnis eine „Ein-Eltern-Familie“, unabhängig davon, ob der Vater mit der Mutter in einer nichtehelichen Beziehung lebte.402 Allein die aus einer Ehe hervorgehende Familie verkörperte jedoch die vollständigste Familienform als ideale Voraussetzung für ein gedeihliches Aufwachsen von Kindern.403 Dies belegen die eindeutigen Äußerungen der Beteiligten im Parlamenta­ rischen Rat. So stellte der Abgeordnete Süsterhenn gleich mehrfach heraus, dass zwischen ehelichen und unehelichen Kindern von Natur aus keine Gleichheit herrsche, „weil das eheliche Kind aus der Ehe hervorgegangen ist und normalerweise im Familienverband lebt, während das uneheliche Kind nicht in diesem Familienverband steht. Es steht nur in einem engeren Verhältnis zur Mutter, aber der Vater als Teil  der Familie fehlt nun einmal in dieser Ordnungsgemeinschaft.“404 Im Grundsatzausschuss äußerte er fer­ ner: „Ein eheliches Kind lebt in der Familie unter der Obhut von Vater und Mutter. Das uneheliche Kind lebt nicht in einer Familie, sondern steht in einem einseitigen Verhältnis zur Mutter. Solche Verschiedenheiten kann man durch keine Verfassungsbestimmung aus der Welt schaffen. Man kann höchstens sagen: Das uneheliche Kind soll die gleiche gesellschaftliche Förderung erhalten wie ein eheliches.“405 Die SPD-Fraktion im Parlamenta­ 401  Uhle, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 6 Rn. 14, 17; v. Campenhausen, VVDStRL  45 (1987), S. 7 (22); B. Klein, Das neue Eheverbot, S. 123. 402  Nesselrode, S. 121. 403  BVerfGE  76, 1 (51); 117, 316 (328). 404  Äußerung des Abgeordneten Süsterhenn (CDU), vgl. Deutscher Bundestag/ Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat, Bd. 14/1, S. 600. Die emotionalen Debat­ ten zum Umgang mit nichtehelichen Kindern sind nachzulesen bei Deutscher Bundestag/Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat, Bd. 14/1, S. 599 ff.; Deutscher Bundestag/Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat, Bd. 14/2, S. 1331 ff. 405  Äußerung des Abgeordneten Süsterhenn (CDU), vgl. Deutscher Bundestag/ Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/II, S. 644.



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rischen Rat regte weiterhin an, den verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie um die Schutzposition des „Kindes“ zu erweitern406, um auf diese Weise implizit den Schutz von Kindern außerhalb einer Familie – und somit außerhalb der Ehe  – in den Tatbestand von Art. 6 Abs. 1  GG aufzu­ nehmen. Die bewusste Aufnahme von Art. 6 Abs. 5  GG entpuppt sich in diesem Zusammenhang als weiteres Indiz für ein ehebasiertes Familienver­ ständnis, zielt die Vorschrift gerade doch auf eine spezifische Förderung nichtehelicher Kinder, das heißt zugunsten von Kindern außerhalb einer ehebasierten Familie ab.407 In der Tat entsprach es noch bis zum Ende der 1980er Jahre den vorherr­ schenden gesellschaftlichen Vorstellungen, von einer „vollständigen“ Fami­ lie ausschließlich bei verheirateten Eltern mit ihren Kindern zu sprechen. Entsprechend fanden sich im damaligen Schrifttum, vereinzelt sogar auch noch in der heutigen Zeit408, Stimmen in der Literatur, die den verfassungs­ rechtlichen Schutz der Familie ausschließlich der ehebasierten Familie zu­ teilwerden ließen409, die die Ehe mithin als konstitutives Element der Fa­ milie betrachteten410. Ursprünglich nahmen allein ehebasierte Familien den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG für sich in Anspruch, denn nur sie garantierten die dem historischen Verfassunggeber eindeutig vor Augen stehenden hohen Stabilitätsanforderungen an eine verfassungsrechtlich geschützte, von beson­ derer Stabilität gekennzeichnete familiäre Bindung. Nicht-leitbildkonforme Familien waren zum damaligen Zeitpunkt lediglich über Art. 2 Abs. 1  GG geschützt. Vertreter in der Literatur, die das Leitbild der ehebasierte Familie zwar betonen, zugleich jedoch den prima facie-Einbezug auch nicht-leitbild­ konformer Familienformen in den Schutzbereich von Art. 6 Abs. 1  GG be­ reits zum Entstehungszeitpunkt der Vorschrift betonen411, tragen der dogma­ tischen Konzeption einer verfassungsrechtlichen Leitbildfunktion nicht auf angemessene Weise Rechnung. Nur ein Wandel im normativen Substrat des Eheleitbildes, eine Überwindung der Eigenschaft der ehebasierten Familie 406  Deutscher Bundestag/Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat, Bd. 14/1, S. 602. 407  Die separate Einfügung von Art. 6 Abs. 5  GG ist Bestätigung für das Leitbild der ehebasierten Familie, vgl. Robbers, in: v.  Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Abs. 5 Rn. 305. 408  Hillgruber, in: Festschrift für M.  Spieker, S. 47 (56). 409  Vgl. bereits Hamann-Lenz, Das Grundgesetz, Art. 6 Anm. B.  1.; Ra. Scholz, ZRP  1981, 225 (228); Gusy, JA  1986, 183 (185); Karpen, JuS  1987, 593 (597); Berghahn, KJ 1993, 397 (403); Kleffmann, S. 128; Lecheler, DVBl. 1986, 905 (907). 410  Geiger, in: Essener Gespräche  14 (1980), S. 9 (9). 411  Bspw. Germann, VVDStRL  73 (2013), S. 257 (274); v. Coelln, in: Sachs, GG, Art. 6 Rn. 15; Uhle, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 6 Rn. 14; Di Fabio, NJW 2003, 993 (994); wohl auch Robbers, v.  Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Abs. 1 Rn. 90.

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als normatives Strukturmerkmal, kann überhaupt erst den Einbezug weiterer familiärer Lebensformen in den Familienbegriff des Art. 6  Abs. 1  GG zur Folge haben. b) Entfallen des Kriteriums der Ehe als normative Grundlage der Familie Die Leitbildfunktion der Familie schließt in der Tat einen Wandel dahin­ gehend, auch nichteheliche Familien fortan in den Schutzbereich von Art. 6 Abs. 1  GG einzubeziehen, nicht aus. Entscheidend ist hierfür aber der tat­ sächliche Vollzug eines entsprechenden Wandels im normativen Substrat des Familienleitbildes, das heißt die eindeutige Überwindung damaliger Vorstel­ lungen. Die Vorstellung der ehebasierten Familie ist zunächst einmal als normatives Strukturmerkmal des Familienleitbildes einzustufen, das als ur­ sprüngliche gesellschaftliche Wertevorstellung der Verwirklichung des über­ geordneten Zwecks des Leitbildes, nämlich der Gewährleistung familiärer Bindungsstabilität, diente. Ein Wandel im normativen Substrat würde nun zur Folge haben, dass die Existenz familiärer Stabilität heute auch in ande­ ren Formen des Zusammenlebens in gleichem Maße vorzufinden und in ihrer Intensität als in der ehebasierten Familie gleichwertige Bindung gesell­ schaftlich akzeptiert ist. Ändern sich die gesellschaftlichen Vorstellungen darüber, auf welche Weise der übergeordnete Zweck auf der Höhe der Zeit bestehen kann, kann dies zu einem Wandel im normativen Substrat des Leitbildes führen412. Mit Blick auf den verfassungsrechtlichen Familienschutz kommt es daher entscheidend darauf an, ob das Erfordernis einer bestehenden Ehe zwischen den Eltern eines Kindes als normatives Strukturmerkmal mittlerweile über­ fällig geworden ist. So könnte die Pluralisierung der neuen familiären Le­ bensformen als Resultat eines grundlegenden gesellschaftlichen Wertewan­ dels bezüglich des Erfordernisses einer Heirat womöglich nicht ohne Aus­ wirkungen am verfassungsrechtlichen Schutzumfang der Familie vorbeige­ gangen413 und zu einem entsprechenden Wandel im normativen Substrat des Familienleitbildes geführt haben. In den vergangenen Jahren hat eine nie dagewesene Pluralisierung familiärer Lebensformen stattgefunden.414 Die Zahl der nichtehelichen Geburt, zur Zeit der Verfassunggebung noch als „makelbehaftete Seltenheit“415 wahrgenommen, verzeichnet seitdem einen 412  Dazu

oben Teil  3  C.  III.  4.  b)  aa). S. 121; Classen, DVBl.  2013, 1086 (1086). 414  Brosius-Gersdorf, JöR  62 (2014), S. 179 (181); Benedict, JZ  2013, 477 (481 f.). 415  Classen, DVBl.  2013, 1086 (1086). 413  Nesselrode,



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merklichen Anstieg, auf der anderen Seite ist die Anzahl ehelicher Kinder seit Jahren rückläufig. Im Jahr 2013 gab es in Deutschland 8,1  Mio. Fami­ lien mit mindestens einem minderjährigen Kind, davon lebten 70 % der Kinder in einer ehebasierten Familie, 30 % dagegen in nichtehelichen Ver­ hältnissen (20 % bei alleinerziehenden Eltern, 10 % innerhalb nichtehelicher verschieden- oder gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften).416 Ein wesentlicher Grund für die Ausdifferenzierung des Familienbegriffs ist der Tatsache geschuldet, dass heutzutage immer mehr Personen Verant­ wortung für ein Kind übernehmen, das nicht von ihnen selber abstammt.417 In der Lebenswirklichkeit hat der Stellenwert einer Ehe als Grundlage der Familiengründung daher in hohem Maße an Bedeutung eingebüßt. Dies kommt vor allem in einer Vielzahl von Regelungen zum Ausdruck, die fa­ milienrechtliche Leistungen unabhängig vom Erfordernis einer zwischen den Eltern eines Kindes bestehenden Ehe vorsehen. Rechtspolitisch sind solche Maßnahmen von dem Bestreben geleitet, die „soziale Familie“ in den Mittelpunkt eines zeitgemäßen Familienbegriffs zu rücken.418 Bei den gesellschaftlichen und rechtspolitischen Veränderungen handelt es sich um wesentliche Entwicklungsparameter in diesem Dynamisierungsbereich. Va­ rianten des familiären Zusammenlebens sind heute einerseits klassischerwei­ se in der ehebasierten Familie vorzufinden sowie darüber hinaus  –  jenseits der Ehe  – bei nichtehelichen Lebensgemeinschaften und in Fällen alleiner­ ziehender Eltern. Das Kind muss heute nicht zwingend von beiden Eltern­ teilen abstammen, es genügt wenn es in einer Gemeinschaft lebt, bei der es sich nur bei einer Bezugsperson um seinen leiblichen oder rechtlichen El­ ternteil handelt  –  die derzeitigen Diskussionen zum rechtlichen Umgang in Fragen der Leihmutterschaft419 sowie die Entwicklungen im Ausland weisen möglicherweise sogar in die Richtung, dass sich zukünftig von einer Fami­ lie selbst im Falle von Lebensgemeinschaften mit einem Kind, dass von einer weiteren dritten Person abstammt, sprechen lässt420. Mit der Plurali­ sierung familiärer Lebensformen geht im Übrigen auch eine entsprechende Pluralisierung von Elternschaft einher, infolgedessen leibliche und soziale Elternschaft fortwährend entkoppelt werden.421 Der Schutz der Familie in 416  Statistisches Bundesamt, Familien 2013  – Ehepaare noch dominierend, aber rückläufig, Pressemitteilung Nr. 367 v. 20.10.2014, abrufbar unter https://www.desta tis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2014/10/PD14_367_122.html. 417  Brosius-Gersdorf, JöR  62 (2014), S. 179 (179). 418  Vgl. z. B. BT-Drucks.  13/4899, S. 58; BT-Drucks.  17/12163, S. 10. 419  Für die Verfassungsmäßigkeit der Zulässigkeit der Leihmutterschaft bspw. Dethloff, JZ  2014, 922 (922 ff.); zum Verhältnis von Leihmutterschaft und ordre public jüngst BGH, FamRZ  2015, 240 (240 ff.). 420  Dahingehend auch Classen, DVBl.  2013, 1086 (1090). 421  Feldhaus/Huinink, in: Schwab/Vaskovicz, S. 77 (78).

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

Art. 6 Abs. 1  GG reicht über das Elternrecht aus Art. 6  Abs. 2  GG hinaus, indem er auch Familiengemeinschaften im weiteren Sinne einbezieht, somit keinen Bestand rechtlicher Verwandtschaft erfordert.422 Besonderes Augenmerk muss vor allem auf Art. 6 Abs. 5  GG als zur Überwindung des ehebasierten Familienverständnisses wesentlicher Dyna­ misierungsfaktor fallen.423 Die Vorschrift versteht sich als besonderer Gleichheitssatz424 zugunsten nichtehelicher Kinder. Ihre Zielsetzung bringt inzident zum Ausdruck, dass ehelichen Kindern die besseren Entwick­ lungsmöglichkeiten zuteilwerden.425 Den nichtehelichen Kindern sind inso­ weit durch Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern. Im Zentrum der Familie steht vor allem das Kindeswohl, das im Zusammenspiel mit Art. 6 Abs. 5  GG einen umfassen­ den Schutz erfordert, der nicht nur Privileg der ehebasierten Familie sein darf.426 Eine Besserstellung verheirateter gegenüber unverheirateten Eltern konterkariert das Anliegen des Art. 6 Abs. 5  GG, indem sie sich negativ auf das Kindeswohl nichtehelicher Kinder auswirkt.427 Art. 6  Abs. 5  GG fordert aber gerade nicht nur eine Annäherung, sondern gar eine „wirkliche Gleichstellung“428. In seinem grundlegenden Urteil zur rechtlichen Stellung von Stieffamilien aus dem Jahr 1969 hat das Verfassungsgericht Art. 6 Abs. 5  GG eine unmittelbare Wirkung zum Ablauf der 5.  Legislaturperiode zugesprochen. Fortan wurde entgegenstehendes einfaches Recht außer Kraft gesetzt, sofern der Gesetzgeber es weiterhin unterließ, die Gleichstel­ lung tatsächlich umzusetzen.429 Erst unter dem Druck dieser Entscheidung wurde das Nichtehelichenrecht durch den Gesetzgeber überarbeitet. Die zunächst zwar noch zögerlich erfolgende Ernstnahme dieses Verfassungs­ 422  Pirson, in: Dolzer/Graßhof/Kahl/Waldhoff/Walter, BK-GG, Erstbearbeitung, Art. 6 Abs. 1 Rn. 24; Robbers, in: v.  Mangold/Klein/Starck, GG, Art. 6 Rn. 90; so auch die st. Rspr., vgl. BVerfGE 18, 97 (105 f.); 68, 176 (187); 79, 51 (59); 79, 256 (267); 80, 81 (90); 99, 216 (231 f.); 108, 82 (107); 133, 59 (83). Diese Untersuchung hat die Dynamisierungsprozesse von Partnerschaft und Familie zum Gegenstand. Die komplexe Fragestellung eines Dynamisierungsprozesses beim verfassungsrecht­ lichen Elternbegriff bleibt hier außer Betracht. 423  So auch  –  wenn im Ergebnis zwar kritisch  – Seiler, in: Uhle, S. 37 (52 ff.). 424  BVerfGE 84, 168 (184 f.); Robbers, in: v.  Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Abs. 5 Rn. 308. 425  Uhle, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 6 Rn. 17; Nesselrode, S. 123. 426  Nesselrode, S. 123. 427  Michael, NJW  2010, 3537 (3538). 428  BVerfGE  85, 80 (81). 429  BVerfGE  25, 167 (188); dazu Coester-Waltjen, in: I.  v.  Münch/Kunig, GG, Art. 6  Rn. 113.



E. Dynamisierungsprozess  4271

auftrags430 hat im Laufe der Jahre dann jedoch in der Tat zur gesellschaft­ lichen Anerkennung nichtehelicher Familien in erheblichem Maße beige­ tragen. Die von Verfassungs wegen durch Art. 6 Abs. 5  GG geforderte Gleichbe­ handlungspflicht hat die Annäherung der Stabilität in ehelichen und nicht­ ehelichen Familien über die Jahre seit Erlass des Grundgesetzes vorange­ trieben und zur vollständigen Neuregelung der zivilrechtlichen Stellung nicht­ehelicher Kinder geführt431. Nichteheliche Lebensgemeinschaften sind heutzutage zweifellos als legitime gesellschaftliche Form partnerschaftlichen Lebens anerkannt. Die Empirie weist hier bereits für sich auf einen erheb­ lichen gesellschaftlichen Wandel gegenüber dem Jahr 1949 hin. Im Ergebnis wird die Forderung des verfassungsrechtlichen Familienleitbildes nach fami­ liärer Stabilität, die wiederum maßgeblich von einer stabilen Eltern-KindBindung abhängt432, heute nicht nur in ehebasierten, sondern auch in nicht­ ehelichen Familien verwirklicht. Die Einstufung der ehebasierten Familie als normatives Strukturmerkmal des Familienleitbildes hat somit seine Be­ deutung für die Sicherstellung des übergeordneten Zwecks, nämlich der familiären Stabilitätsgewähr, eingebüßt. Dies gilt heute sogar für das Ver­ hältnis alleinerziehender Mütter und – das ist ein Novum – alleinerziehender Väter zu ihren Kindern. Im Zuge des Nichtehelichengesetzes433 aus dem Jahr 1969 wurde § 1589 Abs. 2  BGB a. F. abgeschafft, der bisher ein Ver­ wandtschaftsverhältnis zwischen dem nichtehelichen Kind und seinem Vater durch Gesetz ausschloss. Auch hier hat ein gesellschaftlicher Impuls in ­einem rechtlichen Wandel seinen Abschluss gefunden.434 c) Entfallen des Heterosexualitätsprinzips beim Familienbegriff Der Wandel hinsichtlich des normativen Strukturmerkmals der „eheba­ sierten Familie“ ermöglicht nunmehr den Einbezug nichtehelicher Familien­ formen in den verfassungsrechtlichen Ehebegriff. Ob indes auch der Einbe­ zug von Regenbogenfamilien dazu gehört, hängt in einem nächsten Schritt noch von der Überwindung des Heterosexualitätsprinzips im Familienbegriff 430  Coester-Waltjen, in: I. v Münch/Kunig, GG, Art. 6 Rn. 112; näher E. v. Münch, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, § 9 Rn. 23 ff. 431  Coester-Waltjen, in: I.  v.  Münch/Kunig, GG, Art. 6 Rn. 113. 432  Richtig Herzmann, JURA  2015, 248 (249), der präzise das spezifisch soziale Beziehungsverhältnis zwischen Eltern und Kindern als Schutzgegenstand bezeichnet; ferner Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 6 Rn. 3. 433  Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder v. 19.8.1969, BGBl. I  S. 1243. 434  So auch Zippelius, DÖV  1986, 805 (809).

272

Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

ab. Zwar wurde dieses Erfordernis im Parlamentarischen Rat nicht aus­ drücklich thematisiert, angesichts der ursprünglichen Pönalisierung homose­ xueller Lebensweisen zum Entstehungszeitpunkt des Grundgesetzes ist aber bei der Bestimmung der damaligen normativen Strukturmerkmale des Fami­ lieninstituts der Ausschluss von Regenbogenfamilien aus dem verfassungs­ rechtlichen Familienbegriff zu folgern. Nicht zuletzt hat auch die Vorstellung der ehebasierten Familie auf inzidente Weise die normativen Strukturmerk­ male des Ehebegriffs in das zur Entstehungszeit des Grundgesetzes vorherr­ schende verfassungsrechtliche Familienverständnis überführt. Das Hetero­ sexualitätsprinzip ist damit analog zur Ehe zunächst einmal normatives Strukturmerkmal des Familieninstituts geworden. Die zeitlich spätere Über­ windung des Heterosexualitätsprinzips kann nur im Zuge eines grundlegen­ den Wandels im normativen Substrat des Familienleitbildes erfolgt sein. Diese Fragestellung betrifft mithin ausschließlich die Ebene der familiären Leitbildfunktion. Mangels einer Reproduktionsfunktion von Ehe und Fami­ lie435 ist das gelegentlich hervorgebrachte Erfordernis einer prinzipiell ehe­ fähigen Partnerschaft als Aspekt der gemeinschaftlich-sozialen Funk­ tionsebene für den Familienbegriff ohne Belang.436 In Parallele zur Überwindung des Heterosexualitätsprinzips beim verfas­ sungsrechtlichen Ehebegriff437 lassen sich auch bei der Öffnung des Fami­ lienbegriffs für gleichgeschlechtliche Paare die bisherigen grundrechtlichen Dynamisierungsprozesse aus dem Lebensbereich „gleichgeschlechtliche Partnerschaften“ als wegbereitende Grundpfeiler anführen. Diese sind nicht nur Ausdruck eines grundlegenden gesellschaftlichen und rechtlichen Um­ schwungs im Umgang mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, sondern haben auch die institutionelle Vergleichbarkeit von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft bewirkt. Homosexualität und gleichgeschlechtliche Partnerschaft sind gesellschaftlich anerkannte und verfassungsrechtlich ge­ schützte Lebensweisen. Die Ausführungen lassen sich auf den Familienbe­ griff übertragen, bei dem es nicht um die Beurteilung von Elternschaft, sondern allein um die Bewertung der familiären Bindung eines Zusammen­ lebens von Kindern mit einem gleichgeschlechtlichen Paar geht. Die sozia­ len Bindungen zwischen Familienmitgliedern hängen nicht von deren sexu­ eller Identität oder der Partnerschaftsform ab, entscheidend sind vielmehr einzig die Bereitschaft zur tatsächlichen Verantwortungsübernahme und ihre effektive Ausübung. Das Zusammenleben von Kindern mit gleichgeschlecht­ lichen Paaren weist in diesem Punkt keine Unterschiede zur Familie mit 435  Dazu

oben Teil  4  B.  IV.  1.  c)  bb). richtig BVerfGE  133, 59 (84 f.); anders aber Uhle, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 6 Rn. 18. 437  Dazu oben Teil  D.  III.  2. 436  So



E. Dynamisierungsprozess  4273

einem verschiedengeschlechtlichen Paar auf. Zumal gerade auch in einge­ tragenen Lebenspartnerschaften lebende Kinder das identische Maß an partnerschaftlicher Stabilität wie in einer Ehe vorfinden. Empirische Studien bestätigen, dass Kinder, die in Regenbogenfamilien aufwachsen, keine Un­ terschiede in ihrer sozialen Entwicklung aufweisen.438 Das Heterosexuali­ tätsprinzip hat heute seine Bedeutung als normatives Strukturmerkmal der Familieninstitutsgarantie eingebüßt. Im Unterschied zur Öffnung der Ehe wurde die Öffnung des Familienbegriffs zugunsten von Regenbogenfamilien mit ihrer rechtlichen Anerkennung sogar bereits vollzogen. Folgerichtig schützt in der heutigen Zeit das Familiengrundrecht die aus gleichgeschlechtlichen Lebenspartnern und einem Kind bestehende Gemein­ schaft, sofern diese dauerhaft angelegt ist und als umfassende Gemeinschaft gelebt wird.439 In diesem Sinne hat auch der EGMR im Jahr 2014 ausdrück­ lich entschieden: „Wenn ein gleichgeschlechtliches Paar in einer stabilen Beziehung lebt, fällt das genauso unter den Begriff des ‚Familienlebens‘ wie bei einem verschiedengeschlechtlichen Paar in derselben Situation.“440 Die Entwicklungen auf europäischer Ebene nehmen Einfluss auf die Ausle­ gung nationalen Verfassungsrechts. Mit der Berücksichtigungspflicht supra­ nationaler Entwicklungen ist der Dynamisierungsfaktor der Herstellung zeitgerechter Systemkohärenz angesprochen.441 Sofern das Stabilitätserfor­ dernis durch eine tatsächliche Verantwortungsübernahme hinreichend ge­ wahrt ist, partizipieren damit heutzutage auch nichteheliche homosexuelle Partnerschaften, in denen Kinder leben, am verfassungsrechtlichen Schutz der Familie. Hierfür spricht, dass sich ein solches Paar mit ihrem Kind letztlich in derselben Situation wie ein heterosexuelles nichteheliches Paar mit einem Kind befindet.

IV. Verfassungsrichterliche Kontrolle Die verfassungsrichterliche Kontrolle des hier im Zentrum stehenden grundrechtlichen Dynamisierungsprozesses, der den Einbezug von Regenbo­ genfamilien in den verfassungsrechtlichen Familienbegriff zum Gegenstand hat, soll abschließend überprüft werden. Grundlegend ist die Entscheidung zur Sukzessivadoption eingetragener Lebenspartner aus dem Jahr 2013 ge­ 438  Instruktiv M. Rupp, Die Lebenssituation von Kindern in gleichgeschlechtli­ chen Lebenspartnerschaften, S. 233 ff., 308; ferner Dethloff, ZKJ  2009, 141 (147) m. w. N.; Pätzold, FPR  2005, 269 (273). 439  v. Coelln, in: Sachs, GG, Art. 6 Rn. 6; Coester-Waltjen, in: I.  v.  Münch/ Kunig, GG, Art. 6 Bd. 1, Rn. 11; Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 6 Rn. 9. 440  EGMR, NJW  2014, 2561 (2562, Rn. 27). 441  Dazu Teil  2  C.  IV.  2.  b).

274

Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

wesen.442 Zuvor war bereits die Pluralisierung familiärer Lebensformen als solche Gegenstand verschiedener verfassungsrechtlicher Entscheidungen.443 Richtungsweisende Bedeutung für den Wandel vom ehebasierten zum sozi­ alen Familienverständnis ist insbesondere Beschluss des BVerfG zum „Biologischen Vater“ aus dem Jahr 2003 beizumessen. Hier stufte das Verfas­ sungsgericht bereits das bloße Vorhandensein einer sozial-familiären Bezie­ hung zwischen dem Kind und seinem biologischen Vater als von Art. 6 Abs. 1  GG geschützte familiäre Bindung ein.444 1. Kontrollmaßstab Der verfassungsrichterliche Kontrollmaßstab eines grundrechtlichen Dy­ namisierungsprozesses innerhalb eines normgeprägten Grundrechtstatbe­ stands richtet sich nach der betroffenen Ebene der Institutsgarantie. Für Änderungen im normativen Substrat der Leitbildfunktion gilt der besonders strenge Maßstab einer vollumfassenden Validitätskontrolle.445 Die entschei­ denden Faktoren des Wandels müssen herausgearbeitet und auf ihre tatsäch­ liche Gültigkeit überprüft werden. 2. Stellungnahme zu BVerfGE 133, 59 Gegenüber den bisherigen, größtenteils ernüchternd ausfallenden446 Be­ wertungen der verfassungsrichterlichen Kontrolle grundrechtlicher Dynami­ sierungsprozesse im Lebensbereich „gleichgeschlechtliche Partnerschaften“ sticht die Entscheidung zur Sukzessivadoption, bei der Regenbogenfamilien im Fokus stehen, zunächst einmal positiv hervor. Erstmals in der Rechtspre­ chung zum Dynamisierungsbereich „gleichgeschlechtliche Lebenspartner­ schaften“ reflektiert das BVerfG in angemessener Weise die heutige abwei­ chende Situation gegenüber der Entstehungszeit des Grundgesetzes.447 Die Ausführungen betreffen zwar genau genommen eine Veränderung beim El­ terngrundrecht, dies ist indes der Tatsache geschuldet, dass das Verfassungs­ gericht seine Prüfungsreihenfolge relevanter Grundrechtstatbestände zu­ nächst mit Art. 6 Abs. 2  GG beginnt und erst im Anschluss auf einen möglichen Schutz von Regenbogenfamilien aus dem Familiengrundrecht 442  BVerfGE  133,

59 ff. nur BVerfGE  10, 59 (66); 18, 97 (105 f.); 45, 104 (124); 79, 256 (267); 106, 166 (176). 444  BVerfGE  108, 82 ff. 445  Dazu oben Teil  3  D.  III.  2.  c). 446  Dazu oben Teil  4  B.  V.  2., Teil  4  C.  IV.  2. 447  BVerfGE 133, 59 (79 f.); zu diesem Aspekt bereits näher oben Teil 4 C. IV. 2. 443  Vgl.



E. Dynamisierungsprozess  4275

nach Art. 6 Abs. 1  GG eingeht. Den gängigen, zur Bezeichnung einer Ge­ meinschaft aus gleichgeschlechtlichen Lebenspartnern und einem Kind dienenden Begriff der Regenbogenfamilie benutzt das BVerfG indes in der Entscheidungsbegründung selber nicht. In der Sukzessivadoptionsentscheidung anerkennt das Verfassungsgericht den Einbezug von Regenbogenfamilien in den Schutz des Familiengrund­ rechts.448 Indem das Familiengrundrecht auf den Schutz der spezifisch psychologischen und sozialen Funktion familiärer Beziehungen abziele, er­ folge der Grundrechtsschutz unabhängig von dem Bestand rechtlicher Ver­ wandtschaftsbeziehungen.449 Im Lichte dieses Schutzanliegens könne das familiäre Zusammenleben zweier gleichgeschlechtlicher Partner mit dem Kind des einen Partners die gleichen schutzwürdigen familiären Bindungen hervorbringen wie das Zusammenleben in der Stieffamilie eines verschie­ dengeschlechtlichen Paares.450 Der Familienbegriff sei ebenso wenig auf prinzipiell ehefähige Partnerschaften beschränkt, sondern auch in solchen Beziehungen, wo ein gleichgeschlechtliches Paar dauerhaft mit einem Kind in einer faktischen Eltern-Kind-Beziehung zusammenlebe, ließe sich das Bestehen einer Familie nicht in Abrede stellen, ansonsten widerspräche eine Verweigerung des Familienschutzes dem Sinn eines auf Schutz der sozialen Familiengemeinschaft gerichteten Schutzes.451 Im Lichte der „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“ verdie­ nen diese Ausführungen im Ergebnis Zustimmung. Zwei Wandlungen im normativen Substrat des Familienleitbildes, nämlich die Aufgabe eines ehe­ basierten Verständnisses zum einen und die Überwindung des Heterosexua­ litätsprinzips zum anderen, haben letztlich überhaupt erst zu dem heutigen Einbezug von Regenbogenfamilien in den Schutzbereich des Familien­ grundrechts geführt. Für die Darlegung dieser grundlegenden Wandlungen gilt ein strenger verfassungsrichterlicher Kontrollmaßstab, der die zentralen Dynamisierungsfaktoren offenlegt. Zur Begründung des modernen Famili­ enschutzes als tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft von Eltern und Kindern verweist das BVerfG in der Entscheidung zur Sukzessivadop­ tion auf seine frühere Rechtsprechung. Betrachtet man die genannten Ent­ scheidungen indes genauer, fehlt auch hier bereits eine dezidierte Auseinan­ dersetzung mit der Aufgabe des ehebasierten Familienverständnisses, das ursprünglich als normatives Strukturmerkmal des Familienleitbildes einzu­ ordnen war. Nachdem das BVerfG in BVerfGE 10, 59 (66) den Familienbe­ griff als umfassende Gemeinschaft von Eltern und Kindern konturiert, ver­ 448  BVerfGE  133,

59 59 450  BVerfGE  133, 59 451  BVerfGE  133, 59 449  BVerfGE  133,

(82). (82 f.). (83). (84).

276

Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

weist es fortan in seinen Entscheidungen auf die allgemeine Anerkennung eines weiten verfassungsrechtlichen Verständnisses von Familie, die sog. soziale Familie, welche auch nichteheliche Familienformen umfasse.452 Dass ein solches Verständnis jedoch eine signifikante Abweichung von der ursprünglichen Wertung des historischen Verfassungsgebers impliziert – dem historischen Verfassungsgeber stand bei der Ausgestaltung des verfassungs­ rechtlichen Familienbegriffs offenkundig einzig die ehebasierte Familie als Leitbild vor Augen  –, wird vom Verfassungsgericht an keiner Stelle ange­ sprochen. Erneut vernachlässigt das BVerfG damit seine von Verfassung wegen vorgesehene Pflicht, grundrechtliche Dynamisierungsprozesse in der Entscheidungspraxis hinreichend abzubilden. Anders als in den bisherigen Entscheidungen, die grundrechtliche Dyna­ misierungsprozesse aus dem Lebensbereich „gleichgeschlechtliche Partner­ schaften“ zum Gegenstand hatten, setzt sich das BVerfG in der Entschei­ dung zur Sukzessivadoption jedenfalls aber ausführlicher mit Dynami­ sierungsfaktoren auseinander, die zur Überwindung des Heterosexualitäts­ prinzips beim Familienleitbild geführt haben. Die Ausführungen zum Elterngrundrecht, in dessen Zusammenhang das BVerfG das vom Entste­ hungszeitpunkt des Grundgesetzes abweichende moderne Verständnis unter Verweis auf gesellschaftliche und rechtliche Veränderungen sowie Entwick­ lungen im Ausland begründet, sind auf die Öffnung des Familienbegriffs für Regenbogenfamilien übertragbar. Ganz konkret trägt das BVerfG den Aspekt systemgerechter Kohärenz im supranationalen Mehrebenensystem vor.453 Es berücksichtigt die jüngste Rechtsprechung des EGMR zur Aus­ legung von Art. 8  EMRK in Fragen gleichgeschlechtlicher Partnerschaft, wonach heutzutage ein Einbezug der sozialen Gemeinschaft von gleichge­ schlechtlichen Partnern und den bei ihnen lebenden Kindern unter den Fa­ milienbegriff der EMRK geboten ist.454 Insofern lässt sich festhalten, dass die Kontrolle des grundrechtlichen Dynamisierungsprozesses der Öffnung des Familienbegriffs für Regenbogenfamilien in der Entscheidung zur Suk­ zessivadoption gegenüber den bisherigen verfassungsrichterlichen Entschei­ dungen aus dem Lebensbereich „grundrechtliche Dynamisierungsprozesse“ eine präzisere, wenngleich nach wie vor nicht den ausreichenden Tiefgang aufweisende Behandlung erfährt.

452  BVerfGE  18,

97 (105 f.). näher oben Teil  2  C.  IV.  2.  b). 454  BVerfGE  133, 59 (84) mit Verweis auf EGMR, NJW  2011, 1421 (1421 ff.). 453  Dazu



E. Dynamisierungsprozess  4277

V. Zwischenergebnis Der vierte grundrechtliche Dynamisierungsprozess aus dem Dynamisie­ rungsbereich „gleichgeschlechtliche Partnerschaften“ geht über das partner­ schaftliche Verhältnis hinaus und nimmt das Zusammenleben von gleichge­ schlechtlichen Paaren und den bei ihnen lebenden Kindern, sog. Regenbo­ genfamilien, in den Blick. Das Aufkommen dieser Form familiären Zusam­ menlebens steht im Zusammenhang mit einem allgemeinen Prozess der Pluralisierung familiärer Lebensformen und lag ursprünglich schlicht außer­ halb der Vorstellungswelt des historischen Verfassungsgebers. Heute drängt sie nach einer zeitgemäßen verfassungsrechtlichen Reflexion. Der verfas­ sungsrechtliche Schutz von Regenbogenfamilien betrifft unmittelbar eine tatbestandliche Erweiterung des verfassungsrechtlichen Familiengrundrechts in Art. 6 Abs. 1  GG. Im Rahmen der Ausgestaltungsgesetzgebung hat der einfache Gesetzgeber die rechtliche Existenz von Regenbogenfamilien aner­ kannt und insofern eine konstituierende Ausgestaltungsentscheidung hin­ sichtlich des normgeprägten Grundrechtstatbestands von Art. 6 Abs. 1  GG getroffen. Im Unterschied zur Ehe ist die Entscheidung der einfach-rechtli­ chen Öffnung des Familienbegriffs für gleichgeschlechtliche Paare und ihren Kindern bereits erfolgt. Entscheidende Bedeutung erlangt die Frage, ob die Familieninstitutsga­ rantie diese tatbestandliche Gestaltungsentscheidung begrenzt. Die Struktur­ merkmale des Familienbegriffs schützen die Funktionen des verfassungs­ rechtlichen Familieninstituts und wirken somit als materielle Dynamisie­ rungsgrenze tatbestandlicher Dynamik. Eine Reproduktionsfunktion der Ehe ist abzulehnen, sodass es auf die prinzipielle Reproduktionsfähigkeit der Familienmitglieder nicht ankommt. Bedenken bereitet demgegenüber die Ebene der Leitbildfunktion, deren übergeordneter Zweck in der effektiven Stabilitätsgewährleistung familiärer Bindungen liegt. Ursprünglich handelte es sich bei der Vorstellung einer ehebasierten Familie, nach der eine beste­ hende Ehe als notwendige Vorstufe zur Familiengründung erachtet wurde, um ein normatives Strukturmerkmal des Familienleitbildes. Im Zuge einer Pluralisierung familiärer Lebensformen in der Lebenswirklichkeit hat dieses jedoch heutzutage seine Bedeutung eingebüßt. Es entspricht den heutigen gesellschaftlichen Wertevorstellungen, dass auch in nichtehelichen Famili­ enformen der Ehe gleichwertig stabile Beziehungen zwischen den Familien­ mitgliedern vorzufinden sind. Nicht zuletzt hat hierzu auch die Ernstnahme des in Art. 6 Abs. 5  GG enthaltenen Auftrags der Förderung nichtehelicher Kinder beigetragen. Darüber hinaus hat sich ein zweiter Wandel im normativen Substrat des Familienleitbildes ereignet, der zur Überwindung des Heterosexualitätsprin­ zips beim Familienbegriff geführt hat. Die grundlegenden Wandlungen im

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

gesellschaftlichen und rechtlichen Umgang mit gleichgeschlechtlichen Part­ nerschaften sind Ausdruck partnerschaftlicher Stabilität. Gleichgeschlechtli­ che Paare können im selben Maße wie verschiedengeschlechtliche Paare tatsächliche Verantwortung für ein Kind übernehmen. Auch diese sozialen Interaktionen formen stabile familiäre Bindungen zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen. Es geht hierbei nicht um die Beurteilung von El­ ternschaft im Sinne von Art. 6 Abs. 2  GG, sondern um die Fähigkeit zur tatsächlichen Verantwortungsübernahme, die heutzutage für die Annahme einer Familie im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG ausreicht. Europäische Einflüs­ se fördern nicht zuletzt als Dynamisierungsfaktor ein solches Verständnis. Die Entwicklungen haben insgesamt zu einer Öffnung des Familienbegriffs für Regenbogenfamilien geführt. Der vierte grundrechtliche Dynamisie­ rungsprozess der Familienöffnung ist damit bereits zu einem Abschluss gekommen. In der verfassungsrichterlichen Kontrolle des grundrechtlichen Dynami­ sierungsprozesses setzt sich das BVerfG in der Entscheidung zur Sukzes­ sivadoption mit den Anforderungen an die Validitätskontrolle eines grund­ rechtlichen Dynamisierungsprozesses bei Wandlungen innerhalb des norma­ tiven Substrats einer Leitbildfunktion im Grundsatz auseinander. Es geht erstmals in der Rechtsprechung aus dem Lebensbereich „gleichgeschlecht­ liche Partnerschaften“ ausführlicher auf den Wandel der verfassungsrecht­ lichen Reflexion von gleichgeschlechtlichen Paaren gegenüber der Entste­ hungszeit des Grundgesetzes ein.

F. Ergebnis zu Teil 4 Der Dynamisierungsbereich „gleichgeschlechtliche Partnerschaften“ weist seit jeher eine besondere Dynamik auf und bildet damit einen geeigneten Untersuchungsbereich für eine Implementierung der in Teil  3 entwickelten „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungsprozesse“. Dies erlaubt Rückschlüs­ se über die Verfassungsmäßigkeit tatbestandlicher Sinnerweiterungen ohne Durchführung eines formellen Verfassungstextänderungsverfahrens, indem sie jeden Dynamisierungsprozess einem grundrechtlichen Typus und seinem speziellen Grad an tatbestandlicher Dynamik, seinen spezifischen Grenzen und dem verfassungsrichterlichen Kontrollmaßstab unterwirft. Der holisti­ sche Untersuchungsgang dient der umfassenden Beurteilung hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Reflexion von Dynamisierungsprozessen der Lebens­ wirklichkeit. Zum Entstehungszeitpunkt des Grundgesetzes waren (männliche) homo­ sexuelle Lebensweisen unter Strafe gestellt. Der in der Folgezeit einsetzen­ de, die historische Ausgangssituation grundlegend reformierende Wandel des



F. Ergebnis zu Teil  4279

gesellschaftlichen und rechtlichen Umgangs mit Homosexualität und gleich­ geschlechtlichen Partnerschaften beruht insbesondere auf einem medizinischwissenschaftlichen Erkenntnisgewinn sowie einem fundamentalen gesell­ schaftlichen Wertewandel. Die sexuelle Identität wird heute als ein prädis­ positives, nicht beeinflussbares Merkmal der individuellen Persönlichkeit eingestuft, das als solches unmittelbarer Ausfluss menschlicher Würde ist. Sie determiniert zugleich die Wahl einer verschieden- oder gleichgeschlecht­ lichen Partnerschaftsform. Das diametrale Auseinanderfallen der Bewertung zur Entstehungszeit des Grundgesetzes und der Gegenwart ist nicht spurlos am Verfassungsrecht vorbeigegangen, sondern hat in mehreren Phasen einen zeitlichen Anpassungsdruck auf das grundrechtliche Schutzniveau gleichge­ schlechtlicher Partnerschaften ausgeübt. Insgesamt lassen sich in der verfassungsrechtlichen Reflexion dieser Ent­ wicklungsstufen vier grundrechtliche Dynamisierungsprozesse aus dem Le­ bensbereich „gleichgeschlechtliche Partnerschaften“ abschichten. Ihre Prob­ lemstellungen haben die verfassungsrechtlichen Diskussionen der vergange­ nen Jahre maßgeblich mitbestimmt und sind auch gegenwärtig noch von hoher Relevanz. Die einzelnen Dynamisierungsprozesse reichen von dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf statusrechtliche Anerkennung gleichge­ schlechtlicher Partnerschaften über die zeitgerechte Gleichbehandlung ein­ getragener Lebenspartner mit Ehepartnern bis hin zum Einbezug gleichge­ schlechtlicher Paare in den Ehebegriff des Art. 6  Abs. 1  GG. Als vierter Dynamisierungsprozess tritt schließlich die Öffnung des verfassungsrechtli­ chen Familienbegriffs zugunsten der Gemeinschaften von gleichgeschlecht­ lichen Paaren und den bei ihnen lebenden Kindern, sog. Regenbogenfami­ lien, hinzu. Der erste grundrechtliche Dynamisierungsprozess hat die tatbestandliche Erweiterung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts um die Anerkennung des Lebens in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft als persönlichkeitsrele­ vante Schutzposition sowie darüberhinausgehend sogar einen statusrechtli­ chen Schutz auf Institutionalisierung einer Rechtsform für gleichgeschlecht­ liche Partnerschaften zum Gegenstand. Obwohl die Anforderungen an eine tatbestandliche Sinnerweiterung beim Typus retardierender Grundrechtstat­ bestände hoch sind, zeichnet hier maßgeblich ein aktualisiertes Verständnis der Menschenwürdegarantie als Dynamisierungsfaktor verantwortlich, das die sexuelle Identität als unmittelbare Ausprägung menschlicher Würde versteht. Art. 1  Abs. 1  GG verpflichtet zur Achtung der individuellen Per­ sönlichkeit, insbesondere besteht eine herausgehobene Verpflichtung im Bereich prädispositiver Merkmale, auf die der Einzelne keinen Einfluss hat. Weiterhin wirkt der ebenfalls Art. 1 Abs. 1  GG entspringende staatliche Minderheitenschutz als Dynamisierungsfaktor, den der Staat hinsichtlich homosexueller Menschen lange Zeit außer Acht gelassen hat. Die tatbe­

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Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

standliche Dynamik im Bereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts wird nicht durch den verfassungsrechtlichen Eheschutz begrenzt. Art. 6 Abs. 1 GG entfaltet in diesem speziellen Fall keine Wirkung als materielle Dynamisie­ rungsgrenze, werden die Funktionen des Eheschutzes durch die Anerken­ nung eines Schutzes gleichgeschlechtlicher Partnerschaften und der rechtli­ chen Einführung eines eigenen statusrechtlichen Instituts in Form der ein­ getragenen Lebenspartnerschaft doch nicht berührt. Obwohl der in Art. 6 Abs. 1  G expressis verbis angeordnete „besondere Schutz“ der Ehe grund­ sätzlich ein Privilegierungsgebot der Ehe gegenüber anderen Formen part­ nerschaftlichen Zusammenlebens aufstellt, findet dies auf eingetragene Le­ benspartnerschaften keine Anwendung. Bei der eingetragenen Lebenspart­ nerschaft handelt es sich vielmehr um ein statusrechtliches Institut, das angesichts seines eigenen Adressatenkreises gar nicht erst in Konkurrenz zur Ehe tritt. Ehe und eingetragene Lebenspartnerschaft sind aliud-Institute, ihre Adressatenkreise aufgrund der sexuellen Identität der Partner nicht substituierbar. Das BVerfG verkennt in der einschlägigen Entscheidung zum LPartG aus dem Jahr 2002 seinen strengen verfassungsrichterlichen Kon­ trollmaßstab für diesen grundrechtlichen Dynamisierungsprozess. Es igno­ riert die notwendige Aufarbeitung der Dynamisierungsprozesse der Lebens­ wirklichkeit und ihre Auswirkungen auf den verfassungsrechtlichen Schutz gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, wenn es nun den tatbestandlichen Einbezug gleichgeschlechtlicher Paare in das grundrechtliche Schutzniveau ohne weiteren Begründungsaufwand als gegeben ansieht, obwohl es in der Homosexuellen-Entscheidung aus dem Jahr 1957 homosexuelle Menschen noch de facto aus dem Schutzsystem des Grundgesetzes ausklammerte. Die Entscheidung ist unter dem Aspekt der fehlenden Auseinandersetzung mit dem tatbestandlichen Dynamisierungsprozess scharf zu kritisieren, wenn­ gleich dem festgestellten verfassungskonformen Nebeneinander von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft grundsätzlich zuzustimmen ist. Der zweite grundrechtliche Dynamisierungsprozess hat die institutionelle Gleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft zum Ge­ genstand, die sich nach dem allgemeinen Gleichheitssatz bemisst. Gegen­ wärtig befürwortet eine deutliche Mehrheit in der Bevölkerung eine institu­ tionelle Gleichbehandlung. Angesichts der ursprünglichen Pönalisierung homosexueller Verhaltensweisen zur Entstehungszeit des Grundgesetzes impliziert die Annahme einer zeitgerechten Vergleichbarkeit von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft den Vollzug eines grundrechtlichen Dy­ namisierungsprozesses bei der normativen Maßstabsbildung im – dem Kon­ zept einer dreistufigen Gleichheitsdogmatik folgend  – Schutzbereich des allgemeinen Gleichheitssatzes. Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse bei Art. 3 Abs. 1  GG zielen auf die zeitgemäße Herstellung von Gleichheit, bei der neue gesellschaftliche Gerechtigkeitsvorstellungen eine veraltete Aus­



F. Ergebnis zu Teil  4281

gangssituation überholen. Die Maßstabsbildung der Gerechtigkeitsvorstel­ lungen bedient sich dabei vor allem des Topos der Herstellung von zeitge­ rechter Systemkohärenz. Bei der aktualisierten Bewertung der sexuellen Identität als verfassungsrechtliches Schutzgut hilft somit ein normativer Vergleich zu sachverwandten Schutzgütern, speziell zu Art. 3 Abs. 3  GG. Ferner fordern europäische Rechtsentwicklungen eine institutionelle Gleich­ behandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft. Art. 6 Abs. 1 GG entfaltet auch in diesem grundrechtlichen Dynamisierungsprozess keine Wirkung als materielle Dynamisierungsgrenze, findet doch eine Beeinträch­ tigung des Eheschutzes durch die Gleichstellung der eingetragenen Le­ benspartnerschaft als funktionsgleiches aliud-Institut abermals nicht statt. Die sechs ergangenen Entscheidungen des BVerfG zur Gleichbehandlungs­ problematik schenken dem grundrechtlichen Dynamisierungsprozesses, der zeitgerechten Vergleichsgruppenbildung bei Art. 3 Abs. 1  GG, erneut nicht die gebührende Achtung. Lediglich vereinzelt finden sich Verweise auf den Schutz gleichgeschlechtlicher Paare zur besseren Entfaltung ihrer Persön­ lichkeit, auf europäische Impulse und die sachliche Nähe der sexuellen Identität zum Katalog des Art. 3 Abs. 3  GG. Positiv sticht einzig die Ent­ scheidung zur Sukzessivadoption aus dem Jahr 2013 hervor. Die letzte Entwicklungsstufe zur vollständigen Gleichstellung gleichge­ schlechtlicher Partnerschaften manifestiert sich in der Öffnung der Ehe. Auch diesbezüglich zeichnen sich in der Lebenswirklichkeit erste Forderun­ gen nach einer institutionellen Zusammenführung unter dem Dach der Ehe in Gesellschaft und Politik ab. In der verfassungsrechtlichen Reflexion würde es sich hierbei um einen grundrechtlichen Dynamisierungsprozess innerhalb des Art. 6 Abs. 1  GG als normgeprägten Grundrechtstatbestand handeln. Die Eheöffnung erweist sich zunächst einmal als originäre rechts­ politische Ausgestaltungsentscheidung des einfachen Gesetzgebers. Als sol­ che ist sie aber im Innenverhältnis bereits auf Tatbestandsebene an die Wahrung der Funktionsvorgaben aus der Eheinstitutsgarantie gebunden. Ursprünglich stand jedenfalls das Heterosexualitätsprinzip als normatives Strukturmerkmal des Eheleitbildes einer Öffnung entgegen. Normative Strukturmerkmale prägen die gesellschaftlichen Wertevorstellungen, die zu einem Zeitpunkt an die Verwirklichung des übergeordneten Zwecks des Leitbildes, hier also der Wahrung der besonderen partnerschaftlichen Stabi­ lität zwischen den Ehepartnern, gestellt werden. Naturgemäß sind sie jedoch, anders als der übergeordnete Zweck des Leitbildes, wandlungsfähig. Die rechtspolitische Entscheidung zur Öffnung würde den Schlussstein einer Wertbildung im Schichtenmodell markieren, das der Ermittlung vorherr­ schender gesellschaftlicher Wertevorstellungen dient. Insbesondere die bis­ herigen, zu einem Abschluss gekommenen grundrechtlichen Dynamisie­ rungsprozesse im Lebensbereich „gleichgeschlechtliche Partnerschaften“

282

Teil 4: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften

haben den Weg für das Entfallen des Heterosexualitätsprinzips als aus­ schlaggebendes Kriterium partnerschaftlicher Stabilitätsgewähr bereitet. In eingetragenen Lebenspartnerschaften findet man heute das gleiche Maß an partnerschaftlicher Intensität wie in einer Ehe. Beide Institute sind funkti­ onsgleich und allein durch ihre Adressatenkreise separiert. Der verfassungs­ richterliche Kontrollmaßstab für diesen grundrechtlichen Dynamisierungs­ prozess ist hoch. Es hat eine Validitätskontrolle stattzufinden, die den Wandel im normativen Substrat des Eheleitbildes dezidiert herausstellt und seine Dynamisierungsfaktoren belegt. Während im Dynamisierungsbereich der gleichgeschlechtlichen Partner­ schaften die rechtspolitische Entscheidung zur Öffnung des Ehebegriffs noch aussteht, hat dieser Entwicklungsschritt beim verfassungsrechtlichen Famili­ enbegriff hinsichtlich einer Öffnung zugunsten von Regenbogenfamilien be­ reits stattgefunden. Ihre rechtliche Anerkennung bildet den Schlussstein einer seit Verabschiedung des Grundgesetzes eingesetzten Pluralisierung familiärer Lebensformen. Die ursprüngliche, als normatives Strukturmerkmal des Fami­ lienleitbildes einzustufende Vorstellung von der ehebasierten Familie hat im Zuge der Pluralisierung ihre Bedeutung verloren. Nichteheliche Familien sind heute genauso vom Familiengrundrecht erfasst wie ehebasierte Fami­ lien. Art. 6  Abs. 1  GG schützt die soziale Familie in ihren vielfältigen Er­ scheinungsformen. Der tatbestandliche Einbezug von Regenbogenfamilien ist damit konsequent, findet auch hier eine tatsächliche Verantwortungsüber­ nahme zwischen dem Kind und seinen gleichgeschlechtlichen Bezugsperso­ nen statt. Die Familieninstitutsgarantie, namentlich die Leitbildfunktion der Familie, steht dieser tatbestandlichen Sinnerweiterung nicht als materielle Dynamisierungsgrenze entgegen. Das Heterosexualitätsprinzip gilt ange­ sichts der grundrechtlichen Dynamisierungsprozesse im Lebensbereich „gleichgeschlechtliche Partnerschaften“ und unter dem Einfluss der jüngsten Rechtsprechung auf europäischer Ebene heute als überwunden. In der verfas­ sungsrichterlichen Kontrolle bestätigt das BVerfG diesen Befund. Die Suk­ zessivadoptionsentscheidung aus dem Jahr 2013 erfüllt dabei erstmals die strengen Anforderungen an die verfassungsrichterliche Kontrolle eines Wan­ dels im normativen Substrat einer Leitbildfunktion.

Teil 5

Zusammenfassende Thesen 1.  Der Schutzumfang grundrechtlicher Tatbestände ist im Lichte der Ver­ fassungstheorie nicht statisch durch den historischen Verfassungsgeber festgelegt worden, sondern der integrativen Natur des Grundgesetzes ent­ sprechend einer Dynamik zugänglich. Maßgeblich der technische Fortschritt sowie die Wandlungsfähigkeit gesellschaftlicher Wertevorstellungen wirken als Dynamisierungsprozesse der Lebenswirklichkeit auf das bestehende grundrechtliche Schutzsystem ein. Sie fordern nach einer adäquaten verfas­ sungsrechtlichen Reflexion. 2.  Jenem Anpassungsdruck des Verfassungsrechts an die Zeit lässt sich durch eine tatbestandliche Sinnerweiterung grundrechtlicher Schutzbereiche abhelfen. Der Weg über ein formelles Verfassungstextänderungsverfahren nach Art. 79 Abs. 1, Abs. 2  GG ist für die Aufnahme neuer Entwicklungen der Lebenswirklichkeit als Schutzgut grundrechtlicher Tatbestände nur in Ausnahmefällen notwendig, eröffnen doch gerade die generalklauselartig formulierten Gehalte grundrechtlicher Tatbestände, speziell ihre normative Kraft, vielfach eine entsprechende Subsumtionsmöglichkeit. 3.  Einem „Verfassungswandel“ im Sinne einer eigenständigen, zur Erwei­ terung grundrechtlicher Schutzbereiche ohne formelle Textänderung fähigen Rechtsfigur ist seine Legitimationskraft abzusprechen. Weder in grund­ rechtsdogmatischer noch in methodischer Hinsicht besitzt er einen originä­ ren Mehrwert für die Grundrechtslehre. Vielmehr lässt sich der vielschich­ tigen Problematik einer Verfassungsanpassung ohne formelles Verfassungs­ textänderungsverfahren vollumfänglich mit dem Instrumentarium der Ver­ fassungsinterpretation Rechnung tragen. 4.  Innerhalb der Diskussionen um die „richtige“ Methode zur Interpreta­ tion grundrechtlicher Bestimmungen erweist sich die Methode normativ ge­ bundener Topik als vorzugswürdig. Sie erlaubt eine tatbestandliche Sinner­ weiterung unter Bezugnahme auf objektiv-rechtliche Leitprinzipien, bindet diese topische Vorgehensweise jedoch zugleich an den hermeneutischen Ka­ non. Der Interpretationsvorgang erfolgt in einem zweistufigen Verfahren: Während zunächst – sofern dies möglich ist – die historische Ausgangslage, der Wille des Verfassungsgebers, rekonstruiert wird, lassen sich in einem zweiten Schritt mögliche Abweichungen vom ursprünglichen Befund, die un­

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Teil 5: Zusammenfassende Thesen

ter Bezugnahme auf Topoi erfolgen, eindeutiger nachvollziehen. Die Topoi nehmen dann den Charakter von Dynamisierungsfaktoren an. 5.  Grundrechtliche Tatbestände sind nicht homogen ausgestaltet, sondern weisen Unterschiede in ihren tatbestandlichen Strukturen auf, mit denen sie Dynamisierungsprozesse verarbeiten. Die „Lehre grundrechtlicher Dynami­ sierungsprozesse“ dient dazu, eine entsprechende Typologie grundrechtlicher Bestimmungen zu treffen, ihre jeweiligen Dynamisierungsgrenzen herauszu­ arbeiten und den Maßstab ihrer verfassungsrichterlichen Kontrolle festzule­ gen. Ein solches Konzept gibt es bislang nicht. a)  Beim Typus dynamischer Verweisungsnormen sind die tatbestandli­ chen Strukturen grundsätzlich dahingehend programmiert, jegliche Dynami­ sierungsprozesse der Lebenswirklichkeit, das heißt ohne sachliche Beschrän­ kung, in den tatbestandlichen Schutzgehalt einzubeziehen. Den höchsten Grad an Dynamik beinhaltet hier die allgemeine Handlungsfreiheit. Art. 2 Abs. 1  GG ist bewusst dahingehend ausgestaltet, jegliche zukünftigen Ent­ wicklungen erstmals in die verfassungsrechtliche Reflexion zu überführen, indem sein Schutzbereich diese unmittelbar rezipiert. Auch der allgemeine Gleichheitssatz stellt sich als dynamische Verweisungsnorm dar, die eine dynamische und sachlich unbeschränkte Maßstabsbildung von Vergleichs­ gruppen gewährleistet. Grundrechtsdogmatisch ist auch beim allgemeinen Gleichheitssatz auf einen dreistufigen Prüfungsaubau (Schutzbereich, Ein­ griff, Rechtfertigung) zurückzugreifen. Die normative, am Gerechtigkeits­ prinzip orientierte Maßstabsbildung im Schutzbereich von Art. 3 Abs. 1  GG vollzieht sich indes unter strengeren Voraussetzungen. Im Unterschied zur allgemeinen Handlungsfreiheit werden neue Entwicklungen nicht unmittel­ bar Teil  des Tatbestands, vielmehr fordert die Maßstabsbildung eine Bezug­ nahme auf objektiv-rechtliche Leitprinzipien, um die grundsätzliche Ver­ gleichbarkeit bestimmter Bezugsgruppen im Kontext der heutigen Zeit an­ zuerkennen. b)  Als ein zweiter Typus grundrechtlicher Dynamik sind die normgepräg­ ten Grundrechtstatbestände einzuordnen. Ihre Schutzbereiche sind auf ein sachspezifisches Schutzgut beschränkt und erweisen sich als verfassungs­ rechtlicher Gestaltungsauftrag an den einfachen Gesetzgeber. Tatbestand­ liche Dynamik wird hier durch den Schutzbereich konstituierende einfachrechtliche Ausgestaltungslagen hergestellt. Eine Bezugnahme auf Leitprinzi­ pien ist nicht erforderlich, wohl aber unterliegt die Ausgestaltungsgesetzge­ bung den Grenzen des hermeneutischen Kanons. c)  Grundrechtliche Tatbestände, die schließlich dem Typus retardierender Grundrechtstatbestände zuzuordnen sind, prägt anders als die bisherigen Typen ihre vornehmlich statische Ausrichtung. In diesen Fällen ist eine dynamische Sinnerweiterung nur ausnahmsweise statthaft. Sie kann einzig



Teil 5: Zusammenfassende Thesen285

unter Anwendung der Methode normativ gebundener Topik erfolgen. Dem Umgang mit Dynamisierungsfaktoren kommt eine besondere Bedeutung zu. 6.  Materielle Dynamisierungsgrenzen können tatbestandliche Dynamisie­ rungsprozesse gänzlich ausschließen oder jedenfalls in ihrer Reichweite beschränken. Sie sind als verfassungsimmanente Rahmenvorgaben, als Fun­ damentalnormen zu verstehen, die bereits auf der Tatbestandsebene Wirkung entfalten. Zu ihnen zählen die Ewigkeitsgarantie aus Art. 79 Abs. 3  GG sowie die in Art. 19 Abs. 2  GG verankerte Wesensgehaltsgarantie. 7.  Auch die in normgeprägten Grundrechtstatbeständen regelmäßig ent­ haltenen Einrichtungsgarantien sind als materielle Dynamisierungsgrenze zu charakterisieren. Einrichtungsgarantien wirken hier zunächst einmal als Grenze tatbestandlicher Ausgestaltungsentscheidungen hinsichtlich des spe­ zifischen normgeprägten Grundrechtstatbestands. Neben dieser begrenzen­ den Wirkung im Innenverhältnis strahlen die materiellen Strukturvorgaben zusätzlich als objektive Wertvorgaben in die gesamte Rechtsordnung aus. Im Außenverhältnis, das heißt jenseits des spezifischen tatbestandlichen Ausgestaltungsvorgangs, erlangen sie auf diese Weise eine wichtige Bedeu­ tung als Auslegungsmaxime und Begrenzungsvorgabe jedes staatlichen Handelns, das mit den Strukturvorgaben der Einrichtungsgarantie kollidiert. a)  Einrichtungsgarantien schützen die funktionsgerechte Gewährleistung einer bestimmten, vom Verfassungsgeber unter Schutz gestellten Institution. Ihre unantastbaren Strukturmerkmale bemessen sich nicht anhand vermeint­ licher vorrechtlicher Vorstellungen, sondern haben alleine den adäquaten Funktionsschutz der Einrichtung im Blick. Sie sind entmaterialisiert. Der umfassende Funktionsschutz umfasst zumeist die Wahrung einer individuellfreiheitlichen und einer gemeinschaftlich-sozialen Funktionsebene. Einige Einrichtungsgarantien enthalten als dritte Funktionsebene noch eine Leit­ bildfunktion. b)  Verfassungsrechtliche, in Einrichtungsgarantien inkorporierte Leitbil­ der setzen sich dogmatisch aus zwei Elementen zusammen. Die eigentliche Leitvorstellung als übergeordneter Zweck des Leitbildes soll zeitresistent gewahrt bleiben. In ihr verwirklicht sich das statische Element. Dagegen sind die von der Gesellschaft an die Verwirklichung des Leitbildes gefor­ derten Wertevorstellungen, das normative Substrat des Leitbildes, naturge­ mäß wandlungsfähig. In der Wandlungsfähigkeit des normativen Substrats kommt der dynamische Pol des Leitbildes zum Ausdruck. Während also die idealisierte Zielvorstellung eines verfassungsrechtlichen Leitbildes stets un­ gestört zu bestehen hat, können sich die Anforderungen, mit denen die Verwirklichung der Zielvorstellung erreicht wird, im zeitlichen Verlauf än­ dern. Die Anforderungen an den Beleg eines tatsächlichen Wandels im normativen Substrat sind jedoch hoch.

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Teil 5: Zusammenfassende Thesen

8.  Das BVerfG ist im Rahmen seiner verfassungsrechtsprechenden Tätig­ keit zur Offenlegung und Begründung grundrechtlicher Dynamisierungs­ prozesse von Verfassungs wegen verpflichtet. Die Wahrnehmung der Ver­ fassungsinterpretation ist seine originäre Kompetenz. Die Reichweite der Kompetenz bemisst sich wiederum nach der zur Verfassungsinterpretation notwendigen Methodik  – die Kompetenz folgt der Methode. Das zweistufi­ ge Verfahren der Verfassungsinterpretation erfordert stets die möglichst ex­ akte Aufarbeitung der historischen Ausgangssituation, um erst sodann möglicherweise im Zeitverlauf hinzugetretene Abweichungen unter Rekurs auf Leitprinzipien innerhalb eines verfassungsrichterlichen Abwägungspro­ zesses zu beurteilen. Korrespondierend zu den drei tatbestandlichen Typen grundrechtlicher Dynamik fällt auch der verfassungsrichterliche Kontroll­ maßstab je nach betroffenem Typus unterschiedlich aus. Während im Falle von Art. 2 Abs. 1  GG der unmittelbare tatbestandliche Einbezug jeder zu­ künftigen Entwicklung eine Kontrolle durch das BVerfG ausschließt, erfolgt die normative Maßstabsbildung der Vergleichsgruppen bei Art. 3 Abs. 1 GG unter Bezugnahme auf Dynamisierungsfaktoren, sodass das BVerfG das Abwägungsergebnis einer zeitgemäßen Maßstabsbildung vollumfänglich zu überprüfen hat. Beim Typus der normgeprägten Grundrechte ist die verfas­ sungsrichterliche Kontrolle angesichts der den Tatbestand konstituierenden einfach-rechtlichen Ausgestaltungsgesetzgebung im Randbereich auf eine Willkürkontrolle beschränkt. Einzig im Falle eines behaupteten Wandels im normativen Substrat der Leitbildfunktion einer Einrichtungsgarantie obliegt dem BVerfG ein strenger Kontrollmaßstab, um die hohen Voraussetzungen an die Validität eines tatsächlichen Wandels und seine maßgeblichen Dyna­ misierungsfaktoren zu überprüfen. Der strenge Kontrollmaßstab gilt schließ­ lich auch für jegliche tatbestandlichen Sinnerweiterungen im Typus der re­ tardierenden Grundrechtstatbestände, denn diese sind allein unter Bezugnah­ me auf objektiv-rechtliche Leitprinzipien möglich. 9.  Im Lebensbereich „gleichgeschlechtliche Partnerschaften“ haben sich in den vergangenen Jahren bereits drei grundrechtliche Dynamisierungspro­ zesse nach dem Maßstab der „Lehre grundrechtlicher Dynamisierungspro­ zesse“ auf angemessene Weise vollzogen. Die Öffnung der Ehe für gleich­ geschlechtliche Paare steht gegenwärtig als vierter grundrechtlicher Dyna­ misierungsprozess noch aus, wenngleich sich die Anzeichen für sein Einset­ zen mehren. a)  Der erste grundrechtliche Dynamisierungsprozess betrifft die generelle Anerkennung des Lebens in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft als persönlichkeitsrelevante verfassungsrechtliche Schutzposition sowie das Bestehen eines originären verfassungsrechtlichen Leistungsanspruchs auf statusrechtliche Institutionalisierung einer gleichgeschlechtlichen Partner­ schaftsform. Die zum Entstehungszeitpunkt des Grundgesetzes existierende



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Pönalisierung homosexueller Lebensweisen hat gravierende Veränderungen erfahren. Nicht nur entspricht es heute dem medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand, die sexuelle Identität als prädispositives Persönlichkeits­ merkmal eines Menschen zu behandeln, auch hat sich die gesellschaftliche Einstellung im Umgang mit Homosexualität und gleichgeschlechtlichen Partnerschaften gegenüber der historischen Ausgangssituation fundamental verändert. Heute spricht sich eine ganz deutliche Mehrheit der Deutschen für eine Gleichbehandlung von verschieden- und gleichgeschlechtlichen Paaren aus. Sowohl der medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisgewinn als auch der gesellschaftlich-normative Umschwung haben in rechtspolitischer Hinsicht den Gesetzgeber im Jahr 2001 dazu bewegt, die eingetragene Le­ benspartnerschaft als statusrechtliches Institut für gleichgeschlechtliche Paare einzuführen. Diese Dynamisierungsprozesse der Lebenswirklichkeit haben nun zu einer Veränderung des bisherigen verfassungsrechtlichen Schutzniveaus geführt, ohne dass hierfür ein formelles Verfassungstextände­ rungsverfahren erforderlich gewesen wäre. Im retardierenden Tatbestand des allgemeinen Persönlichkeitsrechts hat ausnahmsweise eine Sinnerweiterung um den Einbezug gleichgeschlechtlicher Partnerschaften stattgefunden. Als Dynamisierungsfaktor zeichnet hier insbesondere die enge Verwurzelung von sexueller Identität als Ausfluss menschlicher Würde verantwortlich, normativ streitet mithin vor allem Art. 1 Abs. 1  GG für eine besondere Aktualisierungspflicht des Schutzbereichs beim allgemeinen Persönlich­ keitsrecht. Das Leben in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft ist nun­ mehr in der verfassungsrechtlichen Reflexion als persönlichkeitsrelevantes Schutzgut einzuordnen. Die besonders enge Anbindung der sexuellen Iden­ tität an Art. 1 Abs. 1  GG vermittelt darüber hinaus sogar ausnahmsweise einen originären verfassungsrechtlichen Leistungsanspruch auf statusrechtli­ che Institutionalisierung einer rechtlich verbindlichen Partnerschaftsform für gleichgeschlechtliche Paare. Dieser grundrechtliche Dynamisierungsprozess wird nicht durch Art. 6 Abs. 1  GG beschränkt. Die tatbestandliche Sinner­ weiterung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts im Zuge der Einführung der eingetragenen Lebenspartnerschaft kollidiert gerade nicht mit den Struk­ turvorgaben der in Art. 6  Abs. 1  GG enthaltenen Einrichtungsgarantie, so­ dass diese hier keine Wirkung als materielle Dynamisierungsgrenze entfaltet. Ehe und eingetragene Lebenspartnerschaft sind vielmehr als aliud-Institute zu betrachten, da ihre jeweiligen institutionellen Adressatenkreise gar nicht erst substituierbar sind. b)  Der zweite grundrechtliche Dynamisierungsprozess hat zu einer Aktu­ alisierung der normativen Maßstabsbildung von Art. 3 Abs. 1  GG geführt. Eingetragene Lebenspartner und Eheleute bilden heutzutage trotz institutio­ neller Verschiedenheit ein dem zeitgemäßen Gerechtigkeitsmaßstab entspre­ chendes Vergleichspaar. Die verfassungsrechtliche Reflexion bemisst sich

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Teil 5: Zusammenfassende Thesen

vor allem anhand des Topos der Herstellung zeitgerechter Systemkohärenz. Die Überholung der Wertbestimmung von sexueller Identität als verfas­ sungsrechtliches Schutzgut orientiert sich dabei an der werthierarchischen Bedeutung der in Art. 3 Abs. 3  GG genannten Schutzgüter, zu denen eine enge Verbindung besteht. Weiterhin zeichnen europarechtliche Entwicklun­ gen für eine zeitgemäße Maßstabsbildung von Ehe und eingetragenen Le­ benspartnern als Vergleichspaar des allgemeinen Gleichheitssatzes verant­ wortlich, die unter dem Topos zeitgerechter Systemkohärenz als Dynamisie­ rungsfaktor auf die Verfassungsauslegung einwirken. Art. 6 Abs. 1 GG kann auch diesen grundrechtlichen Dynamisierungsprozess nicht begrenzen, bleiben Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft aufgrund ihrer nichtsubstituierbaren Adressatenkreise doch nach wie vor aliud-Institute, die ansonsten jedoch funktionsgleich ausgestaltet sind. c)  Ein dritter grundrechtlicher Dynamisierungsfaktor steht mit der Öff­ nung der Ehe derzeit zwar noch aus, zeichnet sich indes zunehmend ab. Die tatbestandliche Dynamik bei diesem Dynamisierungsprozess betrifft die rechtspolitische Gestaltungsentscheidung zur zeitgemäßen Ausgestaltung des normgeprägten Grundrechtstatbestands von Art. 6 Abs. 1  GG. Eine einfachrechtliche Öffnung der Ehe entspricht der Ausgestaltungsgesetzgebung des verfassungsrechtlichen Ehebegriffs. Diesem Schritt steht abermals die im Tatbestand des Art. 6  Abs. 1  GG enthaltene Institutsgarantie der Ehe nicht als materielle Dynamisierungsgrenze entgegen. Die Leitbildfunktion der Ehe vermag die Ausgestaltungsentscheidung für eine tatbestandliche Öff­ nung der Ehe zugunsten gleichgeschlechtlicher Paare im Innenverhältnis nicht auszuschließen. Zwar erwies sich das Heterosexualitätsprinzip der Ehegatten ursprünglich noch als normatives Strukturmerkmal des Ehebe­ griffs. Es hat jedoch in der heutigen Zeit, insbesondere aufgrund der zwei bereits vollzogenen grundrechtlichen Dynamisierungsprozesse im Lebensbe­ reich „gleichgeschlechtliche Partnerschaften“, seine Bedeutung als normati­ ves Strukturmerkmal des Eheleitbildes verloren. Die Verschiedengeschlecht­ lichkeit der Ehepartner erweist sich nicht länger als gesellschaftlich gefor­ dertes Kriterium zur Verwirklichung des übergeordneten Zwecks des Ehe­ leitbildes, ergo zur Gewährleistung der besonderen partnerschaftlichen Stabilitätsgewähr der Ehe. Es hat mithin ein Wandel im normativen Substrat des Eheleitbildes stattgefunden, in Zuge dessen das ursprünglich geforderte Heterosexualitätsprinzip seine Bedeutung als normatives Strukturmerkmal des Eheleitbildes gänzlich eingebüßt hat. Eine einfach-rechtliche Öffnung der Ehe ist damit heute durchaus verfassungsrechtlich zulässig. d)  Der vierte grundrechtliche Dynamisierungsprozess betrifft ebenfalls unmittelbar die Ausgestaltung des normgeprägten Grundrechtstatbestands des Art. 6 Abs. 1  GG, dieses Mal allerdings mit Blick auf den verfassungs­ rechtlichen Familienbegriff. Die Öffnung des Familienbegriffs für das Zu­



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sammenleben von Kindern mit gleichgeschlechtlichen Partnern, sog. Regen­ bogenfamilien, wurde bereits durch Anerkennung rechtlicher Schutzpositio­ nen zugunsten solcher familiärer Bindungen vollzogen. Sie stellt den Schlussstein eines seit Beginn des Grundgesetzes eingesetzten Prozesses einer Pluralisierung familiärer Lebensformen dar. Aus diesem Grund kann Art. 6 Abs. 1  GG auch hier nicht den grundrechtlichen Dynamisierungspro­ zess begrenzen. Das ursprüngliche normative Strukturmerkmal, wonach al­ lein die ehebasierte Familie dem Leitbild der verfassungsrechtlichen Familie entsprach, hat angesichts der Pluralisierung familiärer Lebensformen heute seine Bedeutung verloren. Auch das Heterosexualitätsprinzip in seiner Ei­ genschaft als ursprüngliches normatives Strukturmerkmal des Familienbe­ griffs wurde im Zuge der bisherigen grundrechtlichen Dynamisierungspro­ zesse aus dem Dynamisierungsbereich „gleichgeschlechtliche Partnerschaf­ ten“ mittlerweile überwunden. e)  Die verfassungsrichterliche Kontrolle grundrechtlicher Dynamisie­ rungsprozesse ist zu kritisieren. Das BVerfG beschäftigt sich in den relevan­ ten Entscheidungen, bei denen eine Abweichung des heutigen tatbestandli­ chen Schutzniveaus gleichgeschlechtlicher Partnerschaften gegenüber einer früheren Situation offenkundig im Raum steht, nicht mit der notwendigen Darlegung der zur Aktualisierung des Schutzbereichs maßgeblichen Fakto­ ren. Hierzu ist es aber nicht nur aus Gründen der Transparenz verfassungs­ richterlicher Entscheidungen, sondern auch aus kompetenziellen Gründen verpflichtet. Eine ausführlichere Aufarbeitung findet erstmals in der Sukzes­ sivadoptionsentscheidung aus dem Jahr 2013 statt.

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Sachwortregister Allgemeine Handlungsfreiheit  90, 92, 158, 181, 183 Allgemeine Methodenlehre  58 –– objektive Theorien  60, 155 –– subjektive Theorien  59 Allgemeiner Gleichheitssatz  95, 159, 229 –– dreistufige Gleichheitsdogmatik  101 –– zweistufige Gleichheitsdogmatik  98 Allgemeines Persönlichkeitsrecht  114, 185, 186 Anpassungsdruck  27, 86, 119, 181 –– formelles Verfahren  28 –– integrativer Prozess  30 Digitalisierung  114, 116 Dynamische Verweisungsnormen   siehe Lehre grundrechtlicher ­Dynamisierungsprozesse Dynamisierungsfaktoren  71, 119, 186 –– grundrechtliches Wertesystem  76 –– Menschenwürdegarantie  73 Ehe  174 –– Abstandsgebot  214 –– gemeinschaftlich-soziale Funktion  201 –– individual-freiheitliche Funktion  201 –– materielle Dynamisierungsgrenze  193, 200, 217, 251 –– Öffnung  183, 247, 256 –– Privilegierungsgebot  216 –– Reproduktionsfunktion  203 Ehebasierte Familie  266 Eheleitbild  195, 207, 252 Eheschutz  108, 112, 194–196, 211, 214, 216, 249

Eingetragene Lebenspartnerschaft  174, 177, 180, 219, 226, 235 Einrichtungsgarantie  123 –– absolute Strukturmerkmale  131, 144, 193 –– Ausstrahlungswirkung in die Rechts­ ordnung  134, 195, 212, 236 –– funktionales Verständnis  129, 135, 195, 199, 237 –– Leitbildfunktion  138, 141, 166 –– Neukonzeption unter dem Grund­ gesetz  128 –– normative Strukturmerkmale  144, 210 –– Weimarer Zeit  124 Ewigkeitsgarantie  121 Familie  259, 261, 272 –– eheliche  siehe Ehebasierte Familie –– nichteheliche  271 –– Reproduktionsfunktion  264 –– soziale  276, 282 Familienleitbild  265, 268 Familienschutz  261, 268 Formelles Textänderungsverfahren  27, 29, 34 Gebot ganzheitlicher Verfassungs­ auslegung  77 Gerechtigkeitsprinzip  71, 76, 96, 235 Gewaltenteilung  148 Gleichgeschlechtliche Partnerschaft  174, 176, 180, 182, 188, 246, 272 –– verfassungsrechtlicher Leistungs­ anspruch  192 –– verfassungsrechtlicher Schutzanspruch  191 Gleichheit in der Zeit  104



Sachwortregister315

Gleichheitssatz  86 Grenze der Verfassungswandlung  48, 119, 193, 217, 236, 251, 261 –– absolute  120 –– kompetenzielle  147 –– relative  120 Grundrechtsausgestaltung  109 Grundrechtskonkretisierung  109 Grundrechtstatbestand  85, 90 –– generalklauselartiger  50 –– normgeprägter  108, 194, 249 –– offener  32 –– retardierender  112, 167 Heterosexualitätsprinzip  210, 252, 256, 271 Homosexualität  176, 179, 187, 189, 191, 227, 246 Institutionenlehre  64 Integrationslehre  43, 46, 156 Judicial self-restraint  151 Konsensstreben  33 Lehre grundrechtlicher Dynamisierungs­ prozesse  88 –– dynamische Verweisungsnormen  90, 104, 158, 181, 229 –– holistischer Ansatz  89 –– normgeprägte Grundrechtstatbestände  108, 161 –– retardierende Grundrechtstatbestände  112, 167, 185 –– Typologie  90 –– verfassungsrichterliche Kontrolle  146, 154, 158, 221, 238, 256, 273 Leitbild  138, 166, 196, 207 –– normatives Substrat  141, 167, 209, 252 –– übergeordneter Zweck  141, 208 Menschenwürdegarantie  73, 186, 230 –– Gleichheitssatz  96

–– Minderheitenschutz  75, 189, 231 –– Schutz personaler Identität  74, 186 Methodenlehre  siehe Allgemeine Methodenlehre Nichteheliche Lebensgemeinschaft  237, 260, 271 Normativ gebundene Topik  67, 68, 113, 157 Normative Kraft der Verfassung  45, 50 Normative Kraft des Faktischen  40 Normgeprägte Grundrechte  siehe Lehre grundrechtlicher Dynamisierungspro­ zesse Objektiv-rechtliche Leitprinzipien  62, 82, 229 Prädispositives Persönlichkeitsmerkmal  179, 187, 224 Rechtspolitik  111, 227, 247, 250 Regenbogenfamilie  259, 260 Retardierende Grundrechtstatbestände siehe Lehre grundrechtlcher Dynami­ sierungsprozesse Schichtenmodell  25, 227, 248 Sexuelle Identität  179, 186, 188, 231 Sittengesetz  92, 183 Sozialer Wandel  23, 47 Spezieller Gleichheitssatz  231, 237 Staatsrechtlicher Positivismus  28, 45 Systemcharakter des Grundgesetzes  76, 78, 106, 230 Technischer Fortschritt  22 Toleranz  75, 190 Tradition  120, 235 Verfassungsinterpretation  51 –– dynamisch-topische Auslegung  65 –– Europäisierung  78, 233 –– hermeneutisch-textorientierte Auslegung  63

316

Sachwortregister

–– Methode  57, 62, 68, 155 –– offene Auslegung  66 Verfassungsrichterliche Kontrolle   siehe Lehre grundrechtlicher Dynami­ sierungsprozesse Verfassungswandel  27, 38, 49, 51 –– begriffliches Legitimationsproblem  39 –– Bryde  47, 86 –– Definition  38 –– Heller  44 –– Hesse  47 –– Hsü  44 –– Jellinek  41 –– Laband  40

–– Smend  43 –– Typologie  86 –– Verhältnis zur Verfassungsinterpre­ tation  46, 53 Vergleichsgruppenbildung  97, 99, 101, 103, 104, 235 Völkerrechtsfreundlichkeit  79 Wertbildung  siehe Schichtenmodell Wertevorstellungen  23 Wesensgehaltsgarantie  121 Zeitfaktor  31, 62, 70 Zeitgeist  23 Zwei-Stufenmodell  61, 69, 85