Grundlegung einer mystischen Anthropologie: Menschen- und Geschlechterbilder bei Muḥyīddīn Ibn al-ʿArabī und Meister Eckhart 9783495997956, 9783495997949


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German Pages [323] Year 2023

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Table of contents :
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Prolog
Kapitel I. Muḥyīddīn Ibn al-ʿArabī
1. Leben und Denken
1.1. Eine spirituelle Biographie
1.2. Einige Aspekte seiner Mystik
2. Lehre des Seins und der Kosmologie
2.1. Von ›finden‹ zu ›existieren‹: semantische Vielfalt des Seins-Begriffs
2.2. Gott und Welt: Modus und Grund der Seinsgabe
3. Die Lehre vom Menschen
3.1. Bedeutung des Menschseins
a. Göttlichkeit der menschlichen Essenz
b. Ebenbildlichkeit Gottes
c. Barzaḫ: die beiden Hände Gottes
d. Geist, Körper und Seele
e. Kalifat: Mensch und Welt
3.2. Ziel des Menschseins
a. Mittel zur Erreichung des Ziels: Herz und Verstand
b. Erwerbung von Maʿrifa und die Vollkommenheit
c. Höchste und kompetenteste Exzellenz: Gottesfreundschaft
4. Das Geschlechterbild
4.1. Kosmische Prinzipien
4.2. Geschlechter im Schöpfungsakt
4.3. Geschlechterordnung
4.4. Gleichheit: Möglichkeiten und Grenzen
4.5. Einheit und Liebe
4.6. Normenlehre und geschlechtsspezifischeDifferenzen
Kapitel II. Meister Eckhart
1. Leben und Denken
1.1. Biographie eines Lebemeisters
1.2. Einige Merkmale von Eckharts Mystik
2. Seinslehre und Seinsmitteilung
2.1. Sein und Gott
2.2. Seinsmitteilung
3. Das Menschenbild
3.1. Bedeutung des Menschseins
a. Knechtschaft und Freiheit
b. Seele und Körper
c. Sohnschaft
d. Ebenbildlichkeit
e. Gleichheit
3.2. Ziel des Menschseins
a. Selbsterkennen als Gotteserkennen
b. Der Weg zur Einheit: Abgeschiedenheit und verwandte Begriffe
c. Gesichter der Perfekten: Innerer Mensch
4. Das Geschlechterbild
4.1. Weibliche Merkmale als universelle Voraussetzungen
4.2. Zwei-Prinzipienlehre und geschlechtliche Darstellungen
4.3. Geschlechter im Schöpfungsakt
4.4. Einheit und Vollkommenheit
Kapitel III. Komparative Mystik
1. Mystik in Leben und Denken
2. Ontologische Prämisse
3. Anthropologische Prinzipien
3.1. Neue Konzeption des Gott-Mensch-Verhältnisses
3.2. Die Ambivalenz des menschlichen Spektrums
3.3. Das Ziel des Lebens: Vollkommenheit
4. Neuinterpretation der Geschlechter
4.1. Geschlechterdeutung: Rekonstruktion von Sprache und Denken
a. Das weibliche Prinzip
b. Neutralität der menschlichen Essenz
4.2. Geschlechterverhältnis: Einheit und Gleichheit
Epilog: Mystik als anthropologische Herausforderung
Literaturhinweise
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Grundlegung einer mystischen Anthropologie: Menschen- und Geschlechterbilder bei Muḥyīddīn Ibn al-ʿArabī und Meister Eckhart
 9783495997956, 9783495997949

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Welten der Philosophie

| 22

Selman Dilek

Grundlegung einer mystischen Anthropologie Menschen- und Geschlechterbilder bei Muhyī al-ʿArabī und . d-Dīn Ibn alMeister Eckhart

https://doi.org/10.5771/9783495997956 .

https://doi.org/10.5771/9783495997956 .

Welten der Philosophie Wissenschaftlicher Beirat Claudia Bickmann † Rolf Elberfeld Geert Hendrich Heinz Kimmerle Kai Kresse Ram Adhar Mall Ryôsuke Ohashi Heiner Roetz Ulrich Rudolph Hans Rainer Sepp Georg Stenger Franz Martin Wimmer Günter Wohlfart Ichirô Yamaguchi

Band 22 https://doi.org/10.5771/9783495997956 .

Selman Dilek

Grundlegung einer mystischen Anthropologie Menschen- und Geschlechterbilder bei Muhyīddīn Ibn al-ʿArabī und . Meister Eckhart

https://doi.org/10.5771/9783495997956 .

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Erlangen-Nürnberg, Univ., Diss., 2022 u.d.T.:  Grundlegung einer mystischen Anthropologie, mit besonderer Berücksichtigung der Geschlechterbilder von Muhyī . d-Dīn Ibn al-ʿArabī und Meister Eckhart ISBN 978-3-495-99794-9 (Print) ISBN 978-3-495-99795-6 (ePDF)

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1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495997956 .

Inhaltsverzeichnis

Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel I. Muḥyīddīn Ibn al-ʿArabī . . . . . . . . . . . .

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1. Leben und Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Eine spirituelle Biographie . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Einige Aspekte seiner Mystik . . . . . . . . . . . . . .

21 21 27

2. Lehre des Seins und der Kosmologie . . . . . . . . . . . . 2.1. Von ›finden‹ zu ›existieren‹: semantische Vielfalt des Seins-Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Gott und Welt: Modus und Grund der Seinsgabe . . . .

34 34 40

3. Die Lehre vom Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Bedeutung des Menschseins . . . . . . . . . . . . . a. Göttlichkeit der menschlichen Essenz . . . . . . . b. Ebenbildlichkeit Gottes . . . . . . . . . . . . . . c. Barzaḫ: die beiden Hände Gottes . . . . . . . . . d. Geist, Körper und Seele . . . . . . . . . . . . . . e. Kalifat: Mensch und Welt . . . . . . . . . . . . . 3.2. Ziel des Menschseins . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Mittel zur Erreichung des Ziels: Herz und Verstand . b. Erwerbung von Maʿrifa und die Vollkommenheit . . c. Höchste und kompetenteste Exzellenz: Gottesfreundschaft . . . . . . . . . . . . . . . .

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52 52 56 59 64 66 70 75 75 82

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4. Das Geschlechterbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Kosmische Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Geschlechter im Schöpfungsakt . . . . . . . . . . 4.3. Geschlechterordnung . . . . . . . . . . . . . . . 4.4. Gleichheit: Möglichkeiten und Grenzen . . . . . . 4.5. Einheit und Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6. Normenlehre und geschlechtsspezifische Differenzen

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97 97 104 112 120 126 141

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5 https://doi.org/10.5771/9783495997956 .

Inhaltsverzeichnis

Kapitel II. Meister Eckhart . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Leben und Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Biographie eines Lebemeisters . . . . . . . . . . . . . 1.2. Einige Merkmale von Eckharts Mystik . . . . . . . . .

147 147 154

2. Seinslehre und Seinsmitteilung . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Sein und Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Seinsmitteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

164 164 170

3. Das Menschenbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Bedeutung des Menschseins . . . . . . . . . . . . . . a. Knechtschaft und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . b. Seele und Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Sohnschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Ebenbildlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e. Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Ziel des Menschseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Selbsterkennen als Gotteserkennen . . . . . . . . . b. Der Weg zur Einheit: Abgeschiedenheit und verwandte Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Gesichter der Perfekten: Innerer Mensch . . . . . . .

178 178 184 186 192 196 199 203 205

4. Das Geschlechterbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Weibliche Merkmale als universelle Voraussetzungen 4.2. Zwei-Prinzipienlehre und geschlechtliche Darstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Geschlechter im Schöpfungsakt . . . . . . . . . . 4.4. Einheit und Vollkommenheit . . . . . . . . . . . .

. . . .

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232 240 244

Kapitel III. Komparative Mystik . . . . . . . . . . . . . .

255

1. Mystik in Leben und Denken . . . . . . . . . . . . . . . .

255

2. Ontologische Prämisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

261

3. Anthropologische Prinzipien . . . . . . . . . . . . 3.1. Neue Konzeption des Gott-Mensch-Verhältnisses 3.2. Die Ambivalenz des menschlichen Spektrums . . 3.3. Das Ziel des Lebens: Vollkommenheit . . . . .

269 269 276 284

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6 https://doi.org/10.5771/9783495997956 .

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Inhaltsverzeichnis

4. Neuinterpretation der Geschlechter . . . . . . . . . . . . . 4.1. Geschlechterdeutung: Rekonstruktion von Sprache und Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Das weibliche Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . b. Neutralität der menschlichen Essenz . . . . . . . . . 4.2. Geschlechterverhältnis: Einheit und Gleichheit . . . . .

Epilog

291 291 294 296 299

Mystik als anthropologische Herausforderung . . . . . . . . .

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Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Prolog

Das 20. Jahrhundert war nicht nur Zeuge der durch gesellschaftliche Spaltungen verursachten Katastrophe, sondern war auch Schauplatz der Konvergenz und Harmonie. Nach dem Zweiten Weltkrieg rückte die Verbreitung einer auf Pluralismus basierenden politischen Sprache und Verständigung vor allem in Europa die Freiheit und die Menschenrechte auf die Agenda der internationalen Beziehungen. Auf diese Weise führten universalisierte Werte zu gemeinsamen Erwartungen und zum Wandel in verschiedenen Gesellschaften. Ausgehend vom wissenschaftlichen und technischen Interesse in westlichen Staaten haben die Geistesströmun­ gen im 19. und 20. Jahrhundert bestimmte Werturteile zum intellektuellen Hauptthema der Kulturen gemacht. Religionen, die sich über lange Zeiträume unter verschiedenen kulturellen Bedingungen entwickelten, waren intellektuellen Konfrontationen ausgesetzt, die zu einer Vielfalt von Reaktionen führten von Unverständnis bis hin zur Anpassung an dieselben Werte. Wir erleben immer noch die Auswirkungen zeitgenös­ sischer Werte, die das Individuum betreffen, – wie Menschenrechte und Freiheit –, und die Gesellschaft – wie Pluralismus und Demokratie –, auf die Religion. Heute ist zu beobachten, dass verschiedene Religionen eine theologische Erklärung für dieselbe Forderung der Moderne suchen. Damit veränderten sich die Gegenstände der hauptsächlich im Mittel­ alter systematisierten theologischen Lehren: Die auf Gott festgelegte Darstellung des Seins und des Lebens begann durch Fragen des Individu­ ums und der Gesellschaft abgelöst zu werden. Nach all den historischen Erfahrungen ist der Mentalitätswandel unserer Zeit in der Öffentlichkeit drastisch und deutlich sichtbar geworden. In der Mitte des paradigmatischen Wandels religiöser Traditionen steht das Menschenbild.1 Besonders das Prinzip der Menschenwürde steht im Zentrum der Suche nach Gerechtigkeit und Pluralismus im Hans Küng hat Thomas Kuhns Konzeption von Paradigmenwechsel im Rahmen der theologischen Wende so übertragen, dass die Religionsgeschichte als Abfolge von Para­ digmenwechseln interpretiert werden kann. Vgl. Küng, Hans: Der Islam: Geschichte, Gegenwart, Zukunft, S. 688–692.

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Prolog

öffentlichen Raum. Die wichtigste Voraussetzung einer demokratischen Gesellschaft basiert auf dem Schutz des Individuums. Nicht nur in Bezug auf den Schutz und die Bewahrung des Lebensraums, sondern auch auf den Mensch bezogene Angelegenheiten bilden die Hauptinteressen von Kultur, Kunst und Wissenschaft. Insbesondere Psychologie, Soziologie und schließlich Anthropologie, die im 19. Jahrhundert entstanden sind, versuchen aus verschiedenen Sichtweisen das menschliche Dasein zu verstehen. Die wissenschaftlichen und philosophischen Fragestellungen zum Wesen des Menschseins ermöglichten es auch der Theologie, das zu verinnerlichen.2 Und die anthropozentrische Anstrengung bleibt nicht nur auf theoretischem Boden, wie bei der Fragen nach der Stellung des Menschen vor Gott, oder der Transzendenz der Seele. Da Religion Bestimmungen enthält, die die Verrichtung jeweiliger Glaubenslehren beinhalten, finden auch Debatten über die Gottesdienste und religiösen Institutionen statt. Beispielsweise hat der Grundsatz der Freiheit sowohl theoretische Aspekte, wie die Beleuchtung des Status des Individuums angesichts des göttlichen Willens, als auch praktische Aspekte wie die Stellung des Einzelnen innerhalb der religiösen institutionellen Hierar­ chie. Oder umgekehrt: Pluralismus, der zuerst als praxisbezogene Ange­ legenheit wahrgenommen wird, etwa dass eine Gesellschaft gleicher­ maßen verschiedene Glaubensrichtungen beheimatet, bedarf zugleich einer theologischen Interpretation, wie der Begründung der göttlichen Toleranz gegenüber Differenzen. Wenn wir uns wieder der Ideengeschichte mit der Frage zuwenden, was eines der gemeinsamen Grundthemen in verschiedenen religiösen Traditionen der theologischen Anthropologie ist, begegnet uns das Der ägyptische Philosoph Hasan Hanafi fasst das Verfahren der Anthropologisierung folgendermaßen zusammen: »Es geht nicht darum die Theologie zu vernichten, um eine Anthropologie zu gründen, aber das Wenden der Theologie zur Anthropologie, nämlich ein Wandel der Achse im Kern der Kultur, betrifft das gleicher Ziel, das Descartes in der europä­ ischen Kultur verwirklicht sah, die Wende einer theozentrischen Kultur zu einer anthropo­ zentrischen.« Hanafi, Hasan: »Theologie ou Anthropologie« in: Renaissance du monde arabe, ed. A. Abdel-Malek, A.A. Belal, and H. Hanafi, Algiers 1972, S. 233–264. In einem bemerkenswerten Dokument des Vatikans wurde Folgendes zusammengefasst: »Die moderne Christologie gründet sich oft nicht so sehr auf die Theologie des dreifaltigen Gottes, sondern auf die Anthropologie als neues Verständnisprinzip und baut darauf auf. Ein solches Vorgehen war auf dem Gebiet der Soteriologie sehr wertvoll. Das Ziel der Erlösung sei eher die Humanisierung als die Vergöttlichung des Menschen, hieß es. Durch diese Entwicklung erreichte die schon in der Philosophie bestehende metaphysische Krise auch das Herz der Theologie.« »Theologie – Christologie – Anthropologie«, Text der Ergebnisse der Interna­ tionalen Theologischen Kommission, Vatikan 1982.

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Prolog

Geschlechterbild. Es ist nicht möglich, dass eine theologische Interpreta­ tion bei der Beschäftigung mit dem Menschenbild, mit Fragen nach äußerlicher Erscheinung, Seelen-Körper-Beziehung oder Gleichheit und Differenzen, nicht die Geschlechter berührt. Wie die theologische Anthropologie hat auch die Thematisierung von Gender zwei Säulen. Die Definition und das Wesen des Geschlechts bilden den theoreti­ schen Rahmen, während seine Reflexion und Stellung zur praktischen Dimension gehören. Aufgrund dieser kontextuellen Einbindung mani­ festieren sich politische und gesellschaftliche Prinzipien wie Freiheit und Gleichheit, die Religionen zu einem Paradigmenwechsel zwingen, in den Geschlechterverhältnissen. Insofern sind sie ein Prüfstein der theologischen Anthropologie wie auch des globalisierten Wertesystems. Deshalb steht das Geschlechterverhältnis im Mittelpunkt von Span­ nungsverhältnis zwischen Moderne und Religion. In gewisser Weise nimmt die Genderfrage in der wissenschaftlichen Agenda der religiösen Gemeinschaften eine zentrale Stellung ein; sie ist eine der fruchtbarsten intellektuellen Debatten unserer Zeit, aber auch eine der schwierigsten Bereiche. Denn die Reaktionen errichten eine Mauer, um sich vor dem Einfluss zu schützen, der aus der genauen Bestimmung der Geschlech­ terrollen in der Gesellschaft besteht. Um das in der Tradition geprägte Paradigma zu bewahren, schränkt man vor allem die Stellung der Frau in der gesellschaftlichen Sichtbarkeit ein. Daneben entsteht in der Moderne eine weitere Schwierigkeit: Geschlechter werden für wirtschaftliche Interessen instrumentalisiert und körperliche Phänomene werden zur Ware umgewandelt. Definitiv ist in unserer Zeit das Frauenbild und damit die Geschlechterwahrnehmung ein zentrales Thema in allen religiösen oder säkularen Diskussionsfeldern.3 »Die Menschenrechtsbewegungen, die wesentlich die Entstehung der Demokratien för­ derten, gingen vom angelsächsischen Raum aus und bezogen sich in England und Kanada auf die Bill of Rights (1689), in den USA auf die Bill of Rights of Virginia (1776). Deren Grundaussage ›All men are created equal‹ schloß im Wortsinn Frauen ein. Erst im Zuge der Demokratisierungsprozesse zeigte sich am Widerstand gegen Fraueninitiativen, dass die Begriffsbestimmung des bürgerlichen Subjekts sich nur auf das männliche Geschlecht bezog, d.h. ›Gleichheit unter Männern‹ sollte gesichert sein. Religiöse und naturrechtliche Motive bestimmen den Beschluss der Bill of Rigths of Virginia, wie Abschn. 16 bestätigt: ›Die Religion oder die Ehrfurcht, die wir unserem Schöpfer schulden, und die Art, wie wir sie erfüllen, können nur durch Vernunft und Überzeugung bestimmt sein und nicht durch Zwang oder Gewalt; daher sind alle Menschen gleicherweise zur freien Religionsausübung berechtigt, entsprechend der Stimme ihres Gewissens; es ist die gemeinsame Pflicht aller, christliche Nachsicht, Liebe und Barmherzigkeit aneinander zu üben.« In: Theologische Realenzyklo­ pädie, hrsg. von Gerhard Müller, Gerhard Krause, Berlin 1983, Bd. 11, S. 473.

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Prolog

Es kann nicht leicht behauptet werden, dass irgendeine Religion angesichts der Erwartungen moderner Gesellschaften eine monolithi­ sche Haltung einnimmt. In fast jeder Religion gibt es viele verschiedene Annäherungen und Reaktionen. Im Hinblick auf die zeitgenössische Werte führen positive Haltungen der Religionen zu ähnlichen intellek­ tuellen Einstellungen und gemeinsamen Ergebnissen. Das wichtigste Beispiel dafür sind die theologischen Begründungen der interreligiösen Beziehungen zum gesellschaftlichen Zusammenleben. Diese Initiativen finden zum ersten Mal in der Geschichte so intensiv und sinnvoll im Schatten bestimmter Werte statt. Verschiedene Religionen bilden eine gemeinsame intellektuelle Grundlage, um sich für Menschenwürde und die Gleichstellung der ethnischen und kulturellen Merkmale einzusetzen. Derartige intellektuelle Auseinandersetzungen basieren auf einer Neu­ interpretation der grundlegenden religiösen Quellen und einer neuen Bewertung der alten Paradigmen. Einerseits werden Antworten auf men­ schen- und geschlechtsbezügliche Fragen gesucht, indem vorwiegend auf neue Verständnisse der Offenbarung im Bezug genommen wird. Ande­ rerseits wird die Geschichte des theologischen Denkens zum Gegenstand der aktuellen Untersuchungen. So werden beispielsweise im Lichte der Schriften der einflussreichsten Gelehrten des theologischen Denkens wie Abū Ḥāmed Ġazzālī und Thomas von Aquin die Menschenbilder zu rekonstruieren versucht. Die Suche nach Quellen ideeller Erneuerung konzentriert sich oft auf die Geschichte der Theologie und Religionsphi­ losophie. Die Mystik hingegen wartet in diesem Zusammenhang darauf, untersucht zu werden, indem sie eine andere Alternative in Bezug auf Glauben und Morallehre anbietet, die die Grundlage einer einzigartigen Weltanschauung bilden kann.4 Die mystische Einheitslehre von Sein und Leben bietet eine vorrangige Gelegenheit, wieder über die Bedeutung und Stellung der Geschlechter nachzudenken und dementsprechend das Menschenbild neu zu gestalten. Aus diesem Grund zieht es die Neugier der gegenwärtigen Wissenschaft und Kultur an. ⁎⁎⁎

4 Trotz des Interesses an Mystik es ist nicht leicht zu behaupten, dass Mystik in religiösen Diskussionen als Alternative gesehen wird. Wie Reza Hajatpour betont, haben die Kal­ amwissenschaften immer noch einen privilegierten Status und Mystik wartet auf Auf­ merksamkeit: Vgl. Hajatpour, Reza: Sufismus und Theologie. Grenze und Grenzüberschrei­ tung in der islamischen Glaubensdeutung, Freiburg/München 2017, S. 13-16.

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Das zeitgenössische wissenschaftliche und intellektuelle Interesse an der mittelalterlichen Mystik konzentrierte sich vornehmlich auf die Abweichung vom herrschenden Paradigma und die Entwicklung ihrer eigenständigen Lehren. Hinter diesem Interesse steht das Bemühen, die Beständigkeit und Wirksamkeit der mystischen Weltbilder für unsere Zeit zu entdecken.5 Mystische Authentizität, um die es dabei geht, liegt nicht nur in der Neuinterpretation von Religion; es gehört auch eine neue Form der Frömmigkeit und des religiösen Lebens mit dem Ziel der sittlichen Vollkommenheit dazu. Ob asketische Orientierung oder intuitive Erfahrung, die Abkehr von der organisierten Religiosität hat es Mystikerinnen und Mystikern ermöglicht, eine neue Beziehung zu ihrer Umwelt und dem fremden Anderen aufzubauen. Insofern ist bemerkens­ wert, wie sich ideelle und praxisbezogene Originalität im Menschenbild und in der Geschlechterwahrnehmung widerspiegelt. Auf genau diesen Zusammenhang baut diese Untersuchung ihren Gegenstand auf. Sie beschäftigt sich mit dem Problem der geschlechtlichen Deutung und Stellung im Rahmen der Menschenbilder bei den großen Repräsentanten der islamischen und der christlichen Mystik.6 Muḥyīddīn Ibn al-ʿArabī (verst. 1240) und Meister Eckhart (verst. 1328) sind die bekanntesten Persönlichkeiten, die einem in den Sinn kommen, wenn es um islamische und christliche Mystik geht.7 Eckhart wurde an der Universität von Paris als Dominikanerpriester ausgebildet und war ein bedeutender Gelehrter im Kontext des katholischen Mittelalters. Auf der anderen 5 Genau in diesem Zusammenhang hebt Christoph Elsas die Notwendigkeit hervor, das historische Thema im aktuellen intellektuellen Kontext zu überdenken. Elsas, Christoph: Mystik in der Globalisierung, Diskurs und Traditionen der Chaldäischen Orakel im Kontext heutiger Religionsbegegnungen, Berlin 2017, S. 11. 6 Einer der ersten, der die Bedeutung des Vergleichs der Mystiker äußerte, war Henry Corbin. Er macht darauf aufmerksam, wie unterschiedliche religiöse Elemente kontextuell homogenisiert werden. Corbin, Henry: Creative Imagination in the Ṣūfism of Ibn ʻArabī, übers. von Ralph Manheim, Princeton 1981, S. 14–17. 7 »Bekannt ist Eckhart bei Menschen heutzutage, die nach neuen religiösen Wegen suchen, bei spirituell engagierten Angehörigen verschiedener Religionen sowie bei Anhängern der modernen, nicht konfessionell gebundenen spirituellen Bewegungen« Witte, Karl Heinz: Meister Eckhart: Leben aus dem Grunde des Lebens, Freiburg im Breisgau 2016, S. 21. »Ibn Arabi is at once the most influential and the most controversial Muslim thinker to appear over the past nine hundred years. The Sufi tradition looks back upon him as the greatest master (as-shaykh al-akbar), by which is meant that he was the foremost expositor of its teachings. Modern scholarship is rightly skeptical about grandiose titles, but there is plenty of evidence to suggest that this specific title is not out of line.« Chittick, William: Ibn ›Arabi: Heir to the Prophets, London 2005, S. 14.

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Prolog

Seite vertiefte Ibn al-ʿArabī sich in die Wissenschaften des Korans und der Hadithe (Ḥadīṯ: prophetische Überlieferung), indem er islami­ sche Wissenschaften in Andalusien und im Maghreb studierte. Beide folgten auch den bekannten spirituellen Traditionen als maßgebliche Gelehrte ihrer eigenen Kulturen; damit entwickelten sie eine Lehre des Seins basierend auf der Einheit mit Gott und intuitiven Erkenntnissen. Die Neuinterpretation religiöser Überzeugungen und Wissenschaften beruhte auf dieser Einheitsidee und der damit verbundenen Spiritualität. In den Dimensionen dieser in der Praxis reflektierten Lehre sahen sich beide mit Gegenreaktionen konfrontiert, dennoch reisten sie sehr oft und tauschten sich mit den wissenschaftlichen und geistlichen Leitfiguren ihrer Zeit aus. Ihren Schriften und ihre Lehrtätigkeit folgten öffentliche Predigten, darunter auch zu Frauen. So wie die Entwicklung ihrer Mystik in der Interaktion mit Frauen stattfand, spielten sie auch bei ihrem Vermittlungsprozess eine wichtige Rolle. Wie weiter unten ausführlich analysiert wird, haben Ibn al-ʿArabī und Eckhart vergleichbare intellek­ tuelle Biographien, sowohl in Bezug auf die von ihnen entwickelte Lehre als auch deren Reflexion in ihrem Leben. Dementsprechend besteht das Hauptziel dieser Studie darin, die sich überschneidenden Ideen von Ibn al-ʿArabī und Eckhart angesichts der Fragen nach Geschlechter­ wahrnehmung als Hauptgegenstand der theologischen Anthropologie zu identifizieren. In dieser Richtung werden die grundlegenden Argumente einer mystischen Anthropologie erörtert werden. ⁎⁎⁎ Die Zunahme monografischer und biografischer Studien in verschiede­ nen Sprachen über Ibn al-ʿArabī und Eckhart hat maßgeblich zur Ent­ stehung der Mystik als eigenständiges Lehr- und Untersuchungsgebiet in der religionswissenschaftlichen Disziplin beigetragen. Es ist jedoch noch schwer zu sagen, ob die Ansätze dogmatischer Theologie und Mystik in den grundlegenden Bereichen der philosophischen Anthropo­ logie geklärt sind. Die Analyse mystischer Texte im Hinblick auf die Genderfrage ist ein relativ neuer Versuch.8 Im Fall von Ibn al-ʿArabī und Eckhart gibt es trotz vieler Schriften in verschiedenen Sprachen keine 8 Aufgrund dieser Schwachstelle kann man sagen, dass gegenseitige unvollständige Auf­ fassungen immer noch weit verbreitet sind. Eine der Behauptungen im Westen ist, dass es in der Geschichte des Islams keine Mystikerinnen gäbe: »Ebenso finden sich im Judentum und Islam keine Mystikerinnen. Das Fehlen von Frauen in vor, außer- und nichtchristlichen Religionen und das Vorhandensein von Frauen im Christentum ist eindeutiges Zeugnis für

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hinreichenden Studien direkt zur Bedeutung des Menschen in Bezug auf Geschlechterdeutung. In ihren Schriften verweisen Ibn al-ʿArabī und Eckhart vielmehr auf die Bedeutung von geschlechtlicher Vielfalt und essenzieller Einheit der Menschheit in unterschiedlichen Kontexten. Sie haben viele Bemerkungen über die Gleichartigkeit, Ähnlichkeit und Unterschiede von Männern und Frauen verfasst. Bei der Lektüre grund­ legender Werke während der Recherche wurden alle Zitate identifiziert, die sich sowohl auf die menschliche als auch auf die geschlechtliche Wahrnehmung beziehen. Es wurde auch der Kontext bestimmt, in dem der Mystiker seine Meinung ausdrückte, und dann wurden sie nach Aus­ drucks- oder Kontextähnlichkeit klassifiziert. Unter Berücksichtigung der folgenden Probleme wurden diese Zitate zum Forschungsthema: (a) In dem Forschungsprozess fielen zunächst die Gemeinsamkeiten und Differenzen aufgrund der verschiedenen Religionszugehörigkeit auf. Gemeinsame Wurzeln in abrahamitischen Traditionen und das neupla­ tonische konzeptionelle Erbe bringen beide Denker zu entsprechenden Begriffen und Themen. Die Tatsache, dass Ibn al-ʿArabī in der islami­ schen und sufischen und Eckhart in der katholischen und dominikani­ schen Kultur erzogen war, erforderte jedoch die Interpretation beider Lehren in ihrem eigenen traditionellen Rahmen. Aus diesem Grund mussten beide Lehren unter Berücksichtigung ihrer religiösen und kulturellen Zugehörigkeit einzeln beschrieben werden. Der Vergleich konnte erst auf diesem Boden angestellt werden. (b) Während der Lektüre von Ibn al-ʿArabī und Eckhart wurde auch festgestellt, dass die Wahrnehmung der Geschlechter und des Menschen direkt mit dem Verständnis der Kreatürlichkeit und der Göttlichkeit zusammenhängt. Zum Beispiel hat die Geschlechterfrage eine direkte Verbindung mit dem Körper, der Körper mit der Seele und die Seele mit dem Gott; oder wiederum, da der Körper aus der Natur geschaffen wurde, hat er eine wesentliche Beziehung zum Universum. Wenn auch es in den Werken von Ibn al-ʿArabī deutliche Aussagen über die männ­ das Menschenbild und die Bewertung, speziell der Frau, in den Religionen…« Dinzelbacher, Peter: Wörterbuch der Mystik, Stuttgart 1989, S. 175–176. Der Sufi und Gelehrte Sulamī hat in seinem Ḏikr nisvāt al-muta‘abbidāt aṣ-ṣūfiyyāt (Kairo 1993) zahlreiche weibliche Sufis erwähnt, die auch wissenschaftlich tätig waren. Vgl. Senoglu, Maria: »Sie weinte und fiel in Ohnmacht«: die weibliche Heiligenfigur im Spiegel der Ṭabaqāt-Literatur, Freiburg (Breisgau) 2011. Eine allgemeine Analyse der Frau in der Historiographie bietet: Hambly, Gavin R.G.: Becoming Visible: Medieval Islamic Women in Historiography and History, in: Women in the Medieval Islamic World. Power, Patronage, and Piety, hrsg. von Gavin R.G. Hambly, New York 1998, S. 3–29.

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lich-weibliche Beziehung und den Vergleich zwischen den Geschlechtern gibt, basieren sie im Allgemeinen auf der Interpretation des Korans. Eckhart begründet viele seiner Einschätzungen über die Erschaffung von Mann und Frau in Zusammenhang mit dem biblischen Kommentar. Für beide Denker wird die Deutung der Geschlechterunterschiede im Lichte des Schöpfungszwecks und die gesellschaftliche Stellung nach religiösen Normen ausgelegt. Aus diesen Gründen war es notwendig, mit der allgemeinen Einführung ihrer Lehren zu beginnen. Auf der onto­ logischen Grundlage werden die Seinslehre, insbesondere die Themen Gott und Kreatur erläutert, dann die Bedeutungen von Mensch und Geschlecht diskutiert. (c) Während der Recherche wollte ich verstehen, in welchem Zusammenhang und aus welchem Grund sie bestimmte Aussagen ver­ wendet haben, auf welche Art und Weise sie an das Problem herangegan­ gen sind. Dabei wurde mir klar, dass sich im Grunde alle Ausdrücke unter zwei Kategorien zusammenfassen lassen. Zur ersten Kategorie gehören Auffassungen über die Bedeutung des Menschen, die der (seelische und körperliche) Dimension des Menschseins, seine essenzielle Wahrheit, sein Verhältnis zu Gott und anderen Wesen einschließt. Die zweite Kategorie ist der Zweck des Menschseins und beinhaltet das göttliche Ziel der Schöpfung, den Grund des menschlichen Daseins und Einheitsund Vollkommenheitsbestrebungen in dieser Richtung. Während des Schreibens der Kapitel über beide Mystiker wurden auch die Menschen­ bilder in zwei Rahmen analysiert, in der Bedeutung und dem Zweck des Menschseins. Dann, als die Ausdrücke zu den Geschlechtern zusammen­ tragen wurden, sind mir folgende Hauptthemen begegnet: geschlecht­ liche Darstellung der kosmischen Prinzipien und göttliches Handeln, grundlegende Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Mann und Frau, Einheit und Liebe, Sexualität. Es gab darüber hinaus einige praktische Fragen, darunter die Auslegung religionsrechtlicher Bestimmungen über die soziale Geschlechterrolle und über die religiösen Verpflichtungen. Obwohl diese Themen unabhängig voneinander und schwer unter einem Titel zu fassen waren, waren sie bedeutsam, um das Frauenbild umfassend darzustellen. Was sie über weltliche Gewohnheiten dachten, zeigte auch, wie praxistauglich ihre Lehre war. In dieser Richtung habe ich die Zitate über die gesellschaftliche Stellung von Mann und Frau zusammengestellt und versucht, sie in Bezug auf ihre Lehren zu erklären. (d) Insgesamt besteht die Hauptschwierigkeit der Forschung darin, dass die recherchierten Werke trotz der Aktualität des Forschungsthemas im Schatten des Paradigmas einer vergangenen Epoche geschrieben

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wurden. Eine solche Herangehensweise birgt in sich die Gefahr eines Anachronismus, der durch eine Lösungssuche für unter modernen Bedingungen entstandene Probleme im Mittelalter verursacht werden könnte. Die Konzentration auf die Ausdrücke der Gender-Diskurse und die Interpretation in einem modernen Kontext zeichnen zwar ein positives Bild, verdunkeln aber auch die Realität. Aus diesem Grund soll­ ten geschlechtsbezogene Zitate unter Berücksichtigung der allgemeinen Lehre des Denkers und anderer auf den Menschen bezogener Ausdrücke interpretiert werden. Ibn al-ʿArabī beispielsweise unterscheidet sich von allen seinen Zeitgenossen hinsichtlich der Vorbeterrolle (im Gebet) der Frau, jedoch unterscheidet er sich mit diesem Ansatz nicht vollständig von der traditionellen islamischen Jurisprudenz. Daher sollte die Mystik unter Berücksichtigung seiner Sichtweise zur Scharia und Eckharts zu der des christlichen Religionsrechts bewertet werden. (e) In diesem Zusammenhang begegnet man dem Faktor, der beide Denker als »mystisch« zu definieren veranlasst. Zunächst wurde im Kontext der islamischen Geschichte in der Studie das Wort »Sufi« bevor­ zugt; im Sinne der Gemeinsamkeiten in unterschiedlichen Traditionen und der Abweichungen zur Theologie wurde der Begriff »mystisch« verwendet. »Mystik« bezeichnet ihr Religionsverständnis, das sie von der herrschenden Theologie unterscheidet, und ihre Einstellungen zur religiösen Vorgehensweise, die sie von der philosophischen Tradition unterscheiden. Das originelle gemeinsame Verständnis, das als »mysti­ sche Anthropologie« bezeichnet werden kann, beruht auf der Auslegung der Offenbarung auf der Grundlage der Einheitslehre in der existentiellen Vielfalt. In dieser Richtung war es notwendig, beide mit den Begründern und Verteidigern des gängigen Paradigmas zu vergleichen. So wurde versucht zu beweisen, dass die theologische Unabhängigkeit von Ibn al-ʿArabī und Eckhart ihnen ermöglicht, neue Vorstellungen über die Bedeutung und Stellung der Geschlechter zu entwickeln. (f ) Die Entstehung von Eckharts deutschen Predigten in direkter Interaktion mit seinem Publikum und die Tatsache, dass einige von Ibn al-ʿArabīs Schriften aus der Lektüre in religiösen Gesprächskreisen hervorgegangen sind, weisen auf einen weiteren Aspekt hin, der bei der Bewertung von mystischen Erkenntnissen berücksichtigt werden sollte. Solches Erkennen entsteht nicht aus einem rein rationalen Denk­ prozess, sondern aus einer mit Erfahrung verbundenen Inspiration. Deshalb musste bei der Analyse der mystischen Lehre die historische Umgebung, in der das mystische Erkennen gebildet wurde, und das Leben des Einzelnen berücksichtigt werden, das heißt, die Biographien

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beider Mystiker im Detail aufzunehmen. Außerdem habe ich erfahren, dass sie in ihren Aussagen über Frauen oft Beispiele aus ihrer eigenen Lebensgeschichte gaben. Sowohl die Tatsache, dass die Mystik einen unmittelbaren Bezug zur realen Erfahrung hat, als auch die direkte Beziehung der Geschlechterfrage zur praktischen Lebenswelt hat mich veranlasst, zwei Dinge hervorzuheben. Erstens sollten ihre Biografien so geschrieben werden, dass sie Licht auf ihre Lehren werfen. Zweitens sollten Zitate aus ihrer Lebensgeschichte, die die religiöse und gesell­ schaftliche Stellung von Frauen thematisierten, in ihrem theoretischen Kontext interpretiert werden. (g) Das heikelste Problem bei der Recherche war das richtige Verständnis der mystischen Sprache. Beide haben eine überschwängli­ che Ausdrucksweise in ihren Schriften, die mit intensiven Metaphern arbeitet. Zu dieser in der Prosa herrschenden Unklarheit kommt die Mehrdeutigkeit in den Gedichten von Ibn al-ʿArabī und den Predigten Eckharts. Dies liegt an der Komplexität der Sprache, die versucht, die Zustände vielfältiger inituitive Erfahrungen in Worte zu fassen. Auch existieren häufige Sprünge und Unterbrechungen, denn die Texte sind eher in Form einer mystischen Erfahrung als in Form eines wissenschaft­ lichen Buches geschrieben. Sicher ist, dass diese Haltung es erschwert, die Sprache des Textes verständlich zu machen. Um diese Schwierigkeit zu überwinden, war es oft notwendig, Vergleiche anzustellen. Zum Beispiel wurde versucht, das Gedicht von Ibn al-ʿArabī über die Überlegenheit der Weiblichkeit im Vergleich zu seiner Schrift über die Vorherrschaft der männlichen Prophetie zu interpretieren. Um die Komplexität des in einem ekstatischen Zustand geoffenbarten mystischen Ausdrucks zu überwinden, wurden daher intertextuelle vergleichende Lesungen vorge­ nommen. (h) Damit begegnet man innerhalb der Forschungslandschaft drei Sprachen, dem literarisch Hocharabischen, dem mittelalterlichen Latei­ nischen und dem Mittelhochdeutsch. Die lateinischen Bezeichnungen Eckharts werden in aktuellen deutschen Übersetzungen verwendet. Seine Äußerungen in den deutschsprachigen Predigten werden nur in der heutigen deutschen Sprache wiedergegeben. Nur einige Wörter und wichtige Ausdrücke sind in der lateinischen und deutschen Origi­ nalfassung wiedergegeben. Ebenso sind die arabischen Originale der Begriffe von Ibn al-ʿArabī im Text enthalten. Einige seiner Zitate wer­ den aus dem arabischen Original übernommen und übersetzt. Sonst stammen die Zitate aus den untersuchten Werken aus ihren kritischen Editionen. Wie man die Begriffe von Ibn al-ʿArabī übersetzt, ist eine wis­

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senschaftliche Frage für sich. Daher habe ich das nächstliegende deutsche Wort gefunden und das ursprüngliche Wort in Klammern transkribiert. Ein weiteres Problem besteht darin, die Begriffe von Ibn al-ʿArabī zu übersetzen, die mit der deutschen philosophischen Terminologie in Verbindung gebracht werden können. Beispielsweise wird es direkt mit der neoplatonischen Tradition in Verbindung gebracht, Gotteserschei­ nung als emanatio zu verstehen. Anstatt einer neuen Begriffsfindung wurde versucht, am Vokabular früherer arabischer Übersetzungen und Studien festzuhalten.9 Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät und dem Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlan­ gen-Nürnberg als Dissertation angenommen. Ich danke allen, die mir bei der Anfertigung dieser Forschung geholfen und mich dabei unterstützt haben. Allen vorweg möchte ich mich bei Prof. Dr. Reza Hajatpour für die Betreuung und das Engagement bedanken. Prof. Dr. Christoph Elsas hat mein Interesse für die christliche Mystik geweckt und viel persönliche Zeit dafür geopfert, und ich bin ihm zu großer Dankbarkeit verpflichtet. Ein ganz besonderer Dank geht an Maria Schwessinger und Ṣuhaib Ġuzlān, sie haben mir während der gesamten Untersuchung mit ihren Ideen und Vorschlägen geholfen. Ich möchte auch Lukas Trabert für das gründliche Lektorat und für seine anregenden Vorschläge danken. Ich hatte diese Forschung lange im Voraus geplant, ohne Förderung der Friedrich-Ebert-Stiftung hätte ich sie nicht fertigstellen können; für die freundliche Solidarität danke ich besonders den Mitarbeitern der Abteilung Studienförderung. Mein herzlicher Dank gilt abschließend meiner Frau Kübra Dilek, die mich während meiner langen Recherchen geduldig unterstützt hat.

9 Wenn eine neue Übersetzung gewählt wurde, wurde das arabische Original in Klam­ mern angegeben. Für einige Übersetzungen sind die Transkriptionen in den Fußnoten enthalten. Die deutschen Übersetzungen der Koranverse sind Rudi Parets Der Koran entnommen, daneben stammen die Ergänzungen in Klammern von mir. Bibelverse wur­ den aus der Einheitsübersetzung übernommen. Um die Übersetzungen zu vergleichen, wurden die Websites bibleserver.com und corpuscoranicum.de untersucht. Ich habe die Übersetzungen der Hadithe selbst angefertigt; für ihre Quellen und Interpretationen wurde die von der Dorar Stiftung erstellte Webseite verwendet (dorar.net).

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Kapitel I. Muḥyīddīn Ibn al-ʿArabī

1. Leben und Denken 1.1. Eine spirituelle Biographie Muḥammad bin ʿAlī bin Muḥammad bin al-ʿArabī al-Ḥātimī aṭ-Ṭāʾī, so der volle Name, wurde 1165 der Stadt Murcia im heutigen Südostspanien, während der Regierungszeit der Almohaden geboren. Er gehörte zu einer Familie jemenitischer Herkunft und als Soldat gehörte sein Vater der Verwaltungsaristokratie an, da er sich im besonderen Gefolge des Herrschers befand. In seinen jungen Jahren wanderte seine Familie nach Sevilla aus, der Hauptstadt des Almohadenreichs, die dank der Interaktion verschiedener Kulturen ein glänzendes Zeitalter hatte. Auf­ grund seiner familiären Situation gibt es allerdings einige Aufgaben. So musste er in die Fußstapfen seines Vaters treten und arbeitete eine Weile im Gouverneursamt von Sevilla. Nach dieser Zeit, die er als ğāhiliyya (Unwissenheit) im Sinne von Unachtsamkeit (ġaflat) bezeichnet, verließ er das blühende Leben und fand dann eine Art Erleuchtung, die in fast jeder Lebensgeschichte eines Mystikers zu entdecken ist.10 Sein erster »Wegweiser« erschien ihm nach einer Weile in einer Vision: Er bereut sein früheres Leben und vertraut sich den Händen Jesu an, und dieser betete für ihn, »in Frömmigkeit zu verharren«.11 Nachdem er die spirituellen Stationen der Jesuanischen (ʿisawī) Heiligen wie vor allem die hohe Bescheidenheit erlebt hatte, setzte er den Weg des taṣawwuf (Sufismus) unter dem geistigen Schutz Moses fort und begegnete der mysteriösen Person Ḥiḍr, dem Diener, dem Gott »Gnade verlieh und ihn Wissen lehrte« (Koran, 18:65) – dieser teilte Moses auf einer Reise

10 Vgl. Hirtenstein, Stephen: The Unlimited Mercifier. The Spiritual life and thought of Ibn ʿArabī, Oxford 1999 S. 40; Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 196. 11 Ibn al-ʿArabī, Muḥyīddīn Muḥammad ibn ʿAlī aṭ-Ṭāʾī al-Ḥātimī, al-Futūḥāt alMakkiyya, hrsg. von Abdulazīz Sultān al-Mansūb, Wizāra aṯ-Ṯaqafa al-Ğumhuriyya alYamaniyya, Kultusministerium der Republik Jemen, 2010, Bd. 12, S. 49.

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Kapitel I. Muḥyīddīn Ibn al-ʿArabī

einige Geheimnisse mit.12 So erreichte der junge Ibn al-ʿArabī, der die spirituellen Zustände erlebte, die dem Erbe von Mose zu verdanken waren, seinen nächsten Lehrer, Prophet Muhammad. Im Jahr 1182 hat ihm der Prophet seine Vollkommenheit verkündet.13 Sein Vater muss versucht haben, die Veränderung seines Sohnes zu verstehen, indem er ihn nach Cordoba schickte, um sich mit dem berühmten Philosophen Ibn Rušd (Averroes) zu treffen. So findet viel­ leicht eines der interessantesten Gespräche der Ideengeschichte statt. Zuerst ist der Eindruck aus der Erzählung im al-Futūḥāt al-makkiyya, dass der junge Mystiker – trotz seiner kritischen Haltung zur Philosophie – Ibn Rušd respektiert und sogar bewundert und dass dieser Respekt nicht unerwidert blieb; auch Ibn Rušd schätzt den Jungen und stellt die Frage, ob es möglich, die durch die göttliche Eingebung vermittelte Weisheit mit theoretischem Denken zu erreichen. Lesen wir weiter aus seinem Zitat: »(Ibn Rušd): Ist das, was du in der Enthüllung (kašf ) und göttlichen Emanation (fayḍ ilāhī) findest, (von der Art Erkenntnis,) welche Logik (manṭiq) und theoretisches Denken (naẓar) uns geben? Ich antwortete ihm mit ›Ja‹ und ›Nein‹. Als ich sagte: ›Zwischen Ja und Nein kommen Geister aus ihren Körper und entspringen Hälse ihren Leichen‹, wurde er blass und zitterte.«14

Nach diesem Treffen erscheinen Sufi-Meister in seiner Biographie. So trat er erst Abū Ǧaʿfar Aḥmad ʿUryābis Gemeinschaft bei, die eine mehr asketischere Disziplin hat, dann lernte er Fāṭima bint al-Muṯannā Anfang der 1190er Jahre durch seine Mutter kennen.15 Fāṭima war eine über 90 Jahre alte weise Frau aus Sevilla und lebte in Demut und strenger Askese. Er bewundert sie nicht nur wegen ihres außergewöhnlichen Ḥiḍr, eines der umstrittensten Themen in der Interpretationsgeschichte des Koran (tafsīr), ist laut Ibn al-ʿArabī der Vertreter einer bestimmten spirituellen Station (maqām). In der Legende trifft sich fast jeder Sufi mit Ḥiḍr und erhält von ihm mysteriöse Informa­ tionen. Vgl. Akti, Selahattin: »Die Moses-Ḫiḍr-Erzählung im Koran und deren Bedeutung für die sufische Koranexegese (at-tafsīr al-išārī)«, in Journal of Religious Culture, hrsg. von Edmund Weber, Nr. 209, S. 1–19, Frankfurt am Main 2015. 13 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 4, S. 172. 14 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 435–436. Diese Übertragung, die all­ gemein als Unfähigkeit des Philosophen gegenüber dem Sufi interpretiert wird, kann als Trennung der Erkenntnisquelle des taṣawwuf von der epistemologischen Methode von falsafa (Philosophie) verstanden werden. 15 Vgl. Ibn al-ʿArabī: Sufis of Andalusia, From the Rūh al-quds and al-durrat al-fākhirah, übers. von R. W. J. Austin, New York 2008, S. 142–143. 12

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Lebens im Schatten des Gehorsams zu Gott, sondern auch aufgrund ihrer Schönheit: dass sich ihr geistiger Glanz in ihrem Körper widerspiegelt wie »eine Rose«.16 Nach Fāṭimas Tod kreuzte sich sein Weg mit einer anderen Meisterin, Šams Umm al-Fuqarā (wörtlich: Sonne, Mutter der Armen), die er auf einer Burg in der Nähe von Sevilla kennenlernte.17 Darüber hinaus traf er sich mit Abū Yaʿqūb bin Yūsuf al-Qūmī, dem Stellvertreter von Abū Madyan (gest. 1197), einem der führenden Sufis in Nordafrika, und lernte von ihm die grundlegenden Lehren seines Wegs. Er erlebt 1190 ein spirituelles Ereignis, in dem er alle Geister der Propheten traf. So gibt er an, dass er bei seinem Aufstieg zur gottesfreund­ schaftlichen Perfektion das höchste Niveau erreicht hat. Gleich nach diesem Datum erschienen Anhänger und Gefährten um ihn herum. Sie forderten ihn auf, den Mangel in einem (fälschlicherweise) Aristoteles zugeschriebenen Buch Sirr al-asrār (Secretum Secretorum) zu beheben, das Informationen darüber gibt, wie ein Land regiert werden sollte: »Wir bitten dich, über das Regieren des menschlichen Landes (Seele) zu schrei­ ben, in dem wir glücklich sind«.18 Daraufhin schrieb er 1194 sein Buch Tadbīrāt al-ilāhiyya (göttliche Regierung). Damals hat er sich nicht nur von Andalusiens fruchtbaren philosophischen Anregungen ferngehalten, sondern fühlte sich auch durch theologische Diskussionen gestört.19 Tatsächlich »entwickelten Theologen die Wissenschaft von Kalām, um ihre Feinde zum Schweigen zu bringen«.20 Daraufhin zieht er sich in Gräber und Ruinen in Einsamkeit zurück. Die spirituellen Entschleierungen erreichten ihren Höhepunkt, als er sagte, er habe »maqām al-qurbā«, was bedeutet, dass er die Gott am nächsten liegende Stufe bzw. die allgemeine Gottesfreundschaft erlangte.21 Lange Reisen beginnen: Er geht mit einem schwarzafrikanischen Freund namens Badr Ḥabašī nach Tunesien und schreibt dort das Buch Inšā ad-dawāir (Beschreibung der umfassenden Kreise) über die Stellung des Menschen im Universum. Die Besuche vieler Sufi-Persönlichkeiten, die er mit verstreuten Angaben in seinen Schriften einführt, wurden in Ägypten fortgesetzt und 1202 erreichte er schließlich Mekka. Er Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 459. Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 14, S. 463. 18 Ibn al-ʿArabī: Tadbīrāt al-ilāhiyya fī Iṣlāḥ al-mamlakat al-insāniyya, hrsg. von Ibrāhīm Kayyāle, Beirut 2003, S. 120. 19 Vgl. Addas, Claude: Quest for the Red Sulphur, The Life of Ibn ʻArabī, Cambridge 1993, S. 135 20 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 137. 21 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 9, S. 103. 16

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Kapitel I. Muḥyīddīn Ibn al-ʿArabī

begegnet neuen Inspirationen während seines Tawāf (Umkreisung) um die Kaaba, die er als das Herz der Welt bezeichnete. Dann heißt es: Eines Tages in einem ekstatischen Zustand stößt er geheimnisvolle Worte aus. Währenddessen klopfte eine Frau auf seinen Rücken und fragt: »Oh mein Herr, was hast du [gerade] gesagt?« Ibn al-ʿArabī rezitierte die Verse dann noch einmal.22 Die Frau reagiert darauf: »Du bist der Weise deines Zeitalters, aber was meinst du mit diesen Worten, die niemand versteht?«23 Ibn al-ʿArabī, der einen der seltsamsten Momente seines Lebens erlebte, blieb stumm und hörte, wie es heißt, den Kommentaren der mysteriösen Frau zu den Gedichten zu. Er fragte, wer die Frau sei, und bekam die Antwort »qurrat al-ʿayn« (Trost des Auges).24 So begann das Schreibabenteuer von 61 Gedichten, die er in seinem Werk Tarğumān al-ašwaq (Deuter der Sehnsüchte) sammelte. Der Adressat dieser Gedichte war ein Mädchen namens ʿAyn aš-Šams wa-l-Bahāʾ (die Quelle der Sonne und der Glanz), das den Spitznamen Niẓām Ibn al-ʿArabī, Muḥyīddīn: Fatḥ az-zaḫāir wa l-aġlāq šarḥ Tarğumān al-ašwaq, Dīwān Tarğumān al-ašwaq, hrsg. von ʿAbdurraḥmān al-Muṣṭāwī, Beirut 2005, S. 26–27. Vgl. Ibn ʿArabī: Deuter der Sehnsüchte, Tarjumān al-Ashwāq, übers. von Wolfgang Herrmann, Zürich 2013, Bd. 1, S. 53–54. 23 In Herrmanns Übersetzung: »ʿārif zamānika« wird als »Du, der du deine Zeit kennst« (Deuter der Sehnsüchte, S. 54) übersetzt, aber ich bevorzuge hier »den Weisen der Zeit« zu übersetzen, was bedeutet, einer der führenden Sufis seiner Zeit. 24 Im Prolog (von Tarğumān al-ašwaq) stellt er Niẓām als Tochter von Šayh Makīn dDīn vor, und einige Forscher sind der Meinung, dass Niẓām die Tochter von Makīn d-Dīn war, da sie diesen Ausdruck in dem von metaphorischen Ausdrücken dominierten Buch als Sprachspiel betrachten (Hirtenstein: The Unlimited Mercifier, S. 148, 149). Herrmann stellt in seiner Übersetzung fest, dass Niẓām eine byzantinische Konkubine von Makīn dDīn sein könnte (Ibn ʿArabī: Deuter der Sehnsüchte, S. 53, 54). Er beweist diese These mit der folgenden Zeile im sechsten Gedicht von Tarğumān al-ašwaq: »Eine Priesterin der Töchter Rums, bar der Zierde« (Ibn ʿArabī: Deuter der Sehnsüchte, S. 63). Meine Meinung nach waren die Frau qurrat al-ʿayn, die im Prolog des Buches als byzantinische Konkubine (min banāt- ir-rūm) eingeführt wurde, und Niẓām, an die Tarğumān al-ašwaq gerichtet war, verschiedene Personen. Denn in der Aussage, dass Ibn al-ʿArabī eindeutig feststellt, dass Niẓām die Tochter des Makīn d-Dīn aus Isfahan war, gibt es keine Worte, um meta­ phorische Konnotationen zu machen. Außerdem beziehen sich einige Couplets auf ihre Herkunft aus Isfahan (29:14). Ein weiterer Grund für die geringe Wahrscheinlichkeit, dass sie eine Konkubine war, ist, dass sie als Jungfrau »bint azra« bezeichnet wird. Wer könnte also die erstgenannte Frau sein? Während er die Frauen aufzählt, die er in Dīwān mit Iğāza (Diplom) autorisiert hat, erwähnt er eine Konkubine. Vgl. Ibn ʿArabī: Dīwān Ibn ›Arabī, hrsg. von Aḥmad Ḥasan Basağ, Beirut 1996, S. 55, 56. Wieder erwähnt er in Ad-Durra alFāḫira die Sklavin von Qāsim ad-Dawla in Mekka (Ibn al-ʿArabī: Sufis von Andalusien, S. 154). Diese Sklavin könnte die gleichnamige Konkubine (qurrat al-ʿayn) im Prolog von Tarğumān al-ašwaq sein. 22

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1. Leben und Denken

trägt. Niẓām, die für ihre außergewöhnliche Intelligenz und Schönheit gerühmt wird, war die Tochter des Mekka-Gelehrten Makīn d-Dīn Abū Šuğāʿ.25 Wir haben jedoch nicht ausreichend Informationen über die Persönlichkeit von Niẓām und die Beziehung, da die Liebe mit wilden Emotionen in einer literarischen und mysteriösen Gedichtsprache zum Ausdruck gebracht wird, die ziemlich schwer zu verstehen ist. Doch eindeutig hat er nach dieser Begegnung einen Perspektivenwechsel über die Beziehung zu Frauen vollzogen – er selbst drückt es wie folgt aus: »Als ich den Weg des taṣawwuf beschritt, war ich einer von denen, die Frauen und Geschlechtsverkehr als unangenehm empfanden. Ich blieb fast achtzehn Jahre in diesem Zustand, bis ich (die geistige) Station (maqām) sah (mušāhada). Nachdem ich durch den Ḥadīṯ erfahren hatte, dass Allāh den Gesegneten Propheten dazu gebracht hatte, Frauen zu lieben, machte ich mir Sorgen, dass ich wegen meiner Gedanken zu diesem Thema (wegen der Schüchternheit gegenüber Frauen, von Allāh) gequält würde.«26

In seiner mekkanischen Zeit traf er auf Wissenschaftlerinnen, die zum Teil auch Sufi-Meisterinnen waren. Von Faḫr‘ an-Nisā bint Rustam, der Schwester des Makīn d-Dīn, erhielt er das allgemeine Diplom (iğāzat ›ām), das die Befähigung zu allen islamischen Wissenschaften enthält.27 Er nahm am Ḥadīṯ-Unterricht von Yūnus bin Yaḥyā Hāšimī in Mekka teil und besuchte Abū Suʿūd in Bagdad, auf den er in seinem Buch al-Futūḥāt al-makkiyya viele Hinweise gab – beide waren Nachfolger von dem berühmten Sufi-Führer ʿAbd al-Qādir al-Ǧīlānī (gest. 1166). Als er 40 Jahre alt war, ging er erneut über Malatya nach Konya und traf den berühmten Mystiker Awḥāduddīn Kirmānī (gest. 1238). Er muss von dieser wichtigen Figur der persischen Mystik etwas über die Traditionen des östlichen Sufismus gelernt haben. Es gab eine enge Freundschaft zwischen ihm und Kirmānī, der als Reaktion auf seine Gedichte und Gesänge sie begleitete und Tänze (samā) in spiritueller Trance anleitete. Obwohl Ibn al-ʿArabī Kirmānīs sufische Art nicht akzeptierte, welcher auf der Freundschaft mit jungen Männern beruht – im persischen Sufismus als Zeugen (šāhidbāzī) bekannt –, vertraute Ibn al-ʿArabī ihm seinen Sohn für eine Weile an. Während seiner anatolischen Reisen traf er auch Bahā ad-dīn Walad (gest. 1231), den Vater des berühmten Dichters Ǧalāl ad-Dīn Rūmī (gest. 1273). 25 26 27

Ibn al-ʿArabī: Fatḥ az-zaḫāir wa l-aġlāq, S. 22, 23. Ibn alʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 4, S. 84. Ibn al-ʿArabī: Fatḥ az-zaḫāir wa-l-aġlāq, S. 22.

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Kapitel I. Muḥyīddīn Ibn al-ʿArabī

In einem seiner Gedichte in Tarğumān al-ašwaq impliziert er, dass die Liebe unerschöpflich ist.28 Er war 51 Jahre alt, als er wieder nach Mekka reiste und Liebe wieder auf der Tagesordnung steht. Seine Gedichte über weibliche Schönheit und Liebe haben unweigerlich in bestimmten Kreisen Anklang gefunden und in anderen entschiedene Reaktionen erhalten. Besonders durch die Kritik von Gelehrten in Aleppo bestanden seine engen Schüler darauf, dass er Kommentare zu seinen Gedichten schrieb.29 In seinem Kommentar Fatḥ zaḫāir wa-laġlāq stellt er heraus, dass die Allegorie auf die einzig wahre Schönheit Gottes und seiner Erscheinungen hinweist. Für den heutigen Leser ist es bemerkenswert, die Gedichte eines mittelalterlichen Gelehrten über die Faszination von Frauen zu lesen; es wäre genauso seltsam, diese Gedichte fast ausschließlich symbolisch zu verstehen. Eigentlich stellt er im Prolog von Tarğumān fest, dass die direkte Adresse der Gedichte Niẓām war: »Jeder Name, den ich in diesem Teil (ğuz) anführe (aḏkuru), spielt auf sie an, und mit jedem Haus, das ich beweine (andubu), meine ich ihr Haus.«30 Es muss auch berücksichtigt werden, dass die Adressatin all dieser Gedichte, Niẓām, in einer viel schwierigeren Situation gewesen sein muss. Manche Hinweise im Tarğumān deuten darauf hin, dass sie nach dem Treffen mit Ibn al-ʿArabī nach Bagdad umzog, um ihr restliches Leben in einem Ordenshaus zu führen.31 Eine andere Möglichkeit ist, dass sie Ibn al-ʿArabī heiratete und wahrscheinlich mit ihm reiste.32 Infolgedessen endeten die ständigen Reisen wahrscheinlich auf­ grund des fortgeschrittenen Alters und der Trauer über den Tod enger Freunde und er verbrachte die verbleibenden 17 Jahre seines Lebens in Damaskus. Nach dem Tod seines Freundes Sulṭān Muẓaffar überließ der ägyptische Herrscher Sultan Kāmil Jerusalem den Kreuzfahrern und machte sich auf den Weg nach Damaskus, was die Region in ein neues Chaos zog. Für diesen Zeitraum verwendet Claude Addas den Begriff Vgl. Ibn al-ʿArabī: Deuter der Sehnsüchte, S. 193 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 3, S. 562. 30 Dieser Satz bezieht sich direkt auf Niẓām mit dem arabischen (femininen) Pronomen »hā«. Aber die Aussagen, die diesem Satz folgen, und der allgemeine Stil des Kommentars zeigen offensichtlich, dass jede Hingabe in seinen Gedichten auf die göttliche Erhabenheit abzielt. Ibn al-ʿArabī: Fatḥ az-zaḫāir wa-l-aġlāq, S. 24; Vgl. Deuter der Sehnsüchte S. 45. Auch vernachlässigt er nicht, die folgende Warnung in Zeile 16 des Gedichts aufzunehmen, das dieser Aussage folgt: »Lass dich nicht täuschen von ihrem Äußeren, suche was ihr Inneres ist und davon lerne!« Fatḥ az-zaḫāir wa-l-aġlāq, S. 26. 31 Ibn al-ʿArabī, Fatḥ az-zaḫāir wa l-aġlāq, S. 35. 32 Vgl. Deuter der Sehnsüchte, S. 13. Hirtenstein gibt Couplet 3/10 an, wo es sicher ist, dass er nicht geheiratet hat, bis er nach Mekka kam. Hirtenstein: The Unlimited Mercifier, S. 150. 28 29

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»general silence«, weil Ibn al-ʿArabī sich vom Krieg zurückzog. Seine Stille könnte durch die Atmosphäre verursacht worden sein, dass Jerusalem wieder den Kreuzfahrern überlassen wurde. Obwohl Ibn al-ʿArabī das Verhältnis verschiedener Religionen anerkennt, hat er eine ziemlich harte Haltung gegenüber den Kreuzfahrern. Als Gelehrter gab er den Muslimen kein Fatwa (Rechtsauskunft), Jerusalem zu besuchen, weil es von den Kreuzfahrern besetzt war. Und er schrieb einen harten Brief gegen die tolerante Haltung des anatolischen seldschukischen Herrschers Kay­ kawūs gegenüber den Kreuzfahrern.33 In dieser Zeit der politischen Unruhen konzentrierte er sich darauf, seine Werke zu schreiben. In einem Traum, den er im Dezember des Jahres 1229 sah, befiehlt ihm der Prophet Muhammad, das Buch al-Fuṣūṣ al-Ḥikam (Ringsteine der Weisheit) zu verfassen. Durch die Erklärung der prophetischen Weisheit beim geistigen Aufstieg will es quasi ein mapping der Spiritualität zeichnen, die er in seiner gesamten Lebensge­ schichte bei Gottesfreunden beobachtet hat. So wird das Schreibaben­ teuer, das mit Tadbīrāt in Bezug auf die Herrschaft des menschlichen Daseins beginnt, mit Fuṣūṣ gekrönt, was die geistige Vollkommenheit des Menschen erklärt. 1231 wurde auch al-Futūḥāt al-makkiyya mit 20 Bän­ den fertiggestellt, und er wird den Rest seines Lebens damit verbringen, Unterricht aus diesen Werken zu erteilen. Das Vorlesen von Büchern bedeutete für ihn gleichzeitig spirituelle Führung, einschließlich der Interpretation der Offenbarung und Ḥadīṯ aus mystischer Sicht. In der Umgebung von Ibn al-ʿArabī glänzen seine Schüler und Novizen. Er hatte wohl keinen eigenen Orden gegründet, sein spiritueller Weg beinhaltet keine Zeremonien und Rituale, er doziert den Schüler, die zugleich seine Novizen waren, seine Texte. Sein außergewöhnlich intensives Leben, das mit Reisen, Studien, Schreiben und Unterricht verbracht wurde, endete am 9. November 1240 in Damaskus.

1.2. Einige Aspekte seiner Mystik Laut modernen Forschern und traditionellen Kommentatoren besteht kein Zweifel daran, dass sich Ibn al-ʿArabī in intellektuellen und sogar mystischen Aspekten von seinen Zeitgenossen unterschied. Im Rahmen Ibn al-ʿArabī, aš- Šayh al-akbar al-ʿārif bi-llāh al-ʿallāma Muḥyīddīn: Kitāb Muḥāḍarat al-abrār wa musāmarāt al-aḫyār fi-l-adabiyyāt wa-n-nawādir wa-l-aḫbār, Beirut 1968, Bd. 1, S. 32. 33

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Kapitel I. Muḥyīddīn Ibn al-ʿArabī

dieses Buchs wird die Eigenart der Lehre untersucht, aus der Ibn al-ʿArabī unterschiedliche Menschen- und Frauenbilder heraus entwickelt hat. Zunächst kann man dies in der Perspektive der islamischen Wissen­ schaften feststellen, was sich in der oben zusammengefassten Lebensge­ schichte widerspiegelt. Aus dem al-Futūḥāt al-makkiyya erfährt man, dass er keiner islamischen Rechtstradition folgte und mit seinem eigenen Urteil über Normen Gottesdienste verrichtete. Das gängige Verständnis wurde dagegen durch die Definition der wissenschaftlichen Identität der Gelehrten über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Lehrrichtung in der Rechtsnormenlehre (maḏhab) gebildet. Die Mālikiyya-Schule war in Andalusien und Nordafrika, wo Ibn al-ʿArabī aufgewachsen war, und die Ḥanafīya, Šāfiʿīya und Ḥanbalīya im Nahen Osten, Zentralasien und in Anatolien weit verbreitet waren. Einige Sufis in seinem Umfeld gehörten zur schiitischen Tradition Ǧaʿfarīya. Einige Forscher behaupten, dass er bestimmten juristischen Tradition angehörte, während andere ihn als unabhängigen Gelehrten betrachten, der die Kompetenz des iğtihād besaß. Iğtihād bedeutet Bestimmung der religiösen Normen durch eigen­ ständige Urteilsbemühung, und die Gelehrten, die diese wissenschaftli­ che Genehmigung haben, heißen muğtahid.34 Maḥmūd al-Ġurāb, der eine Studie über Ibn al-ʿArabīs Annäherung an Fiqh verfasste, behauptet, dass er als muğtahid keiner Sekte angehörte:35 Aus seiner Perspektive ist es nicht möglich, seine Herangehensweise an religiöse Praktiken auf eine Tradition zu beschränken, weder methodisch noch inhaltlich. Ihm zufolge hat Ibn al-ʿArabī, obwohl er gemeinsame Ansichten mit dem Gründer der zahiritischen Rechtstradition (Ẓāhirīya) Abū Muḥammad Ibn Ḥazm im Sinne von Fiqh hat, auch ihm widersprechende Ansichten. Im Gegensatz zu anderen Gelehrten hat Ibn al-ʿArabī viele eigenständige Urteile, vor allem in Anbetracht seines Leben, in dem er eine klare Hal­ tung hat, die immer die Aufforderung, in Gebeten innezuhalten, bevor­ zugt.36 Im 22. Teil des Werks al-Futūḥāt al-makkiyya, das als sein Testa­ ment für seine Nachfolger akzeptiert wird, empfiehlt er ständig ʿazīma in den Gebeten zu bevorzugen. Gegenüber ruḫsa (Erlaubnis) bedeutet ʿazīma die Pflichten in der schwerstmöglichen Weise einzuhalten. Weder in diesem Testament noch anderswo in seinen Schriften leitet er seine 34 Apaydın, Yunus: »İctihad« in Türkiye Diyanet Vakfı İslâm Ansiklopedisi, Band 21, Istanbul 2000, S. 432–445. 35 Vgl. Al-Ġurāb, Maḥmūd M.: al-Fiqh ʿinda aš- Šayh al-akbar Muḥyīddīn ibn al-ʿArabī, Damascus 1981, S. 5–8. 36 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 5, S. 508.

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Schüler an für eine Fiqh-Tradition: Ibn al-ʿArabī folgt keiner bestimmten Schule (in religiösen Praktiken) und sieht sogar die vorhandene Literatur zu den Gebetsbestimmungen (aḥkām) als unzureichend an.37 Ein Projekt zur Rechtsnormenlehre, das auf den esoterischen Bedeutungen der reli­ giösen Ritualen beruhte, wollte er verfassen, leider reichte sein Leben nicht aus, aber er hat eine Exegese in Bagdad verfasst, die die Hauptziele der Bestimmungen im Koran untersucht, die das tägliche und soziale Leben der Muslime leiten. Laut Nasr Hamid Abu Zaid gibt es nur wenige Denker in der islamischen Ideengeschichte, die so flexibel und zu einer originellen Koraninterpretation fähig waren wie Ibn al-ʿArabī. Wenn­ gleich er die Quelle seiner Interpretationen auf göttliche Inspiration stützt, kann er den Versen außergewöhnliche Bedeutungen geben. Nach Nasr Hamid liegt die Grundlage seiner neuen Interpretation in seiner starken Beherrschung der Buchstabenlehre und in den dieser Lehre zugeschriebenen gnostischen Bedeutungen.38 In Damaskus interpre­ tierte er die mysteriösen Bedeutungen der Worte des Propheten in den Vorlesungskreisen. Auch diese neue Initiative blieb von den zeitgenössi­ schen Sufis nicht unbemerkt. Rūmīs berühmter verlorener Freund Šams Tabrīzī erklärt, dass er an einer Ḥadīṯ-Lektüre von Ibn al-ʿArabī teilnahm, und beobachtete, wie sich die Koranverse mit der geheimen Bedeutungen der Ḥadīṯe überschnitten.39 Ein Spiegel seiner Bemühungen, die religiö­ sen Wissenschaften aus seiner eigenen Sicht neu zu interpretieren, kann auch in seinem spirituellen Leben gefunden werden. Diese Haltung, irgendeine Nachahmung (taqlīd) der praktischen Lehr- oder Interpreta­ tionsschulen zu vermeiden, manifestiert sich darin, dass er keinem anhal­ tenden Mentor (muršid) oder keinem spirituellen Weg im taṣawwuf folgt. Er stand mit den Novizen von Abū Madyan und al-Ğīlānī in Kontakt und lernte deren spirituelle Verständnisse, er scheint aber seine sovunäre Haltung bewahrt zu haben. Wenngleich es möglich ist, ähnliche Haltun­ gen bei historischen Sufi-Gestalten anzutreffen, steht hinter der praxis­ bezogenen Differenzierung das Bestreben Ibn al-ʿArabīs, seine ursprüng­ liche Lehre weiterzuentwickeln. In seinem Zeitalter wurde allerdings die Suche nach neuen Interpretationen religiösen Wissens nicht erst von Ibn al-ʿArabī durchgeführt. Ungefähr ein halbes Jahrhundert zuvor beob­ 37 Vgl. Winkel, Eric: »Ibn ›Arabi’s Fiqh: Three Cases from the Futūhāt«, in: Journal of the Ibn al-ʿArabī Society, Bd. 13, 1993, S. 54–74. 38 Vgl. Abū Zaid, Naṣr Ḥāmid: Falsafat at- taʾwīl, Dirāsa fī taʾwīl l-qurān ʿinda Muḥyīddīn ibn ʿArabī, Beirut 1983, S. 11–45. 39 Vgl. Omid Safi, »Did the Two Oceans Meet? Connections and Disconnections between Ibn al’A rabi and Rumi«, in: Journal of the Ibn al-ʿArabī Society, Bd. 26, 1999, S. 55–57.

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achtet man eine ähnliche Haltung bei Abū Ḥāmid al-Ġazzālī. Er nannte sein Werk Iḥyā ʿulūm ad-Dīn (Wiederbelebung der religiösen Wissen­ schaften), in dem er fast alle religiösen Disziplinen aus seiner eigenen Sichtweise interpretierte. Er beansprucht, den transformativen Einfluss des antiken Denkens auf die Religion zu brechen und den islamischen Wissenschaften Leben einzuhauchen. Auch wenn das Iḥyā-Projekt sich auf die sufische Ethik konzentriert, beachtet es sorgfältig die Grenzen der führenden Theologie bzw. Ascharitischen Tradition in Bezug auf Glau­ benslehre (Kalam) und der Schafiitischen-Schule im Hinblick auf die Regulierung der religiösen Praxis (Fiqh). Ibn al-ʿArabī hat ein ähnliches Bestreben wie die Initiative von al-Ġazzālī, überschreitet jedoch die Grenzen von Kalam-wissenschaftlichen Traditionen, darüber hinaus besteht sein Projekt das er al-Futūḥāt (Eröffnungen) nannte darin, den Sufismus in Mittelpunkt zu stellen, nicht nur im Hinblick auf das Moral­ verständnis, sondern auch auf die Vorstellung der Glaubenslehre sowie auf ihre Reflexion in der Praxis. Schon lange erkannten seine Kritiker die Rolle von Ibn al-ʿArabī bei der Entwicklung des taṣawwuf als andersartiges Konzept zur Inter­ pretation religiösen Wissens gegen Theologie und Philosophie. Ibn Ḫaldūn (gest. 1406), besser bekannt für seine Geschichtsschreibung und Gesellschaftstheorie, gibt Ibn al-ʿArabī‘s Stelle in der Ideengeschichte auf bemerkenswerte Weise wieder. Laut Ibn Ḫaldūn hat die Bildung religiöser Sprache und des Denkens im Einklang mit dem antiken philosophisch-wissenschaftlichen Erbe zur Entstehung verschiedener religiöser Ideen geführt. Die Interferenz (tadāḫul) des philosophischen Denkens in die islamische Welt führte zur Transformation der KalamWissenschaften, indem die Prinzipien des Glaubens zum Gegenstand metaphysischer Debatten gemacht wurden. Auch der taṣawwuf, der mit Frömmigkeit und asketischer Orientierung begann, drehte sich um neue Sprachen und Begriffe, die durch die Begegnung mit antiken Kulturen verursacht wurden. Ibn Ḫaldūn macht auf die intellektuellen Konzeption des taṣawwuf aufmerksam, die ursprünglich moralische Prinzipien auferlegte. Im Zusammenhang der Veränderungen in der islamischen Geistlichkeit erwähnt er die neuen intellektuellen Sufis mit »asḥāb at-tağallī« (die Gemeinschaft der Manifestation) und begründet die Degeneration der Geistlichkeit mit der durch Ibn al-ʿArabī bekannt gewordenen Theorie über Gottesfreundschaft.40 Ibn Ḫaldūn reagiert 40 Vgl. ʿAbd ar-Raḥmān ibn Muḥammad Ibn Ḫaldūn: Šifā’us-Sāil, hrsg. von M. Tawit atTanğī, Ankara 1958, S. 159.

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damit auf den Umgang mit philosophischen Fragen, besonders auf die Fragen nach Sein und Kosmologie, und deren Abweichung von der gängigen Theologie.41 Ibn al-ʿArabīs Versuch, den taṣawwuf von anderen Gedankentradi­ tionen zu befreien, entwickelte sich hauptsächlich mit dem Schwerpunkt auf Überlegenheit in Bezug auf Quellen der Erkenntnis. Wie später diskutiert werden wird, ist für Ibn al-ʿArabī die moralische Reifung, die durch die Entdeckung und Erfahrung der eigenen Göttlichkeit erreicht wird, gleichzeitig ein Erwerb von Wissen: Der Sufi erlebt die Reflexionen der göttlichen Namen, derart entstehen in seinem Herzen geoffenbarte Erkenntnisse. Seine erkenntnistheoretische Konstruktion des taṣawwuf basiert also nicht auf bloß vernunftmäßigem, sondern auf eingegebenem Wissen. Dass der junge Sufi auf den tiefen Unterschied zwischen mysti­ scher Eingebung und philosophischem Denken in der Begegnung mit Ibn Rušd hinwies, kann in diesem Zusammenhang betrachtet werden. So tritt er in der Einführung von al-Futūḥāt al-makkiyya in einen Vergleich über die Quellen des Wissens ein und kritisiert die rationale Methode der ahl an-Naẓar (Theoretiker): »Al-Futūḥāt al-makkiyya ist ein Werk, das sich auf die göttliche Erleuchtung bezieht und nicht nach vernünftigen Argumenten sucht«.42 Zufolge ihm spricht ein Sufi über Gott direkt durch göttliche Inspiration, während der Philosoph (und der Theologe) über Gott auf der Grundlage des durch rationale Schlussfolgerungen erlangten Wissens sprechen.43 Ibn al-ʿArabī erklärt daher, dass Theoretiker im Hinblick auf das Verständnis der Religion zunächst getäuscht werden: Bei der Interpretation des göttlichen Wortes reduziert die auf Vernunft basierende Interpretation die Absicht des eigentlichen Besitzers des Wor­ tes (Gott) auf eine sekundäre Position.44 In dieser Hinsicht konzentriert sich die rationale Methode eher auf das, was der Verstand versteht, als auf das, was der Text sagt.45 So ist seine grundsätzliche Beurteilung einer auf Vernunft beruhenden Auslegung (ta’wīl) der Theoretiker, dass auch im theologischen und philosophischen Diskurs der Intellekt als Maßstab des 41 Vgl. Morris, James: »An Arab Machiavelli? Rhetoric, Philosophy and Politics in Ibn Khaldun’s Critique of Sufism«, in Harvard Middle Eastern and Islamic Review, Bd. 8, Har­ vard 2009, S. 242–291. 42 Ibn ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 73. 43 Vgl. Ibn al-ʿArabī: Kitāb al-fanā, in: Rasāi’l Ibn ʿArabī, hrsg. von ʿAbdulkarīm al-Manrī, Beirut 2001, S. 17–18. 44 Er behauptet, dass der Interpret seine eigene Auslegung in den Mittelpunkt stellt: vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 660. 45 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 21–22.

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Erkennens des Göttlichen dient. Doch wenn die Erkenntnis des Intellekts unter der Möglichkeit von Irrtum und Wahrheit steht, kommt es auf die Intuition im Herzen als definitive und notwendige Kenntnis an.46 Mit der Vorrangstellung des Herzens vor dem Verstand unterstreicht Ibn al-ʿArabī zweifellos die Überlegenheit der göttlichen Offenbarung gegenüber dem philosophischen Denken. Es scheint, als würde er eine Art Antwort auf al-Fārābī’s (gest. 952) Philosophen-Propheten-Vergleich entwickeln, der vor ihm intensive Debatten auslöste. Im Allgemeinen nehmen Peripatetiker an, dass der Philosoph die metaphysischen Wahr­ heiten erfassen kann, die der Prophet durch Offenbarung erlangt hat. Andererseits kritisierte al-Ġazzālī in al-Munqiḏ min aḍ-ḍalāl scharf diesen Ansatz, der den Propheten und den Philosophen verglich. Ibn al-ʿArabī folgt al-Ġazzālī und versucht zu rechtfertigen, warum Offenba­ rung – beziehungsweise manifestiertes Wissen im Gottesfreund – der philosophischen Erkenntnis überlegen ist. Während die philosophische Kontemplation eine Anstrengung ist, die göttliche Unendlichkeit inner­ halb der kreatürlichen Grenze zu verstehen; ist das Herz der Mystik die direkte Widerspiegelung der Unendlichkeit.47 Aus diesem Grund ist es dem Philosophen nicht möglich, die Wahrheit zu erreichen, die der Prophet und sein Erbe (Gottesfreund) erreicht haben. Diese Haltung ist genau der Hintergrund in der »Nein« -Antwort auf Ibn Rušd. Doch ist es ziemlich klar, dass Ibn al-ʿArabī von der philosophischen Literatur beeinflusst wurde bei seinem Bemühen um Differenzierung und Kritik (gegenüber der Philosophie), zum Beispiel von Ibn Sīnā (gest. 1037), dem berühmten Nachfolger von al-Fārābī.48 Man kann Spuren von Ibn Sīnā in einem weiten Bereich vom Seins-Begriff bis zur Manifestationstheorie finden. Vor allem ist mit der Internalisierung metaphysischer Fragen das zentrale Problem des taṣawwuf zum Begriff des »Seins« geworden. Außerdem verwendet Ibn al-ʿArabī Ibn Sīnās Grundlegung hinsichtlich der Relationen zwischen Gott und Mensch. Der erkenntnistheoretischen Kritik an Wissensquellen so wie der Inkompetenz des rationalen Denkens folgt eine ontologische Kritik an der Teilung der Existenz. Ibn al-ʿArabī wird die Einheit des Seins gegen die theologische Transzendenz befürworten, die Gott und die Welt mit scharfen Linien in getrennte Ebenen des Seins teilt. Es ist eine Onto­ Vgl. Ibn al-ʿArabī: Kitāb at-tağalliyāt, in Rasāi’l Ibn ʿArabī, S. 421. Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 377. 48 Über den Einfluss von Ibn Sīnā: Dagli, Caner: Ibn al-›Arabī and Islamic Intellectual Culture from Mysticism to Philosophy, New York 2016, S. 48.

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logie, die die menschliche Tugend und Einheit in Gott harmonisiert, weil die Geburt des gesündesten Wissens im Herzen nur mit einer spirituellen Perfektion möglich ist, die zur Einheit mit Gott führen wird.49 Für Ibn al-ʿArabī bietet die seinsmäßige Einheit des Menschen mit Gott sowohl wahres Erkennen als auch moralische Reifung. In diesem Zusammenhang erhob sich eine härtere Kritik: Ḥadīṯ-Wissen­ schaftler, Rechtsgelehrte wie Taqī ad-Dīn Aḥmad Ibn Taymīya (gest. 1328) und Theologen wie Saʿdaddīn at-Taftāzānī (gest. 1390) kritisier­ ten seine Annäherung, die direkt auf der Integrität von Existenz und Erkenntnis beruht. Die erkenntnistheoretische Kritik von Ibn Ḫaldūn und die Ontologie-basierte Kritik von Ibn Taymīya stehen somit der lehrmäßigen Unabhängigkeit der Mystik – eigenständigen Lehre von Sein und Erkenntnis und folglich der Neubewertung der religiösen Wissenschaften entgegen. Aus diesem Grund betont Franz Rosenthal zu Recht Ibn al-ʿArabī‘s auf Basis von Enthüllung (kašf ) und göttlicher Eingebung (ilhām) gründunden epistemologische Vorgehensweise als alternatives Konzept zur rationalen Methode des religiösen Denkens.50 Selbst Ibn al-ʿArabī bezeichnet diese mystische Erkenntnislehre als ʿilm sirrī (geheime Wissenschaft), ›ilm ilāhī (die göttliche Erkenntnis) und ma’rifat Allāh (Erkenntnis Gottes)51, die durch Erfahrung der Manifesta­ tionen eines göttlichen Seins erreichte intuitive Erkenntnisse beinhaltet. Ibn al-ʿArabīs Bestreben, den Sufismus von Theologie und Philo­ sophie lehrmäßig zu trennen, bestand nicht nur darin, seine Überlegen­ heit in Religion und Leben zu beweisen, sondern auch darin, einen systematischen Ansatz auf der Grundlage des Sufismus in fast allen wissenschaftlichen Bereichen zu etablieren. Auch wenn es sich um einen neuen Versuch der systematischen Gestaltung der mystischen Lehre handelt, hat die ursprüngliche Haltung der Sufis eine historische Dynamik.52 Die Entwicklung des Sufismus wurde als Reaktion auf die geltenden Bestimmungen der Religiosität betrachtet. Wissenschaftler wie Annemarie Schimmel haben die Meinung vertreten, dass sich der Sufismus in erster Linie als Reaktion auf die Entfaltung der städtischen Religiosität und ihre Reduzierung auf äußere Dimensionen entwickelt Hajatpour: Sufismus und Theologie, S. 14–16. Vgl. Rosenthal, Franz: »Ibn al-ʿArabī between Philosophy and Mysticism«, in Oriens, Bd. 31, Leiden 1988, S. 3–4. 51 Vgl. Chittick, William: The Sufi Path of Knowledge. Ibn al-Arabi's Metaphysics of Imagination, New York 1989 S. XVIII-XXII. 52 Vgl. Schimmel, Annemarie: Mystische Dimensionen des Islams, Köln 1985, S. 23–42. 49

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hat. Es ist jedoch schwer zu sagen, dass der Sufismus, der sich als Lehre der moralischen und spirituellen Perfektion entwickelt hat, vor Ibn alʿArabī ein eigenständiges theologisches System hatte. Die maßgeblichen Traditionen des Mittelalters hatten bereits ihre eigenen Denkstrukturen entwickelt, aber die Stimme des Sufismus wurde nicht ausreichend reflektiert, bis Ibn al-ʿArabī die mystische Lebensweise in einem meta­ physischen Rahmen präsentierte. Eigentlich ist sich er bewusst, dass der Sufismus mittels seiner Initiative eine solche Transformation erlebte, denn er betrachtete sich selbst als zur taṣawwuf gehörig, trennte aber auch zwischen »Sufis und uns«, um den Unterschied seiner Lehre von gemein­ samen Strömungen zu betonen.53 Das bezieht sich auf die »muḥaqqiqūn«, die einen kompetenteren spirituellen Aspekt haben als die gewöhnlichen Sufis.54 Wenngleich die sufische Tradition bereits eine eigene innere Vielfalt hat, wird von Ibn al-ʿArabī eine Wende der Sprache und des Stils durchgeführt.55 Die meist durch Poesie vermittelten Ideen über menschliche Erfahrung wurden von ihm in einer mit dem philoso­ phischen Stil konkurrierenden Art verfasst. Diese Sprache, auf der die Einheitslehre aufbaut, wird deutlich beim Seins-Begriff.

2. Lehre des Seins und der Kosmologie 2.1. Von ›finden‹ zu ›existieren‹: semantische Vielfalt des SeinsBegriffs Ibn al-ʿArabīs neue Konzeption von taṣawwuf beruht sowohl auf ori­ ginellen Begriffsverwendungen als auch auf dem Bedeutungswandel bisheriger Begriffe, die anhand einer semantischen Methode vom japa­ nischen Islamwissenschaftler Toshihiko Izutsu (gest. 1993) analysiert wurden. Izutsu bezieht vor allem jene Denksprachen und Ideensysteme auf eine Weltanschauung, in der ein Fokuswort eine entscheidende Stelle einnimmt. Dieser zentrale Begriff ist verknüpft mit den Schlüs­ Zum Beispiel: »al-wārid ʿinda l-kawmi wa-indanā« »nach uns und nach der (Sufi-)Gemeinschaft«, Ibn ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 6, S. 646. 54 Später wird sein Schüler Qūnawī die Nachfolger von Ibn al-ʿArabī als muḥaqqiq defi­ nieren und sie von anderen Sufis unterscheiden. Qūnawī, Sadr ad-dīn: Miftāḥ ġayb alğāmʿi wa-l-wuğūd, hrsg. von Ekrem Demirli, Wiederausgabe der originalen Handschrift in der Bibliothek Sulaymaniya, Istanbul 2014, S. 40–42. 55 Vgl. Dagli: Ibn al-›Arabī and Islamic Intellectual Culture, S. 144. 53

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selbegriffen, den fundamentalen Ideen; dadurch entsteht ein eigenes semantisches Netzwerk. Wenn ein Fokuswort einen Bedeutungswandel erfährt, erscheint dieser Wandel zuerst in den Schlüsselbegriffen.56 Aus dieser Perspektive steht die ontologische Bestimmung als Gegenstand der Mystik im Vordergrund von Ibn al-ʿArabīs Metaphysik, ist aber zugleich eine Transformation der bisherigen begrifflichen Fassung in eine neue epistemologische Herangehensweise. Das erste inhaltlich veränderte Fokuswort war bei ihm der Seins-Begriff, danach erhielten Schlüsselbe­ griffe wie Gott, Welt und Mensch neue Bedeutungen.57 Die Tatsache, dass der Begriff des Seins ein Fokuswort ist, ist in der mittelalterlichen Gedankenwelt keineswegs unbekannt. Dieser Begriff, das als griechisches Lehnwort in der Geistesgeschichte des Islam etabliert wurde, wurde (vor Ibn al-ʿArabī) auch von al-Ġazzālī in das taṣawwuf eingeführt. Al-Ġazzālī – obwohl er kritisch war – erbte es wie seine Zeitgenossen von Ibn Sīnā, der die Verwendung des Begriffs bestimmte und das Seins-Problem in die islamischen Ideengeschichte einführte.58 Ibn Sīnā entwickelte – aber veränderte auch zugleich – die aristotelische Metaphysik in Form und Inhalt und ist damit zu einer unverzichtbaren Ressource für theo­ logisches Bestreben im Islam sowie im christlichen Westen geworden. Die Einbeziehung des Themas Gott in die metaphysische Analyse und die Berücksichtigung des Sein-Begriffs im Gottesbeweis ist einer der Hauptgründe dafür, dass Ibn Sīnā die Quelle für späteres gedankliches Engagement ist. Er beginnt sein berühmtes Werk al-Išarāt wa-t-tanbīhāt mit metaphysischen Beweisen und behandelt den Begriff des Seins. Spuren dieses Hintergrunds sind in Seinslehre und Kosmologie von Ibn al-ʿArabī zu finden. Zuallererst legte die Abstraktion der Existenz aus dem Existierenden und der Dinge aus der Dinglichkeit (die Quiddität genannt werden wird) von Ibn Sīnā den Grundstein für Ibn al-ʿArabīs Begriffsbildung. Weil die Kategorisierung des Existierenden bei Ibn Sīnā als notwendiges oder mögliches (Seiendes) unter Berücksichtigung des eigenen Selbst des Existierendem erfolgte, musste sie auch bei Ibn al-ʿArabī im Kontext

Vgl. Izutsu, Toshihiko: God and Men in the Qur’an. Semantics of the Qur’anic Weltan­ schauung, zweite Ausgabe, Petaling Jaya 2008, S. 4–11; Ethico Religious Concepts in the Qur’an, Montreal 1959, S. 3–16. 57 Vgl. Izutsu, Toshihiko: Sufism and Taoism, Los Angeles 1983, S. 1–6, 110, 197, 218. 58 Vgl. Dagli: Ibn al-›Arabī and Islamic Intellectual Culture, S. 48–49. 56

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der Beziehung zwischen Sein und Seiendem diskutiert werden.59 In Berufung auf Aristoteles sieht Ibn Sīnā den Zweck der Philosophie im »Seienden, insofern es seiend ist«. Durch die inhaltliche Transformation dieses Konzepts baut Ibn al-ʿArabī seine Lehre auf die Identifizierung des Seins mit Gott (Ḥaqq). Gott ist das erhabene Prinzip des Seins und damit das einzige prävalente Wesen, das als Sein bezeichnet werden kann: »Das Sein ist nichts anderes als Ḥaqq, er ist das Sein selbst.«60 So wird die Terminologie von Ibn Sīnā: »das Sein in puncto seines Wesens ist Sein« zu »das Sein in puncto seines Wesens ist Ḥaqq« konvertiert.61 An dieser Kreuzung von Philosophie und Mystik entwickelt Ibn al-ʿArabī die Lehre von der Einheit des Seins, indem er Gott mit dem Fokuswort »das Sein« identifiziert. Das Wort wuğūd, das im Arabischen allgemein verwendet wird, um Sein zu entsprechen, leitet sich vom Verb wağada (finden) ab. Im philosophischen Denken scheint es eine Wende vom Finden zum Sein zu geben, wobei Ibn al-ʿArabī ausgehend vom etymologischen Ursprung eine Beziehung zwischen »Finden« und »Sein« herstellt.62 In der sufischen Literatur leitet sich das Wort wağd, das einen spirituellen Zustand ausdrückt, (ebenfalls) vom Verb wağada ab. Wağd – oder tawāğud – ist der Zustand von Herzklopfen, der dazu führt, dass der Sufi im spirituellen Rausch ohnmächtig wird.63 So wird der höchste Zustand der Ekstase, in dem sich der Sufi vollständig Gott hingab, wuğūd genannt. Indem er sich in Gott verliert, entwird ( fanā), schaut er (Manifestationen von) Ḥaqq in seinem verborgenen Inneren (bāṭin) an. Ibn al-ʿArabī begründet den ekstatischen Zustand durch die folgende prophetische Übermittlung von Allah:

McGinnis, Jon: Avicenna, New York 2010, S. 149–53. Siehe dazu: Germann, Nadja: »Avicennas Metaphysik«, in: Islamische Philosophie im Mittelalter, hrsg. von H. Eichner, M. Perkams, C. Schäfer, Darmstadt 2013, S. 253–258. 60 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 12, S. 266. 61 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 118. Für Qūnawīs Begriffsbildung von »al-wuğūd min hayṯu huwa huwa Ḥaqq« siehe: Qūnawī: Miftāḥ al-ġayb, S. 6. Vgl. Demirli, Ekrem: İslam Metafiziğinde Tanrı ve İnsan, İbn’ül Arabi ve Vahdet-i Vücud Geleneği, İstanbul 2008, S. 89–110. 62 Als Kommentator setzt ʿAbd ar-Razzāq Kāšānī (gest. 1335) in seinem Lexikon der sufischen Begriffe das Wort wuğūd in seiner ursprünglichen Bedeutung, nämlich »Fin­ den«, mit spiritueller Selbstfindung gleich »Wiğdān al-Ḥaqq ḏātuhū bi-ḏātihī«. Kāšānī, ʿAbd ar-Razzāq: Iṣṭilāḥāt aṣ-ṣūfiyya, Muwaffaq Fawzī al-Ğabr, Damaskus 1995, S. 73; vgl. Al-Ağam, Rafīq: Mawsūʿa al-Muṣṭalahāt at-Taṣawwuf al-İslāmī, Beirut 1999, S. 1030–1031. 63 Vgl. Tahānawī, Muḥammad ʿAlī: Mawsūʿa Kašf al-Iṣṭalahāt al-Funūn wa-l-ʿulūm, Bd. 2, Beirut 1996, S. 1758. 59

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»Und wenn Ich (Gott) ihn (Menschen) liebe, dann bin Ich sein Hören, mit dem er hört, und sein Sehen, mit dem er sieht, und seine Hand, mit der er zupackt, und sein Fuß, mit dem er geht.«64

In diesem von Ibn al-ʿArabī häufig überlieferten Ḥadīṯ wird betont, dass sich der Wille Gottes aus der Haltung einer Person erkennen lässt, die in der spirituellen Einheit mit Gott war. Der Sufi, der diesen Zustand erreicht, findet Manifestationen göttlichen Namens in sich selbst und so entdeckt er weiter seine inhärente verborgene Identität: Er findet heraus, dass es in seinem geistigen Bereich kein anderes Wesen als Ḥaqq gibt, und wenn er begreift, dass er nicht nur in Bezug auf die Seele, sondern auch seine eigene Körperlichkeit von Gott geschaffen wurde, schreibt er seine Existenz vollständig Ḥaqq zu. Denn die von den Sinnen wahrgenommene Außenwelt wird der göttlichen Schöpfung verdankt, und die Innenwelt des Menschen ist der Schauplatz göttlicher Manifestationen nach Art von Ideen und Emotionen. Das Verhältnis dessen, was der Mensch in sich selbst findet, zum göttlichen Sein, legitimiert der folgende Vers im Koran: »Wir werden ihnen Unsere Zeichen (āyāt) am Kosmos (āfāq) und in ihnen selbst (anfus) zeigen, bis es ihnen offenbar wird, daß es die Wahrheit ist«. (Koran, 41:53)

Das Wort »āfāq« in dem Vers bezieht sich auf den Makrokosmos (das Universum) »anfus« auf den Mikrokosmos (den Menschen), und beide beziehen sich auf die Zeichen (āyāt) der wirkenden göttlichen Namen: bei Ibn al-ʿArabī die Manifestationen (tağalliyāt). Der Ausdruck »bis es ihnen offenbar wird« weist auch darauf hin: »zu finden«, was darin verborgen ist. Der Sufi entschleiert, was innen offenbart wird, und zugleich erlebt er es, und das Erkennen begleitet dieses Erleben. Mit anderen Worten, er erfährt gleichzeitig, was er findet, und wird es sogar selbst. In einem von Ibn al-ʿArabī häufig zitierten Ḥadīṯ sagt der Prophet: »Wer sich selbst kennt (ʿarafa), kennt seinen Gott«. Selbsterkenntnis hat zunächst eine eher spekulative Konnotation, als würde man in das eigene Innere eintauchen. Für Ibn al-ʿArabī ist dies nicht ein pures reflektives Denken oder ein Gefühl, das von Handlungen unabhängig ist, sondern das Bewusstsein einer Integrität von dem, was in der externen und internen Erfahrung offenbart wird. So wurde der Begriff des Seins entwickelt, indem dem etymologischen Ursprung ein mystischer Inhalt hinzugefügt wurde, der verschiedene Existenzebenen umfasst, bis zu 64

Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, hrsg. von Ibrāhīm Kayyāle, Beirut 2003, S. 41.

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dem, was der Mensch im Außen und in sich selbst findet, erlebt und erkennt. In Anbetracht dieser Bedeutungsbreite warnte William Chittick zu Recht, dass hier gegenüber der Ibn Sīnā-Tradition ein Begriff vorliegt, das sowohl Sein als auch Bewusstsein umfasst.65 Für Ibn Sīnā kann Gott sich nur selbst erkennen, da es kein anderes erkennendes Sein als Gott selbst gibt, und von diesem Standpunkt aus betrachtet ist das, was das Sein in sich selbst findet und weiß, nach Ibn al-ʿArabī seine eigenen Namen und Attribute. Somit ist der gemeinsame Erkenntnispunkt sowohl für Gott als auch für den Menschen die Gleich­ heit des gefundenen Wesens. Wie Gott eigene Namen findet, die ihm gehören, so findet der Mensch Namen Gottes in sich. Das Gefundene ist also nichts Anderes als das, was um das Sein selbst weiß. In diesem Zusammenhang gibt Ibn al-ʿArabī die folgende Aussage wieder, die der Prophet von Allah übermittelt hat: »Ich war ein verborgener Schatz. Ich wollte erkannt werden und habe daher die Welt erschaffen.«66

Nach Ibn al-ʿArabī ist es das göttliche Selbst, das im Ḥadīṯ als verborgener Schatz ausgedrückt wird, und sein Wunsch, erkannt zu werden, ist die Offenbarung seiner göttlichen Namen durch die Erschaffung der Welten. Da das Erkannte (Göttliche Namen) dasselbe ist wie der Erken­ nende (Gottes Selbst), kann nur eine Entität erwähnt werden. Je nach Standpunkt unterscheiden sich die göttlichen Namen, die im Universum reflektieren, und die Namen im Selbst Gottes nicht. Wiederum sind die Attribute, die der Mensch in sich selbst – sowie im Universum – findet, die Namen, die aus Gottes geheimem Schatz ans Licht kommen. Somit haben die göttlichen Namen von Gott zum Universum und zum Menschen dieselbe Wahrheit, wenn auch in unterschiedlichen Existenzgraden; und so kommen sie in der gleichen Idee des Seins in Bezug auf Finden (Erfahren), Erkennen und Existieren zusammen. Daher kann man über das Seins als einzigen universalen Begriff sprechen, der alle Ebenen des Existierens umfasst. Ibn al-ʿArabī weist auf vier Verwendungen des Begriffs hin, die auf menschlicher Erfahrung beruhen: Das erste ist das 65 »Using a typical way of distinguishing between being and existence in English, we might say that wujud means Being when referring to God and existence when referring to anything other than God. But in Ibn ›Arabi’s usage of the word, it is often unclear if he means God’s wujud, the world’s wujud, or simply wujud without specification«. Chittick, William: Heir to the Prophets, London 2005, S. 36. Vgl. Ghandour, Ali: Die theologische Erkentnnislehre Ibn ʿArabīs, Hamburg 2018, S. 78. 66 Ibn ʿArabī: Die Weisheit der Propheten, S. 131.

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Sein von Ḥaqq, das Existieren im absoluten Sinn bedeutet: »Sein Sein ist nichts als sein Selbst. Das Selbst des Seins kann jedoch nicht (vom Menschen) erkannt werden«. Das zweite sind die göttlichen Attribute, die auch als universelle Wahrheiten bezeichnet werden die »ihm zugeschrie­ benen Attribute können bekannt sein«. Das dritte ist das Ergebnis dieser Attribute, die Existenz des Universums, »das größte bekannte Eigentum«. Das vierte, das ›Sein‹ genannt wird, ist »der Mensch, den (Gott) zur Verfügung gestellt und in diese Welt gebracht hat«. Unter dem Sein werden diese vier Bestandteile verstanden, ohne dass etwas ausgeschlossen wird. Der Grund, warum diese vier verschiedenen Existenzgrade in einem einzigen Seins-Begriff zusammengefasst sind, ist ihre notwendige ontische Beziehung untereinander.67 Auf diese Weise ist es nach dem Begriff des Seins nicht möglich, diesen nach ontologischen Bedingungen zu zerlegen. In den theologi­ schen Traditionen wurden jedoch Kategorien erstellt, um den scharfen Existenzunterschied zwischen dem absoluten Schöpfer und der mögli­ chen Kreatur anzuzeigen. Für Ibn al-ʿArabī ist die Verwendung des Begriffs des Seins für Dinge, die in einem Sinne grenzenlos (Gott) und in dem anderen begrenzt (Kreatur) sind, widersprüchlich. Er sieht die Konzeptualisierung auf der Grundlage solcher Kategorisierung für falsch an und identifiziert den Begriff mit Gott, um dies zu überwinden. Weithin folgerte man daraus: Wenn nur Gott ist, existiert alles andere nicht wirklich. Diese Meinung über Ibn al-ʿArabī rückte ihn in die Nähe des Pantheismus.68 Was in derartigen Behauptungen übersehen wird, ist die inhaltliche Transformation des Begriffs, auf das Izutsu hinweist. Der Bedeutungswandel des Fokuswortes impliziert auch die Transformation der Schlüsselbegriffe, die seine Zweige bilden: Die Worte Gott und Mensch können wie das Sein nicht mit dem Verstand im Rahmen der klassischen Theologie aufgefasst werden. Die Identifikation von Gott und Sein ist nicht die Identifikation von allem Existieren, daher allen Seins-Zuständen. Für Ibn al-ʿArabī bedeutet die Tatsache, dass Gott Sein ist, nicht, dass das Universum nicht existiert. Wenn das, was nicht selbst existiert, nicht als Sein betrachtet werden kann, aber immer noch existiert, scheint es einen Widerspruch zu geben. Aus diesem Grund waren laut Ibn al-ʿArabī die Theologen verwirrt, als sie den Kreaturen das Sein zuschrieben. Um dieses Problem zu überwinden, erfindet er eine Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 363. Über die Debatte Pantheismus bei Ibn al-ʿArabī siehe: Nasr, S. Hossein: Three Muslim Sages, dritte Ausgabe, New York 1997, S. 102–105.

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Situation zwischen Existenz und Nichtexistenz: Der Zwischenzustand »barzaḫ«, was wörtlich die Barriere zwischen zwei Dingen bedeutet, beschreibt auch die Zwischenzone zwischen Himmel und Hölle oder den Übergangszustand zwischen der Erde und dem Jenseits. Das erinnert uns an Dantes berühmte Beschreibung des Fegefeuers. Ibn al-ʿArabī aber ver­ wendet das Wort barzaḫ, um den Zwischenzustand von all dem auszu­ drücken, dem nicht eindeutig Existenz oder Nicht-Existenz zugeschrie­ ben werden kann. »Es existiert« ist also eine Prämisse, die die Möglichkeit von Wahrheit und Falschheit zugleich beinhaltet. Denn ein Gegenstand existiert nämlich nicht im Verhältnis zu sich selbst, sondern nur im Ver­ hältnis zu Gott.

2.2. Gott und Welt: Modus und Grund der Seinsgabe Gemäß Ibn al-ʿArabīs Bedeutungszuschreibung kann gesagt werden, dass sein Seins-Begriff wuğūd auf menschlicher Erfahrung (zu finden) beruht. Als Grundidee das Sein umfasst alle menschlichen Dimensionen, von der Entdeckung der eigenen Innerlichkeit – was auf Arabisch aus demselben Wurzel als wiğdān (Gewissen) ausgedrückt werden kann –, bis zur mit seinen Sinnen wahrgenommen Äußerlichkeit. Innerliche und äußerliche Seiten kommen beide in einem einzigen Begriff des Seins zusammen. Wenn wir diese Grundlage weiterhin als menschenzentriert verstehen, ergibt sich als Problem das bekannte-unbekannte, wahrgenommenenicht-wahrgenommene Seiende. Während der Mensch Kenntnisse aus der sichtbaren Welt mit seiner eigenen Erfahrung erhält, empfängt er Kenntnisse über unsichtbare Wahrheiten, die von Gott geoffenbart wur­ den. In einem Begriff gibt es also zwei Bereiche: die von den Menschen wahrgenommene Welt als ʿālam aš-šahāda und die nicht-wahrgenom­ mene als ʿālam al-ġayb. Es wäre nicht richtig, diese doppelte Unterschei­ dung als eine Dualität oder zwei verschiedene nebeneinanderliegende Dimensionen zu verstehen. Ein einzelnes Sein wird nach der menschli­ chen Erfahrung beschrieben: einerseits aufgrund der Einschränkungen der sinnlichen Erfassung und Breite der wahrnehmbaren Welt und andererseits der Grenzenlosigkeit der innerlichen Entdeckung, wird klar, dass das Sein – und damit Seiendes – unfassbar ist. Mit anderen Worten, es ist dem Menschen nicht möglich, die Physik vollständig zu erfassen, geschweige denn Entitäten jenseits der Physik zu erkennen. Aus diesem Grund bezieht sich das Unsichtbare auf eine Vielzahl von

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Ungewissheiten: Objekte, die für die Wahrnehmung offen, aber nicht bekannt sind (wie Lebewesen im Raum), oder weitere jenseits der Physik, deren Natur jedoch unbekannt ist (Engel und Dämonen). Daher kann der Unterschied zwischen dem ġayb und šahāda nicht durch die aristotelische Spaltung zwischen Physik und Metaphysik erklärt werden, weil nicht interessiert, was jenseits der Natur ist, sondern jenseits der Möglichkeit und Vielfalt menschlicher Erfahrung. Und ġayb und šahāda variieren auch je nach menschlicher Erfahrung. Während zum Beispiel ein Engel für gewöhnliche Menschen unsichtbar war, war er das nicht für den Propheten: Unsichtbares und Sichtbares sind keine ontologischen Dimensionsunterschiede, sondern Erfahrungs- bzw. Entdeckungsgrade des einzigen Seins, die die Relativität zeigen. Das Äquivalent der Unter­ scheidung zwischen ġayb und šahāda in Bezug auf Menschen ist im göttlichen Sein Bāṭin (Inneres) und Ẓāhir (Offenkundiges), so sind die Seienden in den Makro- und Mikro-Ebenen diejenigen, die von Gott in unterschiedlichem Umfang offenbarwerden sind. Laut Ibn al-ʿArabī sind es göttliche Namen, die von Gott manifestiert sind, von denen man einige im Universum wahrnehmen kann. Einige von ihnen sind für die menschliche Wahrnehmung verschlossen, weil man ihre Erscheinungen (d.h. innerhalb des Universums) nicht vollständig erfassen kann. Wenn man beispielsweise das Universum betrachtet, kann man daraus schlie­ ßen, dass das Sein angesichts außergewöhnlicher Schönheit schön ist; oder es kann behauptet werden, dass es einen umfassenden Intellekt gibt, der auf die Intelligenz in den Dingen zurückzuführen ist. In diesen Schlussfolgerungen werden die Namen Gottes festgestellt, indem sie mit den kreatürlichen Zuständen verglichen werden. Diese Möglichkeit des Gleichnisses beschränkt sich auf das, was im menschlichen Wissen bezeugt und erlebt wird. Jenseits der Grenze befindet sich die innere Seite des Seins, die für die Menschen unerfahrbar ist. Laut Ibn al-ʿArabī ist das wahre Geheimnis nicht der Aspekt, den Menschen nicht erreichen können, sondern der Urgrund des Seins, der niemals erreicht werden kann. Der »verborgene Schatz« (kanz ḫafī), der die Quelle von allen Ebenen des Seins ist, ist buchstäblich das Innerste. Obwohl das Sein in jedem Augenblick durch seine Namen erscheint, von den kleinsten Teilchen des Universums bis zu gigantischen Sternen und von den konkreten Ideen des Menschen bis zu den tiefsten Intuitionen, gibt es eine beständig verborgene Essenz des Seins, das göttliche Selbst. In diesem Zusammenhang interpretiert er den Koran-Vers: »Nichts ist Ihm gleich; und Er ist der Allhörende und Allsehende« (Koran, 42:11). In dem Vers wird die Überlegenheit und Unvergleichbarkeit Gottes über

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alles mit der Betonung »Nichts ist Ihm gleich« erwähnt, alle Arten von anthropomorphen und kosmologischen Analogien werden abgelehnt, was laut Ibn al-ʿArabī strenge Transzendenz (tanzīh) bedeutet. In der Fortsetzung des Verses heißt es jedoch, dass Gott mit dem Hören und dem Sehen verglichen wird, was laut ihm ein Ausdruck der Analogie (tašbīh) ist. So wird in dem Vers auf die Natur des Begriffs Sein hingewiesen, indem Analogie und Transzendenz zusammengeführt werden. Im ersten Teil des Verses wird die Ähnlichkeit aufgehoben und auf das Selbst Gottes Bezug genommen. Wenn alle erfahrbaren göttlichen Namen mit dem unerkennbaren göttlichen Selbst zusammengebracht werden, heißt das umfassende Sein »Allāh«.69 Während es möglich ist, das Sein durch Betrachten bestimmter Merkmale (wie gut und schön) zu definieren, ist es nicht möglich, alle seine Namen als Ganzes zu begreifen. Der Einzige, der das Existierende in seiner wahren Vollkommenheit erfassen kann, ist Gott selbst. Unter diesem Gesichtspunkt kann das Sein nicht aus der Perspektive irgendeines Existenzgrades verstanden werden, aber es kann in seinem Ganzen am genauesten von sich aus erkannt werden. Ausgehend von diesem Umfassenden sagt Ibn ʿArabī: »(In Bezug auf ) das Allāh genannte Selbst Ist es eins und (in Bezug auf ) seine Namen ein Ganzes (kull)«.70 Die Existenz der Welt erfolgt durch die Offenbarwerdung göttli­ cher Namen aus dem göttlichen Selbst. Vom Innersten des göttlichen Selbst bis zu den ersichtlichen göttlichen Namen gibt es verschiedene Ebenen (marātib al-wuğūd) in einem einzigen umfassenden Sein. Ibn al-ʿArabī erwähnt diese Ebenen in seinen Werken mit unterschiedlichen Zahlen und Namen. Die immanente Verborgenheit, unabhängig von der Manifestation, ist der Grund der Ebenen des Seins. Die im Ḥadīṯ als verborgener Schatz dargestellte erhabene Lauterkeit heißt »aḥadiyya« (absolute Einsheit) und Undefinierbarkeit (lā-taʿayyyun). Auch mar­ kierte der Prophet einmal diese Vorstufe als folgende: »Bevor Allāh das Universum erschuf in ʿamā (Blindheit)«.71 Der Ausdruck ›Blindheit‹ weist auf nicht-determiniertes sich-selbst-genügen (mustaġnī) sowie auf völlige Freiheit von Assoziationen, Relationen (nisab) und Überlegenheit Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 89. Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 75. 71 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 157–158. Während Ibn al-ʿArabī diesen Ḥadīṯ erklärt, betont er eindringlich, dass »vorher« (qabla) keine zeitliche Konnotation enthält. Es gibt keine Wende zwischen dem Zustand der Gottheit vor der Schöpfung und nach der Schöpfung. Gott existiert selbst in seiner Lauterkeit, jenseits von allem; und »zur gleichen Zeit« ist er in der Erschaffung und mit Allem in seinen Namen und Taten.

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hin. Diese immanente Verborgenheit, in der die göttlichen Namen im göttlichen Selbst als inhärente Formen gefunden werden, wird auch als »ulūha« (Gottheit) bezeichnet. Mit Gottes Wunsch erkannt zu werden in aḥadiyya tritt Selbstreflexion auf, somit werden die Stufen von »wāḥidiyya«, in der göttliche Namen zu erscheinen beginnen, über­ schritten. Nach Ibn al-ʿArabī wird dieser Zustand des Seins, in dem Gott in Beziehung zu den Seienden steht, »ulūhiyya« (Göttlichkeit) genannt, da die Namen Gottes offensichtlich (ẓuhūr) sind.72 Das Erkennen des Zustands ulūhiyya erfolgt nur vermittelt durch die Manifestation von Verhältnissen (d.h. göttlichen Namen) auf der Ebene von wāḥidiyya.73 In der Sprache von Ibn al-ʿArabī existieren die Begriffe aḥadiyyawāḥidiyya in ontologischer Reihenfolge; und ulūha-ulūhiyya beziehen sich eher auf seine erkenntnistheoretische Betrachtung. Folglich erfolgt die erste Offenbarwerdung (taʿayyyun) durch Selbstreflexion, die die zentrale Botschaft der Ibn al-ʿArabī-Mystik ist, die tağallī (Manifesta­ tion). Die wörtliche Bedeutung hinter tağallī ist verklären, erscheinen, sichtbar werden und auftreten. In der sufischen Terminologie wird es zunächst als »die unmittelbaren Erkenntnisse und die Lichter, die in das Herz der Sufi hineingeboren wurden« verstanden.74 Beim spirituellen Aufstieg hat es eine erkenntnistheoretische Natur in dem Sinne, dass der Geist durch die manifestierte Göttlichkeit erleuchtet ist. In der mittelalterlichen islamischen Philosophie wurde es jedoch innerhalb des metaphysischen und kosmologischen Bedeutungskreises in Verbindung mit den peripatetischen Emanation-Theorien von fayḍ und ṣudūr ver­ wendet. Ibn al-ʿArabī unterscheidet sich vom philosophischen Ansatz der Emanation, wenn er die Idee der Manifestation sowohl in der Theorie der Existenz als auch in der Theorie der Erkenntnis verwendet. Ontologisch bezieht es sich auf das sich Zeigen des göttlichen Wesens Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 579. Es ist ziemlich schwierig, diese beiden Wörter ins Deutsche zu übersetzen. Hier fand ich es angemessen, das Wort ulūha mit Gottheit zu übersetzen, da es das Gott eigene Selbst ausdrückt. Diese Übersetzung wurde aufgrund der kontextuellen Parallelen zu Eckharts Begriff von Gottheit gewählt, die er in einem ähnlichen Rahmen verwendete. Dadurch übersetze ich das Wort ulūhiyya als Göttlichkeit in Berücksichtigung der divinitas in der lateinischen Tradition und in seiner Gesamtheit mit göttlichen Namen. 73 »Göttlichkeit ist eine Reihe von Relation (nisba), Zusatz (iḍāfa) und Negation (nafy). Die Vielfalt (kasrat) ist also nicht die Wahrheit (meint ulūha), sondern die Vielfalt in den Relationen«. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 149. 74 »Tağallī (Verklärung) – Das ist, was den Herzen (qulūb) von verborgenen Lichtern (anwāru l- ġuyūb) enthüllt wird (yankašifu)« Ibn ʿArabī, Muḥyī d-Dīn: Glossar, Fachbe­ griffe der Sufis, in: Deuter der Sehnsüchte, Bd. 1, S. 322. 72

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für es Selbst (Selbstoffenbarung) und die permanente Reflexion der Namen Gottes. Die Beziehung zwischen Gottes Selbst und der Welt (›ālam) ist dank der Manifestation von Namen möglich: Und in der ersten Manifestation der Möglichkeit »erkannt zu werden« taucht das Licht (nūr) der Muhammadanischen Wahrheit (Ḥaqīqa Muḥammadiyya) auf. Als die erste Stufe der Manifestation ist die Muhammadanische Wahrheit einzigartig aufgrund ihres Herausgehens aus dem Urgrund des Seins und hinsichtlich des Auftretens aus dem umfassenden Namen.75 Die göttliche Selbstoffenbarung geschieht in der ersten Manifestation, die der Geist (rūh) des Propheten Muhammad darstellt. Aus diesem Grund beschreibt der Prophet in einer Überlieferung seine geistige Stelle in der Schöpfungsgeschichte folgendermaßen: »Ich war ein Prophet, während Adam noch zwischen Wasser und Ton existierte.«76 So ist die Schöpfung eine Ausweitung des Muhammadanischen Lichtes (nūr).77 Da es die erste Manifestation darstellt, ist sie allen Manifestationen danach eingebettet und in der Geschichte als die kompetenteste Stufe in Prophet Muhammad entifiziert. Nach der Erscheinung der Muhammadanischen Wahrheit tauchten Formen großer Engel auf. Ein Engel erscheint auf der Ebene der Erschaffung des Universums und wird als Intellekt (ʿaql) und Stift (qalam) bezeichnet.78 Neben seiner Verwendung des Begriffs der Manifestation um Ins-Sein-Bringen einzuschließen, verzichtet Ibn al-ʿArabī nicht darauf, den koranischen Begriff Schöpfung »ḫalq« zu benutzen. Es gibt Wörter, die verschiedene Phasen der Existenzgabe ausdrücken ( faṭara, ḫalaqa, taswiya), aber die Manifestation ist in jeder Reihenfolge vorhanden. Eine weitere Besonderheit der Manifestation ist ihre ständige Inno­ vation. Die Welt befindet sich in jedem Moment in einer brandneuen Kreation, weil das Sein sich andauernd manifestiert.79 Gegenwärtig findet die augenblickliche Schöpfung durch Manifestation Gottes in die Wahrheit der Dinge statt, die »feste Archetypen« (ʿayān aṯ- ṯābita) Ibn al-ʿArabī, aš-Šayḫ al-akbar Muḥyīddīn Muḥammad ibn ʿAlī: at-Tağalliyāt alilāhiyya, hrsg. von Muḥammad ʿAbd al-Karīm an-Namrī, Beirut 2003, S. 209. 76 Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 64. 77 Vgl. Izutsu: Sufism and Taoism, S. 236. In diesem Zusammenhang sagt Ibn al-ʿArabī: »Er war ein Geist, bevor Gott die Körper des Menschen erschuf, genau wie Er die Kinder Adams seine Göttlichkeit anerkennen lässt, bevor Er sie erschuf.« Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya Bd. 2, S. 292. 78 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, 423. 79 Ibn al-ʿArabī stützt sich auf den folgenden Koranvers: »Er ist tagtäglich (in jedem Augenblick) in jeglichem Einsatz.« (Koran, 55: 29). 75

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genannt wird80. Wenn Ibn al-ʿArabī über die Wahrheit der Dinge spricht, verwendet er eher den Ausdruck »ʿayn« (Quelle) als das Wort māhiyya (Wesen). William Chittick erklärt, dass das Wort aus der theologischen Schule der Mu‘tazila stammt und dass es als »entity« verstanden werden sollte.81 ʿAyn ist der Grund, der die zwei Dinge trennt. Aus derselben Wurzel leitet sich das oben erwähnte Verb taʿayyun ab, was im Kontext des existentiellen Auftretens verwendet wird. ʿAyn kann mit der Substanz in der philosophischen Terminologie assoziiert werden, da die Quelle das Wesen der Sache ausmacht; aber gleichzeitig hat sie eine Bedeutung jenseits des kontingenten Seins, nämlich wie sie in der Erkenntnis Gottes gegenwärtig ist. In gewissem Sinne manifestiert Gott sich in den Archetypen in seiner eigenen Erscheinung, so dass die Archetypen im Wesen alles Geschaffenen sichtbar werden. Aufgrund der Einzigartigkeit jeder Manifestation hat alles seinen eigenen Archetyp. Einige Dinge gehören zum selben Genre, aber die Archetypen (dieser Dinge) sind einzigartig, und die Offenbarwerdung, die in einem Archetyp auftritt, ist auch für ein bestimmtes Ding einzigartig. Wenngleich sie aus derselben Essenz in Gott stammen, manifestie­ ren sich göttliche Namen in jedem Gegenstand unterschiedlich. Zum Beispiel ist der göttliche Ursprung des Schönen einer, aber keine Schön­ heit in der Welt ist genau die gleiche Schönheit. In Anbetracht der unterschiedlichen Wahrnehmungen (des Schönen) scheint es, dass im Hintergrund jeder Erscheinung ein spezifischer Name existiert. Damit gibt es universelle Schönheit als eine inhärente, umfassende existenzielle Wirkung in jedem schönen Objekt: das ist der göttliche Name. Somit kommen alle Namen unter einem Namen (Allah) und nach Analogie damit unter einer Person zusammen. Wenn wir wieder mit dem Beispiel der Schönheit fortfahren: Der Auftritt der göttlichen Schönheit in der wahrnehmbaren Natur ist die äußerliche Seite des Namens und in jeder einzelnen Schönheit ist die immanente Essenz die innerliche Seite des Namens. Ein jeder göttlicher Name gehört also in seinem inneren Wesen zur gleichen göttlichen Wurzel. Dies erlaubt nicht, sie als unabhängige mythologische Kräfte zu vorstellen. Denn so wie es eine untrennbare Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 67. Chittick: The Sufi Path of Knowledge, S. 83–84. Chittick kritisiert hier die Verwechslung von Archetypen mit platonischen Ideen. Wenn eine Affinität zu Ideen hergestellt werden soll, dann mit göttlichen Namen. Die Archetypen sind die Zustände der Dinge, bevor sie in der Welt erschienen, doch gibt es, wie später ausgeführt wird, sehr deutliche Unter­ schiede zwischen göttlichen Namen und platonischen Ideen. 80

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Beziehung (nisba) zwischen Gottes Selbst und den göttlichen Namen gibt, gibt es auch eine Beziehung zwischen den göttlichen Namen und den Dingen. Und alle Relationen sind in einem umfassenden SeinsBegriff – beziehungsweise Allah vereint. Da der Archetyp Gottes Wissen und die Reflexion der Name Gottes ist, treten alle Arten von Existenz irgendwie in Einheit auf.82 Bei Platon ist die Verbindung zwischen den Ideen und Gott nicht klar, und auch die Beziehung zwischen den Ideen selbst ist mehrdeutig. In der Namenstheorie von Ibn al-ʿArabī gibt es eine Einheit sowohl in der Substanz als auch in der Reflexion. Zum Beispiel ist Gottes Schenken von Schönheit eine Spiegelung der gleichzeitigen Barmherzigkeit. Im Grunde sind sie alle eins. Die Tatsache, dass die Existenz der Welt auf göttlichen Namen basiert, zeigt, dass alles, was man in der Natur wahrnimmt (Blume oder Tier), eigentlich bestimmte Erscheinungsformen sind. Die Welt ist somit die immer neue Erscheinung des unendlichen Namens in unzäh­ ligen Phänomenen. Die genaueste Beschreibung der Welt ist barzaḫ, da ihr existenzieller Zustand nur relativ zu göttlichen Namen ist.83 Aufgrund dieser Abhängigkeit verwendet Ibn al-ʿArabī auch die Wörter Spiegel, Schatten und Imagination für die weltliche Existenz – weil sie Reflexionen sind: »Die Welt ist der Schatten Gottes«.84 Die Welt ist der Spiegel göttlicher Attribute und Handlungen, sie ist der Schatten, der im Spiegel zurückgeworfen wird. Dieser Spiegel existiert natürlich nirgendwo außerhalb des Seins. Die Welt bezieht sich buchstäblich auf den reflektierten Teil des Seins, der im Grunde sich selbst reflektiert. Die auffälligste unter den Definitionen (für die Welt) ist die Ima­ gination (ḫayāl). Anstatt Erkanntes zu bezeichnen in Bezug auf das Prinzip eines Dinges im Verhältnis zu dem göttlichen Wissen, stellt er die

82 Um das ontologische Verhältnis des Existenz-Gebens und -Empfangens zu verdeutli­ chen, sagt er folgendes: »Wenn du darüber nachdenkst, erfährst du, dass es in einem beson­ deren Sinne kein Sein außer Allāh gibt. Alles andere als Gott, das durch Sein gekennzeichnet ist, ist ein besonderes Verhältnis. Die Stelle des göttlichen Willens drückt die Manifestation in einer bestimmten Erscheinung aus. Dies ist eine Relation (nisba). Denn während das Offenkundige (Ẓāhir) weiterhin durch Sein gekennzeichnet ist, ist das Reflektierte (maẓhar) weiterhin durch (dessen) Abwesenheit gekennzeichnet. Wenn die Manifestation eintritt, macht sich das Reflektierte ein offensichtliches Urteil nach seiner eigenen Wahrheit. In diesem Fall wird dasjenige, das aus dieser Wahrheit hervorgeht, Mensch, Himmel ( falak) oder irgendeine Kreatur genannt.« Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 4, S. 84. Vgl. alFuṣūṣ al-ḥikam, S. 89. 83 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 69. 84 Ibn al-ʿArabī: al -Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 86; vgl. al -Futuḥāt al-makkiyya, Bd. 9, S. 187–188.

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Welt als eine Einbildung dar:85 weil es nicht einfach ist zu beschreiben, dass imaginäre Dinge weder existieren noch nicht-existieren. Von den eingebildeten Dingen, die man sich in seinem Gedanken vorstellt oder in Träumen sieht, kann nicht gesagt werden, dass sie nicht existieren. Wenn das imaginäre Ding keine äußere Existenz hat, hat es doch Präsenz in dem Verstand. Durch das Imaginieren gibt man diesem Gegenstand eine Exis­ tenz. Genauer gesagt existieren imaginäre Dinge relativ zu menschlicher Existenz, d.h. Einbildung. Außerdem verdeutlicht Ibn al-ʿArabī den Exis­ tenzstatus des barzaḫ, indem er Einbildung und Traum direkt dieser Welt zuschreibt. Wenn er die Welt mit einemTraum verbindet, interpretiert er einen Ḥadīṯ des Propheten Muhammad entsprechend: »Die Menschen schlafen, und wenn sie sterben, erwachen sie«.86 Im Allgemeinen wird dieser Ḥadīṯ als Warnung vor der illusionären Täuschung des weltlichen Lebens verstanden. Im Leben nimmt ein Mensch nur so viel wahr, wie er im Schlaf bemerken kann, das heißt, er kann so viel Realität erfahren, wie er im Traum erleben kann. Es besteht eine enge Verbindung zwischen Einbildung und Traum im menschlichen Geist. Im Traum ist der Mensch allein mit dem Vermögen, das er aus sensorischen Erfahrungen erhält. Es kann mit solchem Vermögen des Menschen verglichen werden, die Existenz der Welt, in der Menschen leben, als den Traum Gottes zu verstehen. Das menschliche Leben im Universum, das Gottes Traum ist, ist auch wie in einem Traum. Wenn der Mensch stirbt, d.h. wenn er sich an Gott wendet (Koran, 2:156), erwacht er vom Traum zur Wirklichkeit, wie der Prophet Muhammad sagte: »Stirb, bevor du stirbst«87, was bedeutet, Erfahre die geistige Auferstehung. So wie der Mensch den Traum beschreiben sollte, muss auch alles, was in der Welt geschieht, interpretiert werden.88 Daher sollte man versuchen, die Wahrheit hinter der physikalischen Realität zu verstehen. Eine Annäherung, die nicht den Existenzzustand der Welt als barzaḫ und Einbildung betrachtet, wird den sinnlich wahrgenommenen Kos­ mos als bloße Wahrheit interpretieren. Seine eigentliche Realität kann jedoch erfasst werden, indem man zu seinen permanenten Archetypen zurückkehrt. Der Sinn der Interpretation der Welt ist, dass sie der Ibn al-ʿArabī: al -Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 88. Der Ḥadīṯ-Gelehrte as-Suyūṭī sagt, dass dieses Wort ʿAlī zugehört, dem Neffen des Propheten. Vgl. www.dorar.net/hadith/search?q=‫نيام‬20%‫&الناس‬d[]=3 87 Vgl. https://www.dorar.net/h/f8e70bf0ced24a99c544a9c8ab74e35d 88 Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 84; al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 595. 85

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Offenbarungsbereich der göttlichen Verse ist. In diesem Zusammenhang taucht wieder die Interpretation des zuvor zitierten Verses auf: »Wir werden ihnen Unsere Zeichen am Kosmos und in ihnen selbst zeigen, bis es ihnen offenbar wird, daß es die Wahrheit ist.« (Koran, 41:53). Die Verse von Himmel und Erde sind die aus dem großen Buch (musḥaf ), die gelesen werden sollten. Das Erfahren der Verse in dem Menschen selbst bedeutet, die dem Menschen eigene Göttlichkeit zu erkennen. Während der Koran die durch Gottes Worte erreichte Offenbarung ist, ist die Welt die durch Zustände (als Ort göttlicher Handlungen) erreichte Offenbarung.89 Sie ist auch eine Art von Gottes Rede. Ibn al-ʿArabī versteht die Koranverse, dass Gott zum Entstehen von Welten kunn (es sei!) sagt und es sofort geschieht, dass Gottes Sprechen reicht, um alles Seiende zu offenbaren, und es so möglich ist, die Kreaturen Wörter zu nennen.90 Gott kann nicht gesprochen und dann geschwiegen haben, er spricht von Moment zu Moment in aktuellen, gegenwärtigen Worten. So wie das Lesen des Korans dazu führt, dass man Gott kennenlernt, ist das Lesen des Universums als göttliche Worte auch ein Mittel, um göttliche Namen zu verstehen: »Wer den göttlichen Atem kennenlernen will, muss die Welt kennen; denn wer sich selbst kennt, kennt auch die Welt, aus der er hervorgegangen ist. Denn die Welt ist aus dem Atem des Raḥmān hervorgegangen.«91

Der Grund der Seinsgabe Was ist der Grund und der Sinn des Existierens? Ist die Schöpfung eine notwendige Folge der göttlichen Natur, wie nach Ibn Sīnā; oder ist sie nach dem Ansatz der ascharitischen Theologie das Ergebnis des freien Willens Gottes? Wenn ja, warum wollte Gott die Welt erschaffen? Es ist möglich, in den Werken von Ibn al-ʿArabī Aussagen zu finden, die beide Annäherungen bestätigen. Getreu Ibn Sīnās Philosophie sieht Ibn al-ʿArabī die Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf als notwendig an. Er bestätigt die Behauptung, dass die Schöpfung eine notwendige Handlung der göttlichen Natur ist. Ibn Sīnā definiert Schöpfung als ibdā‘ Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 323. »Die Wörter sind die Seienden (al-kalimāt hiya-l-mawğūdāt). Das Sein hat eine eigene Sprechart«. Ibn al-ʿArabī: Kitāb at-tarāğim, in: Rasāil š-Šayḫ Muḥyīddīn Muḥammad ibn ʿAlī Ibn ʿArabī, hrsg. von Muḥammad ʿAbd al-Karīm an-Namrī, Beirut 2001, S. 294. 91 Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 131. 89

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im Sinne der Existenzgabe ohne Vermittler. In dem höchsten Punkt dieses Hervorbringens wird der erste Intellekt von Gott emaniert (ṣudūr). Da Gott der reine Intellekt ist, der sein Selbst denkt, findet alles, was von ihm emaniert, in seinem Wissen statt, nicht auf natürliche Weise. Nach Ibn Sīnā basiert die Notwendigkeit der Emanation auf der Idee, dass Gott denken sowie erschaffen muss. Darüber hinaus muss das, was aus seinem Selbst (ḏāt) hervorgeht, auch als Notwendigkeit seines Seins notwendig sein. Daneben befasst Ibn al-ʿArabī sich nicht nur mit der Notwendigkeit der Schöpfung, sondern versucht, das Sein in Bezug auf die Seienden zu verstehen. Wenn die Welt (maʾlūh) aufgrund ihres Geschöpf-seins die Existenz eines Schöpfers benötigt, so benötigt Gott (ilāh) auch die Exis­ tenz des Geschaffenen, weil er der Schöpfer ist.92 Im Rahmen der Einheit des Seins besteht eine notwendige ontologische Relation zwischen Gott und Welt, da die Welt eine der Ebenen der Manifestation des Seins ist. Während er diese notwendige Beziehung akzeptiert, erkennt er auch den Standpunkt eines sunnitischen Kalam-Gelehrten wie al-Ġazzālī an, dass Gott selbst schaffen will. Die Welt würde also nicht existieren, wenn Gott es nicht wollte.93 Dementsprechend weist Ibn al-ʿArabī auf den göttlichen Willen hin: »Allāh hat die Welt geschaffen, damit die Autorität seiner Namen erscheint«94; damit lehnt er die Kausalität ab, distanziert sich selbst von der neuplatonischen Emanationstheorie: Gott wollte – d.h. will –, dass die Auswirkungen göttlicher Namen sichtbar werden. Die Wirkung göttlicher Namen erforderte jedoch notwendigerweise die Existenz der Welt. Das Zusammentreffen zweier verschiedener Ansätze steht in direktem Zusammenhang mit Ibn al-ʿArabīs Seins-Begriff. Denn während die Gottheit frei von allen Definitionen ist, haben göttliche Namen spezifische Anforderungen. Der Kommentator ʿAbd ar-Razzāq Kāšānī verdeutlicht es folgendermaßen: »Die Welt braucht aufgrund ihrer Existenz Gott, und Gott braucht die Welt, um sich zu manifestieren«95. Gott ist in Bezug auf sein Selbst unentbehrlich transzendent und tut, was Er will (Koran, 85:16). Aber aufgrund seines schöpferischen Attributs erfordert er die Kreatur. So müssen die göttlichen Namen von Natur aus 92 »Wohltäter (Muḥsin) sein ohne das Verliehene, Allmächtiger (Qadīr) sein ohne das der Macht ausgesetzte, Barmherziger sein ohne das, dem Gnade gezeigt wird, das sind funkti­ onslose Wahrheiten, die keine Wirkung haben«. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 365. 93 Vgl. al-Ġazzālī, Abū Ḥāmed Moḥammad: Der Erretter aus dem Irrtum, hrsg. von ʿAbd aṣ-ṣamad ʿAbd al-ḥamīd, Elschazlī, Hamburg 1988, S. 15–27. 94 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 365. 95 Kāšānī, ʿAbd ar-Razzāq: Šarḥ al-Fuṣūṣ, hrsg. von Mahdī Muḥaqqiq, Isfahan 1964, S. 24.

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ans Licht kommen.96 Es herrscht in Ibn al-ʿArabīs Lehre weder eine rein deterministische (notwendigerweise an die Schöpfung gebundene) noch eine rein indeterministische (völlig von der Schöpfung unabhängige) Herangehensweise an die Schöpfung. Die notwendige Beziehung zwischen der Welt und den göttlichen Namen führt zu einem weiteren Argument, das wiederum von Ibn Sīnā stammt. Während göttliche Namen perfekte Eigenschaften wie Unbegrenztheit, Ewigkeit und Originalität haben, ist die Welt zeitlich, endlich und begrenzt. Aus der Sicht von Ibn al-ʿArabī müssen alle wesentlichen Merkmale in den göttlichen Namen existieren, auch in der Welt. Wenn die Namen dynamisch sind, müssen sie in der Welt in ständiger Bewegung sein.97 Es ist unvorstellbar, dass das Universum angesichts der kontinuierlichen Schöpfung und der augenblicklichen Manifestation unbeweglich ist. Auch muss nach der ständigen Manifes­ tation des Namens Ḥayy (der Lebendige) alles in der Welt lebendig sein. Er gibt nicht zu, dass es nach der aristotelischen Klassifikation zwei Arten der Dinge gibt: lebendige und stoffliche (ğamādāt). Weil Gottes Name immer aktuell und aktiv ist, muss alles, was existiert, lebendig sein. Zum Beispiel ermöglicht der Name Mutakallim (der Sprechende), dass alles in einer eigenen vernünftigen Sprache spricht. Denn je perfekter die göttlichen Namen sind, desto perfekter ist die Welt. Von diesem Standpunkt aus kann auf die Diskussion über die Ewigkeit zurückgekommen werden: Denn wenn es eine kontinuierliche existentielle Beziehung zwischen Gott und der Welt gibt, muss auch die Welt ewig sein. Dieser im Lichte der peripatetischen Philosophie entwickelte Ansatz ist Anlass für eine der häufigsten Diskussionen sowohl im christlichen als auch im mittelalterlichen islamischen Denken. In Bezug auf dieses Thema Vor-Ewigkeit (qidam) der Welt versucht Ibn al-ʿArabī erneut, einen Mittelweg zwischen Philosophie und Theologie zu finden. Aufgrund der Ewigkeit in göttlichen Namen muss es eine ewige Wurzel im Universum geben. Dies ist der Archetyp selbst, der Ort der Manifestation. Auf dieser Grundlage erklärt Nasr Hamid Abu Zaid, dass Ibn al-ʿArabī versucht, sowohl die Vor-Ewigkeit als auch die Zeitlichkeit (bzw. Geschaffenheit) zusammenzubringen.98 Während seine Wurzel im göttlichen Wissen vor-ewig (qadīm) ist, befindet sich sein Körper im Schatten der Schöpfung (und ist) vergänglich (Ḥādiṯ). Durch die 96 97 98

Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 8, S. 166. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 7, S. 299. Abū Zaid: Falsafat at- taʾwīl, S. 43.

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Erneuerung permanenter Manifestationen nimmt man die Vergänglich­ keit der Welt wahr. Eigentlich ist zeitliche Wende ein Übergang von einer Manifestation zur anderen. Da die Schöpfung in einer Hinsicht notwendig und in einer anderen willens-mäßig ist, kann weiterhin nach Gottes Willen zur Schöpfung gefragt werden. In Übereinstimmung der traditionellen Exegese bezieht sich Ibn al-ʿArabī auf den Vers in der Sure ad- ḏāriyat über den Grund für die Erschaffung der Welt: »Und Ich habe die Ğinn und die Menschen nur (dazu) erschaffen, damit sie Mir dienen« (Koran, 51:56).99 Im Allge­ meinen interpretierten Sufis den Ausdruck dienen (li-yaʿbudū) im Vers als erkennen (li-yaʿrifū). Gewiss stimmt auch Ibn al-ʿArabī dieser Ansicht zu und wiederholt dies häufig. Aber letztendlich ist dieser Vers die Antwort in Bezug auf die Verantwortung der Kreaturen; es ist nicht die Antwort auf die Frage, warum der Schöpfer schaffen will. Da die eigentliche Ursache der Schöpfung niemals bekannt sein kann (im Ausmaß des Seins selbst), kann die Interpretation nur im Rahmen dessen entwickelt werden, was Gott offenbart hat. Somit bezieht Ibn al-ʿArabī den Grund der Schöpfung mit dem Erkennen der Gottheit auf die prophetische Überlieferung: »Ich war ein verborgener Schatz und sehnte mich danach, erkannt zu werden«. Die zentrale Botschaft dieses Ḥadīṯ ist die Liebe (Ḥubb) zum Erkannt werden, sie ist eigentlich der Grund der ersten Erscheinung, deswegen ist es die Liebe zu sich selbst.100 So ist die Liebe der erste Beweggrund des Seins für sein Hervorgehen: »…nun ist aber die Bewegung, die das Dasein der Welt selbst darstellt, eine Bewegung aus Liebe.«101 Der einzige Grund und das Ziel der Hervorbringung finden ihre Bedeutung in der göttlichen Liebe, da es sein Wille ist, geliebt zu werden. Mit dem Offenbaren des göttlichen Selbst wurden die göttlichen Namen sichtbar gemacht. Da die Orientierung zur Selbsterkenntnis von der Liebe ausgeht, muss alles, von der kleinsten bis zur größten Bestimmung der Seienden, Liebe sein. Da die vollkommenste Erfahrung des liebevollen Seins-Bringens (daher Selbsterkenntnis) im Menschen stattfindet, wird der Zweck der Schöpfung im Menschsein verwirklicht.

Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 364–365. Über die Liebe siehe: Chittick: The Sufi Path of Knowledge, S. 179–181. 101 »Inna l-ḥarakata abadan annama hiya ḥubbiyyatun«. Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ alḥikam, S. 190.

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3. Die Lehre vom Menschen 3.1. Bedeutung des Menschseins Im Werk Fuṣūṣ fragt Ibn al-ʿArabī den Leser »Wer bist du?« ( faman anta).102 Diese Frage soll den Leser, der die im Propheten verkörperten Weisheiten lernt, ermutigen, die in ihm vorherrschende Göttlichkeit zu entdecken. Das Menschenbild ist in dieser Hinsicht untrennbar mit der Gottesvorstellung, im weiteren Sinne mit dem Verständnis des Seins verbunden, wo beide (im Sein) zusammenkommen. Eigentlich ist quasi jedes Thema von Ibn al-ʿArabīs Ontologie, Kosmologie und Moral im Allgemeinen irgendwie mit dem Menschen verbunden. Auch der Zweck der Existenz als Ausgangspunkt aller metaphysischen Fragestellungen ist eine Untersuchung, die in der Person selbst beginnt und endet. Diese Abweichung von der gängigen Theologie und Philosophie kommt daher, dass sie nicht den Zweck des Menschseins erreichen, erkenntnistheore­ tisch im Hinblick auf die Grenze des Wissens über die Göttlichkeit und ontologisch in Anbetracht der Teilung und Kategorisierung des Seins. Wie seine Zeitgenossen versuchte er in seinem eigenen System die Probleme des Menschen-Verständnisses zu analysieren. So will er dem Menschen durch seine Beziehung mit Gott einen Sinn geben und den Inhalt der bestehenden Konzepte in seiner Mystik transformieren, damit befasst er sich hauptsächlich im etymologischen Kontext damit. Im Koran wird das Wort »bašar« im Zusammenhang mit der materiel­ len Schöpfung (Koran, 38:71–72) und der Herkunft der Adamskinder verwendet, während das Wort »insān« (Plural: nās) im weitesten Sinne gebraucht wird. Ibn al-ʿArabī bevorzugt verschiedene Wörter, wobei er auf den Kontext achtet, aber im Zentrum seines Verständnisses steht die etymologische Analyse des Wortes insān. Dieses Wort, abgeleitet von der arabischen Wurzel »ins«, bezieht sich auf die menschliche Spezies und umfasst jedes Individuum. Einige Linguisten argumentierten, dass das ursprüngliche Wort von »nasy« kommt, was »vergessen« bedeutet. Es wurde auch mit »uns« in Verbindung gebracht, was »sich daran gewöhnen, sich anpassen« bedeutet.103 Ibn al-ʿArabī stimmt auch dem Ansatz zu, dass das Wort von der Wurzel »sich gewöhnen« stammt. Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 94. Laut dem arabischen Linguisten Rāġib al-Isfahānī beruht die Ableitung des Wortes von »uns« auf der Tatsache, dass Menschen in Harmonie mit ihren Mitmenschen leben können. Aufgrund dieser Bedeutung wurden Menschen wiederum als »soziales Wesen in 102

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Entsprechend wurden Adam und seine Nachkommen aufgrund der Fähigkeit, sich an göttliche Eigenschaften anzupassen, insān genannt. Im Vergleich zu anderen Lebewesen, wurde sie/er Mensch genannt wegen ihrer Fähigkeit sich selbst zu entwickelt, und sich zwischen göttlichen Ordnungen (Ebenen) und seinem Wesen anzupassen.104 Das Beharren von Ibn al-ʿArabī auf der Enthüllung der Göttlichkeit des menschlichen Wesens geht von seiner Auslegung der etymologischen Wurzel des Wortes insān als Harmonie (unsiyya) aus. Verse im Koran ermöglichten ihm Interpretationen in dieser Richtung: Der Mensch wurde auf die schönste Gestalt (aḥsan taqwīm) hin geschaffen (95:4); wurde vollkommen geformt und ihm wurde Gottes Geist eingehaucht (15:29); das göttliche Vertrauenspfand wurde ihm zugeschrieben, nicht der Natur (33:72); ihm näherte sich Gott mehr als einem Engel (53:9). Er glaubt, dass all diese koranischen Ausdrücke auf menschliche Harmonie mit der Göttlichkeit hinweisen. Daher wird der einzige Zweck des Lebens darin bestehen, die Bedeutung der Benennung als insān zu erkennen. Ausgehend vom etymologischen Kontext kommt er zu dem Schluss, dass das menschliche Dasein darauf ausgelegt ist, Harmonie zu realisie­ ren. Beide Male beziehen sich die menschlichen Übereinstimmungen, sei es mit der Natur aufgrund der körperlichen Zugehörigkeit oder mit göttlichen Namen mittels seiner geistigen Verbindung, auf Gott, der die materielle Welt geschaffen hat und sich in der geistigen Welt manifestiert. So kommen wir zu einem anderen Begriff, der sich auf die Grundbedeutung des Wortes Mensch bezieht: ʿabd (Diener). Laut Ibn al-ʿArabī entspricht Harmonie im Grunde der Orientierung an der Göttlichkeit auf die umfassendste Weise mit der Bezeichnung Diener­ schaft. Die Dienerschaft hat einen verallgemeinerten Inhalt, der den Menschen direkt vor Gott passiv positioniert, und für ihn ist diese Beziehung teilweise ein notwendiger und freiwilliger Gesichtspunkt. Vor allem ist jeder Mensch ein Diener Gottes, ob er die Dienerschaft annimmt oder ablehnt, weil er geschaffen und notwendigerweise den göttlichen Namen unterliegt ist. Ibn al-ʿArabī nennt diese obligatorische Dienerschaft ʿubūda. Alle Menschen sind für immer in einer existenzi­ ellen Armut vor Gott, um in die Existenz hervorgebracht zu werden. Nicht nur, weil sie ins Leben gerufen wurden, sondern weil sie unter der ständigen Wirkung göttlicher Barmherzigkeit, Güte und Schönheit Bezug auf ihre Natur« (al-insānu madaniyyun bi-ttabʿi) definiert. Ar-Rāġib al-Isfahānī: al-Mufradāt Alfāẓ al-Qurān, hrsg. von Safwān ʿAdnān, Damaskus 2014, S. 94. 104 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 7, S. 203.

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stehen. Da ʿubūda einen existenziellen Zustand beschreibt, beinhaltet das Wort nicht die kognitive Akzeptanz des menschlichen Willens. Die Annahme des Menschen als das Wesen der Dienerschaft durch den eigenen Willen wird ʿubūdiyya genannt. ʿUbūdiyya ist in gewisser Weise die kognitive Akzeptanz von ʿubūda und dessen Implementierung. Es ist die Verwirklichung der essentiellen Harmonie in sich selbst, indem man akzeptiert, dass man in jeder Hinsicht mit Gott in Beziehung steht.105 So entstehen zwei Arten von Dienerschaft: eine, die der Mensch unbedingt hat, und eine, wo er sich selbst dafür entscheidet. Beim Übergang von Harmonie zur Dienerschaft – sowohl in Bezug auf ʿubūda als auch auf ʿubūdiyya – ist sie im Grunde genommen eine Definition der Relation zum verehrten Gott (ma‘būd). Aber da von einem einzigen Sein die Rede ist, beschreiben Anbetende und Angebeteter bestimmte Zustände des Seins. Sowohl diejenigen, die anbeten als auch angebetet werden, sind Zuschreibungen für das Sein, das alles umfasst.106 Während sich der Mensch im Diener-Zustand zur Göttlichkeit befindet, ist er zusammen mit ihm. Er ist in existenzieller Not ( faqr) vor ihm, weil er aus ihm hervorgebracht wurde; aber gleichzeitig ist er nicht vom göttlichen (existentiellen) Reichtum (ġanī) getrennt, da er mit und in dem Sein ist. In einem anderen Aspekt ist es die Beziehung zwischen Gottes Selbsterkenntnis und dem Erkennen Gottes durch den Menschen. Gott schuf den Menschen, weil er »erkannt sein wollte«. Im Koran heißt es, dass Adam Namen beigebracht werden, so ist seine Kenntnis der göttlichen Namen die Verwirklichung des Willens Gottes »erkannt zu werden«. Wenn es im Universum keine Kreaturen gäbe, die freiwillig wie die Menschheit die Dienerschaft fordern könnten, wären viele Attribute Gottes nicht offenbart worden. Und kein anderes Seiendes hat die Möglichkeit, wahrlich Diener zu sein. Die Beziehung zwischen Gott und Mensch muss also zwei Seiten der Medaille haben: In den Beziehungen zwischen ilāh-mʾalūh (Gott-Kreatur), rab-marbūb (Unter­ stützer-Unterstützter) und maʿbūd-ʿabd (Verehrter-Anbeter) besteht eine wechselseitige Verbindung, eine Seite erfordert die andere. In diesem Zusammenhang gibt Ibn al-ʿArabī ein außergewöhnliches Beispiel: Stel­ len wir uns Zaid als den Sklaven von ʿUmar vor. Als Sklave ist er Eigentum eines anderen, ʿUmar, was bedeutet, dass Zaids Meister ʿUmar ist. Wäre Zaid nicht gewesen, wäre ʿUmar nicht Meister genannt worden. Mit anderen Worten, ›Umar schuldet Zaid seine »Meisterschaft«. In dieser 105 106

Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 4, S. 513. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 4, S. 524.

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Hinsicht ist es mit Zaids Sklaven-Beziehung möglich, »ein Meister zu sein«, obwohl er ein Sklave ist. Also ist Zaid, der ein Sklave ist, in gewisser Weise auch ein Meister. Diese Beziehung hat eine noch viel seltsamere Tiefe: Zaid erhält seine Eigenschaft als Sklave, weil ʿUmar ein Meister ist. Dann muss die Herrschaft von ʿUmar die Sklaven-Beziehung einschließen; denn wäre Zaid nicht »Sklave« gewesen, wäre ʿUmar schließlich nicht »Meister« genannt worden. Wenn ›Umar nicht Meister gewesen wäre, wäre Zaid kein Sklave genannt worden. In gewisser Weise umfasst Meisterschaft Sklaven-Beziehung, und Sklaven-Beziehung umfasst Meisterschaft. Dieses Verhältnis ist das Zusammenspiel zweier Parteien (auch der entgegengesetzten Pole), die einander benötigen.107 In dieser Richtung ist es offensichtlich, dass sich Ibn al-ʿArabī vom allgemei­ nen Verständnis der Dienerschaft (meist als Knechtschaft verstanden) unterschied. ʿAbd ist eher eine Beziehungsdefinition als eine Situationsde­ finition des Menschen gegenüber Gott. In dieser Beziehung zwischen den beiden Seiten innerhalb des einen Seins stehen die Menschen nicht dem Sein Gottes selbst gegenüber, sondern seinen Namen (der Göttlichkeit): Was mit dem Verehrten (ma‘būd) gemeint ist, ist der göttliche Name, nicht die göttliche Essenz. Der Mensch steht eigentlich nicht direkt unter der Leitung von Gottes Selbst, sondern unter der seiner Manifestation. Da Gottes-Selbst und der Mensch in keiner Weise eine direkte Beziehung haben können, wird der Mensch nicht über die Definition als ʿabd hinausgehen können. Es ist dem Menschen nicht möglich, über die Existenzstufe hinauszugehen, der er unterworfen ist. Obwohl er auf den Gipfeln des geistigen Aufstiegs wandert, steht er unter der Herrschaft in Dienerschaft. Als wir uns jedoch oben auf die Einheit des Menschen mit Gott bezogen, sagten wir, dass der Meister im Sklaven und der Sklave im Meister ist. Auch wenn er die Idee der Einheit des Seins den Menschen auf einer bestimmten Ebene des Seins als Spiegelbild Gottes akzeptiert, lehnt Ibn al-ʿArabī die Identifikation des Menschen mit der Gesamtheit des Seins ab. Ḥaqq hingegen umfasst alle Ebenen, weil er sich mit der Vorstellung des Seins identifiziert, das auch die Ebene der Dienerschaft einschließt. In dieser Hinsicht ist Er allein der Angebetete. Andererseits steigt der Mensch von seinem eigenen existentiellen Zustand (seiner 107 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 540–541. Diese Interaktion lässt beide Seiten die Eigenschaften der anderen einschließen. Eine ähnliche Situation besteht auch in der Vater-Sohn-Beziehung: Der Sohn kann seine Bezeichnung nur mit dem Vater und der Vater mit dem Sohn haben. In dieser Richtung kann die Beziehung zwischen dem Herrn und dem Diener interpretiert werden. Vgl. Chittick: Sufi Path of Knowledge, S. 344.

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Ebene) zur göttlichen Einheit auf, aber er kann das Ganze nicht erfassen: das ist Dienerschaft.

a. Göttlichkeit der menschlichen Essenz Wie die Ähnlichkeiten der Aussprache verraten lassen, gibt es einige inhaltliche Gemeinsamkeiten zwischen ʿubūda-ulūha und ʿubūdiyyaulūhiyya. Die obligatorische Dienerschaft des Menschen bildet seine göttliche Essenz. Wenn man das Äquivalent der Essenz in Gott betrachtet, erscheint das Wort ʿubūda. Gottes ulūhiyya, die sich auf die kreatürliche Welt bezieht, sind seine Attribute und Namen. Alle Verhältnisse, die es ermöglichen, Gott zu kennen, sind unter ulūhiyya zusammengefasst. Wenn man den Menschen betrachtet, bestimmt ʿubūdiyya die ihn zutref­ fenden Eigenschaften und Taten, obwohl sie nicht von seiner Essenz getrennt sind. Gott ist sowohl im ʿubūda als auch im ʿubūdiyya des Menschen aktiv. So ist es möglich, die Einheit von Gott und Mensch durch die folgende Reihenfolge zu erklären: ulūha → ulūhiyya → ʿubūda → ʿubūdiyya Die göttlichen Namen, die laut Ibn al-ʿArabī die Beziehung zwischen Gott und Mensch herstellen, bestimmen seine Identität: »Jeder Diener hat einen (göttlichen) Namen, dieser Name ist der Gebieter dieses Dieners«.108 Der Mensch kennt den in ihm als Gott aktiven Namen und wendet sich durch diesen Namen dem Sein zu. Im Koran sind die Namen Gottes aufgezählt, und der Prophet Muhammad lehrte seinen Gefährten die 99 Namen Gottes in einem Ḥadīṯ. Nach Ibn al-ʿArabī gibt es für jeden existenziellen Zustand einen bestimmten göttlichen Namen, nämlich eine Manifestation, da keine Schöpfung einer anderen gleich ist. In jedem Werden (kawn) gibt es eine neue Manifestation, also eine neue Erscheinung des Namens. Da die Übertragung der Existenz immer neu stattfindet, gibt es eine einzigartige Essenz in der Zugehörigkeit eines jeden Menschen zu Gott. Auf diese Weise kommt man zu den Begriffen »ʿayn« und »fiṭra«, die Ibn al-ʿArabī für die menschliche Essenz verwendet. Im Sinne der göttlichen Wirkung im Menschen umfasst ʿayn zwei Bedeutungen. Die erste bezieht sich auf die unveränderliche (feste) Wahrheit (das Prinzip) in jedem Menschen, die die gemeinsame Wurzel 108

Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 69.

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der Menschheit darstellt.109 Die zweite beinhaltet die von göttlichen Namen verursachte Originalität, die dem menschlichen Wesen gegeben wurde. Nach seiner Ansicht ist es die einzigartige Ausstrahlung der Göttlichkeit in uns: »unser Ursprung, auf den wir uns in unserer Existenz verlassen«.110 Das erste ist das feste Prinzip und das zweite ist die variable Einzigartigkeit. Wenn man beide Bedeutungen zusammenbringt, zeigt ʿayn den göttlichen Ursprung und die Zugehörigkeit des Menschen. Ein anderer Begriff, der auf den Ursprung des Menschen hinweist, fiṭra (Veranlagung), leitet sich vom Verb »faṭara« (splitten) ab. Aus dem gleichen Wort wird im Koran ein göttlicher Name abgeleitet: Fāṭir bedeutet, Himmel und Erde zu trennen und das Universum anhand dieser Splittung zu ordnen. Ibn al-ʿArabī nimmt an, dass das Wort faṭara im Koran das Auftreten (ẓuhūr) bedeutet. In dieser Richtung ist fiṭra das Prinzip, nach dem der Mensch geschaffen wurde, und die präzise Erscheinung, die sein Werden ermöglichte.111 Im Koran-Vers: »Richte nun dein Antlitz auf die Religion als Ḥanīf! Das (d.h. ein solches religiöses Verhalten) ist die natürliche Art, in der Gott die Menschen erschaffen hat« (Koran, 30:30). In obigem Vers steht »natürliche Art« für fiṭra und »geschaffen hat« für faṭara; In Bezug auf Ibn al-ʿArabī ist Fāṭir der sich manifestierende Gott, während fiṭra im Menschen der Ort der göttlichen Manifestation ist. Auch interpretiert er diese Überlieferung vom Prophe­ ten »Jeder (Mensch) wird im Zustand der fiṭra geboren« entsprechend: Jeder Mensch hat eine Natur, die in der Essenz zu einem Namen gehört.112 Der göttliche Name, der die Zugehörigkeit zum Sein bestimmt, ist der Gebieter, der die Natur dieser Person regiert. So kann fiṭra als das menschliche Naturäquivalent der obligatorischen Dienerschaft bewertet werden. Ibn al-ʿArabī nennt den menschlichen Kern »wāḥidatu l-aṣl« eins im Grunde und konstant in allen Menschen »ṯābitatun fī-kulli insan«.113 Es ist das inhärente göttliche Prinzip, das Menschen gleich sein lässt. Um es verständlich zu machen, gibt Ibn al-ʿArabī ein Beispiel: Die Wahrnehmung der Mutter durch das Neugeborene, in der das Baby kei­ nen Willen hat oder keine Anstrengung macht.114 Nach der Schöpfungs­ geschichte im Koran hatte Gott die Menschen dazu aufgerufen, »Bin ich nicht euer Gebieter (Unterstützer)?«, die Menschen beantworteten 109 110 111 112 113 114

Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 268. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 623. Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 353. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 4, S. 464. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 353. Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 4, S. 482–483.

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unwillkürlich direkt aufgrund ihrer Natur »Ja«, was mit diesem Beispiel übereinstimmt. Im Koran heißt es auch, dass der Biene offenbart wurde, was sie aufgrund ihrer eigenen Existenz tun muss (das Erfordernis, eine Biene zu sein). Ebenso wurde die Veranlagung der Menschheit (bzw. fiṭra) auch dem Menschen offenbart. Wenn der Mensch auf den ihm innewohnenden göttliche Ruf achtet, stellt er eine Übereinstimmung (unsiyya) zwischen dem aus der göttlichen Erscheinung beschaffenen Selbst (ʿubūda) und seinem eigenen Willen (ʿubūdiyya) her. Ibn al-ʿArabī verwendet den Begriff »Wort« (kalima) auch für die menschliche Essenz wie ʿayn und fiṭra. Es wurde bereits erwähnt, dass die Schöpfung mit Gottes Gebot »kunn« beginnt, daher ist die Schöpfung auch eine Äußerung, und die gesamte Schöpfung sind Gottes Worte. Im Koran wird der Begriff »Wort« für Jesus (ʿĪsā) verwendet115, er war als derartiger Gesandter im Vergleich mit anderen Menschen erhaben, aber »Wort-Sein« ist für Ibn al-ʿArabī die gemeinsame Bezeichnung des Menschseins. Wenn jede Kreatur ein Sprechen Gottes ist, was unter­ scheidet den Menschen von anderen Wesen, warum betont der Koran den Menschen (bzw. Jesus) als Wort? Von Natur aus kann der Mensch die Elemente in anderen göttlichen Worten sammeln und dadurch die Fähigkeit haben, ein »integratives« (ğāmiʿ) Wort zu sein:116 Menschen haben die Fähigkeit, Elemente zu sammeln, die sowohl in der Schöpfung als auch in der Reflexion von Gott hervorgehen. Ihm zufolge ist der Mensch das letzte Lebewesen, das aus der Erde hervorgegangen ist. Im Koran ist klar, dass der menschliche Körper aus Lehm geschaffen wurde (Koran, 15:26)117, aber wo, im Himmel oder auf Erden, hat Kontroversen ausgelöst. Obwohl der Vers das nicht klar zum Ausdruck bringt, gehört der Lehm, aus dem der Mensch geschaffen wurde, zur Erde, und der Mensch ist die letzte Kreatur, die auf der Erde erscheint. In ihrer Entstehung enthält die Erde die Elemente, die zur Erschaffung des Universums gehören. Auf die gleiche Weise hat der menschliche Körper eine Beziehung zu allen Elementen der Erschaffung der Erde sowie des Universums. Andererseits beherbergt – dank seiner geistigen Begabung – sein Herz göttliche Manifestationen. Die Erhöhung der spirituellen Fähigkeiten beruht auf dem geistigen Ursprung des Men­ 115 »Christus Jesus, Sohn der Maria, ist nur der Gesandte Gottes und sein Wort, das er der Maria entboten hat und Geist von ihm.« (Koran, 4:171) 116 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 7, S. 96. 117 »Wir haben doch (bei der Erschaffung der Welt) den Menschen aus trockenem, tonarti­ gem Lehm, aus schwarzem, zu Gestalt gebildetem Schlamm geschaffen.« (Koran, 15:26)

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schen in der Muhammadanischen Wahrheit. Das erste geistige und das letzte materielle Wesen zu sein, hat es dem Menschen ermöglicht, alle Elemente der Seienden zu erreichen. Zusammenfassend ist das erste, was erschien, um in Gottes Willen erkannt zu werden, die Wahrheit des Men­ schen, und das in der Schöpfung aufgetauchte letzte ist das menschliche Wesen, das die Ausstrahlung der ersten Wahrheit ist.118 Der erste Mensch, dessen geistiges Wesen aus Gott hervorgegangen ist, hat bis zu seiner vollkommenen Verkörperung auf Erden alle Ebenen des Seins durch­ laufen. Weil jede Dimension der göttlichen Liebesbewegung eine Rela­ tion zum Menschen hat, bewegen sich alle Wesen in Richtung Mensch­ sein. Das Hervorgehen der Muhammadanischen Wahrheit in verschiedenen Aspekten der Existenz (vom Universum bis zu den Tieren) zielt darauf ab, im Menschen zusammenzukommen. Das Dasein ist also ein Fluss zur Verwirklichung des perfekten Wesens. Die Schlussfolgerung von Ibn al-ʿArabī ist: Was mit »Welt« in der Phrase »Ich wollte erkannt werden und habe daher die Welt erschaffen« gemeint ist, ist eigentlich der Mensch, weil das Erkennen von Gott im perfekten Menschen und Gottes Selbst-Erkennen eine Einheit sind. Dies ist die kompetenteste Offenba­ rung des göttlichen Willens, d.h. die Verwirklichung des Zwecks der Erschaffung. In diesem Zusammenhang interpretiert er die Überliefe­ rung »Und wenn Ich ihn liebe, dann bin Ich sein Hören, mit dem er hört«, was eine direkte Beziehung zwischen Gottes Handeln und menschlicher Tat herstellt. Seine Äußerlichkeit besteht aus seiner schönsten Schöpfung und ist von Gott, und seine Innerlichkeit besteht aus der göttlichen Erscheinung. Der Mensch bringt die permanente Schöpfung im Körper zusammen, sammelt die permanenten Manifestationen in der Seele.119 So gewährleistet die Harmonie im menschlichen Ursprung einerseits die Einheit in der Göttlichkeit und andererseits die Partizipation mit den Kreaturen.120

b. Ebenbildlichkeit Gottes Eine der umstrittensten Überlieferungen in der Geschichte des islami­ schen Denkens: »Allāh hat den Menschen nach seinem Bild (ṣūrat) 118 119 120

Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 36. Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 94–95. Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 6, S. 299–300.

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geschaffen«121, bietet Ibn al-ʿArabī eine unverzichtbare Gelegenheit, die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen zu verstehen. Auch wenn der Begriff Bild in verschiedenen religiösen Traditionen und gewiss in der philosophischen Literatur anzutreffen ist, wird er seine Ansicht wie immer hauptsächlich auf islamischen Quellen aufbauen. In der Interpretation dieses Ḥadīṯ betrachtet er das Bild des ersten Menschen als Offenbarwerdung des göttlichen Namens Raḥmān, der Gottes Segen und Gnade in aller Form im Diesseits und im Jenseits darlegt, welche in diesem Rahmen vor allem das Existenz-Verleihen bedeutet. Er sucht ent­ sprechend nach den Bedeutungsäquivalenten der Sprache des Propheten, zum Beispiel in einem anderen Ḥadīṯ: »Ich habe meinen Gott nach dem Bild eines jungen Mannes gesehen.« Die ersten arabischen Gesprächspart­ ner des Propheten verglichen Gott nicht mit der Äußerlichkeit eines Jungen; sie verstanden die Majestät und Schönheit Gottes.122 Wir finden diese sprachliche Rechtfertigung von Ibn al-ʿArabī bereits in Beispielen von Gleichnissen (tašbīh) in der arabischen Rhetorik (balaġa). So wird der Mann wegen seines Mutes mit einem Löwen verglichen. Anstatt zu sagen »du siehst aus wie ein tapferer Löwe«, heißt es »du bist ein Löwe«.123 Niemand, der diesen Ausdruck hört, wird verstehen, dass das scheinbare Bild des Verglichenen zu einem Löwen geworden ist. Das Wort Löwe evoziert die Bedeutung: mutig zu sein – metaphorisch oder wörtlich. Der Linguist und Gelehrte as-Sayyid aš-Šarīf al-Ğurğānī (gest. 1413), der gleichzeitig ein Nachfolger von Ibn al-ʿArabī war, sagt über das Gleichnis: »Es stellt eine Ähnlichkeit zwischen zwei Dingen her, mit oder ohne Verwendung einer Analogie«.124 Doch wenn die Analogie des Jungen genommen wird, weiß man nicht genau Bescheid über die Quiddität des Sehens des Propheten. Ist das Bild des jungen Mannes wörtlich zu verstehen oder als Metapher?125 Ibn al-ʿArabī neigt nicht zur Ansicht, dass Metaphern in Offenbarung und prophetischer Sprache Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 186. In einer anderen Überlieferung: »Allāh hat Adam in dem Bild des Raḥmāns erschaffen«. Vgl. al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 5, S. 171. 122 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 311. 123 Anstatt zu sagen »anta ka-l-asadi fī-š-šağāʿati«, heißt es »anta asadun«. 124 As-Sayyid aš-Šarīf al-Ğurğānī: Kitāb at-Taʿrīfāt, Beirut 1992, S. 8. 125 Einer Erzählung im Koran zufolge sprach Gott von einem Baum zu Mose: »Als er dann hinkam, wurde ihm auf der rechten Talseite auf dem (von Allāh) gesegneten Stück Land vom Baum (šağar) her zugerufen: ›Moses! Ich bin Allāh, der Herr der Menschen in aller Welt« (Koran, 28:30). Einige Sufis interpretierten, dass Gott in Form eines jungen Mannes erscheinen könnte, basierend auf der Tatsache, dass er Moses vom Baum auf dem Berg rief. Vgl. Coppens, Pieter: Seeing God in Sufi Qur'an Commentaries. Crossings between This World and the Otherworld, Edinburgh 2018, S. 181–183. 121

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verwendet wurden.126 Er akzeptiert daneben, dass ein Wort mehr als eine Bedeutung umfasst. Somit wird ein Gleichnis in seiner wahren, aber sekundären (anderen) Bedeutung verwendet. Anstatt sich direkt auf die erste Bedeutung des Wortes zu verlassen, entwickelt er seine Interpreta­ tion auf der Grundlage der anderen Bedeutung. Tatsächlich kann es laut ihm manchmal eine sekundäre Bedeutung sein, die die erste semantische Konnotation in der Öffentlichkeit ist. Kehren wir zum Beispiel zurück: Es ist nun deutlich, dass das Wort Junge in einem sekundären Sinne verwendet wird, indem der Ausdruck »Bild« hinzugefügt wurde und der Ausdruck »Bild« die Bedeutung einschränkte (taḫsīs). Wenn gesagt worden wäre, dass »Gott als Junge erschien«, könnte der Junge in der physikalischen Erscheinung interpretiert werden; aber das Wort »nach dem Bild eines Jungen« entzieht das Subjekt der körperlichen Analogie. Demnach benutzte der Prophet dieses Gleichnis (wahrscheinlich) als Ausdruck göttlicher Majestät, beruhend auf einem Vorfall in der Natur. Und zurück zum Ḥadīṯ »in seinem Bild erschaffen«: Die Grundlage, um Adam nicht mit Gottes Selbst, sondern mit seinem Bild zu verbinden, ist die Negation der direkten Beziehung zu Gottes Selbst. Laut seiner Interpretation macht der Koran deutlich, wenn er »Es gibt nichts, was ihm gleichkommen würde« sagt, dass der Mensch nur nach seinem Bild wie Gott sein kann: Bild bezieht sich also auf die Relation nicht zu Gott selbst, sondern zu seinen Namen.127 Die feste Verbindung zwischen Gott und dem Menschen ist die Manifestation, nämlich der Name. Ebenbildlichkeit bezieht sich also auf Ḥaqq als den göttlichen Namen, der dem Menschen immanent ist. Die Erschaffung Adams nach dem Bilde Raḥmāns ist keine stoffliche Gleichartigkeit, sondern ein Zeichen der namensbezogenen Übereinstimmung zwischen Allah und Adam. Adam ist die Ebene des Existenzbringens, in dem die Göttlichkeit auf die vollkommenste Weise reflektiert wird: »Sein (Adams) Bild ist nichts als göttliche Ebene (martaba al-ilāhiyya)«. Unter allen Spiegelbildern (maẓāhir) ist diese Ebene die perfekte umfassende Gelegenheit, um die Göttlichkeit zu reflektieren. So verwendet Ibn al-ʿArabī das Bild und den »Wir denken anders von den Leuten (Theologen) über die Existenz der Metapher im Koran. Als Leute der Entschleierung (ahlu l-kašf ) und des Seins (ahlu l-wuğūd) und als muḥaqqiqūn akzeptieren wir die Existenz von Metaphern im Koran oder sogar in der ara­ bischen Sprache nicht.« Ibn al-ʿArabī: Raḥmatun min-ar-Raḥmān fī tafsīr wa-išārāt alQurān min Kalāmi š-Šayḫ Muḥyid-dīn, hrsg. von Maḥmūd Maḥmūd al-Ġurāb, Damaskus 1989, Bd. 1, S. 14. 127 Es ist »das Gemeinsame, das Ḥaqq und die ḫalq (Geschöpfe) vereint«: Ibn al-ʿArabī: Raḥmatun min-ar-Raḥmān, Bd. 1, S. 100. 126

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Spiegel im selben ineinandergeschobenen Rahmen – in dieser Richtung berichtet der folgende Ḥadīṯ darüber: »Der Gläubige (al-muʾmin) ist ein Spiegel (mirʾāt) des Gläubigen«. Die Mehrheit der Gelehrten inter­ pretierte dies so, dass die Spiegel-Metapher verwendet wurde, um die Ähnlichkeit zweier Gläubiger untereinander anzuzeigen.128 Ibn al-ʿArabī nimmt aber an, dass noch eine tiefere Bedeutung im Ḥadīṯ verborgen ist. Laut ihm wird eines der beiden mu‘min-Wörter für Gott und das andere für den Menschen verwendet. So wurde das Wort Spiegel an die Einheit von Göttlichkeit und Menschheit angepasst. Obwohl die Themen oben immer auf die eine oder andere Weise in der Einheit des Seins abgeschlossen werden, wird die Beziehung über die göttlichen Namen zum Menschen betrachtet und das göttliche Selbst ausgeschlossen. In dieser Haltung, die in gewissem Sinne der negativen Theologie nahekommt, wurde die ontologische Relation zwi­ schen menschlichem Wesen und Gott immer durch Namen hergestellt.129 Allerdings macht es diese Trennung der göttlichen Person von der Beziehung zum Menschen schwierig, die Idee der Einheit des Seins zu verstehen. Sicher sind Ibn al-ʿArabīs Werke mit Dutzenden von Passagen gefüllt, in denen er die Idee der Einheit betont, aber eine sorgfältige Untersuchung kann bestimmen, wie er sich der theologischen Haltung nähert. Wie bereits betont, ist ihm zufolge die Harmonie zwischen Gott und Mensch niemals die Teilhaberschaft zwischen dem göttlichen Selbst und dem menschlichen Wesen, sondern die Einheit (durch) die göttlichen Namen. »Es ist Gott und den Geschöpfen nicht möglich, in irgendeiner Weise Teilhaber in Bezug auf Selbst (ṯāt) zu sein. Es kann jedoch eine Beziehung bestehen, in der diese (göttliche) Person durch einige Eigenschaften gekennzeichnet ist.«130

Wenn es keine direkte Beziehung zum Sein-Selbst gibt, wie kann ein einzelnes Sein beansprucht werden? Andererseits – und vielleicht als Reaktion auf diese Verwirrung – können göttliche Namen nicht als vom göttlichen Selbst getrennt betrachtet werden, so wie es auch eine Einheit zwischen göttlichen Namen und dem Menschen gibt, und macht diese Vgl. https://www.dorar.net/Ḥadīṯ/sharh/62410 Die Antwort auf die Frage, warum und wie es einigen theologischen Gelehrten gelang, Ibn al-›Arabī zu verteidigen, muss in dieser seiner Haltung gesucht werden. Vgl. Morris, James: »Ibn al-ʿArabī and his interpreters: historical contexts, contemporary perspectives«, in Journal of the American Oriental Society, Bd. 106, 1986, S. 539–551. 130 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 147. 128 129

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Lehre die göttliche Person und den Menschen nicht in irgendeiner Weise verwandt? Ibn al-ʿArabī war sich dieses möglichen Einwandes bewusst und sagte: »Ḥaqq ist unsere Identität (und) nicht unsere Identität«.131

Die Identität (huwiyya) des menschlichen Wesens gehört zum Göttli­ chen; aber diese Relation (nisba) ist selbst der göttliche Name, nicht das göttliche Selbst. Laut ihm ist die Identität des Menschen eins mit der Identität Gottes, wenn man den Ursprung dieser Relation betrachtet, nämlich den Namen in Gott. Wenn man jedoch die Reflexion dieses Verhältnisses in der Kreatur betrachtet, kann die menschliche Identität nicht Gott genannt werden. So kann der berühmte Ausspruch »Ich bin Ḥaqq« (Anā l-Ḥaqq), der den Mord an Ḥusain ibn Manṣūr al-Ḥallāǧ (gest. 922) verursacht hat, von einer Richtung in die andere verfälscht werden. Nun versuchen wir, eine Synthese mit Zitaten zu erreichen, die den Satz al-Ḥallāǧs auf der einen Seite bestätigen und auf der anderen Seite widerlegen. Ibn al-ʿArabīs folgende Aussage, die für einige Leser ein direkter pantheistischer Ausdruck ist, vereint buchstäblich Gott und den Menschen: »Der Mensch ist nach dem Bild seines Schöpfers. In der Tat ist es die Identität und Wahrheit seines Schöpfers«.132

Die anthropomorphische Konnotation in diesem Satz sieht den Men­ schen genauso wie Gott, nicht nur in seinem Bild, sondern auch in der Wahrheit. Wenn dieser Satz im Rahmen der Seinsebenen gründlich bewertet wird, erscheint die Göttlichkeit als ein bestimmter Zustand »eines Seins«, während die Menschheit ein anderer Zustand ist. Die existenzstiftende Quelle befindet sich nicht außerhalb des Seins. Die Definition der menschlichen Identität ist, dass das menschliche Wesen nichts anderes ist als die Erscheinung Gottes mit all seinen Merkmalen. Im Einklang mit dieser Identität ist der Mensch eins mit Gott, und sogar in keinem anderen Wesen als Gott. Von der Ebene der Menschheit aus gesehen findet der Mensch, dass seine göttliche Wahrheit die Essenzen anderer Wesen infiltriert, und erkennt, dass dies nichts anderes als die Identität Gottes ist. Gleichzeitig findet er, wenn der Mensch die aus dem Göttlichen Selbst hervorgerufenen Ebenen des Seins betrachtet, alle Offenbarwerdungen als Namen und Taten Gottes, da das Sein der 131 132

»fa-huwa huwiyyatunā, lā huwiyyatunā«. Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 90. Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 110.

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Ḥaqq selbst ist. Als seine Erscheinung ist der Mensch in Gott, diese kann jedoch nicht Gott selbst sein, der alle Erscheinungen umfasst. Bei einer imaginativen Darstellung ist eine Sprosse einer Leiter nicht die Leiter selbst, aber diese Sprosse ist nichts weiter als eine Leiter. Obwohl er sich graduell vom Selbst unterscheidet, ist der Mensch natürlich eins mit Gott in Bezug auf seine existentielle Beziehung zu Namen und Handlungen. Aus diesem Grund ist es wichtig, aus welchem Blickwinkel man alḤallāǧs Wort bewertet, es kann gleichzeitig richtig und falsch gesehen werden. Ibn al-ʿArabī verwendet manchmal in seinen Gedichten ähnliche Ausdrücke wie al-Ḥallāǧ und stellt fest, dass der Mensch wahres und vollkommenes Bild von Allah ist. Manchmal betont er Göttlichkeit und Menschlichkeit als getrennte ontologische Zustände. Aus jeder Sicht manifestiert sich das Sein anders, wie die Koexistenz von Vielheit und Einheit. Also sind beide Ergebnisse wahr und beide Ergebnisse sind sogar eins. Damit gelangen wir zu einem anderen Konzept, das den Menschen dort beschreibt, wo diese Unterschiede und sogar Gegensätze aufeinan­ der treffen.

c. Barzaḫ: die beiden Hände Gottes Ibn al-ʿArabī bringt das Thema barzaḫ wieder auf die Agenda, um die Beziehung zwischen Mensch und Gott zu verdeutlichen. Dieses Thema, das gegensätzlich erscheinende Aspekte wie ʿabd und maʿbūd zusam­ menbringt, gewinnt in allen existenziellen Beziehungen an Bedeutung. Zum Beispiel ist es möglich, zwei gegensätzliche Beschreibungen wie Vor-Ewigkeit und Geschaffenheit in dem menschlichen Dasein wie die Welt zusammenzuführen. Mit Bezug auf die Essenz in der Muhamma­ danischen Wahrheit ist der Mensch vor-ewig, aber in Bezug auf sein Entstehen aus der Erde ist er geschaffen. Menschheit besteht einerseits aus variablen materiellen Formen der Kreatur, aus den permanenten Manifestationen andererseits. Hinter der Schwierigkeit zu beurteilen, was der Mensch ist, steht die Mehrdimensionalität und Vielfalt des Erschaffens Gottes. Um das alles zu beschreiben, verbindet Ibn al-ʿArabī die Ursache des Zwischenzustands, der die existenzielle Besonderheit des Menschen definiert, mit der Schöpfung Gottes mit beiden Händen. Den bildhaften koranischen Ausdruck »yadān« Erschaffen mit zwei Händen setzt Ibn al-ʿArabī als einen Grundbegriff der ontologischen Relation Gottes zum Menschen ein: dass der Mensch mit beiden Händen

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Gottes erschaffen wurde.133 Die erste Hand schafft den menschlichen Geist, der in/von Gott ins Dasein eingehaucht wurde;134 die zweite Hand bildet seine materielle, irdische Kreatur. Gottes beide Hände gleichen zwei göttlichen Namen: bāṭin und ẓāhir: Als Gottes Bild hat der Mensch auch innerliche und äußerliche Gesichter.135 Die äußerliche Erscheinung des Menschen gehört zu der temporären Welt der Möglich­ keiten, während er mit seiner innerlichen Seite die Welt des ewigen Absoluten berührt. Aus diesen zwei Seiten erscheinen zwei Gesichter des Menschen: das Notwendige (wāğib) und das Kontingente (mumkin). Menschen leben unterhalb der Grenze der Möglichkeiten (imkān), auf­ grund kreatürlicher Körperlichkeit, und zugleich leben sie aufgrund der von Gott eingehauchten Seele in Absolutheit.136 Die beiden miteinander verflochtenen Dimensionen werden auch als nāsūt (geschöpfliche) und lāhūt (göttliche) bezeichnet.137 Die kreatürliche (niedere) Seite des Menschen – wie schon betont – wurde aus der Erde erschaffen, und die lautere (erhabene) Seite existiert im göttlichen Werk (amr al-ilāhī). Mit dem Wort »amr« weist Ibn al-ʿArabī auf die Verse hin: »Man fragt dich nach dem Geist. Sprich: Der Geist ist amr (Paret: Logos) von meinem Herrn« (Koran 17:85).138 133 Vgl. Kāšānī, ʿAbd ar-Razzāq: Istilāhāt aṣ-ṣūfiyya, hrsg. von ʿA. Šāhin, Kairo 1996, S. 87. Über die zwei Seiten der Schöpfung: Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 174. 134 Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 36. Ǧāmī kommentiert, dass in Bezug auf die Exis­ tenz seiner Essenz (ṯātiyya) in Gottes Wissen der Mensch ewig ist. Vgl. Nūr ad-Dīn ʿAbd ar-Raḥmān Ǧāmī: Naqd an-nuṣūṣ fī-šarḥ naqš al-fuṣūṣ, ed. Ibrāhīm Kayyāle, Beirut 2004, S. 86. 135 Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 54–55. Gott ist auch in seinem Wesen innerlich, aber von der Seite der Hervorgebrachten ist er der Hervorgegangene: »Er ist der Erste und der Letzte, (deutlich) erkennbar und (zugleich) verborgen. Er weiß über alles Bescheid.« (Koran 57:3). Darüber sagt Ibn ʿArabī: »Wir wissen auch, dass Gott sich selbst als der Äußere und als der Innere beschrieben hat und dass Er die Welt gleichzeitig als innerlich und äußer­ lich offenbart hat, damit wir den inneren Aspekt (von Gott) mit unserem eigenen Inneren und den äußeren mit unserem eigenen Äußeren erkennen mögen.« Ibn ʿArabī: Weisheit der Propheten, S. 34. 136 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 395. 137 Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 185. Einige Verse weisen auf beide Wirklichkeiten hin: »Als dein Herr zu den Engeln sprach: Ich bin im Begriff, den Menschen aus Ton zu erschaffen (Koran, 38:71); »Und wenn Ich ihn gebildet und von Meinem Geist in ihn gehaucht habe.« (Koran, 38:72) 138 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 370. Es gibt Kontroversen zur arabi­ schen Bedeutung des Wortes »amr«, das in fast jeder Übersetzung auf Deutsch eine andere Bedeutung hat: Befehl, Arbeit, Angelegenheit etc. Seiner Meinung nach bedeutet dieses Wort ständige Wirkung Gottes.

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d. Geist, Körper und Seele Bisher wurde die Bedeutung von Menschsein, bei dem das Ziel der Schöpfung verwirklicht wird, in Übereinstimmung mit den Lehren der göttlichen Einheit und menschlichen Inklusivität anhand einiger Wörter wie uns, ʿabd, ʿayn, fiṭra, kalima, ṣūrat, barzaḫ analysiert. Wenn auch das Verhältnis von zwei Seiten des Menschen (irdische und himmlische) im Zusammenhang der göttlichen Hände thematisiert wird, wurde die Frage noch nicht beantwortet: Was ist die Stellung des Körpers, wenn der Geist mit menschlicher Essenz – bzw. Göttlichkeit – verknüpft ist? Nach allgemeiner mittelalterlicher Annahme hängt der Wert des Körpers gewiss in seiner Bedeutung vom Geist ab.139 Im Arabischen beinhaltet das Wort rūḥ, abgeleitet vom Verb rawḥ, die Bedeutungen von Windwehen, Erfrischung und auch Atem, der einen Teil von sich selbst bildet und seine Kontinuität gewährleistet.140 Im Koran wird das Wort als Rūḥullāh (Geist Gottes) für Jesus genauso wie für den Engel Ğabrāīl, der zu Maryam gesandt wurde, verwendet (Koran, 19:17–19); und es wird in einem anderen Vers als Werk Gottes bezeichnet (Koran, 17:85). Ebenso ruft der Koranvers von der Erschaffung Adams – »Wenn ich ihn dann geformt und ihm Geist von mir eingeblasen habe« (Koran, 15:29) – vielfältige Interpretationen insbesondere für Sufis hervor. Auch werden die beiden Verse zusammengefügt und das Werk (amr) Gottes als Einblasen der Seele interpretiert. Allgemein ist für Sufis der Geist die Quelle des wirklichen Lebens und Wissens als ein Zeichen der göttlichen Permanenz im Menschen gegen die Zeitlichkeit des Körpers. Aus diesem Grund wurde der geistige Aufstieg durch eine Abkehr von der körperlichen Welt als Erreichen Gottes verstanden. Die Geist-Körper-Dichotomie der asketischen Anschauungen sowie die durch sie verursachte Dualität musste Ibn al-ʿArabī aufgrund seiner Einheitslehre überwinden. Weil Geist und Körper die Aspekte sind, die durch Gottes zwei Hände – d.h. durch den einen göttlichen Willen – ins Leben gerufen werden, müssen sie daher wechselwirkend behandelt werden. Insgesamt muss der Körper, 139 In diesem Zusammenhang müssen wir auf eine Verwirrung der Begriffe hinweisen. Während das Wort »rūh« in den Übersetzungen des Korans und in einigen Studien als Geist übersetzt wird, wird es in anderen als Seele bezeichnet. Siehe für ausführliche Infor­ mationen: Hajatpour: Vom Gottesentwurf, S. 128. Hier wurde »rūḥ« mit Geist übersetzt, sowohl um rūḥ von nafs (Seele) zu unterscheiden als auch um eine begriffliche Überein­ stimmung mit Eckharts Terminologie zu erlauben. 140 al-Isfahānī: al-Mufradāt, S. 369–371.

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da er sowohl mit der perfekten göttlichen Schöpfung als auch mit dem göttlichen Atem verbunden ist, einen erhabenen Wert haben. Nach Ibn al-ʿArabī ist der Geist eine Grundlage, die die Vitalität des Leibes sicherstellt, indem sie beständig Manifestationen aufnimmt. Es ist möglich, Parallelen zur neoplatonischen Tradition in ihr Herange­ hensweise an die Geist-Körper-Beziehung zu finden. Er drückte auch den Ansatz in verschiedenen Kontexten aus, dass der Geist zwei Antlitze hat, eines schaut auf die Ewigkeit und das andere auf die Kreatürlichkeit. Die göttliche Seite gehört zu Ḥaqq und seinem Atem. Die Wirkung der göttlichen Manifestation auf den Menschen wurde mit der Wirkung des Windes auf die Dinge dargestellt.141 Der Hauptpunkt nach dieser etymologischen Analogie ist mit dem Vers ausgedrückt, der vom Blasen Gottes spricht, wodurch er von seinem (Gottes) Geist gibt. Dies kann als ein zur Existenz-Bringen oder Leben-Erhalten verstanden werden. Von seinem Geist zu geben ist die Manifestation des Namens Raḥmān im Menschen als Existenzgabe, weil die Übertragung der Existenz durch die Geist die größte Barmherzigkeit ist.142 Den Geist zu geben, der den Menschen macht, ist gleichzeitig das Sprechen des Wortes »kunn«. In dieser Hinsicht ist der Geist als ein Ohr bezeichnet worden, das das existenzgebende Wort Gottes hört. Gottes Atem, Wort und Existenzgabe, sowie das Echo (die Reflexion) seiner ständigen Manifestationen bilden die Essenz des Begriffs Geist. Jedes Seiende hat aufgrund göttlicher Wirkung einen Geist, und dadurch ist es lebendig. Es gibt keinen nicht lebendigen Gegenstand. Alles verkörpert sich als Manifestation von einem bestimmten Geist in der Welt der Sinne. Auch die Menschheit erscheint in der Welt des offenbaren Bezeugens (ʿālam aš-šahāda) als Manifestation des Geists im Körper. So ist der Körper die Erscheinung des Geists. Es gibt eine ähnliche Beziehung zwischen Geist und Körper wie zwischen Gott und der Welt. Anders ausgedrückt sind Geist und Körper also keine unterschiedlichen Einheiten oder Dimensionen, sondern im Prozess des Menschseins miteinander verflochten und Nachfolger voneinander. In diesem Zusammenhang betont Ibn al-ʿArabī das Thema von »yadān« wieder. Nach dem Vers, wonach der Mensch aus Lehm geschaffen wurde, musste der menschliche Körper durch die Kombination der Elemente auf der Erde geschaffen werden. In Verbindung mit dem Vers über das Einblasen der Seele kommt Ibn al-ʿArabī zu dem Schluss, dass der 141 142

Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 91. Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 7, S. 524.

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menschliche Geist als Atem Gottes auf alle irdischen Elemente übertra­ gen wurde.143 Angesichts der Integrität von Geist und Körper entstand die wahrnehmbare Präsenz des Menschen in der einheitlichen Handlung Gottes: Einheit des Schaffens mit dem Atem im göttlichen Sein. Und was man gegenwärtig als Körper wahrnimmt, könnte ohne Geist nicht entstehen. Nach Ibn al-ʿArabī kann der Geist niemals unabhängig von einer bestimmten Form gedacht werden, er erschien in der Welt in Körperform. Sie ist auch in Form eines Bildes (ṣūrat) im Jenseits. Nach seiner Lehre ist es unvorstellbar, den Geist unabhängig von einer Form zu denken, weil er im Wesentlichen immer an Gott gebunden ist und so nicht für sich stehen kann.144 Seine Schlussfolgerung daraus ist, dass das Menschsein weder auf Körper noch auf Geist reduziert werden kann. Derart ist Erhabenheit nicht auf den Geist beschränkt, als Ergebnis der göttlichen Existenzgabe (durch Erschaffen) kommt der Körper auch mit dem Sakralen in Relation, wenn auch indirekt. Wenn der Körper nicht hinreichend wäre, könnte er nicht in Gottes Atem integriert werden. Wenn es keine Perfektion im Körper gäbe, wäre der Mensch nicht auf der Erde als Stellvertreter Gottes aufgetaucht. Die relativ-positive Sicht Ibn al-ʿArabīs auf die Erde hat sich auch im Körper manifestiert. Ein weiterer Begriff, der die einheitliche Beziehung des Geists mit dem Körper auszudrücken, ist »nafs«. Ibn al-ʿArabīs Definition von nafs hat Kontinuität mit der sufischen Tradition. Insbesondere Spuren von al-Ġazzālī, auf den er auch viele Hinweise gab, sind zu finden. Laut al-Ġazzālī haben die Seele und der Geist (wie Vernunft und Herz) unterschiedliche Anwendungsbereiche. Allerdings sind diese Wörter gleichbedeutend in dem Ausdruck der göttlichen Feinheiten (laṭīfa) im Menschen. In dieser Hinsicht sind der Geist, den Gott Adam (Koran, 38:72) eingehaucht hat, und die Seele, die durch Errei­ chen des Zufriedenseins (nafs muṭmainna) zu Allāh zurückgekehrt ist (Koran, 89:27–28), dasselbe im Koran. Das gute Gewissen, das durch die Befreiung der Seele vom Bösen erlangt wird, ist der Geist selbst. Besonders in den asketischen Traditionen wird die Reinigung der Seele mit der Perfektion des Geistes abgeschlossen. Oder die Reifungsstufen der Seele sind Grade des geistigen Aufstiegs. Dies zeigt, wie die Grundidee von Seele und Geist für Sufis im Kontext ihrer Orientierung an Gott miteinander verbunden sind. Zusätzlich zu den Ansichten der Sufis vor ihm qualifiziert Ibn al-ʿArabī die Seele als barzaḫ, weil sie Form und 143 144

Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 7, S. 593. Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 92–93.

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Materie – und damit beide Aspekte – kombiniert.145 Während der Geist einfach und ungeteilt ist, ist der Körper eine Kombination materieller Elemente. Auch ist der Geist ein verborgenes Inneres und der Körper ein wahrnehmbares Äußerliches. Es gibt eine Zwischensituation in der Vereinigung dieser beiden, nämlich nafs. In der Interaktion von Geist und Körper kommen alle geistig-materiellen Eigenschaften im Bereich der Seele (nafs) zusammen. Da der Mensch weder reiner Geist noch allein Körper ist und die Möglichkeit hat, sich zu beiden zu neigen, es ist der Seelenbereich, der den Zustand einer Person am besten beschreibt. So sind der Geist, der Körper und die Seele nicht einzelne Wesenheiten, sie sind die Phasen und Aspekte des göttlichen Existenzbringens, die die Einheit und Integrität des Menschen gewährleisten. Dieser Zustand von barzaḫ ermöglicht es einem Menschen, sich sowohl dem Guten als auch dem Schlechten zuzuwenden. In Überein­ stimmung mit vielen anderen Sufis hat laut Ibn al-ʿArabī jemand, der sein Gesicht total zur Weltlichkeit dreht, eine »animalische Seele«, das heißt, er befindet sich auf der untersten Ebene in der Spiritualität. Die Disziplinierung der Seele besteht jedoch nicht in ihrer Beseitigung. Das göttliche Licht des Geistes strahlt immer weiter aus, und der Ort, in dem die geistige Ausstrahlung erscheint, ist die Seele. Wenn diese Ausstrah­ lung zunimmt, wird die Helligkeit überwältigt. Im umgekehrten Fall ist der Sonnenuntergang des Geistes in der Seele nicht die Machtübernahme des Körpers. Es ist nicht der Körper selbst, der die Seele verdunkelt. Keine körperliche Neigung und keine im Körper manifestierten Handlung ist an sich selbst böse. Hinter dem Bösen, das sich im Körper veräußerlicht, steht der in der Seele entstandene Wille.146 Willens- (irāda) und Wahlun­ terschiede (iḫtiyār) haben zur Bildung heller und dunkler Bereiche in der Seele geführt.147 Die Änderung der manifestierten Namen, die im Einklang mit dem persönlichen Willen stehen, bewirkt die Änderung der Eigenschaften und Handlungen. Es sind nicht nur scharfe Beistim­ mungen wie gut und schlecht, sondern auch Veränderungen in relativen Zuständen wie Glück und Traurigkeit, in denen sich die Manifestatio­ nen mit dem Willen in der Seele überschneiden. Ibn al-ʿArabī führt die Verwendung von Eigenschaften wie Raūf, Raḥīm und Mu‘min als Vgl. Chittick: Imaginal Worlds, Ibn al-›Arabi and the Problem of Religious Diversity, New York 1994, S. 24–27. 146 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 185. 147 Die Seele wird mit dem Mond vor der Sonne verglichen. Siehe: Ibn al-ʿArabī: Tadbīrāt al-ilāhiyya, S. 26–27. 145

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Beispiel für den Propheten im Koran an. Diese Eigenschaften sind auch göttliche Namen.148 So wird angegeben, welchen Charakter die Seele des Propheten angenommen hat: Weil er die perfekte menschliche Seele hat, ist er Sammler aller Namen. Im Allgemeinen erscheint die Seele eines guten Menschen (oder eines grausamen Menschen) in den Handlungen in seinem Körper. Denn der Körper ist der einzige Bereich, in dem sich die Seele stets reflektieren kann. Die Information über den Charakter eines Menschen kann also aus der Kenntnis des Zustandes gewonnen werden, in dem er sich mit seiner Seele befindet. Und den Zustand der Seele zu verbessern bedeutet, die Seele in die erst geschaffene Natur ( fiṭra) zu verwandeln. Somit wird sie die Kenntnis ihres ursprünglichen Zustands aus der Kenntnis ihres gegenwärtigen Zustands erreichen; laut Ibn al-ʿArabī ist dies der Prozess des Selbsterkennens. Indem ein Mensch seine Seele kennt, indem er seinen Gott kennt, entdeckt er den Geist, der in seiner Seele aktiv ist, d.h. den göttlichen Namen. Die Seele erfährt die Beständigkeit der geistigen Manifestationen und Schöpfung. Sich selbst zu kennen bedeutet also, das Auftreten göttlicher Namen in sich selbst zu erfahren.

e. Kalifat: Mensch und Welt Bisher wurde festgestellt, dass die innere Einstellung des Menschen aus göttlichen Werken erzeugt und die sichtbare Form aus der Erde erschaffen wurde.149 Weil er mit beiden Händen Gottes geknetet ist, wird die Welt als Zeichen (ʿalam) für ihn definiert. Für Ibn al-ʿArabī braucht das gigantische Universum, dessen Grenze und Funktion nicht nachvollziehbar ist, den auf der Erde lebenden Menschen, einen kleinen Teil davon. Nach dem Gesichtspunkt der heutigen wissenschaftlichen Daten ist es schwer zu erfassen, dass das Universum mit dem Ende der Menschheit – oder vielmehr des perfekten Menschen – zu Ende gehen wird. Apokalypse ist also der Tod des geistig-vollkommenen Menschen. Die Welt wird als eine Bühne dargestellt, die die Entstehung der ultima­ tiven Station der Existenzgabe – nämlich der Mensch – vorbereitet; aus diesem Grund gibt es eine notwendige Beziehung zwischen den Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 9, S. 106. Dieser zuvor hervorgehobene Punkt erhält im Kontext von »Bild« eine augenfällige Bedeutung. Es ist das Bild Gottes in seiner Immanenz (ṣūratuhū l-bāṭina) und das Bild der Welt in seiner Äußerlichkeit (ṣūratuhū ẓ-ẓāhira), auch wenn beide Tore zu einem Sein sind. Siehe: Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 157. 148 149

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beiden (genau wie die Beziehung zwischen Gott und der Welt). Denn die vollkommenste Manifestation des göttlichen Bildes konnte nur in der Integration des Geistes und Körpers auf der Erde erscheinen. Der Mensch braucht das Universum und das Universum braucht den Menschen. Göttliche Namen bilden den Kern der existentiellen Wechselbeziehung zwischen beiden, weil beide Orte der Erscheinung göttlicher Namen sind. Die göttlichen Manifestationen in der Welt sind kontinuierlich und brandneu, aber in verschiedene Teile verteilt; sie können nur beim Menschen zusammenkommen. In Anbetracht des Sammelns göttlicher Namen sagt Ibn al-ʿArabī: »Das gesamte Universum ist die Ausarbeitung von Adam (tafṣīlu Ādam)« – weil die in Adam gesammelten Namen in verschiedenen Substanzen in der Welt vorkamen.150 In dieser Rich­ tung bezeichnet er das Universum als den großen Menschen (insān al-kabīr),151 und den Menschen als kleine Welt (›ālam aṣ-ṣağīr).152 Der Mensch ist eine mikrokosmische153 Komprimierung (Verdichtung) und das Universum ist eine Makrospiegelung des Menschen: »Der Mensch und die Welt sind wie zwei gegenüberstehende Spiegel, die sich gegenseitig reflektieren.«154 Deswegen ist der Mensch ein Exemplar (nusḫa) des Universums und aus der Perspektive seiner irdischen Äußerlichkeit Kind des Universums.155 So wie das Kind seine Mutter braucht, ist die Menschheit in Bezug auf Geburt, Aufwachsen und Kontinuität des Lebens von der Erde abhängig. Die Erde ist die Mutter des Menschen. Andererseits kann Mutterschaft (wie in der Vater-Sohn-Analogie) nur mit der Anwesenheit des Kindes möglich sein. Dass die Welt ein Zeichen für den Menschen ist, liegt daran, dass sie dank ihm Mutterschaft erlangt hat. Denn solange das Kind lebt, kann das Weib Mutter bleiben. Wiederum kann der Grund eines Merkmals, das man bei ihrem Kind sieht, bei der Mutter gesucht werden. Wie der Mensch auf die schönste Weise erschaffen ist, ist auch seine Heimat Welt auf die schönste Art und Weise. Ein weiterer Grund, warum die Erde als Mutter für den Menschen ausgewählt wurde, liegt 150 »In the cosmos the divine names are relatively differentiated (mufassal), while in man they are relatively undifferentiated (mujmal). “ Chittick: Sufi Path of Knowledge, S. 17. 151 Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 49. 152 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 121. 153 Vgl. Robert J.: Logos and Revelation: Ibn ›Arabi, Meister Eckhart, and Mystical Hermeneutics, Washington 2010, S. 230. 154 Siehe: Rahmati: Der Mensch als Spiegelbild Gottes in der Mystik Ibn ʿArabīs, Wiesbaden 2007, S. 52. 155 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 615.

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nicht nur in ihrer Vollkommenheit, sondern auch in ihrer Wandelbarkeit. Durch ihre Wandlungsfähigkeit können verschiedene göttliche Namen parallel zueinander auftreten. Der ständige Wandel auf der Erde und die damit verbundene Vielfalt und Erneuerung sind darauf zurückzuführen, dass sie mehr und vollkommen göttliche Namen widerspiegelt. Dieses Merkmal machte sie vor anderen Planeten privilegiert und Gott vertraute die Mutter Erde ihrem Kind, dem Menschen an.156 Da das einzige Wesen, das ihr Betreuer sein kann, der Mensch ist, kann er vielfältige äußere und innere Merkmale der Erde in sich selbst haben. Aber Ibn al-ʿArabī begnügt sich nicht nur mit der Mutter-Kind-Analogie. In Anbetracht der Wechselbeziehung zwischen Geist und Körper kann der Mensch als der Geist für die Erde angesehen werden. Während er durch seine Verkörpe­ rung ein Teil der Erde ist, erlangte er ein spirituelles Privileg, als ihm der Geist von Gott eingehaucht wurde. Mit dem Atem des Barmherzigen sind sowohl die Stufen des Menschseins als auch die Vollkommenheit der Erde abgeschlossen: Mensch und Welt sind entstanden, indem sie sich gegenseitig vervollständigen. Diese verflochtene Beziehung hat eine natürliche Konsequenz; ähnlich der Wirkung des Geistes auf den Körper ist der Mensch als Geist für die Erde auch ihr Kalif.157 Im Koran hatte Allah den Engeln mitgeteilt, dass Adam, als er erschaffen wurde, der Kalif auf Erden werden würde. Da die Engel die Wahrheit Adams (als Sammler der Manifestation) nicht kannten, machten sie ihm Vorwürfe. Aber als Adam ihnen (göttliche) Namen gab, warfen sie sich nieder und ergaben sich Gott. So wurden Adam und Eva aufgrund der Verheißung Gottes »Ich werde einen Kalifen auf Erden erschaffen« auf die Erde gesandt.158 Ibn al-ʿArabī unterscheidet sich von anderen exegetischen Richtungen – sowie in vielen anderen Fragen – in Bezug auf das Thema Kalifat des Menschen. Ihm zufolge ist Adam nicht wegen seiner Sünde auf die Erde gekommen. Im Gegenteil: er wurde als Kalif Allahs auf die Erde gesandt. Nach dem Koran missachteten Adam und Eva Gottes Gebot und näherten sich dem verbotenen Baum. Als Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 4, S. 454. »Adam war der Geist der Form (rūhu ṣ-ṣūrat). Dieser Kern des Seins steht für den Men­ schen und Kalifen, seine Bezeichnung als Mensch weist darauf hin, dass seine umfassende Erscheinung alle Stufen des Seins enthält und alle Wahrheiten sammelt (ḥaqāiq kulliha).« Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 49. »Wenn Gott die Vollkommenheit des menschlichen Daseins wollte, sammelt er sie zwischen seinen Händen, gibt ihnen alle Wahrheiten der Welt und manifestiert sie mit allen seinen Namen, erfasst sie für das Kalifat und die Leitung der Welt«. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 468. 158 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 647. 156

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Strafe für diese Sünde wurden sie aus dem Paradies entfernt und sind in die Welt gefallen. Viele Kommentatoren suchen die Ursache des Abstiegs in die Welt in der Sünde. Ibn al-ʿArabī hingegen hat diese Meinung nicht: »Der Grund für den Abstieg (in die Welt) war nicht die Bestrafung der Sünde, sondern ein Kalif zu sein. Der einzige Grund für den Abstieg (nuzūl) muss das Kalifat sein.«159

Bevor Adam überhaupt existierte, erklärte Gott, dass er den Kalifen auf Erden erschaffen würde, und dann er sandte Adam auf die Erde für die Verwirklichung der Verheißung. Weil die Erde darauf wartet, dass Adam sie vollenden wird. Die Erde, die eigentlich der Körper des Menschen ist, wird mit der Ankunft Adams ihren eigenen Geist und so vollständige Lebendigkeit erreichen. Was bedeutet der Titel »Kalif«, der im Rahmen einer politischen Bedeutung in der Geschichte verwendet wurde, um in diesem Sinne der Herrscher der Erde zu sein? Ibn al-ʿArabī klassifiziert zuerst die aktuellen Verwendungsbereiche des Kalifat-Titels. Dementsprechend gibt es drei Arten: (a) als Herrscher des menschlichen Landes (Körpers) die Seele; (b) irdischer Herrscher; (c) perfekter Mensch, der das Geheimnis des Kalifats hat.160 Seine mystische Lehre hat nichts mit dem Kalifen zu tun, der die weltliche Autorität darstellt. In Bezug auf die Verwaltung der eigenen Körperlichkeit ist Kalifat durch die Seele wichtig, um die Beziehung zwischen Mensch und Welt durch die Beziehung der Seele zum Körper herzustellen. Der dritte Ansatz ist der zentrale, dass der höchste Heilige eines Zeitalters am würdigsten ist, der Kalif Gottes auf Erden zu sein. Als Sufi wird Ibn al-ʿArabī sich verständlicherweise auf den dritten konzentrieren. Ihm zufolge hat das Kalifat jedoch eine ähnliche Breite wie die Dienerschaft. Da er der Geist der Erde ist, ist jeder Mensch selbst Inhaber einer Art Kalifat. So hat er die Freiheit in der Welt, aus freiem Willen zu tun, was er will. In gewisser Weise ist die Orientierung des Menschen, die Welt zu regieren, das »natürliche Kalifat«. Es ist eine Natürlichkeit, die nur dem Menschen eigen ist.161 Eine weitere Bedeutung des Kalifats ist, dass es ein spiritueller Grad darstellt, der durch die Erfüllung von geistigen Kompetenzen erreicht wird. Die Person, die die Notwendigkeit Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 7, S. 477. Vgl. Ibn al-ʿArabī: Tadbīrāt al-ilāhiyya, S. 20–24. 161 Das natürliche Kalifat ist für jeden Menschen gültige notwendige Dienerschaft. Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Bulġā fi-l-ḥikma, hrsg. von Nihat Keklik, Istanbul 1969, S. 45. 159

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erfüllt, nach dem Bilde Gottes geschaffen zu werden, steigt in den Kali­ fat-Grad auf, um die Namen Gottes vollständig zu erfassen. Kalif drückt damit die Kompetenz der Gottesfreundschaft aus, damit beobachtet man eine begriffliche Inhaltstransformation. Denn das mit der Verwaltung der Außenwelt verbundene Konzept repräsentiert nun die Anordnung der Innenwelt: Weil der Kalif die Manifestationen der Namen in seiner Innenwelt sammelt, die in der Außenwelt verstreut sind, ist dies der Inhalt des wahren Kalifats. Dementsprechend beschreibt er den Kalifat-Status als »die Schau (mušāhada), im Inneren (bāṭin) ein Diener zu sein«.162 Der Mensch hat die Möglichkeit, in der Außenwelt zu tun, was er will, doch obwohl er ein Herrscher in Bezug auf die Außenwelt ist, ist er ein Diener im Verhältnis zu Gott, da er in der Innenwelt ständigen Manifestationen unterworfen ist. Das notwendige Verhältnis zwischen Gott und Mensch spiegelt sich also in der Beziehung zwischen Mensch und Welt wider. Aufgrund seiner Dienerschaft (ubūdiyya) verbeugt sich der Mensch vor Gott; und aufgrund seiner Herrschaft (rubūbiyya) verbeugt die Welt sich vor dem Menschen.163 Die Annahme einer solchen Beziehung würde zu einer Art Hierarchie unter den geschaffenen Wesen und sogar zu einer Überlegenheit des Menschen führen, was einen Widerspruch zur Einheitstheorie darstellen würde. In einigen seiner Äußerungen wird Ibn al-ʿArabī besonders die Überlegenheit der Welt in der Schöpfung betonen, was als Suche nach dem Gleichgewicht betrachtet werden kann, aber im Zusammenhang mit diesem Thema erwähnt er besonders die Art der Beziehung, die der Mensch mit der Welt eingehen wird. Die als Diener Gottes handelnde Person kann nur eine gerechte und maßvolle Beziehung zur Welt aufbauen. Wenn er das Äußere und das Innere in sich zusammenbringt, wird er zu einer Brücke, die Gott und die Kreatur vereint (barzaḫ): weil der Kalif eine Harmonie zwischen den göttlichen Namen in sich und den göttlichen Namen im Außen herstellt.164 Während er zum Beispiel die göttliche Schönheit seelisch in seiner inneren Welt spürt, sieht er diese Schönheit in unzähligen Objekten in der äußeren Welt. Seine Haltungen zur Welt als sichtbarem Gesicht des Seins und zu Gott als unsichtbarem (Seins-)Grund ergänzen sich gegenseitig. Das Kalifat für die Welt und die Dienerschaft für Gott erscheinen gleichzeitig in derselben Handlung. Das »Gefundene« – im Sinne von wuğūd – gehört also weder nach innen noch nach außen, 162 163 164

Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 7, S. 477. Vgl. Ibn al-ʿArabī: Kitāb al-masāil, in Rasāil, S. 312–314. Vgl. Ibn al-ʿArabī: Raḥmatun min-ar-Raḥmān, Bd. 1, S. 100.

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weder zum Körper noch zur Seele, weder zur Dienerschaft noch zur Meisterschaft; es ist die Einheit in dem Menschen. Dementsprechend gibt es Bestimmungen zur Errichtung von Harmonie und Maß in Bezug auf die Welt.165 Somit begrenzt das spirituelle Kalifat den Wirkungsbereich des natürlichen Kalifats. Als Fazit ist hier zu ziehen: Der Kalif der Erde zu sein bedeutet nicht, nach dem eigenen Willen zu handeln. Es gibt geoffenbarte Prinzipien, die den Willen des Menschen bestimmen und begrenzen, die sich als notwendige Verantwortung gegenüber der Welt (anvertraute Mutter) und gleichzeitig als das Erfordernis der Diener­ schaft Gottes ergeben.

3.2. Ziel des Menschseins a. Mittel zur Erreichung des Ziels: Herz und Verstand Im Zentrum von Ibn al-ʿArabīs mystischer Erkenntnislehre steht der Ḥadīṯ »Wer sich selbst kennt, kennt seinen Gott«. Vor allem die Selbster­ kenntnis findet im Herzen statt. Laut ihm ist das »qalb« (Herz), in dem spirituelle Erkenntnis entsteht, keine physiologische Realität, sondern der Ort, an dem göttliche Ausstrahlungen im Menschen zusammenkom­ men.166 Wie der Geist, der buchstäblich direkt auf Manifestation in der Wurzelbedeutung Windbrise hinweist, hat Herz die Wurzelbedeutung Welligkeit. Ibn al-ʿArabī ist der Meinung, dass es in Bezug auf die Verän­ derungen im menschlichen Körper aufgrund der göttlichen Wirkung qalb genannt wird.167 Weil der Eindruck des Herzens von Objekten Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 66. Das Herz steht an der Spitze des Menschen, siehe: Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-mak­ kiyya, Bd. 7, S. 81. Es ist nicht möglich, im Rahmen der modernen Biologie den Wert zu erklären, der der Erkenntnis des Herzens im Koran und in der sufischen Interpretation beigemessen wird. Schließlich wissen wir heute, dass das Herz keine Funktion hat, die Wissen, Glauben oder Emotionen hervorbringt. Ähnliche Probleme treten in den Texten von Ibn al-ʿArabī auf. Daher ist es zunächst erforderlich, auf die Mehrdeutigkeit bei der Verwendung von Wörtern aufmerksam zu machen. Während er sagt, dass das Herz ein zentrales Organ unter der Brust ist und auf die materielle Struktur des Herzens hinweist, schreibt er dem Herzen anderswo eine spirituelle Bedeutung zu und drückt aus, dass es der Kopf ist. Aufgrund dieser Bedeutungsvielfalt muss vor allem gesagt werden, dass das Herz nicht nur ein Körperorgan ist. 167 »Das Herz ist das geistige Element im Menschen, der Sitz guter Eigenschaften und Träger der Vernunft (aql), der als eine Art von 6. Sinn oder göttlichem Licht aufgefasst wird. Das Herz ist auch der Sitz der intuitiven Erkenntnis, der marifa. Das sirr, der innerste Herzens­ 165

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variiert verändern selbst scharfe Emotionen wie Liebe und Has sichs je nach Zeit und Ort. Die Wurzelbedeutung des Herzens für ihn besteht darin, dass die Welle immer auf eine brandneue innere Erfahrung ver­ schiedener Seins-Zustände hinweist. In dieser Hinsicht ist das Herz der Ort (maḥal) der Stationen (maqām), an dem die kontinuierlichen und ununterbrochenen Manifestationen wiedergegeben werden.168 Aufgrund dieser Schwankung hat es Veränderungen, Neuerungen und Tiefe. Auch wurde ein Wort des Propheten übermittelt, dass göttliche Wirkungen in das menschliche Herz passen könnten, und so darauf hingewiesen, dass es eine immense Breite hat.169 Entsprechend sammelt und erkennt ein Sufi Wirkungen dank der Breite seines Herzens.170 In diesem Bedeu­ tungsrahmen ist es schwierig, das Herz von dem Geist zu unterscheiden, und so kann festgestellt werden, dass es das Zentrum des Geistes ist. Ibn al-ʿArabī vergleicht es mit der Kʿaba, auch um die Zentralität des Herzens zu betonen. Die Kʿaba ist die Richtung (qibla), an die sich alle Gläubigen im Gebet wenden, und wird von mittelalterlichen Gelehrten als Mittelpunkt der Erde und sogar des Universums angesehen. Das menschliche Äquivalent der Kʿaba, die das Haus Gottes genannt wird, ist das Herz, denn es ist die Heimat göttlicher Namen: »Als Gott deinen Körper geschaffen hat, setzte er darin eine Ka’ba, und das ist dein Herz«.171 Die göttliche Manifestation fließt in das Herz des Gläubigen, da Gott das Herz des Gläubigen als sein Haus festgesetzt hat. Er macht eine bemerkenswerte Analogie in Bezug auf das Verständnis der Beziehung des Herzens zum Geist: Wenn der Kalif des Landes des Körpers der Geist ist, ist der Palast (des Geistes) das Herz. Die geringste Störung im Palast führt dazu, dass sich der Kalif und seine Untertanen verschlechtern. Die Pracht des Palastes wird die Majestät des Kalifen anzeigen. Der kern, kann zum Träger der Gottesschau, der visio beatifica, werden.« Schimmel, Annemarie: Zur Anthropologie, in Anthropologie Religieuse, Leiden 1955, S. 145. 168 Er wies auf seine Kapazität hin, von einem Zustand (daher der manifestierte Effekt) in einen anderen zu wechseln, denn Herzen sind zwischen den beiden Fingern Gottes: Ibn al-ʿArabī: Mawāqʿi an-nuğūm, ed. H. Abū Sūlaymān, Kairo 1998, S. 126. 169 »Weder mein Himmel noch meine Erde umfassen mich. Aber das Herz meines gläubigen Dieners hat Raum für mich (kann mich umfassen)«, sagte Gott in einer Überlieferung des Propheten. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 3, S. 250. 170 In der sufischen Tradition ist das Interesse am Herzen so groß, dass es mit vielen ähnlichen Konzepten wie fūad, ṣadr, ḫafī behandelt wird. Immer wird das Herz als epistemische Möglichkeit gegen die Vernunft dargestellt. Vgl. Morris W. James: The Reflective Heart. Discovering Spiritual Intelligence in Ibn ›Arabi’s Meccan Illuminations, Louisville 2005. 171 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 3, S. 250.

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Wesir (Stellvertreter) des Geistes ist die Vernunft. Der Kalif regiert sein Volk durch seinen Wesir und damit kommt es zum Einfluss der Vernunft auf die Taten, die von der Person hervorgehen. Für die Existenz eines menschlichen Landes muss es ein komplementäres Beziehungsnetz zwischen Geist-Körper und Vernunft-Herz geben.172 Gott hat die für Adam einzigartigen Kräfte des Verstehens und Wissens wie Vorstellungskraft (taṣawwur) und Nachdenken (tafakkur) gegeben. Getreu Aristoteles versammelten muslimische Denker diese Kräfte unter der Fähigkeit von nuṭqiyya (vernünftige Rede). In verschie­ denen Passagen identifiziert Ibn al-ʿArabī nuṭq, die das rationale Erken­ nen einschließt, mit ʿaql (Vernunft).173 Die Vernunft bezieht sich auf die epistemische Fähigkeit, die die Summe der Mittel des Wissens der Seele umfasst.174 Die erkenntnistheoretische Natur rationalen Wissens beruht auf der Bedeutung von »Binden« im wörtlichen Ursprung des Wortes ʿaql. Die Bedeutung von Binden kann durch den Glauben an Gott erklärt werden, der die Grundlage des religiösen Wissens bildet. Denn der Glaube enthält auch spezifisches Wissen. Die Vernunft gelangt zu bestimmten Schlussfolgerungen mit den Möglichkeiten des Denkens, um diese Akzeptanz zu verdeutlichen. Da zum Beispiel alles Wahrnehmbare endet, hat der Gegenstand einen Anfang. Ibn al-ʿArabī behauptet, dass durch diese Erleuchtung die Themen des Glaubens an bestimmte ratio­ nale Schlussfolgerungen gebunden werden. Andere Schlussfolgerungen sind jedoch möglich; zum Beispiel muss das Universum ewig sein – aufgrund des einen ewigen Schöpfers. Zwei verschiedene rationale Schlussfolgerungen führen zu zwei unterschiedlichen Glaubensinhalten. Somit ist der Inhalt des Glaubens an die der Vernunft zur Verfügung stehenden Ergebnisse gebunden und dadurch begrenzt. Die Logik, die Methode des rationalen Denkens, basiert bereits auf der Begrenzung der Prämisse. Eigentlich wird die logische Definition auf Arabisch »Ḥadd« (Grenze) genannt, um diese Einschränkung auszudrücken. Nach Ibn al-ʿArabī bleiben ʿaql, das die Grundlage des rationalen Denkens ist, und Ḥadd, das seine Methode ist, in den theologischen Fragen unangemessen und irreführend.175 Siehe: Ibn al-ʿArabī: Tadbīrāt al-ilāhiyya, S. 24. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 124. 174 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 373–374. 175 Zur Unterscheidung der sufischen Epistemologie von anderen unterteilt Ibn al-ʿArabī die Wissenschaften in drei Kategorien: die rationale Wissenschaft (ʿilm al-ʿaqlī), die Zustands-Wissenschaft (ʿilm al-hāl), die geheime Wissenschaft (ʿilm as-sirrī). Natürlich ist 172 173

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Ein weiterer Punkt, der die Unzulänglichkeit des rationalen Wissens beweist, ist der Vorgang des Denkens. Obwohl der Wissenserwerb mit einer Wahrnehmung des Externen (Konkreten) beginnt, tritt das Wahrgenommene (unabhängig von außen) in einen abstrakten Prozess ein, indem es auf die Vernunft übertragen wird. Und nun wird analyti­ sches Denken benötigt, um neue Schlussfolgerungen aus miteinander verknüpften Informationen und aus widersprüchlichen Bestimmungen zu ziehen. Diese Funktionsweise der Vernunft, die eigentlich das Denken ist, ist ein Prozess des Trennens und Entbindens. Ibn al-ʿArabī sieht das Denken als Zerfall in bestimmte Teile und die Entbindung jedes Teils von einem anderen an. So ist das Denken eine Art Transzendenz (tanzīh), weil das Denken mit Unterscheidung und Kategorisierung funktioniert und die Existenz dimensional wahrnimmt. Deshalb erkennt die rationale Betrachtung (und das theoretische Denken) die Wahrheit nur aus bestimmter Perspektive und nicht in ihrer Gesamtheit. Um dies auf theoretisches (tafakkur) und reflektives Denken (naẓar) über die Wahrheit eines theologischen Themas anzuwenden, muss es durch Kategorisierung auf eine bestimmte Dimension reduziert werden. Und natürlich geht das kategoriale Denken davon aus, Dinge miteinander zu vergleichen, so das Mitgefühl der Kreaturen für die Perzeption der Barmherzigkeit Gottes. Obwohl dieser Vergleich, der in den Kalam-Wis­ senschaften als »qiyāsu š-šāhid ʿalā-l-ġāib« (Vergleich zwischen Sichtba­ rem und/mit Verborgenem) bezeichnet wird, Licht in das Thema bringt, werden seine Schlussfolgerungen Illusionen hervorrufen, insbesondere in theologischen Fragen. Letztendlich wird sich die Idee ( fikr) von anderen Ansätzen unterscheiden und einen separaten Rückschluss auf bestehende Möglichkeiten bevorzugen. Selbst wenn dieses tanzīh zu korrekten Schlussfolgerungen führt, ist es nur eine Perspektive auf die theologische Frage, es kann die Angelegenheit nicht vollständig erfassen. Umfassendes Wissen ist andererseits die Erkenntnis der Wahrheit der Dinge dessen, was Sufis »yaqīn« (Gewissheit) nennen. Weiter mit dem obigen Beispiel: abgesehen von den beiden Schlussfolgerungen über die Vorewigkeit oder Geschaffenheit des Universums gibt es einen dritten Weg für Ibn al-ʿArabī. Nach der mystischen Erkenntnis, die mit Enthül­ lung und Eingebung (kašf-ilhām) erhalten wurde, ist das Universum in Bezug auf seinen göttlichen Ursprung ewig, während es in Bezug auf sich

die dritte Art von Wissen die höchste, geheime Erkenntnis der Sufis. Ibn al-ʿArabī: alFutūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 139–140.

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selbst sterblich ist.176 Die Vernunft wird nicht akzeptieren, dass etwas gleichzeitig vergänglich und ewig ist, und wird einen der Ansätze wählen. Da dies nur die Dinge aus einer Perspektive betrachtet, wird sie nicht in der Lage sein, die Informationen über die Wahrheit umfassend (ganz) zu erfassen. Daher ist die Inspiration im Herzen also privilegiert und dem rationalen Denken überlegen.177 Wenn der Sufi eine göttliche Ausstrahlung in seiner Seele findet, entsteht eine Erkenntnis in seinem Herzen. Diese Herzens-Erkenntnis ist nicht dimensional, sondern ganzheitlich und hängt auch mit der Handlung zusammen.178 Wenn ein Sufi zum Beispiel meditativen ḏikr ausübt, tritt er in einen Ekstase-Zustand und dadurch entsteht die Erkenntnis (der Namen) des Seins im Herzen.179 Nach Ibn al-ʿArabī wird diese im Herzen enthüllte mystische Erkenntnis (maʿrifa) durch Imagination (ḫayāl) auf die Vernunft übertragen.180 Ein Sufi kann durch sein Vermögen der Einbildung die Göttlichkeit mit Hilfe der analogen Übermittlung erfahren, wobei die Ratio transzendental tätig ist. Einbildung wurde in der Ibn Sīnā-Tradition als Bindeglied zwischen Sinn und Vernunft berücksichtigt. Wenn der Gegenstand imaginiert (taḫayyul) wird, gewinnt das eine Dinglichkeit (šay‘iyya) in der Seele und wird als mentale Existenz (al-wuğud aḏ-ḏihnī) definiert. Ibn al-ʿArabī akzeptiert diesen Ansatz und argumentiert damit, dass die Einbildung eine Verbindung zwischen der im Herzen entstandenen Eingebung und dem Verstand ist. Ein/e Gottesfreund/in erlangt die im Herzen Ob dieser Ansatz eine völlige Abgrenzung von Ibn Sīnā darstellt, scheint fraglich zu sein. Der Ansatz des Unterschieds der Zeitlichkeit zwischen der Existenz im Wissen und des materiellen Daseins lässt sich auf Ibn Sīnā zurückführen. 177 »Das Herz verändert sich mit der Metamorphose (Verwandlung) von Manifestationen. Die Vernunft (aql) ist nicht so. Da jeder Mensch einen Verstand hat, aber nicht jedem Men­ schen diese Kraft gegeben wird, die in diesem Vers das Herz genannt wird und die jenseits der Einstellung des Verstandes liegt, deshalb hat Gott gesagt: für eine Person, die ein Herz hat. Das Eintreten einer Form aus einer Form im Herzen ähnelt dem Übergang von einem Zustand zu einem anderen in den göttlichen Formen (ṣūrat al-ilāhiyya).« Ibn al-ʿArabī: alFutūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 124–125. 178 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 3, S. 333. 179 »Jedes Wissen (ʿilm), welches man nur durch Praxis (ʿamal), Gottesfurcht (taqwā) und Beschreiten (sulūk) erlangt, gilt als Erkenntnis (maʿrifa). Denn es entspringt einer wirklichen Entschleierung (kašf ), die kein Zweifel anrührt. Hingegen ist das Wissen, welches vom Den­ ken herkommt, nicht frei vom Einwand sowie von verwirrender Unsicherheit, auch die Wege, die zu [diesem Wissen] führen, sind selber nicht frei von jeglicher Skepsis.« Ibn al-ʿArabī: alFutūḥāt al-makkiyya, Bd. 5, S. 541. 180 Die Stelle der Idee in der mentalen Erkenntnis wurde durch die Einbildung in dem Verstand des Herzens ersetzt. Vgl. Abū Zaid: Falsafa at-taʾwīl, S. 210–211. 176

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eingegebene göttliche Manifestation, diese wird von der Einbildung nachgeahmt und zum sofortigen Verständnis weitergegeben. Wenn es kein Vergegenwärtigen in der Einbildung gäbe, wäre der Verstand nicht in der Lage, diese Informationen zu erfassen. Aus diesem Grund können diese Bilder nicht unabhängig von den Bildern von Dingen sein, die zuvor von den Sinnen wahrgenommen wurden. Genauso wie sich die Imaginationen in Träumen nicht von den wahrgenommenen Bildern in unserer Sinneswelt unterscheiden. Die im Herzen geborene Eingebung muss auf den Verstand übertragen werden, um zu verstehen, und in dieser Hinsicht hat sie eine indirekte Beziehung zu den Sinnen. Wenn man in seinem täglichen Leben ein Objekt in seiner Vorstellungskraft reprodu­ ziert, besteht eine Übereinstimmung zwischen dem mentalen Ding und der Realität des Dings (Ḥaqīqatu š-šay) in der Außenwelt. Aber diese Harmonie ist nicht in der Einbildung, die Herz und Verstand verbindet. Während die Eingebung vom Herzen auf den Verstand übertragen wird, sind die Imaginationen metaphorisch und müssen interpretiert werden. Denn diese Imaginationen – obwohl sie in den Bildern äußerer Dinge sind – beziehen sich nicht ganz auf die Realität der äußeren Bilder. Zum Beispiel in einem Ekstase-Zustand kann das Universum im Bild eines Baumes erscheinen, und man weiß, dass das Bild des Baumes nichts mit dem Baum in der Außenwelt zu tun hat. Insofern wird der Vergleich mit dem Traum das Thema verständlicher machen. Dinge, die in Träumen gesehen werden, entstehen direkt in der Einbildung, nicht durch den Kontakt der Sinne. Ein Mensch, der aus dem Traum erwacht, kann das, was er im Traum sieht, nicht mit seiner Realität in der Außenwelt gleichsetzen, er muss also interpretieren. In diesem Zusammenhang erinnert uns Ibn al-ʿArabī an den im Koran dargestellten Traum des Propheten Ibrāhīm (Abraham).181 Ibrāhīm, der in seinem Traum sieht, dass er seinen Sohn (Isḥaq oder Ismāʿīl) geopfert hat, will in Wirklichkeit opfern. Denn nach allgemeiner Akzeptanz sind die Träume der Propheten wahrsagende Träume (ruʾya aṣ-ṣādiqa) und enthalten keine Verwirrung. Nach Ansicht der traditionellen Gelehrten wird von Ibrāhīm erwartet, dass er genau umsetzt, was er im Traum gesehen hat. Ebenso nahm gemäß der Geschichte im Koran Ibrāhīm das Messer in die Hand, um seinen Sohn zu schlachten, und gerade zu dieser Zeit kam eine Offenbarung und ein Widder wurde anstelle seines Sohnes geschlachtet. Ibn al-ʿArabī glaubt, dass die Sprache des Traums von Anfang an symbolisch war. Der Sohn, den Ibrāhīm in seinem 181

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Traum sah, zeigte bereits auf das Tier, das er opfern würde. Ibrāhīm konnte die symbolische Sprache des Traums bewusst interpretieren und entsprechend urteilen. Die gleiche Symbolik der in der Einbildung wiederbelebten Bilder ist auch vorhanden, wenn die Inspiration aus der Manifestation durch die Einbildung auf den Verstand übertragen wird. Nach seiner Ansicht kann die Einbildungskraft (mu(ta)ḫayyila) und Vor­ stellungskraft (mutaṣawwara) nicht beurteilen, es liegt ganz im Verstand, die Bedeutung der Bilder zu beurteilen.182 Das heißt, in jedem Fall wird die aus der Manifestation abgeleitete Erkenntnis durch Vernunft interpre­ tiert. In dieser Phase der Traumdeutung werden Vernunft und Wissen­ schaft ins Spiel kommen.183 Die Deutung der Enthüllung und das Urteil der Vernunft binden die Person, andere Personen handeln nicht mit dieser Bestimmung – weil es möglich ist, dass man Fehler macht, wenn man seine (eigene) Erfahrung interpretiert. Die Ibrāhīm-Erzählung zeigt die Illusion deutlich. Ein Interpretationsfehler ergibt sich jedoch weder aus der sensorischen Wahrnehmung noch aus der Reproduktion der Vor­ stellungskraft. Wenn es einen Mangel gibt, liegt er beim rationalen Urteil über die Erfahrung, nicht in den Sinnen oder in den Einbildungen.184 Zuallererst ist religiöses Wissen für die richtigen Deutungen erforderlich. Zweitens sollte gelernt werden, wie die Propheten und Heiligen ihre eigenen spirituellen Erfahrungen interpretierten. Zum Beispiel begleitete der Engel Ğabrāīl die Himmelfahrt (miʿrāğ) des Propheten Muhammad (zu Allah) und bot ihm Milch und Wein an. Der Prophet entschied sich, Milch zu trinken. In der Realität trägt sie zur körperlichen Entwicklung bei, in der Vorstellung bezieht sich Milch auf die Erkenntnis, die die spirituelle Reifung ermöglicht. Ğabrāīl sagte dem Propheten bereits, dass er sich für Wissen (ʿilm) entschieden habe, indem er sich für Milch entschieden habe. Ein Sufi verwendet diese Interpretation auch, um seine individuelle Erfahrung zu verstehen. Drittens das Wissen, das die korrekte Interpretation unterstützt, ist allgemeine Naturkenntnisse. Das Erkennen der Natur ist nur mit dem richtigen Verständnis der durch die Sinne gewonnenen Informationen möglich. Zum Beispiel sieht man die Schönheit der Natur im Grün, und das Grün in einem Traum zeigt Segen an. Mystikern interpretieren Grün als »die Gunst von Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 16. Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 162. 184 Ghandour kritisierte dieses Missverständnis in seiner Forschung und erklärte die Stellung der Sinne ausführlich. Vgl. Ghandour: Die theologische Erkenntnislehre Ibn alʿArabīs, S. 177–185.

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Schönheit«. In al-Futūḥāt al-makkiyya gibt Ibn al-ʿArabī Informationen über die spirituellen Zeichen von Farben, Minnen und Pflanzen. Diese Erkenntnisse erlauben sowohl die Breite der Vorstellungskraft als auch die Tiefe der Interpretation. Er schließt die Natur beim Verständnis der mystischen Erfahrung nicht aus, sondern fügt sie dem inneren Prozess hinzu. Daher braucht ein Sufi religiöses Wissen, die Überlieferungen von Gottesfreunden und die Naturkenntnisse, während er Bedeutung für mystische Erfahrung sucht.185 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass mystische Erfahrung im Herzen geboren und durch Einbildung auf den Verstand übertragen wird, nach der Interpretation wird ein Urteil über ihre Bedeutung gefällt. Daher ist das Herz mit dem Verstand verbunden und sogar zusammengehörig. Die Idee und Imagination, Enthüllung und Entschleierung sowie religiöses und weltliches Wissen ergänzen sich ebenfalls. So wird klar, warum Ibn al-ʿArabī das Herz als den Palast des Geistes, der der Kalif ist, und den Verstand als seinen Wesir gewählt hat.

b. Erwerbung von Maʿrifa und die Vollkommenheit Ibn al-ʿArabīs Lehre von der Maʿrifa entwickelt sich über die Zusam­ menführung der Ḥadīṯe »Ich sehnte mich danach, erkannt zu werden« und »Wer sich selbst kennt, kennt seinen Gott (rabb)«, also mit der Überschneidung der Ontologie und Epistemologie. Das ultimative Ziel der Schöpfung wird mit dem Erkennen des Menschen verwirklicht, der die Kompetenz hat, Gott auf höchstem Niveau zu kennen. So ergänzen sich Selbsterkenntnis, die das Ziel der menschlichen Existenz ist, und »Erkannt-Werden«, was der Zweck der göttlichen Erschaffung darstellt. Das Erkennen des Menschen verwirklicht sich im unendlichen Augenblick, in dem Gott sich selbst erkennt. Das einzige Erkennen in dem einzigen (göttlichen) Sein ist umfassende Kenntnisnahme reiner Wahrheit von der Quelle der Wahrheit.186 Der Mensch allein fällt nicht in die Sphäre beider Ḥadīṯe: Da die gesamte Schöpfung der Akt der Selbst-Erkenntnis und der Selbst-Offenbarung des Seins ist, muss alles in der Welt irgendwie darauf ausgerichtet sein, Gott zu kennen. Tatsächlich kennt laut Ibn al-ʿArabī jedes Wesen seinen Herrn auf einzigartige Weise und von Natur aus: Die Selbstkenntnis der Dinge kommt so von ihrer Lebendigkeit und Intelligenz, und da der Intellekt arbeitet 185 186

Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 7, S. 535. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 363.

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wie beim Menschen, werden das Erkennen und die Bewahrung seiner Vitalität fortgesetzt. In seiner Lehre ist die Vernunft offensichtlich nicht das Zentrum, der vielleicht wichtigste Dienst dieses Mediums ist seine treibende Kraft, die Menschen dazu bringt, sich selbst kennenzulernen. Und die natürliche Ausrichtung (das heißt die Einstellung auf Gott) ist die Grundlage dieser Orientierung der Vernunft. Nach dieser Ausrichtung begleitet religiöses Wissen die Selbsterkenntnis. Die Verleihung der Religion an den Menschen ermöglicht die Verwirklichung der wahren Bedeutung des menschlichen Daseins und damit die Erlangung der Göttlichkeit. Alle Gebote und Verbote dienen dazu, die von Menschen besessenen Qualitäten zu entdecken. Sie bestimmen den Lebensstil, und durch sie wurden die Notwendigkeiten der menschlichen Natur verkündet: »Daher ist Religion gekommen, um der (menschliche) Natur zu (unterstützen)«187 – weil das Befolgen religiöser Gebote bedeutet, in Übereinstimmung mit menschlicher Natur zu handeln. Die Offenbarung beispielsweise, die zum Propheten kam, war der Prozess des Erkennens seiner eigenen Wahrheit – diese (Muhammadanische) Wahrheit ist die Essenz der ganzen Menschheit, und da diese Offenbarung für die gesamte Menschheit gültig ist, bildet sie die Prinzipien der Religion. Religion (ad-dīn) bedeutet wörtlich den Weg, der die Richtung zeigt, in der sich der Mensch an Gott wendet. Das Grundprinzip für religiöse Taten und das Ziel der spirituellen Perfektion ist daher ma’rifat Allāh, die Spitze des Erkennens des Selbst und Gottes, die sowohl Ausgangspunkt als auch Ziel aller anderen Erkenntnisse ist.188 In den ersten Schritten der Perfektion beginnt ein spiritueller Reisender (sālik)189 seine Suche nach Göttlichkeit in sich selbst mit Ver­ richtung der religiösen Vorschriften. Zuallererst beginnt er, seine Seele zu erleuchten, indem er Sünden vermeidet und die Pflichten erfüllt. Sünden sind die Vorhänge vor der Selbsterkenntnis. Die Grundbedeutung des Wortes kufr, das die größte Sünde ist und bedeutet, Gott zu leugnen, ist Schleier. Wenn jemand den Schleier über der göttlichen Essenz in seinem Selbst entfernt, beginnt er, in Stufen der Vollkommenheit voranzukom­ men. Deswegen besagt die Vollkommenheit in erster Linie die Überwin­ dung der innerlichen Finsternis (ẓulumāt) sowie verwerflicher Sitten Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 7, S. 323. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 3, S. 504. 189 Wie andere Sufi-Gelehrten spricht auch er von sulūk, was sequentielle spirituelle Grade hinaufzusteigen bedeutet, und sālik, dem spirituellen Reisenden. Vgl. Hajatpour: Sufismus und Theologie, S. 58–59. 187

188

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(aḫlaq aḏ-ḏamīma) und die Bildung einer lichtdurchfluteten (nūrānī) und löblichen Moralität (aḫlaq al-ḥamīda). Ibn al-ʿArabī betrachtet die Erfüllung religiöser Ordnungen als Disziplinierung der Seele und Entleerung (taḫliyya) des Herzens, damit es sich manifestieren kann.190 Während die Stufen der guten Moralisierung durchlaufen werden, wird die innere Welt erleuchtet (tanawwur), was die Füllung des Herzens mit dem göttlichen Namen Licht »Nūr« ist. Die göttliche Liebe verstärkt sich mit dem Licht des Herzens. Demnach entsteht eine Vorliebe für moralische Schönheit in der Person selbst, es ist im Grunde eine Liebe zu den wirkenden göttlichen Namen. Im gleichen Prozess kann die Liebe zu einer äußeren Reflexion (in der Welt) wachsen. Der Weise (ʿārif ) ist sich bewusst, dass er den göttlichen Namen liebt, der die Quelle der Schönheit in sich selbst oder im Außen – in jemand anderem – ist. Die Liebe zum Namen ist eigentlich die Liebe zum Genannten, zu Gott selbst, dem Grund aller Gründe.191 Damit entstehen vielfältige spirituelle Zustände, in denen die Liebe zunimmt, das Herz erleuchtet und die Selbsterkennt­ nis erweitert wird. Manchmal sieht sich ein Sufi selbst als großer Sünder und bereut vor Gott im Bedauern; manchmal wendet er sich liebevoll an Gott mit einem hohen Wunsch nach Vergebung. Solche Erlebnisse sind keine beständigeren Zustände (ḥālāt), sondern nur vorübergehend.192 Der permanente Zustand heißt »maqām« (Station) und bezieht sich auf den in einem Sufi vorherrschenden spirituellen Charakter. Wenn sich dieser Zustand (ḥāl) nicht ändert, bedeutet dies eine Station.193 Es ist auch möglich, in den Stationen voranzukommen, und dieser Fortschritt wird von Gebeten begleitet. Mit Ausnahme bestimmter religiöser Pflichten gibt es kein festes spirituelles Programm für alle.194 Je mehr spirituelle Übungen wie Fasten und ḏikr praktiziert werden, desto mehr nimmt seine Liebe und sein Erkennen über Gott zu. Wenn wir zum Ausdruck »sich selbst kennen« zurückkehren, ist der markante Punkt in der prophetischen Überlieferung, dass das Wort nafs gewählt wurde, was nach Ibn al-ʿArabī die Aufmerksamkeit auf zwei 190 Ibn al-ʿArabī besteht hartnäckig auf der Anwendung dieser Ordnungen für den mys­ tischen Aufstieg: »Es gibt keinen Weg oder keine Möglichkeit für jemanden, Allāh mit einer Scharia anzubeten, die diese Muhammadanische Scharia ungültig machen würde.« Ibn alʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 428. 191 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 5, S. 608. 192 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 129. 193 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 507. 194 Vgl. Ibn al-ʿArabī, aš-Šayh al-akbar Muḥyīddīn: Risālat al-anwār, hrsg. von Ibrāhīm Kayyāle, Beirut 2003, S. 125.

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Wahrheiten lenkt. Die erste ist, dass die Spuren der Göttlichkeit von den geistigen und körperlichen Aspekten kommen und sich in der Seele treffen. Durch die Schöpfung im Körper und durch Manifestation im Geist finden Menschen göttliche Namen in der Seele. Zweitens wird mit dem Ausdruck nafs (im Rahmen der Bedeutung des Selbst) auf die Ein­ zigartigkeit des Selbsterkennens jedes Einzelnen hingewiesen. Ebenso geht jeder Einzelne auf einzigartige Weise (wağh ḫās) vor und lernt sich selbst kennen. Die einzigartige Weise bedeutet die eigene Neigung zum göttlichen Namen, der in einer Person wirksam ist, d.h. zum Herrn, den er erkennen muss. Niemand weiß oder fühlt genau das Gleiche über eine Angelegenheit. Obwohl unter bestimmten Konzepten ähnliche Gefühle kombiniert werden, kann zum Beispiel nicht gesagt werden, dass Traurigkeit für alle gleich auftritt. Individuelle Erfahrungen sind laut Ibn al-ʿArabī nicht messbar. Dies ist auf die ständige Veränderung der göttlichen Manifestationen und die Eigenständigkeit der Erfahrung aller mit diesen Manifestationen zurückzuführen. Auf dem spirituellen Weg kann ein Mensch seinen Herrn, den in ihm aktiven göttlichen Namen, nur aus der Erfahrung in sich selbst (in seiner Seele) kennen. Also kann man seinen Herrn aus dem Wissen um sich selbst erkennen.195 Jedoch wurde schon betont, dass religiöses Wissen und die Überlieferungen von Gottesfreunden bekannt sein sollten, denn natürlich beleuchtet religiöse Bildung den Weg, sie erweitert das Wissen über die Wahrheit. Dies ist jedoch nur Wissen, keine Weisheit, da es sich nicht in einen Lebenszu­ stand verwandelt, genauer gesagt, weil es nicht erlebt (ḏawq) wird.196 Nach Ibn al-ʿArabī besteht die maʿrifa aus vier Teilen: (a) Kenntnis über die Bedeutung des Namens Allah; (b) Kenntnis göttlicher Namen, die Beweise für die Allah zugeschrieben Attribute sind; (c) Kenntnis gött­ licher Namen, die Beweise für Handlungs-Attribute sind; (d) Kenntnis göttlicher Namen, die in gewissem Sinne das Attribut und in gewissem Sinne eine Handlung angeben.197 Die vier Teile der Kenntnisse enthalten Informationen über die Essenz, Namen, Attribute und Handlungen des Seins. Die Namen, die auf göttliche Attribute und Taten verweisen, finden sich in Dingen, die Menschen sowohl mit ihren Sinnen als auch mit sich selbst wahrnehmen. In dieser Hinsicht konzentriert sich die Selbsterkenntnis eines Menschen nicht nur auf sich selbst, indem er seine Augen vor der Sinnen-Realität schließt. Es ist die Kombination 195 196 197

Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 9, S. 164. Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 164. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 6, S. 433.

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des Namens, der dem wahrgenommenen Objekt innewohnt, mit dem Namen an sich. Der Wunsch des Propheten, die Wahrheit der Dinge zu kennen, kann nur auf diese Weise verstanden werden. Denn nach Ibn al-ʿArabī ist das, was sich in den Dingen offenbart, nichts anderes als Gott, und die Betrachtung der Dinge ist nichts anderes als die Kontemplation von Gott.198 So entwickelt sich die maʿrifa, wenn man die Welt als Ort der Offenbarwerdung betrachtet. Die Interaktion mit der Welt ist unvermeidlich, da man erleben muss, Kalif der Erde zu sein.199 Er stellt in diesem Zusammenhang eine bemerkenswerte Behauptung auf: Diejenigen, die die Beweise schmälern, schmälern eigentlich das, worauf die Beweise hinweisen.200 Die Abkehr von der Natur selbst bedeutet also in gewissem Sinne eine Abkehr von Gott. Dies ist freilich das Ergebnis des Ansatzes, der von der Einheit von Gott und Natur ausgeht; da die Natur in der asketischen Mystik von der göttlichen Existenz getrennt wird, ist es möglich, sich Gott zu nähern, indem man sich von ihr entfernt. Aber hier ist das Gegenteil der Fall: Die Natur ist ein Feld der Begegnung mit Gott. Maʿrifa beinhaltet also die Schau (mušāhada) der Dinge und der Welt als eine Phase der Selbsterkenntnis, die als »Kreaturen in Ḥaqq schauen und Ḥaqq in den Kreaturen« zusammengefasst werden kann. Mit der Schau endet nicht der Erwerb von mystischen Erkenntnissen, die nächste Stufe besteht darin, Gott ohne Kreaturen zu sehen. Wenn man alles Seiende als das eine Sein allein betrachtet, ist der sālik in seinem Innern buchstäblich eins mit Gott. Auf dieser Ebene wird Gott nur mit Gott erkannt.201 Der Sufi schreibt so alles, was existiert, Gott zu, und auch die sensorisch wahrgenommenen Taten und Eigenschaften sind alle in Gott vereint. Es gibt kein anderes Sein als Gott, infolge dieser Erfahrung wird der Wille Gottes zum Willen des Sufi. Sein Hören und Sehen werden zum Hören und Sehen Gottes. Laut Ibn al-ʿArabī ist das, was passiert, eine Art Nachahmung (taqlīd). Bis zu dieser Ebene ähnelt die spirituelle Reise dem Fluss des Seins Gottes. Da der Sufi auf der höheren Ebene durch die Moral Gottes ausgestattet ist, werden seine Taten Gott zugeschrieben. Es ist so, als würde man Gott nachahmen, sie ist keine bloße Modellierung, »Was in den Dingen erscheint, ist nichts anderes als Allāh, unsere Kontemplation (murāqaba) der Dinge ist dieselbe wie unsere Kontemplation Allāhs«. Ibn al-ʿArabī: alFutūḥāt al-makkiyya, Bd. 5, S. 295. 199 Vgl. Chittick: Sufi Path of Knowledge, S. 335. 200 »Wer die Beweise (dalīl), die ihn zum Ziel führen, als wertlos erachtet und seine Hand davon abzieht, hält das Ziel dieser Beweise (madlūl) für wertlos«. Ibn al-ʿArabī: Raḥmatun min-ar-Raḥmān, Bd. 1, S. 91. 201 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 377. 198

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es ist die Erfahrung des menschlichen Ursprungs, der von Natur aus göttlich ist.202 Für den Sufi, der Gott in Gott kennt, ist das Schauen unbegrenzt. Angesichts ständiger Eindrücke ist er sehr erstaunt. Seit Platon wurde die Sehnsucht des Philosophen nach metaphysischer Weisheit mit dem Staunen beschrieben. Ibn al-ʿArabī verwendet das Erstaunen, um die Situation zu beschreiben, in der ein Sufi in Gott vereint ist. Erstaunen ist eine Haltung, die sowohl das Verwundern angesichts der Erhabenheit des Erkannten als auch den Wunsch, mehr zu erfahren, beinhaltet. In Anbetracht dieser Situation heißt es, dass der Prophet darum betete, Gott möge sein »Erstaunen steigern«. Dieser Zustand des Erstaunens ist eine Erfahrung der Dienerschaft. Selbst ein solcher Mensch ist sich der Tatsache bewusst, dass er sich in einer bestimmten Existenzstufe befindet, obwohl er das göttliche Selbst erreichen möchte. Wie die Ozeanmetapher, die Sufis oft benutzen, besagt: Es ist nicht möglich, ein Glas Wasser aus einem Ozean zu trinken und dann den Ozean zu beschreiben. Man kann sich nur über die Grenzenlosigkeit des Ozeans wundern. Letztendlich wird sich keine Erkenntnis über Weisheit jemals auf das Selbst erstrecken; daher wird im Ḥadīṯ das Verb »ʿarafa« verwendet, was »erkennen« bedeutet. Wiederum wird im Ḥadīṯ gesagt, dass der Mensch »seinen Rabb kennt«. Es ist offensichtlich, dass es keine Kenntnis von Allah gibt, die alle göttliche Aspekte davon umfasst.203 Um das Erstaunen über die unendliche Vielfalt des Erkennens auszudrücken, sagt Ibn al-ʿArabī in Gottes Sprache: »Du bist nur Ich und Ich bin ich. Such mich nicht in dir und werde müde! Such mich auch nicht draußen. Hör nicht auf zu suchen, sonst wirst du zerstört«.204

Wenngleich die Reise für den Suchenden nicht endet, gibt es zwei Grundidee, die das gemeinsame Merkmal der in der Vollkommenheit erreichten Stufen anzeigen: fanā und baqā. Das arabische Wort fanā, das wörtlich vorübergehend sein, zugrunde gehen und sterben bedeutet, wurde im Allgemeinen zusammen mit dem Wort baqā verwendet, was existieren und dauerhaft sein bedeutet. Grundsätzlich beschreibt es, dass die Existenz des Sufi in der Gegenwart Gottes entwird und dann in dem

202 203 204

Für taqlīd siehe: Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 5, S. 542. Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 362. Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 174.

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Sein Gottes sich vergegenwärtigt.205 Bei Ibn al-ʿArabī ist es der Zweck eines Gebets, als ob man Gott sieht, die innere Vision mit der göttlichen Schau gleichzusetzen. Genauer gesagt, mit der Schau Gottes zu schauen, indem des Sufis eigene Schau vollständig beseitigt wird. Die Entwerdung ist die Selbstreinigung des Inneren, um Gott als eigenes Selbst zu finden und zu erkennen. Auf die Entwerdung, die mit der Reinigung der Sünden beginnt, folgen sechs weitere Grade: die Reinigung von den Taten, Attri­ buten, dem Selbst, der Welt, allem außer Allāh und schließlich das end­ gültige Fernhalten Gottes von allen Attributen und den Relationen zwi­ schen ihnen. Letztendlich wird bezeugt, dass es nichts als Gott gibt, was der Stufe von baqā entspricht.206 Auf dieser Stufe verwirklicht der Sufi die höchste Sitten, weil er durch göttliche Moral ausgestattet ist, weil in seinem Wesen göttliche Namen auf die vollkommenste Weise reflektiert werden.207

c. Höchste und kompetenteste Exzellenz: Gottesfreundschaft Es gibt eine reichhaltige Terminologie, die Sufis aus dem Koran und den Überlieferungen des Propheten ableiten, um die spirituell perfekte Person zu beschreiben: ʿārif oder muḥaqqiq, für seine Kenntnis über die Wahrheit, ʿāšiq für seine Liebe, muqarrab für seine Nähe zu Gott, kalima (al-ğāmiaʿ) in Bezug auf die Welt. Ibn al-ʿArabī verwendet in seinen Werken fast alle in unterschiedlichen Kontexten. Zusätzlich beschreibt er den vollkommenen Menschen wie einen Siegelring ( faṣ), weil der Sie­ gelring das Siegel des Herrschers trägt: So ist der vollkommene Mensch als sein Stellvertreter ein Siegel Gottes in der Welt.208 Der Grundbegriff, der alle Vielfalt im Sinne des vollkommenen Menschen umfasst, ist walī (plural: ʾawliyāʾ). Der als Gottesfreunde oder Heilige übersetzte 205 In seinem Werk Kitāb al-fanā (Buch der Entwerdung) erklärt Ibn al-ʿArabī das fanā mit dem Begriff Wohltat (ihsān). Der Prophet beschreibt ihsān folgendermaßen: »ihsān ist, dass du Allāh so dienst, als ob du ihn sehen würdest«. Ibn al-ʿArabī: Kitāb al-fanā fī-lmušāhada, in Rasāil, S. 23. 206 An anderer Stelle teilt er fanā erneut in Stufen ein. Der erste Grad besteht darin, Sünden zu zerstören. Und im höchsten Grad des fanā wird der Sufi nicht sich selbst ent­ zogen, sondern wird sich in sich selbst betrachten. Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-mak­ kiyya, Bd. 6, S. 494. 207 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 83. 208 Ibn al-ʿArabī: at-Tanbīhāt ʿalā ʿuluwwi ḥaqīqati l-Muḥammadiyyati l-ʿāliyya, ed. ʿAbdurraḥmān H. Maḥmūd, ʿĀlam al-Fikr, Kairo, ohne Datum, S. 44. Vgl. Konuk, Ahmed Avni: Fusûsu’l-Hikem Tercüme ve Şerhi, Istanbul 1999, Bd. 1, S. 130–134.

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Begriff geht auf die Wurzel helfen und schützen zurück und ist auch im Koran im Rahmen dieser Bedeutung anzutreffen: »Gläubige Männer und Frauen sind untereinander Freunde« (Koran, 9:71).209 Darüber hinaus wird im Koran walī als einer der Namen von Allah im Sinne von Helfer, Beschützer, Verwandter und Freund seiner Diener erwähnt.210 Laut Ibn al-ʿArabī besteht ein wichtiger Zusammenhang zwischen der Tatsache, dass einer der Namen Allahs Walī ist und auch der perfekte Mensch walī heißt. Da sowohl Gott, der sich seinem Diener nähert, als auch der Diener, der sich seinem Herrn nähert, mit derselben Bezeichnung definiert sind, ist die walāya (Gottesfreundschaft) zum Motto der Lehre von der Einheit des Seins geworden.211 Die Propheten sind diejenigen, die den höchsten Rang unter den Gottesfreunden erreichen, die sich bekannt gemacht haben, weil sie zur Führung der Gesellschaft eingesetzt werden. Ibn al-ʿArabī betrachtet Propheten auch als Gottesfreunde, weil die Grundgedanke von Gottes­ freundschaft (walāya) das von Gottesbotschaft (nubuwwa) umfasst.212 Eines der am meisten diskutierten und kritisierten Themen von Ibn alʿArabī ist genau dieser Punkt: Ist Gottesfreundschaft der Gottesbotschaft überlegen? Es kann festgestellt werden, dass die Missverständnisse allein auf die Analyse von seinem Fuṣūṣ al-Ḥikam zurückzuführen sind. Jeder, der nur bestimmte Passagen von Fuṣūṣ liest, kann tatsächlich den Schluss ziehen, dass der Gottesfreund dem Propheten überlegen ist. Aber wenn man es zusammen mit anderen Passagen und Schriften liest, erkennt man die Breite der Absicht und die Zusammengehörigkeit von beiden Begriffen. Laut Ibn al-ʿArabī ist Inklusivität der Gottesfreundschaft im Blick auf Gottesbotschaft auf das Vorhandensein von walī (Gottesfreund) unter den Allah zugeschriebenen Namen zurückzuführen, aber auf das Fehlen von nabī (Prophet). Weil walī der Name des Seins ist, hat es eine zeitlose Bedeutungsbreite, obwohl es in der historischen Realität erscheint. Aber selbst wenn die Gottesbotschaft mit dem ersten Men­ schen begann, endete sie mit Muhammad, das heißt, ihre Bedeutung jenseits der Geschichte ist begrenzt. Da die Manifestation des Namens Und auch: »Die Freunde Allāhs brauchen doch keine Angst zu haben« (Koran, 10:62). al-Isfahānī: al-Mufradāt, S. 885. 211 Im Kapitel über seine Stelle in der Ideengeschichte wurde festgestellt, dass Ibn Ḫaldūn die Lehre von walāya in seiner Kritik an Ibn al-ʿArabīs in den Mittelpunkt stellte, weil die ontologischen, erkenntnistheoretischen und ethischen Konzepte in dieser Lehre zusammengebracht werden. 212 Vgl. Chodkiewicz, Michel: Seal of the Saints: Prophethood and Sainthood in the Doc­ trine of Ibn ʻArabī, Islamic Texts Society, 1993, S. 41–56. 209

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Gottes nicht auf einen bestimmten Zeitraum beschränkt werden kann, konzentriert er sich auf die Idee von Heiligkeit als zentrale Definition, die alle spirituellen Stationen und das Prophetentum einschließt. »Du solltest wissen, dass die Gottesfreundschaft umfassender und allge­ meiner ist. In dieser Hinsicht ist sie ein großer Kreis. Eine ihrer Bestim­ mungen ist, dass Gott die Diener, die er erwählt, der Gottesbotschaft zuweisen soll, die eine der Bestimmungen der Gottesfreundschaft ist. Allāh weist die Diener, von denen er das erwählt, der Gottesbotschaft zu. Manchmal beauftragt Allāh seinen Diener mit der Aufgabe der Gesandt­ schaft (risāla), was auch eine der Bestimmung von Gottesfreundschaft ist. Jeder Gesandte (rasūl) muss ein Prophet (nabī) sein. Jeder Prophet muss auch ein Gottesfreund sein. Ebenso muss jeder Gesandte ein Gottesfreund sein. In diesem Fall ist die Gottesbotschaft eine besondere Stellung in der Gottesfreundschaft.«213

Das bedeutet nicht, dass Gottesfreunde höhere Positionen als Propheten erreichen können. In dieser Hinsicht geht Ibn al-ʿArabī nicht über das gemeinsame Verständnis der Gottesbotschaft hinaus. Die höchsten Heiligen sind die Gesandten wie je zu seiner Zeit der sogenannte »rusūl«, die Offenbarung erhielten (wie Muhammad, Moses und Jesus), die in einem Buch gesammelt Gottes Weg kundtun. In diesem Sinne ist die risāla zu Ende gegangen. Ihnen folgen Propheten (nabī/anbiyā), deren Führung auf eine bestimmte Geographie und Periode der Geschichte beschränkt ist und nicht in einem Buch (bzw. als Scharia) verbindlich gemacht wurde. Ibn al-ʿArabī erklärt wie andere islamische Gelehrte, dass niemand die Situation des Propheten Muhammad unter den Menschen erreichen kann. Eigentlich ist sogar klar, dass er den Wert des Propheten viel mehr als die traditionelle Perspektive erhöht hat: Der Geist Muhammads ging aus der ersten Manifestation Gottes hervor, sein Wesen hat die Kompetenz, göttliche Namen perfekt zu reflektieren, und er hat die wahre Bedeutung göttlicher Namen gelernt. Der Koran spricht von der Belehrung Adams mit allen Namen: »Allāh hat Adam alle Namen gelehrt« (Koran, 2:31). Bei der Belehrung der Namen unterscheidet Ibn al-ʿArabī Adams Bewusstwerdung, dass er die Namen der Dinge kennenlernen konnte, und die Bewusstwerdung Muhammads: Er lernte nicht nur die Namen, sondern auch die eigentliche Bedeutung dieser Namen.214 213 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 5, S. 428. Vgl. Ibn al-ʿArabī: Risālat al-anwār, S. 128–130. 214 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 157.

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Aus diesem Grund wird Prophet Muhammad als Sammler der Wörter (ğawāmiʿ al-kalīm) bezeichnet und heißt es im Koran, dass er aufgrund seiner vielen Merkmale als Gnade an alle Welten gesandt wurde (Koran, 21:107). Prophetie ist im Grunde der Zustand, göttliche Namen auf die kompetenteste Weise zu kennen und ein idealer Spiegel göttlicher Manifestationen zu sein. Sie ist das Wiedervereinigen (Sammeln) im ultimativen Grad (Menschlichkeit) des Hervorgehens des Seins, der mit der Muhammadanischen Wahrheit beginnt. Aus diesem Grund wurde der Prophet Muhammad »das ḫātam (Siegel) der Propheten« genannt. Da der Name walī in Muhammad auf höchster Ebene erschien, wurde die Spiritualität aller Gottesfreunde in ihm gesammelt.215 Da alle spiritu­ ellen Kenntnisse anderer Propheten von Muhammad erfahren wurden, werden die Gottesfreunde, die nach ihm kamen, auch als Erweiterung seiner spirituellen Eigenschaften angesehen. Wenn die Gottesfreundschaft die Gottesbotschaft umfasst, warum haben dann nur Propheten die göttliche Offenbarung (waḥy) erreicht? Die Offenbarung war im klassisch-sunnitischen Paradigma nur den Propheten eigentümlich, wobei sie als bloße Empfängnis (wahbī) defi­ niert wurde. Wie schon erwähnt wurde, betrachtet Ibn al-ʿArabī alle Ebenen der Existenz als eine Art der Rede Gottes, die gegenwärtig und immerwährend existiert. So hat die Offenbarung zwei Weisen, eine ist das Sprechen Gottes allein für bestimmte Personen und die andere bedeutet das Hervortreten aller Existenzen aus dem göttlichen Sein und in dieser Richtung jede Art von Eingebung.216 Wenn Offenbarung im Sinne der Seins-Mitteilung verwendet wird, bedeutet das, dass alles gemäß seiner eigenen Schöpfung als Gottes existenzgebendes Sprechen empfangen wird. Er interpretiert die spezielle Offenbarung (waḥy ḫās) als die absolute Inspiration (ilhām), die die Propheten erlangt haben und an deren Gewissheit nicht gezweifelt wird. Diese endgültige Inspiration gilt nicht nur für den empfangenden Propheten, sondern enthält auch verbindliche Urteile für andere Menschen. Auf der Grundlage dieser Art der Offenbarung haben sich bereits Religionen entwickelt. Genau wie die Propheten sind die Heiligen inspiriert, aber ihre Inspirationen sind nur für sie selbst bindend und werden nicht unbedingt von anderen befolgt. Darüber hinaus gibt es keine Gewissheit und Klarheit in der Bedeutung der inspirierten Kenntnisse eines Gottesfreundes, der eine allgemeine Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 412. Gott spricht zu allem Seienden und offenbart sich ihm, vgl. Ibn ʿArabī: al-Futūḥāt almakkiyya 3, S. 393. »Offenbarung existiert in allen Arten und Personen: Sie ist die Inspira­ tion (ilhām)«. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 58.

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Offenbarung erhalten hat. Diese Kenntnisse brauchen Interpretation, weil Eingebungen wie die Einbildungen und Träume interpretiert wer­ den müssen. Infolgedessen enthält allgemeine Offenbarung (waḥy ām), die den Gottesfreund gewährt wird, keine Gewissheit, Klarheit und Verbindlichkeit. Der Gottesgesandte und Gottesfreund werden jedoch aus derselben göttlichen Quelle gespeist. Unter diesem Gesichtspunkt ist Offenbarung ein Begriff – wie im Fokuswort das Sein –, das sowohl inklusiv als auch abgestuft und mehrdimensional ist. Die gleichzeitige Vereinigung und Zergliederung in der Idee der Offenbarung erfolgt durch Ibn al-ʿArabī auch für nubuwwa (Gottes­ botschaft). Wenn nubuwwa im weitesten Sinne verwendet wird, was »Berichten von Gott« bedeutet, ist es nicht nur Propheten vorbehalten: Gottesfreunde können auch als Propheten in Bezug auf das Berichten angesehen werden. In dieser Richtung wählt er hier eine ähnliche Her­ angehensweise wie beim Begriff Offenbarung. Er spricht von »Gesetz­ geber-Prophetie« (tašriʿī) als dem Grad der Propheten, die spezielle Offenbarung empfingen und von denen einige Namen im Koran erwähnt und verbindliche (gültige) Bestimmungen für ihre Gesellschaften aufer­ legt wurden. Diese legislative Prophetie endete mit Muhammad, und mit ihr wurden universelle Prinzipien (šarīaʿ) für alle Gesellschaften festgelegt. Daneben erreichen in jeder Epoche Gottesfreunde, die das Erbe Muhammads besitzen, die allgemeine Prophetie. Obwohl beide, der Gesetzgeber-Prophet und der allgemeine Prophet nabī genannt werden, weil sie ihre Offenbarung aus derselben Quelle erhalten haben, unterscheiden sie sich hinsichtlich des Wissensstands. Der erste Grund ist die Unterscheidung, die oben bei der Offenbarung gemacht wurde: die Gewissheitsfrage. Zweitens führt Ibn al-ʿArabī den Unterschied auf die Art und Weise zurück, wie die Offenbarung entsteht. Durch den aus Gottes Werk (amr ilāhī) hervorgegangen Geist (rūḥ) gelangen Berichte direkt in die Herzen der gesetzgebenden Propheten. Er bezieht sich hier auf den Engel Ğabrāīl, der im Koran rūḥ (Geist) genannt wird. Der Gesetzgeber-Prophet empfängt die Offenbarung direkt von dem göttlichen Werk. In der allgemeinen Prophetie erreicht der Bericht die Herzen der Gottesfreunden durch das Werk der Engel.217 Dieser Unterschied, der ziemlich vieldeutig ist, ist schwer zu verstehen. Warum wollte Ibn al-ʿArabī eine solche Unterscheidung treffen, wenn die Quelle der Offenbarung eine war und letztendlich beide Arten Offenbarung durch den Engel stattfanden? Er möchte höchstwahrscheinlich den 217

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Propheten mit Ğabrāīl und den Gottesfreund mit den anderen Engeln verbinden, um den Gradunterschied hervorzuheben, und verbindet das Thema wieder mit dem Wissensstand. In dem Herzen der Gelehrten, die allgemeine Prophetie besitzen, entsteht die Offenbarung als augen­ blickliche Geburt. Diese Art der Geburt erfolgt durch das »Zeichen (išāra), das die Phrase (ʿibāra) ersetzt«, und dieses Zeichen enthält die Phrase selbst.218 Die Mehrdeutigkeit des Zeichens muss im Lichte des Erbes von gesetzgebenden Propheten verstanden werden. In diesem Kontext setzte er den Titel »išāra« an die Stellen, an denen er die Koranverse interpretiert. Dies ist definitiv eine bewusste Initiative: Die Offenbarung, die zum Propheten kam, wird gemäß der Offenbarung verstanden, die zum Gottesfreund kam.219 Gottesfreunde sind allgemeine Propheten (Gottesfreunde) und die Erben des Gesetzgeber-Propheten (Gesandten). Und alle allgemeinen Offenbarungen stehen im Schatten der speziellen Offenbarung (bzw. Heilige Bücher). Die Ausweitung der Idee von Gottesoffenbarung und Gottesbotschaft durch Ibn al-ʿArabī auf alle Zeiten verursachte Kontroversen in der Geschichte des Sufismus. Bisher wurde auf die Kritik von einigen Denkern hingewiesen, aber auch Sufis waren zurückhaltend bei diesem Thema. Ibn al-ʿArabī gibt selbst an, dass viele Sufis nicht darüber sprechen wollten, obwohl sie sich der inhaltlichen Weite der Gottesbotschaft bewusst waren, doch Angst vor Missverständnissen hatten. Wenn die geschichtliche Realisierung von Gottesfreundschaft am Beispiel der Kreise veranschaulicht wird, so steht im Zentrum ein Punkt, Gottes Name Walī. Betrachten wir die äußeren Ringe, die diesen Punkt umgeben: Neue Punkte entstehen vom Punkt in der Mitte zu den Außenringen. Der vom zentralen Punkt aus erste Ring gehört zu Muhammad. Die prominenten Propheten bilden die Punkte, die aus dem Muhammadanischen Zentrum hervorgingen, wie Adam, Noah, Abraham, Moses und Jesus. Dann kreuzen sich diese Punkte zu einem äußeren Ring der allgemeinen Offenbarung durch allgemeine Propheten. Somit sind die verschachtelten Ringe alle walāya- und nubuwwa-Kreise. Es kann festgestellt werden, dass sein Werk al-Fuṣūṣ al-Ḥikam in diesem Rahmen geschrieben wurde. Auch in seiner eigenen Biografie kann seine Begegnung mit Jesus, Moses und Muhammad im Hinblick auf seinen ersten spirituellen Erfahrungen (seine Unterweisung unter ihrer Aufsicht) entsprechend interpretiert werden. Daher modellieren alle 218 219

Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 4, S. 481. Vgl. Ibn al-ʿArabī: Raḥmatun min-ar-Raḥmān, Bd. 1, S. 15, 18, 26.

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Kapitel I. Muḥyīddīn Ibn al-ʿArabī

Heiligen, die in verschiedenen Perioden der Geschichte aufgetreten sind, die spirituellen Wege und Erfahrungen der angesehenen Propheten.

Im Kreis der Heiligen gibt es diejenigen, bei denen die vorherigen Manifestationen gesammelt werden, diese werden als »Siegel« (ḫātam) bezeichnet. Das prophetische Siegel aller Zeiten ist Muhammad (ḫātam al-anbiyā). Jesus repräsentiert das Siegel der Gottesfreunde aller Zeiten (ḫātam al-awliyā).220 Während Muhammad sowohl als Gottesfreund als auch als Prophet das Siegel der Gesetzgeber-Gottesbotschaft ist, stellt Jesus ein Siegel der allgemeinen Prophetie als Prophet und Got­ tesfreund dar. Der Gottesfreund, der graduell direkt unter Jesus steht, ist das Siegel der Muhammadanischen Gottesfreundschaft. Basierend auf einigen seiner Aussagen geben viele Forscher an, dass Ibn al-ʿArabī 220

Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 431.

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3. Die Lehre vom Menschen

behauptete, dass das Siegel der Muhammadanischen Gottesfreundschaft er selbst war. Die meisten seiner Kommentatoren und Anhänger stimmen diesem Ansatz ebenfalls zu. Sogar seine Kritiker gehen davon aus, dass er diese Behauptung aufgestellt hat, beispielsweise der bekannte salafitische Gelehrte Ibn Taymīya, der aufgrund dieses von ihm wütend zurückgewiesenen Anspruchs glaubte, dass Ibn al-ʿArabī sich selbst den Gefährten des Propheten überlegen sah.221 Während Ibn al-ʿArabī sich an einigen Stellen selbst als Siegel der Gottesfreundschaft zeigt, weist er an anderen Stellen auf ʿAlī hin, den Neffen des Propheten Muhammad und den 4. Kalifen.222 Für diese Position wurde in seinen Werken auch auf den Mahdī hingewiesen, von dem angenommen wird, dass er in der Endzeit für die Errettung der Menschheit kommt. Das »Siegel« hat eigentlich keine historische Bedeutung, es sollte als Zentralisierung der Manifes­ tationen und höchste spirituelle Erfahrung in einer Person angesehen werden. So wie er könnten sie sich alle (ʿAlī, Mahdī und er selbst) eigentlich als Siegel bezeichnet haben. Es ist klar, dass Kritiker wie Ibn Taymīya die Relativität des Konzepts und die Transzendenz der Geschichtlichkeit nicht berücksichtigen. Was für ihn sicher ist, ist, dass die Göttlichkeit am kompetentesten in Muhammad (Siegel der Propheten) und dann in Jesus (Siegel der Gottesfreunde) offenbart wurde.223 Laut Ibn al-ʿArabī sollten Weisheiten der Gottesfreundschaft zu jeder Zeit und an jedem Ort in einer Person gesammelt werden. In jedem Zeitalter – man sollte ohne zeitliche Begrenzung: in jedem Augenblick sagen – wird der Gott am nächsten stehende Freund, in dem die gött­ lichen Manifestationen auf vollkommenste Weise zusammenkommen, »quṭb« (Pol) genannt: Dieser Quṭb wurde von »Awtād« (Säulen), vier angesehenen Gottesfreunden der Zeit gefolgt, und weitere vierzig folgen ihnen. Ibn al-ʿArabī glaubt, dass es keine Länder oder Zeitzonen gibt, in der keine Gottesfreunde existieren. Denn wenn es keinen Gottesfreund auf der Erde gibt, wird die Erde seiner Meinung nach nicht in der Lage sein, ihre Existenz fortzusetzen, da sie ihren Geist verlieren wird. Hier Für seine Kritik gegenüber Ibn al-ʿArabī: Ibn Taymīya: Mağmūāt al-fatawā, hrsg. von ʿAmmār al-Ǧazzār, Anwar al-Bāz, al-Mansura 2008, Bd. 11, S. 233–235. Und für Ibn alʿArabīs Behauptung wie zum Beispiel: »Das Siegel der Propheten erschien mit Muḥammad, und ich bin das Siegel der Heiligen«, siehe: Ibn ʿArabī: Dīwān Ibn ›Arabī, S. 257. 222 In Bezug auf einen Koranvers (19:41) sagt er an einer anderen Stelle, dass der größte Gottesfreund Abū Bakr war, der nach dem Propheten als einer der Allāh am nächsten stehenden Gläubigen und als Wahrhaftiger bezeichnet wurde. Vgl. Ibn al-ʿArabī: Kitāb alqurbā, in Rasāi’l, S. 69–70. 223 Vgl. Hakim, Suad: »The Spirit and the Son of the Spirit – A Reading of Jesus according to Ibn ›Arabi«, Journal of the Muhyiddin Ibn Arabi Society, Bd. 31, 2002, S. 1–29. 221

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entsteht eine Frage: Wenn in jeder Region Gottesfreunde existieren, wie ist die Situation in nicht-muslimischen Gesellschaften? Zu diesem Thema, auf das im letzten Kapitel eine Antwort gesucht wird, kann hier gesagt werden: Entsprechend der permanenten Emanation des Seins gibt es in jeder Gesellschaft Menschen, die Göttlichkeit in bestimmter Weise erleben und daher ein bestimmtes Verständnisniveau erreichen. Allerdings ist nicht jeder, der einer Religion angehört oder sich der Spiritualität widmet – zum Beispiel jeder Sufi – ein Gottesfreund. Unter den Sufis befinden sich diejenigen, die viel anbeten (ābidūn), ein asketisches Leben führen (zāhidūn), Weisheit studieren (ʿurafā), sich nur auf die Wahrheit konzentrieren (ahl al-Ḥaqq), in die göttliche Schau eintauchen (ahl al-mušāhada) etc. Mit anderen Worten, mit Einsamkeit, Abgeschiedenheit, Gesang und Gebeten erhalten sie mystische Erkennt­ nisse (maʿrifa), Schau (mušāhada) und Vision (wāqiʿa).224 Trotzdem ist nicht bekannt, ob es sich um einen walī handelt oder nicht.225 Auf der anderen Seite konnte der größte Teil der Menschheit die göttlichen Wahrheiten nicht erreichen und das Kalifat nicht verwirklichen. Im Unterschied zum vollkommenen Menschen ist der unvollkommene ein Tiermensch:226 »Allāh macht den vollkommenen Menschen zum Geist des Weltalls… diese Wahrheit wurde nur von den vollkommenen Menschen gewusst. Die unwissenden Menschen erfassen diese Wahrheit nicht, weil sie Tiermen­ schen (insān al-hayvān) sind«.227

Nach Ibn al-ʿArabī ist der spirituelle Unterschied zwischen Tiermenschen und dem perfekten Menschen so wie die vernunftbasierten Differenzen zwischen Affen und Menschen.228 Gleichgültig wie sehr sich der Tier­ mensch in seinem Bewusstsein vom Affen unterscheidet, unterscheidet sich der perfekte Mensch vom Tiermenschen doch in seiner Spiritualität. Der niedere Grad eines Tiermenschen betrifft die moralische Unvollstän­ digkeit und mangelnde Kenntnis über das Sein. Da die moralische Reife mit der zunehmenden Kenntnis Gottes synchron ist, ist der Tiermensch nicht seelisch diszipliniert, dem Zorn zu entkommen, er kann nicht wissen, was Mitgefühl ist, und so kommen alle Arten von moralischen und spirituellen Schwächen, mangelnde Kenntnis und Erfahrung in 224 225 226 227 228

Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 552. Vgl. Ibn al-ʿArabī: Raḥmatun min-ar-Raḥmān, Bd. 1, S. 99. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 3, S. 289–290. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 3, S. 266. Vgl. Ibn al-ʿArabī: Raḥmatun min-ar-Raḥmān, Bd. 1, S. 96.

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4. Das Geschlechterbild

einem Tiermenschen zusammen. Doch haben alle Tiermenschen die Fähigkeit, die Gottesfreundschaft zu erreichen, indem sie ihre eigene Essenz entdecken: Weder eine bestimmte Gemeinschaft noch eine eth­ nische oder geografische Herkunft haben Einfluss auf die Verwirklichung dieser natürlichen Voraussetzung – derartige äußerliche Differenzen können nicht als Grund für die menschliche Perfektion betrachtet wer­ den. Die bisherigen Studien beschreiben ein bestimmtes Menschenbild, das grundlegende Differenzen so weit wie möglich berücksichtigt, beru­ hend auf der Lehre von Ibn al-ʿArabī, aber noch nicht im Hinblick auf geschlechtliche Unterschiede. Dies bringt uns an die Schwelle des nächs­ ten Kapitels.

4. Das Geschlechterbild 4.1. Kosmische Prinzipien Die unter dem Einfluss der altgriechischen Kosmologie entwickelte mittelalterliche Vorstellung vom Universum betrachtet die Entstehung als Zusammenspiel (zweier) aktiver und passiver Pole. Grundsätzlich wurde die kosmologische Dualität, die auf der aristotelischen Form-MaterieBeziehung basiert, mit Bezeichnungen wie oben-unten, vollständigunvollständig, geistig-materiell und letztendlich als männlich-weiblich definiert. Indem körperliche Unterschiede in den Mittelpunkt gestellt werden, wird akzeptiert, dass sich Aktivität in der Natur in männlichen und Passivität in weiblichen Phänomenen reflektiert. Die Identifikation von Weiblichkeit mit Passivität betraf nicht nur körperliche Belange, sondern auch spirituelle Kompetenz, intellektuelle Begabung und soziale Stellung. Im allgemeinen begründeten mittelalterliche Gelehrte ihre Behauptungen über die Bedeutung und Stellung von Frauen mit den Geschlechterunterschieden, die sich aus den antiken physischen Ver­ ständnissen ergeben.229 Obwohl er keine Informationen über die Gründe für seine Akzeptanz der bestehenden Wahrnehmungen gibt, wird Ibn alʿArabī auch von diesem vorherrschenden Paradigma beeinflusst gewesen sein, wenn er diese Geschlechtsadjektive in naturkundlichen Angelegen­ heiten verwendet – so zwischen dem Sein und der Welt: Da sie unter dem 229 Silvers, Laury: »Representations: Sufi Literature«, in Encyclopedia of Women & Islamic Cultures, Practices, Interpretations and Representations, hrsg. Suad Joseph, Leiden, Boston 2007, Bd. 5, S. 535–539.

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Einfluss des Schöpfungsakts erscheinen, sind alle geschaffenen Dinge in gewissem Sinne weiblich, da sie sich in einer empfangenden Stellung zur göttlichen Wirkung befinden.230 In verschiedenen Phasen der Exis­ tenzgabe setzt sich das Verhältnis von Wirkung und Empfang fort: Zum Beispiel gibt es eine Kombination von Auf- und Ab-Dimensionen – erhabene (ʿulwī) und niedrige (suflī) Seiten – im Atem des Barmherzigen, der der Natur Vitalität verleiht.231 Obwohl er die beiden Pole in der Naturbildung wie seine Zeitgenossen als männlich-weiblich identifiziert, betont Ibn al-ʿArabī vor allem ihre Wechselwirkungen und Einheit.232 Er beschreibt die Aktiv-Passiv-Beziehung mit dem Wort Ehe (nikāḥ), die durch verschiedene Handlungen wie Erschaffung, Manifestation und Atem vielfältige Zustände in der ganzen Sphäre des Seins erzeugt.233 Im Zusammenhang mit dem kosmologischen Prinzip erwähnt er die ontologische Ehe besonders im 11. Kapitel von al-Futūḥāt al-makkiyya mit dem Titel »Unsere erhabenen Väter und niedrigen Mütter« (ābāunā l-ʿulviyyāt wa-ummahātunā s-sufliyyāt). Dort gibt er an, dass die Natur als passive Mutter definiert wurde, weil sie eine Stelle der Metamorphose und des Wandels darstellt.234 Der aktive Vater ist der Geist und das Licht, die der Natur das Leben verleihen und sie dauerhaft beeinflussen. Obwohl der Mensch die ontologische Vereinigung nicht direkt erfährt (weil er den Geist nicht wahrnehmen kann), beobachtet er die erzeugten Wesen (muwalladāt) wie die Mineralien, Pflanzen, Tiere und damit die existentielle Kontinuität der Natur, die das Ergebnis der Ehe sind. Oder er beobachtet verschiedene Reflexionen der Ehe in der wahrnehmbaren Natur: Beispielsweise wird die Erde mit Regen vom Himmel schwanger. So wachsen ihre Pflanzen im Boden. Das menschliche Individuum ist auch ein Spiegelbild einer Art Ehe: Menschliches Dasein entsteht mit der Vereinigung von Geist und Körper. Natürlich wird ein weiteres Spiegelbild der gesamten ontologischen Ehe in der Vereinigung von männlichen und weiblichen Individuen gesehen, und das muwalladāt 230 »So everything is ›passive‹ in relation to that absolute (ontological) ground, and is a locus of self-manifestation for it, while that ground is ›active‹ and remains concealed in the thing«. Izutsu: Sufism and Taoism, S. 204. 231 Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 205 232 Vgl. Murata, Sachiko: The Tao of Islam: A Sourcebook on Gender Relationships in Islamic Thought, State University of New York, New York 1992, S. 147. 233 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 204–205. Ibn al-ʿArabī glaubt, dass der Koran­ vers »wir haben aus allem ein Doppelpaar geschaffen« (Koran, 51: 49) auf Fortpflanzung in der Natur hinweist. 234 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 403–404.

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4. Das Geschlechterbild

dieser Ehe ist das geborene Kind.235 Er zieht eine so nahe Analogie zwischen den menschlichen Eigenschaften und der Ehe von Geist und Kreatur, dass er die Überlieferungen in diesem Rahmen interpretiert. Zum Beispiel werden die Verse im Koran, in denen die Rechte der Eltern erwähnt werden, in den herrschenden exegetischen Quellen als eine Anweisung interpretiert, dass die Person ihre Eltern respektieren sollte. Nach Ibn al-ʿArabī meint Vater in dem Vers den Geist und Mutter die Natur: So wird im Koran vermittelt, wie der Mensch die Natur respektieren soll, die eigentlich seine Mutter ist.236 Warum konzentrierte sich Ibn al-ʿArabī eher auf die Vereinheitli­ chung kosmologischer Prinzipien als auf die Divergenz? Im Zentrum steht gewiss sein Bestreben, die Einheit im Sein zu gewährleisten. Dabei muss verhindert werden, dass sich das Zentrum in eine andere Richtung verschiebt. Das heißt, wenn das Seiende nur mit dem Aktiven identifiziert wird, bleibt das Passive außerhalb des Seins und muss es einen Mangel und eine Bedürftigkeit aufweisen. In dieser Hinsicht sind Aktivität und Passivität existenziell aufeinander angewiesen und sie brauchen einander, um zu existieren. Diese Annäherung spiegelt seine Ansicht über das gegenseitige Bedürfnis im Sein wider. Das existenzgebende Licht Nūr braucht einen Spiegel, um zu reflektieren; die Welt benötigt als Spiegel das Licht, um ihre Vitalität zu erhalten. Wenn man die Analogie im menschlichen Kontext betrachtet, ist die Kontinuität der menschlichen Spezies nur mit der Kontinuität der Generationen – durch geschlecht­ liche Beziehung – möglich. Wie bei jeder Interaktion gehört dazu ein Ergebnis, das Kind. Diese gegenseitige Abhängigkeit ergibt sich laut ihm aus dem göttlichen Urteil.237 Er definiert das, was der Mensch heute als Naturgesetze kennt, als göttliche Urteile (ḥukm), deren Ergebnisse in der Natur beobachtet werden können. Er ist der Ansicht, dass diese Bestim­ mungen die Vereinigung der Kräfte der Dinge obligatorisch machen. Die Notwendigkeit, dass sich der Boden mit Wasser verbindet, damit die Pflanze wachsen kann, ist wie die Funktion der Natur. Dank dieses vereinheitlichenden Prinzips der Vereinigung bewahrt der Boden sein Boden-Sein und das Wasser sein Wasser-Sein. Auch brauchen beide das Produkt, das aus der Vereinigung hervorgeht. Daher wäre es richtiger, die gegenseitige Wechselwirkung zu betonen, als die Wirkung eines der kos­ mischen Prinzipien auf ein anderes. Mit dem Ansatz bei gegenseitigem 235 236 237

Murata: The Tao of Islam, S. 147–151. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 6, S. 47. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 513.

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Kapitel I. Muḥyīddīn Ibn al-ʿArabī

Bedürfnis und Notwendigkeit muss Ibn al-ʿArabī den Wunsch haben, das physikalische Verständnis zu überschreiten, das die Dinge in zwei Pole zerbricht. Es war klar, dass diese Aktiv-Passiv-Dichotomie die Lehre von der Einheit des Seins untergraben würde. Solche Dualität, Dinge in Dimensionen zu unterteilen, die auf unabhängigen Dingen beruhen, würde auch zwischen dem kreativen Effekt und dem geschaffenen Objekt unterscheiden. Er versuchte bereits, die Unterschiede und sogar die Kontraste mittels des Verständnisses der »göttlichen zwei Hände« zu überwinden. Das Ehekonzept unterstreicht die obligatorische Koexistenz zweier Differenzen. Daher ist es unwahrscheinlich, dass das Passive eine vom Agenten getrennte Dimension darstellt, und es ist auch nicht unabhängig davon. Ibn al-ʿArabī verwandelte die Auffassung von einem fragmentierten Universum voller diskreter Individuen im Einklang mit der männlich-weiblichen Zuschreibung in die Idee eines einheitlichen und ganzheitlichen Universums anlässlich der Vereinigung. So beseitigt das ontologische Ehekonzept als Notwendigkeit des Werdens auf jeder Ebene des Seienden die Dualität der kosmischen Prinzipien.238 Eine der wichtigsten Auswirkungen der Identifikation der kosmi­ schen Passivität mit der Weiblichkeit auf das religiöse Denken ist, dass das Passive dem Agenten folgt, d.h. seine sekundäre Position. Nach dem allgemeinen Verständnis wurde der aktive Geist als erhaben gesehen in Bezug auf seine Reinheit im Vergleich zu der Materie (bzw. Körper) und hinsichtlich seiner Wurzel in Gott all privilegiert. Ibn al-ʿArabīs Körper-Verständnis ist nicht mit diesem Ansatz vereinbar: Die Idee der Priorität des Agenten entspringt vor allem einer linearen Vorstellung von Zeit, nämlich dass die von Gott ausgehende Wirkung auf die nachher geschaffenen Natur überging. Die Schöpfung wird dabei innerhalb eines bestimmten Prozessflusses fiktionalisiert. Doch in der kreisförmigen Zeitwahrnehmung von Ibn al-ʿArabī endet die Bewegung, die von einem Punkt ausgeht, wieder an demselben Punkt. In dieser kreisförmigen Bewegung, die Spuren der neoplatonischen Kosmologie trägt, setzt sich die Wechselwirkung zwischen Aktiv und Passiv mit dem Übergang von einem zum anderen fort, da das Existieren in jedem Augenblick stattfindet. Es beginnt nicht in einem und endet in dem anderen. Es gibt keinen zeitlichen Fluss des Schöpfungsakts; zur Veranschaulichung: wenn man denselben Kreis betrachtet, ist es nicht möglich zu bestimmen, was ursprünglich und was später war. Ibn al-ʿArabī gibt einen bemer­ kenswerten Kommentar, um diese Argumentation zu rechtfertigen. Die 238

Ebd., S. 513.

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4. Das Geschlechterbild

Natur ist der Ort, an dem die Dinge entstehen. Da der Effekt auf ihn übergegangen ist, muss er vor dem Agenten vorhanden sein. Es sollte angenommen werden, dass das Universum, das durch den Fluss des Geistes, die Reflexion des Lichts, d.h. die göttlichen Manifestationen belebt wurde, zuvor geschaffen wurde. Im Rahmen der zeitlichen Reihe, in der die Wirkung nicht alleine gedacht werden kann, ist es sicherlich möglich, die Anwesenheit des Passiven zu berücksichtigen, wie einen leblosen Körper. Vor dem göttlichen Atem müssen die Bilder der Natur geschaffen worden sein (genau wie Adams Körper), deshalb hat die mit dem weiblichen Charakter dargestellte Natur eine gewisse Priorität. Selbst wenn der lineare Fluss akzeptiert wird, macht dies die Priorität der weiblichen Wahrheit obligatorisch. Daher liegt die Passivität zuerst vor, die Wirkung kam nach ihr.239 Nicht nur in Bezug auf die Beziehung zwischen Geist und Natur kann die Priorität des weiblichen Phänomens festgestellt werden, sondern es kann auch in verschiedenen Ebenen des Seins und sogar in der allgemeinen Existenzgabe festgestellt werden. Um diesen Ansatz zu rechtfertigen, überliefert er folgenden Ḥadīṯ vom Pro­ pheten: »Drei Dinge in eurer Welt, unter allem, was sie an Dreifachem enthält, wurden mir der Liebe wert gemacht, nämlich die Frauen, die Düfte und das Gebet.«240

Ibn al-ʿArabī ist der Meinung, dass Wörter und ihr maskulines oder feminines Genus in der Überlieferung bewusst bevorzugt werden.241 In der Offenbarungssprache Arabisch sind die Namen der Dinge nicht zufällig bestimmt worden, und es kann nicht gesagt werden, dass der Prophet zufällig gehandelt hatte, während er drei Dinge aufgezählt Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 205. Die Übersetzung wurde von Die Weisheit der Propheten, S. 144 genommen; vgl. Ibn ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 202–204. Für die Interpretation dieses Ḥadīṯs bei den Mys­ tikern, siehe: Schimmel, Annemarie: My Soul is a Woman, The Feminine in Islam, New York 2003, S. 23–33. Dieser Ḥadīṯ stellt den geistigen Ausgangspunkt für Ibn al-ʿArabīs Vorstellung vom Sein und der Relation mit den Seienden dar. In mehreren Teilen seiner Werke verweist er auf diese Überlieferung, denn die drei Dinge stehen symbolisch für drei ontologische Aspekte. 241 Ibn al-ʿArabī sagt, dass Araber im Allgemeinen sprechen, indem sie die Männlichkeit in Sätzen dominieren. Wenn beispielsweise ein Mann und eine Frau mit einem einzelnen Verb in einem Satz beschrieben werden, kommt das Verb in einer maskulinen Form vor, wie zum Beispiel »ḫarağū« (sie sind herausgegangen). In diesem Ḥadīṯ werden die Wörter jedoch sorgfältig ausgewählt und eine sehr bewusste feminine Identität wird dominant gemacht. Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 205. 239

240

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hat. Dieser Ḥadīṯ hebt den Wert der Liebe des Propheten zu Frauen offensichtlich hervor und weist dabei insgeheim auf zwei Punkte hin: Der erste ist der weibliche Charakter des kosmischen Prinzips, weil es allen Kreaturen innewohnt und alles aus ihm hervorgeht. Die zweite ist die wirkende-empfangene Verflechtung, daher die zuvor betonte Einheit.242 Wenn die drei Dinge als grundlegende kosmische Prinzipien angesehen werden, vertritt die Frau die ursprüngliche universale Natur, die primär vor allen Existenzen steht. Die weibliche Dimension hat einen gebärenden und stiftenden Charakter, die das Hervorbringen im Sein symbolisiert.243 Als ein kosmisches Prinzip ist die Weiblichkeit nicht nur ein rezeptiver Teil der zweidimensionalen Weltanschauung, sondern auch die Quelle der schöpferischen Prozesse. Wenn die Wörter im Ḥadīṯ »Drei Dinge« sprachlich analysiert werden, verweist dies auf den Zyklus, der durch den femininen-maskuli­ nen Übergang bereitgestellt wird. Nach Ibn al-ʿArabī leitet sich »Duft« von der maskulinen Gattung, »Frau« und »Gebet« von der femininen Gattung ab. So begann der Ḥadīṯ mit dem eine weibliche Wahrheit anzeigendem Wort Frau, setzte sich mit dem männlichen Duft fort und endete dann wieder mit dem weiblichen Wort Gebet. Somit werden der Austritt der Existenzbewegung aus der Hauptquelle und seine Rückkehr dorthin (in einer kreisförmigen Schleife) inszeniert. Genau in diesem Zusammenhang taucht die Bezeichnung »Mutter« wieder auf. Es wurde bereits erwähnt, dass die Natur wegen ihrer Passivität und als Ort des Entstehens Mutter genannt wird. Nun erscheint das Wort Mutter für den Ur-Charakter der Existenzgabe. Umm ist die Stelle (maḥall wörtlich: Ort) der Schöpfung (al-īğād)244 und umfasst die Ganzheit (al-ğāmiaʿ al-kulliya).245 Was Ibn al-ʿArabī mit umm meint, verdeutlicht eine weitere Bedeutung dieses Wortes, nämlich dass »die Mutter vom Körper der Kopf ist«246. In diesem zweiten Sinn definiert umm den Hauptteil der Seienden, bedeutet den Ursprung und die eigentliche Wurzel des Existierens. In seinen Werken findet man weitere Ableitungen des Wortes: wie zum Bei­ Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 214. Ihre Fähigkeit des Gebärens bedeutet, dass Gott sie zu einem Ort seiner Schöpfung machte. Sie besitzt eine Gebärmutter, im arabischen raḥīm (Erbarmen). Der Ort dieser Erbarmung ist das Weib (ihre Gebärmutter). Vgl. Shaikh, Sa'diyya: Sufi Narratives of Inti­ macy, Ibn ›Arabī, Gender, and Sexuality, The University of North Carolina 2012, S. 123–127. 244 »Umm ist der Ort (maḥal) des Hervorbringens«, Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-mak­ kiyya, Bd. 1, S. 111. 245 Vgl. Ebd., S. 111. 246 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 124. 242 243

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4. Das Geschlechterbild

spiel ummuhāt al-kalimāt (die Mütter der Wörter – bzw. Offenbarung), ummuhāt al-asmā al-ilāhiyya (die Mütter der göttlichen Namen), umm al-mawğūdāt (die Mutter der Seienden), ummuhāt al-akwān (die Mütter des Kosmos).247 In Übereinstimmung mit Kommentator Kāšānī weist Izutsu darauf hin, dass der ultimative Grund des Seins in der Lehre von der Einheit des Seins als Mutter definiert wird. Zusätzlich macht er auf die femi­ nine Gattung anderer ontologischer Ausdrücke wie Ḥaqīqa (Wahrheit) und ʿayn (Quelle) aufmerksam.248 Auf dieser Grundlage hebt Sa'diyya Shaikh besonders den weiblichen Charakter des Seins-Hervorbringens hervor.249 Hierbei ist sowohl die negative Haltung, die den göttlichen Ursprung von den kreatürlichen Eigenschaften abhebt, als auch das zyklische Zeitverständnis zu berücksichtigen. Es kann deutlich aus einer ganzheitlichen Lesart festgestellt werden, dass nach Ibn al-ʿArabī die Merkmale von Kreaturen wie weiblich-männlich nicht im göttlichen Prinzip gesucht werden sollten. Auch hier scheint es einen Widerspruch zu geben. Wie kann man also Analogien des weiblichen Charakters wie Mutterschaft für die Göttlichkeit heranziehen, die in Bezug auf die klassische Theologie seltsam und verwerflich sind? In der (zweiten) Ebene von wāḥidiyya wird der Zustand des Seins mit weiblichen Attri­ buten beschrieben. Aber die Attribute sind niemals selbst das Sein. In der Überlieferung des Propheten zeigt der Übergang vom Femininen zum Maskulinen und vom Maskulinen zum Femininen erneut die ganzheitliche Intimität und die kreisförmige Bewegung. Aber das Sein selbst umfasst alle diese Ebenen. Daher kann nur die geschlechtliche Darstellung der Existenzgabe bestimmt werden, nicht das Sein selbst oder sein Grund. Auf diese Weise versuchte Ibn al-ʿArabī, das Problem der zeitlichen Priorität zu überwinden und den Mangel an aktiver-passiver Unterscheidung zu beseitigen. Nun entstehen einige Fragen, z.B.: wird die Einheit von Aktiv-Passiv mit der Erzählung der menschlichen Schöp­ fung zusammenpassen? 247 Über die aus dem Wort umm stammenden Wörter: Ḥakīm, Suʿād: al-Muʿğam aṣ-ṣūfī. al-Ḥikma fī ḥudūd al-kalima, Beirut 1981, S. 114–120. 248 Vgl. Izutsu: Sufism and Taoism, S. 203–25. Vgl. auch mit Barrāḍa, Nazhat: al-Unūṯa fī-fikr Ibn ʿArabī, Beirut 2008, S. 119–122. 249 »Given that Arabic is a gendered language, Ibn al-ʿArabī suggests that not only is the Arabic term for the divine essence, al-ḏāt, feminine, but so too are other significant terms indicating, for example, a divine attribute (shifa) or divine power (qudra). For him, the grammatically feminine forms describing God indicate the predominance and priority of the feminine dimensions of God in the processes of creation«. Shaikh: Sufi Narratives of Intimacy, S. 175.

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Kapitel I. Muḥyīddīn Ibn al-ʿArabī

4.2. Geschlechter im Schöpfungsakt Nach der Erörterung der Äquivalente der Geschlechter im kosmischen Rahmen kann das Thema der Stellung in dem Schöpfungsakt behandelt werden. Trotz der unterschiedlichen Interpretation der Koranverse stim­ men die meisten Exegeten darin überein, dass der erste Mensch männlich war und das Weib aus ihm geschaffen wurde. Die Identifizierung des ersten Menschen (Adam) mit Männlichkeit und der sekundäre Status des Weibs in der Schöpfung und ihre körperliche Zugehörigkeit zum Mann fielen nicht nur in den Bereich von tafsīr, sondern es ist ersichtlich, dass in verschiedene Disziplinen betreffenden Themen wie der Stellung der Frau in Familie, Gesellschaft und religiösem Leben auf die Schöpfungserzäh­ lung Bezug genommen wird. Auch Ibn al-ʿArabī korreliert Priorität und Überlegenheit zwischen den Geschlechtern mit der Stellung des Weibes in der Schöpfung. Während es Koranverse gibt, die sich direkt mit Adam befassen, wird die Schöpfung des ersten weiblichen Wesens nicht direkt erwähnt, und die Benennung als Ḥawwā (Eva) findet sich in Ḥadīṯen, nicht im Koran. In dem Grundvers zu diesem Thema wird der erste Zustand der menschlichen Schöpfung »eine Seele« (nafs) genannt, ohne geschlechtsspezifische Unterscheidung: »Ihr Menschen! Fürchtet euren Herrn, der euch aus einem einzigen Wesen (nafs wāḥida) geschaffen hat, und aus ihm das ihm entsprechende andere Wesen (zawğ)250, und der aus ihnen beiden viele Männer und Frauen hat (hervorgehen und) sich (über die Erde) ausbreiten lassen!« (Koran, 4:1)251

Der Ausdruck »nafs wāḥida« im Vers betont die Einzigkeit der mensch­ lichen Herkunft, ohne sich direkt auf ein Geschlecht zu beziehen. Somit enthält die geschlechtliche Natur des ersten menschlichen Prototyps (im Koran) Mehrdeutigkeit. Außerdem wird im Vers den Wörtern »nafs« und »zawğ« das Präfix und Bestimmungspartikel »al« entzogen. Der Nullar­ tikel, in der Grammatik »nakra« genannt, zeigt sowohl den Umfang als auch die inhaltliche Ambivalenz der Wörter an. Ibn al-ʿArabī wird seine 250 Es ist zu beachten, dass die Wortbedeutung des Wortes zawğ Gatte und Ehefrau ist. Da (Ehe)Gatte Deutschen direkt auf das Geschlecht bezieht, wird es hier vorgezogen, bei der Übersetzung des Wortes die Entsprechungen von Wesen, Partner und Gatte entsprechend je nach dem Kontext im Satz anzugeben. 251 In einem anderen Vers heißt es: »Er ist es, der euch aus einem einzigen Wesen geschaffen und aus ihm das ihm entsprechende andere Wesen (als seine Gattin) gemacht hat, damit er bei ihr ruhe«. (Koran, 7:189). »Er hat euch aus einem einzigen Wesen geschaffen und hierauf aus ihm seine Gattin gemacht«. (Koran, 39:6)

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eigene Meinung auf diese Unsicherheit aufbauen. Aber er ist mit dieser Haltung nicht allein, und die Vielfalt der exegetischen Möglichkeiten hat die Aufmerksamkeit der Gelehrten insbesondere in der Moderne auf sich gezogen. Zum Beispiel weist der ägyptische Gelehrte Muḥammad ʿAbdūh, der zahlreiche Denker unserer Zeit beeinflusst hat, auf die Schwierigkeit hin, nafs wāḥida mit Adam zu identifizieren, da die ersten menschlichen Wörter wie nafs und zawğ nicht eindeutig sind.252 In dieser Richtung kritisierten einige zeitgenössische Intellektuelle die allgemeine Überzeugung, dass die Frau vom erstem Mann abstamme, da das erste männliche Individuum und der erste menschliche Prototyp im Vers nicht eindeutig identifiziert wurden. Der Punkt, der dies unterstützt, ist, dass, während die Erschaffung des ersten Menschen aus der Erde ziemlich klar ist (Koran, 3:59), offensichtliche Informationen über den Schöpfungsprozess von Eva nicht im Koran enthalten sind. Die Bedeu­ tungsbreite in den Versen ermöglicht die Interpretation als Entstehung von Ehepartnern aus dem ersten geschlechtslosen Wesen, die eine reiche exegetische Basis für muslimische Denker bietet, die sich für biologische Evolution und feministische Lehren einsetzen. Die Tatsache, dass das Wort nafs einen femininen Genus ist, hat auch zu vielen zeitgenössischen Spekulationen über die Weiblichkeit des ersten Menschen geführt.253 Natürlich sollte festgestellt werden, dass sich diese Vielfalt und der Reichtum an Interpretationen nach dem 19. Jahrhundert, d.h. nach dem westlichen Einfluss, entwickelt haben. Um die Mehrdeutigkeit im Blick auf die Natur der ersten menschli­ chen Wurzel in dem Vers zu zerstreuen, beziehen sich die traditionellen Gelehrten auf den folgenden Ḥadīṯ: »Das Weib ist aus einer gekrümmten Rippe geschaffen worden, und der am stärksten gekrümmte Teil ist in dem oberen Teil. Wenn du sie gerade biegen willst, wirst du sie brechen, und wenn du sie lässt, wie sie ist, wird sie verbogen bleiben. Behandle also die Frauen gut!«254

Wenn der Vers (über nafs wāḥida) im Rahmen dieses Ḥadīṯ noch einmal gelesen wird, kann geschlossen werden, dass die im Vers erwähnte Gattin (zawğ) aus der Rippe des ersten Wesens erschaffen wurde. So legt sich nahe, das koranische »ein Wesen« mit einem männlichen Adam Vgl. Rašīd b. ʿAlī Riḍā, Muḥammad: Tafsīr al-manār, Kairo 1990, Bd. 4, S. 265–272. Vgl. Wadud, Amina: Qurʾan and Woman. Rereading the Sacred Text from a Woman's Perspective, Oxford 1999, zweite Auflage, S. 19–22. 254 Al-Buḫārī, Nikāḥ, 80; Ibn Māğa, ṭahāra, 77. Vgl. https://www.dorar.net/h/ac684f5214a670f3d7da49442b8efbc8 252

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zu identifizieren, so dass die Aussage »aus der Rippe« verdeutlicht, dass die (weibliche) Gattin aus dem Mann erschaffen wurde. Wie die Bedeutungsbreite des Verses mit diesem Ḥadīṯ eingeschränkt wurde, kann in den Werken von zwei Gelehrten aus der Zeit von Ibn al-ʿArabī, die bisher großen Einfluss auf die exegetische Tradition haben, betrachtet werden. Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī (gest. 1209) interpretierte den Vers in Übereinstimmung mit dem obigen Ḥadīṯ so, dass der menschliche Prototyp der männliche Adam ist – »seine Frau wurde aus einem Teil von ihm erschaffen, dann bestanden ihre Kinder aus beiden«.255 Abū ʿAbd Allāh Muḥammad al-Qurṭubī (gest. 1272), der aus demselben Land wie Ibn al-ʿArabī stammte, interpretierte den Vers auch im Lichte des Ḥadīṯ, indem er der gleichen Methode folgt wie ar-Rāzī.256 Einer im Osten und der andere im Westen als Imām (führender Gelehrter) aner­ kannt, stellen beide Koran-Exegeten insbesondere heraus, dass sich die muslimischen Gelehrten in dieser Frage einig sind. Dementsprechend begrenzt das vorherrschende Paradigma unter muslimischen Gelehrten die Bedeutungsbreite des Verses in Übereinstimmung mit dem Ḥadīṯ und klärte somit den Schöpfungsprozess auf. Zeitgenössische Kritiker, die sich bewusst sind, dass das traditionelle Verständnis der Erschaffung der Frau vom Ḥadīṯ herrührt, haben seine Authentizität größtenteils zur Diskussion gestellt. Im Rahmen der ḤadīṯDisziplin wird behauptet, die Überlieferung(skette) sei schwach oder erfunden und sowohl die religiösen als auch die sozialen Rollen von Frauen durch diese Verengung der Bedeutung bestimmt worden. Aber letztendlich liegt das Verständnis, das seit Jahrhunderten tradiert ist und in der heutigen traditionellen Umgebung vorherrscht, in der Linie von ar-Rāzī und al-Qurṭubī. Wenn man sich nach diesem kurzen historischen und zeitgenössischen Panorama Ibn al-ʿArabī zuwendet, stößt man auf keine Kritik hinsichtlich der Echtheit des Ḥadīṯ. Im Gegenteil, er versucht, diesen Ḥadīṯ im Rahmen des Koran-Verses zu interpretieren, und ist der Meinung, dass die Worte im Ḥadīṯ die Mehrdeutigkeit bewahren. In diesem Zusammenhang glaubt er, dass das Wort »Rippe« nicht eine körperliche Realität ausdrücklich, sondern im übertragenen Ar-Rāzī, Faḫr ad-Dīn: Mafātīḥ al- ġayb, at-Tafsīr al-kabīr, hrsg. von ʿAbd ar-Raḥmān Muḥammad, Beirut 1990, Bd. 9, S. 131. Er gibt sogar an, dass die Gelehrten zustimmen, dass die einzige Seele Adam war. Ar-Rāzī ist sich jedoch bewusst, dass das Wort nafs, das den menschlichen Ursprung im Vers ausdrückt, weiblich (Genus) ist, dass dies jedoch nur eine sprachliche Gegebenheit ist und die Bedeutung nicht ändert. 256 Al-Qurṭubī, Abū ʿAbd Allāh Muḥammad: al-Ğāmiʿ li-aḥkāmi’l- Qurān, Beirut 1995, Bd. 3, S. 4. 255

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Sinne zu verstehen ist. Obwohl die physische Bedeutung des Wortes ḍalʿa Rippe ist, bedeutet es spirituell Liebe und Zuneigung.257 Er zieht es vor, den Ḥadīṯ in Übereinstimmung mit der zweiten Bedeutung des Wortes zu interpretieren. Mit dem Ausdruck »aus der Rippe erschaffen« ist gemeint, dass das Weib aus Liebe erschaffen wurde. Obwohl er seine Interpretation nicht im Detail begründet, ist das Hauptthema in dem Wort des Propheten nicht Eva und ihre Erschaffung. Der Prophet spricht allgemein von Frauen, und die Schöpfung kann sich im Grunde auf den weiblichen Charakter beziehen. Er sprach die männliche Gemeinschaft um ihn herum an und empfahl, dass das Verhalten gegenüber Frauen liebesorientiert sein soll. Basierend auf dieser Lesart: Hier wird nicht der biologische Prozess, sondern die weibliche psychologische Struktur und die Art der Beziehung zwischen den Geschlechtern erwähnt. Ibn al-ʿArabī, basierend auf dem zweiten Teil des Ḥadīṯ, entdeckte eine Vielfalt von Interpretationen, die der Mehrdeutigkeit im Vers ähnlich sind. Wenn die Überlieferung vollständig gelesen ist, reicht es in der Tat aus, um seine Idee zu unterstützen. Interessanterweise wurde in den oben zitierten Kommentaren (zum Beispiel ar-Rāzī) nicht der gesamte Ḥadīṯ, sondern nur der Satz »Die Frau ist aus einer gekrümmten Rippe geschaffen worden« überliefert. Es kann vorausgesagt werden, dass der Ḥadīṯ, wenn er vollständig berichtet wird, die Mehrdeutigkeit im Vers nicht beseitigt. Dies bedeutet, dass die Wörter »einzelne Seele« und »Frau« im Vers nicht auf bestimmte Bedeutungen in der Achse Schöpfung aus Rippen im Ḥadīṯ reduziert werden können. Während der Vers den biologischen Prozess der menschlichen Schöpfung ausdrückt, verweist der Ḥadīṯ auf den psychologischen Rahmen der Beziehung zwischen den Geschlechtern. Auch wenn die Entwicklung der Interpretation von der äußeren Realität zur inneren Struktur ein bemerkenswerter Schritt in Bezug auf die Gleichberechtigung darstellt, ist der Grund für die weibliche Psychologie, die auf eine Art Zerbrechlichkeit hinweist, nicht klar. Da die Interpretation des Verses über Schöpfung aus dem Deutungs­ rahmen des Ḥadīṯ entfernt ist, kann nun der Frage nachgegangen werden, wie die Wörter nafs und zawğ verstanden werden. In Ibn al-ʿArabīs Begriffsbildung, wie schon festgestellt wurde, so, dass das Wort nafs die Kombination von Geist und Körper darstellt, daher der Zwischenzustand (barzaḫ). In dieser Hinsicht ist das erste Wesen, das die Wurzel der menschlichen Schöpfung bildet, eine neutrale Situation, die die Vereini­ gung von geistigen und irdischen Wahrheiten ausdrückt. Nafs wāḥida 257

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muss die gemeinsame Menschlichkeit oder der Kern des Menschwerdens sein, das in allen Menschen zu finden ist. Man weiß jedoch nichts über seine biologische und physiologische Natur. Es ist ein schwer zu beschreibendes Prinzip, weil es Geist und Körper verbindet, es ist der Sammler göttlicher Manifestationen sowie das Fazit des geschaffenen Universums. Ibn al-ʿArabī sagt Folgendes über die ersten menschlichen Wesen: »Du solltest wissen, dass die Menschheit eine Wahrheit ist, die Männer und Frauen vereinigt.«258 Damit kann festgestellt werden, dass sie männliche und weibliche Wahrheiten umfasst. Dies liegt genau daran, dass die Idee von nafs der Zwischenzustand ist. Er gibt sogar ein Beispiel dafür, wie es in der Alltagssprache korrespondiert: »Ein Sufi wurde gefragt: ›Wie viele sind Heilige (abdāl)? ‘ Er antwortete, dass es vierzig Seelen (nafsan) sind. Auf die Frage, warum er nicht ›Mann‹ sagte, sagte er: ›Es sind Frauen unter ihnen‹.«259

Dies zeigt, dass das Wort nafs in einem Sinne verwendet wird, der Frauen direkt unter den Sufis einschließt. In der Hauptsache stützt er sich damit auf die Tatsache, dass nafs im Sinne der menschlichen Essenz geistige-materielle und männliche-weibliche Strukturen enthält. Der erste geschaffene Mensch wird im Koran als »Ādam« bezeich­ net. Ādam, der nach dem Bilde Gottes geschaffen wurde, war auch der erste Kalif, Prophet sowie Gottesfreund. Wenn das nafs wāḥida als männlicher Adam betrachtet wird, kann es die Geschlechter nicht umfassen. An Adams zumindest anschließender Männlichkeit kann kein Zweifel bestehen, denn Ḥawwā ist eine Frau. Da Ibn al-ʿArabī dieses Thema nicht besonders ausführlich analysiert hat, ist es sehr schwierig herauszufinden, wie er dieses Problem gelöst hat. Wenn aber seine Ausdrücke aus verschiedenen Kontexten zusammen bewertet werden, können einige Schlussfolgerungen gezogen werden. Dementsprechend findet man zwei Situatione hinsichtlich des Anfangszustands: Als erste Situation, in der zwei Partner einer sind, wird sie als nafs wāḥida definiert. Wenn Ibn al-ʿArabī diese Situation beschreibt, nennt er sie zusammen­ gesetzt.260 Im zweiten Fall tritt eine Trennung auf; und wenn der Teil die Quelle verlässt, werden beide Parteien als zawğ bezeichnet. D.h., die »anna l-insāniyyata lammā kanat ḥaqīqatun ğāmiʿatun li-rrağuli wa-l-mar’a«. Ibn alʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 4, S. 9. 259 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 5, S. 202. 260 »Das Weib wurde aus compound erschaffen.« Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 4, S. 46.

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Einheit des menschlichen Wesens in seinem Ausgangszustand wurde nafs genannt, und nach der Trennung wurde sie zawğ genannt. Man stellt fest, dass die Benennung »Adam« in Bezug auf beide Situationen verwendet wird. Der Name der inklusiven Person im einzigen Wesen war Adam261, und der Name des männlichen Gatten in der neuen Situation nach der Trennung der Gattin vom einzigen Wesen war ebenfalls Adam. Es gibt einen Wandel in Adams Dasein: Als »einzige Seele« wurde es durch die Erschaffung der Gattin aus sich selbst gemindert und hat sich vom Dasein als »einzige Seele« zum »Gatte sein« entwickelt. In dieser Hinsicht fällt auch der Fluss des Themas im Vers auf: nafs wāḥida (einzige Seele) → zawğ (Gatten) → riğāl (Männer) + nisā (Frauen) Während die Wörter Männer und Frauen direkt bestimmte geschlechts­ spezifische Verkörperungen evozieren, ist unklar, worauf sich im Blick auf Geschlecht nafs und zawğ beziehen. Aus alledem kann folgende Schluss­ folgerung gezogen werden: Während nafs in der Primärstruktur die folgenden Ehepartner umfasst, bleiben mit der Geburt des Ehepartners vom ersten Wesen die männlichen Merkmale in ihm und die weiblichen Merkmale wurden auf die herausgegangene Struktur (Ehegattin) über­ tragen.262 Das kann gemäß der Lehre von der Einheit des Seins wie folgt interpretiert werden: Auf der ersten Ebene (martaba) wurde die Einheit nafs genannt; auf der zweiten Ebene wurden die zwei Manifestationen der Einheit zawğ genannt; auf der dritten Ebene tauchten Geschlechter direkt auf. Wie kann ein kreisförmiger Fluss erreicht werden? Verständ­ licherweise mit der Wiederherstellung der Vereinigung, das heißt durch Ehe. Männer und Frauen wurden aus der Vereinigung der beiden zawğ (in der zweiten menschlichen Ebene) geboren. Das erste Wesen (nafs) und der eine zawğ war Adam, der andere zawğ und das erste weibliche war Eva, und beide: »Es gibt vier Arten menschlicher Körper (ğism): Ādams Körper, Ḥawwās Körper, Körper von ʿĪsā (Jesu) und den Körper der Kinder Adams. Die Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 186. Der jordanische islamwissenschaftler Salaḥ Ḫālidi erklärt in seinem Werk über Adam, dass einige Gelehrte der Meinung sind, dass die Seele (nafs) die völlig spirituelle, d.h. immaterielle Natur des ersten Menschen betont. Vgl. Ḫālidi, Salaḥ: Sīratu Ādam ʿalayh assalām, Amman 2000, S. 111. Ich konnte bei meinen Untersuchungen den Koran-Kom­ mentaren nicht entnehmen, dass der erste Mensch nur spiritueller Natur war. 261

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Erschaffung jedes dieser vier Körper unterscheidet sich in der Kausalität (sababiyya) von der Erschaffung des anderen, obwohl sie im körperlichen und geistigen Bild gleich sind.«263

Nach diesem Ausdruck wurden Adam und Eva aus derselben körperli­ chen und geistigen Wurzel gebildet. Diese Wurzel nafs wāḥida ist die kollektive und ganzheitliche erste Form von Adam. Die Tatsache, dass der Koran nach der Differenzierung des ersten einzigen Wesens Adam und Eva Partner nennt, zeigt, dass sie aus derselben Wurzel stammen und sich in der gleichen Situation befinden. Unter diesem Gesichtspunkt kann die Entstehung beider Ehepartner als eine Art Teilung bewertet werden. Die Qualifikation der beiden als Partner erfolgt nur, wenn das Ganze zu gleichen Teilen aufgeteilt ist. Ibn al-ʿArabī interpretiert folgende Überlieferung des Propheten Muhammad als Hinweis auf die Gleichheit beider: »Frauen sind Zwillingsgeschwister von Männern«. Je mehr die Zwillingsgeschwister miteinander identisch sind, desto mehr Ähnlichkeit muss zwischen männlich und weiblich bestehen. Er ist sich der Gleichheit in der Menschheit so sicher, dass er sagte: »Dieser Ḥadīṯ würde ausrei­ chen, wenn es keine anderen Worte des Propheten über Frauen gäbe.« Auch nannte der Prophet Muhammad die Frau šiqq/šaqāiq (Teil), wobei Ibn al-ʿArabī diesen Teil wie einen halben Apfel interpretierte – Mann und Frau sind also zwei Aspekte eines menschlichen Daseins.264 Aus seiner Sicht kann man sagen, dass das Wort šiqq den genauen Bedeutungsinhalt von zawğ im Vers beleuchtet. In traditionellen Interpretationen wird das Wort šiqq jedoch so verstanden, dass das Weib existentiell ein Teil des Mannes ist, und demnach vom Mann abhängig. Dabei bedeutet dieser »Teil« aus Sicht von Ibn al-ʿArabī im Sinne von »Partner« jedoch, wie ein Zwillingsgeschwister zu sein, mit anderen Worten, was in menschlicher Hinsicht ontologische Gleichheit ist. Eine andere Analogie, die er verwendet, um die Gleichheit in der Schöpfung zu erklären, ist die Beziehung zwischen den beiden Namen Gottes Raḥmān und Raḥīm:265 Beide sind abgeleitet aus der gleichen Bedeutungswurzel Barmherzigkeit (raḥma), und je gleicher sie in Bezug auf die Barmherzigkeit sind, desto gleichberechtigter sind Männer und 263 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 374. Jesus wird als ein anderer Körper beschrieben, da er ohne Mutter geschaffen wurde. Die Adamskinder hingegen gingen aus der Vereinigung ihres Vaters (Adam) und ihrer Mutter (Eva) hervor. Deshalb sind sie nicht wie Adam oder Eva. 264 Vgl. Barrāḍa: al-Unūṯa fī-fikr Ibn ʿArabī, S. 149–150. 265 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 7, S. 577.

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4. Das Geschlechterbild

Frauen im Menschsein. In diesem Beispiel bezieht sich Ibn al-ʿArabī auf einen Vers am Anfang aller Suren: »Bismi -llāhi r-raḥmāni r-raḥīm«, was bedeutet »Im Namen Allāhs, des Gnädigen, des Barmherzigen«: Das ist ein Ausspruch, den Muslime in ihrem täglichen Leben wieder­ holen, wenn sie mit der Arbeit beginnen. Der Satz beginnt mit dem Wort Allāh, das alle (göttliche) Namen enthält, und geht vom Namen Raḥmān, der die diesseitige und jenseitige Gnade Gottes umfasst, bis zum Namen Raḥīm im Sinne der Barmherzigkeit in der Welt. Wenn wir seine Manifestationsidee betrachten, ist jede neue Manifestation in der vorherigen immanent. Auch hier enthält jeder Name alles, was danach kommt. Die Harmonie zwischen Allāh → Raḥmān → Raḥīm spiegelt sich in der Rangfolge Einzige Seele → Gatten → Geschlechter wider. Diese Analogie stützt die These, dass das Verständnis des Begriffs Mensch durch Ibn al-ʿArabī, auf das oben hingewiesen wurde, auf den Ebenen des Existierens entwickelt wird. Aus diesen Argumenten lässt sich folgende Feststellung treffen: Mit Evas Ablösung von Adam blieb die Männlichkeit in Adam und die äußere Weiblichkeit wurde Eva genannt. Wie in der obigen Übertragung betont, unterscheiden sich beide von den Adamskindern, das heißt von allen Menschen in Bezug auf ihren körperlichen Zustand. Natürlich hat diese Aussage für das heutige Verständnis immer noch ein grundlegendes Problem: Wenn Adam als perfekter Mensch geschaffen wurde und dann die Geschlechter mit der Erschaffung des Ehepartners aus ihm hervorgingen, nimmt die Mensch­ werdung tatsächlich ab. Wenn Adam Eva und Eva Adam fehlt, muss ihnen die vollkommene Integrität und Inklusivität fehlen. Wie können sie dann noch die Perfektion der menschlichen Essenz widerspiegeln? Ibn al-ʿArabī hat das besonders klargestellt, weil er sich bewusst sein muss, dass es sonst eine Lücke in seinem System geben wird. In Bezug auf das Verständnis der menschlichen Inklusivität gibt er ein Beispiel: Die Natur verliert keine ihrer wesentlichen Eigenschaften, indem sie sie erhöht oder verringert. Selbst wenn unterschiedliche Bedingungen wie Trockenheit und Nässe beobachtet werden, ist dies immer noch Natur.266 Diese inter­ essante Veranschaulichung zeigt, dass äußere Merkmale und Differenzen nicht mit der Beständigkeit des menschlichen Wesens zusammenhängen. Weil das Menschsein eine notwendige Einheit von Geist mit Körper ist, kann es nicht auf körperliche Merkmale beschränkt werden, da es die »Die Welt der Natur (ʿālam aṭ-ṭabīʿī) besteht aus Bildern (suwar) in einem einzigen Spiegel (mirʾāt). Nein! Die Welt der Natur ist ein Bild in verschiedenen Spiegeln.« Ibn alʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 64. 266

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Kapitel I. Muḥyīddīn Ibn al-ʿArabī

Heimat göttlicher Erscheinung ist. Das Prinzip, das es erlaubt, einen Mann oder eine Frau »menschlich« zu nennen, ist dieselbe Essenz, die sich in beiden nicht ändert: »Männlichkeit oder Weiblichkeit ist für die menschliche Gattung nicht charakteristisch«.267

Die Geschlechter sind nämlich in den Konzepten gleich, die die im vorherigen Kapitel untersuchte menschliche Quiddität definieren, wie z. B. fiṭra (Veranlagung) und ṣūrat (Ebenbild). Dies liegt daran, dass sie die gleiche Kapazität in und mit Gott haben.

4.3. Geschlechterordnung In traditionellen Kommentaren wurde männliche Überlegenheit als natürliche Folge von Adams Priorität in der Schöpfung akzeptiert. Diese Überzeugung, dass Männer Frauen überlegen sind, hat ihre Legitimität durch die Interpretation einiger Verse des Korans bestätigt, die auch von Ibn al-ʿArabī interpretiert werden. Der die Ehescheidung themati­ sierende (228.) Vers von Sure al-Baqara, wird allgemein als Beweis für männliche Überlegenheit angeführt: »Die Frauen haben dasselbe zu beanspruchen, wozu sie verpflichtet sind, in rechtlicher Weise. Und die Männer stehen eine Stufe über ihnen.«268 »aḏ-ḏukūra wa-l-unūṯa laysa min haṣāiṣi l-insāniyya«, Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt almakkiyya, Bd. 3, S. 185. Für Chitticks Erklärung der Geschlechtsneutralität des Men­ schenkonzepts bei Ibn al-ʿArabī siehe: Chittick, William: Heir to the Prophets, Oxford 2005, S. 12–13. 268 Der vollständige Vers in der Übersetzung von Part mit Erläuterungen: »Die Frauen, die entlassen sind, sollen ihrerseits drei Perioden abwarten. Und es ist ihnen nicht erlaubt, zu verheimlichen, was (etwa) Gott (als Frucht der vorausgegangenen Ehe) in ihrem Schoß geschaffen hat, wenn (anders) sie an Gott und den jüngsten Tag glauben. Und ihre Gatten haben ohne weiteres das Recht, sie darin (d.h. während der Wartezeit) zurückzunehmen, wenn sie eine Aussöhnung herbeiführen wollen. Die Frauen haben (in der Behandlung von seiten der Männer) dasselbe zu beanspruchen, wozu sie (ihrerseits den Männern gegenüber) verpflichtet sind, (wobei) in rechtlicher Weise (zu verfahren ist). Und die Männer stehen (bei alledem) eine Stufe über ihnen. Gott ist mächtig und weise.« Selbst in den deutschen Übersetzungen des Verses werden aus Sicht des Übersetzers sehr unterschiedliche Wörter bevorzugt: Zum Beispiel Azhar: »Die Frauen haben so viele Rechte wie sie Pflichten haben, gemäß dem Brauch. Die Ehemänner liegen eine Stufe höher bei den Pflichten (was Verantwortung, Aufrechterhaltung und Sorge für Ehe und Familie angeht)«. Vgl. https://co rpuscoranicum.de/de/verse-navigator/sura/2/verse/228/print 267

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4. Das Geschlechterbild

Ar-Rāzī gibt an, dass die »Stufe« im Vers Stelle und Ebene bedeutet und basierend auf ihnen zwei Interpretationen möglich sind. Das erste ist, dass die höhere Stufe in Bezug auf männliche Kraft begründet wird. Die zweite besteht darin, die Überlegenheit in Themen wie Vernunft, Ernährung, Herrschaft, Recht auf Mehrfachehe und Scheidungsrecht zum Ausdruck zu bringen. Infolgedessen sei die Überlegenheit der Männer gegenüber den Frauen offensichtlich, und die Frau sei »wie ein hilfloser Gefangener« an der Seite des Mannes. Aus diesem Grund rät ar-Rāzī Männern, sich wegen der weiblichen Unterlegenheit gegenüber Frauen gut zu verhalten.269 Seiner Meinung nach warnt der Vers Männer davor, Frauen schlecht zu behandeln, ohne ihre Schwäche zu berücksich­ tigen. Al-Qurṭubī teilt im Grunde die Idee, dass männliche Stärke aus natürlichen Gründen zu obiger Anordnung führt. Und die natürliche Überlegenheit der Männer aufgrund der Tatsache, dass Männer stärker sind als Frauen, entspricht der Reihenfolge der Schöpfung. Was für ihn Überlegenheit verursacht, ist deutlich die männliche Priorität in der Schöpfung.270 Ein weiterer Vers, der im Sinne der männlichen Überlegenheit interpretiert werden kann, ist der 34. Vers von Sure an-Nisā (Frauen), in dem die Rechte von Männern gegenüber Frauen erwähnt werden: »Die Männer stehen den Frauen in Verantwortung vor, weil Allāh sie (von Natur vor diesen) ausgezeichnet hat und wegen der Ausgaben, die sie von ihrem Vermögen (als Morgengabe für die Frauen) gemacht haben. Und die rechtschaffenen Frauen sind (Allāh) demütig ergeben und geben acht mit Allāhs Hilfe auf das, was (den Außenstehenden) verborgen ist.«

In fast allen deutschen Übersetzungen wurde dem Wort qawwām die Bedeutung »Verantwortung« gegeben. Es ist klar, dass diese Übersetzung ein modernes Verständnis anspricht und dass seit Jahrhunderten von der Mehrheit der Muslime eine solche »Verantwortung« als Zeichen der Überlegenheit gesehen wird. Diese Überlegenheit wird im rechtlichen

269 Er fügte hinzu: »Deshalb wird hier die Überlegenheit von Männern erwähnt, die (zugleich) ein Meiden und eine Bedrohung für Männer darstellt, Frauen zu verletzen und Leid zuzufügen.« ar-Rāzī: Mafātīḥ al- ġayb, Bd. 6, S. 102. 270 »Auch, wenn nichts (an Beweisen) gefunden wird, reicht es aus, wenn das Weib aus einem Mann geschaffen wird. Männer sind der Ursprung von Frauen«. Al-Qurṭubī betont auch wie ar-Rāzī, dass dieser Vers Männer ermutigt, Frauen gut zu behandeln. al-Qurṭubī: al-Ğāmiʿ li-aḥkāmi’l- Qurān, Bd. 4, S. 51–53.

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Kapitel I. Muḥyīddīn Ibn al-ʿArabī

Sinne (im Haus und in der Gesellschaft) wahrgenommen.271 Tatsächlich wird in nicht-westlichen Übersetzungen die Bedeutung »Herrscher« häufig angegeben.272 Zum Beispiel entspricht in der weitverbreiteten Koraninterpretation Tafsīr al-Ğalālain von Ǧalāl ad-Dīn al-Maḥallī (gest. 1459) und Ǧalāl ad-Dīn as-Suyūṭī (gest. 1505) dem Wort qawwām »autoritär« (muṣallatūn):273 Schon im Zeitalter von Ibn al-ʿArabī erwar­ tet uns ein ähnlicher Bedeutungsrahmen. Ar-Rāzī argumentiert, dass Männer – wie bei Prophetentum und Vorbeten (Imamāt) – in Verwaltung erfordernden Berufen tätig sind, weil sie in Bezug auf Wissen und Macht überlegen seien: Die erste Bedeutung von qawwām ist dieses Führungsmerkmal des Mannes, und die zweite ist, dass der Mann für den Lebensunterhalt der Familie verantwortlich ist. Auf der anderen Seite stellt al-Qurṭubī fest, dass die physiologische Natur des Mannes (aufgrund seiner Hitze und Trockenheit) stark und dominant ist; er glaubt, dass Frauen hingegen weicher und schwächer sind. In dieser Richtung bedeutet qawwām Beschützen, mit aller Anstrengung Bewah­ ren und Beachten.274 Hier wird bei der Interpretation dieses Verses darauf hingewiesen, dass aufgrund der Schwäche der Frauen die Führung erfordernden Aufgaben Männern anvertraut werden sollten. Es ist offen­ sichtlich, dass beide Verse in einer komplementären Achse des herrschen­ den Paradigmas interpretiert werden. Es kann sogar mit Bestimmtheit gesagt werden, dass die Sufis allgemein diesem Standpunkt zustimmen. Al-Ġazzālī zum Beispiel interpretiert die Verse als Hingabe der Frau an ihren Ehemann als Dienerin. Der Ort, an dem sich die Führungsrolle des Mannes grundlegend widerspiegelt, ist die Hausverwaltung. Eine Frau unterliegt vollständig der Erlaubnis ihres Mannes im Außen, da sie im Haus im Dienst ihres Mannes steht.275 Ibn al-ʿArabī assoziiert die im ersten Vers erwähnte Überlegenheit (der Stufe) mit der Zeit und erklärt sie in der Reihenfolge der Schöpfung. Während das Einzige Wesen beide Besonderheiten umfasst, trat dem­ 271 Vgl. Ahmed, Leila: Women and Gender in Islam. Historical roots of a modern debate, Yale 1992, S. 102–125. 272 Zum Beispiel nach der staatlichen türkischen Religionsbehörde Diyanet: https://kuran.diyanet.gov.tr/tefsir/Nis%C3%A2-suresi/527/34-ayet-tefsiri 273 Ǧalāl ad-Dīn al-Maḥallī, Ǧalāl ad-Dīn as-Suyūṭī: at-Tafsīr al-Imāmain al-Ğalālain, Damaskus 2010, S. 84. 274 »In diesem Rahmen sind Männer gegenüber Frauen Betreuer« sagt Al-Qurṭubī in: alĞāmiʿ li-aḥkāmi’l- Qurān, Bd. 3, S. 148. 275 Vgl. Mernissi, Fatima: Beyond the Veil: Male-female Dynamics in Modern Muslim Society, Indiana 1987, S. 25–65.

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nach ein gewisser Gradunterschied auf, weil die Männlichkeit während der Trennung des Weibes im Einzigen Wesen verblieb. Beim Herausgang des Weibes wurde eine bestimmte zeitliche Priorität festgelegt, da der Mann in der menschlichen Essenz verbleibt. In der oben zitierten Aussage stellte Ibn al-ʿArabī fest, dass vier Ursprünge der Menschheit (in Adam, Eva, Jesus und Adamskinder) gleich sind, es aufgrund der Kausalität (sababiyya) jedoch einen Unterschied zwischen ihnen gibt. Dieser Grund ist die weibliche Trennung von Adam, dadurch fällt die Frau irgendwie in eine sekundäre Position in der Schöpfungsreihe.276 Da also das Männliche im menschlichen Prototyp blieb und das Weib­ liche eine getrennte Verkörperung war, besteht zwischen ihnen eine Ursache-Wirkung-Beziehung, abhängig von der Beziehung zwischen Vorrang-Verspätung. Da der Vorrang, im ersten Prototyp zu bleiben, den männlichen Adam zur Ursache der weiblichen Eva macht, besteht zwischen ihnen eine Über- bzw. Unterlegenheit. Er begründet linguis­ tisch, dass die Frau auf Arabisch »nisā« genannt wird, was »Aufschub« bedeutet, weil die Frau verschoben wurde.277 Es ist klar, dass dieser Ansatz nicht mit der im vorherigen Kapitel dargestellten Gleichheit vereinbar ist. Vor allem, warum führte diese Reihenfolge zu einem Privileg und damit zu männlicher Überlegenheit? Der erste Mann erlebt mehr Manifestationen, sowohl weil er im Ursprung bleibt als auch wegen des zeitlichen Vorrangs. Das erste Weib hingegen ist sich der Erfahrung des Mannes in dieser Zeit nicht bewusst. Nach ihm ist die »Stufe« im Vers die Erkenntnis, die der erste Mann durch Manifestation erhält.278 Der Unterschied im Erkennen ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass das Weib während der beim Mann erlebten Manifestation erschaffen wird. Wenn dies innerhalb Ibn al-ʿArabīs Lehre betrachtet wird, hat, da sich keine Manifestation wiederholen kann, der Vorrang (Adams) zu für den Mann (Adam) spezifischen Gewinnen geführt. Da Eva zu diesem Zeitpunkt nicht anwesend (in nafs wāḥida) war, erlebte sie diese Göttlichkeit nicht. »Dies ist der Grad (Stufe), der Mann mehr macht als Frau«.279 Dieser Gradunterschied ergibt sich nicht aus der Natur des Männlichen, da es keinen grundsätzlichen Unterschied im Material oder in den geistigen Fähigkeiten gibt. Im vorherigen Kapitel Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 6, S. 367. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 63. 278 Ibn al-ʿArabī: Raḥmatun min-ar-Raḥmān, Bd. 1, S. 343. 279 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 4, S. 46; vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ alḥikam, S. 205. 276

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wurde beschrieben, dass die Überlegenheit zwischen Menschen aus dem Unterschied des geistigen Grades und dieses Grades aus dem einen Sein beruht. Eine ähnliche Situation besteht in der Beziehung zwischen dem ersten Mann und der ersten Frau. Demnach ist das, was den Mann den Stufenunterschied erfahren lässt, die göttliche Erscheinung, und daher das, was er auf der Ebene schauen (mušāhada) kann. Diese nur für Männer geltende (Stufen-) Überlegenheit wird keine religiöse oder weltliche Bedeutung haben. Seine Haltung in dieser Angelegenheit ist sehr klar: »diese Situation (den männlichen Vorrang betreffend) schadet nicht der weiblichen Vollkommenheit«.280 Die Gleichheit der Ehegatten, die die von Ibn al-ʿArabī entwickelte ursprüngliche These der Teilheit bietet, ist jedoch nicht in dem Maße zu sehen, wie der Stufenunterschied durch das Verhältnis zwischen Vorrang-Nachrang verursacht wird. Die Antwort auf die folgende Frage ist unklar: Warum konnte der Mann diese Stufe genießen, indem er zeitlich vorher ist, während sie der Frau beraubt wird und warum ist dazwischen ein bestimmtes Zeitintervall festgelegt? Eigentlich hätte diese Wahrnehmung der Priorität aus ihrer zyklischen Zeitperspektive ihre Bedeutung verlieren müssen. Der gemeinsame Punkt jedoch bei traditionellen Interpretationen des Korans ist, dass Ibn al-ʿArabī die Überlegenheit von Stufen akzeptiert. Daneben trennte er sich inhaltlich von dem herrschenden Verständnis und versuchte, die Geschlechter so weit wie möglich auszugleichen. Ibn al-ʿArabī macht einen Vergleich zwischen Erde und Mensch, um die Überlegenheit einer Stufe im Rahmen der Gleichheit umzuwan­ deln. Da die Erde (wie das Universum) vor dem Menschen geschaffen wurde (aufgrund der zeitlichen Priorität), muss sie überlegen sein. Als Zeichen dieser Überlegenheit macht der Koran auf die Schwierigkeit der Erschaffung des Himmels aufmerksam im Vergleich zur Erschaffung des Menschen.281 Auch in der Schöpfungserzählung ist im Rahmen vieler anderer Koranverse davon die Rede, dass die Erde vor dem Menschen geschaffen wurde. Die Existenz der Erde vor dem Menschen hat zum Entstehen einer gewissen Stufe geführt, die in Bezug auf den Menschen für die Erde einzigartig ist. Gott schuf jedoch nur den Menschen in »der besten Form« und machte ihn zum Kalifen auf Erden. Im Koran heißt es auch, dass die Erde der Offenbarung nicht standhalten kann, aber der

Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 4, S. 121. »Waret ihr (in eurer Eigenschaft als Menschen etwa) schwerer zu erschaffen oder der Himmel, den er aufgebaut hat?« (Koran, 79:27) 280 281

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Mensch die Fähigkeit dazu hat.282 Obwohl dies zunächst wie ein Wider­ spruch erscheinen mag, wurde die durch die vorgängige Erschaffung erlangte Überlegenheit der Erde ausgeglichen, indem dem Menschen einige besondere Fähigkeiten verliehen wurden. Gleichheit musste zwi­ schen beiden hergestellt werden, weil beide (sowohl Universum als auch Mensch) perfekte Erscheinung göttlicher Manifestationen waren. Ibn al-ʿArabī erwartet, dass der Leser das Problem der Überlegenheit von Männern gegenüber Frauen nur in diesem Zusammenhang wahrnimmt: »Wie jedoch in dem Vers festgestellt wird, dass Männer Frauen bis zu einem gewissen Grad überlegen sind, wird auch angegeben, dass die Erschaffung der Himmel und der Erde größer ist als die Erschaffung des Mannes.«283

An anderer Stelle erläutert er folgendermaßen: »Weil die Beziehung des Menschen zu der Erde, aus der er geschaffen wurde, der Beziehung von Ḥawwā zu Ādam ähnlich ist. Diese irdische Beziehung hinderte Ādam jedoch nicht an der Vollkommenheit, die Ḥaqq in seinem Namen bezeugt hatte. Der Prophet war Zeuge der Vollkommen­ heit von Maryam und Āsiya«.284

Daher wird es notwendig sein, die zeitliche Überlegenheit des Mannes mit einigen überlegenen Qualifikationen von Frauen auszugleichen. Darstellungen des kosmischen Prinzips als Quelle und der umfassenden Natur als Mutter geben Hinweise auf das ausgezeichnete Wesen der Weib­ lichkeit. Dies sind die besonderen Merkmale, die die Weiblichkeit als Ort (maḥal) der Fruchtbarkeit – d.h. Ort des Gebärens – erwirbt. Unabhängig davon, welche Art von Wesen der Gegenstand (bzw. Mensch) ist, hat dieses Wesen einen Geburtszustand und im Allgemeinen ist die Schöp­ fung ein Kreislauf. Der erste Ausgangspunkt dieses Kreiszyklus wurde als weiblich dargestellt. Dieses Erzeugen oder Gebären ist ein Merkmal, das in der männlichen Gestalt nicht zu sehen ist. Deshalb ist die Weiblichkeit der Männlichkeit überlegen, weil sie ein Ort für die Geburt ist. »Wir haben (nach Beendigung des Schöpfungswerkes) das Gut (des Heils), das (der Welt) anvertraut werden sollte, (zuerst) dem Himmel, der Erde und den Bergen angetragen. Sie aber weigerten sich, es auf sich zu nehmen, und hatten Angst davor. Doch der Mensch nahm es (ohne Bedenken) auf sich. Er ist ja wirklich frevelhaft und töricht.« (Koran, 33:72) 283 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 7, S. 575. »Wir haben gesehen, dass der Grad, der Himmel und Erde dem Mann überlegen macht, der Grad ist, der Männer Frauen über­ legen macht.« Ebd., S. 576. 284 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 4, S. 121. 282

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»Frauen sind die Stelle der Erschaffung (maḥal at-takwīn). Daher werden sie als näher am Schöpfer und für qibla (Gebetsrichtung) geeigneter angesehen als Männer.«285

Diese Eigenart hat mit Gleichheit zu tun: Als Stelle von takwīn (Erschaf­ fung oder Entstehung) erleben Frauen Manifestationen, die Männer nicht erleben können. Nachdem nur Adam die Geburt (in nafs wāḥida) erlebt, fehlt dieses Erlebnis allen nachfolgenden Männern. Deshalb sind Frauen Männern überlegen, sind sogar die Frauen Gott näher als die Männer.286 Aus der einen Seite stehen die Manifestationen, die der Mann durch zeitliche Priorität erlangt hat, während die Frau sie nicht erfahren konnte. Auf der anderen Seite gibt es die Manifestationen, die durch die Fruchtbarkeit der Frau erreicht wurden, welche von Männern nicht erfahren werden. So ist Ibn al-ʿArabī der Meinung, dass die Weiblichkeit durch hohe Qualitäten gebildet wurde.287 Um die weibliche Überlegenheit als Ort des Gebärens zu verstehen, stellt er eine Beziehung zur Charakterisierung der Natur als »Mutter« her.288 Der Grund, warum die Erde anderen Planeten überlegen ist, liegt in der Fruchtbarkeit, die das Leben in ihr beherbergt. Pflanzen und Tiere überleben dank der Geburt der Natur, weil alle Lebewesen der Erde als Kinder der Natur anzusehen sind. Sowohl die Natur als auch das Weib als Mutter sind sowohl fruchtbar als auch allumfassend. Sie ist die Quelle der Geburt eines Kindes, das heißt, sie kann gleichzeitig wirkende und empfangende Kräfte umfassen. Dies ist es, was die weibliche Priorität bei der Manifestation verschiede­ ner göttlicher Namen ergibt.289 Daraus gelangt Ibn al-ʿArabī zu einer außergewöhnlichen Schlussfolgerung: Die Frau ist stärker als der Mann, und zwar als Ort des Entstehens, den der Mann nicht einnehmen kann. Könnte dies eine Antwort auf die Bedeutung sein, die dem Wort qawwām zugeschrieben wird? Insbesondere wurde festgestellt, dass der Ausdruck qawwām (in Sure an-Nisā) als die Kraft des Mannes und damit seine Dominanz in der Beziehung interpretiert wurde. Obwohl er es nicht direkt assoziiert, war sich Ibn al-ʿArabī der Tatsache sicherlich bewusst, Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 3, S. 218. Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 6, S. 57–58. 287 Er hat dies am deutlichsten bei seiner Geliebten gesehen und sagte über Niẓām: »Ich habe in ihr viele Feinheiten von Erkenntnissen (latāif al-maʿrifa) gesehen, die nicht mit Worten erklärt werden können.« Ibn ʿArabī: The Tarjuman al-Ashwaq. A Collection of Mystical Odes, hrsg. von Reynold Nicholson, London 1911, S. 15. 288 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 3, S. 218. 289 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 513. 285

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dass qawwām als machtbasierte Überlegenheit des Mannes interpretiert wird. Gegenüber der machtbasierten Interpretation der körperlichen Dominanz, sagt er, um Frauen zu verherrlichen, dass die weibliche Fruchtbarkeit Frauen stärker macht als Männer: »In der geschaffenen Welt gibt es keine Stärkeren als Frauen«.290

Das weibliche Wesen kann sowohl den Aktiven als auch den Passiven gleichzeitig tragen, die Frau ist in der Lage, sowohl männlich als auch weiblich zu gebären. Daher muss Ibn al-ʿArabī in jeder Hinsicht ein Gleichgewicht gewährleisten wollen, indem er die Fruchtbarkeit, die die weibliche Überlegenheit gewährleistet, mit der Frage der Macht verbin­ det. Ibn al-ʿArabī glaubt, dass sich die weibliche Überlegenheit in Ara­ bisch, der Sprache der Offenbarung, widerspiegelt. Durch Hinzufügen von »ta« am Ende des Wortes »mar’a«, was auf Arabisch »Mann« bedeutet, entsteht das Wort »Frau« (marʾatu). Für viele ist dies eine Kritik, dass sogar das Wort Frau vom Wort Mann abgeleitet ist. Er liest jedoch genau das Gegenteil: Das Suffix »ta« erhöhte die Anzahl der Buch­ staben im Wort. Nämlich mit dem Suffix »ta« wird darauf hingewiesen, dass Weiblichkeit Überfluss an Manifestationen und Umfang gegenüber Männlichkeit hat: »In diesem Zusammenhang hat das Weib einen Grad über dem Mann. Daher gibt es keine Überlegenheit, die der Vers den Männern bietet.«291

Der Mangel bei den Frauen (ausgedrückt in dem Koran-Vers) wurde durch Hinzufügen von Buchstaben beseitigt, und die Überlegenheit zwischen den beiden Geschlechtern wurde ausgeglichen. Wenn die Überlegenheitsfrage im Kontext seiner allgemeinen Überlegung analy­ siert wird, ergeben sich zwei Punkte. Der erste bezieht sich auf die Wahrnehmung der Menschlichkeit. Die Idee des Menschen wurde direkt aus der gemeinsamen göttlichen Essenz entwickelt. Die Besonderheiten, die sich entweder auf männliche oder weibliche Überlegenheit beziehen, beziehen sich nicht auf die menschliche Essenz. Zweitens, die Merkmale der Überlegenheit ergeben sich nicht aus der Natur des Geschlechts selbst, sondern aus der Station des Existenzbringens. Weder die Über­ legenheit, die durch die vorrangige Existenz des Universums vor dem Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 6, S. 352. »falahā ʿalā-r-rağuli darağatun fī-hāṯa l-maqāmi laysa li-l-marʾi, fī muqābalati qaw­ lihi: «wa-li-r-rağuli ʿalayhinna darağatun».« Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 7, S. 581–582.

290 291

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Menschen erlangt wird, noch der Wert, den der Mensch durch das Emp­ fangen von Offenbarung erlangt, und weder die Stufe, die der Mann mit dem Vorrang in der Schöpfung erreicht, noch die Überlegenheit, die das Weib durch Fruchtbarkeit erlangt, sind ihre eigene beständige Daseinsqualifikationen. Wenn das Geschaffene Einzigartigkeit aufweist, hängt dies vollständig mit der Manifestation des Seins zusammen: »Deshalb ist diese Überlegenheit nicht essenziell (ḏāti), sondern unwe­ sentlich (araḍī)«.292

Etwas, was ein Mensch hat und ein anderer nicht und umgekehrt, diese essentielle Tatsache weist auf ihr Bedürfnis nach einander und die Not­ wendigkeit ihrer Rückkehr zur Essenz, d.h. zur Vollkommenheit, hin.293

4.4. Gleichheit: Möglichkeiten und Grenzen Sein Gleichheitsverständnis begründet Ibn al-ʿArabī durch den KoranVers, der die Erschaffung des Menschen im Hinblick auf die Differenz der Geschlechter und Gemeinschaften beschreibt und besagt, dass Über­ legenheit nur in taqwā besteht, die die Nähe zu Gott ausdrückt.294 Ihm zufolge da der Ursprung des menschlichen Geistes auf dem göttlichen Atem beruht sind also alle gleichermaßen Auftreten des Seins, ohne einen äußerlichen Unterschied zu machen. Wenn die verschiedenen Geschlechter in ihrem existenziellen Wesen gleich sind, müssen die Manifestationen, die beide erwerben, gleiche Gelegenheiten bieten. Ohne physische (bzw. körperliche) Faktoren versteht er unter Gleichheit die gleiche Ebenbildlichkeit (Gottes Bild zu sein).295 Die Vollkommenheit als generelle Möglichkeit kennt keine Geschlechterunterschiede und alle haben die gleiche geistige Kompetenz, ein vollkommener Mensch zu wer­ »faḍlu ṯ-ṯukūri ʿala-n-nisāi mufāḍalatun ʿaraḍiyyatun lā ṯātiyyatun« Ibn al-ʿArabī: Raḥmatun min-ar-Raḥmān, Bd. 1, S. 342. 293 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 6, S. 367. 294 »Ihr Menschen! Wir haben euch geschaffen (indem wir euch) von einem männlichen und einem weiblichen Wesen (abstammen ließen), und wir haben euch zu Verbänden (schuʿūb) und Stämmen (qabā’il) gemacht, damit ihr euch (auf Grund der genealogischen Verhältnisse) untereinander kennt.« (Koran, 49:13); vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-mak­ kiyya, Bd. 4, S. 45. 295 Die Gleichheit drückt Ibn al-ʿArabī mit »muštarak« (Gemeinsamkeit) aus: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 3, S. 89. Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 4, S. 588. 292

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den.296 Viele Bestätigungen, die aus Ibn al-ʿArabīs Werken hervorgehen können, besagen eindeutig, dass Frauen alle spirituellen Grade erreichen können, die ein Mann erreichen kann. In seinen Werken finden sich zahlreiche ausdrückliche Bekennttnisse zur Gleichheit von Mann und Frau, wie zum Beispiel folgendes Zitat: »Alle für Männer erreichbaren Stufen, Grade und Eigenschaften sind auch für diejenigen Frauen möglich, für die Allāh es zulässt, wie er (Allāh) es für einige Männer wollte.«297

Auf der Suche nach der Tatsache, dass Männer und Frauen geistig gleich sind, setzt er die generische Neutralität von Wörtern in der Sprache voraus, die männliche Konnotation haben. Zum Beispiel »Mann« bedeu­ tet das Wort rağul, denn damit wurden im Koran in einem erweiterten Rahmen alle frommen Menschen bezeichnet (Koran, 23:37). Bei Ibn al-ʿArabī sind die riğāl Allāh (die Männer Gottes) nicht nur die männ­ lichen Gottesfreunde, sondern auch die weiblichen. Er berichtet von diesen geistlichen Frauen in al-Futūḥāt al-makkiyya, unter dem Titel »Begegnung mit den Menschen aus dem Atem des Barmherzigen« (riğāl nafas ar- Raḥmān). Er beginnt dieses Kapitel mit dem Satz: »Wir haben sie (die Menschen aus dem Atem des Raḥmān) gesehen, Männer und Frauen«. Wiederum begegnet hier das Wort rağul (plural: riğāl), das eine geschlechtsneutrale Bedeutung besitzt. Auch im Zusammenhang mit dem Wort Kalif unterscheidet er nicht zwischen männlich und weiblich und glaubt, dass der Titel des Kalifen auch für Frauen gilt. Bemerkenswert ist, dass er den Inhalt des Kalifats nicht nur auf seine spirituelle Bedeutug in der Sufi-Terminologie beschränkt, sondern auf seine Reichweite im allgemeinen Verständnis hinweist. Demnach besteht das Kalifat darin, die Verantwortung für andere zu übernehmen und »diese (Verantwortlichkeit) gehört nicht nur 296 Vgl. Chodkiewicz, Michel: Female Sainthood in Islam, in Sufi, A Journal of Sufism, Nr. 21, 1994, S. 12–19. 297 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 3, S. 89. Auch sagt er: »Zweifellos kön­ nen Frauen in Vollkommenheit und Kompetenz das Niveau von Männern erreichen. Manchmal können Männer einen niedrigeren Rang (darağa) haben als Frauen, manchmal kommen sie in den Bestimmungen des Gottesdienstes zusammen oder trennen sich«. Ibn alʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 4, S. 46. Gewiss werden die religiösen Grundlagen der Gleichheit nicht vernachlässigt. Der Beweis, dass Frauen die gleiche geistige Fähigkeit wie Männer haben, ist die folgende Aussage des Propheten, die er häufig zugrunde legt: »Der Prophet sagte dies über Vollkommenheit (kamāl) und erklärte, dass Perfektion manchmal auch bei Frauen auftreten kann. Unter diesen Frauen sind Maryam bin ʿImrān (und) Āsiya, die Frau von Pharao, erwähnt.« Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 5, S. 202.

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zur Männlichkeit, sondern zu jedem von uns, der im vollkommenen Bild ist, gleichgültig ob Mann oder Frau.«298 Könnte er mit diesem Zitat weltliche Führung jenseits geistiger Verantwortung meinen? Auch wenn diese Aussage eine klare Möglichkeit bietet, diesen Ansatz zu rechtfertigen, erklärt er seine Meinung nicht ausreichend, und der Kontext bleibt auf die Spritualität konzentriert. Wenn derart die Frau der Kalif der Erde sein kann, kann sie nicht nur (Sufi-) gemeinschaftlich, sondern auch gesellschaftlich führen und verwalten. Als Spiegelbild göttlicher Namen reflektiert sie die Manifestation für ihre Umgebung. In dieser Hinsicht gibt es keinen religiösen Einwand dagegen, dass sie spirituelle Meisterin (muršid) für andere zu sein vermag. Sie kann sogar ein höheres Maß – zwischen den mit gleichen oder anderen Geschlechtlichen – an Rechtleitung erreichen. Über eine berühmte weibliche Sufin Rābiʿa al-ʿAdawiyya (gest. 801) hebt er hervor, Rābiʿa sei allen Männern ihrer Zeit in Bezug auf (geistigen) Status und Grad überlegen gewesen.299 Wiederholt stellt er Fāṭima dar, der er Jahre lang gedient hat, als eine Gott am nächsten stehenden großen Frommen (sālihā), als eine der Liebsten und Weisen (ārifa).300 Als geistliche Mutter war sie das Licht ihrer Novizen.301 Die Beschreibung als Mutter – in Bezug auf umfassende geistige Reflexionskraft – ist recht bemerkenswert, wenn man sie im Zusammenhang mit verschiedenen Bedeutungsrahmen betrachtet. So stellt er zum Beispiel den Kopf als Mutter des Körpers dar, weil er der Leiter der leiblichen Organe ist.302 Auf die ontologische Natur der Mutterschaft wurde bereits zuvor hingewiesen, indem sie mit der Existenzgabe in Verbindung gebracht wurde. Auch wurde die Natur als Mutter bezeichnet, der Koran als Mutter der Bücher, und die Mutter aller Suren (Kapitel des Korans) ist die erste Sure Fātiḥa,303 weil sie alle Offenbarungen in zusammengefasster Form enthält. Alle diese semanti­ schen Rahmen bilden den ideellen Hintergrund dafür, sie als Mutter 298 »wa-laysa l-maḫṣūṣ bihā ayḍan aḏ-ḏukūriyyatu faqad, wa kalāmuna fī ṣūrati l-kâmili min-ar-rağuli wa-n-nisāi«, Ibn al-ʿArabī: Raḥmatun min-ar-Raḥmān, Bd. 1, 99. Vgl. Ḥakīm: al-Muʿğam, S. 144. 299 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 6, S. 57. 300 »kanāt min akbari ṣ-ṣāliḥīn«, Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 459. 301 Einmal sagte sie zu ihm: »Ich bin deine göttliche Mutter (umm ilāhī) und das Licht (ḍiyā) deiner irdischen Mutter«. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 459. 302 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 5, S. 70 303 »Sure Fātiḥa ist die Mutter aller herabgesendeten Bücher und bedeutet den großen Koran. Mit anderen Worten: sie bedeutet die große und hohe Summe, die alles enthält.« Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 5, S. 70.

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zu bezeichnen. Ibn al-ʿArabī erzählt von etwas, das das Thema noch interessanter macht: Fāṭima hatte eine besondere Beziehung zu Fātiḥa. Mit Hilfe der Sure Fātiḥa konnte sie viele Patienten heilen und Menschen in Schwierigkeiten helfen. Wieder erzählt er ein sehr merkwürdiges Ereignis. Sie konnte die Fātiḥa in das Haus einer christlichen Frau schicken, die um Hilfe bat.304 Fāṭima spiegelt das Wort »umm« in seiner ganzen Bedeutungsbreite wider. Es kann auch angenommen werden, dass die Mutter als Alternative zu dem Begriff Vater verwendet wird, der in sufischen Kreisen für männliche Meister benutzt wird. Obwohl Ibn al-ʿArabī in verschiedenen Teilen von al-Futūḥāt al-makkiyya auf Fāṭima Bezug nimmt, behält er sich einen besonderen Platz in der Sektion »riğāl nafas ar-Raḥmān« (Männer, die der Atem von Raḥmān sind) vor. Fāṭima, die als umm (Mutter) bezeichnet wurde, in ein Kapitel mit dem Titel riğāl (Männer) aufzunehmen, ist wichtig, um zu verstehen, wie er den konzep­ tuellen Rahmen verwendet. Ein anderer Grund, warum Ibn al-ʿArabī in diesem Kapitel von Fāṭima erzählt, ist, dass sie das Erbarmen Gottes in der Erdenwelt war. Auch im Buch Ad-Durra al-Fāḫira beschreibt er sie als Gottes Barmherzigkeit auf Erden.305 Derartige Gottesfreunde sind als Nachfolger des Propheten Muhammad die Personifizierung prophetischen Erbes in einem bestimmten Zeitraum.306 Er berichtet auch von einer andere Frau mit ähnlichen Eigenschaften, Šams al-Fuqāra, die zwar allen anderen in Sachen Selbstbeherrschung voraus war, aber ihre geistige Kraft verbarg.307 Sie beschäftigte sich meistens mit ḏikr, also intensiv mit meditativen Übungen.308 Wenn Frauen Männern gleichgestellt und in einigen Aspekten überlegen sind, müssen wir die berühmte Frage der Geschichte des isla­ Siehe: Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 5, S. 73. Vgl. Ibn al-ʿArabī: Ad-Durra al-Fāḫīra, S. 144–145. 306 Weil im Vers über den Propheten »Du wurdest als Barmherzigkeit in die Welten gesandt« gesagt wird, ist auch die Gottesfreundin (als seine Nachfolgerin) Barmherzigkeit Gottes auf Erden. Das Zeichen, dass sie Gottes Barmherzigkeit auf Erden ist, ist, dass sie sich mit den Problemen ihrer Mitmenschen befasst. Siehe: Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt almakkiyya, Bd. 5, S. 13. 307 Vgl. Ibn al-ʿArabī: Šarḥu Risālati Rūḥi l-Quds fī Maḥāsabati n-Nafs min Kalāmi š-Šayḫ Muḥyid-dīn ibn l‘Arabī, zweite Ausgabe, hrsg. von Maḥmūd Maḥmūd al-Ġurāb, Verlag Naḍr, 1985, S. 131. 308 Ihre geistliche Stufe gehörte zu den awwāhīn, die er folgendermaßen dargestellt: »Einer Frau aus der awwāhīn Gemeinschaft traf ich in Maršāna in Andalusien, Šams wurde sie genannt. Sie war alt. Allāh gab den Angehörigen dieser Gemeinschaft in ihren Herzen das Gefühl des Weinens (taawwuh). Das Weinen war ein ständiges Gefühl, weil sie beständig ihre Missetaten vor Augen hatten.« Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 46. 304 305

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mischen Denkens stellen: Können Frauen den Grad der Gottesbotschaft erreichen? Im Grunde genommen hat eine Frau, die Gottesfreundin werden kann, die allgemeine Gottesbotschaft direkt erreicht, weil Ibn al-ʿArabī der Gottesbotschaft und der Gottesfreundschaft überlappende Bedeutungen zuschreibt. Einige der Prophetinnen unter den hochrangi­ gen Gottesfreundinnen werden auch im Koran erwähnt, wie Maryam, die Mutter Jesu.309 Als Vorbild der weiblichen Gottesbotschaft sind Maryam zwei wichtige Merkmale zugeordnet. Erstens ist es ihre Mutter­ schaft, die in den Heiligen Schriften besonders hervorgehoben wird.310 Das andere Merkmal ist ihre Reinheit und Jungfräulichkeit. Sie zeichnet sich insofern besonders durch ihre Mutterschaft aus, als die Mutter die Eigenschaften des Sohnes enthält. So ist sie die Einzige, deren Sohn direkt mit ihrem Namen in Verbindung gebracht wird: Jesus, Sohn von Maryam: ʿĪsā ibn Maryam.311 Sie ist die Mutter des zweiten Adam, da Jesus auch wie Adam ohne Vater erschaffen wurde.312 Das Geheimnis hier ist, dass Weiblichkeit in gewisser Weise allein durch Gottes Willen eine Quelle der Männlichkeit ist. Als Geist (rūh) von Allāh und als sein Wort (kalimā) konnte Jesus Wunder vollbringen, die er angesichts seiner außergewöhnlichen Natur verwirklicht.313 Maryams Empfang des Logos in ihren Leib wird im Koran mit dem Wort Offenbarung (waḥy) ausgedrückt, also offenbart sich Gott über Ğabrāīl Maryam.314 Engel Ğabrāīl ist einer der höchsten Erscheinungen Gottes, über ihn hat Gott mit seinen Propheten gespro­ chen und seine Offenbarung übermittelt.315 Der Hauch, den Ğabrāīl Maryam übermittelte, ist der Hauch des Barmherzigen, durch den Jesus in ihrem Wesen verkörpert wird.316 Maryam als eine Frau ist der Ort des Spiegelbildes, in dem ähnlich wie bei der Spiegelung Adams in Eva Vgl. Chittick: Imaginal Worlds, S. 85. Vgl. Schimmel, Annemarie: My Soul is a Woman, S. 22–23. 311 »Und wir haben Jesus, dem Sohn der Maryam, die klaren Beweise gegeben und ihn mit dem heiligen Geist gestärkt.« Koran, 2:87. Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 331. 312 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 138. »Als Gegenleistung für die Erschaffung von Ḥawwā aus Ādam wurde ʿĪsā ohne Sperma aus Maryam gebildet.« Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 3, S. 218. 313 Vgl. Ibn alʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S.142. 314 »Falls Ḥaqq sich offenbaren (yūḥā) will einem Gottesfreund von den Gottesfreunden in einer (bestimmten) Art, manifestiert (tağallī) er sich in derselben Art…«, Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 3, S. 47. 315 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 138. 316 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 12, S. 296. 309 310

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Gottes Hauch manifestiert wird. Somit war sie nicht nur eine hohe Got­ tesfreundin und Prophetin, wenn es darum geht, verbale Offenbarung zu erhalten, sondern auch eine überlegene perfekte Frau aufgrund ihres Tragens des Geistes und des Wortes Gottes. So kann davon ausgegangen werden, dass sich unter den Propheten in der Religionsgeschichte auf sehr deutliche Weise einige Frauen befanden.317 Die höchsten spirituellen Grade, die bisher evaluiert wurden, waren die für Gottesfreundschaft (walāya) und Gottesbotschaft (nubuwwa). Es gibt jedoch keine Frau unter den »Gesandten« (rasūl) im Koran, denen religiöse Bestimmungen erteilt werden und denen verschiedene Nationen folgen müssen. Eine Frau unter den Gesandten wie Moses, Jesus und Muhammad, denen Bücher gegeben wurden, wird im Koran nicht erwähnt.318 Weil nichts bekannt ist, lässt sich die Feststellung treffen, dass keine Frau in der Geschichte den Gesandten-Status erreicht hat. Tatsächlich bestätigen einige Überlieferungen des Propheten diesen Ansatz. Auf dieser Grundlage bestätigt auch Ibn al-ʿArabī den männli­ chen Unterschied: »Aber schließlich wurde keine weibliche Gesandte geschickt. Dies führt dazu, dass sich die Männer geschichtlich abheben.«319

Diese Schlussfolgerung erscheint die vorherigen Gleichstellungsvor­ schläge zu widerlegen, dass Frauen Zugang zu allen geistigen Stationen haben und die Geschlechter daher gleichberechtigt sind. Diese Ein­ schätzung widerspricht nicht nur zahlreichen Aussagen über Gleicheit, sondern bedroht auch die prinzipielle Lehre der Einheit des Seins. Wenn diese Satz kontextuell analysiert wird, fällt als erstes die Beschränkung »geschichtlich« auf: er stellt lediglich eine Feststellung im Einklang mit dem dar, was in der Offenbarung enthalten ist, und daher ist das männliche Privileg mit der historischen Realität begrenzt. Genau wie die zeitliche Situation im Primat Adams steht die historische Realität selbst im Vordergrund der Menschen. Demnach gibt es nur aufgrund der Erfahrung der (bestimmten) Manifestation in der Geschichte einen Vorrang der Männer. Die den Vorrang bewusst auf die historische Sphäre 317 Hakim, Suad: »Ibn ›Arabî's Twofold Perception of Woman. Woman as Human Being and Cosmic Principle«, in Journal of the Muhyiddin Ibn ›Arabi Society, Bd. 31, London 2002, S. 12. 318 Er beschreibt den Gesandten (rasūl) wie folgt: »Wenn der Prophet (nabī) zusammen mit einer bestimmten Scharia zu anderen geschickt wurde, ist er der Gesandte (rasūl).« Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 427. 319 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 7, S. 577.

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zu beschränken, erlaubt so, das Problem aus der weiblichen Natur her­ auszunehmen – weil sie alle Arten der Gottesfreundschaft ermöglicht. Die Gesandten (rusul) wurden bereits unter den Propheten ausgewählt, sie waren zugleich Gottesfreunde. Beim Vergleich der Propheten im Koran heißt es, dass »einige von ihnen einigen überlegen sind«.320 Es wird nicht gesagt, dass das Männliche dem Weiblichen überlegen ist und daher keine weibliche Gesandte gesandt wurde. Wenn eine Frau eine Heilige und Prophetin sein kann, sollte sie auch eine Gesandte sein können; aber dies ist historisch nicht belegbar und hat höchstwahrscheinlich nie statt­ gefunden. Ibn al-ʿArabī ist zuversichtlich, dass Frauen im Rahmen der allgemeinen Gottesfreundschaft, die die höchsten spirituellen Stufen erreichen können und zu den Gott am nächsten stehenden Menschen gehören, in der Lage sind, die Individuen und Gemeinschaften in ihrer Zeit zu führen.

4.5. Einheit und Liebe Die Ḥadīṯe »Gott liebte erkannt zu werden« und »Gott hat dem Propheten die Frau lieb gemacht« liest Ibn al-ʿArabī zusammen, und sie ergänzen seine Geschlechter-vorstellungen. Beide Ḥadīṯe bestimmen die Liebe als ein ontologisches Prinzip. Die Erschaffung der Welt, die als Bewegung der Liebe begann, findet ihre Erscheinung in der menschlichen Realität mit der Zuwendung des Propheten zu Frauen. Wie Gottes Liebe und Gottes Sein identisch sind, so sind auch die menschliche Natur des Propheten und die Liebe zu Frauen miteinander verflochten. Die Manifestation als Liebe, die von dem verborgenen Schatz ausgegangen ist und durch die Ebenen des Seins fließt, stellt schließlich die menschliche Natur auf die Liebe ein. Da die menschliche Liebe eine Erscheinung der existentiellen Liebesbewegung ist, ist sie eigentlich auf das Sein gerichtet, unabhängig davon, ob man sich dessen bewusst ist oder nicht. Aus diesem Grund, sagt Ibn al-ʿArabī: »Es gibt weder Liebhaber noch Geliebte außer Allāh! Es gibt nur göttliche Ebenen im Sein. Dies sind sein Selbst, seine Attribute und Taten«.321 In dieser Richtung kann Liebe aus zwei Blickwinkeln betrachtet 320 »Das sind die Gottesgesandten. Wir haben die einen von ihnen vor den anderen ausgezeichnet.« Koran, 2:253. 321 »falā muḥibbun wa-lā maḥbūbun illāllāh«, Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 5, S. 9. Kommentator Konuk macht auf die Beziehung zwischen den beiden Ḥadīṯen auf­ merksam und stellt fest, dass das Hervorbringen ins Sein mit Liebe beginnt und stufen­

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werden: erstens in Bezug auf ihre Ausrichtung auf Gott und zweitens in Bezug auf die Gegenwart, in der sie entstanden ist. Da es unterschiedliche Namen gibt, die sich aus den Ebenen des Seins ergeben, können Situationen, in denen sich Liebe beim Menschen manifestiert, unterschiedlich definiert werden:322 (a) Das erste Niveau ist die natürliche Liebe (ḥubb ṭabīʿī): Deren Ergeb­ nis ist die in der tierischen Seele stattgefundene Vereinigung. Der Geist des Liebenden und Geliebten wird ein Geist für beide, mit der Begeisterung für Vergnügen und Lust. (b) Das zweite Niveau ist die geistig-seelische Liebe (ḥubb rūḥānī nafsī): Laut Ibn al-ʿArabī erfahren Menschen bei dieser Art von Liebe eine Transformation, indem sie dem Liebhaber ähneln, was mehr als Sichvereinen ist. (c) Das dritte Niveau ist die göttliche Liebe (ḥubb ilāhī): Sie ist der vollkommenste Gipfel. Menschen lieben Gott direkt und zugleich liebt Gott seine Diener. Alle diese drei Arten von Liebe haben drei Aspekte gemeinsam: (a) Wenn auch die Liebe auf Gott gerichtet ist, beschränkte der Liebha­ ber sie bei seiner Geliebten aufgrund der Grade und der Erscheinung (der Liebe). In einem zuvor gegebenen Beispiel wurde hervorgeho­ ben, dass sich der Götzenanbeter dem Götzen zuwandte, der eigent­ lich ein Erscheinungsort der göttlichen Namen ist, und obwohl er sich dessen nicht bewusst war, eigentlich Gott anbetete. Weil Liebe einzigartig ist, ist sie eigene Orientierung an Göttlichkeit. (b) Zweitens löst die Sehnsucht nach der/dem Geliebten den Wunsch aus, die Geliebten mehr zu kennen. Dies ist die Inszenierung der Selbsterkenntnis des Seins zwischen Liebhaber/in und Geliebten. Unabhängig von der Art der Liebe gilt: je mehr sie sich an Geliebte wendet, desto höher ist der Grad des Erkennens und sogar der Wunsch zu erkennen. Dies ist eigentlich die Verwirklichung, den göttlichen Namen des/der Geliebten zu erkennen und gleichzeitig den Namen des/der Liebhabers/in selbst zu kennen. (c) Das dritte ist die Passion, sich zu vereinen, was der Höhepunkt aller drei Arten der Liebe ist. In jeder Ebene des Seins bringt Liebe weise zu Liebe ausfließt. »Wenn es die Liebe zum Selbst nicht gibt, dann gibt es auch kein Hervorgehen des Selbst, der Grund des Seins ist die Liebe.« Konuk: Fusûsu’l-Hikem Tercüme ve Şerhi, Bd. 4, S. 324. 322 Für drei Arten der Liebe: Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 4, S. 573.

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Erfüllung als Wunsch, den eigenen Mangel der Erscheinung auszu­ gleichen. Alle Bedeutungsfelder der Liebe sind wie die verschiedenen Ebenen des Seins; denn es geht um nichts anderes als die Manifestation der göttlichen Liebesbewegung in unterschiedlichem Maße. Diese existenzielle Bedeu­ tung, in der sie die göttliche und die menschliche Ebene verbindet, ist der Bereich, in dem die Liebe religiöse Legitimität erlangt. Weil jede Art der Liebe einen ontologischen Hintergrund hat, kann das Prinzip der Liebe in der menschlichen Natur mit der obligatorischen Dienerschaft verglichen werden. Der Mensch ist sich nicht bewusst, dass Liebe eine notwendige Orientierung in sich selbst ist: In Wirklichkeit ist alles, woran er interessiert ist oder was er sich wünscht, auf eine inhärente Zuneigung zurückzuführen. Im besagten Ḥadīṯ sagt der Prophet nicht »liebe/liebte«, sondern »zum Geliebten gemacht« (ḥubbiba ilayya)323, und das weist darauf hin, dass die Liebe eine notwendige Erscheinung der menschlichen Natur ist.324 Diese Auffassung gibt der Liebe eine religiöse Bedeutung. In der Geschichte der sufischen Spiritualität ist es jedoch ziemlich klar, dass die Liebe von Frauen im Allgemeinen nicht als akzeptabel angesehen wurde, indem sie mit weltlichem Interesse identifiziert wurde.325 Es ist auch in heutigen muslimischen Gesellschaf­ ten üblich, dass die Liebe als eine Täuschung und Versuchung Satans betrachtet wird, die von der Gottesliebe fernhält und daher aufgegeben werden sollte. So wurden in der sufischen Tradition Liebesgeschich­ ten wie Lailā und Mağnūn ziemlich weit verbreitet; aber ihre Liebe sollte nicht zwischen-menschlich bleiben und sich zu Gott erheben.326 Diese Art der Liebe zu Mitmenschen kann als annehmbar angesehen werden, aber nur als eine vorübergehende Phase. Das vorherrschende Verständnis der heutigen mehrheitlichen Sufi-Bewegungen ist, dass die Beziehung zwischen den beiden Geschlechtern (als Folge der Lust) ein halb beschämendes Phänomen ist.327 In der Lehre Ibn al-ʿArabīs kommt es nicht in Frage, die Liebe zu verschieben oder zu verurteilen, weil sie 323 »Mit anderen Worten: der Prophet liebte Frauen, weil Gott sie dazu brachte, ihn zu lieben«, Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 418. 324 Vgl. Barrāḍa: al-Unūṯa fī-fikr Ibn ʿArabī, S. 229. 325 Vgl. Gramlich, Richard: Weltverzicht: Grundlagen und Weisen islamischer Askese, Wiesbaden 1997, S. 250–259. 326 Vgl. Schimmel: My Soul is a Woman, S. 99–102. Schimmel: Mystische Dimensionen des Islams, S. 156, 491. 327 Vgl. Encyclopedia of Women & Islamic Cultures, Bd. 3, S. 229–246.

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menschlicher Natur ist. Ein spirituell kompetenter Sufi kann sich dem anderen Geschlecht zuwenden, selbst wenn er sich in einem Zustand der Entwerdung und der Ekstase im Göttlichen Sein befindet. Denn auf was er gerichtet ist, ist keine von dem Sein abgetrennte Situation und seine eigene Liebe ist keine andere als die Liebe zum Sein. Er selbst erlebte dies mit der Liebe zu Niẓām. Das Verständnis seiner Herangehensweise an die Liebe hängt damit zusammen, seine Differenz zur Frömmigkeit seiner Zeitgenossen zu erfassen. Im Zusammenhang mit dieser Divergenz kamen die Reaktionen, bei denen er Kommentare zu Tarğumān schreiben musste, aus zwei Zentren: Das erste ist der Kreis der Rechtsgelehrten ( fuqahā); hier besteht die Sorge, dass Gedichte, die Liebe und Begierde ausdrücken, im Sinne des islamischen Rechts missverstanden werden könnten. Das zweite ist das Erstaunen in den Sufi-Kreisen, dass ein Sufi, der behauptet, die göttliche Einheit erreicht zu haben, das durch Gedichte über weibliche Schönheit ausdrücken kann.328 Ibn al-ʿArabī muss erwartungsgemäß bereits die Liebe zu irgend­ etwas Weltlichem überschritten haben und wird sich voraussichtlich allein an Ḥaqq wenden. Der Kommentar wurde als Antwort auf diese Erwartung geschrieben. Wenn der Kommentar jedoch zusammen mit dem Kapitel über die Liebe in al-Futūḥāt al-makkiyya neu bewertet wird, ist das Ergebnis deutlich: Liebe zum anderen Geschlecht widerspricht nicht der Liebe zu Gott und ist natürlich und sogar notwendig. Eigentlich wollte Ibn al-ʿArabī wie manche andere Sufis bis zu einem bestimmten Lebensjahr keinen Ehebund eingehen und hielt sich fern von den Frauen. Er glaubte, dass die Beziehung zu den Frauen ein Hindernis für das geistliche Leben darstellte.329 Später erlebte er einen Wandel, als er die Überlieferung des Propheten über die Liebe zu Frauen auf neue Weise verstand. Als er sowohl den kosmischen Rahmen dieser Überlieferung als auch seine praktische Reflektion erkannte, verstand er, dass Liebe zu Frauen in sicherer Weise auf Liebe zu Gott hinweist: Nun kann ein in Gott verliebter Sufi auch eine Frau lieben, weil dies keine getrennten Erlebnisse sind. Darüber hinaus musste er die Weiblichkeit kennenlernen, um die Vielfalt der göttlichen Ausstrahlungen zu erfassen. In dem Prozess des Selbsterkennens findet ein Mann die Eigenschaften Er fasst den Konflikt zwischen den Sufis wie folgt zusammen: »Einige sagten, Liebe sei nicht wahr, andere sagten, es gäbe nichts Vollkommenes als Liebe. Noch einige sagten, Liebe sei nur eine Eigenschaft, andere sagten, wie kann Liebe geleugnet werden, wenn nichts außer Liebe im Sein existiert.« Ibn al-ʿArabī: Kitāb al-ʾiʿlām bi-išārāti ahl ilhām, in Rasāi’l, S. 78. 329 Addas: Quest for the Red Sulphur, S. 40.

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der Wirkungen in seiner Seele, die nur einige Seiten der Manifestationen sind. Wenn er sich Frauen zuwendet, findet er sowohl Wirkung als auch Passivität zusammen in dem weiblichen Wesen, und das ist genau der Grund: »sie (Frauen) sind Orte der Schöpfung für die Ausstrahlung der Perfektion.«330 Die vielfältigen Manifestationen kommen am Ort der Schöpfung zusammen: »Daher ist es für Männer autorisiert, Ḥaqq bei Frauen vollständig zu betrachten.«331

Und dies zeigt, warum der Prophet der Liebe zu Frauen Priorität einräumte, denn mit der Liebe zu Frauen werden die höchste Schau und höchste Erfahrung erreicht. Das Erkennen weiblicher Merkmale und damit die Liebe zu Frauen ist eine Notwendigkeit, um Weisheit zu besitzen.332 Der Weise verbindet die Liebe des Schöpfers in den Kreaturen mit der Liebe in sich. So wird die Liebe zu Frauen zu einem Mittel der geistigen Reifung, das zugleich bedeute, die Handlungsweise des Propheten (Sunna) zu befolgen.333 Er rechtfertigt seine Idee aus religiöser Sicht und führt das Verhalten des Propheten als Beweis an. Wenn der Prophet die Frauen liebte, dann deshalb, weil sie ihn näher zu Gott brachten.334 Derart beschreibt er die Liebe auch als das Vermächtnis des Propheten (al-irṯ an-nabī). Wie der Prophet Muhammad sollen auch seine Nachfolger die Liebe zu einer Frau akzeptieren.335 Wenn die Gelehr­ ten tatsächlich dem Propheten folgen, müssen sie in seine Fußstapfen treten.336 So macht ein Mensch auf der Ebene der Weisheit, die das Ziel der Existenzgabe ist, die Schönheit des Anderen zum Gegenstand seiner eigenen Betrachtung. Damit können wir besser verstehen, warum Ibn al-ʿArabī seine Orientierung an Niẓām mit der Suche nach Weisheit in Verbindung brachte. Wie Niẓām nicht unabhängig von der Liebe zu Gott ist, ist die Leidenschaft eine Gelegenheit, sich Gott zuzuwenden: weil er Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 5, S. 240. Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 204. 332 »Wer den Wert und das Geheimnis von Frauen kennt, handelt nicht asketisch, wenn er sie liebt. Im Gegenteil, sie zu lieben ist Teil der Vollkommenheit der Weisen.« Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 5, S. 240. 333 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 5, S. 240. 334 »Würde ein Prophet von etwas geliebt werden, das ihn von seinem Herrn ablenken würde? Nein, schwöre nicht! Im Gegenteil, er wurde dazu gebracht, Dinge zu lieben, die ihn seinem Herrn näherbringen würden«. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 5, S. 240. 335 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 3, S. 504. 336 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 3, S. 504. 330 331

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durch die Erfahrung ihrer Schönheit und Liebe göttliche Erkenntnisse tiefer erfahren hatte. Sie war eine Spiegelung der göttlichen Lieblichkeit und ein Anlass für das Schauen der schönsten göttlichen Ausstrahlungen. Es gibt zwischen den persönlichen Besonderheiten von Niẓām und den Attributen des Seins eine notwendige Verknüpfung.337 Die Weiblichkeit ist der höchste Spiegel, der die vielfältige Schönheit des Seins reflek­ tiert.338 Wenn es so der Gottesfreund liebt, Gott in seiner Erscheinung zu erfahren, bemerkt der Geliebte gleichwohl, dass die Liebe in seinem Herzen entsteht. Die in ihm entstandene Liebe bedeutet zugleich das Erkennen von sich selbst. Wenn er sieht, dass die Liebe in sich selbst und nicht außerhalb steht, hat dies sein Selbsterkennens vertieft. So lernt er in dem Erkennen seines Geliebten sich selbst, beziehungsweise findet er die Gegenwart Gottes in seiner Immanenz. Er versucht die ursprüngliche Gottebenbildlichkeit zu verwirklichen, wie Adam. Er findet in Eva, was er nicht besitzt; liebt er sie, liebt er seine ursprüngliche einheitliche Situation. Auf der anderen Seite liebt Eva ihren Ursprung und erfährt die Erscheinung der Liebe des Seins.339 Infolgedessen ist die Liebe zwischen Mann und Frau kein Hin­ dernis, wie manche Geistliche behaupten, sondern stellt sogar eine Gelegenheit und eine Bedingung für die Gottesfreundschaft dar. In der klassischen Lailā-Qays Literatur wendet sich Qays an Gott, nachdem er sich in Lailā verliebt hat, das heißt, er geht von weltlicher Liebe zu göttlicher Liebe über. Mit dem Verlassen von Lailā und dem Erreichen von Mawlā (Gott) hat er seine Perfektion erreicht.340 Auf der anderen Seite zeigt Ibn al-ʿArabī den Weg, Laila zu lieben, nachdem man Mawlā erreicht hat. Dieser Versuch ist eine Umkehrung des herrschenden Liebesverständnisses. Er reflektiert buchstäblich vielfältige Konzepte der Seienden in der Liebes-Beziehung. Zum Beispiel beschreibt er die Liebe zwischen Niẓām und ihm als die Ehe des Ostens und des Westens. Niẓām stammt ursprünglich aus dem Nordosten, während Ibn al-ʿArabī aus dem Südwesten stammt. Beide sind anderswo aufgewachsen, nicht in ihren ursprünglichen Heimatländern. Beide trafen sich aber in Mekka. Eines repräsentiert die Schönheit des Ostens und das andere ist die Vgl. Shaikh: Sufi Narratives of Intimacy, S. 116. »Wer die Frauen mit der Liebe des Propheten liebt (so wie der Propheten die Frauen liebt), liebt eigentlich Gott«. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 4, S. 84. 339 Vgl. Barrāḍa: al-Unūṯa, S. 231. 340 Siehe: Nicholson, R. A.: »Mad̲jnūn«, in: Encyclopaedia of Islam, hrsg. von M. ̲ Th. Houtsma, T.W. Arnold, R. Basset, R. Hartmann, erste Edition (1913–1936), online konsultiert im April 2022 http://dx.doi.org/10.1163/2214-871X_ei1_DUM_0616. 337

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Weisheit des Westens. Wie die Hochzeit der Sterne von Surayya und Suhayl: Wenn der Stern von Surayya immer aus dem Osten aufsteigt, taucht der Stern von Suhayl aus dem Südwesten auf, und beide begrüßen uns am selben Himmel. Eigentlich verwandelt er ein altes Gedicht aus seiner Sichtweise; der Dichter ʿUmar bin Rabiīʿa wies in seinem Gedicht auf den Unterschied zwischen den Sternen von Surayya und Suhayl hin. Ibn al-ʿArabī meint, dass der alte Dichter die Kontraste nicht zusammenbringen konnte, doch eine Kombination der Gegensätze sei möglich. Mit der Ehe der Schönheit und Weisheit erscheint die perfekte Einheit. Der Verweis auf diesen Dichter ist eigentlich nichts anderes als eine Kritik an der abweisenden Haltung der Asketen gegenüber der Liebe und den Frauen.

Sexualität: Sehnsucht und Lust Der göttliche Akt der Liebe zum Erkannt-Werden erscheint vollkommen in der kreatürlichen Vielfalt als menschliche Liebe des gegenseitigen Erkennens. Es gibt also eine Einheit der epistemischen Erfahrung zwi­ schen dem Erkennen des Seins und dem Erkennen der Seienden.341 Was den Menschen zum Erkennen und damit zur Liebe treibt – worauf hingewiesen wurde –, ist der Wunsch, erfüllt zu werden, was Ibn al-ʿArabī als Sehnsucht (šawq) definiert. Diese Sehnsucht geht auf ein älteres als das gegenwärtige Interesse (zwischen den Menschen) zurück und wurzelt in der Erschaffung des ersten Menschen. Ihm zufolge sehnt sich das Weib, als sie aus erstem Wesen hervorging, nach dem Ursprung (Adam), während sich der Mann nach dem Weib sehnt, weil sie getrennt sind.342 Demgegenüber repräsentiert der erste Prototyp (Adam) einen Zustand der Einheit als Sammler aller menschlichen Qualitäten. In die­ sem Zustand dominierte in seiner Natur die Selbstliebe, d.h. Liebe zum menschlichen Grund. Sicher war er ein Erscheinungsort der göttlichen Liebe, weil Gott liebt, was aus dem Sein hervorgegangen ist. In diesem Zusammenhang befindet sich eine Spiegelung zwischen der göttlichen Einheit und der Einheit Adams. Ebenso besteht eine wesentliche Ähnlich­ keit zwischen der Vielfalt in der Welt und der menschlichen Vielfalt. So stellt sich heraus, warum Gott die Erschaffung von Vielfalt mit gegenseitiger Bekanntschaft verbindet.: »Wir haben euch geschaffen von einem männlichen und einem weiblichen Wesen, damit ihr euch untereinander kennt« (Koran, 49:13). 342 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 202. 341

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Die Liebe, die in Adam in Einheit war, wurde durch Spaltung zerrissen. Daher hat Eva ihren Ursprung geliebt, aus dem sie kam. Ibn al-ʿArabī beschreibt dies als Liebe zum göttlichen Ursprung und zur göttlichen Heimat. Diese Sehnsucht betrifft nicht nur die Frau, die mit dem Ganzen bricht, auch der Mann hat nicht mehr den Umfang, den das einzige Wesen (nafs wāḥida) umfasst hatte. Die Sehnsucht nach dem ein­ heitlichen Urbild wirkt tatsächlich immanent in jedem Individuum, und äußert sich als Leidenschaft nach Vereinigung. Laut Ibn al-ʿArabī hatte die erste menschliche Einheit in der Situation als einziges Wesen kein sexuelles Verlangen. Als die Weiblichkeit sich von dem Ursprung trennte, ist in beiden eine Leere aufgetreten.343 Damit entstand die Leidenschaft zueinander und das Verlangen füllte die Leere in dem männlichen Wesen. Auf der einen Seite sehnte sich Adam nach Eva, auf der anderen Seite hatte Eva ein Verlangen nach Adam.344 Der Wunsch dieser beiden, sich zu vereinen, ist die Ursache der sexuellen Leidenschaft.345 Ebenso wie die Liebe, die auf der höchsten Ebene (unter den Kreaturen) zwischen Männern und Frauen erlebt wird, entsteht die Lust nach Vereinigung (nikāḥ) auch auf der höchsten Ebene.346 Die Idee von der durch die Sehnsucht in der menschlichen Natur verursachten Lust nach Vereinigung gehört zu den bemerkenswertesten Auseinanderset­ zungen über Sexualität. Sexuelle Lust und Genuss, die in der islamischen Spiritualität – wie in verschiedenen religiösen Traditionen – den Wunsch nach körperlicher Selbstzufriedenheit darstellen, wurden gemeinhin mit Zurückhaltung betrachtet. Die Entstehung von Lust mit Sexualität wird auf der Grundlage des Drangs des Menschen zur Sünde gesehen. Nach Ibn al-ʿArabī ist Sexualität auch im Menschen ein Erfordernis der Liebe, und was die Legitimität der sexuellen Beziehung sicherstellt, ist Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 374. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 375. 345 »Ibn al-ʿArabī’s vivid depiction of the profound, intense, and extreme intimacy between men and women during sex is unique and ecovative. A relationship of such consuming intensity between two beings, characterized by inborn ontological correspondence and in which their complete beings become interconnected and they dissolve in one another, power­ fully undermines any notion of female deficiency… Woman is not simply a romanticized and idealized object of man’s witness of God, but both men and women are subjects and objects. Each is a locus of disclosure for the other, and given their common origin, the bound­ aries between subject and object are ultimately transcended, as symbolized by the experience of orgasmic annihilation of the ego. This dissolving and melting into the beloved is a taste of the theophanic melting into God for those who are able to apprehend this reality«. Shaikh: Sufi Narratives of Intimacy, S. 186–187. 346 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 203. 343

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die bereits erwähnte kosmische Ehe. Vereinigung hat genau wie Liebe vielfältige Erscheinungsformen im Sein. Die verborgene Ehe (nikāḥ ġāybī) findet auf allen Ebenen des Existierens statt.347 Im allgemeinen geschieht sie durch die Vereinigung der weiblichen Ursubstanz (habā) mit dem männlichen Bild (ṣūra), und dadurch wird die materielle Substanz in ihren Kindern geboren. Nach einer anderen Darstellung entsteht durch das Zusammenkommen der göttlichen Worte (kalimāt) – also die göttliche Wirkung – mit den Archetypen (ʿayān) der Dinge die makrokosmische Vereinigung. Diese kosmische Ehe findet in der perfek­ testen Weise auf der Mikroebene statt, und das ist der Geschlechtsverkehr. Wie der Geschlechtsverkehr findet sich die Lust (šahwa) in verschiede­ nen Seins-Zuständen.348 Zum Beispiel ist es möglich, in der Natur zu beobachten, dass Lust die Kontinuität der Generationen von Tieren sichert. Die sexuelle Lust wurde dem Menschen nicht als unnötiges oder sogar böses Begehren gegeben. Wie Liebe und Geschlechtsverkehr ist Lust innerhalb ihrer legitimen (durch religiöse Prinzipien mitgeteilt) Grenzen natürlich und letztendlich akzeptabel. Liebe und Lust sind nicht leicht zu unterscheiden, denn Gott machte Lust möglich, indem er Liebe schenkte. Die Sexualität schwankt zwar zwischen Verlangen und Handeln, ist aber mit der Liebe verbunden. Volle Verwirklichung der Liebe ist in gewisser Weise mit der Sexualität verbunden. Es gibt auch eine Beziehung zwischen dem Ursprung der Liebe, der von der geistigen Einheit zeugte, und dem Ursprung der Lust, der für die körperliche Vereinigung sorgt. Obwohl es im Koran keinen Glauben an die Erbsünde gibt, weist das von dem Hadīth-Gelehrten al-Buḫārī überlieferte Sprichwort »Wenn es keine Eva gäbe, hätten Frauen ihre Ehemänner nicht verraten« auf die indirekte Rolle der Sexualität bei der Vertreibung aus dem Paradies hin.349 Auch wenn nicht im Koran enthalten, interpretierten einige Gelehrte die Annäherung an den verbotenen Baum als Sexualität und schrieben die Sünde den Frauen zu. Die Vorstellung von Fall Adams aus dem Paradies war und ist eine der Quellen für die negative Einstellung zur Sexualität in der asketischen Frömmigkeit. Im Gegensatz dazu sieht Ibn al-ʿArabī den zur Erhaltung des Lebens verbotenen Baum als eine Metapher für

Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 7, S. 244. Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 7, S. 16. 349 Siehe: Harman, Ömer Faruk: »Havva«, in: Türkiye Diyanet Vakfı İslâm Ansikloped­ isi, Bd. 16, İstanbul 1997, S. 542–545. 347

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die Fortpflanzung an.350 Seine Meinung über Baum und Vermehrung resultiert aus derselben Wort-Wurzel: das arabische Wort für Baum ist šağar und für das Vermehren tašāğur – dies bedeutet in diesem Kontext der Anstieg der Menschenschöpfung.351 Mit dem Baum wäre dann das Vermehren der Menschheit in Gang gesetzt: »Adam hat dem Akt der Fortpflanzung sein Recht eingeräumt, indem er sich dem göttlichen Verbot widersetzte«.352

Tatsächlich ist die einzige Möglichkeit, die die Kontinuität der Genera­ tionen gewährleistet, der Geschlechtsverkehr und die sexuelle Lust. Ibn al-ʿArabī begründet religiös, dass Sexualität im Paradies nicht existieren könnte (wie es im Koran auf diese Weise angegeben wird), wenn sie nicht von Gott gebilligt würde.

Intermezzo: Scharia bei Ibn al-ʿArabī Ibn al-ʿArabī errichtet seine Vorstellung der Geschlechter hauptsächlich auf der Neuinterpretation von Koranversen und Ḥadīṯen. Dieselben religiösen Quellen bestimmen grundlegende Regeln bezüglich der Stel­ lung und Rolle von Frauen im religiösen Leben. Diesbezüglich sind zwei Säulen seines Geschlechterbildes zu nennen: Zum einen den bisher analysierten theoretischen Rahmen und zum anderen die praktische Umsetzung dieses gedanklichen Hintergrundes. Islamische Rechtswis­ senschaft, die sich aus der Auslegung der Bestimmungen im Koran und in der Sunna (überlieferte prophetische Normen) durch die Gelehr­ ten entwickelte, sieht geschlechtsspezifische Unterschiede in definitiven Bereichen des religiösen und sozialen Lebens vor. Nach einer kurzen Information über die Herangehensweise von Ibn al-ʿArabī an das System religiöser Bestimmungen, die als Scharia (šarīʿa) bekannt sind, werden seine Bewertungen zu einigen koranischen Urteilen in Bezug auf die Geschlechter gegeben.353

Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 5, S. 322. Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 231. 352 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 5, S. 322. 353 Es ist ziemlich schwierig, eine ganzheitliche Interpretation seines Verständnisses von Fiqh zu erreichen, weil er kein unabhängiges Werk dazu geschrieben und sich stattdessen mit den Problemen verstreut befasst hat. Wäre bekannt, dass er offen einer Tradition angehörte, wäre es einfacher, rechtliche Feststellungen über sein Geschlechterbild zu tref­ 350

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In der unterschiedlichen Praxis des religiösen Gottesdienstes argu­ mentiert er mit der göttlichen Barmherzigkeit, so dass er in einigen Aspekten einer Rechtsschule und in anderen Angelegenheiten einer anderen folgt. Er begründet sie damit, dass er verschiedene Reflexio­ nen der göttlichen Barmherzigkeit erfahren möchte. Es resultiert aus Gottes Barmherzigkeit gegenüber seinen Dienern, dass es verschiedene praktische Auffassungen für die Umsetzung der religiösen Rituale gibt. Auch beschuldigt er strenge sektiererische Nachahmung, diese Barm­ herzigkeit ignoriert zu haben. Seine Akzeptanz des Unterschieds in juristischen Angelegenheiten wie in der Koranexegese beruht direkt auf der Auslegung der Manifestationsidee. Im Rahmen derselben Idee, die die existentielle Vielfalt ontologisch begründet, gibt es bekannte und unbekannte Seiten der juristischen Bestimmungen sowie das sichtbare und unsichtbare Gesicht des Gegenstandes. Wie die kosmologischen und anthropologischen Zeichen Gottes haben auch die Verse der Offen­ barung (Koran), die die Normen und auch bestimmte Prinzipien mit­ teilen, eindeutige und mehrdeutige Bedeutungen. Darüber hinaus hat jeder Vers offenkundige (ẓāhir) und verborgene (bāṭin) Bedeutungen.354 In Übereinstimmung mit diesen ist jede Gebetsverrichtung eine Art Erscheinung der verborgenen Bedeutung. Der Gläubige folgt dieser Praxis, um die inhärente Erkenntnis zu erfahren, welche der Zweck der Praxis ist. Es ist nicht möglich, aus diesem Ansatz eine vollständige Esoterik abzuleiten. Weil verborgene Zwecke nicht zu erreichen sind, ohne bestimmte physische Rituale durchzuführen.355 Während unzählige Differenzen innerhalb der Breite der göttlichen Gnade hochgeschätzt werden, erfordert die Entdeckung der göttlichen Geheimnisse der Gebete eine gewisse praktische Anwendung. Ein Konzept des Glaubens oder der Praxis hat gleichzeitig viele Bedeutungen. Entsprechend dem spirituellen Zustand des Praktizierenden ist die Bedeutung in einer bestimmten Richtung begrenzt. Betrachten wir das Wort kufr, das Izutsu besonders hervorhebt.356 Es wird sogar im Koran in verschiedenen Kontexten verwendet – mit zum Beispiel der lexikalischen Bedeutung bedecken, fen. Über seine Annäherung an fiqh: Al-Ġurāb, Maḥmūd: al-fiqh ʿinda š- Šayh al-akbar, S. 5–21. 354 Vgl. Winkel, Eric: »Ibn ›Arabi's fiqh: three cases from the Futûhât«, Journal of the Muhyiddin Ibn ›Arabi Society, Bd. 13, 1993, S. 54–74. 355 Der Weg zur Weisheit führt über die Anwendung der Scharia, siehe: Ibn al-ʿArabī: alFutūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 147. 356 Vgl. Izutsu, Toshihiko: Ethico-Religious Concepts in the Qur'an, zweite Auflage, Mon­ treal 2002, S. 187–188.

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der terminologischen Bedeutung Verleugnung. In Ibn al-ʿArabīs Interpre­ tationsmethode erreicht die Bedeutung des Wortes eine ontologische Natur, indem es weiter ausgebaut wird. Zum Beispiel umfasst kufr in dem Sinne, dass man die Manifestation Gottes nicht sehen kann, nicht nur Ungläubige, sondern auch Gläubige. Er benutzte das Wort anderswo in dem Sinne, dass er es direkt der Göttlichkeit zuschrieb, um Gottes Selbst zu verschleiern: Ein einzelnes Wort (und Satz) kann je nach Seinsebene eine andere Bedeutung haben. Es gibt eine Wortdeutung, die sich darauf bezieht, wie die göttliche Manifestation in einem Gläubigen wahrgenommen wird, der den Vers liest und die Pflicht erfüllt. Die Vielfalt des Verständnisses, die durch diese Vielfalt von Erscheinungs­ formen verursacht wird, bildet die innere und verborgene Weisheit der religiösen Pflicht und rechtlichen Regelung. Beispielsweise gibt es laut Ibn al-ʿArabī verschiedene Weisheiten des Herzens, heimliche und geistige im Gebetsakt. Das Gebet ist eigentlich Verrichtung bestimm­ ter Körperbewegungen, daneben besteht das Gebet des Herzens aus muraqaba (Versenkung) mit Allāh; das geheime Gebet bedeutet, sich von māsiwa (Weltlichem) abwenden; und das geistige Gebet ist die Entwerdung ( fanā) und dann festes Bestehen (baqā) in Gottes Sein. Das Wort ṣalāt umfasst jedoch Dimensionen, die über das Gebetsritual hinausgehen: Alle Seienden beten und wenden sich auf eigenartige Weise dem Sein zu. Ebenso bezieht sich er in al-Futūḥāt definitiv auf die Weisheit jedes Gebets, das er behandelt; und wie bereits erwähnt, möchte er einen neuen Kanon von Fiqh schreiben. Diese Initiative erinnert an die Disziplin, die als methodische Grundlage der Normenfindung »uṣūl al-fiqh« und »maqāṣid aš- šarīʿa« benannt ist und die sich mit dem Zweck der praktischen Regelungen beschäftigt. Es gibt jedoch einen grundlegenden Unterschied zwischen der Wissenschaft, die die Ursachen und Zwecke der Rechtsordnungen untersucht, und der Wissenschaft, die die verborgenen göttlichen Bedeutungen der Ordnungen entdeckt. Die Weisheit, beziehungsweise die inhärente Bedeutung, kann nur durch Entschleierung (mystische Erfahrung) erreicht werden. Dem Unterschied in der Herangehensweise an die Bestimmung der Weisheiten der Normenlehre und ihrer Umsetzung folgt so der Unterschied in der Interpretation des Inhalts der Scharia: »Das Böse und Gute einiger Gegenstände kann nur durch Gottes Verkün­ digung verstanden werden, was Scharia bedeutet. Wir sagen also, das ist schlecht, das ist gut. Dies ist eine Mitteilung (ḫabar) der Scharia, kein

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Urteil (ḥukm). Aus diesem Grund sprechen wir je nach Zeit, Person und Sachlage von Gut und Böse.«357

Nach der obigen Aussage bestimmt die Scharia die Felder von Gut und Böse, die hauptsächlich auf göttliche Moralisierung abzielen: »Gott befahl die Scharia, damit wir moralisch sind«.358 Durch Anwendung des Guten gemäß Scharia bedeutet das im Wesentlichen, sich mit den Namen Gottes zu vervollkommnen. Wiederum handelt es sich bei der Scharia eher um Verkündigungen als um Bestimmungen. Was könnte der Zweck sein, die in der Fiqh-Wissenschaft als »aḥkām« bekannten Bestimmungen als Benachrichtigung zu verstehen? Es ist möglich, eine Schlussfolgerung zu ziehen, die auf den Korrelationen von Zeit, Person und Situation im selben Satz basiert. Die Nachricht (Verkündigung) ist die Erfahrung der Verordnungen Gottes im Kontext der Umstände der persönlichen Situation. Auch wenn das die These von der zeitlichen Dynamik und Variabilität der Scharia hervorruft, besteht der Zweck bei Ibn al-ʿArabī darin, dass die Bestimmungen mit der Erneuerung der Manifestationen neue Bedeutungen gewinnen. Diese neuen spirituellen Bedeutungen heben die praktische Anwendung des Urteils nicht auf. Hier besteht ein Gleichgewicht zwischen der Variabilität der internen Erfahrung und der Konstanz des externen Handelns. In achtzehnten Kapitel von al-Futūḥāt kategorisiert Ibn al-ʿArabī die Scharia in zwei Teile: die offenkundige Sunna (sunna ẓāhira), die die Propheten aus Allahs Geboten gebracht haben, und die Sitten, die aufgestellt wurden, um sich Allah zu nähern.359 Offenkundige Sunna sind Handlungsweisen des Propheten, die direkt angewendet werden sollten. Das zweite sind die historischen Bräuche, die im Rahmen religiöser Normen gebildet werden. Diese Bräuche können je nach Gesellschaft und Zeitraum unterschiedlich sein. Das Gewohnheitsrecht (ʿurf ) ist in einigen Fiqh-Traditionen erlaubt, es wird aber nicht als Teil der Scharia angesehen.360 Laut ihm ist es möglich, neue Bräuche zu entwickeln, da die Scharia eine Verkündigung ist. Zwar bezieht sich die göttliche Verkündigung im Wesentlichen auf den Koran, doch sollte man sich auch den Ansatz der kontinuierlichen Offenbarung vor Augen halten. Da die Offenbarung ebenso wie die Manifestationen fortbesteht, wird Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 161. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 5, S. 149. 359 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 6, S. 634. 360 Vgl. Rohe, Mathias: Das islamische Recht: Geschichte und Gegenwart, dritte Auflage, Düsseldorf 2009, S. 68–71. 357

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die Erfahrung der Religion immer wieder erneuert. Letztendlich sind die Bräuche die Inszenierung der Verkündigung in verschiedenen Formen in verschiedenen Geschichtsperioden und Gesellschaften. Es gibt nämlich ein zweites Feld der Scharia, wo Verständnisse und Praktiken je nach Zeit und Ort unterschiedlich sind und in dem von den Geboten und Verboten im Koran und in der Sunna nicht die Rede ist. Im Zusammenhang mit dieser sekundären Bedeutung der Scharia heißt es, dass es zulässig ist, neue Anwendungen in der Religion zu erstellen.361 Das Wort bidʿa bezeichnet Neuerungen in der islamischen Theologie und Jurisprudenz, die von der Mehrheit der Gelehrten nicht als angemessen erachtet werden. Seit dem Mittelalter wurde debattiert, ob eine Erneuerung eine gute bidʿa oder eine schlechte bidʿa sei, und dabei herrscht eine strenge Ablehnung jeglicher Erneuerungen vor.362 Für Ibn al-ʿArabī ist bidʿa in den Bräuchen zulässig, die den zweiten Teil der Scharia bilden. Ausge­ hend von solcher Inklusivität des Scharia-Begriffes können die »Bräuche, die entwickelt wurden, um sich Allāh zu nähern« als gute Erneuerung interpretiert werden, die zu verschiedenen Zeiten und Orten eingeführt wurden. Demzufolge sind die Werte, die etwas über die Natur von »Gut und Böse nach Zeit, Person und Zustand« aussagen (nicht urteilen), zulässig, wenn sie dem ersten Teil der Scharia entsprechen. Dies sind zum Beispiel Praktiken, die uns in unserer Zeit veranlassen, eine Person mit guten Sitten und eine Gesellschaft mit guten Bräuchen zu definieren, die neu sind, aber nicht der Güte des Propheten widersprechen. Solche guten Verhaltensweisen sind nicht nur in der islamischen Gesellschaft und Geschichte anzuerkennen. So zum Beispiel bringt Ibn al-ʿArabī als Beweis die Überlieferung des Propheten Muhammad über Ḥākim b. Ḥuzzam, der vor dem islamischen Zeitalter lebte. Obwohl Ḥākim kein Muslim war, lobte der Prophet ihn; denn er war ein großzügiger Mann, der Gutes tat und Almosen gab. In dieser Hinsicht ist Scharia identisch mit dem auf Wert und Moral zentrierten Begriff »ḫayr«, der Wohltat und Güte umfasst. So glaubt er, dass die Scharia eine gute Moral ist und wer aufseiten der guten Moral steht, ist aufseiten der Scharia. Er betont sogar, dass diejenigen, die die Scharia auf diese Weise nicht verstehen, sie überhaupt nicht verstehen können.363 Oben wurden soziale Sitten als Teil der Scharia dem ontologischen Prinzip zugeschrieben, nämlich göttlichen Manifestationen. Dies zeigt Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 6, S. 634. Vgl. Robson, J.: »Bidʿa«, in The Encyclopaedia of Islam New Edition, hrsg. von H.A.R. Gibb, J.H. Kramers, E. Levi-Provençal, J. Schacht, Leiden 1986, Bd. 1, S. 1199. 363 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 6, S. 634–635. 361

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an: Im Einklang mit den Manifestationen ändert sich die individuelle Erfahrung in Zusammenhang mit übergreifenden gesellschaftlichen Merkmalen. Daher kann man von Formen der Scharia sprechen, die nicht nur zu den Zeitaltern, sondern auch zu den Gesellschaften gehören. Der Grund für die unterschiedliche Scharia jeder Gesellschaft (umma) liegt in den unterschiedlichen göttlichen Relationen. Ibn al-ʿArabī gibt das Beispiel eines Kreises aus acht Punkten. Sobald die Kreislinie von einem Punkt aus begonnen wird, werden sieben Punkte einbezogen, und im achten wird derselbe Punkt wieder erreicht. Selbst wenn sich die Linie an jeder Station an einer anderen Stelle befindet, sind alle gleich ausgerichtet, wenn der Kreis geschlossen ist. Der Zweck dieses Kreisbei­ spiels ist, dass die Formen der Scharia trotz ihrer unterschiedlichen sozialen Praktiken in einem Kreis von Güte (ḫayr) zusammenkommen. So ist die für jede Gesellschaft einzigartige Scharia im Wesentlichen die Manifestation von Güte in dieser Gesellschaft. Wenn die das Gute und das Schlechte bestimmenden SchariaBräuche jeder Gesellschaft verstanden werden, werden die in diesen Gesellschaften erschienenen göttlichen Namen verstanden. Es gibt eine notwendige Beziehung zwischen der Relation der göttlichen Namen und dem Zustand dieser Gesellschaft. Wenn zum Beispiel eine Gesell­ schaft zum Hunger getrieben wird, liegt dies tatsächlich am Fehlen des Namens Razzāq (der Versorger); die Manifestation, die diese Gesell­ schaft braucht, ist offensichtlich. Es besteht ein Zusammenhang zwischen den politischen und wirtschaftlichen Bedingungen der Gesellschaften und den Reflexionen der göttlichen Namen. Und die Gesellschaften haben einen Lebensraum, der sich aus den religiösen Praktiken ergibt, die sie in der Geschichte unter diesen Bedingungen entwickelt haben, und dies nennt man Scharia. Der unten zitierte Satz fasst diese gesamte These zusammen: »Manifestationen unterscheiden sich mit der Differenzierung der Scharia. Der Grund dafür ist, dass jede Scharia ein Weg ist, um Allāh zu erreichen, und diese Wege sich voneinander unterscheiden. So wie sich die göttlichen Gaben (mawhiba) voneinander unterscheiden, müssen sich auch die Manifestationen unterscheiden.«364

Die Bedeutung dieser Sichtweise aus der anthropologischen Perspektive ist die Befähigung (Genehmigung) der Menschen zur Religion. Die Tatsache, dass einige der religiösen Praktiken von Menschen bestimmt 364

Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 70.

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werden können, bringt menschlichen Willen und göttliche Manifestation zusammen. Es ist dem Menschen möglich, zusätzlich zu Gottes Verord­ nungen für den Menschen (und natürlich im Rahmen dieser Verord­ nungen) Sitten entsprechend seiner Geschichte und Gesellschaft hinzu­ zufügen. Dies ist eine religiöse Sichtweise, die sich von der Tradition unterscheidet. Wie positioniert dieser Ansatz, der diese sozialen Bräuche als Scharia akzeptiert, die Geschlechter in der religiösen Praxis? In dieser Richtung kann die Herangehensweise von Ibn al-ʿArabī an einige Fragen der Normenlehre in Bezug auf die Stellung der Frauen analysiert werden.

4.6. Normenlehre und geschlechtsspezifische Differenzen Im Folgenden werden drei Beispiele diskutiert, wie Ibn ʿArabī, der das religiöse Gesetz als Erscheinung der göttlichen Manifestationen in einer Gesellschaft einschätzte – darunter auch von Menschen entwickelten Bräuche, um das Gute zu verwirklichen –, die Geschlechter einordnet. Er schrieb zu den im Koran klar dargelegten Themen: das Zeugnis vor Gericht, die Führung der Frauen im Gebet und die weibliche Sklaverei. Bevor die Beispiele analysiert werden, ist es notwendig zu betonen, dass es unmöglich ist, eine moderne Lesart vom ihm abzuleiten, da er weder die Historizität der Scharia noch die Moralität der Normen debattiert hat. Der deutlichste Hinweis darauf ist sein Beharren auf vielen Regelungen der Scharia. Es ist auch entscheidend, bei der Analyse der Aussagen, die die reformistischen Forderungen unterstützen, nicht von seinem Hauptthema abzuweichen. Bei der Interpretation seiner indirekten oder mehrdeutigen Aussagen zu kritischen Themen sollte die Frage gestellt werden, ob er darüber auch an anderer Stelle etwas sagte. Wenn man beispielsweise seine Worte zur Verschleierung liest, kann man schlussfolgern, dass er es nicht für religiös notwendig hält, dass Frauen den Kopf bedecken.365 Diese Verschleierungs-Maßnahmen haben aber die Mehrdeutigkeit, als Vorhänge interpretiert werden zu können, die Menschen daran hindern, Gott zu erreichen. Eine erzwungene Interpre­ tation des Textes im Einklang mit einem modernen Verständnis kann dazu führen, dass viele andere Aussagen ignoriert werden: An anderer Stelle vertritt er die Meinung, dass eine Frau mit Ausnahme ihrer Barrāḍa und Shaikh sind der Meinung, dass Ibn al-ʿArabī eine neue Lesart zum Thema Verschleierung entwickelt hat. Vgl. Barrāḍa: Al-Unūṯa, S. 165–179; Shaikh: Sufi Narrati­ ves, S. 91.

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Hände, Füße und Gesicht bedeckt sein sollte. 366 Wie kam er also in den folgenden drei Beispielen zu einem anderen Schluss als die Tradition? Sein Bestreben besteht in einer Neuinterpretation religiöser Prinzipien und Normen im Rahmen seiner mystischen Lehre – und weicht dabei teilweise ab und stimmt gelegentlich mit den weitverbreiteten traditionel­ len Überzeugungen überein. Die von ihm entwickelten Prinzipien der Einheit und Gleichheit geben ihm die Gelegenheit zur Evaluierung und Neugestaltung des gesamten religiösen Programms. Das erste Beispiel zeigt, wie er ein Thema der Scharia in einem ontologischen Zusammenhang deutet, indem er versucht, den folgenden Koran-Vers über das Zeugnis von Frauen vor Gericht neu zu interpretie­ ren: »Und nehmt zwei Zeugen unter euren Männern! Wenn es nicht zwei Männer sein können, dann sollen es ein Mann und zwei Frauen sein, solche, die euch als Zeugen genehm sind, – (zwei Frauen) damit (für den Fall), daß die eine von ihnen sich irrt, die eine (die sich nicht irrt) die andere (die sich irrt, an den wahren Sachverhalt) erinnere.« (Koran, 2:282)

Oft wurde basierend auf dem Gedanken »wenn eine irrt«, der meist als das schlechte Gedächtnis und die Emotionalität verstanden wird, auf die Unzulänglichkeit ihrer Zeugnisse hingewiesen. Da die weibliche Einbildungskraft als instabil (wechselhaft) und die Emotionalität als übertrieben angesehen wurde, wurde ihr Zeugnis als unzureichend betrachtet.367 Die vorherrschende Praxis und Interpretation beruhte im 13. Jahrhundert auf solcher Perspektive der weiblichen Psychologie. Ibn al-ʿArabīs Interpretation betont demgegenüber die Bedeutung von »vergessen« (nasiya). Vergessen ist nicht nur für Frauen ein Thema, es wird auch bei Männern beobachtet; tatsächlich weist der Prophet Muhammad auf die Menschlichkeit des Vergessens in einer Überliefe­ rung hin: »Ādam hat vergessen, seine Rasse hat auch vergessen«. Vergessen ist ein Vermächtnis von Adam an Männer und Frauen. Es ist jedoch nicht nur menschlich, sondern erscheint auch in anderen existentiellen Sphären, im Universum und sogar im ganzen Sein. Beim Koran-Vers »Sie haben Allāh vergessen, und nun hat (auch) er sie vergessen« (Koran, 59:19) akzeptiert die verbreitete Interpretation keine Analogie: ar-Rāzī Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 470–471. Vgl. Wahba Muṣṭafā az-Zuḥailī: al-Fiqh al-islāmī wa-adillatuhū, Damaskus 1997, Bd. 6, S. 570–571. 366 367

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wendet sich eindeutig gegen die wörtliche Auslegung und behauptet, dass dieser Vers offen für Interpretation ist, nachdem er hervorhebt, dass Vergessen für Gott, der das Wissen um alles umfasst, nicht möglich ist.368 Ibn al-ʿArabī stimmt der Annäherung zu, dass der menschliche Akt des Vergessens nicht der Göttlichkeit zugeschrieben werden kann. Denn in einem anderen Vers heißt es: »dein Herr ist nicht vergeßlich« (Koran, 19:64). Jedoch hat für ihn das Vergessen im ersten Vers keine metaphorische Bedeutung. Wenn das der Göttlichkeit zugeschriebene Verb Vergessen nicht wörtlich ist, kann auch argumentiert werden, dass das für die Frau verwendete Verb Vergessen auch metaphorisch ist. Ihm zufolge wird das Verb »nasā« in den Versen vielmehr in der Bedeutung »erstaunt sein« verwendet.369 Erstaunen (oder Verwundern) ist ein Zustand, der bei der Manifestation von Namen in der Reihenfolge der Existenzgabe auftritt. Zuvor galt das Erstaunen als spiritueller Zustand in Sufi-Schilderungen. Hier geht es um den dominanten Zustand in verschiedenen Bildern des Seins im weiteren Sinne: Es ist möglich, dass eine der Frauen, die Zeugen waren, in dem Zustand des Erstaunens war. Es ist nicht das psychische Erstaunen, in das diese Frau fällt, sondern das geistige, d.h. Eintauchen in Manifestationen. Dieser Zustand des Erstaunens muss nicht die mystische Erfahrung sein – er ergibt sich aus der Größe der geistigen Fähigkeit der Frau, die zuvor beschrieben wurde. In ihrer Seele herrscht der Zustand des Erstaunens, der intensive Manifestationen tragen kann. Die dominanteste Form des Erstaunens ist die Entwerdung. In diesem Fall kann sich das weibliche Erstaunen in eine Verwirrung verwandeln. Wahrscheinlich bezieht er sich auf die Möglichkeit der Verwirrung, wenn die Kenntnis vom Herzen an den Verstand weitergegeben wird. Aber warum handelt der Vers nur von der Frau: Weil die Manifestationen von Frauen Männern in ihrer Inklusivität überlegen sind. Diese Inklusivität kann aber auch eine Illusion hervorru­ fen. Wenn sich die erste Frau in geistiger Selbstaufgabe befindet, muss die andere Frau außerhalb dieses Zustands sein, um sie zu vervollständigen. Vergessen und Erinnern ergänzen sich und es entsteht die höchstmögli­ che Zeugenlage. Damit erklärt sich Ibn al-ʿArabīs Äußerung: »Ein Mann kann das Zeugnis allein vergessen und sich nicht daran erinnern«.370 Aus diesem Grund ist das Zeugnis zweier Frauen zusammen dem Zeugnis einer einzelnen (männlichen oder weiblichen) Person überlegen. Warum 368 369 370

Vgl. ar-Rāzī: Mafātīḥ al- ġayb, Bd. 29, S. 271; Bd. 15, 93–96. Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 7, S. 581–582. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 7, S. 582.

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ist der zweite Zeuge kein Mann? Wenn das Problem der Mangel einer Frau war, konnte auch der zweite ein Mann sein. Aber nur eine andere Frau kann die göttliche Weite einer Frau erfahren. Sein in diesem Vers entwickelter Standpunkt unterstützt auch seine Haltung, dass die Frau stärker als der Mann ist. Für den heutigen Leser scheint diese mystische Interpretation nur schwer nachvollziehbar zu sein; dies liegt vor allem daran, dass er keine sozialen Argumente für die Gleichstellung anführt, sondern esoterische Gründe, gewissermaßen versucht er, die Lehre von der Einheit des Seins an alle religiösen Vorschriften anzupassen. Solche paradigmatische Abweichung manifestiert sich auch in der Bestimmung über die Vererbung.371 Dass die Frau weniger Erbschaft erhält als der Mann, liegt an der Schwäche des Mannes. Die klassischen Gelehrten denken jedoch das Gegenteil. Dabei ist laut ihm die Frau stärker, sodass sie ihr Leben mit einem kleinen Anteil bewältigen kann: »Der Allmächtige Allāh wies auf die Stärke der Frauen und die Schwäche der Männer in Bezug auf das Erbe hin und gab dem Schwachen den Großteil des Anteils, damit seine Schwäche stärker würde.«372

Dieser Ansatz ist eindeutig ein Versuch, die vorherrschende Auslegung der rechtwissenschaftlichen Tradition so weit wie möglich umzukehren. Demzufolge ist das zweite Thema die Analyse eines der Hauptproblem­ bereiche der aktuellen Debatten über die Führungsrolle (Imamat) der Frauen im Gottesdienst. Zunächst fasst Ibn al-ʿArabī die bestehenden Perspektiven zusammen: Die Vertreter der ersten Ansicht, an der er selbst teilnahm, befürworteten das weibliche Imamat sowohl von Männern als auch von Frauen.373 Ein anderer Teil der Gelehrten lehnte ab und erkannte an, dass Frauen nur als Imame für Frauen dienen können.374 Dieser zweite Ansatz ist eine These, die in den rechtswissenschaftlichen Schulen noch heute angewendet werden kann. Die übrigen Gelehrten haben das Imamat der Frau vollständig abgelehnt. Rechtsgelehrte, die den Begründern weit verbreiteter Traditionen wie Abū Ḥanīfa und Šāfiʿ folgen, haben viele Beweise aus den Überlieferungen des Propheten vorgelegt, die diese Annäherung stützen.375 Wer sind die anderen Befür­ worter des ersten vom Ibn al-ʿArabī vertretenen Ansatzes? Leider haben »Allāh verordnet euch hinsichtlich eurer Kinder: Auf ein Kind männlichen Geschlechts kommt (bei der Erbteilung) gleichviel wie auf zwei weiblichen Geschlechts.« Koran, 4:11. 372 Ibn al-ʿArabī: Raḥmatun min-ar-Raḥmān, Bd. 1, S. 496. 373 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 563. 374 Ebd. S. 563. 375 Vgl. az-Zuḥailī: al-Fiqh al-islāmī wa-adillatuhū, Bd. 2, S. 175. 371

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wir keine Informationen über Namen oder Schulen, da er uns keine Ressourcen zur Verfügung gestellt hat. Jedenfalls müssen die Gelehrten (ʿulamā), die verteidigen, dass Frauen als Imame (auch für Männer) dienen können, vom Mangel einer klaren Aussage im Koran ausgehen. In einigen Überlieferungen (Ḥadīṯen, Tafsīr- und Tabāqāt-Quellen), ins­ besondere bei Abū Dūwud, wird berichtet, dass eine Gefährtin namens Umm Waraqa als Imam für Männer und Frauen fungierte und dass ihr diese Erlaubnis vom Propheten selbst erteilt wurde und sie den Koran auswendig rezitieren konnte. Auf dieser Grundlage haben einige Rechtswissenschaftler dies nur in außergewöhnlichen und wesentlichen Situationen für möglich gehalten. Ibn al-ʿArabī stützt die religiöse Recht­ fertigung seiner Ansicht auf diesen Ḥadīṯ, denn die Vollkommenheit, die die Natur des Imamat bestimmt, sei auch für Frauen zu erlangen. In vielen anderen Ḥadīṯen wird darauf hingewiesen, dass eine Person, um Imam zu werden, den anderen Mitgliedern der Gemeinde in Bezug auf Wissen, Moral und Frömmigkeit voraus sein muss. Diese Anforderung entspricht ihm zufolge der spirituellen Perfektion. Da die göttliche Vollkommenheit in den Augen des Propheten sowohl bei Frauen als auch bei Männern auftritt, kann es kein Hindernis für das Imamat einer Frau geben. Ibn al-ʿArabī kam zu diesem Schluss auf der Grundlage des Gleichheitsprinzips (beruhend auf göttlicher Vollkommenheit), das akzeptiert, dass die Frau eine Prophetin und Gottesfreundin sein kann: »Vollkommenheit ist das Prophetentum und Prophetentum ist Imamat. Somit gilt auch das Imamat einer Frau. Das Prinzip ist, dass es einer Frau erlaubt ist, ein Imam zu sein.«376

Das letzte Thema in Bezug auf Fiqh befasst sich mit weiblicher Sklave­ rei.377 Ibn al-ʿArabī hat keine eigenständige Studie zur Sklaverei vorgelegt. Zu Beginn in der Abteilung über sein Menschenbild wurde festgestellt, dass er einen Standpunkt vertritt, der jeden Meister als Sklaven und jeden Sklaven als Meister betrachtet. Dementsprechend ist der Meister auch ein Sklave der Sklaverei, da er für seine Herrschaft Sklaverei braucht. So: Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 563. Diejenigen, die in Kriegen gefangen genommen wurden oder die Sklaverei von der Familie übernommen haben, unterscheiden sich in ihren religiösen Verpflichtungen nicht von freien Menschen, haben aber in rechtlicher, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht einen niedrigen Status. In mittelalterlichen islamischen Rechtsquellen wird ein Sklave all­ gemein als »eine Person, die nicht in der Lage ist, Sorgerecht, Zeugnis und andere gerichtliche (staatliche) Funktionen auszuüben, und die ihres Eigentumsrechts beraubt ist« beschrieben. Siehe: Aydın, Akif,: »Köle«, in Türkiye Diyanet Vakfı İslâm Ansiklopedisi, Band 26, S. 245– 246, İstanbul 2002. 376

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»Es gibt keinen Unterschied zwischen Freien und Sklavinnen, weil jeder Eigentum Gottes ist.«378

Macht dieser Satz auf die geistige Gleichheit aller aufmerksam oder auf die soziale Gleichberechtigung? Klar ist, dass das Wort »mulk« (exis­ tentielles Eigentum) direkt Gott zugeschrieben wird und die Sklaverei zumindest aus Sicht der Sufis abzuschaffen ist. Parallel zum männlichen Sklaven muss auch eine Sklavin in Bezug auf ihre notwendige Beziehung zu Gott gleichberechtigt behandelt werden. Eine der Frauen, die Ibn al-ʿArabī in seinem Ad-Durra al-Fāḫira vorgestellt hat, ist die Sklavin von Qāsim ad-Dawla – sie war eine weise Gottesfreundin. Auch erfahren wir von seinem Dīwān, dass er eine Konkubine (ğāriya) autorisierte, seine Bücher zu unterrichten und beauftragte sie als seine spirituelle Stellvertreterin. Dies steht in vollem Einklang mit seiner Auffassung vom Imamat. Angesichts des sozialen Status einer Frau und sogar einer Sklavin in der mittelalterlichen Gesellschaft ist es verständlich, wie ungewöhnlich dieser Ansatz war. Die gesellschaftliche Sichtbarkeit von Frauen war begrenzt; der Sklave konnte niemals die Rechte einer freien Person haben. Aber indem er sagt, dass eine Sklavin ein Imam sein kann, der die Anbetung freier Menschen anführt, versucht Ibn ʿArabī, ihre soziale Sichtbarkeit und damit ihre Wahrnehmung zu ändern. Wenn aber nach den Bestimmungen in der religiösen Normenlehre der Status von Konkubinen in vielen Fragen von der Erbschaft bis zum Recht auf Eheschließung völlig von ihrem Herrn abhängt, wo liegt die Grenze der Gleichheit? Ibn al-ʿArabī wollte vielleicht nicht so weit gehen, oder er war zurückhaltend gegenüber seinen eigenen »Bräuchen der Zeit«. Zum Beispiel zitierte er Verse über Konkubinen im Koran und lieferte keine mehrdeutigen Interpretationen der Verse. Eine Schlussfolgerung vollständig gegen die Sklaverei ist so letztendlich nicht möglich.379 Doch lassen sich andere seiner Aussagen so interpretieren, dass sie der Konkubine fast ihre Freiheit gewährt. Vor allem entwickelt er ein einzigartiges Verständnis von Freiheit. Die wahre Freiheit besteht darin, vom Joch der Kreatürlichkeit – und den damit verbundenen weltlichen Differenzen – befreit zu sein. Die ontische Grundlage der Freiheit ist das eigene Herz des Menschen.380 Das Freiheitsverständnis des Sufismus liegt in der besonderen Relation, die der Mensch durch seinen einzigartigen Geist mit dem Sein eingeht. 378 379 380

Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 472. Ibn al-ʿArabī: Raḥmatun min-ar-Raḥmān, Bd. 1, S. 498. Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 472.

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Kapitel II. Meister Eckhart

1. Leben und Denken 1.1. Biographie eines Lebemeisters Eckhart wurde in den 1260er Jahren in Tambach (Thüringen) als Sohn eines Rittersgeschlechts derer »von Hochheim« geboren.381 Das Land seiner ersten Lebenszeit war durch den thüringisch-hessischen Erbfolge­ krieg zwischen 1247–1264 die Heimat eines leidenden Volkes. Schon in jungen Jahren trat er in das Erfurter Dominikanerkloster ein und die ritterlichen Erinnerungen, die er von seinem Vater hörte, wurden von den Legenden zu religiösen Gestalten ersetzt. Von besonderer Bedeutung war, dass Dietrich von Apolda, einer der Dominikanerbrüder in Erfurt, Biographien von Heiligen schrieb. Zu diesen Heiligen gehörten die Mystikerinnen Elisabeth von Thüringen (gest. 1231), Gertrud die Große von Helfta (gest. 1301) und Mechthild von Magdeburg (gest. 1282). Dietrich hatte zuvor als Betreuer von Gertrud von Helfta gearbeitet und muss auch Mechthild besucht haben. Während Eckhart sich als Prior dort befand, schloss Dietrich wahrscheinlich das letzte Kapitel seines Buches ab, in dem er einige Überlieferungen von Mechthild übernahm und sie als inspirierte Frau bezeichnete.382 So war Eckhart schon in den frühen Jahren seiner religiösen Ausbildung mit Leben und Lehren weiblicher Mystikerinnen vertraut. Dann ging er für ein dreijähriges stu­ dium artium383, das die Grammatik, Rhetorik und Mathematik umfasste, nach Paris ebenso wird er die Interessen- und Diskussionsfelder der Das Geburtsjahr von Eckhart kann aus einer später datierten Aufzeichnung ermittelt werden. Als Sentenzenlektor ( frater Ekhardus lector sententiarum) hielt er die Festpredigt am Ostertag (18. April 1294) im St. Jacques Konvent an der Sorbonne. Basierend auf dem Registrierungsdatum dieser Predigt werden Anfangs- und Enddatum seines Studiums (daher das Geburtsjahr) geschätzt. Vgl. Ruh, Kurt: Geschichte der abendländischen Mystik: Dritter Band Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik, München 1996, S. 236. 382 Daives, Oliver: Meister Eckhart: Mystical Theologian, London 1991, S. 59–60. 383 Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3, S. 237. 381

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Pariser Intellektuellen kennengelernt haben. Damals waren Averroisten wie Siger von Brabant (gest. 1284) an der Pariser Artistenfakultät ein­ flussreich. Eckhart war Zeuge der Debatten zwischen den Verfechtern der katholischen Tradition und den neuen Philosophen über die grund­ legenden Fragen der Beziehung zwischen Vernunft und Offenbarung, Philosophie und Religion. 1270 verkündete der Erzbischof von Paris, Étienne Tempier (gest. 1279), die so genannten Pariser Verurteilungen gegen die philosophische Häresie. In diesem Text stellt Tempier fest, dass die Philosophen behaupteten, der christliche Glaube hemme den wissen­ schaftlichen Fortschritt und diskreditierte daher die Kirche, indem sie die grundlegenden Lehren der Bibel leugnete.384 Dieser Konflikt sollte als Leuchtturm für Eckharts Zukunftsprojekt dienen: philosophisches Wissen im Dienste des religiösen Glaubens zu nutzen. Aber in dieser Zeit gab es nicht nur theologische Spannungen in Kontinentaleuropa; Während seines ersten Paris-Aufenthalts beobachtete Eckhart auch die Verfolgung der Templer und die Hinrichtung einiger Häretiker. Nach seinen Pariser Jahren hielt er sich noch einige Zeit in großen Konventen auf, um sich auf das theologische Studium vorzubereiten. 1286 ging er nach Köln zum studium generale, wo er Gelegenheit hatte, Albertus Magnus (gest. 1280) zu begegnen. Albertus war einer der bedeu­ tenden Namen unter den Scholastikern, die die Hauptdiskussionsfelder der griechischen Philosophie, die mit arabischen Übersetzungen in die lateinische Welt übertragen wurde, im Rahmen der christlichen Theolo­ gie interpretierten. Dank ihm war der Kölner Konvent ein Anziehungsort für junge Studenten, und Thomas von Aquin (gest. 1274) hatte sich schon früher dort aufgehalten. Eckhart erhielt die Priesterweihe im Jahr 1289, so konnte er als Lektor in Klöstern lehren. Im Jahr 1290 begann er sein Theologie-Studium an der Pariser Universität. Von seiner Einführungsvorlesung am Ostertag 1294 lässt sich ableiten, dass er sein Studium in demselben Jahr abgeschlossen hat. Diese Vorlesung bestand darin, die libri quatuor Sententiarum von Petrus Lombardus (gest. 1160) zu kommentieren. Es wird vermutet, dass Eckhart auch in diesem Jahr wieder nach Thüringen zurückkehrte und als Vikar dort arbeitete. Dietrich von Freiberg (gest. 1320), ein weiterer bedeutender Philosoph des Dominikanerordens, war in dieser Zeit als Provinzial in der Ordensprovinz Teutonia tätig. Dietrich, der auf vielen Gebieten von der Philosophie bis zur Physik Werke verfasst hat, hatte durch den Über diesen ganzen Prozess siehe Daiber, Hans: Islamic Thought in the Dialogue of Cultures: A Historical and Bibliographical Survey, Leiden 2012, S. 181–213.

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Orden Kontakt zu Eckhart. Eckhart wurde 1294 vom Provinzkapitel zum Vikar der Ordensnation Thüringen ernannt. Dieser Zeit verfasste er seinen Traktat Rede der underscheidunge, der Spuren seiner Existenzund Erkenntnislehre trägt.385 1300/1301 kehrte er nach Paris zurück, um das Magisterium zu absolvieren, das der heutigen Habilitation gleichkommt, danach erhielt er den Magistertitel und für ein Jahr den Auftrag zur Lehre am Lehrstuhl, an dem früher Dietrich und Albert die nicht-französische Studenten unterrichteten.386 Während dieser Zeit hielt er Vorlesungen zu drei Fragen im Rahmen der an der Universität traditionsreichen quaestiones disputatae. Die vorgetragenen Probleme wurden in dialektischer Weise mit Thesen und Gegenthesen beantwortet. Der erste dieser Texte, der sehr wertvoll ist, um die herrschenden intellektuellen Interessen in Paris zu reflektieren, sucht eine Antwort auf ein Thema im Schnittpunkt der islamischen Philosophie und der christlichen Theologie: »Ist in Gott Sein und Erkennen identisch?«. Wenn gleich er in seinen zukünftigen Arbeiten beides identifizieren wird, priorisiert er in dieser Rede das Erkennen gegenüber dem Sein; dies ist bemerkenswert, um seine Position in den zeitgenössischen intellektuellen Debatten zu verstehen. 1303 verließ er Paris und wurde an das Provinzkapitel nach Erfurt berufen und später als Prinzipial der Ordensprovinz Saxonia gewählt.387 1307 auf dem Generalkapitel in Straßburg wurde er zum Generalvikar für Böhmen ernannt.388 Laut Kurt Ruh gründete er in dieser Zeit drei Frauenklöster in Braunschweig, Dortmund und Groningen.389 Auf­ grund dieser Aufgaben innerhalb des Ordens war Eckhart ständig auf Reisen. Abgesehen von den Schwierigkeiten beim Laufen war auch das Sicherheitsproblem auf den Wegen extrem. Erfurt, Mühlhausen und Nordhausen kämpften gegen Landgraf Friedrich. An diesem Konflikt waren neben König Heinrich VII. auch die Äbte der Klöster Fulda und Meister Eckhart: Werke II, Texte und Übersetzungen, übers. von Ernst Benz, Karl Christ, Bruno Decker, Heribert Fischer, Bernhard Geyer, Josef Koch, Josef Quint, Konrad Weis und Albert Zimmermann, herausgegeben und kommentiert von Niklaus Largier, Frankfurt am Main 2008, S. 791–792. 386 Vgl. Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3, S. 239. 387 1303 war Saxonia mit 47 Klöstern und 11 Nationen Teil der Provinz Teutonia. Vgl. Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3, S. 239. 388 Der Generalvikar war verantwortlich dafür, »zu prüfen, zu bestrafen, (von Strafen) loszusprechen, zu festigen, zu reformieren, und dies von Konvent zu Konvent, von Provinz zu Provinz, am Haupt wie an den Gliedern.« So Ruh, Kurt: Meister Eckhart, Theologe, Prediger, Mystiker, erste Ausgabe: 1985, zweite überarbeitete Auflage München 1989, S. 30. 389 Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3, S. 240. 385

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Hersfeld beteiligt. Als ob diese politischen Unruhen nicht genug wären, erlebten die westlichen Gesellschaften im Jahr 1309 einen der tiefsten Brüche der christlichen Geschichte: das Große Abendläbdische Schisma. Der Kampf zwischen dem französischen Königreich und Ludwig dem Bayern führte zu Spaltungen der katholischen Welt.390 Das hegemoniale Verhältnis zwischen dem französischen König Philipp IV. und der Kirche hatte im Jahr 1309 den Umzug der Kurie nach Avignon zur Folge. Dieser bis 1376 andauernde Prozess ging als babylonische Gefangenschaft der Kirche in die Geschichte ein. Paris war 1310 der Treffpunkt von Autorinnen und Autoren, von denen jeder ihre/seine mystischen Ideen in ihrer/seiner eigenen Sprache schreibt: Ramon Llull (gest. 1316) predigt Universitätsstudenten gegen die averroistische Häresie. Dante Alighieri (gest. 1321) wird auf dem Weg zurück nach Italien in Paris sein. Und Marguerite Porete (gest. 1310), eine der bekanntesten Mystikerinnen des Mittelalters, steht vor Gericht. Eck­ hart verbrachte jene Zeit so bemerkenswerter Begegnungen im Domi­ nikanerkonvent St. Jacques. Über diesen Konvent hatte William Humbert die Aufsicht. Als inquisitor hereticae war William auch verantwortlich für den Prozess von Marguerite und der Templer. Deshalb hörte Eckhart sicherlich vom Prozess gegen Marguerite, der mit ihrer Verbrennung am 31. Mai 1310 endete. Und er kannte als Absolvent des Studiums auch Godefroid de Fontaine, der Marguerites Werk für den kirchlichen Pro­ zess analysiert hatte. Godefroid war der einzige von 21 Theologen, der das Buch Miroir des simples âmes (Spiegel der einfachen Seelen) positiv bewertet hat.391 Dieses Werk Marguerites Miroir wurde in kurzer Zeit in vier Sprachen übersetzt und war eine der populärsten Schriften des mit­ telalterlichen Europa.392 Nur ein Jahr später fand das Konzil von Vienne statt, in dem sowohl doktrinäre als auch rechtliche Maßnahmen ergriffen wurden, um die Einheit der katholischen Welt gegen die zunehmende Ketzerei in Europa zu sichern. Die Aktivitäten der Templer und Frauen­ bewegungen wurden verboten und der Philosophie-Unterricht an der Universität eingeschränkt. In der Schlusserklärung des Konzils wurde in Vgl. Ruh: Meister Eckhart, S. 97. Vgl. Grundmann, Herbert: »Geschichtliche Grundlagen der deutschen Mystik«, in Alt­ deutsche und altniederländische Mystik, Darmstadt 1964, S. 72–99. 392 »Ich kenne keine andere volkssprachliche Schrift des Mittelalters mit solcher Interna­ tionalität.« So Ruh: Meister Eckhart, S. 100. Nach Ruh hatte Eckhart in seinen Werken (einschließlich Predigten) versucht, Marguerites Mystik »theologisch abzusichern, um ihre spirituelle Kraft rein hervortreten zu lassen, sie nicht ins religiöse Abseits gleiten zu lassen.« So Ruh: Meister Eckhart, ebd., S. 107. 390 391

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52 Artikeln festgestellt, dass die aristotelisch-averroistische Ketzerei dem christlichen Glauben widerspricht.393 Einige dieser häretischen Ansich­ ten werden später in Eckharts Prozess erscheinen. Eckhart blieb bis 1313 in Paris für ein zweites Magisterium, den höchsten Rang, den ein Nicht-Franzose erreichen konnte – Thomas von Aquin hatte das zuvor ebenfalls geschafft.394 In diesen Jahren begann er sein Corpus Opus tripartitum zu verfassen. Dieses Werk war ein Versuch, die biblische Offenbarung mit der Philosophie, die ihm seit seiner frühen Jugend begegnet war, in Einklang zu bringen: »die Lehre des heiligen Christlichen Glaubens und der Schrift beider Testamente mit Hilfe von Vernunftgründen (rationes naturales) der Philo­ sophen auszulegen.«395

Diese Schrift, die als neue theologische Summa betrachtet werden kann, besteht aus drei Teilen: das Thesenwerk, das Werk der Fragen und das Werk der Auslegungen. Obwohl er sie nicht vollendete, bietet diese Exegese der Bibel Gelegenheit, seine eigenständige Lehre zu analysieren. Danach wurde Eckhart mit der cura monalium, der Aufsicht der Frauenklöster, beauftragt. Anlässlich dieser Aufsicht stand er in enger Beziehung mit den mystischen Frauengemeinschaften, die als Beginen und Begarden bezeichnet werden. Die als Frauenfrömmigkeit entwi­ ckelte Bewegung der Beginen entstand gleichzeitig mit der Verbreitung der Bettelorden.396 Das dem spirituellen Leben zu Grunde gelegte Welt­ bild der Frauenorden war geprägt von Liebe und Askese und breitete sich nach der päpstlichen Anerkennung im Jahre 1206 aus Flandern nach West-Europa aus und war bald in ganz Europa weit verbreitet.397 Sie waren nicht über Ordensregeln organisiert, sondern führten ein auf Armut basiertes Gemeindeleben in kleinen Gruppierungen. In die­ sen wurde ferner kein klassisches Studium in Klöstern durchgeführt, vielmehr spielten Predigten und gemeinschaftliche Aktivitäten eine wich­ Zur Rolle des ebenfalls von der andalusischen Mystik beeinflussten Ramon Llull im Konzil von Vienne und seinem Kampf mit den Averroisten: Anthony Bonner: Doctor illuminatus, A Ramon Llull Reader, New Jersey 1993, S. 38–42. 394 Ruh: Meister Eckhart, S. 30. 395 Flasch, Kurt: Meister Eckhart: Philosoph des Christentums, München 2010, S. 60–61. 396 Vgl. Stölting, Ulrike: Christliche Frauenmystik im Mittelalter: historisch-theologische Analyse, Mainz 2005, S. 525–545. 397 Im 14. Jahrhundert gab es in Köln 85 Beginenhäuser, Chronisten schätzen die Zahl der Beginen bis auf eine Million. Siehe dazu Ruh: Meister Eckhart, S. 98. Vgl. Lambert, Michael: Medieval Heresy. Popular Movements from the Gregorian Reform to the Refor­ mation, dritte Auflage, Oxford 2002, S. 199–204. 393

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tige Rolle, um die Novizen zu erziehen. Hinter Eckharts Auftrag zur Beaufsichtigung steht der Zweck, die Frauenfrömmigkeit »in geregelte Wege zu lenken«.398 Jedoch stellten Forscher wie Kurt Ruh und Bernard McGinn fest, dass Eckhart bei der Entwicklung seiner eigenen Lehre sowohl begrifflich als auch inhaltlich von Frauen beeinflusst wurde. Aber er hatte nicht nur weibliche Anhänger in dieser Zeit, sondern auch männliche Jünger, denn als Generalvikar verbrachte Eckhart zehn Jahre in Straßburg, und unter seinen Zuhörern dürften auch andere Gesichter der mittelalterlichen Mystik wie Johannes Tauler (gest. 1361) und Heinrich Seuse (gest. 1366) gewesen sein.399 Nach 1315, als in ganz Europa die Hungerkrise ausbrach, konzen­ trierte sich Eckhart darauf, über Armut und Demut zu predigen. In diese Zeit fällt auch die Entstehung des Buchs der Göttlichen Tröstung, das auf die Spuren seiner Aktivitäten jenseits der Institutionen hinweist. Eckhart verfasste dieses Werk für eine hochadelige Frau, die Tochter Albrechts I. von Österreich und die Königinwitwe von Ungarn namens Agnes (gest. 1364).400 Agnes war zunächst nach dem frühen Tod ihres Mannes in Wien als Sekretärin von Königin Elisabeth tätig. Als danach auch ihr Vater ermordet wurde, lebte sie als Verwalterin im Kloster, das ihre Mutter daraufhin gestiftet hatte. Neben diesem literarischen Kontakt mit den Eliten setzt sich sein Verhältnis zur Volksspiritualität sowohl individuell als auch durch den Orden fort. 1322 geht er zur visitatio in das Dominikanerinnenkloster Unterlinden in Colmar und kommt bei den Klöstern von Katharinental und Ötenbach vorbei, wo seine Besuche in den Schwesternbüchern vermerkt werden.401 Frauen wurden stark von seiner spirituellen Haltung beeinflusst und beschrieben ihn nicht nur als einen Religion unterrichtenden »Lesemeister«, sondern auch als einen »Lebemeister«, der lebte und erlebte, was er predigte. Als er 1324 vom Orden als Lector primarius zum Generalstudium der Dominikaner nach Köln entsandt wurde, wurden die Predigten in Frauenklöstern fortge­ setzt. Er predigte in den Klöstern der Dominikanerinnen in St. Gertrud, der Zisterzienserinnen in St. Mariengarten und der Benediktinerinnen in St. Machabaeorum. In dieser Zeit war Köln, eines der wissenschaftlichen Zentren des europäischen Mittelalters, da zuvor Albertus Magnus diesen Lehrstuhl leitete. 398 399 400 401

Ruh: Meister Eckhart, S. 109. Vgl. http://www.eckhart.de/?leben.htm, 27. Dezember 2009. Vgl. Langer, Otto: Christliche Mystik im Mittelalter, Darmstadt 2004, S. 225–239. Ruh: Meister Eckhart, S. 168.

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Ein Leben des ständigen Reisens wartete auf eine letzte Herausfor­ derung: die Inquisition. Die Priester, die von den Ideen und Aktivitäten von Eckhart seit seinen Straßburger Jahren beunruhigt waren, trugen die Beschwerden auf die institutionelle Ebene in Köln und leiteten sie an den Papst Johannes XXII. (gest. 1334) weiter. Infolge der Zunahme der Anträge gegen Eckhart ernannte das Papsttum zwei Personen zur Inspektion. In dem 1325/26 erstellten Bericht wurden irrgläubige Ausdrü­ cke in seinen Werken entdeckt. Im selben Jahr, nach den Antworten von Eckhart, zieht der Inquisitor die Vorwürfe zurück. Aber der Erzbischof, Heinrich II. von Virneburg (gest. 1332), leitete das Inquisitionsverfahren mit einer direkten Denunziation der Ketzerei ein. Trotzdem hat Eckhart seine Reden, die die klagenden Priester provozierten, 1326 fortgesetzt.402 Die aus seinen lateinischen Werken und deutschen Predigten ermittelten Punkte wurden als Beweismittel in einer Liste gesammelt.403 Während der Prozesse schrieb Eckhart seine Verteidigung, in der er betonte, dass er die Vorwürfe nicht beantworten müsse, dass alle Brüder Zeugen für ihn seien und das Volk ihn kenne: »Irren kann ich, aber nicht ein Häretiker sein. Denn das erste betrifft den Verstand, das zweite aber den Willen«.404 Er verliest seine protestatio während seiner Predigt im Dominikanerkloster und weist die Beschwerden über ihn zurück. Eckhart ging noch einen mutigeren Schritt, um seinen Fall persön­ lich zu vertreten von öffentlicher Enthüllung des Falls und machte sich auf den Weg zum Papst, der sich zu dieser Zeit in Avignon befand. Gleichzeitig schickte der Erzbischof eine Delegation mit Gerichtsakten nach Avignon. Die Reise zwischen Köln und Avignon mag bei Eckharts fortgeschrittenem Alter zwei Monate gedauert haben. In dieser letzten Phase seines Lebens wartete er, bis er Avignon erreichen konnte, auf die Nachricht des Kuriers. In seinem Fall wurde eine Kommission gebildet, zu der auch der spätere Papst Kardinal Jacques Fournier gehörte. Konnte Eckhart, der im Jahr 1328 starb, in der Lage sein, sich vor dieser Kom­ mission zu verteidigen, oder ging er nach Köln zurück, weil es keine Begegnung mit dem Papst gab? Fest steht unter all diesen Möglichkeiten, dass der Papst am 30. April 1328 der Kölner Diözese mitteilte, dass der Eckhart setzte seine Predigten fort, während die Ermittlungen andauerten. Vgl. Meis­ ter Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke, Die lateinischen Werke, hrsg. und übers. von Josef Koch, Bernhard Geyer, Erich Seeberg, Loris Sturlese, Stuttgart 2006, Bd. 5, S. 198–211. 403 Vgl. Sturlese, Loris: Meister Eckhart. Ein Portrait, Regensburg 1993, S. 257. 404 Vgl. Meister Eckhart: Meister Eckharts Rechtfertigungsschrift vom Jahre 1326, in Latei­ nische Werke, Bd. 5, S. 521–523.

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Prozess trotz seines Todes fortgesetzt werde.405 Gemäß dem vom Papst am 27. März 1329 erlassenen Edikt In Agro Dominico sollte die Kirche dem Feind (inimicus) nicht erlauben, Samen auf den Boden der Wahrheit zu streuen.406 So wird Eckhart mit dem Mann verglichen, der unter den auf Gottes Erde gesäten Samen der Wahrheit Unkraut anbaut, deshalb werden seine Gedanken als »der Samen des Teufels« dargestellt: Dieser Mann, der die Ketzerei in den Bereich der heiligen Theologie eingeführt habe, habe in öffentlichen Predigten und in seinen Werken nach des Teufels Verlangen das einfache Volk in die Irre geführt. In der päpstlichen Stellungnahme werden Eckharts Gedanken verboten und seine Werke aus den Katalogen gestrichen. Er wird jedoch in Zukunft sowohl von den katholischen Gelehrten als auch von den frühen Reformatoren gelesen werden. Im Zeitalter der Aufklärung wird er wiederentdeckt, und fast jeder Denker vom deutschen Idealismus bis zum Existentialismus wird sich besonders bemühen, Eckharts Sprache, Konzepte und Lehre zu ver­ stehen.

1.2. Einige Merkmale von Eckharts Mystik Da Eckharts Leben zwischen Kirche, Kloster und Universität abläuft, enthält die Entwicklung seiner Lehre Spuren aller drei institutionellen Traditionen. Seine Beziehung mit der mittelalterlichen Vielfalt Europas, von Pariser Philosophen bis hin zu weiblichen Mystikern, wirft die Frage auf, wie Eckhart in der Ideengeschichte positioniert werden sollte. Diese Beurteilung wird seine intellektuelle und spirituelle Zugehörigkeit und auch den Ursprung seiner Lehre bestimmen. Während er in der katholischen Tradition sowohl als Theologiemeister an der Universität als auch als hochrangiger Geistlicher im Dominikanerorden betrachtet werden kann, lässt sich diese Zugehörigkeit nicht leicht herstellen, da er von der Inquisition offen der Ketzerei beschuldigt wurde. Daneben haben die Protestanten die Eckharts Texten begegneten, ihn als einen der Pioniere der Reformation angesehen, obwohl Eckhart sich selbst trotz seiner Kritik nicht außerhalb der katholischen Einheit sah. Er kritisierte Es ist sehr selten, dass ein Prozess trotz des Todes des Verdächtigen fortgesetzt wird. Vgl. Miethke, Jürgen: Der Prozess gegen Meister Eckhart, in: Meister Eckhart Lebenssitua­ tionen Redesituationen, hrsg. von Klaus Jacobi, Berlin 1997, S. 372. 406 In der päpstlichen Urkunde heißt es: »müssen Wir die geistliche Pflege so wachsam und besonnen ausüben (oportet nos sic vigilanter et prudenter spiritualem exercere culturam)«, Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 5, 597. 405

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in seinen deutschen Predigten einiges an der herrschenden Frömmigkeit, akzeptierte aber auch viele Elemente der zeitgenössischen Religiosität. Wenn man seine lateinischen Werke untersucht, stößt man erwartungs­ gemäß auf viele Ausdrücke, die sich mit der thomistischen Theologie überschneiden, doch die Spuren der averroistischen Kosmologie tragen. All diese vielfältigen Aspekte machen es schwierig, Eckhart aus einer einzigen Perspektive zu bewerten. Wie seine Lehren interpretiert werden, hängt hauptsächlich mit dem Rahmen zusammen, in dem die Forscher und Leser analysieren. Ihn als Mystiker zu bezeichnen, führte zunächst zu Bedenken hinsichtlich des Umfangs des Begriffs Mystik. Ihn als Phi­ losophen oder Theologen zu qualifizieren, würde seine Differenzierung vom Mainstream ignorieren und seine Lehren auf rein intellektuelle Bestrebungen reduzieren. Die geistesgeschichtliche Einordnung seiner Texte ist nicht nur ein Problem der wissenschaftlichen Forschung; sondern in der neuzeitlichen Kultur gibt es verschiedene Eckhart-Bilder: Alfred Rosenberg, einer der Ideologen des Nationalsozialismus, pries ihn als Befreier der deutschen Sprache und deutschen Denkens, während gleichzeitig der jüdische Denker Martin Buber von seiner Mystik beein­ flusst wurde. Eckhart auf eine bestimmte Tradition zu beschränken, würde letztlich bedeuten, die Authentizität seiner Lehre zu vernachläs­ sigen. Um Eckhart möglichst in der ganzen Vielfalt seiner Lehre zu präsentieren, ist dieses Kapitels zuerst auf die Neuerung in Sprache und Denken bezogen, die Eckhart seiner eigenständigen Lehre verliehen hat. Anschließend werden die möglichen Wurzeln von Eckharts Lehre außerhalb der katholischen Tradition analysiert: arabische Philosophie und weibliche Mystik. Sowohl unser Vergleich mit einem muslimischen Mystiker als auch unsere Behandlung des Themas der Geschlechterver­ hältnisse machen es notwendig, diese beiden Einflüsse herauszuarbeiten. Die Grundlagen, auf denen die lehrmäßigen Differenzen und die Einzigartigkeit aufbaut, basieren in erster Linie auf seiner Sprache, die sich sowohl durch neue Konzeptualisierungen als auch durch inhaltliche Transformation alter Begriffe entwickelt: Er schreibt nicht nur über die Bedeutung der von ihm entwickelten Idee, sondern auch über deren Grenzen und Verwendungsgebiete. Er verdeutlicht die Beziehungen zwi­ schen Begriffen und die Gründe ihrer Differenzierung; beispielsweise die Unterschiede von Demut und Abgeschiedenheit, die inhaltlich sehr nahe beieinander liegen, und darüber, in welchen Kontexten sie verwendet werden. Dies kann als ein Versuch betrachtet werden, das begriffliche Netz der konstruierten Lehre zu erläutern. Der erste Schritt von Eckharts Begriffsverwendung besteht darin, dem Wort eine existentielle Bedeu­

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tung zu geben. Der dem Wort zugeschriebene ontische Charakter hat zwei Spitzen: göttlich und menschlich. Während Demut beispielsweise eine für das klösterliche Leben konnotative Bedeutung hat, verwendet Eckhart sie auf der einen Seite für die Beschreibung des reinen Grun­ des der Göttlichkeit, auf der anderen Seite für die seelische Reinheit des Menschen. Die göttlichen und menschlichen Aspekte werden im ontologischen Inhalt der Begriffe zusammengesetzt. Die beiden Aspekte vereinen sich in einem Begriff und so entsteht die wahre Bedeutung in der Vereinigung. Somit gibt der Begriff nicht nur Auskunft über die Göttlich­ keit, sondern schließt auch die menschliche Erfahrung ein. Deswegen ist seine Sprachbildung zugleich eine Einführung in seine Anthropologie. Warum begnügt sich Eckhart nicht mit der Bezeichnung der Gött­ lichkeit und erachtet es für nötig, einen neuen, insbesondere einen menschlichen Gehalt hinzuzufügen? Tatsächlich ist diese Frage die Erwiderung darauf, warum Eckhart als Mystiker betrachtet wird. Dies rührt direkt aus seinem Verständnis des göttlichen Seins, das auch die menschliche Sphäre umfasst. Die Reflexion dieser Erfahrung in der Sprache soll die Idee des Transzendentalen in das Feld der mensch­ lichen Erfahrung bringen. Beispielsweise integriert die transzendente Bedeutung der Geburt als von der Trinität her gedachte Beziehung die Bedeutung der göttlichen Geburt in der eigenen (menschlichen) Seele, und so gibt diese Geburt dem Göttlichen die menschliche Natur und dem Menschlichen das Göttliche. Durch solche Begriffsbildung kann das von der Theologie auf eine bestimmte göttliche Situation beschränkte Wort in verschiedenen (sowie allen) Aspekten des Daseins verwendet werden. So ist es möglich, die wahre Bedeutung, in Gott ausgehend vom Menschen und im Menschen ausgehend von Gott, zu erreichen. Eckhart stellt eine Verbindung zwischen semantischer Reflexion und ontischer Realität her. Da das Sein die Göttlichkeit und die Menschlichkeit umfasst, muss eine sprachliche Spiegelung entwickelt werden, um diese Wahrheit auszudrücken. Hat das Wort Gott, das auf dem existentiellen Gipfel dieser Idee steht, also eine doppelseitige Bedeutung? Da Eckhart der Meinung ist, dass dies eigentlich durch die Menschwerdung Gottes selbst erreicht wird, sollte das Wort Gott (in der Sprache) das Menschliche einschließen. Die Göttlichkeit des Menschen und die Menschlichkeit Gottes treffen sich in derselben Substanz. Jeder kann in seiner eigenen seelischen Innerlichkeit eins mit dem göttlichen Sein sein und kann sich dies in der sprachlichen Konzeption vorstellen.407 407

Vgl. Mieth, Dietmar: Meister Eckhart. Einheit mit Gott, Düsseldorf 1979, S. 23.

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Eckhart geht von aus dogmatischen Prinzipien, die einzigartig für das Christentum sind und nicht in anderen abrahamitischen Traditionen gefunden werden. Die Inkarnation Gottes in der menschlichen Natur zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort und damit die Verkörperung der Offenbarung öffnet einen menschlichen Sinn für alle Aspekte der Göttlichkeit. Aus dem gleichen Grund schreibt er auch den theologischen Begriffen, die er vermenschlicht, geschlechtliche Merkmale zu. Beispielsweise wird die Seinsgabe als Mutterschaft oder die Befreiung der Seele von weltlichen Bindungen als Jungfräulichkeit dargestellt. Alle diese weiblich beschriebenen Merkmale erlangen eine überzeitliche und universelle Ausdehnung. So versteht Eckhart die Jung­ fräulichkeit als nicht nur für Maria spezifische Situation, sondern sie verwandelt sich in eine feste und zugängliche Gelegenheit für alle Men­ schen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das folgende Zitat, das die verschiedenen Aspekte der Begriffswerdung zusammenführt: »Notwendig muss es so sein, dass sie eine Jungfrau war, jener Mensch, von dem Jesus empfangen ward. Jungfrau besagt soviel wie ein Mensch, der von allen fremden Bildern ledig ist, so ledig, wie er war, da er noch nicht war.«408

Damit lehnt Eckhart das christliche Dogma nicht ab, noch relativiert er seinen Inhalt, auch reduziert er die Bedeutung nicht auf eine meta­ phorische Konnotation. Sondern er akzeptiert zwar die vorherrschende Bedeutung, eröffnet aber neue Anwendungsbereiche in unterschiedli­ chen – insbesondere menschlichen – Kontexten. Hier zum Beispiel besteht kein Zweifel an Marias körperlicher Jungfräulichkeit; mit ›Jung­ frau‹ bezeichnet er den von der Welt gereinigten Geist. Oder mit ›Sohn‹ ist natürlich die Person der Dreifaltigkeit gemeint, zugleich aber auch jedes Individuum aufgrund der seelischen Geburt Gottes. Entscheidend für Eckhart ist die Erzeugung der Einheit sowohl im Wort als auch in der Wirklichkeit. Wenn zum Beispiel die Geburt in dem Sein geschieht, muss es ein semantisches Äquivalent haben. Ebenso wie zwischen Gerechtig­ keit und Gerechtem oder Schönheit und Schönem auch eine Art der Beziehung ist. Da jeder Begriff seine eigenen semantischen Elemente vereint, gebiert es auch sich selbst. Diese semantische Geburt ist eine direkte Widerspiegelung der ontischen Geburt in der Sprache. Genau wie die Ewigkeit der göttlichen Geburt ist die Selbstgeburt des Begriffs immerwährend; das heißt, solange Schönheit existiert, wird das Schöne 408

Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 24, 9–13. Siehe auch: Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 32.

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erzeugt. Eckhart möchte jeden Aspekt, den er in der Realität vorfindet, sprachlich inszenieren. Die spirituelle Bedeutung von menschlichen und geschlechtlichen Merkmalen, wenn man sie von ihren materiellen Realitäten abstrahiert, hat eine Beziehung zur göttlichen Gabe, zum Geist. Daher ist die Offen­ barung, die alle religiösen Idee durchdringt, nicht nur die Information, die man durch das Lesen des Textes erhält. Der Leser entdeckt den in der Bibel erwähnten Christus in sich selbst. Durch die seelische Verwandlung in Christus empfängt sie/er die fortfahrende Offenbarung: »wer ihn nicht zu finden weiß, versteht die Schriften nicht«.409 Eckhart ist der Meinung, dass der eigentliche Sinn der Offenbarung erfahrbar ist, wenn man die vom Text aufgezeigte Wahrheit mit der immanenten Wahrheit verbindet. Deshalb geht es bei den Allegorien in der Bibel also nicht nur um ver­ schiedene metaphorische Zeichen, sie sind auch das innere Äquivalent des Wortes.410 Beispielsweise heißt es, dass »unser Herr die Schar verließ und auf den Berg ging« (Matth. 5,1), bei der Interpretation dieses Verses fügt Eckhart den Wörtern Berg und Schar neue Bedeutungen hinzu und sagt, dass »auf den Berg gehen« die Himmelfahrt zu Gott bedeutet. Dieser Versuch ist nicht die Leugnung der unmittelbaren Aussage des Textes, sondern die Entdeckung der esoterischen Bedeutungen, während gleichzeitig das historische Ereignis akzeptiert wird. Die wahre Bedeu­ tung der Offenbarung wird zusammen mit der inneren Erfahrung des Menschen geboren. Damit ist die Offenbarung als zu lesender Text von der Objektivierung befreit; auch der Leser ist weit davon entfernt, ein intellektuelles Subjekt zu sein. Wie im Sein und in der Sprache muss die duale Reflexion im Denken vereint werden. Eckhart spricht auch mit einem Hauch von göttlicher Einheit in sich selbst, wenn er das Evangelium in seinen Predigten interpretiert. In seiner Darstellung der Gottes-Geburt wandelt er die transzendentale Erkennt­ nis in eine gegenwärtige Erfahrung um, indem er sagt: »er gebiert mich«. Dies ist weder ein bloßer Versuch einer intellektuellen Bestrebung noch die Durchführung eines religiösen Rituals. Aufgrund dieser Herange­ hensweise an Sprache und Denken kann Eckhart als Mystiker bezeichnet werden. Mit dieser semantischen und ontologischen Integration erkennt er, dass er sich von der gängigen theologischen Tradition unterscheidet.411 Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik, S. 303. Über die parabolische Methode vgl. Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik, S. 302. 411 Vgl. Eckhart: Buch der göttlichen Tröstung, Die deutschen Werke, Bd. 5, S. 60. 409 410

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Nach Vermittlung der aktuellen Meinungen zu vielen biblischen Themen äußert er seine eigene Meinung mit Betonung: »Ich aber sage«.412 Einige dieser Ansichten wichen vom scholastischen Verständnis ab und wurden von den Inquisitoren als irrgläubig angesehen.413 Um zu sehen, dass Eckhart ein neues Denken begründete, wäre es sinnvoll, einige Aspekte mit der thomistischen Lehre zu vergleichen, die ab dem späten Mittelalter zur prägende Auslegung des Katholizismus wurde. Während es keinen Unterschied in der Akzeptanz der grundle­ genden christlichen Dogmen gibt, gibt es Unterschiede in deren Inter­ pretation. Der methodische Unterschied im Verständnis der biblischen Wahrheit liegt in Eckharts Auffassung vom Erkennen als innerer Erfah­ rung. Offenbarung ist für den Menschen einigermaßen verständlich, da jedes Glaubensprinzip auch eine seelische Erfahrung für sich ist. Auf der anderen Seite akzeptiert Thomas die Unzugänglichkeit des menschlichen Wissens über einige mysteriöse Aspekte der Offenbarung. Nach diesem Ansatz, der auf der göttlichen Transzendenz und der Einschränkung des menschlichen Verständnisses beruht, haben Menschen beispielsweise keine Kompetenz, das Wesen der göttlichen Geburt zu verstehen. Der Verstand ist nicht einmal in der Lage, selbst die wahrgenommene Welt zu begreifen. Da zum Beispiel die Argumente dafür und dagegen, ob die Welt ewig ist oder nicht, gleichwertig sind, ist es der Vernunft nicht möglich, daraus Schlüsse zu ziehen. In dieser Angelegenheit muss man an einen von beiden Ergebnisse glauben.414 Derselbe Verstand ist in transzendenten Themen der Göttlichkeit noch eingeschränkter. Eckhart aber glaubt, dass es keine Realität gibt, deren Wissen nicht erreicht werden kann, da er religiöses Erkennen als eine inhärente Erfahrung sieht. Dadurch werden die verborgenen Kenntnisse der Offenbarung in der Einheit mit Gott, der die Quelle der Offenbarung ist, enthüllt. Damit spricht Eckhart nicht direkt über die rationale Begründung der Dreieinigkeit etc., wie vorher manche christlichen Philosophen wie Petrus Abelardus (gest. 1142) behaupten. Er spricht über das Erlebnis der Dreifaltigkeit im Inneren mit der Vereinigung des göttlichen und menschlichen Geistes. So ist es nicht nur ein Erkennen, es ist auch ein Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 63. Langer, Otto: »Meister Eckharts Begründung einer neuen Theologie« in: Meister Eck­ hart aus theologischer Sicht, hrsg. von Volker Leppin, Hans-Jochen Schiewer, 1, 2007, S. 1– 20. Vgl. Mieth: Meister Eckhart. Einheit mit Gott, S. 21. 414 Vgl. Tillich, Paul: A History of Christian Thought. From its Judaic and Hellenistic Origins to Existentialism, New York 1972, 192–198. 412

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Leben. Der ontologische Grund, auf dem diese erkenntnistheoretische Alternative ruht, ist die Relation zwischen dem Schöpfer und dem Geschaffenen. Eckhart argumentiert, dass der für Gott und Mensch verwendete Begriff »Sein« nicht nur eine sprachliche Gemeinsamkeit ist, sondern als analogia attributionis eine reale Einheit. Thomas lehrt jedoch, dass Gott ein absolutes Sein und Mensch ein kontingentes Sein darstellt. Der offensichtlichste Indikator für Eckharts linguistische und ontologische Differenzierung von der Tradition ist seine Herangehens­ weise an die Analogie. Seine Konzeptualisierung und Interpretation der Grundthemen der Theologie wird durch seine Verwendung der Analogie originell, worauf später eingegangen wird.415 Die ideelle Eigenart von Eckharts Mystik wurde sowohl vom philo­ sophischen Denken beeinflusst als auch von der katholischen Theologie gespeist. Kurt Flasch ist der Meinung, dass er seine Lehre unter dem Einfluss der Begriffe und der Inhalte der arabischen Philosophie ent­ wickelt hat. Sicherlich braucht diese These Unterstützung durch weitere Forschungen, und die im Kapitel zu Ibn al-ʿArabī erwähnten Wirkungen von Avicenna (Ibn Sīnā) und Averroes (Ibn Rušd) werden nun hier in einigen Aspekten behandelt: Als Nachfolger von Dietrich und Albert akzeptierte auch Eckhart erst die Naturkunde von Avicenna und im Rahmen seiner Fragestellung überträgt er die grundlegenden Probleme avicennischer Seinslehre auf sein Denken.416 Die vorrangige Quelle von Eckhart ist nach Flaschs Feststellung die Interpretation von Über die Seele, eine neuplatonische Aristoteles-Lesung von Avicenna. Dieses Werk beschäftigt sich mit Ideen wie Wesen, Wirkursache, Ersterkanntes – einige der Begriffe werden bei Eckhart einen Bedeutungswandel erleben. Auch bei Eckhart sind die Spuren der Identifizierung von Erkennen und Sein zu sehen. Nebenbei weist die Idee der Seelen, die im Zentrum seines Menschenbildes steht, Parallelen auf. Die Wurzeln der Annäherung an zwei Gesichter der Seele, die in der menschlichen Differenz eine zen­ trale Rolle spielen, können in seiner Avicenna-Lektüre gesucht werden. Aristoteles- und Avicenna-Rezeptionen treten in der Unterscheidung zwischen Aktivem und Passivem, Form und Materie auf, die sich auf die Wahrnehmung von Geschlechtern auswirken. Flasch, Kurt: Meister Eckhart, S. 106, 132–134. »Die große Anzahl von Avicenna-Zitaten bei Eckhart erklärt sich auch dadurch, dass Eckhart immer wieder Hinweise auf empirische Tatbestände einschob, die er im Anschluss an Avicenna beschrieb.« So Flasch, Kurt: Meister Eckhart: Die Geburt der ›Deutschen Mys­ tik‹ aus dem Geist der arabischen Philosophie, München 2006, S. 132. 415

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Neben Avicenna sollte auch der Einfluss von Averroes berücksich­ tigt werden, weil er schon in dem frühen Studium den aristotelischen Thesen begegnete, die in Paris besonders einflussreich waren. Einige der 1311 verurteilten ketzerischen Philosophen wurden verfolgt, andere verließen Frankreich und flüchteten sich in den Schutz der deutschen Fürsten. Die Tatsache, dass für Eckharts Prozess ein ähnlicher Grund gesucht werden kann, ist im Hinblick auf den Einfluss der averroistischen Philosophie und auch der Quellen der Mystik Eckharts bemerkenswert. In seinem frühen Werk Pariser Quaestiones vertritt er eine ähnliche Haltung wie die Averroisten: die Priorisierung des Erkennens gegenüber dem Sein.417 Damit sind die Übereinstimmungen zwischen Themen wie die Ewigkeit der Welt, die Einheit von Geburt und Emanation, das Seelenverständnis, deren Deutung in seinem Prozess Punkte der Anklage wurden, und den Artikeln des Konzils von Vienne gegenüber den Aver­ roisten auffallend.418 Auch erinnert die Behauptung der Verachtung der Gebete an die Anschuldigungen gegen die averroistische Philosophen.419 Infolgedessen brachten gleiche Vorwürfe in der Inquisition die Philoso­ phen und Eckharts Mystik mit dem Verdacht der Häresie zusammen. Eine andere Strömung, die die Quelle von Eckharts Lehre ist, waren die Mystikerinnen seiner Zeit. Viele neuere Studien zeigen, dass eine ähnliche Situation wie bei Ibn al-ʿArabī auch für Eckhart in Frage kommt: der weibliche Einfluss. Die Übereinstimmung der Begriffe und der Methodik seiner Lehre mit einigen Theologinnen und Beginenmys­ tikerinnen führt zur Untersuchung der Beziehungen Eckharts zu Frauen. Nach seinem zweiten Magisterium, das von der rheinisch-flämischen Mystik beeinflusst war, entwickelte Eckhart seine Begriffe unter der Einwirkung mystischer Strömungen. Nicht nur seine Begriffe, sondern auch seine Rhetorik tragen die Spuren der Beginen.420 Die Studien von Kurt Ruh und Emilie zum Brunn bestätigen die These, dass Eckharts Mystik nach der Begegnung mit den Beginen inhaltlich und konzeptuell Er stellt fest, dass ein Priester in Paris Zweifel an der Beziehung zwischen göttlichem Sein und Erkennen hat, und möchte ihm antworten. »Drittens zeige ich, dass es mir nicht mehr so erscheint, dass er, weil er ist, deshalb erkennt, sondern weil er erkennt, deshalb ist, und zwar so, daß Gott Intellekt und Erkennen ist und eben das Erkennen Grundlage eben des Seins ist«. Vgl. Jung, Christian: Meister Eckharts Philosophische Mystik, Marburg 2010, S. 22. 418 Über seine Ansicht, dass die Seele nicht geschaffen (increatum) ist: Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 5, S. 599. 419 Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 5, S. 598. 420 Vgl. Zum Brunn, Emilie: Women mystics in medieval Europe, New York 1989, S. 32. 417

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entstand. Peter Dinzelbacher und Bernard McGinn entfalten als Prinzip dieser Annäherung, dass Eckhart mit seiner philosophischen Denkweise dieses weibliche Erbe neu formuliert.421 Könnte die Beziehung zu Frauen einen Einfluss auf Eckharts Lehre gehabt haben, die besonders Gott und Mensch sowie Mann und Frau im Wesentlichen vereint und gleichsetzt? Um auf diese Frage aufmerksam zu machen, verweisen wir nun auf die grundlegenden Merkmale dieses gedanklichen Verhältnisses. Eine der Vorläuferinnen der mittelalterlichen Frauenmystik war Mechthild von Magdeburg, die Eckhart sicherlich schon in seiner Jugendzeit bekannt war. In ihrer frühen Bildung beschäftigte sie sich mit den spirituellen Erlebnissen, die in Anlehnung an das in der späteren Sammlung Das fließende Licht der Gottheit422 geschriebene veröffentlicht wurden. Das siebenteilige Werk thematisiert mit der Metapher der Hochzeit die Vereinigung der Liebenden und die Einheit der Seele mit Gott (unio mystica).423 Eckhart wird die existentielle Liebesbeziehung zwischen der Seele und dem Sohn im Rahmen von Brautmystik weiter­ entwickeln. Eine andere Mystikerin, Hadewijch, die in der Mitte des 13. Jahrhunderts in Brabant lebte, verfasste Sendbriefe, Visionen und Gedichte, die zu den wichtigsten Quellen der häretischen Frauenbewe­ gungen zählen. Die Verbindung der aus 29 Gedichten bestehenden Kollektion Mengeldicht mit Eckharts Lehre wird mit Parallelen deutlich. Beide Mystiker betrachten die Emanation des Seins für den Existenz­ grund der Seienden, was als von Gott zum Menschen verwirklichtes Hervorgehen und umgekehrt als ein Aufstieg des Menschen zu Gott für die Einheit des Seins interpretiert werden kann. Der Mensch braucht die Vollkommenheit und Einheit der Seele, um diese Wahrheit zu genießen. Eine weitere Mystikerin, die Eckhart beeinflusst hat, war Marguerite Porete, eine der außergewöhnlichsten Personen der Ideengeschichte. Eckhart, der sich zum Zeitpunkt ihrer Hinrichtung in Paris aufhielt, war höchstwahrscheinlich auf das Buch von Marguerite Spiegel der einfachen Seelen begegnet, das sich rasch in Europa verbreitete. Marguerite war eine Wegbereiterin darin, dass sie nicht eine klassische theologische Methodik verfolgte, sondern eine literarische, die die Begriffe des

Vgl. Langer, Otto: Mystische Erfahrung und spirituelle Theologie. Zu Meister Eckharts Auseinandersetzung mit der Frauenfrömmigkeit seiner Zeit, Zürich 1987, S. 41–47. 422 Vgl. Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit, hrsg. von Gisela Vollmann, Frankfurt am Main 2010. 423 Daives: Meister Eckhart, S. 59–60.

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täglichen Lebens beinhaltete.424 In diesem Zusammenhang hat auch Eckhart eine Sprache der Mystik entwickelt, die vor allem durch seine Predigten sehr einflussreich war. Kurt Ruh fasst die Beziehung zwischen Marguerite und Eckhart folgendermaßen zusammen: »1. Eckhart hat den Mirror (Spiegel) der Marguerite Porete, in welcher Form auch immer gekannt. 2. Er hat entscheidende Aussagen dieses Buches – die seinen eigenen Vorstellungen entsprachen oder entgegenkamen – aufgegriffen und ihnen, seiner Meinung nach, eine präzisere, theologisch vertretbare Formulierung gegeben.«425 Könnte Eckharts Faszination für die weibliche Mystik als Grund für die Anklage durch die Inquisition gelten? Der Kölner Bischof prozes­ sierte nicht nur gegen Eckhart, sondern auch gegen die Beginen und andere Frauenmystikerinnen. Das zeigt die Bedeutsamkeit von Eckharts Beziehung zu den Frauen in der Prozesshandlung. Einige Passagen der Reden in Frauenklöstern wurden in den Klageschriften zitiert. Die Unruhe der Kirche kann auf zweierlei Art interpretiert werden: Die Diffamierung seiner Aussagen war gang und gäbe, denn laut Kirche wurde durch sie das einfache Volk verführt und der wahre Glauben ver­ nebelt.426 Daneben unterscheidet sich Eckhart von Marguerites Spiegel der einfachen Seele, Hadewijchs Sendbriefen, Visionen und Mechthilds Das fließende Licht der Gottheit aufgrund des philosophischen und wissenschaftlichen Inhaltes seiner Werke. Seine Mystik basiert auf einem neuen Programm mit philosophischem Gehalt, der sich besonders in seinen lateinischen Schriften, in der universitären Schreibmethodik und in den deutschen Predigten mit einer intellektuellen Argumentation äußert. Bei Eckhart hat die volkstümliche Minnemystik eine inhaltliche und sprachliche Wende hin zur Wesensmystik erlebt.427 Aufgrund seines Vgl. Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik: Bd. 3, S. 350–356. Ruh: Meister Eckhart, S. 104. Der Kreis von jungen Theologen war sicherlich über die Pionierin der Frauenfrömmigkeit informiert. Grundmann und Koch bringen diese historischen Daten vor, um die Beziehung zwischen Marguerite und Eckhart zu belegen. Für weitere Argumentierung siehe: McGinn, Bernard: Meister Eckhart and the Beguine Mystics, NewYork 2001, S. 70. 426 Vgl: Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 5, S. 596–600. 427 Dinzelbacher über die Einordnung von Eckharts Mystik: »Wir verstehen also unter Mystik zentral ein bestimmtes religiöses Erleben. Es besteht in der stets kurzfristigen Aufhe­ bung des Unterschiedes zwischen dem Subjekt des religiösen Strebens, der menschlichen Seele, und dem Objekt, das angestrebt wird, Gott. Dies erfolgt im lateinischen Mittelalter in drei historisch belegbaren Weisen. Erstens vor allem in der Form der Braut- oder Minne­ mystik, also einer phantasierten erotischen, durchaus orgastischen Verschmelzung. Dies erfolgt zweitens auch in Form einer quasi ontologischen Identitätserfahrung von Seele und 424 425

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theologischen Werdegangs versuchte er die philosophische Tradition und dominikanische Spiritualität mit der Frauenmystik zu verbinden. All diese vielfältige Einflüsse ermöglichten es ihm, eine originelle Lehre in der Geschichte des christlichen Denkens zu entwickeln.

2. Seinslehre und Seinsmitteilung 2.1. Sein und Gott In der Geschichte des christlichen Denkens wird der Begriff »Sein« in Bezug auf die umfassende und unveränderliche göttliche Natur (grie­ chisch ousia, lateinisch essentia), also für den Schöpfer verwendet; er wird aber auch für Kreaturen mit einer erschaffenen Natur, die sich je nach Zeit und Raum ändert, verwendet. Die Bedeutungen für die Existenz der Dinge, sei es für Gott oder den Menschen, treffen in einem gemeinsamen Wort »esse« zusammen. Wie seine Zeitgenossen beschäf­ tigt sich Eckhart mit den ontologischen Inhalten, die von Avicenna in den lateinischen Westen übertragen wurden und die insbesondere Thomas teilweise akzeptiert und teilweise ablehnt. In seinem Werk De ente et essentia diskutiert Thomas das Thema Sein mit direktem Bezug auf Aristoteles und Avicenna. Während Sein als Erste Bestimmung für alle Dinge verwendet werden kann, bezieht sich »das Sein« dennoch nicht auf eine konkrete Realität. Das heißt, während Menschen den Begriff des Seins selbst nicht erfahren können, können sie »dieses oder jenes« Sei­ ende wahrnehmen. Das Sein als umfassender Begriff ist nicht zu fassen, allerdings werden die Dinge draußen wahrgenommen und ihre Natur erkannt. Insofern bezieht sich das lateinische »ens« (altgriechisch ón) auf das wahrgenommene Konkrete, während »esse« (altgriechisch eĩnai) ein inklusiver abstrakter Begriff ist. Esse oder ens, beide Wörter zeigen den Zustand des Existierens in ihren Bedeutungen an. Obwohl Dinge hinsichtlich ihres Existierens unterschiedliche Kompetenzen haben (z. B. unendlicher Gott und endlicher Mensch) – daher werden im Lateini­ Gottheit, die als Wesensmystik bezeichnet wird; psychologisch läßt sie sich vielleicht als kurzzeitige Vereinigung von Ich und über-Ich fassen.« So Dinzelbacher, Peter: »Zur Sozi­ algeschichte der christlichen Erlebnismystik im westlichen Mittelalter«, in: Wege mystischer Gotteserfahrung. Mystical Approaches to God: Judentum, Christentum und Islam. Judaism, Christianity, and Islam, hrsg. Peter Schaefer (Schriften des Historischen Kollegs, Bd. 65), Oldenburg 2006, S. 121.

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2. Seinslehre und Seinsmitteilung

schen unterschiedliche Wörter bevorzugt –, kann die Aussage »existiert« jedem Seienden zugeschrieben werden. Es gibt also eine Analogie der »convenientia proportionalitatis« für Thomas, die es ermöglicht, den Begriff des Seins in Bezug auf verschiedene Dinge – in verschiedenen Ebenen des Seins zu verwenden. So ist für Thomas diese Analogie sprach­ lich. Aufgrund der Transzendenz der Göttlichkeit gibt es keine ontische Verbundenheit zwischen dem Schöpfer und den Geschöpfen. Thomas verwendet die Argumente der negativen Theologie, um die göttlichen Attribute von der kreatürlichen Vergänglichkeit auszuschließen.428 Um die beiden Seinsebenen zu unterscheiden, akzeptiert Thomas Avicennas Rahmen: Gottes Sein muss gedacht werden (esse absolutum), weil sein Sein von ihm selbst stammt; da die Kreatur einen anderen (d.h. Gott) braucht, um zu existieren, liegt sie im kontingenten Bereich des Seins. Der geschaffene Gegenstand hat die Möglichkeit, gleichzeitig zu existieren und zugrunde zu gehen. Kreatur existierte also, ohne an sich zu sein, das ist Schöpfung. Gott hingegen hat das Sein von sich selbst (ipsum esse). Aus diesem Grund ist eine existentielle Gleichrangigkeit zwischen dem der Kreatur zugeschriebenen Seinsbegriff und dem für Gott verwen­ deten Seinsbegriff nicht in Betracht zu ziehen. Diese Unterscheidung führt Thomas, wie Avicenna, dazu, das (absolute) Sein mit Gott zu identifizieren, weil er vollständig und wahrhaftig existiert. Substanz in Gott ist sein ipsum esse und sein Wesen und sein Sein sind eins.429 Die Verwendung des Seinsbegriffs bei Eckhart erscheint auch als zweifache, vor allem in der Linie von Avicenna und Thomas.430 Auf der einen Seite steht esse in Bezug auf Gott und auf der anderen Seite »esse hoc et hoc« (dies und das) in Bezug auf das Geschaffene. Wiederum hat nach ihm alles, was ein Wesen hat, ein Sein, und Wesen und Sein sind eins in Gott.431 Und das Sein gehört Gott in seiner Vollkommenheit. Außerhalb des Seins ist ein undenkbares Nichts: »Außerhalb des Seins und vor dem Sein ist einzig das Nichts«.432 Auch wenn Eckhart seinen Vgl. Forschner, Maximilian: Thomas von Aquin, München 2006, S. 48–55. Vgl. Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustinus bis Machia­ velli, Stuttgart 2001, S. 379. 430 »Die Zweifachheit des Seins ergibt sich für Eckhart jedoch vor allem aus der Zweifach­ heit der Ursachen: auf der einen Seite steht die Erstursache, die, causa prima, auf der anderen Seite die Zweitursachen, die causae secundae…« So Albert, Karl: »Der philosophische Grundgedanke Meister Eckharts«, in Tijdschrift voor filosofie, Bd. 27, 1965 S. 323. 431 Vgl. Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Die lateinischen Werke, hrsg. von Konrad Weiss, Loris Sturlese, Stuttgart 1964, Bd. 1, S. 298 432 Vgl. Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik: Bd. 3, S. 300. 428 429

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Kapitel II. Meister Eckhart

Vorgängern zu folgen scheint, ist eine Wende in seiner intellektuellen Entwicklung erkennbar. In seinen späteren Schriften gibt es keinen Zweifel über die Verwendung des Begriffs des Seins in Bezug auf Gott und Geschöpfe. Während er das Sein Gottes als absolutes bezeichnet, beschreibt er das Sein der Geschöpfe als Partikular (dies und das / esse hoc et hoc / einzelne Seiende). Die Grundannahme von Opus Tripartitum beruht auf der Identifizierung einer umfassenden Idee des Seins mit Gott. Er stellt jedoch in seinem frühen Werk Pariser Quaestionen fest, dass das Wort esse nur Geschöpfen vorbehalten ist und nicht für Gott verwendet werden kann.433 Indem er Gott von dem den Geschöpfen zugeschriebenen Sein abhebt, weil Gott auch dem Sein überlegen ist. Diese beiden unterschiedlichen Ansätze, die als Zeichen von Verwirrung oder intellektueller Transformation wahrgenommen werden können, ergänzen sich, wenn Eckhart ganzheitlich gelesen wird. Während er in den Pariser Quaestionen betont, dass Gott dem für Kreaturen verwen­ deten Idee von Sein überlegen ist, wird in Opus Tripartitum aufgrund dieser Überlegenheit seine göttliche Gegenwart mit lauterem Sein iden­ tifiziert.434 Pariser Quaestionen: Für die kreatürlichen Dinge verwendetes »Sein« kann nicht Gott zugeschrieben werden; Opus Tripartitum: In voller Vollkommenheit, Transzendenz und Reinheit ist das Sein Gott. Mit anderen Worten, wenn das Wesen sich von dem Sein unterscheidet, entstehen Geschöpfe; ist das Wesen eins mit dem Sein, dann ist Gott gemeint: Das Sein ist Gottes Wesenheit (essentia). »Von Avicenna ist zu lernen: Gott ist das Sein, er ist seinem ganzen Wesen nach das Sein, se toto est esse, er schuf alles, damit es ihm ähnlich, also seiend sei.«435

Vgl. Albert: Der philosophische Grundgedanke Meister Eckharts, S. 331. »Wenn ich aber gesagt habe, Gott sei kein Sein und sei über dem Sein, so habe ich ihm damit nicht das Sein abgesprochen, vielmehr habe ich es in ihm erhöht.« Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 107. Vgl. Jung: Meister Eckharts philosophische Mystik, S. 41. Vgl. Ruh, Kurt: Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik, München 2006, S. 271. 435 Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke, Die lateinischen Werke, hrsg. von Heribert Fischer, Josef Koch, Konrad Weiss, Stuttgart 1964, Bd. 2, S. 558. »Eckhart teilt Avicennas Lehre, die erste charakteristische Eigenart Gottes sei, das Sein zu sein«, Flasch: Meister Eckhart: Die Geburt der ›Deutschen Mystik‹, S. 130. 433

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2. Seinslehre und Seinsmitteilung

In der bisherigen Erklärung hat sich Eckharts Begriff des Seins noch nicht von der Thomas- oder der Avicenna-Tradition unterschieden. Wie Karl Albert betont, beginnt die Divergenz, als Eckhart das avicennische Verständnis von »Gottes Wesen sei sein Sein« noch weiterführt. Seine vollständige Identifizierung Gottes mit dem Sein »Esse est Deus« sollte zu einer der zentralen Thesen seiner Lehre werden. Neben seiner Akzeptanz des philosophischen Erbes wird er auf der christlichen Verkündigung seine Lehre aufbauen: »Esse est Deus« basiert auf der Exegese von »Ich bin, der ich bin« (ego sum qui sum) (Ex 3, 14). Wie sein Vorgänger Thomas fängt er im Vers »ego sum qui sum« eine Bedeutungseinheit ein, an der Ontologie und Theologie sich kreuzen. Laut Eckhart kommen in sum Subjekt und Prädikat zusammen, und »Gott ist« bedeutet, dass es ein reines (lauteres) Wesen ist. Die Zusammenkunft von ego mit sum bestätigt die Einheit von esse und essentia im göttlichen Wesen. Wiederum, basierend auf diesem Satz, listet Eckhart fünf rationale Argumente auf, warum Gott mit dem Sein identisch ist; zusammenfassend ergibt sich die Antwort auf diese Frage, dass er existenzstiftender Natur ist. Da nichts anderes als das Sein existieren kann, gehört das Sein Gott. Was auch immer als kontingent oder dies und das definiert wird, Kreaturen können nicht aus dieser einen Einheit herauskommen, indem sie ihr Sein annehmen. In dieser Richtung ist der Begriff des Seins univok, Gott eigen. Das mit Gott identische esse ist das wahre und ideale Sein, es umfasst alle Bedeutungen des Seins im absoluten Sinne.436 Die als esse hoc et hoc existierende Kreatur nimmt ihr Sein vom Idealen. Aus diesem Grund wird der Begriff des Seins in Bezug auf die Kreaturen im analogen Sinn verwendet: nicht univok, sondern analog.437 Die Kreaturen empfangen ihre Existenz unmittelbar von Gott als unum, verum, bonum. Somit sind esse, unum, verum, bonum erste und gemeinsame (communia) Bestimmungen der Geschaffenen.438 Der Gott als existenzspendende Quelle verleiht Sein, damit auch Güte und Gerechtigkeit. Auf der anderen Seite hat die Schöpfung zwar keine eigene Realität, aber »ist« durch diese existentielle Gabe.439

Vgl. Albert: Der philosophische Grundgedanke Meister Eckharts S. 321–322. Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke, Die lateinischen Werke, hrsg. von Karl Christ, Bruno Decker, Heribert Fischer, Josef Koch, Loris Sturlese, Stuttgart 1994, Bd. 3, S. 84. 438 Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3, S. 300. 439 »Alle Kreaturen haben kein Sein, denn ihr Sein hängt an der Gegenwart Gottes. Kehrte sich Gott nur einen Augenblick von allen Kreaturen ab, so würden sie zunichte.« Meister 436 437

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Kapitel II. Meister Eckhart

Es ist offensichtlich, dass dieses Verständnis des Seins innerhalb des platonischen Rahmens entwickelt wurde, er vermittelt sogar einige platonische Darstellungen. Die Analogie der Seinsgabe mit dem Sonnen­ licht hat ihre Wurzeln im sechsten Buch von Platons Politea. Objekte sind wie Reflexionen, die ihr Licht von der Sonne empfangen. Wie die Sonne, die die Quelle aller Lichter ist, ist Gott die Quelle allen Existie­ rens. Eckhart sieht in dieser Richtung das Sein vollständig als zu Gott gehörig an. Deswegen wurde die existentielle Relation zwischen Gott und Kreatur als »analogia attributionis« bezeichnet. »Der Unterschied zwischen der Analogielehre Eckharts und der des Thomas von Aquin liegt vor allem darin, dass bei Eckhart das analoge Verhältnis herrscht zwischen dem ungeschaffenen Sein Gottes und dem ungeschaffenen Sein des geschaffenen Seienden.«440 Gerade in diesem Zusammenhang unter­ scheidet er sich von der sprachlich begründeten thomistischen Analogie. Denn für Thomas kann das Sein sowohl für Gott als auch für die Schöpfung verwendet werden. »Bei Thomas besteht Analogie zwischen dem ungeschaffenen Sein (Gottes) und dem geschaffenen Sein«.441 Eckhart hingegen akzeptiert, dass es eine Seite in der Kreatur gibt, die die Exis­ tenzgabe empfängt, da er das Sein als vollkommen einzigartig für Gott betrachtet. Jedes erschaffene Ding erhält aus seinem göttlichen Aspekt die existenzstiftende Wirkung von Gott. In dieser Substanz der Kreatur besteht eine existentielle Verbundenheit zwischen Gott und Mensch. Angesichts der Grundidee von Eckhart ist es jedoch unangemessen, es als Partizipation zu bezeichnen, letztendlich sind Gott und Mensch im Grunde vereint. So bildet die Analogie zwischen Gott und Mensch die Säule seiner Mystik, da sie sowohl die Annahme der Einheit der beiden Parteien als auch die Verleihung einer göttlichen Qualität an die Dinge ermöglicht. Dinge haben beide zusammen: göttliche sowie geschaffene Aspekte. Der erste, der später analysiert wird, bildet die göttliche Substanz der Seele, die das Wesen der Menschheit ist, während der andere die auf die Körperlichkeit gerichtete Seite der Seele bildet. Auch im göttlichen Sein kommen zwei Antlitze zusammen, von denen das eine die pure Essenz ist und das andere die Schöpfung berührt, die existenzstiftende Seite, die die Welt erschaffen hat, wird nach Eckhart »Gott« genannt. Die transzendente Seite, die rein von allen Schöpfungsakten ist, nennt Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke. Die deutschen Werke, hrsg. von Josef Quint, Stuttgart 1957, Bd. 1, S. 79. 440 Albert: Der philosophische Grundgedanke Meister Eckharts, S. 327. 441 Ebd. S. 327.

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2. Seinslehre und Seinsmitteilung

er »Gottheit«. Die Unterscheidung der beiden Seiten bildet das Zentrum von Eckharts Gottesbild: »Gott und Gottheit sind so weit voneinander verschieden wie Himmel und Erde«.442

Gott wandte sich der Vielfalt zu, indem er sich der Schöpfung zuwandte; in der Gottheit hingegen herrscht vollkommene Einheit: »Alles das, was in der Gottheit ist, das ist Eins, und davon kann man nicht reden«.443

In seiner Erhabenheit ist die Gottheit sogar dem Schöpfergott überlegen, denn sie ist auch die Quelle des Gottseins. Die Dreieinigkeit ist aufgrund der vorherrschenden vollständigen Einheit noch nicht manifestiert wor­ den. Die drei Prinzipien sind also in der Gottheit vereint. Um diesen puren und reinen Zustand der Gottheit zu beschreiben, macht Eckhart einige Darstellungen, von denen man Spuren in der neuplatonischen Tra­ dition findet: in silentio oder die stille Wüste.444 An manchen Stellen wird als Seinsgrund auch der Gottesgrund genannt. Damit identifiziert er die Gottheit in den Pariser Quaestionen mit Erkennen. Erkennen ist das Sein Gottes: »Erkennen stellt die Grundlage seines Seins dar«.445 Dieses reine Erkennen in der Gottheit ist identisch mit ihr. Seine Selbsterkenntnis ist sein eigenes Sein. Insofern sind Erkennen und Erkennende (intellectus und intelligere) in Gott eins, und das ist das Sein Gottes. Er beschränkt jedoch das göttliche Sein nicht auf die pure Essenz, sondern schließt auch Gott ein, der in den Kreaturen fließt, sie hiermit berührt. Auf der Stufe, in der die Schöpfung stattfindet, wird das Existenzgebende also Gott genannt. In dieser Phase manifestierten sich zunächst der Sohn und der Heilige Geist. Nun hat Gott eine existenzielle Beziehung zu denen, die aus ihm hervorgehen. Gott ist in seinem schöpferischen Aspekt mit den Kreaturen in Einheit. Insofern gibt es nichts außerhalb von ihm: Alle Werke Gottes geschehen in Gott selbst: »omne quod deus creat, operatur vel agit«446, da außerhalb esse nichts existiert. Es ist nichts 442 Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 4, S. 758; 32–33; Eckhart: Deutsche Predigten und Traktate, S. 272. 443 Vgl. Werke, Bd. 2, S. 325. 444 Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 3, S. 214; Die deutschen Werke, Bd. 2, S. 420. 445 »ipsum intelligere fundamentum ipsius esse« Vgl. Wagner, Claus: »Eckharts neue Meta­ physik«, Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie, Bd. 31, Heft 1–2, Freiburg 1984, S. 195. 446 Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 1, S. 161.

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Kapitel II. Meister Eckhart

anderem als dem göttlichen Sein möglich, zu existieren und zu leben. Da also im mit dem Sein identifizierten Gottesbegriff zwei Aspekte vereint sind, darf es keine ontologische Trennung zwischen Seins-gebenden und -empfangenden geben: »In ihm ist alles eins, omnia unum«.447

2.2. Seinsmitteilung Wie bei der Identifizierung von Sein und Gott entwickelt Eckhart seinen Schöpfungsansatz im Rahmen von Avicenna und Thomas. Er zögert nicht, das Verhältnis von Schöpfung zu Emanation zu beschreiben: Schöpfung (creatio) ist die Emanation (emanatio) der Vielzahl des Seienden aus dem Universellen Sein (ente universale). Nach Thomas sind alle einzelnen Seienden einem einzigen Agenten entsprungen, der Gott ist, die universelle Ursache (causa universalis). Die Emanation findet in einem Augenblick statt, da Gott sein Wesen (essentia) kennt. Gott, der das aktuelle Sein an sich ist, verleiht den Dingen ihre Realität durch Erkennen. Allerdings hängt der Punkt, an dem sich Thomas von Avicenna unterscheidet, mit dem Emanationsfluss zusammen. Avicenna, basierend auf »ibdā‘“ im Sinne einer zeitlosen Schöpfung ohne Vermitt­ ler, behauptete, dass der erste Intellekt direkt und augenblicklich aus Gott hervorging. Thomas kritisiert Avicennas Verständnis (von ibdā‘) und befürwortet die Schöpfung aus dem Nichts: creatio ex nihilo. Avicenna ist überzeugt, dass die kreatürliche Vielfalt allmählich aus dem Intellekt hervorgerufen wird, der die sekundäre Ursache und »aus einem Wesen« emaniert ist. Es ging nämlich nur eines aus Gott, und dann wurden die Kreaturen aus diesem Herausgehenden ins Dasein gebracht. Thomas hingegen unterscheidet sich von Avicenna dadurch, dass die Emanation durch sekundäre Ursachen Vielfältigkeit in Gott erfordert. Laut Thomas kann einziger Mittler der göttliche Wille sein, wenn man sagen soll, dass die Seienden durch Mittler (wie den Intellekt) entstehen. Und der göttliche Wille ist identisch mit dem Wesen Gottes, wenn er betont, dass die vielfältigen Dinge mit der »Schöpfung aus dem Nichts« entstehen. So sieht Thomas die Schöpfung: a) als emanatio (influx): Vielfalt aus einem, b) als göttliche Gabe, c) als göttlicher Wille: creatio ex nihilo.448 Flasch: Meister Eckhart: Philosoph des Christentums, S. 169. Thomas betont, dass Gott bei der Schöpfung nicht aus Naturnotwendigkeit, sondern aus völlig freiem Willensentschluss handelt. Vgl. Kraus, Georg: Welt und Mensch. Lehrbuch zur Schöpfungslehre, Knecht, Frankfurt am Main, 1997, S. 211.

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Eckhart kommt bei den oben erwähnten Differenzen der avicen­ nischen Philosophie und thomistischen Theologie zu einer Synthese. Zunächst beruht seine Auffassung der allgemeinen Schöpfungsidee als Mitteilung des Seins natürlich darauf, dass er kein anderes Sein als Gott annimmt.449 Die essenziellen Bilder der geschaffenen Kreatur liegen in der Erkenntnis Gottes. Gott offenbart die Erkenntnis der Dinge aus seinem Erkennen, indem er ihnen Sein verleiht. So ist die Schöpfung keine bloße Herstellung, sondern eine Mitteilung des Seins: »creatio est collatio esse«.450 Er wird diese Schöpfungslehre in Anlehnung an die Bibel entwickeln, wobei der Vers »im Anfang schuf Gott Himmel und Erde« (Gen 1) im Mittelpunkt steht. Der Ausdruck »in principio« (im Anfang) weist auf verschiedene Stadien und Aspekte der Schöpfung hin.451 »Emanatio« bezeichnet die primäre göttliche Erscheinung in sich selbst und bedenkt den Seinsgrund als ein Ausfließen aus der göttlichen Lauterkeit, eine Wesensmitteilung durch das Ganze, wo »alles Äußere schweigt und ausgeschlossen ist«.452 Dieses Hervorgehen ist ein Ausfließen aus dem Innersten, es geschieht allein aus Gott und ist von der Kreatürlichkeit entfernt. Eckhart nennt diesen Zustand in principio, er entspricht dem »Vater« aus den trinitarischen Prinzipien.453 Er hat alles im Anfang »in principio«454 und in sich selbst. Das wichtigste Merkmal der Emanatio ist, dass sie als Erfordernis der göttlichen Natur auftritt, das heißt, sie ist nicht freiwillig.455 Die Emanatio in der ersten Stufe der Hervorbringung zum Sein ist wie ein Bild: das Bild ist im eigentlichen Sinn ein einfaches Ausfließen der Form nach. Somit ist hier der Grund aller Kreaturen als »intellectus purus«, als Vernunftwesen –

449 »Was in der religiösen Sprache Erschaffung heißt, das beschreibt das Eintreten des Seins ins Seiende, der Einheit ins Viele, das Viele an sich ziehend, also vereinend.« So Flasch: Meister Eckhart: Philosoph des Christentums, S. 227. 450 Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 1, S. 160. 451 »Das Sein ist das ‹principium‹ allen göttlichen Wirkens und Handels (omnia actionis divinae)«. Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 2, S. 32. 452 Über die Besonderheiten der Gottheit siehe: Meister Eckhart: Lectura Eckhardi, Pre­ digten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet, hrsg. von Georg Steer und Loris Sturlese, Stuttgart 2008, Bd. 3, S. 215. 453 »Der Vater ist ein Beginn der Gottheit, denn er begreift sich selbst in sich selbst. Aus dem geht das ewige Wort innebleibend aus, und der Heilige Geist fließt von ihnen beiden innebleibend aus.« Eckhart: Werke, Bd. 1, 179–181. 454 Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 1, S. 161. 455 Langer: Christliche Mystik im Mittelalter, S. 319. »Er muss es tun, es sei ihm lieb oder leid« Eckhart, Werke, Bd. 1, S. 83.

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es ist nicht geschaffen und liegt verborgen in der Natur Gottes.456 Wenn die Emanatio als erste existentielle Öffnung zu sich selbst auf die pure Substanz Gottes sich bezieht; betreffen die Factio und Creatio folgende Schritte des Hervorgehens von der Seite der Seienden: »Aufgrund der Lehre von der ewigen und zeitlichen Geschaffenheit der Seele unterscheidet Eckhart folgerichtig zwischen der »Emanatio« als Erschaffen von sich und aus sich selbst, dagegen der Factio als Schaffen aus einem Anderen oder der Creatio als Schaffen aus dem Nichts.«457 »Creatio« beschreibt die willentliche Erschaffung Gottes. So ist das Hervorgehen im Rahmen der creatio ein Ruf aller Dinge aus dem Nichts, aus dem Nicht-Sein zum Sein. Factio ist auch die Erschaffung des Willens Gottes, aber nicht aus sich selbst, sondern aus etwas Anderem (aus dem, was er zuvor geschaffen hat) ins Sein. Gehen wir zurück an den »Anfang« und finden, was das Erste war, was vor dem ganzen Schöpfungsakt aus Gott herauskam: »Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott« (Joh 1, 14). So interpretiert Eckhart die anfängliche und innerlichste Seinsgabe als Geburt Gottes. Gott gebiert seinen Sohn in der Ewigkeit sich selbst gleich, d.h. wurde in derselben Natur geboren.458 Die Geburt des Sohnes vom Vater wird auch Hervorgang des Wortes (Processio verbi) genannt; denn ein anderer Ausdruck der Seinsmitteilung ist nach Eckhart das Sprechen Gottes, und der Sohn ist das erste Wort, das aus dem Sein hervorgeht.459 Somit bedeutet der gesprochene Sohn den Beginn des Seinsbringens.460 In gewisser Weise gewinnt der philosophische Ansatz einen christliche Rahmen eben dadurch, dass aus dem Einen (Gott) der Eine (einzige Sohn) kam. Die Tatsache, dass die Geburt im göttlichen 456 Vgl. Reiter, Peter: Der Seele Grund. Meister Eckhart und die Tradition der Seelen­ lehre, Würzburg 1993, S. 371–372. 457 Haas, Alois: Sermo Mysticus. Studien zu Theologie und Sprache der deutschen Mystik, Freiburg 1989, S. 209. 458 »Der Vater gebiert seinen Sohn in der Ewigkeit sich selbst gleich. Das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort: Es war dasselbe in derselben Natur.« Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 109. 459 »Wenn wir ihn suchen, dürfen und sollen wir also in die Gegebenheiten und Ereignisse des Menschseins blicken, um zu verstehen, was und wo Gott ist. Gottes Wesen ist Selbstof­ fenbarung, aber nicht durch aufgeschriebene oder aufsagbare Worte, sondern durch das Sein. So finden wir Gott, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie und wann sich uns etwas offenbart, wenn sich uns Wesentliches unseres Menschseins aufschließt.« Witte, Karl Heinz: Meister Eckhart Leben aus dem Grunde des Lebens. Eine Einführung, Freiburg im Breisgau 2016, S. 79 460 Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3, S. 286.

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Prinzip und von der göttlichen Natur her erfolgt, kann wiederum als Anpassung des philosophischen Begriffs an die christliche Dreieinigkeit angesehen werden. Dies ist ein harmonisches Themenfeld, in dem sich die trinitarische Geburt mit dem philosophischen Ansatz bei der Notwendigkeit der Emanation überschneidet.461 Ebenso verbindet Eckhart die Selbsterkenntnis Gottes mit der Geburt des Sohnes als denselben Akt. Die Darstellung des Neuen Testa­ ments von Gott als Vater (Prinzip des Seins) und von Christus als der aus ihm gezeugte zweite Seiende, als Sohn, ist die Emanation des Seins durch die Selbsterkenntnis. Was kann Gott anderes erkennen als sein eigenes Wesen; es gibt kein anderes Sein, so ist sein Erkennen sein Selbst.462 Da der Akt des Erkennens und die daraus resultierende Erkenntnis eins sind, ist seiner Meinung nach Christus, der durch Gottes Selbsterkenntnis geboren wurde, keine getrennte Dimension. Somit bedeutet die Geburt keine Trennung zwischen verschiedenen Seinskategorien, sondern eher Einheit. In dieser Richtung erweitert Eckhart dieses Konzeptes und stellt die existenzielle Analogie zwischen Göttlichkeit und Geschöpflichkeit durch Geburt her. Im Buch der göttlichen Tröstung erklärt er das durch das Gute: Die Güte gebiert sich und alles, was sie ist, in den Guten; so empfängt der Gute sein ganzes Sein, Wissen und Lieben aus dem Innersten der Güte.463 Wie in der Platonischen Philosophie ist Gott identisch mit transzendentaler Güte. Gott ist gebärend und verströmend, was in sich selbst ist. Deshalb ist das Gute mehr als ein Geschöpf, ist geborenes Kind und Sohn der Güte. »Der Gute und die Gutheit sind nichts als eine Gutheit, völlig eins in allem, abgesehen vom Gebären der Gutheit und Geboren…«464

Das wichtigste Ergebnis der von Eckhart entwickelten Geburtstheologie darstellt, dass sie als erste Stufe des Hervorgehens allen Ebenen des Seins inhärent ist. Wie später analysiert wird, wird Eckhart Gottes Geburt auf jedes einzelne Seiende ausdehnen. Im Wesentlichen ist diese Erweiterung des Begriffes darauf zurückzuführen, dass die Geburt des Sohnes voral­ lererst vorausgeht und alle Ebenen des Seins umfasst. Selbstverständlich 461 »Das Hervorgehende ist der Sohn des Hervorbringenden. Denn der Sohn ist, wer ein anderer der Person nach, nicht ein anderes der Natur nach wird.« Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 3, S. 7. Vgl. Kern, Udo: Die Anthropologie des Meister Eckhart, Hamburg 1994, S. 16. 462 Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 5, S. 37. 463 Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 2, 277. 464 Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 5, S. 9.

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meint Eckhart mit dem Begriff Geburt keinen biologisch äußerlichen Vorgang, sondern eine Identifizierung aller Menschenseelen mit dem göttlichen Sein. In diesem Sinne ist Geburt geistig, da von göttlicher Natur aus die Geburt mit dem Geist verbindet, der jede Person existent und lebendig macht. Dies liegt zwar an der immateriellen Natur der Göttlichkeit, aber auch daran, dass die lebensspendenden Wahrheiten materieller Objekte Geist sind. Als Essenz aller Seelen fließt der Heilige Geist von Vater und Sohn (a patre filioque). Zuerst ist er die Funktion des Verbindens von Vater und Sohn. Der Heilige Geist ist eins als In-Sein, das »esse in«, »in spiritu sancto sunt omnia«465, in dem Heiligen Geist befinden sich alle Dinge. Was sich nicht im Heiligen Geist befindet, ist nicht in Gott.466 Eckhart interpretiert den Vers »Gottes Hand ist mit ihm« (Lk 1, 66) zu Beginn der zweiundachtzigsten Predigt so, dass die Hand Gottes Heiliger Geist sei. Denn Hand bedeutet Werk und Gott tut es durch den Heiligen Geist. Engel und Geist stammen aus derselben Wurzel, daher treten Engel im Fluss des Geistes auf.467 Eigentlich beschreibt Heiliger Geist, wie die Beziehung zwischen Einheit und Vielheit erfolgt. Eckhart verwendet mit Augustinus die neuplatonische Idee von Geist, um die Dreieinigkeit zu verstehen. Die von dem Geist herausgegangene Kreatur bleibt bei/mit dem Geist lebendig, und Gott wirkt immer durch den Geist auf sie ein. Insofern gibt es Geist für Gott und Geist für die Geschöpfe, und beide sind eins. Und die dauerhafte Geburt, die die Verbindung zwischen dem Schöpfer und dem Erschaffenen herstellt, findet in der Seele beziehungsweise im Geist statt.468 Wie bereits betont, ist nach Eckhart nichts außerhalb des Seins, sei es im Sinne des innertrinitarischen Emanations-Verfahrens oder als Ergebnis der Schöpfung. Daher ist die Kontinuität des Seins der Kreaturen durch ihre Gegenwart in Gott möglich. Sie können keinen Augenblick von Gottes Sein getrennt werden. Zur Erklärung dieser Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 4, S. 596. »Alle Heiligkeit stammt vom Heiligen Geist. Die Natur überspringt nichts; sie hebt stets beim Niedersten zu wirken an und wirkt so hinauf bis zum Höchsten … Der Heilige Geist nimmt die Seele und läutert sie in dem Lichte und in der Gnade und zieht sie hinauf in das Allerhöchste.« Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 207. 467 Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 609. 468 »in dem Grunde, ja, im Wesen der Seele, das ist im Verborgensten der Seele. Dort ist das Mittel Schweigen; denn dorthin ist nie ein Geschöpf und nie eine Vorstellung gelangt; da hat die Seele auch kein Wirken und kein Erkennen.« Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 4, S. 343–344. 465

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obligatorischen Beziehung bringt Eckhart eine Interpretation des Verses »Wer isst, wird hungriger« im Kommentar zu Jesus Sirach: Kreaturen brauchen Gott, um das Sein bedingungslos zu empfangen. Das Ergeb­ nis des existenziellen Bedürfnisses ist mehr Hunger, das heißt mehr Seinserfüllung. »In sich und aus sich ist alles Seiende leer, dürstet und sehnt sich nach dem Sein« (Ecli s. 45). Da sich die Kreaturen ständig danach sehnen, Existenz zu erhalten, verlieren sie alle Existenz, wenn die Erfüllung für einen Moment aufhört.469 Wenn sie aber die Gunst empfangen, wenden sie sich dem kreativen Ursprung zu und wollen sogar so sein wie er: »alle Dinge wirken dahin, zu gebären und dem Vater gleich zu werden«.470 Sowohl die Ähnlichkeit als auch die Rückkehr zum Sein sind in Wirklichkeit der Wunsch, eins zu sein, weil die existentielle Ruhe nur erreicht werden kann, indem man eins ist. Dieser Wunsch, eins zu sein, ist Liebe; Gott gebiert und schafft aufgrund seiner schöpferischen Liebe, weil er Liebe ist.471 Auf der kreatürlichen Ebene suchen alle ihren seelischen Ursprung aufgrund der essenziellen Liebe. So ist die Emanatio eigentlich eine Liebesorientierung.472 Das Ganze ist Liebe: Die Geburt beginnt mit der Liebe und die Seele steigt durch die Liebe zu Gott auf. Daraus wird geschlossen, dass das Sein selbst Liebe ist. Das wichtigste Ergebnis der Schöpfungsbeziehung ist die kontinu­ ierliche existentielle Abhängigkeit von Gott. Mit anderen Worten, die Welt ist ständig dem Schöpfungsakt ausgesetzt, da der Schöpfer von Natur aus zeitunabhängige Existenz schenkt. Die Beständigkeit der Schöpfung ist eigentlich darauf zurückzuführen, dass die Geburt in jedem Moment stattfindet: »der Sohn…, durch den (per quem) und in dem (in quo) der Vater alles geschaffen hat, ist immer geboren (semper natus) und wird immer geboren (semper nascitur)«.473

Die Schöpfung wird in der Gegenwart »ane underlaz« und ständig (semper) zum Sein hervorgerufen.474 Sie ist ein ewiges Jetzt. Schöpfung ist nicht Vergangenes, ferner hat sie einen aktuellen, ständigen Charakter: in »Eckharts Analogielehre sagt, dass die Geschöpfe das, was sie haben, was ihren Wert und ihre Würde ausmacht, nicht aus sich selbst haben, selbst wenn es in ihnen anzutreffen ist.« Vgl. Witte: Meister Eckhart, S. 179. 470 Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 5, S. 519. 471 Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 129, 4–7. Vgl. Mieth: Meister Eckhart, S. 50. 472 Emanation ist ein Liebesausfluss, vgl. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 609; 675. 473 Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 4, S. 209. 474 Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 5, S. 44. 469

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principio creationis bedeutet immer ewiges Jetzt: »primum nunc simplex aeternitatis«.475 Im Gegensatz zur biblischen Genesis, die mit einem Pro­ zessverständnis gedeutet wird, interpretiert Eckhart in seiner Expositio Libri Genesis, inspiriert von Augustinus und Maimonides, die Genesis mit einem neuplatonischen Verständnis als das fortlaufende Fließen des ewigen Seins.476 Die Schöpfung als Gottes Werk kann nicht temporal definiert werden, sie ist »supra tempus«, also oberhalb der Zeit.477 Tempus und aeternitas sind identisch im Geschehen. Auch befindet sich keine temporale Hierarchie in der Schöpfung. Kurt Ruh macht auf Eckharts Übersetzung des »in principio« aus dem Johannes-Evangelium, Kap. 1 im Gedicht »Granum sinapis« aufmerksam. Das heißt, er übersetzte den Satz »am Anfang war das Wort« nicht in der Vergangenheitsform, sondern in der Gegenwartsform: In dem Beginn, hoch über (allem) Begreifen, ist das Wort. Gemeint sind die Unvollständigkeit der Vergan­ genheit und die Ewigkeit der Emanation am permanenten Anfang: »Und wenn es immer im Anfang ist, dann ist die Geburt immer…«.478 Ist nicht die Seinsgabe in gewisser Weise zu verewigen, die geschaf­ fene Welt zu verewigen und wie soll dann die Vergänglichkeit der Welt verstanden werden? Ein Punkt, der Eckhart in seinem Prozess vorge­ worfen wird, ähnelt der Kritik der Inquisition an den zeitgenössischen Averroisten: Eckhart verteidigt die Ewigkeit der Schöpfung und behaup­ tet indirekt, dass die Geschaffenen auch ewig sind. Ihm zufolge hat die Genesis keinen Anfang, da die Schöpfung mit dem Sein Gottes identisch ist und es im göttlichen Handeln keinen Vor- und Nachrang gibt. Die Ewigkeit der Welt (mundum fuisse ab eterno) hat eine göttliche Wurzel.479 Die geistige Essenz der Kreaturen, die Gott verbundene Seite, ist ihre ewige Tiefe. Indem Eckhart diesen göttlichen Aspekt der Geschöpfe annimmt, ist ein ewiger Grund bereits ein Hintergrund im Grundsatz 475 Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 1, S. 162; Bd. 5, S. 213. »Creatio die et omne opus die mox ut incipit perfectum est«. Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 1, S. 164. »Alles, was vergangen und zukünftig ist, das ist Gott fremd und fern«, Die deutschen Werke, Bd. 5, S. 234; und auch »principium est finis« Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 1, S. 164. 476 Der Begriff Fließen bei Eckhart hat die gleiche Bedeutung wie die auf Emanation hinweisenden Wörter wie Hervorgehen, Äußern etc. »ja, Engel und Menschen und alle Kreaturen fließen von Gott als gleich aus ihrem ersten Ausfluss.« Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 147. 477 Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 1, S. 235. 478 »Und wenn es immer im Anfang ist, dann ist die Geburt immer, das Entstehen immer. Denn entweder niemals oder immer, weil der Anfang oder im Anfang ist. Daher kommt es, dass der Sohn in der Gottheit, das Wort im Anfang immer geboren wird, immer geboren ist«, zitiert von Kurt Ruh: Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3, S. 286. 479 Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 5, S. 597.

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2. Seinslehre und Seinsmitteilung

des Seins. Eckhart stimmt jedoch auch der folgenden peripatetischen Interpretation zu: Da die Urbilder der Kreaturen in Gottes ewiger Erkenntnis liegen, hat die Welt eine ewige Wurzel in Gott.480 Wenn aber die Dinge von der kreatürlichen Seite her betrachtet werden, wird darin Zeitabhängigkeit und sich verändernde Äußerlichkeit sichtbar. Aus diesem Grund sollten zwei Seiten unterschieden werden, eine mit Blick auf die Ewigkeit und die andere mit Blick auf die Vergänglichkeit. Eine von ihnen (als Werk Gottes) ist geistig und die andere (als Resultat des Schöpfungsaktes) ist physisch.481 In einem Moment, der kein Vorher oder Nachher hat, erhält die Kreatur ihre Existenz und Vitalität. Es bedeutet nicht nur in der Vergangenheit zu sein, sondern auch in der Zukunft zu sein. Im Gegenteil, Sein definiert gegenwärtig das Werden, also ist jeder Moment ein neuer göttlicher Zustand: »Deus semper novus«.482 Aus Eckharts Sicht wäre die richtige Bezeichnung die Zeitlosigkeit, nicht die Ewigkeit. Mit anderen Worten ist Ewigkeit das Hervortreten des Sohnes aus der Gottheit zu einem zeitlosen Moment, der der »Anfang« zur Geburt der Schöpfung ist.483 Wiederum musste Eckhart aufgrund seiner Annäherung an diese Gott-Welt-Beziehung die folgende Frage beantworten: Da die Welt Gottes Handeln ist, was war Gottes Handeln vor der Welt? Dieser Frage ging er in seinen Werken mit umfassenden Erklärungen dazu nach, dass Gott frei von zeitlichem Denken ist. Er wich jedoch Aussagen nicht aus, die die Inquisitoren provozieren würden, und behauptete, Gott sei nicht Gott vor der Schöpfung der Welt. Wenn er nicht das Sein mitteilt: »so wäre er nicht Gott«.484 Da zwischen Geburt und Werden kein Unterschied gemacht werden kann, ist dauerhafte Geburt die Natur des Seins. Daher existierte Gott nicht, bevor die Welt existierte, weil er sein immerwährend vorhanden muss. So ergibt sich für Eckhart eine Beziehungsart zwischen Schöpfer und Geschöpf, die einander erfordern.485 Dies ist wichtig, um zu verstehen, wie Eckhart eine einzigartige Perspektive entwickelt hat, wäh­ rend er die Herr-Knecht-Beziehung interpretiert. Sein Hauptinteresse gilt jedoch eigentlich der unzerbrechlichen Einheit zwischen Gott und Vgl. Flasch: Meister Eckhart: Philosoph des Christentums, S. 310. Langer: Christliche Mystik im Mittelalter, S. 320. 482 Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 2, S. 497. 483 Vgl. Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 2, S. 481. 484 Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 3, S. 552. 485 »Darum ist die ganze Schrift geschrieben, darum hat Gott die Welt und alle Engelsnatur geschaffen: auf daß Gott in der Seele geboren werde, und die Seele (wiederum) in Gott geboren werde«. Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 407. 480 481

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Kapitel II. Meister Eckhart

Mensch. Wenn es eine Existenz gibt, findet sie nur in Einheit mit Gott statt: »una anima et una vita; unum esse et unum vivere«.486

3. Das Menschenbild 3.1. Bedeutung des Menschseins Nach Eckhart bedeutet Mensch homo im Lateinischen jemand, der sich mit seinem ganzen Wesen Gott unterwirft. Der Grund dafür ist, dass der Wortursprung die Bedeutung von »aus dem Boden kommend« enthält.487 Bereits im Buch Genesis wurde der menschliche Körper aus Erde erschaffen. Die Beziehung mit der Erde hat mit der Stellung des Menschen vor Gott zu tun, weil sie sich in einem empfangenden Zustand unter dem Himmel befindet. Die Erde ist offen für die Wirkung des Himmels und sogar abhängig. Auch der Mensch hat sich der göttlichen Schöpfung und Gottes Willen unterworfen. So wie die Erde das niedere Element ist und eine Natur hat, die die Wirkung des Himmels aufnimmt, verdanken Menschen Gott ihre gegenwärtige Existenz und muss ihr Name vor allem auf Erde bezogen werden. Trotz dieser passiven Situation hat dasselbe Menschengeschlecht auch die Gnade, Kinder Gottes zu sein (1 Joh 3,1), sollte sie nicht in einem mit Unterlegenheit allein verbundenen irdischen Zustand verharren. Aus diesem Grund verbindet Eckhart den Begriff Demut, den er für die Reinheit aller Wesen verwenden wird, mit der Tatsache, dass der Mensch von der Erde stammt. Damit Menschen himmlisch werden können, müssen sie sich als Irdische demütigen, um so ihr vergängliches Selbst zu transzendieren. Die Demut enthält eine tiefere Bedeutung, die auf die Ebene der Ebenbildlichkeit Gottes führt. Diese Erde-Himmel-Analogie hat eine weitere ontologische Konsequenz: Sie beinhaltet eine Bewegung, die aus dem Boden kommt und in den Himmel steigt und somit beides zusammenbringt. Deshalb weist die in dem homo innewohnte Bedeutung von Demut eigentlich auf Einheit hin. Es geht darum, das Irdische und das Himmlische, das Materielle und das Geistige zusammenzubringen und das Kreatürliche zu demütigen, um mit dem Göttlichen eins zu werden.488 So bedeutet Mensch ein Dasein, das alle Qualitäten des Seins repräsentiert, von der zeitlichen 486 487 488

Vgl. Witte: Meister Eckhart, S. 87. Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 327. Ebd., S. 327.

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3. Das Menschenbild

und räumlichen Erde bis zum unbegrenzten Himmel – und damit hat er ontische Beziehungen zu allem. Denn in ihm müssen alle Kompetenzen zusammenkommen, die die Einheit mit Gott herstellen. Dies weist eigentlich auf den Zweck des Menschseins hin, nach dem Ebenbild Gottes geschaffen zu werden. In der fünfzehnten Predigt spricht Eckhart von der Substanz, die nach der Definition des Aristoteles die Grundlage des Menschseins bildet.489 Sie beruht auf der Fähigkeit des Menschen als vernunftbegabte Kreatur, das, was er äußerlich wahrnimmt, in innerem Begreifen umzu­ wandeln. Im Gegensatz zu anderen Lebewesen kann er eine andere Welt in seinem eigenen Geist erschaffen, genauso wie er eine Welt in Beziehung mit seinen Sinnen hat. Deshalb bezieht sich vernunftbegabte Substanz auf das wahre innere Vermögen.490 Im aristotelischen Rahmen ermöglicht die Vernunft den Menschen, mit Begriffen – philosophisch – zu denken; Eckhart aber ist auf der Suche nach einer tieferen Substanz. So wie jedes eingebildete Ding im Verstand eine Form annimmt und eine bestimmte Erkenntnis erzeugt, so hat auch der Verstand die Fähigkeit, unabhängig von allen äußerlichen Bildern zu denken. Diese Konzeption von Eckhart erinnert vor allem an platonische Ideen: Jenseits der Existenz der Dinge in ihrer äußeren Realität gibt es universelle Prinzipien (Ideen), die diesem Ding seine ursprüngliche Existenz verleihen. So hat der Mensch die Fähigkeit, die Wahrheit (der Dinge) von etwas unabhängig von ihrer äußeren Erscheinung und damit ihrer Reflexion im Verstand zu betrachten. Nach einem von Eckhart häufig zitierten Argument begegnet man in der Außenwelt gerechten Menschen und verschiedenen gerech­ ten Praktiken, und aus diesen Wahrnehmungen entstehen bestimmte Kenntnisse. Der Verstand kann sich jedoch auch unabhängig von all diesen Gerechtigkeitspraktiken auf eine abstrakte Untersuchung dessen begeben, was Gerechtigkeit ist. Abstraktes Denken im eigentlichen Sinne führt zum Begriff der Gerechtigkeit, der verschiedene wahrnehmbare Manifestation der Gerechten hervorbringt. Gerechtigkeitsbegriff meint in diesem Fall die menschliche Fähigkeit, in völliger Abstraktion über ein bestimmtes Thema nachzudenken – Reinigung des Geistes. Nach Eckhart ist dies reines Denken und reines Erkennen (des eigentlichen Wesens der Gerechtigkeit). Die menschliche Substanz hat also nicht nur die Fähigkeit, Dinge im Geist zu imitieren, sondern auch die, reine

489 490

Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 177. Ebd., S. 177.

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Erkenntnis der Dinge zu erreichen.491 Die Definition des Menschen bezieht sich somit direkt auf Reinheit und Erkenntnis und ist damit im Grunde auf die Demut verwiesen, weil in Demut die durch Reinheit erlangten Erkenntnisse eintreten werden. Der Ort, in dem der Mensch die existentielle Vielfalt von unten (Erde) nach oben (Himmel) vereint, ist seine Innerlichkeit, weil sie reine Erkenntnis beherbergt. Die ursprünglichen Essenzen aller äußeren Dinge werden in seinem Inneren erfasst, das die Seele ist. Er begreift sie entsprechend der Intensität der Natur der Dinge, die ihm zur Seelener­ kenntnis zugänglich sind. Mit anderen Worten, je irdischer das Wesen des Dings ist, wenn die Seele es unten (in ihrem unteren Teil) ergreift, desto feiner und reiner ist es, ergreift sie es oben. Es ist fast so, als ob Eckhart sich eine menschliche Seele vorstellt, die sich in ihrer substanziellen Inklusivität von der Erde bis zum Himmel erstreckt. Diese Seele, die die gesamte Welt durchdringt, ist auch der Grund der Menschheit; und ihr Ursprung ist nichts als Göttlichkeit. So erreicht der Mensch schließlich das göttliche Wesen, das in sich selbst vollkommen rein ist, in seinem eigenen Selbst. Er erfährt immer in seiner Seele, dass Gott ihm Sein, Leben, Wahrheit und Gutheit schenkt. In der seelischen Gleichheit sowie in der Einheit mit Gott erfährt er, dass Gottes Selbsterkenntnis und Selbsterkenntnis des Menschen, Gottes Geburt und Geburt in der menschlichen Seele eins sind.492 Wenn Gott sich selbst gebiert, indem er sich selbst kennt, gebiert der Mensch das »Menschsein« in sich selbst, indem er seine Menschlichkeit kennt. Es gibt eine komplementäre Beziehung zwischen dem Menschen und der Menschheit ähnlich wie zwischen Gott und Gottheit. Die Menschheit ist der reine Zustand des Menschen, die Gottheit ist der reine Zustand Gottes. Aber es besteht ein Unterschied darin, dass der Mensch aus der Vielheit in der Selbstfindung zur Einheit tendiert und die allen Menschen gemeinsame Einheit der Menschheit erreicht, indem er sich selbst gebiert. Bei Gott ist die Geburt die Selbst-Öffnung von der Einheit zur Vielheit. Der Übergang von Einheit zu Vielheit und von Vielheit zu Einheit ist der Bereich, in dem sich beide treffen – die seelische Geburt. Eckhart macht, nachdem er die Geburt Gottes in der Ewigkeit in Übereinstimmung mit der Bibel ausgedrückt hat, auf die Gleichheit der Geburt Christi mit der Geburt jedes einzelnen Menschen aufmerksam. So erklärt er, es selbst erlebt zu haben: Vgl. Ebd., S. 177. Diese Situation fasst er zusammen: »er hat ihn geboren aus meiner Seele« Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 83, 27. 491

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3. Das Menschenbild

»Er gebiert mich als sich und sich als mich und mich als sein Sein und als seine Natur.«493

Damit erreichen wir die eigentliche Substanz menschlicher Deutung: Bezeichnung der Menschheit als Sohnschaft. Die Schöpfung nach dem Ebenbild Gottes – daher die Wahrheit – ist der göttliche Sohn und das Wort. Die Sohnschaft ist die erhabenste und göttlichste Gleichheit, die der Menschheit im Sinne der Schöpfung nach der Ebenbildlichkeit zuge­ schrieben werden kann. Für Eckhart ist die grundlegende Besonderheit der Sohnschaft das wertvollste christliche Prinzip, um den Menschen so weit wie möglich mit Gott zu vereinen. In dieser Richtung identifiziert er die menschliche Substanz mit dem Wesen von Christus und sucht ihre Wurzel in der Trinität als derselben Wahrheit.494 Es ist eine einzige menschliche Wahrheit, die aus dem Grunde der Trinität (Vaterschaft) geboren wurde und durch den Heiligen Geist in die gesamte Schöpfung fließt. Auf der anderen Seite erreicht der Mensch wieder den göttlichen Grund, indem er den Heiligen Geist in seiner eigenen Seele vereint und dadurch wiedergeboren wird. Dieser Zyklus der Einheit des Menschen mit Gott und der Geburtszyklus der Menschwerdung Gottes sind ver­ flochten, derselbe, sogar eins. Deshalb sind Erstbestimmungen wie esse, unum, verum, bonum, die die Wahrheit des Menschen bestimmen, und die göttlichen Erstbestimmungen eins. Die Geburt aus dieser Einheit und der Aufstieg zu derselben Einheit ist einzigartig für den Menschen. So liegt die Bedeutung der Menschheit in Gott und die Bedeutung der Gottheit liegt im Menschen. Es wäre irreführend, Eckharts Verbindung zwischen Gott und Mensch auch nur als Beziehung zu bezeichnen, da das Wort »Beziehung« Parteilichkeit (zwei geteilte Seiten) einschließt, auch Gleichheit kann die Einheit nicht ausreichend erhellen. So wie zwischen Gott und Geist eine vollkommene Einheit besteht, so auch zwischen Vater und Sohn. Aus diesem Grund findet Eckhart den Ausdruck »gleich« unzureichend, um die existentielle Relation zu beschreiben, deshalb sind beide eins in der »Gleichheit«. Es gibt Einheit in der Substanz, Gleichheit in der Emanation und Ähnlichkeit in der Erscheinung, bereitgestellt durch den Geist, der alle Existenzen umfasst:

Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 83, 29. »Dass wir so ein Bürglein seien, in dem Jesus aufsteige und empfangen werde und ewig in uns bleibe in der Weise, wie ich’s gesagt habe, dazu helfe uns Gott«, Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 36, 4. 493

494

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Kapitel II. Meister Eckhart

»wie es wahr ist, dass Gott Mensch geworden ist, so wahr ist es, dass der Mensch Gott geworden ist«.495

Infolgedessen basiert die menschliche Identität für Eckhart auf der Analogie der Gott-Mensch-Einheit. Es ist eine neue Analogielehre für die von Eckhart entworfene Gott-Mensch-Beziehung. In allgemeiner mittelalterlicher katholischer Wahrnehmung ist das menschliche Bild Gott ähnlich, aber von Natur aus anders. Dieser Unterschied ist eine Schwäche, ein Mangel an Sein. Auch in Avicennas Unterscheidung zwischen Absolut und Kontingent ist das Sein auf der göttlichen Seite vollständig, auf der menschlichen Seite jedoch unvollständig. Karl Heinz Witte fasst das Verständnis des herrschenden Paradigmas wie folgt zusammen: »Seinsanalogie heißt dann, dass das Sein Gottes und des Menschen ähnlich sind. Sie stehen in einer proportionalen Beziehung: Der Mensch hat Sein in einem abgeschwächten Sinn. Der Mensch ist Bild Gottes. Das drückt ebenfalls eine analoge Beziehung aus. Der Mensch hat die gleichen Eigenschaften wie Gott, vor allem Geist, Leben, Liebe, aber in einem abgeschwächten Sinne. Dies ist im Wesentlichen das Verständnis der Analogie bei Thomas von Aquin, und man darf sagen, dass Analogie gemeinhin so verstanden wird.«496 Eckhart hingegen unterscheidet sich, wie zuvor betont, von der Scholastik und stellt ausdrücklich fest, dass die Analogiefrage missver­ standen wird. Da die ontische Analogie proportional ist, können mögli­ che Entitäten als unabhängig wahrgenommen werden.497 Nach Eckhart ist es undenkbar, dass das von Gott empfangene Wesen aufgrund seines göttlichen Ursprungs eine eigene ontologische Kategorie bildet.498 Jedes Individuum ist der Existenz vor Gott ausgesetzt und nimmt das Leben an. Aufgrund dieses permanenten Ausgesetztseins kann es nicht aus dem göttlichen Sein verschwinden. Er schreibt, der Mensch sei kein Wesen an sich, sondern ein göttliches Wesen. Aber dieser Ansatz, der Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 2, S. 380. Witte: Meister Eckhart, S. 168. 497 »Es ist aber auch zu bemerken, dass manche diese Natur der Analogie falsch verstehen, verwerfen und bis heute darüber im Irrtum sind.« So Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 2, S. 282. 498 »Das Geschöpf ist draußen, Gott aber ist zu innerst und im Innersten. Dies erhellt in der Gott eigentümlichen Wirkung, die das Sein ist, und sie ist in allen Dingen zu innerst und im Innersten von allen. Deshalb sagt Augustin ›Gott allein senke sich in die Seele ein; er senkt sich aber auch in die Wesenheiten aller Dinge ein. Hingegen senkt sich keines geschaffenen Dinges Wesenheit in die Wesenheit eines andern ein, vielmehr bleibt sie draußen und ist von ihr unterschieden.« Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 3, S. 253. 495

496

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3. Das Menschenbild

Gott und den Menschen an der seelischen Wurzel vereint, hat eine andere, auffallendere Konsequenz: Der Mensch war ein Wesen in Gott, so wie Gott ein Wesen im Menschen war. Aufgrund einer dem Menschen innewohnenden Göttlichkeit hat jeder Mensch ein inneres »Ich« in sich selbst, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht. In diesem Zusammenhang interpretiert Eckhart den Vers, in dem Moses Gott fragt, mit welchem Namen er ihn vorstellen soll: »Da antwortete Gott dem Mose: Ich bin, der ich bin« (Ex 3,14). Der Adressat Gottes, der sich als singuläres »Ich« definiert, ist auch ein singuläres Selbst. Auch Moses, den Gott angesprochen hat, ist ein einzigartiges Individuum. Die Individualität, Einzigartigkeit und Universalität der Göttlichkeit sind bereits bekannt; was bedeutet es also für den Adressaten, eine einzelne Person zu sein? Eckhart versucht gewissermaßen, die individuelle Einzigartigkeit des Menschen zu verstehen, indem er sich selbst an die Stelle von Moses stellt, der von sich selbst zu Gott spricht. Was bestimmt ihn als ein von anderen Wesen getrenntes Ich? Er unterscheidet sich nicht von anderen Men­ schen darin, dass er ein Mensch ist; Dinge wie Essen und Trinken, die in seiner Außenwelt vorkommen, sind für ihn nicht einzigartig, sondern auch bei Tieren üblich. Sein separates Selbst (insbesondere sein inneres Selbstbewusstsein) gehört jedoch ihm allein.499 Seine eigene Erfahrung ist seine eigene und weder die eines Engels noch Gottes. Somit hat jeder Mensch ein einzigartiges Erkennen, das heißt das Sein. Wenn es jedoch eins mit Gott wird, wird das »Ich« reines Sein und das universelle Selbst wird erreicht.500 Es ist nämlich von seiner einzigartigen Menschlichkeit, die Göttlichkeit ist, zu einer gemeinsamen Menschlichkeit übergegangen. Die Göttlichkeit, mit der jeder ab einem gewissen spirituellen Grad als separates »Ich« in Berührung kommt, ist allumfassend und eins. Aber er tendiert zu dieser Einheit aus seiner eigenen Erfahrung, die für dieses Individuum einzigartig ist. Da jedes Individuum ein bestimmtes göttliches Selbst hat, gibt es in dieser Hinsicht auch eine gemeinsame Basis der Menschheit, die durch diese Selbstentdeckung erreicht wird. In diesem Rahmen interpretiert Eckhart »Seht, Ich sende meinen Boten; er soll den Weg für mich bahnen« (Mal 3,1) in Bezug auf »Siehe, sende meinen Boten vor dir her, der deinen Weg vor dir bahnen wird« (Luk 7,27).501 Er vergleicht beide Verse, weil der zweite ohne das Ich-Subjekt gebildet wird. Was in diesem Vers mit der Verbergung des Selbst gemeint 499 500 501

Vgl. Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 2, S. 62. Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 321. Für den Vergleich siehe Predigt 77 in Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 139–141.

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Kapitel II. Meister Eckhart

ist, ist der Zustand der Reinheit Gottes. Im anderen Vers bezieht sich »Ich« direkt auf das göttliche Subjekt. Als göttliches Subjekt – der Gott, der den Engel gesandt hat – hat er sich als ein bestimmtes Sein von ande­ ren Dingen getrennt. Aber in dieser Reinheit weist er auf die Umfassung und Einheit des Seins hin. Die Lauterkeit Gottes, die Essenz des Seins und der Grund der menschlichen Seele sind eins: »dass Gott nichts Eige­ nes haben kann, wodurch er von der Seele getrennt«.502 Es sollte angemerkt werden, dass Eckhart, auch wenn er eine Verbindung zwischen dem göttlichen Selbst und dem menschlichen Selbst herstellte, die Einheit auf der Grundlage beider baute. Weder das Göttliche noch das Menschliche zu subjektivieren, ist grundlegend für das Verständnis von Eckharts Anthropologie.

a. Knechtschaft und Freiheit Für einen mittelalterlichen Gelehrten ist die Knechtschaft einer der theo­ logischen Grundgedanke, die die Identität des Menschen bestimmen. Heilige Schriften positionieren den Menschen als Knecht gegenüber dem Schöpfergott. Denn die Knechtschaft bildet sowohl die Grundlage des religiösen Lebens und der Anbetung als auch der ethischen Verant­ wortung, indem sie die existentielle Stellung des Menschen klarstellt. Die Gläubigen eint die Annahme, dass sie Gottes Diener sind. Eckhart akzeptiert zunächst eine solche Definition und verwendet sogar das Wort Knecht in seinen deutschen Predigten: die Bedeutungswurzel des Wortes homo bezogen auf die Erde (passiv gegen den Himmel) zum Bewusstsein der Knechtschaft vor Gott. Trotz dieser allgemeinen Meinung ist für Eckhart die Knechtschaft die Äußerlichkeit des Menschen als separates Selbst. Auch die Natur der Herr-Knecht-Beziehung ändert sich, wenn diese Zweiheit durch die innere Einheit mit Gott verschwindet. Die Entdoktrination der herrschenden Vorstellung ist in dieser Richtung zu verstehen, denn der religiöse Zweck besteht darin, diese verborgene Bedeutung im Menschen zu erreichen: »Solange ich Knecht bin, bin ich dem eingeborenen Sohne gar fern und ungleich.«503

502 503

Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 3, S. 338. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 127.

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3. Das Menschenbild

Was ändert sich zwischen Knecht- und Sohn-Niveau? Eine Person auf der Dienerebene wird Gott mit denselben Augen sehen wollen, wie sie Farben sieht. Was man braucht, um Gott zu sehen, ist das Seelenauge. Um das Seelenauge zu öffnen, muss das Auge, das Farben wahrnimmt, entäußert werden. Das Aufgeben dieser Äußerlichkeit führt uns zu Demut, der Bedeutung, die wir zuerst dem homo zuschrieben. Entsprechend kommentiert er Lukas 9,23: »Wer mein Jünger werden will, der muss sich selbst lassen«. Die Frömmigkeit, die Knechtschaft prägt, ist genau das, was in diesem Vers angedeutet wird. Wenn ein Mensch vom Zustand des Knechts in den Zustand des Sohns übergeht, der mit der Vielfältigkeit und den Gegensätzen, für die er geschaffen wurde, verbunden ist, wird er die göttliche Einheit erreicht haben. In der Gleichheit von göttlichem Seinsgrund und menschlichem Seelengrund verwandelt sich das Verhältnis von Knechtschaft und Herrschaft in Einheit: »Wo ich bin, da soll auch mein Diener sein« (Joh 12,26) weist auf diese Wahrheit hin. »So völlig wird die Seele eine Seinsheit, die Gott ist, und nicht weniger; und das ist so wahr, wie Gott Gott ist«504. In Eckharts Reden dienen Liebe und Gerechtigkeit dazu, die Frage der Knechtschaft zu beleuchten. Der Diener hat eine Neigung zur Göttlichkeit, die er in seiner eigenen Natur hat, nämlich seine: Liebe. Wiederum liegt Liebe darin, dass Gott sich aus sich selbst hervorgebracht hat. Somit ist Liebe das vereinigende und identifizierende Prinzip des Seins, und jedes Wesen befindet sich in einem Zustand der Gleichheit. Eckhart gibt das Beispiel von Mann und Frau, die sich in ihrer Indivi­ dualität unterscheiden. Der Mann unterscheidet sich von Natur aus von der Frau; beide sind jedoch eins in Bezug auf das Entstehen aus der Liebe und die Vereinigung mit der Liebe. Das kann auf Herr und Knecht übertragen werden: Solange die Unterscheidung zwischen Herr und Knecht vorherrscht, kann kein Frieden herrschen, weil es keine Gleich­ heit geben kann; wo es keine Gleichheit gibt, entsteht Differenzierung.505 Es gibt Distanz, solange der Herr in seiner Herrschaft und der Knecht in seiner Knechtschaft bleibt, aber die Liebe führt beide zusammen. In diesem Zusammenhang führt er ein bemerkenswertes Beispiel an: dass ein gerechter Mensch, der Gerechtigkeit annimmt, die Gerechtigkeit selbst ist. Die Person, in deren Handlungen sich aufrichtige Gerechtigkeit manifestiert, ist eigentlich die Gerechtigkeit selbst, denn Gerechtigkeit Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 673. »Zwischen einem Herrn und einem Knecht, den er hat, gibt es keinen Frieden, weil da keine Gleichheit besteht.« Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 309. 504 505

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Kapitel II. Meister Eckhart

wird nicht da draußen geboren, sondern in seiner Seele. Solange der Gerechte gerecht bleibt, gebiert die Gerechtigkeit ihn, und das deutet auf eine unauflösliche Verbindung zwischen ihnen hin. Der Gerechte kann nicht als Knecht der Gerechtigkeit angesehen werden, im Gegenteil, er ist frei, indem er selbst Gerechtigkeit ist. »Der gerechte Mensch dient weder Gott noch den Kreaturen, denn er ist frei; und je näher er der Gerechtigkeit ist, um so mehr ist er die Freiheit selbst, und um so mehr ist er die Freiheit.«506

Ein Mensch, der aus der Gerechtigkeit geboren wird und in sich selbst gerecht ist, hat die Knechtschaft transzendiert. Daher hat er wahre Freiheit in der Einheit mit Gott erlangt. Eckharts faszinierendes Ver­ ständnis von Freiheit ist die Bildung von Einheit durch die Beseitigung der Dualität. Der Diener hat den Herrn erreicht und der menschliche und der göttliche Wille sind eins geworden. Aber wer der Geburt der Gerechtigkeit beraubt ist (und somit aufhört, gerecht zu sein), befindet sich in Knechtschaft. Wegen der durch die äußere Vielheit verursachten Trennung bleibt er vor dem göttlichen Subjekt mit sich selbst allein. Eck­ hart spricht deshalb überzeugt von »Knecht der Sünde« für den (seelisch) ungereinigten Menschen, der in der Äußerlichkeit gefangen ist.507 Das menschliche Selbst ist kein unabhängiges Sein, sondern das Sein ist alles, und dann ist der Mensch nichts, wenn er sich nur in seiner Äußerlichkeit realisiert (Knechtschaft), verändert sich unter dem Einfluss von Zeit und Raum und wird mit einem Selbst, dem es an Beständigkeit fehlt, in das Nichts getrieben. Doch in seiner Innerlichkeit ist er gegenwärtiges Nichts, da er mit Gott eins ist. Er ist eins in existenzi­ eller Lauterkeit.508 Ausgehend von dieser Bloßheit kann damit begonnen werden, die Themen, die den Inhalt der dem Menschen zugeschriebenen Definitionen ausmachen, zu untersuchen.

b. Seele und Körper Wie in anderen mittelalterlichen Vorstellungen besteht für Eckhart die menschliche Existenz aus der Vereinigung von Geist-Seele und Körper. In Anlehnung an 1. Thessalonicher 5,23 akzeptiert er, dass der Mensch 506 507 508

Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 321. Ebd. S. 321. Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 133.

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3. Das Menschenbild

aus Geist (Nous), Körper und Seele (Psyche) besteht.509 Auch hier ist, wie in anderen abrahamitischen Traditionen, der Geist unsterblich und ein Medium zwischen Gott und Mensch, während der Körper den stofflichen Teil des Menschen bildet.510 Im Allgemeinen stellt der Geist zwar die Fähigkeit der Vernunft dar, die den Menschen von anderen körperlichen Geschöpfen unterscheidet, weist aber auch auf die göttliche Wirkung im Menschen hin, wenn er zusammen mit dem Geist Gottes und dem Heiligen Geist bewertet wird: 1. Kor 6,19; Joh 4,14; 7,38–39. Der Körper hingegen bildet das Äußere des aus der Erde geschaffenen Daseins nach der Bibel und erhält seine Lebendigkeit durch den Geist.511 Angesichts der Vergänglichkeit des Körpers ist der Geist unsterblich, und angesichts der Minderwertigkeit der körperlichen Gegebenheiten sind geistige Führung erhaben. Eckhart, der die Idee des ewigen Geistes und des sterblichen Körpers sowohl im Rahmen des christlichen Glaubens als auch in Übereinstimmung mit der platonischen Philosophie geerbt hat, sieht das göttliche Prinzip, das das Wesen des Menschen ausmacht, in dem Geist und die geschaffene Vergänglichkeit im Körper. Durch die Identifizierung des Seins mit Gott versucht er sowohl die Einheit von Geist und Gott zu beweisen als auch die Geist-Körper-Dualität zu überwinden. Die christliche Dreifaltigkeit und die neuplatonische Emanation werden dieser Einheit dienen. Der erste Schritt besteht darin, dass der von Gott ausgehende Geist die dauerhafte feste Essenz des Menschen bildet: »Nun aber sage ich (über den Geist): Es ist weder dies noch das; trotzdem ist es ein Etwas, das ist erhabener über dies und das als der Himmel über Erde.«512

Es wurde schon festgestellt, dass Eckhart Kreatur als »dies und das« (hic et hoc) bezeichnet. Der Geist aber kann nicht in der Differenzierung Kontingent–Absolut reduziert werden. Er ist transzendent, jenseits der 509 Zu Beginn seiner Predigt »Vom edlen Menschen« sagt er: »Man soll zum ersten wissen, und es ist auch deutlich offenbar, dass der Mensch in sich zweierlei Naturen hat: Leib und Geist«. Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 315. 510 Die Ähnlichkeiten zwischen Eckhart und Marguerite in dieser Hinsicht sind auffällig. Die Seele war im Gottesgrund und in den menschlichen Wesen ein unmittelbarer göttli­ cher Grund. Bei Marguerite und Eckhart ist gleich, dass die Geist-Seele ewig im göttlichen Wesen ist. Bernard McGinn: Die Mystik im Abendland, Bd. 3, Freiburg 1999, S. 460. Bei Eckhart vertritt auch die Seele eine mittlere Position zwischen dem Sein und Seienden: Vgl.: Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 2, S. 613. 511 »Der Geist ist es, der lebendig macht«, Joh 6,63. 512 Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 32.

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Kapitel II. Meister Eckhart

Sterblichkeit. Bemerkenswert ist auch, dass Eckhart im vorherigen Zitat den Ausdruck »Himmel« bevorzugt, welcher auf die Überlegenheit gegenüber der durch die Erde repräsentierten zeitlichen Kreatürlichkeit hinweist. Wie der Sohn, der bei Gott im Himmel ist, ist der Himmel in der göttlichen Grundlage verwurzelt, trägt also seine Eigenschaften. So ist der Geist von allen Formen bloß und ganz ledig, wie Gott ledig und frei ist in sich selbst. Da wir es im Vergleich zu Ibn al-ʿArabī brauchen werden, ist es in die­ sem Zusammenhang notwendig, eine kurze begriffsmäßige Information zu geben. Eckhart verwendet sowohl Geist als auch Seele für das Prinzip, das Gott und Mensch in einer dauerhaften existentiellen Beziehung hält. Die eigentliche Seele und der Grund der Seele ist nach Eckhart der Geist. Er ist völlig frei vom Aspekt der Schöpfung im Menschen und ist von reiner göttlicher Lauterkeit erfüllt. Wenn wir es im Rahmen der Terminologie Avicennas bewerten, ist rūḥ der Geist und bildet die reine Seite der Seele (nafs). Seele, die auch eine physische Seite hat. An manchen Stellen in seinen Schriften wird der Geist als ein Grad der Seele definiert. Diese Seite der Seele befindet sich vollkommen in dem göttlichen Grund und ist identisch mit Gott.513 Der Geist, der im Rahmen der Emanation aus dem göttlichen Prinzip hervorgegangen ist, wurde auf der Ebene der menschlichen Existenz zur Seele. Aber Eckhart verwendet in seinen deutschen Predigten die Seele sowohl in Bezug auf seine Menschlichkeit als auch auf seine direkte Göttlichkeit. Er verwendet die Begriffe transitiv und daher möglichst verflochten, anstatt eine Unter­ scheidung zu treffen.514 Er definiert sowohl das Wesen der Göttlichkeit als Seele als auch das göttliche Prinzip im Menschen als Seele. Darüber hinaus kann gesagt werden, dass er den Geist mit der Seele identifiziert, indem er eine zusätzliche Konzeptualisierungsschwierigkeit vermeidet: Die Grundlage dieser Gleichheit ist der christliche Glaube, dass mit der Menschwerdung Gottes die geistige Essenz in Gott in der menschlichen Erscheinung zu finden ist. Insofern hat Eckhart nicht das Problem, das göttliche Lautersein vom seelischen Grund der Menschlichkeit her zu transzendieren.515 In beiden anderen abrahamitischen Religionen herrscht mehrheitlich die definitive Trennung der Lauterkeit Gottes 513 »Ich sage, dass er Geist ist: darin liegt unsere Seligkeit, dass er uns mit sich vereint.« Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 2, S. 710. 514 »Soll göttliche Vollkommenheit in der Seele wirken, so muss die Seele ein Geist sein, wie Gott ein Geist ist.« Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 3, 82. 515 Vgl. Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 415.

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3. Das Menschenbild

von der menschlichen Dimension. Aber dank der christlichen Lehre der Inkarnation kann bei Eckhart eine Relation zwischen göttlicher Lauterkeit und menschlicher Reinheit hergestellt werden. Dadurch ist Eckhart der Meinung, dass es Aspekte der Einheit und Vielheit in Gott sowie der Reinheit und Verbundenheit im Menschen gibt. Aus dem gleichen Grunde unterscheidet er sich von der aristotelischen Vorstellung des »intellectus agens«516, sodass die Seele bei Aristoteles sterblich und nur nous unsterblich ist. Eckhart hingegen betrachtet Nous und Seele mittels der Einheit der Emanation als eins: die Seele ist unsterblich, zumindest in ihrem oberen Aspekt, der eins mit dem göttlichen Prinzip ist. Von Gott stammend, findet sie sich in jeder Seinsstufe als aktives und lebensspendendes Prinzip: »Als Gott alle Kreaturen erschaffen hatte, waren sie so geringwertig, dass er sich in ihnen nicht regen konnte. Die Seele jedoch machte er sich so gleich und so ebenbildlich, auf dass er sich der Seele geben könne.«517

Sie ist gleich mit Gott, sie ist Gott und wirkt in jedem Individuum als göttliche Gegenwart.518 Die Seele, die das Licht der Existenz in der Immanenz des Menschen widerspiegelt, beschreibt er als »Fünklein«, was eine Metapher für die grundlegende Bindung von Gott und Mensch benannt. Es ist die Ausstrahlung dieses essentiellen Ursprungs in dem Menschen, die Eckhart auch »regen« nannte; er bezieht sich mit einer bewussten Wortwahl auf den Himmel. So wird der Begriff Seele als identisch mit der menschlichen Natur aufgefasst, die durch den ständigen göttlichen Einfluss vor irdischen Mängeln geschützt ist.519 Genau in diesem Zusammenhang ist folgende Frage zu stellen: Wenn die Seele die wahre Essenz des Menschen ausmacht, in welcher Beziehung steht sie zum Körper? Es ist offensichtlich, dass Eckhart wegen der Reinheit und Erhabenheit die Seele als dem Körper überlegen ansieht.520 Es ist jedoch klar, dass die Unterscheidung zwischen Seele und 516 Vgl. für intellectus agens/intellectus passibilis in Aristoteles: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band IV, Basel 1976. 517 Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 444. 518 »Als Gott den Menschen machte, da wirkte er in der Seele sein gleiches Werk.« Eckhart: Deutsche Predigten und Traktate, S. 277. Siehe: Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 467; Die deutschen Werke Bd. 2, S. 700. 519 Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 2, S. 669. 520 »Weil Gott ein Geist ist, deshalb ist das Geringste, das Geist ist, edler als das Oberste, das körperlich ist. Deshalb ist eine Seele edler als alle körperlichen Dinge, so edel sie auch sein mögen.« Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 501.

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Kapitel II. Meister Eckhart

Körper zu einer – im Rahmen der unio mystica widersinnigen – Dualität unter den Seienden führen würde. Um dem vorzubeugen, akzeptiert Eckhart die neuplatonisch-augustinische Auffassung von der Abstufung der Seele, demzufolge die materielle Erscheinung in irgendeiner Weise mit der ewigen Existenzgabe in Verbindung gebracht werden kann. Im oberen Teil der Seele sind alle Formen in Reinform, während sie sich im unteren Teil in Relationen wie Zeit und Raum widerspiegeln. Während im oberen Teil der Seele die Einheit herrscht, berührt sie im unteren Teil die Vielheit.521 Dementsprechend hat die Seele zwei Augen, eines nach innen und das andere nach außen. Mit dem inneren Auge schaut sie auf das Sein, wobei der Mensch »sein Sein ganz unmittelbar von Gott empfängt«.522 Mit seinem äußeren Auge ist der Mensch auf das Kreatürliche gerichtet, doch die innerliche Seite als Abbild Gottes bildet die lauteren Ideen der äußerlichen Dinge.523 Jenseits von Raum und Zeit stehen die oberen Kräfte entfernt von der temporalen Vergänglichkeit. Eckhart kategorisiert die oberen Kräfte als a. b. c.

Die behaltende Kraft (memoria), das Vermögen des Vaters der ewigen Ideen der Dinge; Die Vernunft (intellectus), die Gotteserkenntnis, sie vergleicht er mit dem Sohn; Die letzte oberste Kraft, den Willen (voluntas), den er mit dem Heiligen Geist und somit der Liebe vergleicht. So fügt Eckhart alle trinitarischen Kräfte in die menschliche Seele ein.524

Der Körper als Äußerung der Seele steht in gewisser Weise mit ihr in Beziehung, und die Seele als sein existenzielles Prinzip steht in gewisser Weise mit ihm in Berührung.525 Dieser Zusammenhang ist für die Seele unvermeidlich, um den Körper hervorzubringen. Genauso wie Gott aufgrund seiner schöpferischen Tätigkeit eine dauerhafte Beziehung zur Welt hat, steht die Seele durch ihre Hervorbringung in einem Verhältnis mit dem Körper.

521 »So sind alle Dinge in der Seele lauterer und edler (als Ideen), als sie in dieser Welt sind.« So Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 497. 522 Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 468. 523 Vgl. Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 149; Bd. 2, S. 67. 524 Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 494; Bd. 3, S. 585. 525 Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 2, S. 661.

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3. Das Menschenbild

»Die Seele ist wie auf einem Punkt zwischen Zeit und Ewigkeit geschaffen, die sie beide berührt.526

Dieser Zustand der gegenseitigen Wechselwirkung negiert jedoch nicht die Überlegenheit der Seele, die sich aus ihrer Allumfassendheit und Beständigkeit ergibt. So wie gemäß Jakobus 2,26 (Denn wie der Leib ohne Geist tot ist,) und Johannes 6,63 (der Geist ist es, der lebendig macht), die Seele die Kraft darstellt, die den Körper am Leben erhält, bleibt sie auch nach dem Tod permanent bestehen.527 In einigen seiner Beschreibungen erscheint die Seele als Lebensgrund des Körpers, während der Körper ihr Instrument ist.528 Der Körper verfügt von sich aus über kein Leben, sondern muss von einem anderen bewegt werden; die aus sich selbst bewegte Seele muss demnach unsterblich sein. Es ist eine Tatsache, dass beide Seiten der Seele, die den Schöpfer und die Geschöpfe betrachten, eins sind. Sie sind keine getrennten Dimensionen, sondern im Wesentlichen eins, aber in ihrer Manifestation verschieden. In den Emanationsstufen nimmt die Seele eine bestimmte Erscheinung an, die dem Zustand dieser Stufe entspricht. In dieser Hinsicht ist die menschliche Seele eins mit dem göttlichen Grund in Gott, der bei der Geburt als Sohn bezeichnet wird, und fließt dann auf jede der Ebenen des Herausgehens als (Heiliger) Geist; schließlich geht die Seele durch das Universum und wird auf der Erde verkörpert. Aus diesem Grund ist der Körper ein untrennbarer Aspekt der Seele, ja Seele und Körper sind eins.529 Es gibt Transitivität zwischen den beiden, es gibt keine kategoriale Unterscheidung; unter diesem Gesichtspunkt kann man feststellen, dass es sich keine Seele-Körper-Dualität besteht. Wenn sich der Körper der Seele zuwendet, nimmt die Gleichheit zu.530 So wird der Mensch in seinem Inneren nicht von seinem Körper getrennt, und er wird in seinem Äußeren nicht von seiner Seele getrennt. So wie die Erde den Himmel braucht, braucht der Himmel die Erde (zum Regnen). Aus einer anderen Sicht ist der Abstieg des Himmlischen zur Erde notwendig für den Aufstieg der Irdischen zum Himmel. Der Eintritt der Seele in »Mit den obersten Kräften berührt sie die Ewigkeit, mit den niedersten Kräften aber berührt sie die Zeit. Seht, so wirkt sie in der Zeit nicht nach der Zeit, sondern nach der Ewigkeit« So Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 710. Vgl. Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 5, S. 498; Die lateinischen Werke, Bd. 4, S. 75–79. 527 »Wenn die Seele sich von dem Leib scheidet, so ist der Leib tot, die Seele aber lebt in sich selbst«. Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 2, S. 694. 528 Vgl. Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 467. 529 Vgl. Mieth: Meister Eckhart, S. 86. 530 Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 611. 526

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Kapitel II. Meister Eckhart

den Körper bedeutet, dass der Körper zur Seele zurückkehrt. Wie ist neben dieser relativ positiven Einstellung zum Körper auch Eckharts Verachtung des irdischen Lebens in einigen seiner Reden zu verstehen? Es ist möglich, diese Frage mit einer anderen Frage zu eröffnen: Kritisiert Eckhart die Welt oder die Weltlichkeit? Die Erörterung, die im Kapitel des Vergleichs erneut gestellt werden wird, erfordert ein sorgfältiges Lesen finden. Im Grunde ist der Rahmen der (menschlichen) Beziehung zur Materie Gegenstand der Kritik, nicht die Materie selbst, die mit der Seele vermischt ist. Einige negative Darstellungen des Körpers und der Welt im Allgemeinen sind eigentlich eine Kritik der Äußerlichkeit. Obwohl die Äußerlichkeit mit dem Körper verbunden ist, stammt sie nicht direkt vom Körper, die Äußerlichkeit ist eine Orientierung der Seele. Es ist die Hingabe des menschlichen Willens an seine Außenbe­ ziehungen. Wendet er sich der Seele zu, so gewinnt der Körper an Wert und erhebt sich.531 Wie aus der Analyse der Abgeschiedenheit unten her­ vorgeht, ignoriert Eckhart den Körper nicht, sondern kritisiert die Kör­ perlichkeit.

c. Sohnschaft Geburt ist das zentrale Thema von Eckharts Anthropologie, sowohl im Hinblick auf ein anderes Menschenbild als das der übrigen religiösen Traditionen als auch im Hinblick auf eine originelle Interpretation innerhalb der christlichen Theologie. Ausgehend vom Glauben an die Dreifaltigkeit schreibt er der Geburt eine neue ontische und ethische Bedeutung zu, wodurch sowohl die Natur als auch der Sinn des Mensch­ seins beleuchtet werden. In Übereinstimmung mit der allgemeinen Lehre wird die erste Geburt als erste Emanation betrachtet, die die Wahrheit Christi offenbart, während die ewige Geburt als etwas angesehen wird, das die Hervorbringung der gesamten Wirklichkeit in irgendeiner Weise umfasst. Entsprechend der Transzendenz der Geburt konnte der Sohn, wie bereits hervorgehoben wurde, nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt Es ist möglich, die Wurzeln dieser Annäherung in einer Tradition der Frauenmystik zu finden: »Vielfach begegnet im Mittelalter in der Verbindung mit mystischen Lebens- und Glaubensformen eine Missachtung des eigenen Körpers bis hin zu extremen Formen der Züchtigung und Gefühlen von Ekel. Ganz anders bei Mechthild: Der Körper ist hier kein Hindernis mehr, sondern unersetzliches Medium und eigentlicher Ort der Gotteserfahrung, während die Gotteserfahrung selbst körperliche Gestalt annehmen kann.« Stölting: Christ­ liche Frauenmystik im Mittelalter, S. 175. 531

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3. Das Menschenbild

geboren werden – die Allumfassendheit von in principio –, da Gott durch seine unendliche Seinsgabe ewig schuf. Angesichts ähnlicher Argumente führt Eckhart das Nachdenken weiter und wendet die Geburt, den grundlegenden innertrinitarischen Vorgang, auf alle Existenzbereiche an. Dementsprechend manifestiert sich die ewige Geburt in der mensch­ lichen Seele, und Eckhart stellt eine Einheit zwischen der inneren Geburt, die das Individuum in sich selbst erlebt, und der ersten göttlichen Geburt her.532 Die gedankliche Bildung von Geburt stellt sicher, dass die göttliche Substanz, die die menschliche Natur ausmacht, und der göttliche Grund, der alles Sein hervorbringt, als ein Akt in der Seele zusammenkommen. Gott ist zwar »in geistiger Weise in allen Dingen«533 »gebärend aber ist er nur in der Seele«,534 denn sie ist naturhaft nach Gott gebildet.535 Meint Eckhart die Bilder, die einem plötzlich in den Verstand kommen, die Ideen, die einem ohne nachzudenken im Sinn entstehen, oder die Gefühle im Herzen? Wenngleich seine Lehre dieses Erkennen in sich schließt, spricht er allgemein von einer existenziellen Wirkung, da die Geburt in der Seele zusammen mit dem Erkennen und Werden stattfindet. Die Tatsache, dass die Seele die göttlichen Emana­ tion einerseits und die Geburt im Menschen andererseits beherbergt, befähigt jede einzelne Seele, sich mit der Sohnschaft in Beziehung zu setzen.536 Daraus lässt sich die folgende Schlussfolgerung ziehen: Jeder Mensch wird aufgrund seiner Seele die göttliche Geburt empfangen und kann somit Sohn Gottes werden. Eckhart berichtet, die Geburt persönlich erlebt zu haben und selbst ein Sohn zu sein: »Er (der Vater) gebiert mich als seinen Sohn und als denselben Sohn.«537 So stellt er sich die immerwährende ontische Verbindung zwischen Gottes Geburt Christi und der Geburt seiner eigenen Seele vor. Es ist unzureichend, die Beziehung als Verbindung zu bezeichnen, da beide aus derselben 532 »Ich wiederhole, was ich öfter gesagt habe, dass die ewige Geburt in genau derselben Weise in der Seele geschieht«, Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 4, S. 407. Vgl. Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, 454; Werke, Bd. 1, S. 118, 176, 210. 533 Eckhart: Deutsche Predigten und Traktate, S. 425. 534 Ebd. S. 425. 535 Vgl. Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 4, S. 422. 536 Vgl. Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 2, S. 381. Vgl. auch Manstetten, Reiner: »Chris­ tologie bei Meister Eckhart«, in: Meister Eckhart aus theologischer Sicht, hrsg. Volker Lep­ pin, Hans-Jochen Schiewer, 2007, S. 131–135. 537 Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 454. Vgl.: »innbleibend im ersten Beginn der ersten Lauterkeit … habe ich ewiglich geruht und geschlafen in der verborgenen Erkenntnis des ewigen Vaters, innbleibend unausgesprochen. Aus dieser Lauterkeit hat er mich ewiglich geboren …« So ebd., S. 518.

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Quelle empfangen.538 In dieser Hinsicht wird die semantische Breite der Geburt aus der Notwendigkeit heraus entwickelt, eine Beziehung der völligen Gleichartigkeit zu gewährleisten: »als seinen Sohn ohne jeden Unterschied«.539 Daher ist die allererste und wichtigste Bedeutung des Menschseins, ein Sohn zu sein. Im Rahmen anderer religiöser Traditionen betrachtet, stellt sich eine Frage: Auch wenn behauptet wurde, dass der geistige Grund des Menschen die Manifestation der Gottheit ist, wurde hervorgehoben, dass die Geburt in der Seele zur Sohnschaft führt. Die Menschenseele wird also mit Gott oder mit dem Sohn identifiziert. Diese Frage, die sich aus der Sorge um die Transzendenz ergibt, rührt in erster Linie von dem Verständnis der Dreieinigkeit als drei verschiedene Individuen her. Nach Eckhart – und im Christentum allgemeinen – sind in Gott der Sohn und der Vater wesensgleich, also wird die Menschheit durch den Sohn gesegnet.540 Eckhart konstruiert einen Gottesgeburtszyklus, indem er einen transzendenten göttlichen Geist und das Prinzip der Geburt zugleich zu einer immanenten Essenz macht. In der Metapher des Kreises betrachtet, wird die Linie, die von einem Punkt mit der Menschwerdung Gottes ausgeht, mit der Göttlich-werdung des Menschen vervollständigt. So ist die Geburt, die das geistige Prinzip hinter dem menschlichen Körper mit dem göttlichen Geist hinter der ganzen Welt verbindet, sowohl ein universeller als auch ein individueller Akt.541 Die Sohnschaft, erst als Ausdruck der universellen Hervorbringung konzipiert, wird dann auf die Sphäre der individuellen Erfahrung herabkommen: »Hier ist Gottes Grund mein Grund und mein Grund ist Gottes Grund«.542 Diese Bedeutungserweiterung ist eine grundlegende ideelle Gelegenheit, die auf dem Glauben an die Inkarnationslehre beruht. In der begrenzten Vergänglichkeit öffnet sich damit eine Tür zur ewigen Absolutheit. Wie der Mensch nicht in den Fesseln der Zeitlichkeit steckt, wird auch das umfassende Sein als zeitübergreifend in ihm wirkend. Die unmittelbare innere Erfahrung des Menschen ist die Gottheit selbst, und deshalb legen Eckharts Ansätze zur Seele und zur Geburt die Grundlagen für seine »Aus demselben, aus dem der Sohn empfängt, daraus empfängt auch die Seele«, Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 83. 539 Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, 109. »Das bedeutet, dass Eckhart hier den inner­ trinitarischen Bereich und den Bereich der Seele identisch setzt«. Langer, Christliche Mystik im Mittelalter, S. 345. 540 Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 382–384 541 »Das Sein ist mir noch innerlicher«. Eckhart: Deutsche Predigten und Traktate, S. 137. 542 Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 90. 538

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außergewöhnliche mystische Anthropologie.543 In diesem Zusammen­ hang tritt eine weitere Problematik in den Vordergrund: die Grenze der Vergöttlichung. Während Eckhart kein Bedenken hat, dass jeder Einzelne ein Sohn Gottes genannt wird, kann der Mensch nicht als Gott bezeichnet werden. Die Vergöttlichung des Menschen geschieht, wenn er mit seiner eigenen Innerlichkeit eins wird. Trotz Einheit und Gleichheit kann er nicht den reinen Zustand der Gottheit und das göttliche Selbst darstellen. Der reine Zustand ist der göttliche Grund, und der »Mensch ist nicht Gottes Selbst«.544 Es gibt die materielle Seite des Menschseins, die die Vergänglichkeit berührende Seite der Seele. Es ist dem Menschen nicht möglich, der einzige Gott zu werden; aber es ist möglich, bei Gott und mit Gott eins zu sein. Insofern ist Eckhart keineswegs ein Pantheist, der Gott in die Natur oder den Menschen legt. Gott ist das Sein, das alles Wahrnehmbare oder Verborgene, Physik und alles jenseits von Physik umfasst. Es geht nicht darum, dass der Mensch in seiner inneren Welt ein und dasselbe mit Gott wird, dass er das Selbst Gottes vollständig repräsentiert. Bei der Analyse von Eckhart ist zu berücksichtigen, dass das Hauptziel seiner Predigten darin besteht, seine Zuhörer zu befähigen, die göttliche Geburt in sich selbst zu verwirklichen. Das Ziel ist die Vervollkommnung des Individuums durch die Erlangung der göttlichen Eigenschaften in der eigenen Seele, so dass der Meister verlangt, dass sie ihre eigene Seele erkennen, wobei er seine eigene Erfahrung als Zeugnis anführt. Es wird also davon ausgegangen, dass die Geburt eine gewisse Erleuchtung hervorruft und die Vollkommenheit in wahrer Selbsterkenntnis besteht. Aus der Sicht Eckharts wird Gott erst durch die Erfahrung der seelenimmanenten Sohnschaft in höchstem Maße verwirklicht; da der Sohn eins mit dem Vater ist, sind Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis dasselbe.545 Die Sohnschaftslehre beinhaltet also die existenzielle Erfüllung des Zweckes der Moralisierung und des Erken­ nens. Die Begriffsbildung der Sohnschaft ist die Einheit der Verfahren Witte: Meister Eckhart, S. 275–278. Eckhart: Werke, Bd. 2, 237. Udo Kern beschreibt Eckharts Sichtweise des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch als dialektische Relationalität: Das Mensch ist also Gott ähn­ lich (similis) und nichtähnlich (dissimilis), was analogisch und christologisch fundiert werden kann. Vgl. Kern: Die Anthropologie des Meister Eckhart, S. 19–21. 545 »Die Nähe zwischen Gott und der Seele kennt keinen Unterschied fürwahr. Dasselbe Erkennen, in dem sich Gott selbst erkennt, das ist eines jeden losgelösten Geistes Erkennen und kein anderes.« Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 467. »Dort, wo die Geburt stattfindet, die das Erkennen Gottes von sich selbst bedeutet, dort wird auch der Geist benannt. Als epistemologisches Handeln Gottes bedeutet die Geburt das Erkennen Gottes«. Kern: Die Anthropologie des Meister Eckhart, S. 59. 543

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der Moralisierung und des Erkennens mit ihrer existenziellen Verwirk­ lichung; mit anderen Worten, sie umfasst gleichzeitig den moralischen, den erkenntnistheoretischen und den ontologischen Bedeutungsbereich. Wie die Geburt Gottes Selbsterkenntnis ist, ist die den Menschen her­ vorbringende Geburt dasselbe wie die Selbsterkenntnis des Menschen. In dem Erkennen, dass er Sohn ist, sind menschliches Selbsterkennen, göttliche Koexistenz und menschliche Vollkommenheit ein Ganzes, wie in den folgenden Kapiteln analysiert wird.

d. Ebenbildlichkeit Ebenbildlichkeit (altgriechisch: eikon und lateinisch: imago), verankert in der Bibel (Gen 1,26–27), bietet die Begründung einer Lehre, die theolo­ gische Bedeutung mit der Schöpfungsgeschichte, Anthropologie mit der Beschreibung des Menschen und Ethik mit moralischer Umsetzung in der Praxis enthält. Eckhart entwickelt seine Vision der Ebenbildlichkeit zusammen mit seiner Sicht der Seele und des Sohnes. Dementsprechend wird die Seele als das reine und edle Ebenbild Gottes definiert: »Die Seele jedoch macht er sich so gleich und so ebenbildlich, auf dass er sich in der Seele geben könne.«546

Die Seele, in Natur und Existenz mit Gott eins ist, ist in gewisser Weise mit dem vollständigen Abbild Gottes identisch.547 Durch das Bild ist Gott in all seinen Schöpfungen als Urheber der innebleibenden Werke präsent.548 Da das wesentliche Prinzip jedes Dings in der Seele liegt und aus Gott hervorgeht, werden alle Arten des Existierens auf ein allumfassendes Sein zurückgeführt, das bedeutet, dass die Wahrheiten der Dinge der Erkenntnis Gottes innewohnen. Wenn eine Beziehung aufgrund ihrer Konnotation hergestellt werden soll, identifiziert Eckhart Platonische Ideen mit der Gotteserkenntnis und stellt damit fest, dass die Urbilder von allem in der Gotteserkenntnis liegen. Alles vom größten Engel bis zum kleinsten Körnchen findet sich als »ein gleiches Urbild in Gott«.549 Daher ist Gottes Schöpfung des Menschen nach seinem Bild die Offenbarung eines Wesens, das bereits im göttlichen Prinzip enthalten Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 71. Das Abbild ist eine Bezeichnung für die Seele, siehe: Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 3, S. 19. 548 Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 465. 549 Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 109. 546 547

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ist – oder mit anderen Worten: das Erscheinen des Geistes von Gott in menschlicher Form auf der Erde. Karl Heinz Witte geht vom Beispiel von Michelangelos Davidstatue aus: Das Bild der Davidstatue war im Kopf des Bildhauers, und wenn das Bild nicht im Kopf wäre, würde es nicht in der äußerlich wahrnehmbaren Statue erscheinen. Betrachtet man die Statue allein, kann man sagen, dass sie unabhängig vom Bild im Geist eine eigene Existenz hat: »seltsame Verflechtung von Abhängigkeit und Selbstständigkeit«.550 Es kann Wittes Beispiel hinzugefügt werden, dass Michelangelo kein Bildhauer gewesen wäre, wenn das Bild nicht in der Skulptur verkörpert worden wäre. Insofern weist die Formbindung zwischen Gott und Mensch auf die ontologische Notwendigkeit hin. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Schöpfung nach dem Ebenbild Gottes in direktem Zusammenhang mit seiner naturgemäßen Reflexion steht. Ein weiterer Begriff, der das Verständnis der Ebenbildlichkeit unter­ stützt, ist die Geburt, weil das Gebären und die Erscheinung im Bild für Eckhart dasselbe bedeuten: Alles, was erkannt wird oder geboren wird, ist ein Bild.551 Dementsprechend ist der Sohn mit all seiner Vollkommenheit aus Gott emaniert, spiegelt Gott als sein vollkommenstes Ebenbild auf der Ebene seines Ranges wider. Da Eckhart wie die Seele die Geburt auf alles Dasein ausdehnt, gilt nach ihm auch die göttliche Form für alle Wesen. Jede Geburt erzeugt einen reflektierenden Spiegel. Dieses Thema steht in engem Zusammenhang mit der Antwort auf die Frage, warum Gott hervorhebt, dass er den Menschen nach der Erschaffung der Himmel und der Erde nach seinem Ebenbild erschaffen hat. Die Inkarnation als Zweck der Seinsgabe verweist auf die Kapazität des Menschenseins, die Göttlichkeit sowohl in ihrer umfassenden Einheit als auch in ihrer vielfältigen Erscheinung zu reflektieren. Die im erstgeborenen Sohn Gottes verwurzelte menschliche Essenz offenbart sich vollkommen in der Geschichte der Menschheit als Inkarnation Jesu Christi. Im Kontext des Seelenflusses und des Geburtszyklus betrachtet, geht die Reflexion

Witte: Meister Eckhart, S. 195–196. »Es sagen unsere Meister: Alles, was erkannt wird oder geboren wird, das ist ein Bild; und sie sagen demgemäß: soll der Vater seinen eingeborenen Sohn gebären, so muss er sein (eigenes) Bild als in ihm selbst im Grunde bleibend gebären. Das Bild wie es ewiglich in ihm gewesen ist, das ist seine in ihm selbst bleibende Form.« Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 2, S. 724. 550

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des Seins vom göttlichen Prinzip über in den menschlichen Grund und kehrt vom Menschen zu Gott zurück.552

Gottesgrund:

Menschen -grund:

Seelengrund

Seelengrund

Es ist der Seelengrund, der die beiden miteinander verbindet, während die ständige Relation zwischen Gott und Mensch die Geburt in der Seele ist.553 Jeder Mensch kann die Schöpfung nach dem Ebenbild Gottes auf der oberen Seite seiner Seele in seiner Innerlichkeit erfahren. Im Innern, denn Emanation ist ein Einfließen in das Innere des Menschen, ausgehend von Gottes Innerstem (emanatio ex intimo).554 Äußerlichkeit hingegen sind die veränderlichen Schatten, die nur durch Spiegelungen in der Seele gebildet werden. Damit eine Person erkennt, dass sie in sich selbst ein fester und dauerhafter Spiegel ist, muss sie den durch Äußerlichkeiten verursachten Rost auf dem Spiegel entfernen. Wenn man die Geburt in der Seele erlebt, erkennt man, dass sie eine Erscheinung Gottes ist, der seine Eigen­ schaften widerspiegelt. Die Tugenden, die man im menschlichen Spiegel sieht, sind tatsächlich reflektierte göttliche Eigenschaften.555 Deshalb ist die Moralisierung eine Art von Gottähnlichkeit (similitudo). Aber der Ausdruck Ähnlichkeit sollte nicht täuschen, Ebenbildlichkeit bedeutet nicht, Muster zu sein. Denn ein Muster kann eine Illusion verursachen, »Ein Bild ist im eigentlichen Sinne ein einfaches Ausfließen« So Eckhart: Die lateini­ schen Werke, Bd. 4, S. 423. 553 »Ebenso sollen wir ein Bild Gottes sein, denn Gott hat uns als ein Bild seiner selbst geschaffen«. Eckhart: Werke, Bd. 2, 145. 554 »Das Bild ist in mir, von mir, zu mir«. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 113. 555 Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 529. 552

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dass eine andere sekundäre Entität neben dem Original existiert. Die vollständige Widerspiegelung göttlicher Attribute wie Vollkommenheit und Weisheit liegt nach Eckhart in der Einheit zwischen Gott und Mensch. Die ebenbildliche Beziehung zwischen Gott und Mensch hat noch eine weitere Folge: die Menschlichkeit hat eine wesentliche Bezie­ hung zu allen anderen Kreaturen. So sehr – Eckharts Anthropologie eröffnet sich ein weiteres Feld –, dass der Mensch das gesamte Universum seelisch in sich selbst enthält, was Kurt Flasch wie folgt ausdrückt: »Der Menschengeist enthalte in sich das Universum, nicht dieses und jenes Ein­ zelne, sondern die ganze Welt…«.556 Das Umfassende der menschlichen Wahrheit beruht darauf, dass sie im zuerst aus Gott hervorgegangenen Sohn ist; und da der Sohn – also die Seele – in jedem Werden gegenwärtig ist, entstand tatsächlich die gesamte Welt aus der geistigen Wahrheit des Menschen. Der Mensch ist aufgrund dieses wesentlichen Umfassens das letzte Geschöpf, das in der Welt verkörpert ist. Nachdem die Erde, Tiere und Pflanzen erschaffen wurden, wurde der Mensch erschaffen. Aus die­ sem Grund sind im Menschen die Qualitäten gesammelt, die zu jedem einzelnen Geschöpf gehören: »denn alle Kreaturen sind versammelt zusammengefasst im Menschen«.557 Während der Mensch in einem Zustand ist, in dem er Gott widerspiegelt, sind andererseits auch die For­ men der Dinge im Universum immanent. Auf diese Weise wird die gött­ liche Form der Existenz dem Menschen zugeschrieben, der in ihr eine Brücke zwischen Gott und der Welt ist.

e. Gleichheit Die Gottheit ist eine Einheit, die die Wahrheiten in allen Dingen umfasst, und die Menschheit, die ihr volles Spiegelbild ist, ist ebenfalls Einheit. »Eins sein« bezieht sich für Eckhart auf die gemeinsame göttliche Rela­ tion in jedem Menschen. Jedes Individuum ist wegen seiner inhärenten Göttlichkeit gleich, die sich direkt aus dem permanenten schöpferischen Einwirken ergibt.558 Wenn in Gott alle Zeit zugleich vorhanden ist, dann ist in der ganzen Menschheit die gemeinsame göttliche Wurzel eine. Obwohl jeder Abschnitt geschaffener Zeit verschiedene Ereignisse Flasch: Philosoph des Christentums, S. 148. Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 3, S. 559, 29. Vgl. Flasch: Philosoph des Christentums, S. 148. 558 »Ich sagte einst, dass Gott die Welt jetzt erschafft, und alle Dinge sind gleich edel in diesem Tage«. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 16–17.

556 557

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enthält, verlieren sie ihre vorübergehenden Unterschiede in der Ewig­ keit des Seins »Weil da die Zeit in einem gegenwärtigen Nun ist«.559 Beispielsweise werden Herr, Geist oder Sohn, die die unterschiedlichen Verhältnisse des Seins im allgemeineren Sinne ausdrücken, aufgrund der Besonderheiten in ihrer Erscheinung unterschiedlich benannt, während sie im Gottesgrund ein und dasselbe sind. Diese Einheit und Gleichheit, um die es in der ganzen Existenz und im Wesen der Schöpfung geht, zeigt sich in allen anderen Emanationsstufen. Die gleiche Analogie kann man sich zwischen Gott und dem Menschen vorstellen, da wahres Menschsein ein vollkommenes Gottesbild ist. Das Sein, ob als Gott oder Mensch bezeichnet, ist eins, weil der Spiegel nicht außerhalb des Reflektierten steht, weshalb Eckhart folgert: »Nun gibt es zwischen dem Menschen und Gott weder Fremd noch Entferntsein; und deshalb ist er (= der Mensch) ihm (= Gott) nicht gleich: er ist ihm vielmehr völlig ebenbildlich und dasselbe, was er (= Gott) ganz und gar ist.«560

Eckhart entwickelt seinen Aspekt, dass jeder Mensch gleich ist, basierend auf der Gleichheit von Bild, Sohn und Seele. Denn die Gleichheit zwi­ schen ihnen beruht auf der Einheit mit Gott. Weil am Anfang das Eine war und es immer noch ist, versteht er diese Einheit als Gleichheit aufgrund des Anfangs. Die Abfolge des göttlichen Hervorbringens vollzieht sich immer in einer Ähnlichkeit: die Einheit des Gebärenden und des Gebo­ renen impliziert die Gleichheit des Sohnes, des ersten Bildes, mit Gott.561 Sohn ist dasselbe wie Gott, ebenso wie der aus Gott hervorgehende Geist, sie sind eins im ewigen göttlichen Anfang.562 Diese Gleichheit wird auf die Menschheit ausgedehnt, sowohl weil jeder Seinszustand auf der Geburt beruht als auch weil das menschliche Prinzip dem Sohn innewohnt. Insofern ist das Ergebnis der Geburt nicht Söhne, sondern Sohnschaft, nicht Menschen, sondern Menschheit. Denn obwohl Emanation nach außen Vielheit bewirkt, ist sie in jeder Fließphase in ihrem eigenen Wesen eins. Und die Emanation wird aus Liebe geboren, die Liebe macht alle Dinge gleich. In dem Hervorgehen als Liebesausfließen sind sie gleich,

559 560 561 562

Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 125. Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 16–20. »Gleichheit eignet man in der Gottheit dem Sohne zu«. Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 263. Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 11–14.

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da jedes geborene Ding mit der gleichen existenziellen Wirkung aus der Liebe entsteht.563 Daraus folgt, dass dank der gemeinsamen Menschlichkeit unter den Menschen alle gleich sind – aber wie ist diese Gleichheit zu spüren? Denn von außen betrachtet werden Individuen mit körperlichen, ethnischen und sogar kulturellen Differenzen wahrgenommen. Eckhart glaubt an die innere Gleichheit, da nicht alle äußeren Unterschiede die dauer­ hafte menschliche Identität bestimmen. Wenn der Mensch seine Essenz erfasst, verschwinden die Voraussetzungen in seinem Verstand durch äußere Faktoren. So beschreibt er beispielsweise den Apostel dadurch, dass er »befreit ist von aller Fremdheit«.564 Diese Aussage meint das Prinzip der Gleichheit gegenüber Gott und der Gleichheit gegenüber den Mitmenschen. Unabhängig von seiner weltlichen und auch religiösen Stelle kann jeder eine gemeinsame göttliche Kompetenz haben und die göttliche Vollkommenheit in sich verwirklichen. »Ich sage: Menschheit ist im ärmsten und verachtesten Menschen ebenso vollkommen wie im Papste oder im Kaiser; denn Menschheit in sich selbst ist mir lieber als der Mensch, den ich an mir trage.«565

Der geistige Grund der Menschheit macht Papst und Kaiser mit einem Menschen aus den untersten Gesellschaftsschichten gleich. Eckharts außergewöhnliche Auffassung vereint sowohl die institutionalisierte Autorität der aktuellen Offenbarung als auch die politische Spitze der feudalen Gesellschaft mit deren Randgruppen in der gemeinsamen menschlichen Sphäre. Er setzt alle Menschen in der Essenz gleich, wenn er Gottheit und Menschheit vereint. Eckharts Fenster zu Leben und Gesellschaft öffnet sich zu Einheit und Gleichheit. Ausgehend von dieser ontischen Gleichheit wurde auch die christli­ che Lehre der Nächstenliebe begründet. Eckhart behauptet, um ein Sohn Gottes zu werden, müsse man seinen Nächsten lieben wie sich selbst und sogar bis zur Verleugnung seines Persönlichen und Eigenen.566 »Eigen« bezieht sich auf die Beseitigung der Wirkung äußerer Unterschiede (im unteren Bereich der Seele), die die (menschliche) Essenz bedecken. In 563 Was in jedem Wesen emaniert ist, ist im Wesentlichen gleich, denn: »Es gibt nichts Fremdes in der Einheit«, Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 157. 564 Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 2. 565 Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 293. 566 »Wer Sohn Gottes werden will, dass das Fleisch gewordene Wort in ihm wohne, muss den Nächsten lieben wie sich selbst, das heißt so sehr wie sich selbst, und muss das Persönliche und Eigene verleugnen.« Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 3, S. 242.

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der Lage zu sein, die Person, mit der man zusammenlebt, zu lieben, kann nur erreicht werden, indem eine essenzielle Beziehung zu dieser Person aufgebaut wird, und dies kann erreicht werden, indem die Wahrnehmung von vorübergehenden (äußerlichen) Differenzen befreit wird. Das heißt, beim Betrachten des Mitmenschen sollte zunächst keine Vorstellung in seinem Geist auftreten, die von äußeren Faktoren herrührt. Eine Wahrnehmung, die sich aus der religiösen Beheimatung und den körperlichen Merkmalen der Person ergibt, unterscheidet diese Person von den Anderen. Betrachtet man das Prinzip der Menschlichkeit im Kern des Mitmenschen, erkennt ein Mensch beim anderen, dass er ihm ebenbürtig ist. Dies ist die wahre Bedeutung der Nächstenliebe im Christentum. Sie ist eigentlich die Liebe, die auf der gemeinsamen Emanation basiert. Gerade in diesem Zusammenhang ist das Subjekt Ich, das Eckhart verwendet, wenn er in seinen Reden über sich selbst spricht, bemerkenswert. Manchmal betont er sich selbst als Ich, was sich direkt auf seine eigene unabhängige Erfahrung bezieht, und manchmal mit Bezug auf die gewöhnliche menschliche Natur. Dieses zweite Ich ist das von sich selbst gereinigte Selbst in der gemeinsamen Wahrheit und ist tatsächlich eins und völlig gleich mit der göttlichen »Istheit«.567 Das menschliche »ich« ist mit dem Wort Gottes, dem »ich bin«, vereint. Wenn Gleichheit das ewige gemeinsame Prinzip ist, was ist dann die exis­ tentielle Bedeutung von Differenzen. Es wurde schon bereits hervorgeho­ ben, dass die Differenzen nicht in der Substanz der Existenz entstehen, sondern in ihren Zuständen. Zuallererst gibt Gott alles gleichermaßen.568 Wenn Gott wirkt, weicht er nicht von seiner Einheit (Göttlichkeit) ab, während die Zustände der Geschöpfe anders sind. Nach Eckhart entstehen die Differenzen in den »Werken«. Obgleich sich das Werk mit der unveränderlichen Einheit des Selbst Gottes befasst, manifestiert es sich in den Geschöpfen in unterschiedlichen Formen. Dies geschieht, wenn Gott sich in seinem Werk und nicht in seinem Wesen offenbart. Auf der anderen Seite unterscheidet sich jeder Mensch zwar in seinem eigenen wahrnehmbaren Lebensraum, ist aber insofern gleich, als er aus dem Künstler herausgekommen ist. Außerdem werden Menschen dem Künstler gleichgesetzt, weil sie nicht nur im Akt des Künstlers auftreten, sondern im Innersten eins sind mit dem Künstler selbst. Wenn jemand seine seelische Essenz erfasst und sich mit ihr vereint, ist er tatsächlich mit anderen Menschen vereint und die Entfremdung verschwindet. Insofern 567 568

Vgl. Witte: Meister Eckhart, S. 221–226. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 21,22.

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ist der Aufruf der Offenbarung, »einander zu lieben«, nicht nur eine ethi­ sche Aufforderung, sondern eine ontische Notwendigkeit, die auf der menschlichen Natur beruht.569 Eckhart sprach es in der Einleitung zur sechsundvierzigsten Predigt vor der Gemeinde aus: eins sein, sich in gemeinsamer Wahrnehmung treffen und sich von der spaltenden Vielfalt fernhalten, die durch Entfremdung entsteht. »Wollt ihr selig sein, so müsst ihr ein Sohn sein, nicht viele Söhne, sondern ein Sohn.«570

3.2. Ziel des Menschseins Die Frage, warum der Mensch geschaffen wurde, erfordert im religiösen Rahmen zwei Antworten: im Sinne des Verständnisses des göttlichen Willens einerseits und der Bestimmung der menschlichen Verantwor­ tung andererseits: Warum hat Gott den Menschen erschaffen und was wird vom Menschen im Gegenzug erwartet? Da Eckharts Lehre auf Ein­ heit beruht, ist die Ursache der menschlichen Existenz als ontologische Frage auch eine ethische Frage im Sinne der menschlichen Vollkommen­ heit. Dem liegt zugrunde, dass Christus, das in allen Menschen gegenwär­ tige Prinzip der Menschlichkeit, sowohl existenzielle als auch moralische Bedeutungen enthält. Die Wesentlichkeit der göttlichen Geburt in der Schöpfung und die Zentralität der menschlichen Geburt (in der Seele) in der Spiritualität machen zuallererst die Sohnschaft in jeder Hinsicht zu einem Prinzip. Als ontisches Prinzip ist der Sohn, der durch seine göttli­ che Geburt offenbart wurde, der Beginn der Humanisierung. Geburt soll das Gezeugte hervorbringen, daher ist die Menschwerdung das Ziel der Seinsgabe. In der Emanation floss der Heilige Geist durch die gesamte Existenz und erreichte seine vollkommenste Station im Menschen. Auch der Geburtszyklus begann mit der Menschenseele und vervollständigt sich mit deren Verkörperung, weshalb es bei Eckhart heißt: »und jedes Gebären zielt auf den Menschen«.571 In jedem Augenblick, und zwar immer mit der heiligen Geburt am Anfang und im menschlichen Dasein durch den Heiligen Geist, wird der Zweck der Seinsgabe erfüllt. 569 570 571

Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 133. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 491. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 407.

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Eckhart fragt: »Was ist das letzte Endziel?« und antwortet: »Es ist das verborgene Dunkel der ewigen Gottheit«.572 Diese bemerkenswerte Aussage weist auf das Ziel sowohl beim Bringen als auch Erhalten des Seins hin. Die göttliche Natur – hier definiert als ewige Gottheit – muss gebären, während der daraus resultierende Sohn wieder Einheit begehrt und zu ihrem Ursprung zurückkehren möchte. Auch die aus dem Sohn verkörperte Menschheit will von Natur aus zur Göttlichkeit zurückkehren. Denn das im seelischen Fluss des Geburtszyklus verwirk­ lichte obligatorische Ziel spiegelt auf der Ebene der Menschheit wider: Der Mensch wurde ins Leben gerufen, um in seiner Seele zu gebären, dafür muss er zunächst sich selbst kennen. Da er mit sich selbst die Welt und Gott kennen und die Essenz in seiner Seele entdecken wird, wird er erkennen, dass auch Gott ihn kennt. Somit ergänzen sich die beiden Erkennensprozesse: Der Abstieg vom göttlichen Grund und der Aufstieg von der menschlichen Basis treffen aufeinander, beide Gründe überschneiden sich. Somit treffen das Hervorbringen Gottes zur Selbst­ erkenntnis und die Geburt des Menschen, in der er sich selbst kennt, zusammen. Nach Eckhart ist dies der wahre Grund für die Erschaffung des Menschen.

Geburt im Seinsgrund Gottes

Geburt im Seelengrund Menschen

Ganz am Anfang der sechsundsiebzigsten Predigt, nachdem gesagt wurde, dass das Erkennen des Menschen und das Erkennen Gottes eins sind, hebt Eckhart hervor, dass die Existenz geschaffen wurde, um zu erkennen und erkannt zu werden.573 Während dieser Ausdruck einerseits die Notwendigkeit des Menschseins andeutet, weist er andererseits darauf hin, dass der Mensch existiert, um die Geburt in der Seele zu

572 573

Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 265. Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 3, S. 310–311.

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erfahren. Welche Beziehung Gott auch immer zum Menschen hat, der Zweck besteht darin, die Menschheit zur Geburt zu führen: »Auf dass Gott in der Seele geboren werde und die Seele (wiederum) in Gott geboren werde.«574

Dies ist der eigentliche Zweck der Religion, die der Menschheit gegeben wird. Alle Anbetung dient dazu, den Menschen auf die Geburt im Geist vorzubereiten. Eckhart berichtet, dass er nach dem Zweck des Gottesdienstes und nach ihrer Weisheit gefragt wurde, warum sie beten und fasten, und er antwortet damit, dass der Zweck allen Gottesdienstes (und der Existenz im Allgemeinen) die Gottes Geburt in der Seele und die Geburt der Seele in Gott ist. Er behauptet sogar, dass die Koexistenz beider Geburten und damit die Einheit von Gottes Hinwendung zum Menschen und der Zuwendung des Menschen zu Gott der Zweck der Schöpfung ist. Damit der Mensch erkennt, dass die Geburt in Gott stattfindet, damit Erkenntnis, Geburt und Emanation auf beiden Seiten eigentlich in einem Sein geschieht, damit er erlebt und genießt, soll er ver­ stehen, dass Gott erkennt, wenn der Mensch erkennt, Gott erlebt, wenn der Mensch etwas erlebt, und Gott genießt, wenn der Mensch genießt: »Und nicht nur die Heiligen und die Engel, vielmehr Gott selbst hat so große Lust daran«.575

Insofern ist das Ziel des Menschseins eigentlich das Leben als Men­ schen.576

a. Selbsterkennen als Gotteserkennen In Eckharts Lehre ist Gotteserkenntnis identisch mit menschlicher Selbsterkenntnis, sowohl weil die Christologie menschliche Erfahrung einschließt, als auch, weil geistige Erkenntnis, die höchste Gotteserkennt­ nis, durch die Selbsterkenntnis des Menschen erlangt wird. Das Wissen um fast alle Begriffe wie Gott, Sohn, Geist und Welt ist nicht indirekt, sondern direkt und wesentlich mit dem Wissen über den Menschen verbunden. Da Eckharts Ontologie die menschliche Existenz auf alle Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 407. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 77. 576 »Das principium und Ziel des Menschseins, für das der Mensch da ist und lebt (»fini, cui est et cui vivat«), ist Gott.« Kern Udo: Gottes Sein ist mein Leben. Philosophische Brocken bei Meister Eckhart, Berlin 2003, S. 14. 574

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Bereiche des Seins bezieht, bezieht sich alles Erkennen über die Exis­ tenz auch auf menschliches Erkennen im innersten Seelenteil, dem »Bürglein«.577 Es ist möglich, durch die Beobachtung der Außenwelt Erkenntnisse über Gottes schöpferische Attribute zu erlangen, aber er ist an dieser Art von kosmologischen Beweisen nicht sehr interessiert. Denn die Geburt des Sohnes findet nicht in der äußeren Betrachtung, sondern in der inneren Erfahrung statt. Wie also wird jemand in seiner eigenen Innerlichkeit Zugang zu göttlichem Erkennen haben? Die Erlangung von Wissen über etwas erfolgt durch die Bildung eines bestimmten Verständnisses in der Seele von dem, was man von dieser Sache mit seinen Sinnen wahrnimmt. In diesem Zusammenhang akzeptiert Eckhart die aristotelisch-avicennische Konzeption, dass der Prozess des Erkennens in der menschlichen Seele geschieht, und er teilt dabei die von der Seele erlangten Erkenntniswege in drei Kategorie. Die erste Art ist die Erkenntnis der Kreaturen, die mit den fünf Sinnen wahrgenommen und nur mit den Sinnesmitteln von existierenden Din­ gen empfangen wird. Es gibt keine Möglichkeit, Gott auf diese Weise zu kennen. Die zweite Art der Erkenntnis ist seelisches Erkennen ohne Gegenwärtigkeit der Objekte. Eckhart gibt ein Beispiel für diese Art von Wissen als geistige Erinnerung an einen sehr entfernten Freund. Derzeit ist der Freund nicht vor ihm; aber der Verstand erinnert sich daran, weil er vorher in einer bestimmten Sinnesbeziehung zu ihm stand. Auch diese Art der Erkenntnis hat keine Möglichkeit, das Göttliche zu erfassen, denn stoffliche Materie ist gebunden. Mit dieser Methode ist weder Erkenntnis von Gott noch auch von den lauteren Wesen wie Engeln möglich. Denn es gab keine derartige Teilnahme, die der Mensch zuvor an diesen reinen Wesen erlebt hat. Und die dritte ist die geistige Erkenntnis, bei der sich die Seele von allem Materiellen und Körperlichen entzieht ist.578 So wird die Seele von allen gegenwärtigen Sinneseffekten und Bildern gereinigt,

577 Bürglein in der Seele: »Mit dem Teile ist die Seele Gott gleich und sonst nicht« Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 36. Eckhart sagt, dass er sich selbst und Gott kennt, indem er sich mit dem Sohn identifiziert: »Damit ist uns zu verstehen gegeben, daß wir ein einiger Sohn sind, den der Vater ewiglich geboren hat aus dem verborgenen Dunkel ewiger Verborgenheit (und doch) innebleibend im ersten Beginn der ersten Lauterkeit, die da eine Fülle aller Lauterkeit ist. … Aus dieser Lauterkeit hat er mich in Ewigkeit geboren als seinen eingeborenen Sohn in das Ebenbild seiner ewigen Vaterschaft, auf daß ich Vater sei und den gebäre, von dem ich geboren bin.« Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 4., S. 518. 578 »…bei dem die Seele allen materiell gegenwärtigen und körperhaften Dingen entzogen wird.« Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 647.

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die sich zuvor im Geist vorgestellt haben, und wendet sich dem reinen Sein zu.579 Eckhart, getreu der noetischen Wissensebene der neuplatonischen Tradition, sieht die wahre Erkenntnis des Seins im oberen Teil der Seele, der direkt mit dem Göttlichen verbunden ist. Dieses Erkennen ist ebenso rein wie der obere Teil der Seele, der »rein geistiger Erkenntnis« ist.580 Um rein zu sein, muss dieses Erkennen nach außen geschlossen sein, von außen gereinigt, daher ist es ganz innen und »von innen muss es heraus kommen«.581 Dort sind dem Menschen alle Dinge gegenwärtig. Indem er seine Wahrnehmungen abschirmt, indem er sich direkt in seine innere Betrachtung vertieft, wendet er sich dem ursprünglichen, eigentlichen Bild der Gegenstände zu; denn eine reine Realität kann durch reine Mittel gelenkt werden. In diesem Zustand gibt es keine Wirkung von den äußeren Gestalten der Dinge, wenn das Wissen augenblicklich erfolgt, wie beim Aufleuchten eines Lichts. In diesem Licht werden alle Kräfte der Seele im Sinnesvermögen erhöht, aber der hier im Geist entstehende Gedanke ist keiner, der uns durch die Sinne vermittelt wird.582 In seinen Predigten verweist Eckhart manchmal durch Redewendungen wie »Mir kam gestern Nacht der Gedanke…«583 auf eigene (Geburten der) Erkenntnisprozesse.584 Die in der religiösen Ideengeschichte häufig verwendeten fünf kosmologischen Beweise beruhen im Allgemeinen auf einer Methode, die die Existenz Gottes aus der Kreatur belegt. Aber nach Eckhart sind die Wahrheiten der Dinge bereits im Menschen gesammelt, und indem der Mensch sich selbst kennt, wird er alle Kreaturen kennen.585 Er berichtet, dass einige Meister sagen, dass jeder, der die Natur kennt, Gott kennt. »Wollte ich Gott ansehen mit meinen Augen, mit jenen Augen, mit denen ich die Farbe ansehe, so täte ich gar unrecht daran, denn dieses (Schauen) ist zeitlich; nun ist aber alles was zeitlich ist, Gott fern und fremd.« Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 127. 580 Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 211. 581 Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 51. 582 »Dieses Licht kann der Mensch wohl wahrnehmen. Wenn er sich zu Gott kehrt, schim­ mert und glänzt in ihm ein Licht und gibt ihm zu erkennen, was er tun und lassen soll, und sehr gute Wegweisung, von der er vorher nichts wusste noch etwas verstand.« Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 4, S. 413, 45–48. Vgl. Witte: Meister Eckhart, S. 183. 583 Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 543. 584 Dieser Ausdruck weist eigentlich auch auf ein völlig neues Wissen der Physik hin, genauere Intuition: »Gestern Abend kam mir der Gedanke, dass der Himmel gar viele sind.« So Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 547. 585 »Wer sich selbst erkennt, der erkennt alle Kreaturen«. Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 3, S. 315. 579

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Da aber die Erkenntnisse des gesamten Universums bereits in Gott gesammelt sind, kennt der, der Gott kennt, das Universum. Aus diesem Grund sollte der Mensch, anstatt draußen nach kosmologischen Bewei­ sen zu suchen, versuchen, Gott unmittelbar im Inneren zu finden:586 Die »Unmittelbarkeit« von Eckharts eigener Methode des Wissenserwerbs kann als der Angelpunkt seiner Lehre angesehen werden: Zuallererst sollte der Mensch sich Gott zuwenden, ohne in sich selbst etwas zu einem Werkzeug zu machen und ohne in seinem Geist etwas aus der äußerlichen Welt zu imitieren (indem er an Gott denkt). Zweitens, der direkte Weg zu Gott ist der eigene, weil die Suche im Außen Gott entfremdet, während die Suche im Inneren auf der Einheit des Gesuchten und des Suchenden beruht. Menschliches »Ich« findet Gott in sich selbst als eigenes »Ich«.587 Anstatt die Wirkung Gottes in der äußeren Vergänglichkeit zu suchen, sollte man direkt die Göttlichkeit suchen, die in der inneren Beständigkeit vorhanden ist. Somit ist das »Innere« nichts anderes als Göttliches. Aus diesem Grund wird die Reinheit der Erkenntnis beeinträchtigt, wenn das Äußere im Erkennen der Wahrheit der Dinge erfasst oder dann sogar verehrt wird. Eckharts Idee der reinen Innerlichkeit lässt sich besser verstehen, wenn Platons zentrale Idee des »Guten« mitgedacht wird. Wenn der Geist auf einer rein konzeptionellen Ebene über das Gute nachdenkt oder auch nicht frei von konkreten guten Praktiken ist, ist das »transzendente Gute« auf den Kontext eines bestimmten Phänomens beschränkt. In diesem Fall wird versucht zu verstehen, was Güte im Einklang mit dem guten Charakter von Person A oder guten Praktiken von Person B besagt. Es ist jedoch notwendig, darüber nachzudenken, was Güte ist, frei von allen äußeren Faktoren: zu verstehen, was das Gute als Ganzheitliches und Inklusives ist, indem man den Geist von allem Wissen über das Gute entleert, das im Geist existiert. Wie kann man nun Erklärungen und Argumente dafür finden, was gut ist, wenn das Äußere entfernt wird? Laut Eckhart ist es der »Geburt« zu verdanken, die hier durch die Reinigung erreicht wird; da diese Geburt auch göttliche Selbsterkenntnis ist, wird sie Erkenntnis an sich gebären. Dies ist nichts anderes als die Offenbarung, die der Sohn erhalten hat. Statt des schon vor bestimmter Zeit festgelegten Wissenserwerbes erfährt der Mensch aktuelle Erkenntnisse über Gott von Gott. 586 Über seine Methode sagt er: »Soll ich auch Gott erkennen, so muss (auch) das ohne Bild und ganz unmittelbar geschehen«. Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 61. 587 »Manche einfältigen Leute wähnen, sie sollten Gott so sehen, als stände er dort und sie hier. So ist es nicht. Gott und ich, wir sind eins. Mit Erkennen nehme ich Gott in mir auf, mit Liebe trete ich in Gott ein.« So Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 113.

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Die Offenbarung, die in den oberen Teil der Seele fließt, veranlasst Eckhart nicht, die Vernunft abzulehnen. Obwohl mystisches Erkennen als eine Art Intuition beschrieben wird, die durch die Geburt jenseits rationalen Denkens erlangt wird, anerkennt Eckhart auch die geistige Kompetenz als Vernunft, wenn die Geburt die individuelle Vernunft mit der universellen verbindet. Was auch immer die Stellung der Vernunft in der Gottheit ist, sie ist auch im Menschen von vorrangiger und höchster Bedeutung. Wenn der Mensch sich zur Vernunft erhebt, kann er eins mit Gott werden: Zum Intellekt aufsteigen, sich ihm unterwerfen, heißt daher mit Gott vereinigt werden.588 Wir müssen uns hier vor einem Missverständnis schützen: Hier geht es nicht über den Verstand, der die Heimat des rationalen Denkens im modernen Sinne ist. Nach Eckharts Interpretation beinhaltet der Intellekt das eigentliche, gereinigte Denken zusammen mit allen anderen Arten von Gedanken. Da das Göttliche reines Denken als reines Sein ist, ist der höchste Teil der menschlichen Seele die denkende Seite. Auf dieser Höhe sind der menschliche und der göttliche Geist zusammen: »Vernunft ist der Tempel Gottes«.589 Das Erkennen ist edler als der Wille, da er ohne Mittler und nackt greift. Auch ist es höher als die Liebe, weil die Liebe zu etwas neigt, weil es gut ist; das Erkennen akzeptiert etwas so wie es ist.590 Daher ist es das Erkennen, das zu Gott passt, und es führt auch zu Gott. In der Erleuchtung wird die Vernunft die Seele und die geborene Intuition nicht verlassen, vielmehr wird der Geist des Einzelnen mit dem Göttlichen integriert. Wenn seine Ansichten über die Beziehung von Geburt und Vernunft allgemein bewertet werden, kann man feststellen, dass Eckhart zu einer Synthese gelangte: Er verbindet die Theorie der Einheit der Vernunft der peripatetischen Philosophie mit der christlichen Geburtstheologie. Im Zusammenhang dieser vergleichenden Untersuchung fällt die Vernunftkritik von Ibn al-ʿArabī ein, und es stellt sich folgende Frage: Was ist mit dem Herzen? Während Eckhart den Geist erhebt, schreibt er auch dem Herzen ähnliche Qualitäten zu. Das Haus der Seele ist nach ihm das Herz. Denn es ist das Zentrum, das die Vitalität des Körpers liefert und das Tor zur Seele ist. Der Einfluss Gottes tritt

588 »Ascendere igitur ad intellectum, subdi ipsi, est uniri deo«. Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 2, S. 536. 589 Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 109. Vgl. Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik, S. 279. 590 Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 487.

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zuerst im Herzen auf.591 Der Unterschied zu anderen Erkenntnissen besteht darin, dass unmittelbar göttliche Wahrheiten im Herzen geboren werden. Dieser göttliche Geist (in gewisser Weise das Herz Gottes) sind Erkenntnisse, die zum menschlichen Geist (d.h. dem Herzen) fließen. Aber Eckharts Würdigung des Herzens schließt die Vernunft nicht aus, denn wir erfahren, dass sie in einem ganzheitlichen Verhältnis zu einander stehen, jedoch auch einige eindeutige Unterschiede spürbar sind. Beispielsweise kann die plötzlich im Herzen auftretende Inspiration nicht leicht verstanden werden:592 Diese angeborenen Erkenntnisse im Herzen können Mehrdeutigkeiten haben, das ist der Unterschied zur rationalen Kognition. Im Unterschied zur Vernunft ist das Herz der Ort, an dem die glaubensbezogenen Inspirationen und auch Gefühle gesammelt werden. Eckhart legt besonderen Wert auf das Herz, wenn es um den Grad des Glaubens geht, wie Aufrichtigkeit oder Liebe. Die Zunahme der Aufrichtigkeit in der Hinwendung zu Gott findet im Herzen statt. Eckhart erinnert an folgenden biblischen Vers: »Der Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an« (1 Sam 16,7). Damit betont er in mancher Hinsicht besonders das Herz, zum Beispiel, dass das Wissen um Tugenden »in bildhafter Anschauung« im Herzen entsteht. Eckhart verbindet sonst ähnliche Inhalte mit beiden, ohne eine scharfe Differenzierung zwischen Vernunft und Herz vorzunehmen. Da der reine Grund der Seele als Geist definiert wird, schreibt er beiden Ähnlichkeiten in einem Feld zu, in dem sich Vernunft und Herz kreuzen. So wird die Erkenntnis sowohl des Verstandes als auch des Herzens in der Seele gesammelt; spirituelle Erkenntnis ist die inklusive Fähigkeit, wahre Erkenntnisse über Dinge unterschiedlichen Grades zu erlangen, von erschaffenen Teilchen bis zu großen Himmelskörpern, von Engeln bis hin zu Gott. Die Ursache dieser Besonderheit ist, dass die Seele auf dem göttlichen Bild gegründet wurde.593 Wenn jemand seinen Intellekt von allen äußeren Einbildungen befreit hat und göttliches Licht auf dem gereinigten Spiegel zu reflektieren beginnt, ist dies ein Zustand des vollständigen Bildes. Wo der Sohn abgebildet ist, hat auch die Seele einen abgebildeten Zustand erreicht. Mieth beschreibt seine zentrale Rolle wie folgt: »Herz ist die zentrale Metapher für das innerliche Ankommen Gottes«. Mieth: Meister Eckhart, S. 123–124. Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 181. 592 Vgl. Mieth: Meister Eckhart, S. 103–104. 593 »Da nun die Seele ein Vermögen hat, alle Dinge zu erkennen, deshalb ruht sie nimmer, bis sie in das erste Bild kommt, wo alle Dinge eins sind, und dort kommt sie zur Ruhe, das heißt: in Gott.« So Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 43. 591

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Nach der Geburt in der Seele entsteht eine Schau, im höchsten Teil der Seele schaut der Mensch auf Gott,594 und dies Schauen ist kein sensorischer Augeneffekt und keine Objektbeziehung. Es ist die Kombination zweier Augen zum Auge der Seele. Vielerorts macht er markante Aussagen über die immaterielle und vollkommene Reinheit der Schau mit den Augen der Seele: »Aber manche Leute wollen Gott mit den Augen ansehen, mit denen sie eine Kuh ansehen, und wollen Gott lieben, wie sie eine Kuh lieben«.595

Hier geht es um die Koexistenz von Schauen und Erkennen. Die Gottesschau bringt die Gotteserkenntnis mit sich, die in der Tat die Betrachtung dessen ist, was einem selbst immanent ist.596 Auch hier lenkt die Einheit von Schauen und Erkennen die Aufmerksamkeit auf eine andere Wahrheit: Es ist notwendig, von der Knechtschaft zur Sohnschaft aufzusteigen, denn nach Eckhart kann niemand jemanden so gut kennen wie sein Sohn.597 Solche Erkenntnis ist als die Gesamtheit des mit dem Seinszustand erfahrenen Wissens Seligkeit und darin jeder Erkenntnis überlegen.598 Auf diese Weise, wenn die Dualität aufgehoben ist und die beide Erkenntnisse zusammengekommen sind, ist es die reinste Form der Hinwendung des Menschen zu Gott, in seiner Seele, die eigentlich Gott ist. So wie Gott sich selbst bei der Erschaffung des Menschen kannte, erkennt der Mensch sich selbst, während er das Göttliche in seiner eigenen Seele gebiert. Auf diese Einheit wurde nach Eckhart in der Bibel hingewiesen: »Wir werden Gott recht erkennen, wie Gott sich selbst erkennt« (Joh 3,2). Jedoch scheint er sich nicht mit der wörtlichen Bedeutung dieses Verses begnügen zu wollen und behauptet, dass »rechtes Erkennen« nur dann verwirklicht werden kann, wenn man mit seinem eigenen Selbst-Erkennen eins wird.

Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 427. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 195. 596 Er unterstreicht die Einheit von Schauen und Erkennen wie folgt: »Ich sage: Wenn der Mensch, die Seele, der Geist Gott schaut, so weiß und erkennt er sich auch als erkennend, das heißt: er erkennt, dass er Gott schaut und erkennt«. Eckhart: Werke, Bd. 2, 329. Auch: »die edle Seele ein erkennendes Anschauen der ganzen göttlichen Natur (zusammen) mit dem ewigen Worte hatte.« So Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 523. 597 Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 491. 598 Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 467. 594

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»Ich aber sage: Wir werden ihn erkennen recht so, ›wie er sich selbst erkennt‹ in dem Abbild, das einzig Bild Gottes und der Gottheit ist, der Gottheit indessen nur, insoweit sie der Vater ist«.599

Nicht nur der Mensch kennt Gott, Gott kennt auch den Menschen in derselben Erkenntnis, das heißt er kennt sich selbst. Während sich der eine aus der Dichte und Menge hin zur Seele wendet, wendet sich der andere von der Reinheit und Einheit zur Seele und vereint sich mit ihr in demselben Erkennen. Hier ist nochmals der Anfang der sechsundsiebzigsten Predigt zu nennen: »Man muss wissen, dass Gott zu erkennen und von Gott erkannt zu werden, Gott zu sehen und von Gott gesehen zu werden, der Sache nach eins ist.«600

Selbsterkenntnis ist also nicht nur intellektuelles Unterfangen, sondern erscheint sowohl als Ziel als auch als Ergebnis religiöser Praxis. So wie der Gläubige bei der Erfüllung der Gottesdienste sich selbst zu erkennen erzielt, unterstützt die religiöse Praxis auch die Selbsterkenntnis, wenn sie erfüllt ist. Selbsterkenntnis wird jedoch nicht aus der Tat selbst gewonnen, sondern hat ihren Ort ausschließlich in der menschlichen Seele. Daher ist es nicht das religiöse Ritual selbst oder das Denken über dieses Ritual, das die Aufmerksamkeit des Gläubigen lenken muss: Die Menschen sollen nicht zu viel über ihre Taten nachdenken müssen, sie müssen im Grunde darüber nachdenken, was sie sind.601 Nach Eckharts Überzeugung gehen gute Taten von einem Menschen aus, dessen Natur gut ist, gerechte Taten von einem Menschen, dessen Natur gerecht ist.602 Dies bedeutet buchstäblich: Die Identifizierung des Individuums mit dem Sohn durch die volle Erfassung seiner eigenen Natur, d.h. Selbsterkenntnis und damit seine Geburt als Sohn Gottes, was nur durch vollständige Reinigung geschehen kann, ist höchste ethische und geistige Vollkommenheit.

b. Der Weg zur Einheit: Abgeschiedenheit und verwandte Begriffe Abgeschiedenheit ist die Lehre, in der die Korrelation der Zweiseitig­ keit von Begriffen in der Mystik Eckharts am deutlichsten hervortritt. Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 63. Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 3, S. 310–311. Vgl. Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 3, S. 239–240. 601 Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 5, S. 197. 602 »Bist du gerecht, so sind auch deine Werke gerecht.« Ebd., S. 197. 599

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Ihre Bedeutung ist auf existentielle Einheit hin ausgelegt, und ihr Gel­ tungsbereich umfasst die göttlichen und menschlichen Ebenen. Der Grund, warum Abgeschiedenheit nach Selbsterkennen für den Zweck des Menschseins thematisiert wird, liegt darin, dass sie sowohl die zur Erreichung des Ziels notwendige Reinigung der Seele umfasst als auch eine existenzielle Bedeutung für den Zweck der Seinsgabe enthält. In Eckharts Schriften finden sich verwandte Begriffe, die häufig in Verbin­ dung mit Abgeschiedenheit verwendet wurden, wie Demut, Armut, Selbstaufgabe und Gelassenheit. Auch wenn Eckhart alle diese Worte im selben Kontext verwendet, drückt er doch mit der jeweiligen Wortwahl grundlegende Unterschiede aus. Der gemeinsame semantische Grund basiert auf geistiger Entleerung, indem man sich selbst kennt und so die Einheit mit dem Gott erreicht. Es gibt eine vollständige Überschneidung zwischen der Abgeschiedenheit und der Einheit. Das zweite ist die natürliche Folge des ersten. Auch hier gibt es einige Themen, die mit Abgeschiedenheit verknüpft sind, wie Liebe und Barmherzigkeit, die auf die Bedeutung des Menschseins hinweisen. Wenn man Eckharts Abgeschiedenheitslehre und verwandte Begriffe im Sinne der islamischen Mystik versteht, können sie als spi­ rituelle Aufstiegsstufen angesehen werden. Die Begriffe Liebe, Demut und Barmherzigkeit bezeichnen dann unterschiedliche, aber verwandte Dimensionen der spirituellen Perfektion.603 Dementsprechend heißt es in einem lateinischen Sermon, dass der Mensch für seinen Aufstieg drei Dinge braucht: Liebe, Armut und Demut.604 Werden die Stufen (maqām) im Sinne der Sufis als aufeinanderfolgend verstanden, so wäre es auch für Eckharts Darstellung von Stufen genauer, statt eine Treppe ihre ineinander verschlungenen Ringe zu visualisieren. Damit ist, wie Eckhart in seiner Rede von Abgeschiedenheit besonders betonte, die Abgeschiedenheit der einzige Weg, bei der sich alle Ringe überschneiden und die zur vollständigen Einheit führt. Als eines der mit Abgeschiedenheit semantisch übereinstimmenden Konzepte beantwortet Liebe zugleich beide Fragen, warum Gott geschaf­ fen hat und wie man Gott erreicht. In den Antworten auf beide Fragen wird der Schluss gezogen, dass die Liebe ein Mittel ist, das zur Gleichheit mit Gott führt.605 In dieser Richtung spricht Eckhart von drei Arten der Liebe – wie das bei vielen christlichen Denkern anzutreffen ist: 603 604 605

Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 808. Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 617. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 677.

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natürlich, gnadenhaft und göttlich. Natürliche Liebe ist die Art, zu der jedes Geschöpf Zugang hat, und sie findet zwischen Individuen statt. Gnadenhafte Liebe ist zwar spirituell, enthält aber eine Motivation zum Mitleid. Wenn man darauf achtet, gibt es in beiden Liebesbeziehungen eine Orientierung von einer Seite zur anderen, das heißt, es gibt keine Gleichheit, die die Zweiheit aufhebt. In der natürlichen Liebe können körperliche Impulse die Liebe stören; in der gnadenhaften Liebe werden andere Emotionen wie Mitgefühl mit der Liebe vermischt und als Folge davon setzt sich die Dualität fort. Die dritte Art der Liebe ist sowohl geboren als auch auf die Einheit ausgerichtet. Demzufolge ist die Liebe in Gott selbst gegenwärtig und wird durch die Geburt offenbart, und der Mensch erfährt sie in sich selbst. So treffen sich göttliche und menschliche Liebe an derselben Quelle. Obwohl Eckharts Einteilung in drei Typen darin besteht, sie in Richtung göttlicher Vollkommenheit einzustufen, hat sie noch einen anderen Zweck. Da Gott Liebe ist und sein Handeln aus Liebe kommt, zeigen uns laut Bibel die drei Arten von Liebe, dass sich in der Welt nichts außer durch Liebe bewegt. Die Liebe durchdringt alles in all seinen Ausprägungen, vom Natürlichen bis zum Himmlischen, sogar »ein Stein hat auch Liebe«.606 Da die innere Struktur der Dinge auf Liebe aufgebaut ist, suchen sie ihr Wesen in der Liebe. Diese Suche ist auch der Wunsch, sich selbst zu perfektionieren, indem man den mit der Stofflichkeit verbundenen Mangel ausgleicht. Das ultimative Ziel der Perfektion ist die Verwirklichung der Ebenbildlichkeit, das heißt die Erlangung des ersten menschlichen Vorbildes bei der Wurzel, von der aus die göttliche Liebe alle menschlichen Neigungen durchdringt. Wozu man liebevoll neigt, hat eine göttliche Bedeutung, und deshalb bedeutet »Liebet einander!« nach Eckhart: »ineinander«. Der folgende Vers weist auf diese Bedeutung hin: »wer in der Liebe ist, der ist in Gott und Gott ist in ihm« (1 Joh 4,16).607 Aufgrund der umfassenden Liebe liebt der Mensch sich selbst, seine Umgebung und Gott, und in der Liebe ist alles miteinander verflochten. Christliche Nächstenliebe geht über die eigene Liebe hinaus: »der muss seinen Mitmenschen lieben wie sich selbst«.608 Da das Lieben dazu führt, dass der Liebende etwas von sich selbst in Richtung des Geliebten verliert, dominiert bei dem Liebenden die

606 607 608

Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 217. Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 311. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 51.

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Neigung, mit dem Geliebten Erfüllung zu finden. So verbindet Eckhart Liebe mit Abgeschiedenheit.609 Armut, ein biblischer Begriff, war eine weit verbreitete Auffassung in der mittelalterlichen Frömmigkeit, um die Selbstaufgabe vor Gott auszudrücken. In Bettelorden und in der Frauenmystik ist sie eine lebens­ notwendige Entbehrung für den spirituellen Aufstieg des Menschen. Eckhart weist darauf hin, dass in diesem weit verbreiteten Verständnis zwei Arten von Armut existieren, die erste sei die äußere Armut, bei der ein armes Leben mit spirituellen Zielen zu führen ist, er wolle darüber nicht sprechen. Es gibt auch innere Armut, von der es in der Bibel heißt: »Selig sind die Armen im Geiste«.610 Wenn Eckhart jenseits dieser eine bescheidene Entbehrung bevorzugt, indem man weltlichen Besitz aufgibt, bedeutet das, die eigene Existenz aufzugeben. Die Armut eines Menschen als Sein ist ein viel wichtigeres Thema als der Entzug seines Reichtums. Der wichtigste Charakter des Armutsverständnisses der mittelalterlichen Orden besteht darin, weltliche Dinge aufzugeben, die im echten Sinne fehlen. Für Eckhart ist die Entbehrung der Seele die Beseitigung des Überflusses im Geist zur nötigen Erfüllung des Mangels. In dieser Hinsicht konzentriert er sich eher auf eine geistige Zunahme als auf eine weltliche Abnahme. Mit anderen Worten, Armut ist eigentlich eine Art interne Bereicherung, und darauf zielt Abgeschiedenheit ab.611 Ein anderer Begriff, das Eckhart zur Selbstaufgabe des Menschen verwendet, ist Demut. Es beinhaltet die Bedeutung des Aufgebens des eigenen Willens und des Einswerdens mit dem Göttlichen.612 Dieser geeinte Wille führt den Menschen nicht heraus aus seinem eigenen Wesen, im Gegenteil, er ist die Entdeckung des Inneren. Auch wenn man sich selbst aufgibt, entdeckt man sein wahres Selbst, wenn man die immanente Göttlichkeit erlangt.613 Denn laut Eckhart sind die Spuren, die die zu reinigende Weltlichkeit in seiner Seele hinterlassen hat, nicht sein ursprüngliches Selbst. Sie zu verlassen bedeutet, aufzugeben, was 609 Trotz dieser Besonderheit der Liebe ist sie der Abgeschiedenheit nicht überlegen, da durch sie keine vollständige Aufgabe und Fülle erreichen kann. Der Hauptgrund dafür liegt darin, dass die Liebe auf das Gute zielt, weil sie dem Wohl des Geliebten zugeneigt ist. In der Einstellung einer Person gegenüber ihrem Geliebten können Faktoren wie Güte und Schönheit zusammenkommen. Laut Eckhart beseitigt dies die Dualität nicht vollständig. Aufgrund seiner Lauterkeit ist das Erkennen im Sein, die Liebe aber gehört zum Werk des Seins. 610 Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 551. 611 Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 399, 697. 612 Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 175. 613 Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 585.

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davon in uns ist, um uns selbst zu finden, was bedeutet, das Göttliche zu erleben. Laut Eckhart will der demütige Mensch kein Knechtsverhältnis zu Gott aufbauen, er spricht Gott nicht im Maß der gewöhnlichen Frömmigkeit an. Denn wenn er, der sich mit weltlichen Forderungen an Gott wendet, betet, hat er Gott als ein Sein außerhalb seiner selbst positioniert. Gottes und des demütigen Menschen Wille sind eines, denn was Gott »ist«, das »ist« dann auch der Mensch. Aus diesem Grund wendet sich der demütige Mensch nicht an Gott als Diener, da göttlicher Wille und Vorherbestimmung nicht außerhalb seines Selbst bestimmt werden. Der vollkommene Mensch wendet sich Gott zu, und zwar mit Gott, wie Gott selbst das tut. Allerdings reicht Demut auch nicht aus, denn immer noch gibt es einige geistige Bindungen: Durch Demut findet zwar Reinigung statt und wird Einheit erreicht, aber es gibt immer noch Bindungen, die nicht verschwinden. Eckhart will aber die vollkommene Gleichheit für Mensch und Gott, ein Grundsatz, der beide Seiten vollständig vereint. Eine privilegiertere Auffassung als die anderen, welche ihre vielfäl­ tigen Bedeutungen beinhaltet, ist die Abgeschiedenheit. Zunächst sei darauf hingewiesen, dass der Hintergrund von Eckharts Begriffsbildung der von weiblichen Mystikern übernommene Rahmen sein könnte. Marguerite Porete verwendet für die Befreiung von den leiblichen Hindernissen den Begriff anéantissement.614 Diese Vernichtung ist ein internes Geschehen der Gottheit und bedeutet die Einheit.615 Aus dem gleichen Grund konzipiert Eckhart seine ethische Auffassung als Abge­ schiedenheit: Sie »ist die höchste aller Tugenden«, und man kann sogar sagen, dass alle religiös-moralischen Geboten in der Abgeschiedenheit zusammenkamen. Sie ist eine notwendige Reinigung, um die erste Vollkommenheit als Gottes Ebenbild zu erlangen. Kehren wir zu dem Beispiel zurück, das wir zuvor gegeben haben: Wenn der Mensch als Gott widerspiegelnder Spiegel dargestellt wird, muss der Rost, den alle irdischen Gegenstände in der Seele bilden, ausgelöscht werden. Auf diese Weise wird der Spiegel vollständig reflektieren. Zu beachten ist bei der Eckharts Begriff Armut trägt die gleiche Bedeutung wie Marguerites Ledigsein: Vgl. Porete: The Mirror of Simple Souls, übers. von Ellen Babinsky, New Jersey 1994, S. 88. 615 »This Soul says love, no longer knows how to speak about God, for she is annihilated from all her external desires and interior sentiments, from all affection of spirit; so that what this Soul does she does by practice of good habit (…) Through the annihilation of the will, this soul has become supreme humility, which has its source in divinity, and at this point the Holy Spirit fills the soul and generates the trinity within her.« So Porete: The Mirror of Simple Souls, S. 85. 614

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Spiegelmetapher, die auch in der islamischen Mystik häufig verwendet wird, dass es keinen Spiegel vor Gott gibt und der Reflektor nicht außerhalb des Reflektierten ist. Kein Mensch wird von etwas außerhalb seiner selbst befreit; auch füllt Gott nichts außerhalb seiner selbst.616 Genauso spricht Eckhart von »lauterer Demut« und bezieht sich auf die Reinheit, die zur Einheit im vollen Sinne führt.617 Nach Eckhart sammelt der Mensch nach seiner Erschaffung durch seine materielle Bindung mit seinen Wahrnehmungen viele Dinge in sich an. Dies liegt daran, dass die Seele in den Körper eindringt und in Beziehung zu Zeit und Raum steht. Die Beziehung zur Materie tritt in der menschlichen Seele mit phantasievoller Begierde und körperlichen Sehnsüchten auf. Durch ihr Übertragen von Wahrnehmungen auf den Intellekt ist sie mit vorübergehenden Formen gefüllt; er muss vorhandene reduzieren oder sogar leeren, um den Menschen mit dauerhaften wahren Bildern zu füllen. Dann geht diese Entleerung bis zur völligen Reinheit, und das Ziel Lauterkeit, Freiheit und Vollkommenheit ist erreicht. Es wurde schon festgestellt, dass Eckhart diese weltlichen Bindungen als Gebundenheit ansieht, weshalb der Mensch mit der Befreiung von den Bindungen zum wahren Selbst gelangen wird. Derart befreit, tritt die essentielle Heiligkeit in Erscheinung, denn wenn die menschliche Seele ihre eigenen Lasten loslässt, erhebt sie sich nach oben. Eckhart greift die Prämisse des klassischen Paradigmas auf und denkt, dass das, was oben steht, erhaben ist. Physische Beobachtung unterstützt die Erhabenheit dieses metaphysisch Oberen. Zum Beispiel die Sonne steht auch höher als der Mond und der Mond erhält sein Licht von der Sonne. Von fernen Sternen bis zur Sonne, von der Sonne bis zum Mond wird das Licht direkt auf die Erde gelenkt. Denn die Erde hat sich entleert (demütigt), um dieses lebensspendendes Licht zu empfangen. Die Wirkung des göttlichen Lichts, zu dem der Mensch gelangt, ist ähnlich.618 Um mit göttlichem Licht erfüllt zu werden, müssen die Schleier, die die Seele bedecken, geöffnet werden. Wie wird die Abgeschiedenheit durchgeführt? Bei Eckharts Inter­ pretation von »Selig sind, die reinen Herzens sind« (Mt 5,8) weist er darauf hin, wie man das Herz reinigen soll, weil drei Dinge dem spirituellen Aufstieg des Menschen im Wege stehen. Das erste ist die Bindung, mit der das »Selbst« einer Wende ins Zeitliche unterliegt. Das zweite, damit 616 617 618

Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 609. Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 573; Werke, Bd. 1, S. 269. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 167.

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verbundene Hindernis ist die Körperlichkeit. Eckhart sagt vorsichtig Körperlichkeit, nicht Körper! Weil er eine harte Weltaufgabe wie die Abschaffung des Körpers nicht akzeptiert: die Aufgabe besteht darin, das Herz und damit den Intellekt von körperlichen Neigungen zu lösen. Das dritte Hindernis ist die Vielheit, das heißt die Unfähigkeit, sich beim Betrachten der Dinge zu vereinen, durch bloße Wahrnehmung der Äußerlichkeit, ohne Erfahrung der eigentlichen Bedeutung der Mensch­ heit im Innern. Denn äußere Pluralität vereint sich nur im Inneren: im Innern herrscht die Menschlichkeit (als esse), während draußen du und ich (dies und das) existieren. So betont Eckhart mit großer Sorgfalt: »Solange diese drei in mir sind«, weil das Feld der Reinigung ein inneres ist und Zeit, Körper und Menge kein äußere, sondern ein innere Angelegenheit sind.619 Der Bereich, in dem das Hindernis beseitigt wird, ist also auch intern, dadurch ist der Bereich unter dem Einfluss Gottes auf dieselbe Wahrheit wie das »Innern« oder »Herz« bezogen; in diesem Zusammenhang muss das Herz von all der Geschaffenheit, die es umgibt, gereinigt werden.620 Wenn das Herz immer noch um weltliche Sorgen trauert, ist es für die Geburt nicht genug entäußert und »verschlossen in sich selbst«. So wird der Mensch, während er sich reinigt, körperliches Verlangen und zeitweilige Willenskraft loswerden und die in ihm verborgene Lau­ terkeit erleben.621 Da jedoch die Seele im Körper wohnt, hat sich ein »Ich« in Richtung der körperlichen Wünsche und Neigungen gebildet. Wenn dieses Ich von Bindungen losgelöst ist, soll es ein anderes erreichen, das bestimmt ist »von dem sich selbst im Nun der Ewigkeit erfahrenden Ich«.622 Dieses ursprüngliche Selbst ist eine identitätslose Menschheit, weil ihm kein (äußerliches) Adjektiv zugeschrieben werden kann. Genauer gesagt reicht jedes Adjektiv nicht aus, um es zu beschreiben. Es braucht keine zusätzliche Definition, keinen zusätzlichen Existenzbereich. Das Leben in diesem Selbst ist grundlos: »ohne warum« (sunder warumbe). Dieses Leben des Ichs ist nach der Lehre Eckharts zugleich das Leben der Gottheit.623 Wenn der Mensch es erreicht, Gott aufzunehmen, steht man Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 133. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 69. 621 Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 247. 622 Witte, Meister Eckhart, S. 136. 623 »Wenn dieser Tempel so frei wird von allen Hindernissen, das heißt von Ich-Bindung und Unwissenheit, so glänzt er so schön und leuchtet so lauter und klar über alles (hinaus) und durch alles (hindurch), das Gott geschaffen hat, dass niemand ihm mit gleichem Glanz zu begegnen vermag als einzig der geschaffene Gott.« So Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 17. 619

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am Vorabend der Geburt.624 Die Geburt findet am Zusammenfluss der göttlichen Lauterkeit und der persönlichen Reinheit statt. Die Geburt des Sohnes vom Vater fällt mit der Geburt in der menschlichen Seele zusammen, ebenso wie die Vereinigung von göttlichem Erkennen und menschlichem Erkennen. Nach Eckhart ist dies die Einförmigkeit mit Christus.625 Christus ist im Wesentlichen die Einheit des Göttlichen und des Menschlichen. Wenn man das lautere Sein erreicht, offenbart sich der verborgene Christus selbst, der tatsächlich eine individuelle Erfahrung aller existenziellen Geburt bedeutet. Die Geburt in der Einzelseele führt Eckhart zur Lehre der Einheit, die das ultimative Ziel seiner Mystik ist. Eine Art Ekstase wird in der Einheit jeder Geburt, Erkenntnis, Erfahrung und Schau erlebt. Angesichts der großartigen Einheit ist das Individuum bezaubert, eine Faszination durch den eigenen Selbstverlust und durch die Gotteseinheit.626 Eckhart umschreibt diesen Zustand als den Verlust eines Lebens und den Gewinn eines Seins.627 Neues Sein ist das Leben als Sohnschaft. Der Heilige Geist führt die menschliche Seele zu ihrem höchsten und lauteren Ursprung in der Sohnschaft, von dort geht es weiter zum Grund, der Vaterschaft genannt wird.628 Die Seele wird von dem Geteilten geläutert und das Leben ist geeint. So wie Gott in sich selbst ledig und frei war, wird der Mensch ledig und frei. Im Kontext der Angleichung des individuellen Willens verwendet Eckhart als Begriff für Willenseinheit die Gelassenheit. Was eine Person will und worauf sie ausgerichtet ist, wird zu dem, was Gott will und lenkt. Dies übersteigt die Ähnlichkeit des Willens. Es ist nicht Sache eines Gläubigen, bei jeder Handlung, die er tut, dem Willen Gottes zu folgen. Buchstäblich ist alles, was bei Gelassenheit eine Person wünscht, eigentlich der Wunsch Gottes. Wenn es nur um Ethik ginge, würde der Ansatz genügen, den Willen Gott zu überlassen. Weil Eckharts Ethik von der existenziellen Einheit ausgeht, ist es notwendig, dass sich Gottes Wille in der Lauterkeit des Menschen manifestiert; denn beide sind eins. Hier ist die religiöse Ethik keine Ablehnung der Welt im asketischen Sinne, es ist eine ontologische Vision, die alles geistig mit dem göttlichen Prinzip verbindet. Weil Eckhart nicht das Körperliche verflucht, um Haas: Meister Eckhart, S. 32. Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 457. 626 Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 187. 627 Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 3, S. 101. 628 Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 209. Eckhart sagt, das Sein ist der Vater, die Einheit ist der Sohn mit dem Vater, die Gutheit ist der Heilige Geist: Ebd., S. 209. 624 625

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das Geistige bereitzustellen, tritt der bereits betonte Aspekt von Einheit hervor: Wenn ein Mensch Einheit durch Abgeschiedenheit wird, wird er eins mit der Wahrheit der Dinge. Dies ist nicht die Erfahrung des Äußeren, es ist die Entdeckung der Wahrheit des Äußeren, die bereits im Menschen vorhanden ist. Da alles eine immanente göttliche Kraft enthält, erreicht der Mensch, wenn er sein Eigenes entäußert und zu seiner göttlichen Wahrheit gelangt, auch die Wahrheit anderer Dinge. Von den Dingen gereinigt zu sein bedeutet in dieser Hinsicht, mit den Dingen eins zu sein.629 Dieser Ansatz kann als Erfindung der Welt in sich selbst beschrieben werden, anstatt die Welt abzulehnen.

c. Gesichter der Perfekten: Innerer Mensch Da der Weg und die Methode der Vollkommenheit bereits erklärt wur­ den, kann nun die Frage nach dem vollkommenen Menschen bei Eckhart erörtert werden. Im Vergleich zu Sufismus im islamischen Mittelalter hatten die Prinzipien des spirituellen Lebens im christlichen Westen einige signifikante institutionalisierte Merkmale. Eckhart ist nicht nur Kirchengelehrter, sondern auch hochrangiger Geistlicher im Dominika­ nerorden. Seine Perspektive auf reife Menschen ist auch im Hinblick auf Übereinstimmung und Differenzierung im Vergleich zur vorherrschen­ den und gängigen Wahrnehmung bedeutungsvoll. Beispielsweise: Ist der Vollkommene ein von der Kirche akzeptierter Mensch, bedeutet dann der Eintritt in den Orden auch einen spirituellen Aufstieg, kann ein Mensch ohne religiöse Bildung zur Göttlichkeit gelangen? Die Antworten auf all diese Fragen sind verblüffend in Bezug darauf, wie sehr ein im Schatten der Scholastik und des Feudalismus lebender Mystiker menschliche Dif­ ferenzen mit Spiritualität verbindet. In erster Linie orientiert sich Eckhart an der damaligen katholischen Tradition und definiert sowohl den per­ fekten Menschen als auch die geistige Vollkommenheit im christlichen Rahmen. Wie die bisherige Analyse seiner Lehre gezeigt hat, kategorisiert er allerdings die Menschen nicht nach religiösen und institutionellen Zugehörigkeiten. Zum Beispiel unterwirft er in keiner seiner Reden über die Erfahrung der Göttlichkeit in der Seele die Menschen einer sehr grundlegenden Unterscheidung wie Gläubige und Ungläubige. In der intensiven Zeit der Auseinandersetzung mit dem Islam im Süden und dem Kampfe gegen Ketzerei wäre es zu erwarten, Klassifizierun­ gen auf der Grundlage der Authentizität des Glaubens vorzunehmen. 629

Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 143.

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Was die mittelalterliche Gesellschaft fromm verehrte – wie die für die Religion kämpfenden edlen Ritter, begeisterte Prediger, wundertätige Heilige – zeigte die Erwartungen, wer geistliche Überlegenheit haben würde. In Eckharts Reden erfüllen weder Inhalt noch Publikum diese Erwartungen. Keiner der sichtbaren Rangträger (Besitzer der weltlichen Macht oder Vertreter der religiösen Institution) in der Gesellschaft wäre prädestiniert, eine ihm selbst immanente Göttlichkeit zu entdecken; andererseits könnte ein armer Bürger die Geburt in seiner Seele erfahren. Natürlich ist auch das Umgekehrte möglich, denn kein äußerer Faktor kann die innere Identität bestimmen. Und was den Menschen vollkom­ men macht, ist nichts anderes als die Vergöttlichung der Innerlichkeit. Eckhart definiert jemanden, der durch Abgeschiedenheit und Erkennen Einheit in Gott erfährt, als jemanden, der Vollkommenheit und Heiligkeit erreicht. In dieser Richtung ordnet er die Menschheit im Allgemeinen in zwei Kategorien, die geistig vollkommenen und die unvollkommenen Menschen. Damit teilt er auch den vollkommenen Menschen in zwei Kategorien, als inneren Menschen und innersten Menschen.630 Der Mensch, der sich seiner Körperlichkeit zuwendet, wird als irdisch, äußerer und knechtischer Mensch definiert.631 Diese Person hat geistige Fähigkeiten wie jeder andere, aber ihre Seele ist auf materielle Interessen ausgerichtet und damit im unteren Teil der Seele geblieben. Mit seinem Verstand und seinen Gefühlen sucht er im Außen nach Wissen, Liebe und Glück und betrachtet das Leben mit dem Auge der Seele, das sich für das Äußere öffnet. Der Innere Mensch hingegen ist vom unteren Teil der Seele in den oberen übergegangen und betrachtet mit sei­ nem inneren Auge die Attribute der Erhabenheit.632 Für diesen verwendet er Beschreibungen wie (Gottes)Freund, himmlischer und edler Mensch.633 Unter diesen Bezeichnungen ist die Darstellung als innerer Mensch, die sich auf die innere Göttlichkeit bezieht, in dem die gesamte spirituelle Reise des Menschen stattfindet, viel umfassender für seine Lehre als die anderen Darstellungen. Wenn wir nach dem christlichen Äquivalent der Auffassung Gottesfreundschaft in der islamischen Mystik suchen, stoßen Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 315. In Expositio Sancti Evangelii sagt er: »Dasselbe sehen wir auch klar bei den Kräften der Seele: je mehr sie sich vom Irdischen, nämlich von der Materie lösen, umso edler ist sie und umso machtvoller in ihrem Wirken.« Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 3, S. 268. 632 Drittens bemerke, dass im inneren Menschen die Wahrheit wohnt, nämlich Gott, dessen Natur es ist, immer und allein innen und im Innersten zu sein.« Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 4, S. 79. 633 Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 27; Bd. 2, S. 209. 630

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wir bei Eckhart auf diesen Begriff. Innerer Mensch ist ein allgemeiner Begriff für jemanden, der mit göttlicher Moral bekleidet ist. Wenn er, abgeschieden aus aller Äußerlichkeit, zum Seelengrund gelangt und mit der Gottheit vereint wird, ist er der Innerlichste Mensch geworden.634 Eckhart führt den Wein im Keller als Beispiel dafür an, wie sich der perfekte Mensch von anderen Menschen unterscheidet. Wer nicht trinkt, obwohl er Wein im Keller hat, beschreibt den Zustand des Äußeren Menschen. Gewiss ist Wein in dieser Analogie die innere Gottes-Wir­ kung. Eckhart muss bewusst die Metapher des Weins gewählt haben, die in vielen mystischen Traditionen verwendet wird. Denn der göttliche Einfluss im Menschen verursacht eine Art geistigen Rausch, und wenige Dinge symbolisieren ihn besser als Wein. Gewiss muss hier der Stellen­ wert des Weins in kirchlichen Ritualen berücksichtigt werden. Wenn Eckhart diejenigen beschreibt, die keinen Wein trinken können, bezieht er sich nicht auf Gruppierungen wie Ungläubige oder Ketzer.635 Allen Menschen, die die äußerlichen Bindungen, die die Wahrheit in ihrer Seele verbergen, nicht loswerden können, wird der Wein vorenthalten. Der Innere Mensch, so Eckharts Beschreibung, holt den Wein aus dem Keller und trinkt durstig. Auch hier spricht er, nicht von einem Schatz draußen, sondern von einem Keller im Inneren. Die Trunkenheit des Inneren Mensch ist nicht mit einer externen Religiosität verbunden. Eckhart beschränkt in seinen Reden das Vollkommenheits-Verfahren nicht auf ein institutionelles Engagement. Auch hier hängt das Entscheidende nicht von der Autorität einer Person (wie einem spirituellen Führer) von außen ab. Vielleicht kommt jemand und weist Menschen darauf hin, dass in ihnen eine große Quelle steckt, und genau diese Aufgabe erfüllt Eckhart in seinen Predigten; aber es ist der Mensch selbst, der den Wein trinkt. Denn Eckhart erkennt an, dass jeder Mensch – weil er eine Seele hat – auch zur Vollkommenheit fähig ist. Licht scheint in jedermanns Seele, und die Lichter der Seele leuchten für das Ziel jeden menschlichen Daseins.636 Die Tatsache, dass eine Person das Licht nicht erreicht hat, liegt daran, dass sie die sich bietende Gelegenheit nicht nutzt. Eckhart beschreibt die menschliche Existenz folgendermaßen: Wenn es Nacht gibt, liegt das nicht an der Abwesenheit von Licht, sondern daran, dass das Licht nicht enthüllt wurde (der Vorhang wurde nicht gelüftet). In dieser Richtung lässt sich schlussfolgern, dass er spirituellen Aufstieg und Vollkommenheit als universelle Möglichkeit ansieht. 634 635 636

Vgl. Pfeifer: Die deutschen Mystiker des 14. Jahrhunderts, Bd. 2, S. 315. Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 123. Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 69.

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Eckhart beschreibt in seinen verschiedenen Reden unterschiedliche Qualitäten des Inneren Menschen. An einer Stelle spricht er von sechs Stationen, die der Innere Mensch erlebt637; in einer anderen Rede sehen wir in ihm drei Qualitäten zusammenkommen: Erkennen, Freiheit und Vereinigung in vollkommener Liebe.638 Sein größtes Merkmal ist wiederum, dass er ein göttliches Ebenbild wird, wenn sein Erkennen über sich selbst und Gottes Selbsterkennen kombiniert werden. Innerer Mensch zu sein bedeutet in der Tat, den ersten menschliche Grund zu erkennen; es heißt in einem Aspekt das ursprüngliche Bild von Adam und in einem anderen Aspekt die Wahrheit der Sohnschaft zu verwirklichen und zu erfahren. Eine weitere Besonderheit ist seine Freiheit, welche die Befreiung durch das Transzendieren der Knechtschaft bedeutet. Eigentlich bezeichnet Eckhart niemanden, der sich Gott durch rituelle Anbetung als Knecht nähert, als einen Äußeren Menschen. Wenn diese Person jedoch die innere Bedeutung und Erfahrung der Gebete nicht erreichen kann, kann sie die Äußerlichkeiten nicht entfernen, selbst wenn sie ein Diener ist. Jemand, der durch Liebe mit Gott gleichförmig und durch Erkennen vereint ist – im Angesicht des göttlichen Willens nicht passiv zu sein –, ist mehr als ein Knecht geworden. Eckhart denkt, dass Joh 15,14 solche perfekte Personen anspricht: »Ich habe euch nicht Knechte geheißen, sondern Freunde«. Nach Eckhart ist die Weisheit Jesu, der seine Jünger seine »Freunde« nennt, in diesem Zusammenhang zu verstehen. Er geht davon aus, wenn man von jemandem etwas verlangt, wird man in gewisser Weise zu dessen Knecht. Eckhart bemerkt, dass er immer wieder über diese Frage nachgedacht hat und zu dem Schluss kam, dass er, um eine freundschaftliche Beziehung zu Gott aufzubauen (um frei von Knechtschaft zu sein), ihn um nichts bitten sollte.639 Daher ist es nicht notwendig, sich Gott als Empfänger zu nähern, sondern sich Gott auf der Grundlage der Vereinigung zweier Freunde zu nähern. Freundschaft ist hier ein Ausdruck der immerwährenden Zusammengehörigkeit, der auf eine Beziehung sowie auf eine Einheit zwischen Gleichen hinweist. Denn zwei Freunde sehen sich nicht als fremd und verhalten sich Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 319- 321. Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 363. 639 »Unser Herr sprach zu seinen Jüngern: Ich habe euch nicht Knechte geheißen, sondern Freunde (Joh 15,14). Was irgend etwas vom andern begehrt, das ist Knecht, und was da lohnt, das ist Herr. Ich dachte neulich darüber nach, ob ich von Gott etwas nehmen oder begehren wollte. Ich will es mir sehr wohl überlegen, denn, wenn ich von Gott (etwas) nehmen würde, so wäre ich unter Gott wie ein Knecht und er im Geben wie ein Herr. So aber soll es mit uns nicht sein im ewigen Leben«. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 85. 637

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gleichberechtigt zueinander; und ein Freund zu sein bedeutet, in dieser Hinsicht frei zu sein. Der Knecht hingegen betrachtet die Welt mit dem Auge der Dualität, er befindet sich in einer eher passiven Stelle – und der Herr ist jenseits. Daher ist er unter dem Einfluss von außen und nach Eckhart ist er sogar unruhig. Es entsteht Traurigkeit oder Leiden, das von den äußerlichen Beziehungen abhängt. Daher wird er in Wirklichkeit der Sklave der äußerlichen Welt. Auf der anderen Seite hat der Mensch, der die Trennung der Dualität losgeworden ist und die innere Einheit erreicht hat, Frieden und Ruhe erreicht.640 Diese Betrachtung war angesichts der scholastischen Frömmigkeit, auf die das geistliche Leben institutionell aufgebaut wird, außerordentlich: weil der innere Mensch von der Abhängigkeit von externen Faktoren befreit sein soll. Er ist kein Gefangener von Ursachen, deshalb führt er ein grundloses Leben, ein Leben unbeeinflusst von äußerlichen Wirkungen. Bemerkenswert ist die Interpretation der biblischen Verse von Moses' Gebet zu Gott im Hinblick auf die Erklärung der Beziehung eines Menschen, der die Dualität in der Anbetung überwindet und mit Gott eins wird. In der Erzählung, die mit den Worten »Moses bat Gott, seinen Herrn« begann, wurde berichtet, dass die Israeliten für die Anbetung des goldenen Kalbes bestraft würden. In der Hoffnung, dass diese Strafe aufgehoben werden würde, rief Moses zu Gott: »Herr, warum zürnt dein Grimm gegen dies Volk?« Eckhart konzentriert sich auf die Bedeutung der Anrede des Moses an Gott als »Herr«, weil er damit wohl seine eigene Knechtschaft betonen wollte. Mose richtet eine Bitte an Gott, die weltliche Folgen hat, nämlich ein Herr-Knecht-Verhältnis; denn tritt ein anderer (äußerer) Anlass zwischen die Beziehung zwischen Gott und Mensch, so vergrößert die Distanz. Wenn man betet, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, bittet man nicht direkt für Gott, sondern für den eigenen Nutzen.641 Bevor die Situation von Moses erläutert wird, wird erwartet, dass der vollkommene Mensch, der ein Freund Gottes ist, Gott nur um Gott bittet. Weil in ihm der innere menschliche Wille mit dem göttlichen integriert ist, ist in dieser Einheit die Geber-Empfänger-Bezie­ hung verschwunden.642 Wer will was von wem? Laut Eckhart entfremdet 640 Auch hier ist der Begriff des Friedens sehr auffallend, und Eckhart sagt, dass diejeni­ gen, die Frieden im Außen suchen, falsch liegen: Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 341. 641 Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 285. 642 »…wirkst du aber dann deine Werke um deines eigenen Nutzens oder um deiner Lust oder um deiner eigenen Seligkeit willen, wahrlich, so bist du sein Knecht nicht; denn du suchst nicht Gottes Ehre allein, du suchst deinen eigenen Nutzen.« Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 147.

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die Fürbitte durch die Erwartung auf weltlichen Nutzen das Göttliche, wenn es nämlich im Gebet um äußere Hoffnungen geht und Gott als Autorität für eigennützige Erwartungen angesprochen wird. Warum fühlt sich Eckhart bei solchen Gebeten unwohl? Im Rahmen seiner allge­ meinen Lehre sind zwei Punkte hervorzuheben: Zunächst wird der Wert des Inneren ignoriert und der (innere) Gott im äußeren Einfluss gesucht. Zweitens verwandelt Zuwendung zu Gott für einen weltlichen Zweck das Gebet zu einem Instrument. Eckhart kann diesen Zustand nicht als den des perfekten Menschen beschreiben. Aber was ist mit Menschen, die Zuflucht bei Gott suchen, weil ihnen etwas Schlechtes passiert ist, wie Krankheit oder Armut? Waren nicht im Laufe der Geschichte Krisen und Katastrophen die entscheidenden psychologischen Faktoren für die Hinwendung der Gesellschaften zur Religion? Eckhart erweckt nicht den Eindruck, dass er die Andacht oder das Gebet komplett aufhebt, sondern er ordnet die Menschen nach ihrer Verbundenheit mit Gott ein. Der Äußere Mensch wird seinen Herrn bitten, von Krankheit geheilt zu werden, und die Ausrichtung des Inneren Menschen ist wie folgt geprägt: »Wenn dein Wille Gottes Wille wird und du dann krank bist, so würdest du nicht gegen Gottes Willen gesund sein wollen, wohl aber würdest du wollen, es möchte Gottes Wille sein, dass du gesund wärest.«643

Daher können Katastrophen im Besonderen und Schicksale im Allgemei­ nen nicht als Szenario betrachtet werden, das Gott auf der weltlichen Bühne inszeniert hat. Der Autor und die Protagonisten stehen gemein­ sam auf der Bühne und das Drehbuch wurde nicht in einer vergangenen Zeit geschrieben. Sondern es wird derzeit nach dem vereinten Willen des Helden und des Regisseurs inszeniert.644 Wenn der Kranke der reife Mensch ist, wird er nicht vom göttlichen Willen getrennt, gleichgültig ob er krank wird oder aus der äußerlichen Situation herauskommt. Zweifellos war sich Moses dieser Einheit bewusst, aber da er ein Prophet war, musste er für das Wohl seines Volkes sorgen. Als innerer Mensch bat Mose nicht um irgendetwas zu seinem eigenen Vorteil, sondern er betete zu Gott im Namen seines Volkes für sein Volk. Daher ist die Ebene, Gott

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Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 2, S. 640. Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 287.

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um Gottes willen zu wollen, sich mit Gott an Gott zu wenden, das wahre prophetische Bewusstsein.645 Der Innere Mensch, der Gott als Freund betrachtet, indem er seine Wahrnehmung vom Einfluss äußerer Angelegenheiten befreit, strebt in seiner Anbetung nichts anderes als Gott an. Eckhart bejaht die Belastung religiöser Praktiken mit weltlichen Mitteln nicht. Er ist bestrebt Gott von einer absolut autoritären Wahrnehmung zu befreien, nach der er den Willen aller Dinge beherrscht; denn er sieht es als seine Aufgabe an, den Menschen über die Grenzen der Knechtschaft hinauszutragen. Diese Auffassung von Religiosität konnte vom vorherrschenden Verständnis missverstanden werden, und in der Tat kamen die Inquisitoren zu dem Schluss, dass Eckhart das Gebet verachtete. Auch wenn Eckhart einer neuen Art der Frömmigkeit gepredigt hat, so handelt es sich doch nicht um eine Vernachlässigung des Gottesdienstes. Nach seiner Vorstellung von der Frömmigkeit sollte man in religiösen Absichten und Handlungen bei Gott in Gott sein. Sünde ist in der Regel eine Abkehr von der inneren Erfahrung, d.h. sich von der Seligkeit zu entfernen und vom Geschaffe­ nen versklavt zu werden.646 Die Frömmigkeit hingegen ist eine Abkehr von der Sünde, d. h. eine Reifung, die mit der Entdeckung des eigenen Selbst beginnt. Aus diesem Grund kann es sein, dass sich das äußere Erscheinungsbild eines Menschen nicht ändert, wenn er religiös wird. So kann es beispielsweise sein, dass die Krankheit nicht verschwindet oder sich die Zugehörigkeit zu einer religiösen Organisation nicht ändert. Es ist die Seele, die sich verändert, und in ihr wird das ewige Leben erlangt.

4. Das Geschlechterbild 4.1. Weibliche Merkmale als universelle Voraussetzungen Der begriffliche Grund, der das Christentum von anderen abrahamiti­ schen Traditionen unterscheidet, umfasst auch die Verwendung von geschlechtsbezogenen Wörtern. Wie bereits betont, werden einige nur weibliche Besonderheiten bezeichnende Wörter, wie die Jungfräulich­ keit und die Geburt, in der religiösen Konzeption bei Eckhart verwen­ »Wollten wir Gott aus keinem andern Grunde dienen als um der großen Freude willen, welche die daran haben, die im ewigen Leben sind, und Gott selbst, wir könnten es gern tun und mit allem Fleiß.« So Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 79. 646 Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 363. 645

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4. Das Geschlechterbild

det. Die Merkmale der weiblichen Physiognomie haben sich hier zu metaphorischen Konnotationen gewandelt, ausgehend von bestimmten Eigenschaften im wörtlichen Sinne; und sie wurden zur Formulierung neuer theologischer und moralischer Begriffe verwendet. Auf diese Art und Weise sorgt die Verwendung weiblicher Eigenschaften dafür, dass die Offenbarungssprache so menschlich wie möglich gestaltet wird. Die anthropomorphe Grundlehre des Christentums hat durch die Ver­ körperung der Offenbarung die metaphysische Vorstellung menschen­ zentriert gebildet, doch haben die Unterschiede in den Verwendungs­ bereichen der geschlechtlichen Differenzen zahlreiche Diskussionen ausgelöst. Die Anrufung Gottes als männlich-assoziierter »Vater« oder die Manifestation Christi in einem männlichen Körper gehören zu diesen umstrittenen Themen. Eckhart ist mit seinen Schriften mittendrin in diesen Debatten. Er vermittelte seine Lehre meist durch Predigten und entwickelte sie daher, indem er Menschen ansprach. Als er von Geschlechtermerkmalen abgeleitete Wörter in den Mittelpunkt seiner Lehre stellte, sah er sich Gemeinschaften unterschiedlicher Geschlechter gegenüber. Zum Beispiel rief er eine Gemeinschaft von Nonnen, die bereits körperlich Jungfrauen waren, zur seelischen Jungfräulichkeit auf. Mit der Verwendung von weiblichen Metaphern sexualisiert er eigentlich das Dasein insofern, als er es humanisiert und die Geschlechtermerkmale den Seinsebenen anpasst. Die Anwendungsbereiche geschlechtlicher Assoziationen in Bezug auf Göttlichkeit, Dreieinigkeits-beziehung und bestimmte Seinszustände werden erweitert. Diese Worte erhalten nun Qualitäten, die sowohl die ontische Bedeutung als auch die ethische Ver­ antwortung jedes Einzelnen definieren. Sie werden aus dem spezifischen transzendentalen Rahmen herausgelöst und in eine jedem Menschen zugängliche Erfahrung transformiert. Der wichtigste unter diesen allgemeinen Grundsätzen ist das Gedenken an Gott als den »Vater«. Wie die Mehrheit der christlichen Theologen begreift Eckhart den Ausdruck Vater nicht mit einer biolo­ gisch-physiognomischen Körperlichkeit, sondern bedient sich meist der Assoziation Sein, Liebe und Gnade. Da die Definition des Vaters im Kon­ text von Gnade und Liebe bereits im Christentum üblich war, wenden wir uns seiner existentiellen Bedeutung zu, die für Eckhart zentral ist. Wenn die Vorstellung von Gottvater im Blick auf die Existenzgabe verwendet wird, gibt es auch Aufschluss darüber, wofür andere geschlechtsbezogene Ausdrücke verwendet werden:

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»Der himmlische Vater ist unser (wahrer) Vater, und die Christenheit ist unsere Mutter«.647

Diese Aussage bestimmt in erster Linie den psychologischen Rahmen des Zugangs eines Gläubigen zur Religion. In der Beschreibung dieses Rahmens wird mit bestimmten Metaphern auf Gott und Religion hinge­ wiesen. Da die Vaterschaft jedoch die existenzstiftende Quelle darstellt, hat der Kontext des Wortes einen ontologischen Charakter, der über das religiöse Prinzip hinausgeht. Gott wird durch die Vaterschaft als eine Person repräsentiert, die allen Dingen Existenz verleiht; doch welche Bedeutung kann die Assoziation von Mutterschaft mit der Religion im Rahmen seiner Mystik haben. Im Zusammenhang mit seinen Bemer­ kungen über Maria, die sich durch ihre Mutterschaft auszeichnet, wird deutlich, dass der Empfang des »vaterlichen« Wortes den Rahmen für die Merkmale der Mutterschaft darstellt. In diesem Sinne kann die (Qualität der) Mutterschaft jedem zugeschrieben werden, der Glauben empfängt, weil er das Wort in seiner Seele gebären wird.648 Hier wird das Merkmal der weiblichen Physiognomie in einem buchstäblich ver­ wandten Kontext gewählt, wenn es auch zu einer Metapher wird. Somit hat jeder einen seelisch weiblichen Charakter, indem er die göttliche Geburt in seinem eigenen Grund beherbergt. Von daher ist auch besser zu verstehen, warum Eckhart das Wort Christenheit bevorzugte. Wie schon analysiert, ist in seiner Konzeptualisierung das Subjekt im Substantiv enthalten, wie zum Beispiel das Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Gerechten: Im Wesentlichen bedeutet Christ zu sein, Christenheit zu sein; Religion erscheint in den Wesen von Gläubigen. Der Vater teilt sein Wort an die Mutter (die Christenheit) mit, die die eigentliche gemeinsame seelische Essenz darstellt, die jedem Christen innewohnt. Beruhend auf dieser Idee lädt Eckhart sein Publikum ein, sowohl Sohn als auch Mutter zu sein. Vor allem zieht seine Selbstidentifikation mit der Gottessohnschaft die Aufmerksamkeit seiner Lesenden auf sich. So wie Sohnschaft in der Seele nicht nur den Männern vorbehalten ist, gehört die geistige Mutterschaft nicht allein den Frauen. Immer ist der Sohn sogar eine in der Seele geborene und somit von der Person transformierte Identität. Aufgrund der weiblichen Natur der Seele bei der Geburt hat jeder einen weiblichen Charakter.649 Denn jeder steht Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 205. Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 511. 649 Aus diesem Grund: „›Weib‹ ist der edelste Name, den man der Seele zulegen kann, und ist viel edler, als ›Jung frau‹.« Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 434. 647

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4. Das Geschlechterbild

unter dem Einfluss der göttlichen Schöpfung und der Geburt in der Seele. Jeder Mensch ist diesbezüglich empfänglich. Ob Mann oder Frau, die Rezeptivität wird einer Person unabhängig von ihrem körperlichen Zustand zugeschrieben.650 So wie die Vater-Mutter-Vereinigung für die Geburt notwendig ist, müssen sich der menschliche und der göttliche Geist vereinen. Er verwendet die Analogien der sexuellen Vereinigung, um die existentielle Einheit darzustellen, wie es auch in den Schriften von Ibn al-ʿArabī geschah. Nach entsprechenden Ausdrucksformen in der christlichen Mystik – bekannt als Brautmystik –, wird die menschliche Seele als »Braut« dargestellt. Dementsprechend erscheint zugleich mit der Her­ vorbringung der Seele der Sohn in höchster Vollkommenheit und wird als Braut dargestellt.651 Der Sohn fühlte sich durch das Hervortreten der Seele aus Gott zu ihm hingezogen – Eckhart verwendet den Ausdruck ›erkannte‹ – und er wollte aus der heimlichen Schatzkammer der ewigen Vaterschaft heraus, wo er bisher in der »Lauterkeit innebleibend geschlafen« hatte, und wandte sich durch die Seelenbildung ihm zu. Die Erkenntnis des Sohnes beim Offenbarwerden der Seele weckt seine Liebe, und diese Liebe führt zur Einheit. Der Sohn will eins sein mit der Seele und will bei ihr im ursprünglichen Seinsgrund bleiben.652 Er vermittelt der Seele, was er über das Sein erkennt, und dies ist der Zustand, wieder in der »verborgenen Vaterschaft« vereint zu sein. Nach Eckhart kommt diese Orientierung (zur Liebe) beim Sohn aus der Natur des Seins, denn der Sohn wurde offenbar als Manifestation, um sich wieder zu vereinen und so zu gebären. Insofern ist die Seele eine »Braut«, der die Liebe des Gottessohns gilt. In der Einheit mit ihm wird der Mensch geistig, und mit der Geburt des Sohnes in seiner Seele macht er sein eigenes Selbst zum Seinsgrund. Eckhart veranschaulicht es als die Begegnung zweier Seelen, von Lippe zu Lippe.653 Der Mensch empfindet große Liebe und Freude an der geistigen Geburt, weil die Gleichheit zur Einheit führt: Der Ursprung des geistigen Vergnügens ist die Vereinigung Vgl. Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 4, S. 344. »Als Gott die Seele schuf, schuf er sie nach seiner höchsten Vollkommenheit, auf dass sie eine Braut des eingeborenen Sohnes sein sollte«. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 263. 652 Eckhart beschreibt es so: »und nicht ging er so aus, ohne wieder eingehen zu wollen mit seiner Braut in seine Kammer. Diese Kammer ist das stille Dunkel der verborgenen Vaterschaft«. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 265, »Dort wollte er eingehen mit seiner Braut im Allerlautersten und wollte ihr offenbaren die verborgene Heimlichkeit seiner verborgenen Gottheit«. So Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 265. 653 Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 569. 650 651

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von Sohn und Seele. So erklärt Eckhart das göttliche Erkennen und die Selbstgeburt mit Merkmalen, die die Beziehungen zwischen den Geschlechtern beschreiben. Ein weiterer Punkt, der nicht übersehen werden sollte, ist, dass das gleiche Wort auf verschiedenen (Seins-)Ebe­ nen verwendet wird: zum Beispiel die Mutterschaft der Menschheit aufgrund der Geburt in der Seele, die Sohnschaft des Menschen mit der Geburt der Seele, die Vereinigung von Bräutigam (Sohn) und Braut (Seele) – verschiedene Beschreibungen zeigen verschiedene Zustände. Alle diese geschlechts-bezogenen Vorstellungen befinden sich in einem Sein, ganzheitlich und in einem Augenblick. Eckhart verwendet ein Wort in verschiedenen Kontexten in Berück­ sichtigung der Erscheinungen des Seins in verschiedenen Situationen. Da das Sein nicht aus einer einzigen Perspektive betrachtet werden kann, hat ein dazugehöriger Zustand wie die Geburt viel(fältig)e Aspekte: Wenn ein Sein von verschiedenen Seiten betrachtet wird, unterscheidet sich auch die diesem existentiellen Zustand zugeschriebene Eigenschaft von einer anderen. Es ist daher für Eckhart kein Anlass für den Vorwurf der Verwirrung, einen Begriff in verschiedenen Kontexten zu verwenden: Es ist eine sehr bewusste Darstellung eines ontologischen Aspektes der Vielfalt. Diese Variation bei geschlechtsbezogenen Worten entsprechend unterschiedlicher Existenzsituationen kann auch als Vermenschlichung des Transzendenten angesehen werden. Beispielsweise stellt Eckhart die Liebe als Mutter dar: Was kann das Göttliche besser vermenschlichen als die mütterliche Leidenschaft, wenn es um die Beschreibung der göttlichen Liebe geht.654 Also kann die Zuschreibung geschlechtsbezo­ gener Metaphern, wie Mutterschaft, an das göttliche Wesen als eine Humanisierung der theologischen Begriffen betrachtet werden.655 Trotz der weiblichen Darstellung der Geburt in der Seele hat »Sohn«, die Erzeugung durch die Geburt, eine männliche Konnota­ tion. Mit dem mittelalterlichen Verständnis zur Erscheinung Jesu im männlichen Leib hängt eine besondere Fragestellung zusammen. Es wird meist interpretiert, dass Gott für seinen Sohn – wie Adam – ein Wesen benötigt, um vollkommen zu erscheinen. Somit wird eine direkte Beziehung zwischen dem männlichen Körper und der Vollkommenheit hergestellt. Doch für Eckhart ist Vollkommenheit ein rein spiritueller Akt, und genau deshalb erweitert er den Begriff Geburt, der sich in allen Menschen als bewegender immanenter Faktor der Emanation äußert. 654 655

Siehe Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 183. Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 319.

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4. Das Geschlechterbild

Was die biblische Überlieferung betrifft, setzt er sich mit der Mensch­ werdung auseinander; aus der Perspektive der puren Gottheit geht das Selbst-Erkennen Gottes hervor; und aus der Sicht des menschlichen Daseins entsteht das geistliche Ziel der Einheit und Vollkommenheit. Gott gebiert in jedem Wesen, das vollkommen wie Jesus und rein wie Maria ist: Gottesgeburt und Menschwerdung sind nicht nur dem männlichen Körper eigentümliche Kompetenzen, sondern auch eine Exzellenz, die jedem Menschen innewohnt. Da sie geistig erfüllt ist, kann sie nicht auf körperliche Besonderheiten reduziert werden. Eckhart hat der Menschheit möglicherweise einige weibliche Eigenschaften zuge­ schrieben, um Sohn vor der geschlechtlichen Konnotation zu bewahren. Dabei entfernt es das geschlechtlich konnotierte Wort aus seinem realen Kontext (Körperwahrnehmung) und weist ihm eine neue Bedeutung (entsprechend seines Zustands) zu. Zum Beispiel beschrieb er den Sohn, von dem man erwartet, dass er männlich und aktiv ist, als passiv. Bei der Interpretation von »Selig ist der Mann, der da wohnt in der Weisheit«656 muss nach Eckhart »der Mann« Gott sein, da er tätig ist, und Weisheit ein Muttername, weshalb »denn der Sohn die ewig geborene Weisheit ist«: So wird Sohn-Sein als mit der weiblich dargestellten Weisheit verbundenes Rezeptivität (bzw. Geburt) dargestellt. Andererseits ist der Ort des Vaters auch die weiblich geprägte Weisheit.657 Denn der Sohn ist (essenziell) eins mit dem Vater. Wenn das eine Weiblichkeit hat, muss sie auch im anderen sein – zwischen ihnen besteht eine dauerhafte Beziehung. Die Sohnschaft ist die Verschmelzung der Beziehung mit der (rezeptiven) Seele einerseits und mit dem (wirkenden) Vater andererseits und umfasst dem Wesen nach beide Zustände. Schließlich geht es Eckhart darum zu erklären, wie die Einheit im Sein durch die Einheit von Vater-Sohn und von Wirkung-Empfang geschieht. Nachdem die Vielfalt der sexuellen Bezüge und Prädikate erwähnt wurde, insbesondere zu Geburt und Sohnschaft, kann nun die biblische Darstellung Marias als Jungfrau, eine der zentralen Idee des Christen­ tums, thematisiert werden. Damit die oben beschriebene Geburt in der Seele – und Mutterlichkeit stattfinden kann, muss die Seele geläutert werden. Eckhart definiert Jungfräulichkeit sowie Keuschheit als die Qualität eines Menschen, seine weltlichen Bindungen loszuwerden, den

656 657

Vgl. Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 4, S. 452–455. Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 433.

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Kapitel II. Meister Eckhart

oberen Teil seiner Seele zu erreichen und bereit für die Geburt zu sein.658 Insofern muss jeder erst einmal Jungfrau sein, was nichts anderes ist als Vorbereitung auf die Verwirklichung der Abgeschiedenheit. Eck­ hart bezieht diesen Versuch direkt auf die Weiblichkeit: »Eine Jungfrau, die ein Weib ist, die frei ist und ungebunden ohne Ich-Bindung, die ist Gott und sich selbst allzeit gleich nahe«.659

Auf diese Weise entwickelt er seine moraltheologische These, dass die Jungfräulichkeit von göttlicher Ausstrahlung erfüllt sein muss – durch transzendentes Ledig-sein der Körperlichkeit des Gläubigen. Man entäu­ ßert sich seiner Äußerlichkeit und so wird die Seele geleert, um gefüllt zu werden, und daher kann das Ledig-sein am besten den reinen Zustand zu Beginn der spirituellen Reise beschreiben.660 Denn der Zustand der Jungfräulichkeit ist die Entleerung des Geistes von vergänglichen Formen und damit die Erfüllung des wahren Selbst.661 Das heißt, die als Jungfrau beschriebene reine Seele wird vom Sohn beseelt. Letztendlich ist für Eckhart die Weiblichkeit die unerlässliche Darstellung bestimmter göttlicher Zustände, und die dem Weiblichen verliehene Fülle ist eine Beschreibung des Verfahrens in dem Innersten der Seele; sie ist eigentlich nichts anderes als der Liebeszyklus des Seins.662

4.2. Zwei-Prinzipienlehre und geschlechtliche Darstellungen Wie im islamischen Mittelalter hat auch das gängige christliche Para­ digma eine Auffassung des Weltalls, die auf der Beziehung und Wech­ selwirkung zwischen Gegensätzen beruht. Nach diesem Ansatz, der allgemein aus dem aristotelischen Form-Materie-Verhältnis entwickelt wurde, geht es grundsätzlich um das Gleichgewicht zwischen WirkungEmpfänger oder Aktiv-Rezeptiv. Die Wirkung der Form bei der Bildung 658 »Jung frau besagt soviel wie ein Mensch, der von allen fremden Bildern ledig ist, so ledig, wie er war, da er noch nicht war.« Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 25. 659 Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 29. 660 Er schildert dies wie folgt: »Soll mein Auge die Farbe sehen, so muß es ledig sein aller Farbe. Sehe ich blaue oder weiße Farbe, so ist das Sehen dasselbe wie das, was da gesehen wird mit dem Auge. Das Auge, in dem ich Gott sehe, das ist dasselbe Auge, darin mich Gott sieht, mein Auge und Gottes Auge, das ist ein Auge und ein Sehen und ein Erkennen und ein Lieben.« Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 149. 661 Vgl. Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 29. 662 Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 57, 63.

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4. Das Geschlechterbild

von etwas ist eine Dimension, das Empfangen (dieser Wirkung) durch die Materie eine andere Dimension, und die Kombination beider ergibt die Entstehung des Dinges. Das Zusammenspiel dieser beiden Prinzipien lässt sich in allen Bereichen des Existierens beobachten. Im Zusammen­ spiel von Himmel und Erde beispielsweise entstehen Pflanzen, wenn die Erde die Wirkung des Himmels akzeptiert. Beim Menschen gibt es eine ähnliche Situation in der Beziehung zwischen Seele und Körper. Im Rahmen der religiösen Auslegung besteht ein ähnliches Verhältnis zwischen dem schöpferischen Effekt und der Rezeption durch das Geschöpf aufgrund seiner natürlichen Struktur. Die Bedeutung dieser Lehre, die von der griechischen Philosophie und Wissenschaft auf das mittelalterliche religiöse Denken übertragen wurde, besteht in Bezug auf die Geschlechter darin, Männlichkeit mit Aktivität und Weiblichkeit mit Rezeptivität zu identifizieren. Die Formkraft und ihre Aktivität wird durch die Männlichkeit repräsentiert und die Materie und ihre Passivität durch die Weiblichkeit. In dem mittelalterlichen Verständnis lässt sich auch feststellen, dass die geschlechtliche Einordnung in die Substanzbildung mit der religiösen Stellung der Geschlechter einhergeht. Es ist möglich, Spuren zu finden, dass hinter dieser Identifizierung das körperliche Erscheinungsbild und die soziale Hierarchisierung der Geschlechter stehen. Tatsächlich gehen mittelalterliche Gelehrte sogar noch weiter als die griechische Philosophie und begnügen sich nicht damit, Welt zu beschreiben, sondern die Geschlechter erhalten eine theologische Natur als Manifestation des göttlichen Willens. Sowohl die Ursache für die Entstehung von Menschen mit zwei unterschiedlichen Geschlechtern als auch der Grund für die Unterschiede in ihrem reli­ giösen und sozialen Erscheinungsbild gewinnen in dieser Hinsicht an Bedeutung. Es kann auch festgestellt werden, dass die Zwei-PrinzipienLehre als Paradigma für alle Bereiche des religiösen Denkens angewandt worden ist und sie zahlreiche Spuren in Eckharts Werken hinterlassen hat.663 Und wie Ibn al-ʿArabī verwendet er in seinen Schriften auch die geschlechtlichen Klassifikationen.664 Der Ort, an dem Eckhart diese Lehre am häufigsten verwendet, ist zweifellos der Genesis-Kommentar, wo er eine philosophische Erklärung dafür liefern will, wie die Schöpfung stattfand. Die Aussage des biblischen Verses »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde« ist ihm zufolge die Vgl. McGinn: Meister Eckhart, Teacher and Preacher, New York 1987, S. 100–103. Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 261. 664 Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 1, S. 341.

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Erschaffung aktiver (himmlischer) und rezeptiver (irdischer) Kräfte, die Dinge bilden:665 »…im Anfang schuf Gott Himmel und Erde, das heißt Form und Materie, zwei Prinzipien der Dinge.«666 Es ist sehr bezeichnend, dass der Himmel, der Höhe darstellt, mit Aktivität und damit Männlichkeit symbolisiert wird. Denn daraus kann geschlossen werden, dass Männlichkeit der geistigen Erhabenheit näher darstellt. Es wird auch angenommen, dass die aktive Seite oben liegt, sodass die Wirkung von oben kommt, während die passive Seite unten, niedrig ist. »Hier ist die männliche oder wirkende Kraft der Himmelskörper, das Weib oder die empfangende Kraft dagegen die veränderliche Materie, sofern sie für die Form bereitet ist, die sie von der wirkenden Kraft des Himmelskörpers durch analoge Wirksamkeit empfängt.«667

Dies kommt eigentlich daher, dass man sich die Materialisierung der Seele als eine Oben-Unten-Orientierung vorstellt. Auf der anderen Seite hat die empfangende Partei einen rezeptiven und erleidenden Zustand, weil sie ihn von Natur aus erhielt. So wie die Materie eine durch die Form bestimmte Gestalt annehmen muss, daher wurde sie als niedriger ange­ sehen. Eckhart wendet diese Beziehung auch auf den am letzten Schöp­ fungstag geschaffenen Menschen an: Er entsteht durch die Verbindung von aktivem Geist und rezeptivem Körper. Aufgrund der Priorität der Wirkung in dieser Beziehung ist die Substanz formbedürftig, d.h. die Materie entsteht aus der Form, sie existiert wegen der Form.668 Dies steht im Zusammenhang mit 1 Kor 11,9 »nicht ist der Mann wegen der Frau geschaffen, sondern die Frau wegen des Mannes«. Die männliche Seite ist die formgebende sowie die lebensgewährende Kraft. So gewinnt Eva ihre existenzielle Bedeutung durch Adams Form.669 Im Kontext Vgl. Flasch: Philosoph des Christentums, S. 151. Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 1, S. 497. Man sieht, dass auch die ersten Men­ schen auf diese Weise getrennt wurden: »Es heißt ja: sie waren beide nackt, nämlich Adam und sein Weib, Mann und Frau, Form und Materie.« So Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 1, S. 499. 667 Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 1, S. 340. Siehe auch Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 1, S. 195. 668 »Zweitens ist über das Verhältnis von Form und Materie zu bemerken, dass die Materie wegen der Form ist, nicht umgekehrt.« Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 1, S. 498. 669 »(…) ›sie werden zwei in einem Fleisch sein‹ wird zutreffend in dem Sinn ausgelegt werden, dass Wirkendes und Empfangendes, Form und Materie, Wirklichkeit und Möglich­ keit (zwar) zweierlei Prinzipien sind, jedoch in dem (aus ihnen) Zusammengesetzten ein Sein und eine Wirklichkeit haben«. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 345. 665

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4. Das Geschlechterbild

der Emanation betrachtet, geht das göttliche Erkennen der Schöpfung voraus; Eckhart nennt das die Priorität von Gottheit vor Gott. Obwohl Emanation seelisch beginnt, manifestiert sie sich im Körper, wenn sie (auf bestimmter Seinsebene) erscheint. Eckhart stellt sich eine ähnliche Beziehung bei der Entstehung des Weibes aus dem ersten Menschen vor. In diesem Sinne identifiziert er Männlichkeit explizit mit Aktivität und Weiblichkeit mit Rezeptivität, und deshalb wird der weibliche Körper mit den erleidenden Eigenschaften assoziiert.670 Die Grundlage dieser Kennzeichnung sind männliche und weibliche Körpermerkmale: Die Übertragung der männlich prägenden Wirkung auf den weiblichen Körper für die Geburt des Kindes und die Tatsache, dass die Geburt in der Frau stattfindet, ermöglicht die Verwendung der Aktiv-Rezeptiv-Katego­ risierung für männlich-weiblich. Allerdings stellt Eckhart sich keine zwei disjunkten Dimensionsbeziehungen vor. Analysieren wir es anhand eines konkreten Präzedenzfalls: Nach der aristotelischen Annahme existiert grundlegend die Baum-form, und wenn diese Form mit der Substanz des Baumes zusammenkommt, wird die Wirklichkeit des wahrnehmbaren Baumes gebildet. Neben seiner Akzeptanz der Differenz von Form und Materie sowie Seele und Körper sieht Eckhart jedoch, da die Schöpfung völlig unabhängig von der zeitlichen Abfolge ist, keine getrennte Dimen­ sionalität zwischen formgebenden und empfangenden Seiten. Da die Einheit das Prinzip der Quelle aller Seinsgabe ist, erscheint es paradox, dass die Unterschiede getrennte Sphären bilden sollen. Im Rahmen von Eckharts Ontologie sollte daher nicht von einer Trennung der männlichen und weiblichen Prädikate ausgegangen werden, sondern von deren Koexistenz. Andererseits lassen sich die Gegensatzpaare in den Existenzprozessen der Dinge, die durch die Selbsterkenntnis Gottes ermöglicht werden, nicht auf irgendwelche zeitlichen Reihenfolgen oder räumlichen Kategorien reduzieren. So wie die Wirkung das Empfangen braucht, um sich zu manifestieren, so wie sich der Akt des Erkennens natürlicherweise auf das Erkannte bezieht, erfordert die Existenz des einen die Existenz des anderen. In diesem Rahmen sind formbildende und empfangende Kräfte in den Graden, in denen sie zu gegenwärtiger und ganzheitlicher Existenz gebracht werden, miteinander verflochten. Auch wenn im Rahmen der Lehre von der Einheit die Zusammenge­ hörigkeit der geschlechtlichen Merkmale aufgrund ihrer wechselseiti­ »Der weibliche Leib besitzt die erleidenden Eigenschaften; daher ist sie (Frau) näher zur Materie«. Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 1, S. 381; vgl. Die lateinischen Werke, Bd. 1, S. 340.

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Kapitel II. Meister Eckhart

gen Notwendigkeit vorstellbar ist, stellt die soeben zitierte paulinische Bemerkung einen Widerspruch in sich dar: Nicht ist der Mann wegen der Frau geschaffen. Auf der Grundlage dieses Ausdrucks bejaht Eckhart die existenzielle Bedingtheit der Materie von der Form; er nimmt jedoch keine explizite Interpretation vor, die eine Behauptung rechtfertigen würde, dass der Grund für die Erschaffung des weiblichen Menschen unmittelbar auf die Existenz des männlichen zurückzuführen ist.671 Es ist offensichtlich, dass eine solche Auslegung zu einem Grad an existenzieller Fragmentie­ rung führen würde – wie in den folgenden Verweisen zu sehen sein wird –, der die Grundgedanke der Einheit und Gleichheit gefährden würde. In der Lesart Eckharts bezieht sich Paulus also nicht auf die Hierarchie der sichtbaren Lebenswelt, sondern auf eine andere Wahrheit: die Empfänglichkeit der Materie in der Gestaltung der Dinge. Die Form also ist die Ursache für das Vorhandensein der Materie. Unter diesem Gesichtspunkt ist es für die Form nicht möglich, ihre Existenz als Wirkung allein aufrechtzuerhalten; sie muss notwendigerweise auf die Materie übertragen, deren Ursache sie ist. Beide ergänzen sich, wie der Körper und die Seele. Eine wechselwirkende Relation passiert, denn ohne männlich-dargestellte Wirkung ist die weiblich-dargestellte Emp­ fänglichkeit nicht vorstellbar. In dieser Richtung versucht Eckhart die biblische Vorstellung zu begründen: »Wirken-Erleiden«, die Elemente der aristotelischen Naturphilosophie.672 Eckharts Verständnis lässt sich mit der folgenden Schlussfolgerung zusammenfassen: Die Tatsache, dass das Weibliche für das Männliche geschaffen wurde, ist im Hinblick auf das Bedürfnis der Materie nach Form wahr, aber es ist eine Darstellung einer Seite der Wahrheit. Das Männliche kann sich nicht ohne das, was das Weibliche auszeichnet, manifestieren, und insofern leben sie in einer sich gegenseitig bedingenden Beziehung. »Denn solange sie zwei sind, begründen sie als zwei und voneinander Getrennte nichts und sind noch nicht eines.«673 671 Vgl. Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 1, S. 498. Ein weiteres Beispiel für seine Ver­ wendung von Wörtern: »Hier ist zu bemerken: was in der Natur gegen ihre Absicht oder aus Fäulnis (-Stoffen) entsteht, erreicht die Ähnlichkeit mit dem Wirkenden nicht vollkom­ men. Demgemäß sagt der Philosoph ›das Weib sei ein mißglückter Mann‹.« Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 2, S. 356. 672 Vgl. Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 1, S. 381. 673 in der Folge: »… Aber wenn sie sein werden, wenn Form und Materie, Wirkendes und Empfangendes, Möglichkeit und Wirklichkeit das Sein empfangen haben und eines gewor­

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4. Das Geschlechterbild

Nur wenn sie eins sind, kommt das »Werden« zustande und sichert sei­ nen Fortbestand. So wie das Ding zu seiner Existenz das Nebeneinander von Materie und Form braucht, ist die Vereinigung von Mann und Frau für den Fortbestand der Menschheit notwendig. Der Fortbestand des Menschengeschlechts wäre nur mit Männern nicht möglich gewesen; das gleiche gilt für Frauen. Zu diesem Zweck befinden sich die beiden Prinzipien im Einzelwesen »in derselben Gattung«.674 Die empfangenden und wirkenden Kräfte ergänzen sich in Einem Sein. Sie können nur in Einheit entstehen, da ihre eigene Existenz einander erfordert. Genau in diesem Zusammenhang verknüpft Eckhart die Zweiprinzipientheorie mit seiner Bibel-Interpretation: ihre Vereinigung verwirklicht sich »in einem Fleisch«675 (Mt 19,6) und spiegelt das eigentliche Bild Gottes wider.676 Von der ersten Spiegelung als Bild Gottes, welche die Geburt des Sohnes bedeutet, ausgehend realisiert sich das Ausfließen des Seins von der Gottheit zur Welt und von dem Mann zu der Frau mit gegensei­ tiger Beziehung der wirkenden und empfangenden Kräfte.677 Im Lichte des biblischen Zitats »Mann und Frau in einem Fleisch« begründet Eckhart das gegenseitige Bedürfnis und verwandelt die Dualität der zweidimensionalen Weltanschauung in die Lehre von der Einheit:678 Er entwickelt seine eigene Weltanschauung basierend auf dem Verhältnis von Bedürftigkeit und Abhängigkeit auf beiden Seiten. Trotz all dieser Interpretationen im Rahmen der Einheit des Seins gilt die Problematik, die im ersten Kapitel hervorgehoben wurde, auch für Eckhart. Die Akzeptanz der Gegebenheit, dass eine vorausgesetzte Eigenschaft des männlichen Körpers in allen Schichten des Seins aktiv sein kann, und damit die Identifizierung von Weiblichkeit mit Passivität wird als eine gewisse Realität angenommen.

den und in einem zugleich zusammengetroffen sind, dann sind sie nicht mehr zwei, sondern eines.« Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 1, S. 346. 674 Vgl. Winkler, Norbert: Meister Eckhart zu Einführung, Hamburg 1997, S. 70. 675 »Er antwortete: Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer sie am Anfang männlich und weiblich erschaffen hat (5) und dass er gesagt hat: Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden und die zwei werden ein Fleisch sein? (6) Sie sind also nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch. Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen.« Mt 19,4,5,6; vgl. Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 1, S. 340 – 347. 676 Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 186, 190; Werke, Bd. 2, S. 24. 677 Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 309. 678 Vgl. Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 1, S. 571–600.

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Kapitel II. Meister Eckhart

Seelenkräfte Die Übertragung von Geschlechtersymbolen auf existentielle Zustände erfüllt einerseits das Prinzip der Einheit, andererseits dient sie dazu, »wissenschaftliche Wahrheiten« wie die Lehre von der Zweidimensiona­ lität zu verdeutlichen. Die Schwierigkeit, die durch die Vermischung der beiden verursacht wird, zeigt sich am deutlichsten bei der Annäherung an die Kräfte der Seele. Eckhart bezieht die beiden Prinzipien auf die Seele und verbindet den oberen und unteren Teil mit geschlechtlichen Unterscheidungen. Nach dieser Lehre, die auch aus der Tradition von Aristoteles-Avicenna stammt, besteht der obere Teil der Seele aus dem begrifflichen Denken des reinen Geistes und der untere aus der indivi­ duellen Wahrnehmung äußerer Objekte.679 Während die Seele in ihrem unteren Teil partikulare Materialisationen berührt, ist sie in ihrem oberen Teil mit dem universellen Geist verbunden. Die obere Seite der Seele steht für die göttliche Reinheit, und die niedere Seite berührt die kreatürliche Stofflichkeit.680 Diese Analogie taucht als geschlechtliche Bestimmung auf, und Eckhart adaptiert die oberen und niederen Kräfte der Seele in der Differenziertheit der männlichen und weiblichen Gattungen. So wird sie in ihrer reinen Form in der göttlichen Herkunft als »Mann«, und wenn sie sich dem Geschöpf zuwendet, als »Frau« dargestellt.681 Diese Unterschei­ dung scheint wiederum ein Widerspruch zu seiner Gleichheitsidee zu sein. In seinen Texten können wir erkennen, dass er zwei unterschiedliche Ansätze verfolgt, um die beiden Seiten der Seele mit Geschlechtern zu identifizieren. Die erste ist die direkte Verbindung von seelischer Überlegenheit und Reinheit mit der männlichen Vorrangstellung in der vorherrschenden Realität; deshalb sieht er Frau als zugehörig zur geschaffenen Materie und Natur an.682 Wenn aber die Seele Gott völlig gleich ist, wie kann man ihr dann männliche und weibliche Merkmale zuschreiben? Allerdings betont Eckhart oft die Gleichheit am Ursprung Siehe: Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 1, S. 375. Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 321. Vgl.: Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 2, S. 416–417. 681 »Dann ist die Seele Mann, wenn sie ohne Vermittlung einfältig in Gott dringt. Wenn sie aber irgendwie nach draußen lugt, dann ist sie Frau.« Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, 231. 682 Die Beziehung zur Materie ist eine Begründung dafür, der Form zu dienen: »Denn der Mensch entsteht aus dem Blute von Mann und Frau; denn unter dem Willen des Fleisches versteht er die Frau, die zu gehorchen und zu dienen hat, wie man hier und da unter dem Geist den Mann versteht, der zu befehlen hat.« Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 3, S. 96. Auch in: Werke, Bd. 1, S. 321. 679

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der Schöpfung mit Aussagen wie »in derselben Gattung« und »in einem Fleisch«. In diesem Zusammenhang begegnet man bei Eckharts zweitem Standpunkt zur dualen Seelenunterscheidung der Analogie: Die Assoziation von Passivität und Materialität mit Weiblichkeit wird in einem metaphorischen Rahmen betrachtet, d. h., sie steht nicht in direk­ tem Zusammenhang mit der physischen Realität. Dementsprechend interpretiert er das Bibelzitat »Selig ist der Mann« (Jak 1:12), das nichts mit der Betonung der Herrlichkeit einer bestimmten menschlichen Gestalt zu tun hat.683 Dieser Vers bezieht sich auf die beiden – männlich und weiblich bezeichneten – Aspekte der Seele und weist darauf hin, dass der obere Teil, der die göttliche Einfachheit repräsentiert, in diesem Vers mit der Metapher »Mann« bezeichnet wird. Es ist nicht das Eigentum am männlichen Körper, das der Vers anspricht, sondern der obere Teil der Seele, der sich auch in der Seele der Frau findet, da es einfache und zusammengesetzte Aspekte in der Seele einer Frau gibt, die als Mann und Frau dargestellt werden. Deshalb sagt Eckhart nirgendwo, dass der obere Teil der Seele nur zur Seele des Mannes gehört und nicht zur Seele der Frau.684 So versucht er sowohl die Form-Materie-Unterscheidung als auch die Trennung der Seelenkräfte zu transzendieren: Das Weib 683 Sie sind Fähigkeiten, die allen Menschen gehören, unabhängig von ihrer Äußerlich­ keit: »Nun spricht er: ›Selig ist der Mann‹. Ich habe es schon öfters gesagt, dass zwei Kräfte in der Seele sind: eine ist der Mann, und eine ist die Frau. Nun spricht er: ›Selig ist der Mann‹. Die Kraft in der Seele, die der ›Mann‹ heißt, das ist die oberste Kraft der Seele, in der Gott entblößt leuchtet; denn in diese Kraft kommt nichts anderes als Gott, und diese Kraft ist allzeit in Gott.« Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 435. 684 Im folgenden Zitat verdeutlicht er diesen Standpunkt: »Der Mann in der Seele, das ist die Vernunft. Wenn die Seele mit der Vernunft stracks hinaufgekehrt ist zu Gott, dann ist die Seele ›Mann‹ und ist eins und ist nicht zwei; wenn aber die Seele sich hinabwendet, dann ist sie ›Frau‹.« Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 243; vgl. mit: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 507. Aus Eckharts anderen Passagen, die hier teilweise zitiert wurden, lässt sich die entgegengesetzte Interpretation entwickeln, zum Beispiel: »Kern sagt nun (Die Anthro­ pologie, 69), die Frauen seien in der Kreatürlichkeit des Seienden verhaftet, mit Raum und Zeit verbunden. Das stimmt – die Gottesgeburt findet ja gerade nicht in der Frau statt, sondern im Mann«. Altmeyer, Claudia: Grund und Erkennen in deutschen Predigten von Meister Eckhart, Würzburg 2005, S. 241. Die körperliche Realität sollte nicht direkt mit der kosmischen Kraft verwechselt werden. Obwohl die geschlechtliche Beschreibung der (niedrigen) Seele mit einigen weiblichen Besonderheiten zusammenhängt, überschneiden sie sich nicht vollständig. Eine allgemeine Schlussfolgerung kann durch die Betrachtung der multilateralen Verwendung von Wörtern erreicht werden. Die Darstellung des unteren Seelenteils als Frau bedeutet nicht, dass die Frau den oberen Seelenteil nicht hat. Zunächst einmal hat die Frau auch eine Seele, und sie ist nicht unabhängig von göttliche Wirkung. Eckhart sollte ganzheitlich gelesen werden, sonst werden wir nie verstehen, warum er die weibliche Gemeinde ermutigt hat, in der Seele zu gebären.

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Kapitel II. Meister Eckhart

ist nicht geistlos, im Gegenteil, die Seele auch einer Frau wird als Mann und die Materie auch eines Mannes als Frau symbolisiert. Für heutige Leser/innen ist dies natürlich immer noch schwer zu verstehen, warum diese Darstellung mit geschlechtlichen Kennzeichen erfolgt und warum Reinheit durch Männlichkeit repräsentiert wird. Wie auch in der islami­ schen Mystik zu sehen ist, entwickelt sich die Sichtweise auf Mensch und Natur zwar aus religiösen Texten, aber im Rahmen philosophischer Vor­ aussetzungen. Eckhart passte diesen ganz entsprechend die aktiven und rezeptiven Eigenschaften des männlichen und weiblichen Körpers an die Kosmologie und die Natur an und verband beide Aspekte der Seele mit den Geschlechtern. Zugleich wird ein grundlegenden Standpunkt wird durch die Einheit von Gott und Geist sowie Geist und Leib wiederher­ gestellt. Dementsprechend sind die beiden als Gattung symbolisierten Seelenseiten keine diskreten ontischen Dimensionen, sondern Aspekte und Orientierungen einer einzigen Seele. So wie alle Wesen in der Gott­ heit verwurzelt sind, so ist alle existentielle Vielfalt in der Menschheit vereint und kommen Gott und Mensch in der Seele zusammen. Folgende sehr wichtige zusammenfassende Stellungnahme unterstützt Eckharts Idee der geschlechtslosen Essenz: »die Seele allein sei der eigentliche Mensch«.685 Denn der Mensch ist die Inkarnation der Menschheit, und die Menschheit ist nichts als die Seele.

4.3. Geschlechter im Schöpfungsakt In der Bibel heißt es unmittelbar nach der Erschaffung des Menschen als Ebenbild Gottes: »er schuf sie als Mann und Weib«, was sich auf zwei menschliche Spezies bezieht. Obwohl das Geschlecht des ersten Menschen nicht sehr klar dargestellt ist, ist aber hervorgehoben, dass das Weib aus der Rippe des ersten Menschen geschaffen wurde.686 Die reli­ giöse, familiäre und gesellschaftliche Stellung von Frauen könnte auf dem Grundsatz begründet werden, dass Frauen aus Männern hervorgegangen sind. Abgesehen von der Frage, inwieweit diese Argumentation aus religiösen Schriften stammt und inwiefern philosophische Einflüsse und Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 5, S. 295. »Da ließ Gott, der Herr, einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, sodass er einschlief, nahm eine seiner Rippen und verschloss ihre Stelle mit Fleisch. Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu« (Gen 2,21–22). 685

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politisch-gesellschaftliche Bedingungen darauf einwirken, lassen sich in Eckharts Werken Spuren des zeitgenössischen Verständnisses finden. In seiner Genesisexegese, im Rahmen der visio Dei im Makrokosmos, sagt Eckhart, dass das Sein naturhaft in seiner Geburt auf das männliche Wesen abzielt.687 Doch wie gezeigt ist es durchaus möglich, Eckharts Geschlechtermerkmale allegorisch zu lesen, und er hat selbst solch meta­ phorischer Deutung direkt die Tür geöffnet. Im Zuge seiner allegorischen Interpretation der Schöpfungserzählung zweifelt er zwar nicht an der Existenz echter Persönlichkeiten in der Geschichte der frühen Mensch­ heit. Adam symbolisiert zum Beispiel für ihn den »oberen Teil der Seele«, ist aber auch der Name des ersten Menschen. Er zögert auch nicht, mit Adam und Eva die Entstehung zweier Geschlechter zu akzeptieren. Doch geht Eckhart mit seiner Sicht der Seele keine Kompromisse beim Prinzip der Gleichheit und Einheit ein, während die damalige grundsätzliche Weltsicht davon ausgeht, dass die Unterschiede in der Körpersphäre den zweiten Platz des Weibes festlegen.688 Kurt Flasch hat argumentiert, dass der alttestamentliche Bericht über die Abstammung Evas von Adam für verschiedene Interpretationen offen ist und dass dies dazu diente, die radikale Hierarchie zwischen Mann und Frau bei Eckhart aufzuheben. Obwohl er die nachgeordnete Rolle der Frau in der Schöpfung mit der Materialität in Verbindung brachte, zog er daraus nicht den Schluss, dass die Frau keine Seele besäße. Flasch stellt mit Recht fest, dass Adam in der Tradition als schon in Genesis 1 genannt eine Priorität hatte im Vergleich mit der Darstellung von der Erschaffung des Weibes aus Adams Rippe in Genesis 2 als seine Gefährtin, mit der er wieder ein Fleisch wird. Daneben ist die Frau für Eckhart vor allem mit angesprochen, wenn es in Gen 1, 27 heißt: »Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib«: Sie ist Bild Gottes wie der Mann. Wenn Eckharts Seinslehre der menschlichen und natürlichen Vielfalt grundsätzlich eine Bedeutung auf der Einheitsachse zuschreibt, trifft man auf einen ähnlichen Ansatz in der Frage von Adam Vgl. Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 1, S. 303. Diesbezüglich kommentiert Flasch: »Die alttestamentliche Erzählung vom Ursprung Evas aus Adams Rippe ließ sich also verschieden auslegen. Meister Eckhart diente sie zur radikalen Enthierarchisierung zwischen Mensch und Gott, zwischen Mann und Frau. Aber weit überwiegend lag der Akzent auf Evas sekundärer Rolle. Der Mann war ihr Grund und ihr Haupt. Von Gottebenbildlichkeit war in Genesis 1, 27 nur beim Menschen, also bei Adam die Rede. Die Erschaffung Evas wurde als die Bildung ihres Leibes geschildert; dass bei der Frau zwar von Gottes Umbau der Rippe zu ihrem Körper die Rede sei, nicht aber wie bei Adam von der Einhauchung ihrer Seele. Er folgerte daraus nicht, die Frau habe keine Seele«, Flasch, Kurt: Eva und Adam. Wandlungen eines Mythos, München 2005, S. 67. 687

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und Eva. Die Diversifizierung der Generationen von einem einzigen menschlichen Ursprung her ähnelt der Entstehung vieler Wesenheiten aus einer einzigen Existenzquelle. Die Vielfalt wurzelt in Einem und tendiert wieder zu Einem. Aus dieser Sicht liegen der Grund und die Weisheit der Erschaffung der beiden Geschlechter durch Gott darin, dass er sie zur Einheit in der Menschheit geführt hat. Für Eckhart bedeutet die Existenz der beiden Geschlechter mit dem Hervortreten Evas aus Adam und mit dem Einswerden der beiden die Wiederherstellung der Einheit in der Menschheit, und damit zwei Dinge zusammenkommen, muss es nach Eckharts Verständnis von Gottes Schöpfung aber eine Gemeinsamkeit und sogar Gleichstellung geben: »Als Gott den Menschen schuf, da schuf er die Frau aus des Mannes Seite, auf dass sie ihm gleichwäre«.689

Wenn nicht zwei verschiedene Geschlechter, männlich und weiblich, entstanden wären, würde die Gleichheit zwischen den beiden nicht the­ matisiert werden. Wenn es nur eine menschliche Form gäbe, wie könnte man dann über die Ähnlichkeit der beiden Formen sprechen, oder wenn zwei Formen genau gleich wären, wie würden sie einander brauchen. Hier wird anerkannt, dass die Existenz von Unterschieden und sogar Gegensätzen in der Natur eine ontologische Notwendigkeit darstellt, damit die Einheit gewährleistet ist. Um seine Lehre zu rechtfertigen, dass Vielfalt zur Einheit führt, entwickelte Eckhart den Ansatz, dass die beiden Geschlechter einander für die Vereinigung brauchen. Da also eine einzige Gattung bereits eine Einheit besitzt, ist es nicht vorstellbar, dass sie eine Einheit bilden kann; nur durch die Vielfalt kann die Vereinigung verwirklicht werden.690 Für Eckhart bedeutet die biblische Darstellung der Schöpfung »aus der Rippe« keine Differenzierung und Dualität. Die Frau bildet keine sekundäre Sphäre der Realität, indem sie aus dem Mann hervorgeht; daher tritt sie nicht als jemand »anderen« in Erscheinung. Eckhart nähert sich dem Thema in umgekehrter Weise: Die Erschaffung aus Adam ist der Grund dafür, dass sie unter gleichen Bedingungen ein Paar sind. Ihr Herauskommen aus Adam verhinderte Alterität, Opposition und Dualität, »denn, wo zwei sind, da ist Mangelhaftigkeit«.691 Die Verviel­ fältigung der Geschlechter durch das Herausgehen sichert die Einheit 689 690 691

Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, 106. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 309. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 309, 26.

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und zugleich die Verschiedenheit. Es schafft Einheit, weil der Ursprung eins ist, es bewahrt die Vielfalt, weil die geschlechtlichen Unterschiede offensichtlich sind. Wenn es zwischen ihnen Andersheit und Fremdheit gäbe, gäbe es keine Bewunderung und Interesse füreinander. Und wenn es keine körperliche Differenzierung gäbe, wären sie nicht aneinander interessiert. Um die Einheit in der menschlichen Vielfalt zu erreichen, kommt die Liebe als Ursache der gesamten Schöpfung in Betracht. So begründet Eckhart die Liebe und Zuneigung zwischen Mann und Frau auf der Schöpfungstheologie. Liebe weist auf die gemeinsame Wurzel zwischen beiden Geschlechtern hin und ist der Grund für ihre Wieder­ vereinigung.692 Nach Eckhart lässt sich das Menschsein nicht auf ein bestimmtes Geschlecht reduzieren. Daher wird in dem biblischen hebräischen Wort Adam, das für den ersten Menschen gewählt wurde, die Geschlechtsin­ klusivität berücksichtigt und »Mensch« als ein umfassender Begriff verstanden. Um den umfassenden Entstehungsprozess zu verdeutlichen, interpretiert Eckhart den biblischen Ausdruck, dass »Mann und Frau zwei in einem Fleisch sind«, als notwendig für die Erzeugung eines Kindes. Dass das Kind Mutter und Vater gemeinsam in sein Wesen einbezieht, zeigt, dass die menschliche Existenz und Kontinuität nur durch Einheit möglich ist.693 Jeder Mensch ist in gewisser Weise das Ergebnis der männlich-weiblichen Vereinigung, und da auch Eckhart beim Zeugungs­ akt beide Geschlechter als eins sieht, muss die Erstmanifestation alle Geschlechtsmerkmale einschließen.694 Hier geht es nicht nur um geistige Einheit, sondern auch um eine körperliche Wurzel und so kann der Bibelsatz »in einem Fleisch« als ein Hinweis auf die ursprüngliche Einigkeit in der Zeugung verstanden werden.695 Das Bedürfnis nach einer Über die Rolle der Liebe bei der Erreichung von Gleichheit: »Eine Frau und ein Mann, die sind einander ungleich, in der Liebe aber sind sie gar gleich.« Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 2, S. 646. 693 »Die übliche wörtliche Auslegung dieses Wortes, dass nämlich Mann und Frau zwei in einem Fleisch sind, weil sie sich im Zeugungsakt vereinen, ist wohl richtig. Daher legen es einige so aus: in einem Fleisch, das heißt in einem Kind, das Vater und Mutter gemeinsam haben.« Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 1, S. 340–347. Um den Kontext des Wortes zu verstehen, sind die drei Verse der Genesis: »Und der Mensch sprach: Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie genannt werden; denn vom Mann ist sie genommen. Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und hängt seiner Frau an und sie werden ein Fleisch (Eckhart übersetzt als »in einem Fleisch«). Beide, der Mensch und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander.« Gen 2,22–24. 694 Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 1, S. 600. 695 Vgl. Flasch, Kurt: Meister Eckhart. Philosoph des Christentums, S. 153. 692

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männlichen und weiblichen Vereinigung für die Geburt eines Kindes kann als eine gewisse körperliche Inklusivität in der Selbstgeburt des ersten Menschen interpretiert werden. Somit umfasst der erste Mensch, genannt Adam, alles Geistige und Körperliche als vollkommenes Bild: »Der Mensch ist das vollkommenste Sinneswesen, hat unterschiedliche Gesichter, Mann und Weib, den Träger des Geschlechts.«696

Tatsache ist, dass nach Eckhart die menschliche Essenz in der Seele liegt, wo Gott geboren wurde, aber der Körper als ein für den Erdenmen­ schen notwendiger Zustand nicht davon getrennt ist, und damit kehren wir zu der Definition von Mensch zurück, die schon am Beginn des Kapitels gemacht wurde, denn auf diese Weise kann das menschliche Umgreifen nicht nur in der Seele, sondern auch in den körperlichen Zügen gesucht werden: »Homo erat. Er sagt ›Nehmet wahr: ein Mensch‹ Das Wort homo gebrau­ chen wir von Frauen und von Männern, die Welschen (Romanen) aber lassen es für die Frauen wegen ihrer Schwachheit nicht zu. Homo bedeutet soviel wie was vollkommen ist und wem nichts mangelt.«697

Das lateinische Wort »Mensch« wurde nur für den Mann verwendet, während die christliche Lehre behauptete, dass beide Geschlechter im Rahmen des Umfassens des ersten Menschen und der Abstammung des Weiblichen vom ersten Menschen menschlich seien. Eckhart wusste natürlich auch um hebräische und griechische Worte, die sich nur auf Männer beziehen.698 In seiner Genesis-Auslegung wurde jedoch auf die geistige und körperliche Einheit des Menschen aufmerksam gemacht. Denn die Menschheit ist eine inhärente Essenz in allen ihren Geschöpfen, wie in allen ihren Spezies.699

4.4. Einheit und Vollkommenheit Eine der wichtigsten religiösen Debatten über Geschlechter ist die Ausle­ gung von Vollkommenheit. Die Frage, inwieweit eine Frau perfekt wird, hat sowohl theoretische als auch praktische Aspekte. Die Stellen, die Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 1, S. 342. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 475. 698 Vgl. Bär, Martina: »Mensch und Ebenbild Gottes sein: Zur gottebenbildlichen Dimen­ sion von Mann und Frau«, in Erfurter Theologische Studien, Würzburg 2011, S. 6–14. 699 Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 119. 696 697

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Frauen in religiösen Institutionen erreichen können, sind im mittelalter­ lichen religiösen Leben begrenzt, und hinter dieser praktischen Regelung verbirgt sich ein theoretischer Hintergrund, der auf der Annahme von geistiger Einschränkung und von sonstiger Mangelhaftigkeit bei Frauen basiert. Eckharts grundlegende Lehre in seinem Ansatz zur Vollkom­ menheit war: Da sie die gleiche göttliche Substanz haben, sind beide Geschlechter als Menschen qualifiziert. Auf diese Weise haben sie die gleiche Fähigkeit, Gottes Geburt und Bild zu verwirklichen. Eigentlich wollte Eckhart in allen Wesen die göttliche Wirkung entdecken, denn »alle Kreaturen tragen ein Merkmal göttlicher Natur an sich«.700 Obwohl er auf dieser Grundlage in der Einheit des Seins eine Enthierarchisierung anstrebt, hat der Mensch doch einen privilegierten Sonderstatus als das ultimative Ziel der Seinsgabe, denn die seelische Vollkommenheit des Menschen steht im Zentrum und ist Grundlage allen Werdens. Wo der Sohn geboren ist, dort ist alle leibliche und weltliche Stofflichkeit entfernt und das ist seine Seele.701 Sie ist nicht zerteilbar und verwandelbar, aber dennoch zusammengebracht mit dem zeitlich-räumlich beschränkten Leib.702 Die Seele trifft sich im männlichen Wesen mit dem Körper. Das entfernt den Mann nicht von der Göttlichkeit. Die gleiche Struktur hat die Seele im weiblichen Wesen. Die immerwährend manifestierte Seele gestaltet die Essenz der Erscheinung um. Diese Begriffsformulie­ rung ist eine grundlegende Botschaft von Eckharts Predigten in den Frauenklöstern. In seiner Rede im Zisterzienserinnenkloster (Predigt 22) thematisiert er die Sohnschaft des Menschen: »Darunter ist zu verstehen, dass wir ein einziger Sohn sein sollen, den der Vater ewiglich geboren hat.«703

Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 497. »Worein der Sohn eingebildet ist, darein soll auch die Seele eingebildet werden.« So Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 269. »Darum ist Gott im Grunde der Seele mit seiner ganzen Gottheit.« Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 119. 702 »(…) mit den niedersten Kräften berührt sie die Zeit, und dadurch wird sie dem Wandel unterworfen und körperlichen Dingen zugeneigt, und dabei wird sie entadelt« Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 357. 703 Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 255. Alle Dinge stammen von Gott: »Im Vater sind die Urbilder aller Kreaturen.« So ebenfalls S. 255, wo Eckhart mit »unsere Frau« argumentiert und keine Unterscheidung zwischen Männlichkeit oder Weiblichkeit macht; daneben spricht er über die höchste Seite der Seele: »Er gebiert seinen eingeborenen Sohn in das Höchste der Seele. Im gleichen Zuge, da er seinen eingeborenen Sohn in mich gebiert, gebäre ich ihn zurück in den Vater.« So ebd., S. 261. 700

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In diesem Satz spricht er die Frauengemeinde in der ersten Person Plural »wir« an. Es ist der klarste Beweis dafür, dass er keine Geschlechterdiskri­ minierung in Angelegenheiten wie Mensch, Sohn und Seele vornimmt. Von einer Frau wird erwartet, dass sie sich von ihren weltlichen Bin­ dungen befreien und mit Gott vereinen wird.704 Die Weltlichkeit, die die geschlechtlichen Besonderheiten berührt, bedeutet die Entfernung von den oberen Kräften der Seele, wo die Geburt entsteht. Wenn die Hindernisse erinnert werden, die Eckhart vor dem spirituellen Aufstieg und der göttlichen Einheit sah, ist keines davon ausschließlich Frauen vorbehalten. Da er das Problem nicht auf den Körper reduzierte, beob­ achtete er das Transzendieren der Körperlichkeit als geistigen Prozess. Eckharts Darstellung von Maria ist bemerkenswert in Bezug auf die Bedeutung der Beziehung der seelischen Geburt mit dem weiblichen Körper. Maria ist zweifellos eine der Gott am nächsten stehenden voll­ kommensten Menschen, als Mutter Jesu, als Empfängerin des Engels und als fromme Jüdin. Sie bringt den verkörperten Leib Christi in der Welt hervor. Er, der zugleich Sohn Gottes genannt wird, wurde durch zweierlei Geburt leiblich und geistig in ihrem Wesen zusammengebracht: »Ich sage: Hätte Maria Gott nicht zuerst geistig geboren, er wäre nie leiblich von ihr geboren worden. Eine Frau sprach zu unserem Herrn: ›Selig ist der Leib, der dich trug‹. Da sprach unser Herr: ›Nicht nur der Leib ist selig, der mich getragen hat; selig sind, die das Wort Gottes hören und es behalten‹ (Luk 11,27–28). Es ist Gott wertvoller, dass er geistig geboren werde von einer jeglichen Jungfrau oder (=will sagen) von einer jeglichen guten Seele, als dass er von Maria leiblich geboren ward.«705

Eckhart betont, dass Maria zuerst die geistige Jungfräulichkeit und die göttliche Geburt erlangte. Danach wurde sie körperlich (mit Jesu) schwanger. Zuerst gebar sie in ihrer Seele, dann gebar sie körperlich. Da Maria als eine Frau leiblich und geistig rein war, errichtete Gott seinen Plan in ihrem Wesen, deshalb wurde sie leiblich und geistig gesegnet:706 sie war erst geistig, dann leiblich bereit für die göttliche Offenbarung. Genau dazu lädt Eckhart in seinen Predigten ein: nicht nur Frauen, sondern auch Männer sollen dem Weg Marias folgen und geistig

In der im Makkabäer-Kloster der Benediktinerinnen gehaltenen Predigt (12) emp­ fiehlt er, sich mit der Liebe zu vereinen. Man soll von den geschaffenen Dingen aufsteigen und die Gleichheit mit Gott erreichen. Vgl.: Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 143–151. 705 Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 255. 706 Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 399. Vgl. Ruh: Meister Eckhart, S. 141.

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Jungfrauen werden.707 Doch die christliche Mariendarstellung verbindet geistige Geburt mit leiblichem Gebären, das kein Mann je erleben wird, und so wurde die von Eckhart idealisierte Abgeschiedenheit von Maria in perfekter Weise realisiert.708 »Als sich die Gottheit ganz in Unserer Frau Vernunft gab, empfing sie, da sie rein und lauter war, Gott in sich; und aus der Überfülle der Gottheit brach es aus und floss über in den Leib Unserer Frau, und es ward ein Leib gebildet vom Heiligen Geiste im Leibe unserer Frau. Und hätte sie die Gottheit nicht in der Vernunft getragen, sie hätte ihn (=Christus) nie leiblich empfangen.«709

Die hier dargestellte Kompetenz ist göttlicher Wirkung, die kein Mann erfahren kann. In dieser Hinsicht wird Maria als eines der herausragen­ den Vorbilder unter allen Menschen präsentiert. Wer die Gottesgeburt in seiner Seele erleben will, muss wie Maria Jungfrau sein.710 Jungfräulich­ keit ist die Reinheit von aller vergänglichen Knechtschaft des Menschen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die weibliche Emp­ fänglichkeit zu einem für jeden Menschen gültigen Prinzip geworden ist. So führt Eckhart eine weibliche Besonderheit als Tugend des oberen See­ lenteils ein. Diese Konzeptualisierung sollte als Schlüssel zum Verständ­ nis von Eckharts Wahrnehmung von Geschlechter betrachtet werden. Für Eckhart ist die biblische Darstellung Marias als Verwirklichung gottgewirkter Geburt und Gebärerin, sowohl geistig als auch körperlich, ein Beweis für weibliche Erhabenheit. Es gibt jedoch weitere Themen in der Bibel, die dieser spirituellen Hochschätzung von Frauen schaden: An erster Stelle steht die Rolle von Eva beim Sündenfall. So fragen wir für das Frauenbild zurück vom Anfang des Jahrtausends, als Christus von der Frau geboren wurde, bis zum Anfang der Geschichte, als die Frau vom Menschen wurde. Für einen Denker, der die weibliche Vollkommen­ heit zweifellos akzeptiert, ist die Beziehung zwischen Sünde und Frau natürlich schwerwiegend. Nach der Erzählung Genesis 3 wandte sich Eva, der Versuchung der Schlange folgend, der verbotenen Frucht zu und wurde mit Adam aus dem Paradies vertrieben. Es gibt in verschiedenen Für die Jungfräulichkeit siehe: Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 18, 26, 32, 158. Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 439; Eckhart: Werke, Bd. 4, S. 411. 709 Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 269. 710 In Predigt 2 (Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 25–37) erklärt Eckhart die Besonderheiten und Voraussetzungen der Jungfrau. »Notwendig muss es so sein, dass sie eine Jung frau war, jener Mensch, von dem Jesus empfangen ward. Jung frau besagt soviel wie ein Mensch, der von allen fremden Bildern ledig ist, so ledig, wie er war, da er noch nicht war.« So S. 25. 707

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Epochen der Geschichte unterschiedliche Interpretationen zum Thema der Erbsünde, die heute im Allgemeinen in der Achse des Heilplans und der Barmherzigkeit Gottes interpretiert wird. Doch ließ diese Erzählung von der Erbsünde viele Kirchenväter eine weibliche Empfänglichkeit für das Böse in Beziehung mit weiblicher Sexualität annehmen, da sie verführerisch dargestellt wurde. Ab Irenäus von Lyon (gest. 200) wird die Erbsünde sogar als Verlust des Status der Gottebenbildlich­ keit gesehen, und mit Augustinus wurde die an erster Stelle von Eva erzählte Abwendung von Gott bei allen Menschen zu einer gemeinsamen Erbsünde. Besonders im Mittelalter wurde ein enger Zusammenhang zwischen Frauenkörpern und Sünde hergestellt. Das hat zu scharfer Kritik vonseiten der modernen (feministischen) Theologie geführt, da es zu einer negativen Wahrnehmung mit Etiketten wie Verführerin zur Sünde geführt hat.711 So haben die Rolle des Weibes beim Sündenfall und die Beziehung des weiblichen Körpers zum Bösen Zweifel daran aufkommen lassen, inwieweit eine Frau ein göttliches Ebenbild sein kann.712 Die Vielfalt der Bemerkungen in der Bibel führte dazu, dass christliche Gelehrte unterschiedliche Auslegungen hatten. Ausgehend vom Paulusbrief kann man sagen, dass in der kirchlichen Tradition die Meinung vorherrscht, dass die Frau kein vollständiges Bild sein kann.713 Laut Decretum Gratiani, dem führenden Rechtskanon der christlichen Geistesgeschichte, ist das Weib beispielsweise weder das Ebenbild noch göttlich. Auch nach Thomas von Aquin, einem der Gründer der scholasti­ schen Tradition, ist das Weib im Vergleich zum Mann kein vollkommenes göttliches Ebenbild.714 Man kann aus den verschiedenen Äußerungen Brandschneidt, Renate: »Sündenfall«, in Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 9, dritte Auflage, hrsg. Walter Kasper, Freiburg im Breisgau 2000, S. 1132–1133. 712 Es gibt Bibelstellen, die diese Ambivalenz nähren, wie: »Der Mann soll sein Haupt nicht verhüllen, weil er Abbild und Abglanz Gottes ist; die Frau aber ist der Abglanz des Mannes«. (1 Kor 11,7). 713 »Entscheidend für das Verständnis von Weiblichkeit und Männlichkeit ist im theologi­ schen Diskurs in der Antike wie im Mittelalter, auf welcher Ebene man das Geschlechtsver­ hältnis ansiedelt: Geht man von der realen sozialen Situation, der Schöpfungsnatur aus, dann befindet sich die Frau im Gegensatz zum Mann im status subiectionis. Die unterge­ ordnete Stellung der Frau wird begründet durch ihre im Vergleich zum Mann geringere Gottebenbildlichkeit.« So Boll, Katharina: Alsô redete ein vrowe schoene: Untersuchungen zu Konstitution und Funktion der Frauenrede im Minnesang des 12. Jahrhunderts, Würz­ burg 2007, S. 62. 714 Vgl. Schüngel-Straumann, Helen: »Die Frage der Gottebenbildlichkeit der Frau«, in: Theologie des Alten Testaments aus der Perspektive von Frauen, hrsg. von Manfred Oeming, 2003, S. 63–65. 711

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Eckharts unterschiedliche Schlüsse ziehen: Es ist möglich, ihn als einen Meister darzustellen, der die Frauen auf der Grundlage der Gleichheit zur göttlichen Geburt einlädt, oder als einen Lehrer, der die vorherr­ schende scholastische Lehre, die auf körperlichen Unterscheidungen beruht, bejaht. Da die der Mystik Eckharts zugrundeliegende Lehre von der Einheit die Angleichung unterschiedlicher Existenzzustände beinhaltet, sollte diese Perspektive bei der Interpretation der geistigen Bedeutung körperlicher Unterschiede weiterhin berücksichtigt werden. Genau aus diesem Grund muss Eckhart auf die Allegorie zurückgreifen. Die Bedeutung des oben zitierten Paulusworts beispielsweise betrifft seiner Meinung nach die Seelenteile.715 Der untere Teil der Seele ist also ein Abglanz des oberen Teils. Eckhart musste auch die Frau als Gottesbild identifizieren, sonst entsteht eine Dualität, die mit seiner Seinslehre nicht vereinbar ist. Nach dem jedem Menschen innewohnenden Prinzip der Gottesgeburt müssen Mann und Frau ausnahmslos die göttliche Gestalt annehmen. Nach Eckharts allegorischer Interpretation des Sündenfalls ist die Schlange eine Neigung zum Bösen in der Seele und führt den Menschen zur Äußerlichkeit, die mit dem verbotenen Baum symbolisiert ist. Als Eva, also der dem Stoff zugewandte Teil der Seele, sich ihr zuwandte, wandte sie sich vom oberen Teil der Seele (also Adam) ab.716 Eckhart sucht die wahre Botschaft der Offenbarung und greift auf Allegorien zurück, um mögliche Fragmentierungen und Hierarchisierungen zu vermeiden. Die Seele steigt herab, indem sie sich aufgrund der Sünde zur Weltlichkeit neigt. Aber wäre sie nicht heruntergekommen, so gäbe es keine Gelegenheit, wieder aufzusteigen. Wenn Eva und Adam also nicht in der Sünde gewesen wären, hätte kein Mensch durch die Rückwendung zum Schöpfer den Aufstieg erfahren. Außerdem stimmt Eckhart der augustinischen Auffassung zu, dass Sünde im Menschen Verlust verur­ sacht: durch die Verminderung des Geistigen mit der Zunahme des Irdischen. Nur durch Abgeschiedenheit wird die Seele von dessen Über­ maß entleert und mit dem Geistigen gefüllt. Daher umfasst der Heilsplan des göttlichen Willens zur Manifestation der göttlichen Gnade auch die Sünde. Damit ein Mensch Jungfrau sein kann, indem er die Gottesgeburt erlebt, muss er zuerst in die Stofflichkeit eingebunden sein. Insofern ist Adams Fall für Eckhart keine erbliche Sünde, sondern eine Abkehr

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Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 323. Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 317.

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Kapitel II. Meister Eckhart

hin zu der materiellen Seite der Seele.717 Die Auffassung, dass nur eine absteigende Seele wieder aufsteigen kann, entspricht Eckharts Lehren von der zyklischen Zeit der ewigen Emanation. Die Sünde hängt auch damit zusammen, dass der Mensch sich mehr Gott nähert. In der Tat, je mehr Sünden er begeht, desto größer wird die Barmherzigkeit Gottes, die ihn zur Göttlichkeit aufsteigen lässt.718 Also muss Gott es mehr lieben, große Sünden zu vergeben. Stellt man sich vor, was Eckhart damit sagen will, so hat ein Mensch, der in einem zehn stöckigen Haus ins unterste Stockwerk hinuntersteigt und wieder zehn Treppen erklimmt, natürlich mehr Stockwerke erklommen als der, der aus dem mittleren Stockwerk zurückkehrt. Daher ist dieser ermüdende Aufstieg Gott gefälliger. Denn wenn Sünde sowohl in ihrer Notwendigkeit (gemäß dem göttlichen Plan) als auch in ihrem positiven Ergebnis (Reue) betrachtet wird, schadet sie der Vollkommenheit der Frau eben sowenig wie der des Mannes, weil – bei der Wendung nach oben zu Gott – selbst dann, wenn ein Mensch belastet ist durch alle Sünden seit dem ersten Menschen, ihm von Gott vergeben werden kann.719

Exkurs: Eckhart in Frauenklöstern In der sozialen Hierarchie des christlichen Mittelalters ist die scharfe und klare Trennung der Geschlechter offensichtlich. Die fehlende Möglich­ keit von Frauen, Ämter in religiösen Institutionen zu übernehmen, und die generell eingeschränkte öffentliche Sichtbarkeit waren Ergebnisse einer theologischen Weltanschauung. Insofern kann man sagen, dass Eckharts Mystik eine Initiative definiert, die vorherrschenden Wertur­ teile und die gängige Wahrnehmung herauszufordern. Wie bei Ibn al-ʿArabī ist das Bemerkenswerteste in seiner Lehre, dass sie sich in Interaktion mit Frauen entwickelt hat. Eckhart konzipierte insbesondere in seinen Predigten den theoretischen Rahmen seiner Auslegung der Gleichberechtigung der Geschlechter in menschlicher Vollkommenheit. Er befasste sich nicht mit jeglicher Geschlechterdiskriminierung in den zentralen Ideen der Spiritualität und Moral, die den Sinn des Seins in ver­ schiedenen Aspekten wie Göttlichkeit, Sohnschaft und Vollkommenheit Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 623. Vgl. Flasch: Eva und Adam. Wandlungen eines Mythos, S. 153. 718 Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 49–51. 719 Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 381.

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zum Ausdruck bringen. Er nahm auch keine inhaltlichen Änderungen in seinen Reden an Frauen vor und vermittelte die gleiche Unterweisung, die er den Männern bei klösterlichen Besuchen gab, bei Frauen in der seelsorgerischen Führung. Nun soll anhand von Beispielen erklärt werden, wie sich sein bisher analysiertes Geschlechterbild in einigen seiner Klosterbesuche und Reden widerspiegelt. 1313 und 1323 war Eckhart in Straßburg als Generalvikar des Dominikaner-Ordens tätig und als Frauenseelsorger verantwortlich im Rahmen der Visitation der Klöster. Er war vor allem für die Kontrolle der cura monalium (die Seelsorge an den Ordensfrauen) und die Betreuung der Nonnen zuständig.720 Die Frauen entwickelten einen spirituellen Lebensstil in den Frauenklöstern, da sie als Rahmen für Handwerk, Haus­ wirtschaft und Pflege eine geistliche Bildung genossen. Diese Bildung basierte idealerweise auf der göttlichen Liebe und Einheit. Der wichtigste Indikator für ihr religiöses Verständnis und Leben sind die Aufzeich­ nungen in den damals geführten Schwesternbüchern. Der religiöse Enthusiasmus der Frauen, dessen Spuren in den Schwesternbüchern festzustellen ist, wirkte sich auf auch die Männer aus, die für Kirche und Orden verantwortlich waren. Für die Untersuchung des mittelal­ terlichen mystischen Lebens beinhalten diese Schriften grundlegende Informationen und geben auch einige Daten über Eckhart preis. Das von Albertus Magnus eingeweihte Kloster Katharinental zum Beispiel wurde von Eckhart nach 1313 besucht. Das im Namen von Katharina von Alexandria eröffnete Kloster beherbergte ungefähr 150 Schwestern. Dort entstand das Schwesternbuch von Dissenhofen, das Erinnerungsbilder, Legenden und einige theologische Themen zum Inhalt hat.721 Dieses Schwesternbuch berichtet aus der Vita von Anna von Ramschwag (gest. um 1343), die eine enge Beziehung zu Eckhart pflegte. Freimut Löser 720 Winkler, Norbert: Meister Eckhart zur Einführung, S. 26. Vgl. auch Kampmann, Ingrid: »Eckharts Predigten und die Verurteilung freigeistiger Beginen und Begarden«, in Meister Eckhart Jahrbuch, Bd. 2, Stuttgart 2008, S. 127. 721 Kurt Ruh analysiert Eckharts Besuch folgendermaßen: »Es gibt zwar keine urkundli­ chen, aber doch literarische Zeugnisse von der Wirkung der eckhartschen Predigt und des seelsorgerischen Gesprächs bei den Dominikanerinnen, die seine geistlichen Kinder waren. Im Schwesternbuch von St. Katharinental am Rhein zwischen Untersee und Schaffhausen, das wie alle Schwesternbücher die legendären und das geistliche Leben betonenden Lebens­ läufe der ersten Nonnengenerationen des Hauses schildert, wird von Anna von Ramschwag berichtet, wie sie heimlich an das Beichtfenster getreten sei, um dem visitierenden Meister Eckhart drei Fragen vorzulegen. Sie seien von so »hoher Art« gewesen und die Antwort hätte »von so hohen, unbegreiflichen Dingen« gehandelt, dass die Chronistin nichts davon hätte verstehen können.« Ruh: Meister Eckhart, S. 11–12.

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Kapitel II. Meister Eckhart

stellt fest, dass Eckhart eine tiefgreifende Wirkung auf Frauen hatte, insbesondere auf Anna.722 Wir erfahren, dass die Nonnen Eckhart zu ihrem spirituellen Zustand befragt und ihm diesbezüglich Fragen gestellt haben.723 Anna pflegte intensive Vertraulichkeiten mit ihrem Meister. Die Vitenschreiberin vermutet, dass Anna wissen wollte, ob sie über ihre Visionen schweigen sollte. Diese geistliche Beratung weist auf die inhalt­ liche Orientierung der Predigten hin. Ferner zeigt sich, dass Eckhart die gleichberechtigte geistliche Bildung der Frauen als wichtig erachtete. Eine andere wichtige Quelle, die über Eckharts Tätigkeiten berich­ tet, ist das Schwesternbuch von Ötenbach. Das Kloster wurde assoziiert mit dem Bischof von Konstanz und wurde im Jahr 1285 gegründet. Während das Schwesternbuch über das Leben von Elsbeth von Oye erzählt, gibt es auch eine detaillierte Auskunft über Eckhart.724 Elsbeth von Oye (gest. 1350) hat von ihrer Kindheit bis zu ihrem Tod mit 50 Jahren im Kloster Ötenbach gelebt. Ihre Offenbarungen sind in einigen Handschriften tradiert und werden autobiographischen Erzählungen zugeordnet. Im Buch von Ötenbach befinden sich Gedichte, in denen Eckhart beschrieben wird: »Der erfahrene Meister Eckhart (der wise meister Hechard) will uns vom Nichts erzählen. Wer das nichts versteht, der soll es Gott klagen, in den hat nicht der göttliche Glanz geleuchtet. Scheidet euch völlig ab, nehmet Gott in euch wahr, senkt euch in eure Vernunft, so werdet ihr glücklich darüber.«725

Der Zusammenhang zwischen Nichts und Vernunft bei dieser Übertra­ gung ist bemerkenswert. Eckhart lädt Frauen zur vollständigen Abge­ schiedenheit und damit zur geistigen Einheit ein. Auch in diesem Werk wird Eckhart erwähnt, wenn er über das reine Sein spricht, und er wird

722 Löser, Freimut: »Was sind Meister Eckharts deutsche Straßburger Predigten?« in Meis­ ter Eckhart Jahrbuch, Bd. 2, Stuttgart 2008, S. 42. Dazu heißt es: »Ich will euch berichten, sprach eine gute Nonne, zu uns kommen Prediger, darüber freut sich mein Herz.« So übers. von Kurt Ruh in Ruh: Meister Eckhart, S. 12. 723 Der folgende Auszug direkt aus dem Schwesternbuch macht diese Beziehung deutlich: »Meister Eckhart war zu einer gewissen Zeit bei uns. Da trat diese selige Schwester heimlich zu ihm ans Beichtfenster. Kurze Zeit später fragte ich sie, aus welchem Grund sie zu ihm gekommen war. Zu diesem Zeitpunkt wollte sie mir nichts darüber sagen außer fünf Worte.« Meyer Ruth: Das St. Katharinentaler Schwesternbuch, Untersuchung – Edition – Kom­ mentar, Tübingen 1995, S. 131. 724 Vgl. Löser, »Was sind Meister Eckharts deutsche Straßburger Predigten?«, S. 42. 725 Wehr, Gerhard: Meister Eckhart mit Selbstzeugnissen, S. 108.

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4. Das Geschlechterbild

als ein guter Meister dargestellt, der sich auf das Verhältnis zwischen seiner Lehre und seinem Leben bezieht.726 Eckhart besuchte etliche Frauengemeinden, und einige Predigten adressierten konkret diese Frauenklöster, u.a. Predigt 12 und Predigt 15 im Makkabäer-Kloster der Benediktinerinnen.727 Die Predigt 12 thema­ tisiert erst die Hindernisse der Geistlichkeit wie die Körperlichkeit und Zeitlichkeit und schlägt dann die Liebe vor, um die Neigung des Egos zu überwinden. Die Ideale eines geistlichen Lebens, die er in dieser Predigt für die Frauen anspricht, zeigen keine Unterschiede zu seinen Reden für Männer auf. Er betont erneut das Mensch-Sein und die Vollkommenheit mit der Einheit und arbeitet so heraus, dass die Frau die gleiche göttliche Kapazität besitzt: »Gott gibt allen Dingen das Gleiche, und so wie sie von Gott fließen, so sind sie gleich.«728 Oder er spricht Frauen so an: »Engel und Menschen und alle Kreaturen fließen von Gott als gleich aus ihrem ersten Ausfließen«.729 Diese Betonung der Gleichheit findet sich bei Eckhart an vielen Stellen und sie entspricht genau der oben hervorgehobenen Herausforderung.730 Eckhart erwartet von Frauen, dass sie ihre imma­ nente Göttlichkeit erwecken. Sie haben nichts weniger als Männer, die die Menschwerdung Gottes erfahren. Jeder hat die seelische Kompetenz, ein Ebenbild zu sein, das die Göttlichkeit widerspiegelt. Er interpretierte »Ave, gratia plena« (Lk 1,28) und das Wesen von Maria im Zisterzienserinnen-Kloster (Predigt 22) und sprach dort von der Geburt Gottes in jeder Seele: »Darunter ist zu verstehen, dass wir ein einziger Sohn sein sollen, den der Vater ewiglich geboren hat.«731

Diese Vorschriften der Vollkommenheit sah er auch als Gebot für die Frauen. Denn durch »die Fülle der Lauterkeit«732 und die Geburt Gottes erlangt das menschliche Wesen Gottes Licht.733 In dieser Rede spricht 726 »Meister Eckhart (maister egghart) spricht vom reinen Sein; er sagt ein einziges Wört­ chen, das formlos ist. Es ist ein eigenes Sein, dem weder etwas hinzu- nach abgeht. Er ist ein guter Meister.« Nach der Erwähnung von Eckharts Seinslehre ist auffällig, dass er »ein guter Meister« ist. Er ist nicht nur ein Lehrer, der predigt, was er weiß, sondern ein Meister, der lebt und predigt, was er gelebt hat. Haas, Alois M.: Geistliches Mittelalter, S. 319. 727 Vgl. Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 203. 728 Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 147. 729 Ebd., S. 147. 730 Vgl. Altmeyer: Grund und Erkennen in deutschen Predigten, S. 242. 731 Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 255. 732 Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 259. 733 Vgl. Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 2, S. 77.

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Kapitel II. Meister Eckhart

er meist in der Ich-Form: »in mich gebiert«, »von dem ich geboren ward«, »da ich ein einziger Sohn bin« etc. Diese Wendungen weisen nicht nur auf Eckharts sprachliches Selbstbewusstsein und eine Redekunst hin, sondern auch auf das gemeinsame menschliche Prinzip, das seinen weiblichen Gesprächspartnern innewohnt. Auch in Predigt 86734 zu Lukas 10, der Maria-Martha-Erzählung, werden die klösterlichen Dienste der Frauen behandelt. Vollkommen­ heit, Vollendung und innerste Tugenden sind die grundlegenden The­ men der langen Predigt. Hier kritisiert Eckhart die Lebensweise der Nonnen und empfiehlt statt der ritual-orientierten Unterweisung und der Gebete eine innerliche Weisheit durch Selbstaufgabe und Einheit,735 also eine geistige Wandlung. Hier befasst er sich mit einer mittelalterlichen Debatte um die Frömmigkeit: Nächstenliebe – vita activa – und spiritu­ elle Bildung – vita contemplativa –: den Frömmigkeitsformen Marias und Marthas. Neben der Bedeutung der äußeren Beschäftigung und der Rechtfertigung des Menschen vor Gott konzentriert sich Eckhart auf den ontologischen Grund der seelischen Fülle und bewertet die Kombination aus der reinen Geistigkeit und gnadenhaften Tätigkeiten positiv. Nicht eine Distanz von der Welt und strenge Askese, sondern eine Gottessuche im Selbst sind laut Eckhart vonnöten. Auch zu Beginn der Predigt »Von Abgeschiedenheit«736 spricht er über Marthas Einheit mit Gott und skizziert den Weg wahrer Frömmigkeit. Dabei zeichnet er den Aufstieg direkt vom niedrigen Teil der Seele zum oberen nach. Die Erhöhung der höheren Seelenkräfte (die männlich genannt wurden) ist ein heiliger Weg, der der Frau innewohnt. Mit den oberen Kräften erreicht der Mensch die Einheit Gottes, die alle Menschen – gleichgültig ob Mann oder Frau – erleben können. Dafür fokussiert Eckharts Annäherung auf die seelische Einheit, in der die geschlechtlichen Differenzen ihre Bedeutsamkeiten verloren haben.

Vgl. Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 3, S. 479. »So liegt denn die Vollendung des Menschen in der Integration des aktiven und kon­ templativen Lebens, die nur dort gelingen kann, wo der Grund der Seele ganz auf Gott ausgerichtet ist (…)«. So Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 743. 736 Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 435.

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Kapitel III. Komparative Mystik

1. Mystik in Leben und Denken Der Einfluss der Beziehungsnetzwerke, die über die religiösen und wissenschaftlichen Kreise von Ibn al-ʿArabī und Eckhart hinausreichen, einschließlich der Interaktion mit Frauen, auf die Entwicklungs- und Ver­ mittlungsprozesse ihrer Lehren wurde zu Anfang dieser Untersuchung hervorgehoben. Es wurde davon ausgegangen, dass die Spuren von lehrmäßiger Authentizität im Leben in den Bedeutungen von Gender mit der Differenzierung des Menschbildes und vom Menschbild mit der Differenzierung des Seins-verständnisses zu finden seien. Daher beginnt der Vergleich von Ibn al-ʿArabī und Eckhart mit biographischen Gemeinsamkeiten und Differenzierungen. Zuallererst wurden beide mit der Kompetenz ausgebildet, ihre eigene Religion sowohl wissenschaftlich als auch geistlich zu vertreten. Eckhart begann seine Ausbildung in Erfurt und setzte sie in Köln und Paris fort, erhielt dann den Magistertitel und lehrte an Universitäten und Klöstern. In Ibn al-ʿArabīs Ausbildung, die früh in Andalusien begann und sich im Maghreb fortsetzte, nahm er Unterricht in fast allen Bereichen der religiösen Wissenschaften, insbesondere in der Koraninterpretation, und sammelte Affirmationen (iğāzāt), hauptsächlich um die Aussprüche des Propheten zu vermitteln. Insofern hatten sie die Anforderungen des klassischen Gelehrtentypus ihrer Zeit. Die religiöse Bildung wurde schon in jungen Jahren von einer spirituellen Erziehung begleitet. Eckhart erhielt geistliche Führung unter der Aufsicht des Dominikanerordens, und Ibn al-ʿArabī durch die Begleitung einiger Sufi-Meister. Beide spirituelle Orientierungen umfassen intensive Meditationen, ekstatische Zustände, längere Reisen und Begegnungen mit Geistlichen ihrer Zeit. Neben diesen ähnlichen Aspekten ihrer wissenschaftlichen und spirituellen Biographien im Allgemeinen gibt es Differenzen, die sich aus dem kulturellen und religiösen Umfeld ergeben. Eckharts ganzes Lebens­ abenteuer steht im Schatten des Katholizismus, seine Ausbildungs- und Lehrprozesse wurden unter der Verantwortung des Ordens verwirklicht. In der mittelalterlichen Feudalgesellschaft, die sich auf der Grundlage der

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Kapitel III. Komparative Mystik

Hierarchie von Kirche und Königreich entwickelte, wurde die geistliche Bildung unter dem Dach – und damit der Aufsicht – katholischer Institutionen durchgeführt. In der islamischen Welt herrschte relative Vielfalt und Unabhängigkeit. Da es keine Autorität gab, die alle wissen­ schaftlichen Aktivitäten bestimmte, konnten verschiedene Traditionen im geistlichen Leben autonom voneinander existieren. Eine Abwesenheit eines wissenschaftlichen und geistlichen Zentrums bedeutet jedoch nicht, dass es vollständige intellektuelle Freiheit gab. Tatsächlich gab es eine ernsthafte Verfolgung der Philosophen und insbesondere der Sufis durch die Justizbehörden. Trotzdem unterscheidet sich Andalusien, wo Ibn al-ʿArabī aufgewachsen war, deutlich von der religiösen Hegemonie des mittelalterlichen Europas. Vornehmlich war er befreit von der Auf­ sicht einer Behörde, da er den Bildungsprozess selbst bestimmen konnte. Die Möglichkeit, eigenständig und ohne Bindung an Institutionen zu agieren, schützte ihn vor der Verpflichtung, sein wissenschaftliches und spirituelles Leben so fortzusetzen, dass er einem Sufi-Orden oder einer Madrasa untergeordnet war. Trotz seiner Erziehung innerhalb der scholastischen Grenzen war Eckharts Lehr- und Schreibleben ziemlich umfangreich. Man sieht ihn an der Pariser Universität eine höchst wissenschaftliche Rede halten oder im Kölner Kloster leidenschaftlich predigen. Er widmete sein Buch der göttlichen Tröstung einer Adligen, aber auch seine Beziehung zu gewöhn­ lichen Nonnen ist in den Schwesternbüchern verzeichnet. Die Vielfalt der Beziehungen kann man in der Sprache seiner Werke leicht erkennen: In seinem Bibelkommentar entwickelt er eine hochtrabende literarische Sprache, und in seinen Predigten redet er in einer enthusiastischeren Volkssprache. Doch neben all dieser Vielseitigkeit vermittelt er vor allem seine Lehren in einer Welt, in der gesellschaftliche Stellungs-Unter­ schiede ganz offensichtlich waren, unabhängig von Universität, Kloster oder Kirche (je nach Zuhörerschaft). Eine ähnliche Haltungsvielfalt trifft man bei Ibn al-ʿArabī an: Sein engster Freund, mit dem er lange gereist ist, war ein Schwarzafrikaner, man sieht ihn auch in dem Freundeskreis des Ayyubiden-Sultans von Aleppo. Er war auch ein Freund des Richters von Mekka sowie des Sufi-Poeten Awḥāduddīn, der von einigen sunnitischen Gelehrten als ketzerisch bezeichnet wurde. In diese Richtung lässt sich argumentieren, dass beider Prinzip der Gleichheit des Menschenbildes hinter der Pluralität in ihren Beziehungen steht, ohne von irgendeiner Bestimmung der Institution, Tradition und Autorität abhängig zu sein. Eigentlich lassen sich die Spuren dieser Herangehensweise viel deutlicher an der Stellung der Frauen in beiden Biografien ablesen. In einer Welt,

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1. Mystik in Leben und Denken

in der die Grenzen der Beziehungen zu Frauen für Religions-Gelehrte eindeutig beschränkt waren, hat die Haltung zu Frauen dafür gesorgt, dass sich die eigenständige Lehre in authentischen Beziehungen wider­ spiegelt. Ibn al-ʿArabī und Eckhart dachten, schrieben und lebten in Kontakt mit Frauen. Abgesehen von der eigenen wissenschaftlichen Kompetenz waren sich beide der zeitgenössischen intellektuellen Agenda bewusst. Ibn al-ʿArabī war mit den Ansichten von Ibn Rušd vertraut, und einer seiner frühesten Texte (Tadbīrāt) wurde von Aristoteles inspiriert. Als Eckhart nach Paris kam, hatte er Gelegenheit, aristotelisch-averroistische Behauptungen kennenzulernen. Sie präsentierten ihre eigenen Alterna­ tiven, wenn Themen wie die Erkenntnis Gottes und die Vorewigkeit der Welt diskutiert wurden (von denen viele in den Pariser Verurteilun­ gen angesprochen und von der Inquisition gegen Eckhart vorgebracht wurden). Die methodische Gemeinsamkeit der beiden intellektuellen Biographien besteht darin, möglichst viel philosophisches Material für die theologische Interpretation zu verwenden. Darunter wurde neupla­ tonisches, insbesondere avicennisches Gedankengut, wie die Idee des Seins und der Emanation, angenommen. Obwohl sie im Rahmen ihrer eigenen Lehre einen Bedeutungswandel erfahren hatten, wäre ohne diese terminologische Grundlage nicht von der lehrmäßigen Originalität zu sprechen.737 Auch wäre es nicht möglich gewesen, sie als ›mystisch‹ zu betrachten, wenn sie nicht die epistemischen Quellen ihrer Lehren mit spiritueller Erfahrung verknüpft hätten. Die Annäherung an die Philosophie kann leicht anhand von Begriffen und Themen verfolgt werden, aber beide haben nicht versäumt, sich zu unterscheiden: Durch Erfahrung erlangte Intuitionen sind den logischen Schlussfolgerungen des rationalen Denkens überlegen.738 Somit wird eine ontologische Konvergenz insbesondere bei epistemischer Begründung vermieden. 737 Akbariten sind sich dieser philosophischen Konvergenz bewusst. In seinem Brief an den Philosophen Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsī (gest. 1274) sagt Qūnawī, dass im Erkennen von Gottes Wesen die muḥaqqiqūn (Sufis) näher zu den Philosophen stünden, da die Theo­ logen (mutakallimūn) die Göttlichkeit von der Welt abstrahiert und die Beziehung GottMensch zu einem geistlichen Kontext reduziert hätten. Vgl. Chittick, William: Mysticisim versus philosophy in earlier Islamic history: The al-Tūsi, al-Qūnawī Correspondence, Mys­ ticism, Philosophy and Theology, in Religious Studies 17, Cambridge University Press 1981, S. 87–104. 738 Um diese Unterscheidung auszudrücken, stellt Ibn al-ʿArabī fest, dass die wahre Weis­ heit (ḥikmat) im taṣawwuf liegt und daher nur Sufis als Weise (ḥakīm) definiert werden können, während Philosophen eigentlich nur Denker (mufakkir) sind. Vgl. Ibn al-ʿArabī: Rasāil, S. 81.

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Kapitel III. Komparative Mystik

Der allgemeine Rahmen der Werke von Ibn al-ʿArabī und Eckhart wird durch das Bemühen bestimmt, die Offenbarung zu verstehen, die die Hauptquelle der Religion und auch der theologischen Anthropolo­ gie ist. Ibn al-ʿArabī hat in den islamischen Wissenschaften sowohl methodische als auch themenbezogene Neuinterpretationen entwickelt, die sich teilweise deutlich von den gängigen Schulen des Tafsīr und Fiqh unterscheiden. Aus der Perspektive der Taṣawwuf interpretiert er die Hauptzweige der islamischen Wissenschaften und konzentriert sich auf die Manifestations-Bedeutungen der religiösen Bestimmungen. Eckhart versucht nicht, die religiösen Wissenschaften komplett neu zu interpretieren, dennoch ist klar, dass er eine neue Art und Weise der biblischen Exegese sucht. Beide meinen im Grunde, man könne den immanenten Sinn der Offenbarung im Einklang mit der immanenten Göttlichkeit in sich selbst entdecken. Deshalb errichten beide die auf die innerliche Erfahrung des Menschen zentrierte neue Lehre in erster Linie auf der Ontologie. Zuvor soll kurz auf die semantische Begründung eingegangen werden, weshalb beide Denker unter dem Begriff des Mystikers eingeordnet werden.

Die Bezeichnung als Mystik Das Wort Mystik hat sich etymologisch in den westlichen Kulturen entwickelt und die Bezeichnung des taṣawwuf als Mystik ist ein Ansatz dieses Jahrhunderts. Der Ursprung des Ausdrucks stammt aus den Begriffen mysteria und mystika, das wiederum aus myein entspringt. Diese haben unter anderem auch die Bedeutungen »geschlossenes Auge« und »geschlossenes Wort«.739 Im Neuen Testament kommt das Myste­ rium, vor allem bei den Briefen an die Korinther, im Zusammenhang mit dem geheimen Plan Gottes und beim Thema Menschwerdung vor (Kor 2,7; Eph 1,9–11). Ferner weisen die Erzählungen und Ausdrücke zu Beginn des Johannesevangeliums und der Bergpredigt auf die Haupt­ themen der mystischen Weltauffassung hin. Ebenfalls befinden sich 739 Mystikus steht in Verbindung mit Mysterien und in der Verwendung des antiken Geschichtsschreibers und Geographen Strabon (gest. 23) bedeutet es so viel wie Geheim­ nis oder Dunkelheit. Vgl. Langer: Christliche Mystik im Mittelalter, S. 51. Obwohl der Ursprung des Wortes im griechischsprachigen Raum liegt, lässt sich sein Inhalt auf indisch-vedische und sogar chinesisch-taoistische Traditionen zurückführen und ist daher in fast allen Phasen der Ideengeschichte anzutreffen.

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1. Mystik in Leben und Denken

in Koran und Hadithen geheime Aspekte, wie in der Erzählung von Gottes Begegnung mit dem Propheten bei seiner Himmelsreise oder der Erschaffung des Menschen durch Gottes Atem. Der Koran selbst weist in einigen Versen auf die semantische Ambivalenz hin: »Darin gibt es (eindeutig) bestimmte Verse – sie sind die Urschrift – und andere, mehrdeutige.« (Koran, 3:7). Es existierten auch verborgene Seiten im Leben und in den Worten des Propheten, die nur bestimmte Freunde verstehen konnten. Für Sufis ist dies ein wichtiger Beweis, dass das geheime Wissen, die innere Bedeutungen der Offenbarung, nicht im Nachhinein übernommen wurde, sondern vom Propheten selbst. Unter den Gefährten des Propheten gelten diejenigen, die als aṣḥāb aṣ-ṣuffa (Leute des Schattendachs) beschrieben werden und im Allgemeinen ein asketisches Leben führen, als die ersten Gestalten der Sufis.740 Die Grundtexte beider religiöser Traditionen haben eine sprach­ liche und kontextuelle Breite, die es ermöglicht, mystische Interpreta­ tionen zu entwickeln. Sowohl die gemeinsamen Prinzipien religiöser Überzeugungen als auch die allgemeinen Auffassungen und Probleme interkultureller Übergänge haben zur Entwicklung ähnlicher Lehren und Lebensformen in verschiedenen Traditionen geführt. Die Entstehung der Mystik als lehrmäßige Alternative in der Ideengeschichte erfolgt vor allem mit der Entwicklung des eigenständigen semantischen Ansatzes.741 Ibn al-ʿArabī und Eckhart entwickelten eine Terminologie, auf der sie zuerst ihre Lehren gründeten, mit neuen Begriffsbildungen und neuer Bedeutungsgabe für bestehende Begriffe. Eckhart gibt die Schlüsselwör­ ter, die meist aus der üblichen alltäglichen Religiosität abgeleitet sind, ein auf Einheit basierendes ontisches Sein, ein Ende im Menschen und ein Ende in Gott zu beschreiben, wie Liebe und Demut. Im Kontext der semantischen Reflexion der seinsmäßigen Wahrheit nimmt die vielfältige Lesart für beide Mystiker eine wichtige Stelle ein. Denn ähnlich der semantischen Impliziertheit in der Sprache ist die Wahrheit in ihrer Manifestation in bestimmten Phänomenen implizit. Das heißt, während die Essenz eines Dinges der göttliche Name darstellt, kann man ihn Watt, William M.: »Ahl aṣ-Ṣuffa« in The Encyclopaedia of Islam, neue Edition, Bd. 1, S. 266–267. 741 Mystische Erfahrungen sind in den gegenwärtigen Grenzen der Alltags- und sogar der Wissenschaftssprache schwer zu artikulieren. Aus diesem Grund entwickeln Mystiker eine andere Sprache, indem sie bei der Übermittlung ihrer Initiation auf Metaphern oder Para­ doxien zurückgreifen, die oft mit der Realität unvereinbar sind. Vgl. Elsas, Christoph: Mystik in der Globalisierung: Diskurs und Traditionen der Chaldäischen Orakel im Kontext heutiger Religionsbegegnung, Berlin 2017, S. 19.

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Kapitel III. Komparative Mystik

als ihre äußere Erscheinung wahrnehmen. Der Sinn hat sich dadurch verkleidet, dass er verkörpert ist. So wie Gottes Schöpfung bedeckt auch Gottes Rede die Wahrheit mit bestimmten Erscheinungen (Symbolen). Indem Mystiker die körperlichen Formen nach ihrem göttlichen Wesen interpretieren, suchen sie auch die in Worten manifestierte Wahrheit in der Sprache der Offenbarung. Eine Schlussfolgerung dieser Betrachtung ist, dass der Versuch, Mystik in einem metaphysischen sprachlichen und thematischen Rahmen neu zu entwerfen, nicht direkt mit den Einstellun­ gen in den geistlichen Traditionen identifiziert werden kann, die sich besonders im Schatten der dogmatischen Theologie entwickelt haben.742 Bei der Analyse des allgemeinen Rahmens gemeinsamer Auffassun­ gen, die der semantischen Konzeptualisierung der Mystik zugrunde liegen, trifft man zunächst auf die unmittelbare Beziehung zur Transzen­ denz.743 Die Grundlage des verschiedenen mystischen Verständnisses ist die unio mystica, die die gemeinsame Einheitserfahrung zwischen Gott-Mensch-Welt bezeichnet. Diese unmittelbare Erfahrung geht, wie Alois Haas herausstellt, mit dem Erwerb von Wissen einher.744 Die zentrale Stellung der Erfahrung ist tatsächlich einer der Gründe, warum Mystik nicht ohne weiteres innerhalb der Grenzen eines theoretischen Rahmens zu verorten ist.745 Was Ibn al-ʿArabī und Eckhart betrifft, so errichten sie ihre ursprünglichen Lehren der Einheit vor allem auf der Äußerung innerer Erfahrung. Bei Ibn al-ʿArabī gibt es eine schichtweise Erweiterung in Seinseben, und dem entsprechend befinden sich in Gottes Rede semantische Stufen.746 Jeder stellt von seiner (Manifesta­ tions-)Ebene aus eine bedeutungsmäßige Beziehung zur Offenbarung her. Die Neuinterpretation, sei es in der Offenbarung oder in jedem religiösen Wissen, wird unter Berücksichtigung des existentiellen-seeli­ schen Zustands des Menschen entwickelt. Da die auf Gott zentrierte theologische Auslegung mit der Erfahrung des Seins und Lebens des Menschen integriert ist, ist der textzentrierte semantische Rahmen nicht (in einer bestimmten Auffassung) absolut. Die Bedeutung wird in der Vgl. Knysh Alexander D.: Ibn ›Arabi in the Later Islamic Tradition: The Making of a Polemical Image, New York 1999, S. 141–190. 743 Vgl. Elsas: Mystik in der Globalisierung, S. 19. 744 Vgl. Haas, Alois: Nimm dein selbes wahr: Studien zur Lehre von der Selbsterkenntnis bei Meister Eckhart, Freiburg 1971, S. 81; Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 7, S. 732. 745 Dinzelbacher markiert dies: »…schließlich hat man die Mystik lange und richtig als Kontrast zur Scholastik betrachtet (Gegenbewegung wäre zu intentional). Erleben und Füh­ len existierten nicht in der scholastischen Denkarbeit, in der Mystik waren sie zentral.« Dinzelbacher: Deutsche und niederländische Mystik, S. 266. 746 Vgl. Corbin: Creative Imagination, S. 14. 742

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2. Ontologische Prämisse

eigenen inneren Erfahrung jedes Einzelnen wiedergeboren. Dass eine einzelne Interpretation nicht verabsolutiert werden kann, beruht auf der ontologischen Begründung der Bedeutungsvielfalt, der Vielfalt der gött­ lichen Manifestation.

2. Ontologische Prämisse Für die Mystik von Ibn al-ʿArabī und Eckhart ist das Sein sowohl aus ihrer theologischen Perspektive als auch von ihrem Menschenbild her der Schlüsselbegriff. Das aus der philosophischen Tradition geerbte Konzept wurde von beiden einem Bedeutungswandel unterzogen; die gemeinsamen Säulen der Begriffsbildung lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Das Sein, (a) kann nicht in ontische Kategorien einge­ teilt werden; (b) umfasst alle existentiellen Zustände; (c) wird mit Gott identifiziert. Die grundlegende Behauptung, dass sich alle drei Punkte verbinden, ist die Sichtweise des Seins als Einheit:747 Das Wahrgenom­ mene besteht aus diskreter Vielfalt, aber im Wesentlichen existiert es aus permanenter Einheit. In dieser Hinsicht gibt es zwei Aspekte zwischen Einheit und Vielfalt in allem, was existiert. Im Grund aller Zustände (des Existierens) steht die transzendente Einheit Gottes, aber in dem Hervorbringen (durch die Manifestation) tritt die Vielheit hervor. Der Kreislauf des Seins, der mit der Selbstmanifestation der Gottheit beginnt, erreicht seinen Endpunkt mit der Erscheinung auf der menschli­ chen Ebene.748 So hat das Menschsein, wie alle anderen Wesen auch, zwei Antlitze: es unterscheidet sich in der Vielfalt, aber im Grunde ist es eins in Bezug auf Menschlichkeit. Es gibt nichts als Sein, das den Menschen im Inneren und Äußeren, die Ebenen des Seins in ihren manifesten oder verborgenen Aspekten und letztendlich alles umfasst. Alles, was existiert, entsteht nur in einem einzigen Sein, und so gibt es kein Außerhalb des Seins. Daher besteht eine Beziehung zwischen den Seienden in Bezug auf die Quelle. Zum Beispiel sind Mensch und Natur unterschiedliche Manifestationen von göttlichen Namen, aber im Grunde beziehen sie sich auf dieselben Namen, und die Namen beziehen sich auf eine einzige Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 13; Chittick: The Sufi Path, S. 77–94. Laut Ibn al-ʿArabī ist die Seinsgabe kreisförmig, wäre sie linear, gäbe es kein Ankom­ men: Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 42. So bezieht er sich in dem Vers »Wir gehören Allah, und zu ihm kehren wir (dereinst) zurück« (Koran 2:156) auf die Rück­ kehr zu Gott. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 42.

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Kapitel III. Komparative Mystik

Wahrheit. Da die Existenz keiner Kreatur unabhängig von göttlicher Wirkung sein kann und ein göttlicher Name nicht getrennt von Gott selbst sein kann, sind das Sein und Gott identisch. Alle Seienden sind also »aus ihm« und »in ihm«, indem sie die Existenz von Gott empfangen. Obwohl beide Denker die Unterscheidung zwischen wuğūd-mawğūd (Sein und Seiende) und esse-ens verwenden, um die Existenzgrade sprachlich zu unterscheiden, halten sie sie aus ontologischer Sicht nicht für ausreichend. Da kontingente Gegenstände keine eigene Kategorie von Entität darstellen, ist es nicht vollständig recht, sie als »Sein« zu bezeichnen. Es ist nicht angebracht, Kreaturen, die in Bezug auf sich selbst »nicht existieren«, sondern nur in Bezug auf Gott »existieren«, dieselbe Definition wie Gott, der eigentliches Sein ist, zu geben. Ibn al-ʿArabī beschreibt Geschöpfe als arm (faqīr), weil Gott, der reich in sich selbst ist, sich aus seinem schöpferischen Reichtum schenkt. Eckhart weist ebenfalls auf die existenzielle Armut von Kreaturen im Sinne ihres eigenen Nichts hin. Aufgrund ihrer notwendigen substanziellen Beziehung zu Gott würde Ibn al-ʿArabī die ontische Lage der Kreatur eher als Zwischenzustand (barzaḫ) denn als Kontingenz definieren.749 Aber es gibt einen heiklen Punkt in der Gott-Kreatur-Einheit: Jeder existentielle Zustand ist verknüpft und im Grunde eins, sie vermischen sich aber nicht miteinander, und sie sind auch nicht austauschbar. Daher sind Kreaturen in der Manifestation voneinander getrennt. Das Hervorgehen des Seins hat einen schichtenweisen Verlauf von der Essenz des Göttlichen zur materiellen Welt. Das Hervorgehen ist mehrdimensional manifestiert und jede Ebene hat ihre eigene Definition. Es ist nicht möglich, dass sich die Ebenen gegenseitig ersetzen oder eine einzelne Ebene die anderen definiert. Beispielsweise ist das Universum eine Ebene des Seins, in der sich göttliche Namen widerspiegeln, aber es ist nicht das Sein selbst. Gott allein ist nicht nur das einzige Selbst als Anfang aller Seinsebenen, sondern auch aufgrund seines substanziellen Verhältnisses zu allen Seinsebenen das ganze Sein. Ibn al-ʿArabī versucht, ausgehend von der geistigen Erfahrung des Menschen den Begriff des Seins zu begründen. Dieser Versuch kann sowohl als bewusste Abweichung von der Philosophie auch als anthropologisch relevant eingeschätzt werden,750 weil er dem Grundsatz im Rahmen der neuen sufischen Metaphysik einen Sinn geben möchte. 749 Vgl. Dobie: Logos and Revelation, S. 234. Vgl. auch: Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt almakkiyya, Bd. 2, S. 264. 750 Ibn al-ʿArabī denkt, dass man am Anfang des Wissenserwerbs mit sich allein ist. Da er Gott in keiner Weise als Gott kennen kann, beginnen und enden alle Erkenntnisgewinne

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2. Ontologische Prämisse

Das tawāğud ist die Entdeckung der einzigartigen Göttlichkeit des Menschen, die in der Tat die Entdeckung der ursprünglichen Substanz, seines wahren Selbst ist. Somit hat der Begriff Sein für ihn nicht nur einen ontischen Kontext, sondern umfasst auch epistemische und spiri­ tuelle Bedeutungserweiterungen: (a) ethisch-spirituell, da geistige Reifung zur Selbstfindung führt, (b) epistemisch, da Selbstfindung auch Selbsterkenntnis ist, (c) ontologisch, da in sich (im Selbst) nur die Göttlichkeit wohnt. Eckharts Lehre vom Sein umfasst auch die drei oben genannten Bedeu­ tungsbereiche. Darüber hinaus baut er seine Ontologie auf der Einheit von Seins-Grund und menschlicher Wahrheit auf, basierend auf der Inkarnation, in der das göttliche Prinzip seine innewohnende Mensch­ lichkeit (Logos) offenbart. In Eckharts Predigten beinhaltet die Darstel­ lung jedes Wesens im Grunde den Gegenstand des Menschen; entweder setzt das Thema beim Menschen an oder er bringt es bewusst auf den Menschen. Als Ergebnis interpretieren beide Mystiker das ontolo­ gische Prinzip in einem anthropologischen Rahmen, wenn auch mit unterschiedlichen Instrumenten. Eckhart priorisiert das Erkennen über das Sein, da der GottesGrund das Selbst-Erkennen ist, das durch die Geburt fortdauert: Die Selbsterkenntnis Gottes ist der Beginn des Hervorgehens des Seins. Ibn al-ʿArabī vertritt die Idee, dass der göttliche Ursprung die ihm innewohnenden Namen kennt, stellt aber das Erkennen nicht über das Sein. Das lässt sich so bewerten, dass Eckhart besonders an dieser Stelle näher an der peripatetischen Tradition steht. Im Zusammenhang mit dieser Differenz hinsichtlich des Verhältnisses von Erkennen und Sein kann zu ihren Vorstellungen über das Wesen vom Hervorgehen des Seins übergegangen werden. Beginnen wir mit dieser provokanten Frage, mit der sich beide konfrontiert sehen: Was machte Gott, bevor er erschuf ? Ibn al-ʿArabī zitierte oft den Satz des Propheten: »Da war Gott; es war nichts anderes bei ihm«, und erinnerte an den Zusatz des Propheten-Neffen ʿAlī zu diesem Ausspruch: »Es ist immer noch so«.751 Das heißt, Allah existiert, und nichts anderes kann bestimmt werden, dass es existiert. Auf der anderen Seite sagt Eckhart provokant, dass es vor der Schöpfung keinen Gott gab. Wie Ibn al-ʿArabī sieht er die Seinsgabe in ihm selbst: »Wenn du deine Selbsterkenntnis nicht überschreiten kannst, kannst du nur dich selbst sehen.« Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 350. 751 »Da war also Gott, und es gab nichts anderes bei Ihm. So ist es jetzt und wird es auch so bleiben.« Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 542.

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Kapitel III. Komparative Mystik

als unverzichtbaren Akt der göttlichen Natur; es gibt nämlich keinen Moment, in dem Gott nicht erschafft. Ibn al-ʿArabī und Eckhart unterscheiden zwischen der Seite Gottes, die die Zeitlichkeit berührt, und der anderen Seite, die rein von der Kreatürlichkeit darstellt. Eigentlich ist es schwierig, diese zwei Seiten der reinen Gottheit und des schöpferischen Gottes als Unterscheidung zu definieren. Es werden verschiedene Aspekte einer einzelnen Entität aufgezeigt. Dementsprechend waren sich beide einig, dass der Grund des Göttlichen vor allen möglichen existentiellen Beziehungen geschützt und absolut verborgen ist: »Nichts ist Ihm gleich«, heißt es im Koran (42:11). »Göttliches Wesen ist nichts gleich, in ihm gibt es weder Bild noch Form«,752 sagt Eckhart. Er definiert auch dieses göttliche Selbst als Gottheit: »Alles das, was in der Gottheit ist, das ist Eins«.753 Diese Einsheit entspricht der Idee aḥadiyya von Ibn al-ʿArabī und seiner Definition ulūhat. Nach ihm wird die mit dem Erschaffenen verbundene göttliche Seite ulūhiyyā (Göttlichkeit) genannt, dieses schöpferische Antlitz wird nach Eckhart als »Gott« bezeichnet. Die Inhalte der Wörter, die beide mit unterschiedlichen Begriffen ausdrücken, sind gleich. Ibn al-ʿArabī interpretiert die Fortsetzung des obigen Verses als Hinweis auf Göttlichkeit: »und Er ist der Allhörende und Allsehende« (Koran, 42:11). Denn es handelt sich hier um die schöpferische Wirkung der aus der göttlichen Essenz offenbarten Namen auf die Geschaffenen. Während es in der einzigen göttlichen Person um absolute Transzendenz (tanzīh) geht, wie es aus dem zweiten Teil des Verses hervorgeht, gibt es eine Analogie (tašbīh). Mit anderen Worten, der erste Teil (des Verses) vergleicht Gott mit nichts, und der zweite Teil beschreibt menschliche Eigenschaften, indem er ihn mit dem Hören und Sehen vergleicht. Nach Ibn al-ʿArabī ist diese Kombination von Transzendenz und Analogie der Beweis für den fundamentalen Glauben, tawḥīd: die Einheit.754 Die Lehre von der Einheit umfasst sowohl die Einfachheit der göttlichen Essenz als auch die Vielfalt der göttlichen Namen. Der Seins-Grund ist zuinnerst (bātin) und ist absolut verborgen (ğayb), kann in keiner Weise erkannt werden. Die pure Gottheit tritt durch die eigene Manifestation nach außen; die erscheinende Göttlichkeit umfasst das Verborgene und auch das Bekannte (Ersichtliche). Die Bezeichnung, die Eckhart für die Gottheit verwendet, drückt die gemeinsame Herangehensweise beider Mystiker sehr gut aus: Seins752 753 754

Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 83. Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 325. Vgl. Ibn al-ʿArabī: Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 65.

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2. Ontologische Prämisse

Grund, auch definiert als Seelengrund. Sie verbindet den Geist, der der Ursprung des Menschen ist, und die göttliche Essenz im Begriff des Seelengrunds. Auf der anderen Seite besteht Ibn al-ʿArabī darauf, die göttliche Einsheit (Seins-Grund) vom menschlichen Dasein und der Erkenntnis abzuheben. Die existentielle Relation der menschlichen Substanz von Göttlichkeit (ulūhiyyā) hat nichts mit dem Selbst Gottes zu tun. Dieser subtile Unterschied im Blick auf die reine Essenz Gottes sollte in islamischen und christlichen glaubensbezogenen Differenzen gesucht werden. Für Eckhart ist die Gottheit vollständig transzendent, doch nimmt er daneben an, dass es auch eine pure Essenz im Menschen gibt, die alle Kreatürlichkeit transzendiert: Im Hintergrund steht die Möglichkeit, die die christliche Dreifaltigkeit und die Inkarnationsprin­ zipien bieten. Die Nachfolger von Ibn al-ʿArabī sind sich dieses Unterschieds bewusst und kritisieren deshalb das Christentum für sein Beharren auf Analogie. Der Kommentator Ahmet Avni Konuk stellt die Wirkung des Glaubens fest, der auf dem Eindruck der Weisheit der Propheten auf die Gesellschaften beruht – für die Juden in Verbindung mit Transzen­ denz, für die Christen mit Analogie und für die Muslime mit Einheit: Jeder Prophet lud sie zu einer einzigen Wahrheit ein, aufgrund ihrer eigenen Manifestation erlebten ihre Gemeinschaften aber unterschied­ liche Aspekte der Göttlichkeit.755 Bei der Einladung von Moses trat die Transzendenz in den Vordergrund, und Gott wurde als eine vom Menschen völlig getrennte Person wahrgenommen. In der Einladung Jesu wurde erfahren, dass sich Gott in der Person manifestiert und sich analog der Glaube entwickelte. In der Muhammadanischen Einladung wurden beide Aspekte zusammengebracht. Das Ziel der Nachfolger von Ibn al-ʿArabī im Glauben sollte darin bestehen, Gott in Begriffen seiner Eigenschaften zu beschreiben.756 Hätte Ibn al-ʿArabī die Gele­ genheit gehabt, Eckhart zu lesen, hätte er ihn wahrscheinlich wegen seines analogen Ansatzes kritisiert. Denn dieser ging davon aus, dass es eine grundlegende Beziehung zwischen dem göttlichen Grund und der menschlichen Seele gebe. Hätte Eckhart Ibn al-ʿArabī lesen können, hätte er ihn dafür kritisiert, dass er die Analogie einschränkte. Denn jener berücksichtigte irgendwie die Position der dogmatischen Theologen und 755 Für Muslime war es die allmähliche historische Entwicklung des Glaubens, die sich zum Islam hin perfektionierte. Vgl. Konuk: Fusûsu'l-Hikem Tercüme ve Şerhi, Bd. 3, S. 151– 152. 756 Ebd., S. 152.

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Kapitel III. Komparative Mystik

erkannte an, dass Gott einen Grund besitzt, der nichts mit der Essenz von Irgendetwas zu tun hat. Dieser heikle Unterschied schadet jedoch weder der Einheit des Seins, der Einsheit des göttlichen Grundes, noch den gemeinsamen Ansätzen in der Lehre, dass alle Kreaturen nur Manifestationen sind. Damit verbinden beide Auslegungen des Wesens der Seinsgabe platoni­ sche Ideen und neuplatonische Emanationstheorie mit aristotelischen Vorstellungen vom selbstdenkenden Ersten. Ibn al-ʿArabī und Eckhart verwenden inhaltlich ähnliche Worte, um die Akte des Hervorbringens auszudrücken, indem sie die Schöpfung als Seins-Mitteilung darstellen. Dabei besteht eine inhaltliche Parallele zwischen den Wörtern ẓuhūr, ḫalq, faṭar mit emanatio, creatio, productio. Wenn man die Grundgedan­ ken vergleicht, geht Ibn al-ʿArabī wieder von der Erfahrung aus. Bei der Beschreibung der verschiedenen Entstehungsstadien verwendet er den Begriff »tağallī«, der die göttliche Eingebung im Herzen des Menschen formuliert. Er stellt also eine Verbindung her zwischen der göttlichen Wirkung, die der Mensch in sich selbst findet, und dem göttlichen Sein, das alle Welten erschafft. Die erste Existenzgabe erfolgt nach der Selbst-Manifestation Gottes. Nach Eckhart kennt sich das göttliche Sein bereits selbst, weil es reines Erkennen ist. Ibn al-ʿArabī zufolge kennt er die ihm innewohnenden Namen. Die Einheit von Erkennen und Erkennendem ist dasselbe wie Selbst-Manifestation in Gott. So gibt die aus ihrem Grund hervorgehende Gottheit Existenz aus ihrem eigenen Sein, das nicht außerhalb ihrer auftritt.757 In diesem Rahmen betrachten beide die Manifestation als eine Art Sprechen: Bei Ibn al-ʿArabī wurde der Vers kunn (sei) im Koran in diese Richtung interpretiert, für Eckhart deutet das Sprechen Gottes auf die Geburt des Logos hin. Dadurch entsteht mit der ersten Manifestation im Sein ein neuer Zustand, der den Wahrheiten aller Wesen immanent ist. Ibn al-ʿArabī nennt es die Wahrheit (Geist des Propheten) Muhammads, und hinter dieser steht zweifellos religiöse Zugehörigkeit. Bei Eckhart wird in der Erläuterung der Trinität durch Emanation das Erste, was aus dem als Vater bezeichneten göttlichen Prinzip hervorgeht, als Sohn dargestellt. Nach Ibn al-ʿArabī ist die Muhammadanische Wahrheit die Offenbarwerdung (taʿayyun) des absoluten Seins, indem er seine Einsheit (aḥadiyya) in ihre Einheit (wāḥidiyya) umwandelt. Aus der Sicht der Seienden fand der eigentliche Schöpfungsakt statt, nachdem das absolute »Gott erkennt im Erkennen seiner selbst sich selbst in sich selbst.« So im Kontext von Eckhart, Werke, Bd. 1, S. 108–111.

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2. Ontologische Prämisse

Sein auf die Ebene der Muhammadanischen Wahrheit herabgestiegen war und alles daraus geschaffen wurde. Muhammadanische Wahrheit und Sohnschaft haben insofern fast denselben Inhalt, als sie die Essenzen der Dinge in den gesamten Kreaturen enthalten und die immanente Wahrheit in jeder göttlichen Manifestation sind. Die allen Menschen innewohnende Essenz liegt in der ersten Wahrheit oder Sohnschaft. Alle Fragen, wie und warum die existentielle Beziehung zwischen Gott und Mensch ist, konzentrieren sich daher auf diese erste Ebene. Neben aller kontextuellen Ähnlichkeit unterscheidet sich Eckhart durch Bezeichnungen im Kontext des Trinitätsverhältnisses und insbe­ sondere durch die Definition der Beziehung Vater-Sohn (Grund-Erschei­ nung) als Geburt. Sie bezeichnet nach Eckhart das Herausgehen aus der ersten Emanation im Vater und damit eine wesentliche Orientierung, die alles Heraustretende einschließt. Selbstverständlich spricht er nicht von einer körperlichen Zusammengehörigkeit, wie sie beim Menschen vorkommt; er betont oft, dass die Geburt in der Seele stattfindet. Aber dass er das Wort »Seele« anstelle von Gottheit wählt, dies weist genau auf den anthropologischen Zusammenhang hin. Denn dieselbe Seele ist die immanente Wirklichkeit des Menschen. Eckhart sagt ganz bewusst, dass die göttliche Geburt in einer Seele stattfindet und damit auch in der Menschlichkeit wurzelt. In den Schriften von Ibn al-ʿArabī tauchen die Verben gebären und erzeugen wie tawallud immer wieder auf; aber er verwendet sie (a) entweder für den Einfluss göttlicher Namen auf Kreaturen (b) oder die Beziehung zwischen Kreaturen. So wird nie ein innerer Akt der Gottheit selbst dargestellt. Er vermeidet die Darstellung einer Analogie zum Verhältnis von Gottheit und Muhammadanischer Wahrheit, um sich von der christlichen Konnotation zu entfernen. Wenn auch er die Manifestation mit einer dreifachen Ordnung als Einzigartig­ keit-Einheit-Seiendes (ähnlich der Dreieinigkeit) darstellt, stellt er die Zahl (der Seins-Ebenen) manchmal als fünf oder sieben dar. Schließlich dienen Manifestationsstufen nur zur Beschreibung, nicht zur absoluten Definition. Eckhart stimmt mit dem islamischen tawḥīd überein, dass es in der Gottheit keine Dreieinigkeits-Unterscheidung gibt und dass das Höchste eine reine Ein(s)heit ist. Auch in diesem Prinzip unterscheidet er sich nicht von Ibn al-ʿArabī in Bezug auf Selbsterkenntnis und Erst-Mani­ festation. Er ist jedoch überzeugt, dass der Sohn geistig dem Vater gleich ist. So wird eine Gleichheitsbeziehung zwischen dem geistigen Wesen des Menschen und der Sohnschaft und damit dem göttlichen Prinzip hergestellt. Ibn al-ʿArabī hat keinen Zweifel, dass Einheit zwischen den

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Kapitel III. Komparative Mystik

Ebenen besteht, aber er sieht nicht die Muhammadanische Wahrheit, die das Prinzip des Menschen ist, und das göttliche Prinzip als dasselbe an. Die Darstellung von Gottes Handeln in der Relation zum Menschen – allgemeiner zur Kreatur – hat es Mystikern ermöglicht, in der zeitge­ nössischen Debatte originelle Argumente zu entwickeln. Die Tatsache, dass Gott zugleich am Anfang des Seins und in der Existenz (als schöp­ ferischer Agent) ist, also die Beständigkeit der Schöpfung überhaupt, wirft natürlich die Frage auf, ob die vom göttlichen Sein abhängigen Wesen auch ewig sind. Gewiss ist einer der wichtigsten Diskussions­ bereiche der christlichen Scholastik und der islamischen Philosophie die Vorewigkeit der Welt. Al-Ġazzālī und Thomas, zwei Prominente Vertreter beider theologischen Traditionen, diskutierten sorgfältig das Problem der Zeit. Denn die in beiden Kulturen verbreitete peripateti­ sche Kosmologie-Lehre hat im Hinblick auf die Gott-Welt-Analogie zu Kontroversen geführt. Al-Ġazzālī und Thomas widersetzten sich den Behauptungen der immerwährenden Relation des Universums mit Gott und beschuldigten die Philosophen der Ungläubigkeit.758 Ibn al-ʿArabī und Eckhart hingegen suchen einen mittleren Weg: Seiende sind vorewig in Bezug auf die ihnen immanente Göttlichkeit und ihre Prinzipien in dem göttlichen Wissen, aber in Bezug auf ihre zeitliche Körperlichkeit vergänglich. Nach Ibn al-ʿArabī bilden die festen Archetypen und der darin aktive göttliche Name die ewige Seite. Die mit der Schöpfung entstandene Körperlichkeit ist die temporäre Erscheinung der Dinge. Eckhart betrachtet Kreaturen auch als zweidimensional: dass sie in ihrer Seele ewig (d.h. überzeitlich) und in ihrer Erscheinung veränderlich sind. Ein weiteres umstrittenes Themenfeld im Rahmen der Sein-Sei­ enden-Relation betrifft die Ursache der Schöpfung. Nach der avicenni­ schen Philosophie muss Gott aus seiner eigenen Natur Existenz geben. In der abrahamitischen Glaubenstraditionen hat Gott jedoch gewollt erschaffen. Al-Ġazzālī und Thomas waren beide der Meinung, dass die Schöpfung nicht notwendigerweise aus dem Wesen Gottes, sondern durch den göttlichen Willen geschieht. Während Entitäten ohne Willens­ kraft in ihrer Natur festgelegt sind, handeln Entitäten mit Willenskraft freiwillig. An diesem Punkt schlägt die mystische Alternative eine Brücke zwischen den beiden Ansätzen: dass Gott hervorbringen muss, um ein Gott zu sein, dem Attribute wie Schöpfer und Wohltätig zugeschrieben werden können. Dies liegt daran, dass die islamische Manifestation und 758 Vgl. Kobusch, Theo: Geschichte der Philosophie, Bd. 5, Die Philosophie des Hoch- und Spätmittelalters, München 2001, S. 173–174; 186–190.

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3. Anthropologische Prinzipien

die christliche Geburt eine existenzielle Notwendigkeit sind. Wenn die göttlichen Namen nicht auftauchten, würden sie nicht (in der Welt und als Welt) realisiert, hier besteht eine obligatorische Beziehungssituation. Aber beide behaupten auch, dass Gott erschaffen »will«. Von Gottheit (pures Sein) zu Göttlichkeit (erscheinendes Sein) gibt es verschiedene Zustände in verschiedenen Ebenen der Existenzgabe. In dieser Richtung sollten Relationen ins Auge gefasst werden, die auf einer Art Vielfalt basie­ ren, die notwendige und freiwillige Beziehungsunterschiede zwischen Gott und der Kreatur enthalten. Mit dem Koran nennt Ibn al-ʿArabī Gottes Geschenk der Existenz die höchste Barmherzigkeit und Gott Raḥmān. Eckhart bezeichnet ebenfalls aufgrund der bedingungslosen Gnade des Seins als die größte Eigenschaft Gottes die Barmherzigkeit.759 Beide brauchen allerdings einen anderen Begriff, der höher steht als die Barmherzigkeit, um zu begründen, warum Gott augenblicklich und immerwährend hervor­ bringt: die Liebe. Sie stimmen darin überein, dass das Erschaffen an sich ein Akt der Liebe ist.760 Gott ist Liebe, und seine Manifestation ist die Liebesorientierung, die von ihm ausgeht. Diese zeigt sich zuallererst in die Perfektion und Schönheit seiner Attribute, die alle Seienden enthüllen, zu denen das erste Wesen der Mensch gehört. Deshalb werden die Freunde Gottes »Liebende« genannt: »Gott hat sie geliebt und sie haben Gott geliebt« (Koran, 5:54). Der perfekte Mensch ist das Endziel von Gottes Liebesakt, das Endziel der Liebesorientierung im Menschen ist Gott selbst. Somit kehrt das Sein zu dem Punkt zurück, an dem es als eine vollständige Kreisbewegung der Liebe begann, weil der Endpunkt gleich dem Startpunkt ist.

3. Anthropologische Prinzipien 3.1. Neue Konzeption des Gott-Mensch-Verhältnisses Neben der in gängigen Korankommentaren bevorzugten Ableitung des Wortes »Mensch« von »Vergessen«, die sich auf die Entfremdung des Menschen von der Göttlichkeit bezieht, bringt Ibn al-ʿArabī die Bedeu­ tung von Harmonie ein, die sich auf die dauerhafte Bindung des Men­ Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 90; Ibn al-›Arabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 5, S 13. Vgl. Ibn al-›Arabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 112; Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 3, S. 83.

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Kapitel III. Komparative Mystik

schen an Gott bezieht. Eckhart nimmt an, dass »homo« vom Ursprung der Schöpfung aus der Erde herrührt und damit alle Geschlechter umfasst, was sich von der Antike gebildeten semantischen Strukturen unterscheidet. Den Ursprung der Schöpfung aus der Erde interpretiert er im Kontext von Demut, die eigentlich die Bereitschaft des Menschen zur göttlichen Einheit beschreibt, indem er ihn mit Gelassenheit in Verbindung bringt. Reinheit, die die Bedingung der Einheit ist, schließt auch die Befreiung der Seele von äußeren Formen ein: Im reinsten Stadium des abstrakten Denkens erkennt man die wahre Bedeutung des Menschseins als eins mit dem göttlichen Denken. Beide semantischen Grundsätze konstruieren die unzertrennliche Zusammengehörigkeit mit der immanenten Göttlichkeit des Menschen in einem weiten Umfang, der sowohl das ontische Prinzip als auch den ethischen Zweck beinhaltet. Die Darstellung des Menschen als Bild hat eine zentrale Bedeutung für das Verständnis der Gott-Mensch-Beziehung. Obwohl im Koran nicht erwähnt, ist sich Ibn al-ʿArabī sicher, dass die prophetische Überlie­ ferung dazu wahr ist; Eckhart nimmt die explizite Bemerkung in der Bibel als Quelle: Der Mensch wurde von Anfang an geschaffen für die Verkör­ perung der Göttlichkeit, was die klarste Bedeutung von Ebenbildlichkeit ist. Aus der Sicht von Ibn al-ʿArabī werden so die göttlichen Namen in perfekter Weise widergespiegelt. Die Ebenbildlichkeit ist für beide eine Ähnlichkeit und darüber hinaus die Gleichheit, die aus dem Geist hervorgeht. Denn der Geist ist Gottes Atem, seine Hingabe an den von ihm geschaffenen Körper.761 Während der Bildbegriff auf die seelische Gleichheit in der Gott-Mensch-Beziehung hinweist, unterscheiden sich Gott und die Individuen dadurch, dass sie der Reflektierende (Gott) und Reflexion (Mensch) sind. Um die Ebenbildlichkeit zu verdeutlichen, greifen beide Mystiker auf die gleiche Analogie zurück: Sowohl der Mensch als auch das Universum werden als Spiegel Gottes dargestellt.762 In der Spiegelbeziehung ist der Mensch kein passiver Reflektor, sondern betrachtet die in seiner Existenz erscheinenden Attribute. Es ist, als ob Gott und Mensch wie zwei zusammengehaltene Spiegel sind. Darüber sagt Ibn al-ʿArabī: »Gott ist also der Spiegel, in dem du dich selbst siehst; so wie du sein (Gottes) Spiegel bist, in dem Er Seine Namen anschaut.«763 761 762 763

Vgl. Ibn al-›Arabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 4, S. 430. Vgl. Ibn al-›Arabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 168. Ibn al-›Arabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 47.

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3. Anthropologische Prinzipien

Eckhart fasst es ganz genauso zusammen: »Das Auge, in dem ich Gott sehe, das ist dasselbe Auge, darin mich Gott sieht; mein Auge und Gottes Auge, das ist ein Auge und ein Sehen und ein Erkennen und ein Lieben.«764

Die gegenseitige Schau erinnert an Ibn al-ʿArabīs Zugang zum notwen­ digen Verhältnis, das er im Zusammenhang von Gott und Diener entwickelt hat: Obwohl der Mensch keineswegs die Hauptquelle des göttlichen Lichts ist, ist er nicht nur ein externer Spiegel; denn Licht braucht zum Reflektieren einen Spiegel.765 Eine andere Vorstellung, die Notwendigkeit und Freiwilligkeit des göttlichen Handelns zusam­ menbringt, ist das Wort-Sein des Menschen. Aus christlicher Sicht ist zwar das Wort Gottes vor allem Jesus Christus als der Logos, aber Eckhart erweitert das zum gemeinsamen Prinzip in allen Menschen. Ibn al-ʿArabī interpretiert die Darstellung von Jesus als Wort im Koran als Zeichen einer gemeinsamen Wahrheit für alle Menschen. Für beide ist dank semantischen Erweiterungen die schönste (und umfassende) Rede Gottes, die alle Wesenheiten der Kreaturen enthält, der Mensch. Eines der schwierigsten Bezeichnungen bei dem Versuch, dem Menschen im Rahmen der göttlichen Einheit einen Sinn beizumessen, ist Knechtschaft.766 Die wichtigste Idee, die als Beispiel für eine lehren­ zentrierte Begriffswandlung ausgeführt werden kann, ist gleichfalls die Knechtschaft. Ähnlich wie bei der Unterscheidung zwischen Gottheit und Göttlichkeit differenziert Ibn al-ʿArabī zwischen obligatorischer und freiwilliger Dienerschaft. Die obligatorische weist auf die in jedem Menschen immanente Essenz hin und wird in koranischen Begriffen wie fiṭra und ʿayn ausgedrückt: In seinem eigenen Wesen – unabhängig von seinem Willen – ist der entsprechende göttliche Name manifestiert. Wenn er diese substantiell bestimmte Bindung mit seiner gegenwärtigen Reali­ tät harmonisch (vereinbar) macht, erreicht er den Rang der Dienerschaft. Diese zweite Art ist die Übertragung der ontischen Wahrheit auf die erkenntnismäßige und moralische Realität. Wenn das in einem religiösen Rahmen interpretiert wird, bedeutet es die Annahme des Glaubens und seine Umsetzung in die Handlung. Ibn al-ʿArabīs Neugestaltung in Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 274; Die lateinischen Werke, Bd. 1, S. 149. Vgl. Ibn al-›Arabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 20–22. 766 Da das Wort »Knechtschaft« sowohl in der deutschen christlichen Literatur als auch in Eckharts Schriften verwendet wird, wird es mit der gleichen Bedeutung beibehalten. Im Arabischen wird hier das Wort »Dienerschaft« bevorzugt, da das Wort »ʿabd« nicht ganz der Bedeutung von Knecht entspricht.

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Kapitel III. Komparative Mystik

Bezug auf die Dienerschaft besteht darin, dass er deren Interpretation als menschliche Passivität vor Gott aufgab. Der Hauptgrund dafür ist, dass er sich weigert, den Menschen als eine autonome Dimension aus dem Sein auszuschließen, da er eine unmittelbare Verbindung zwischen ihnen annimmt. Nach der vorherrschenden Lehre der dogmatischen Theologie wird der Mensch ein Geschöpf außerhalb des Göttlichen und unterwirft sich seinen Befehlen. Es gibt eine klare dimensionale Unterscheidung zwischen dem Angebeteten und dem Anbeter. Ibn al-ʿArabī hingegen sagt, dass gerade die immanente Göttlichkeit des Menschen die obliga­ torische Knechtschaft hervorruft, mit der Absicht, beide Kategorien zu eliminieren. Göttlichkeit wird nur durch Dienerschaft verwirklicht. Insofern kann das Sein nicht als Trennung zweier unterschiedlicher Kategorien wie Gott–Mensch, Wirkung–Rezeption beschrieben werden. Daher ist Dienerschaft keine Stellungs-Definition, sondern Ausdruck einer Beziehungsart. In völliger Übereinstimmung damit entfernt Eckhart den Menschen aus der Situation in der klassischen Definition von Knechtschaft und will die Beziehung in ihrer Essenz entdecken. Seiner Meinung nach ist Gott-Knecht eine Klassifizierung der Kategorien, Vater-Sohn aber eine Konzeption der Einheit. Das Wesentliche für einen Menschen ist es, das Niveau allgemein vorherrschender Knechtschaft zu überschrei­ ten und sich mit dem Niveau der Sohnschaft zu identifizieren. Sie ist nicht äußerlich, charakterisiert vielmehr die dem Menschen selbst innewohnende Menschlichkeit. So stellt er nicht nur eine Rückkehr zum Geist mit einer bloßen moralischen Reifung heraus, sondern auch einen seinsmäßigen Zusammenhalt auf der Grundlage der Einheit.767 Um die Art der Beziehung zu beschreiben, bringt er ein Argument im Zusammenhang begrifflicher Innenbeziehung: Genauso wie es eine Verbindung zwischen Gerechtigkeit und Gerechten gibt, besteht ein unmittelbares Verhältnis zwischen Gottheit und Gott – sowie dem Gott zugehörigen menschlichen Geist: Wer in seiner Seele bei Gott ist, kann nicht – als ein Anderer – außerhalb von Gott bleiben. Eckhart kommt hier aus heutiger Sicht zu einem sehr bemerkenswerten Ergebnis: Der Übergang des Menschen von der Knechtschaft zur Sohnschaft ist eine Befreiung, ist seine eigentliche Freiheit. So definieren beide Mystiker Knechtschaft als Einheitsbeziehung, nicht als externe Positionierung. So wie es die Liebe ist, die den Menschen von der Trennung der äußeren Knechtschaft zur inneren Einheit führt, so ist es auch die Liebe, 767

Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 127.

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3. Anthropologische Prinzipien

die Gott dazu bringt, das menschliche Wesen zu seinem eigenen Bild zu machen. Daher muss es die Liebe sein, die die Beziehung des Menschen zu Gott bestimmt, und muss das Sein aus Liebe bestehen. Barmherzigkeit ist einer der höchsten Namen Gottes, aber während Gott barmherzig ist, ist der Diener derjenige, der sie angenommen hat. In der Liebe hingegen gibt es keine Abstufung, Stellung oder Trennung, die Dualität hervorruft. Gott ist sowohl liebend als auch geliebt, und der Mensch ist sowohl liebend als auch geliebt. Beide kommen hier zu dem Schluss, dass der essenzielle Sinn des Menschen, nämlich seine Beziehung zu Gott, die Liebe selbst ist.

Der eine-einzige Menschengrund Was denken zwei Mystiker, die an der Göttlichkeit der menschlichen Essenz nicht zweifeln, über die Menschlichkeit des Göttlichen? Da die Muhammadanische Wahrheit oder die Sohnschaft die immanente Essenz aller vielseitigen Erscheinungen des Seins ist, stammen alle Seiende in gewisser Weise aus dem Menschlichen. Dies führt zu zwei Interpretationen in Bezug auf Ibn al-ʿArabī und Eckhart: (a) Die Tatsache, dass die Wahrheit des Menschen zuerst aus der Manifestation hervorgeht, weist darauf hin, dass im Göttlichen menschliche Essenz liegt. (b) Die Tatsache, dass alle Geschöpfe aus der Wahrheit des Menschen geschaffen sind, zeigt, dass jedes einzelne Ding im Menschen ver­ wurzelt ist. Die Seele sammelt alle Wahrheiten im Menschen in Richtung zum Göttlichen einerseits und zur Welt andererseits. In dieser Hinsicht baut das Menschsein eine seelische Brücke zwischen Gott und der Kreatur. Laut beiden Mystikern schließt sich der Kreis des Existierens, indem sich das göttliche Prinzip von der Einheit zur Öffnung bewegt und das menschliche Prinzip von der Vielheit zur Einheit. Insofern gibt es einen gemeinsamen (Seins-)Grund, der beide Prinzipien zusammenführt. Ein Ende führt zu Gott und das andere Ende zum Menschen. Es sind einer­ seits Manifestation und andererseits Geburt, die das Ganze zwischen ihnen gewährleisten. Durch diesen Ansatz wird die Gotteserfahrung als eigene menschliche Erfahrung wahrgenommen:

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Kapitel III. Komparative Mystik

von Gott zum Menschen

vom Menschen zu Gott

von der Einheit zur Vielfalt

von der Vielfalt zur Einheit

So stellt sich Ibn al-ʿArabī die Verbindung der Göttlichkeit mit der menschlichen Essenz durch Manifestation und Eckhart durch die Geburt vor. Sowohl die Muhammadanische Wahrheit als auch die Jesuanische Sohnschaft manifestieren sich in der sichtbaren Welt, fließen durch alle Ebenen des Seins und bilden den einzigen Grund der Menschheit.768 Ibn al-ʿArabī begründet die prinzipielle Relation zwischen Gott und dem Menschen mit der Manifestation, die ein spezifisches Merkmal für Gott ist. Obgleich er tağallī ausgehend von der menschlichen Erfahrung einen Sinn gegeben hat, hat letztendlich die Manifestation eine göttliche Natur. Als Grund dafür kann man sein Bemühen, Transzendenz und Analogie zusammenzuhalten, deuten. Eckhart hingegen verwendet das mensch­ lich und sogar weiblich charakterisierte Wort Geburt, um die Beziehung zwischen Gott und Mensch zu beschreiben. Auch wenn er die Geburt als rein geistig betrachtet, ist es die Verwendung eines menschlichen Merkmals in Bezug auf Gott. Es ist eigentlich keine Entdeckung Eckharts, sondern hat klar einen christologischen Hintergrund: Er bedient sich der Terminologie, die die menschliche Darstellung Gottes im Christentum ermöglicht, und erweitert dieses ursprüngliche Glaubensdogma so, dass sie die Konstruktion einer mystischen Anthropologie erlaubt.769 Eckharts Darstellung der Geburt als (a) seelisch und (b) allumfassend kann tatsächlich als seine Herangehensweise an tawḥīd interpretiert werden. Er entfernt nämlich die Geburt aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ontologischen Kategorie, die nur zwischen Vater und Sohn stattfindet, und wendet sie auf alle Bereiche der Schöpfung an. Dies »Die Muhammadanische Wahrheit ist wahrlich die gesamte Existenz, und (sie) ist die Offenbarung, von ihr und zu ihr und mit ihr und über sie; die Muhammadanische Wahrheit ist in allen Dingen«, Ibn al-›Arabī: al-Bulġā, S. 133. 769 Für einen klaren Hinweis vgl. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 673.

768

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3. Anthropologische Prinzipien

ist genau der Ansatz von tawḥīd, den Ibn al-ʿArabī sehen wollte. Denn die Akbariten kritisierten die Christen dafür, dass sie die vollkommene Manifestation Gottes auf die Person Jesu beschränken:770 Das heißt, die Manifestationen Gottes müssen auf alle Seiende ausgedehnt werden. Eckhart entgeht dieser Kritik, indem er die grundlegende Relation auf die gesamte Menschheit erweitert, als ob er eine Antwort entwickeln würde. Aus islamischer Perspektive ist die Mystik Eckharts analogisch, indem die menschliche Geburt zu einer Analogie des göttlichen Prinzips wurde, aber sie ist auch einheit(lich)-transzendent, indem sie zu einem universellen Prinzip umgestaltet wurde. Beide Mystiker stimmen darin überein, dass das Selbst Gottes, das der elementare Maßstab des monotheistischen Glaubens ist, nicht als Mensch bezeichnet werden kann. Bei der menschlichen Beschrei­ bung des Göttlichen begegnet man also einer gewissen Grenze. Die Menschheit ist der Göttlichkeit innewohnend, aber dies ermöglicht es nicht, Gott als Mensch zu bezeichnen. Bei allem anthropomorphen Hintergrund der Inkarnation Gottes nennt Eckhart den Menschen weder einen Gott noch nennt er Gott einen Menschen.771 Er ist allerdings der Meinung, dass zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Ursprung ein unmittelbarer Bezug besteht. Für ihn legt die Trinitätslehre bereits nahe, dass der Heilige Geist in jedem Menschen tätig ist und eine Einheit zwischen Gottheit und Seelengrund ermöglicht. Eckhart zögerte so nicht, eine Relation zwischen der lauteren Quelle und dem menschlichen Geist herzustellen. Sein Anspruch im Blick auf die reine Gottheit war deutlich: »Hier ist Gottes Grund mein Grund und mein Grund ist Gottes Grund«.772 Wenngleich beide letztendlich die Einheit des Seins akzeptieren, kann die Bedeutung der erneuten Betonung der nuancierten Unterschiede wie folgt dargelegt werden: Das Ergebnis von Eckharts Standpunkt ist, dass man auch in der verkörperten Seele die pure Gottheit als die Wurzel von Gott und Mensch erreichen kann – mit reiner Demut. Auf der anderen Seite stellt Ibn al-ʿArabī heraus, dass das, was eine Person erreichen wird, indem sie ihre eigene Essenz erreicht, nur der göttliche Name ist. Während Eckhart die Beziehung einwandfrei Vgl. Konuk: Fusûsu’l-Hikem Tercüme ve Şerhi, Bd. 3, S. 139–142. Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 237. Das originäre Subjekt aller Bewegung ist also Gott und nicht der Mensch oder ein immanentes Prinzip des Seienden. Vgl. Kern: Die Anthro­ pologie des Meister Eckhart, S. 25. So ist eine in Humanismus fundierte Anthropologie bei Eckhart kaum zu finden. 772 Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 90.

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herstellen kann, schließt Ibn al-ʿArabī die Quelle des Seins aus dem Spek­ trum des Menschen aus. In dieser Hinsicht werden die Grenzen der Anthropologie bei Ibn al-ʿArabī durch die Transzendenz bestimmt, wäh­ rend Eckhart von der Immanenz ausgeht.773 Ibn al-ʿArabī setzt die Ebe­ nen des Seins nicht miteinander gleich, wie dies in der Dreieinigkeit möglich ist. Es gibt einen Stufenunterschied zwischen dem Ursprung der Manifestation. Auch Eckhart basiert auf der Lehre vom vielschichtigen Werden des Seins. Wenn Eckhart unterscheidet zwischen Gottheit und Gott, so betont er, dass die Dreieinigkeit in der Gottheit eins ist und damit nimmt an, dass es im Menschen einen Weg zur Gottheit gibt: eben die Geburt in der Seele.

3.2. Die Ambivalenz des menschlichen Spektrums Um die Einheit lehrmäßig zu fundieren und damit auch eine Seele-Kör­ per-Dualität zu überwinden, gibt es zwei Wege: (a) entweder das Heilige vollständig zu transzendieren, indem alle wahrnehmbaren Äußerlichkei­ ten wegen ihrer Vergänglichkeit abzulehnen sind, oder sie (b) bis zu einem gewissen Grad mit dem Heiligen in Verbindung zu bringen, indem man die Welt so weit wie möglich verinnerlicht. Im Rahmen des zweiten Ansatzes entwickeln Ibn al-ʿArabī und Eckhart ihre Perspektiven: Die Seele entspringt der göttlichen Quelle und schreitet durch die Ebenen der Seinsgabe fort, die sich in der körperlichen Welt manifestiert. Die Ebene des menschlichen Daseins, das das ultimative Ziel des göttlichen Erkennens ist, wird durch die Manifestation der Seele im Körper voll­ endet. Ibn al-ʿArabī sagt, dass es auf Arabisch »bašar« genannt wird wegen des materiellen Bezugs mit dem Universum und »insān« wegen der Verbindung der Seele mit allen Ebenen des Seins.774 Vergleichbar ist Eckhart überzeugt davon, dass die menschliche Existenz durch die Verflechtung von Seele und Körper hervorgerufen wird, die im Grund die Einheit der Kreatur mit Gott ist. Die materielle Erschaffung des Menschen und seine Fähigkeit, Erscheinungen in der Seele zusammenzuführen, weisen auf ein weiteres Merkmal hin: jedes Individuum hat eine einzigartige Erfahrung im Zugang zur Göttlichkeit. Sowohl geistig als auch körperlich einzigartig 773 774

»Als seinen Sohn ohne jeden Unterschied«, Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, 109 Vgl. Ibn al-›Arabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 130–131.

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3. Anthropologische Prinzipien

nennt Ibn al-ʿArabī die Individualität (fardiyya) des Menschen.775 Denn bei der Beschreibung der Muhammadanischen Erscheinung im Buch Fuṣūs, in der die göttliche Vollkommenheit aller Propheten zusammen­ kommt, hebt er zwei Merkmale hervor: Einzigartigkeit und Schönheit. Alle Schönheiten der Kreaturen vereinen sich im Menschen. Eine der größten Segnungen, die der Seele verliehen wurden, besteht wiederum darin, eine einzigartige und unabhängige Einstellung für die Göttlichkeit zu haben. Denn der göttliche Name, der die Essenz eines jeden Menschen ausmacht, gehört zu ihm. Sich selbst zu kennen bedeutet, diese für ihn einzigartige Göttlichkeit zu erkennen. Eine ähnliche Haltung begegnet bei Eckhart, denn für ihn hat der Mensch nicht nur eine gemeinsame Basis mit jedem Existierenden, sondern auch eigene Individualität, die ihn von allem anderen differenziert.776 Seinsmäßige Authentizität hat einerseits eine gleichberechtigte Beziehung zu Gott und jedem und jeder, andererseits hat sie einen für sich völlig einzigartigen Bereich. Gleichheit aufgrund der wesentlichen Umfassung aller kreatürli­ chen Wahrheiten und zugleich Differenz aufgrund der Einzigartigkeit jedes Einzelnen machen eine universelle Definition der Menschlichkeit unmöglich. Als in Bezug auf Gott ewiges, in Bezug auf sich selbst zeitlichkreatürliches Sein und sogar Nichts, hat das menschliche Dasein einen fast unbestimmten Charakter. Bei Ibn al-ʿArabī definiert die barzaḫiyya den Zwischenzustand innerhalb der Gegensätze: Aus der Sicht des Körpers betrachtet wird eine Umwandlung beobachtet, und aus der Sicht der Seele eine beständige Erneuerung. Auf dieser Grundlage gibt es permanente Manifestationen, daher wandelt sich die menschliche Identität zahllos zwischen Geistigkeit und Materialität. Auch wenn Göttliches im Menschen ist, trägt es die vielfältigen Attribute, fließt von einer Ebene zur anderen; auch der Körper verändert sich schon in jedem Augenblick. Das Zusammenkommen der Vielfalt, das im Grunde genommen zwischen der Dualität (nāsūt und lāhūt) hin und her geht, ist auf die zwei Seiten des Seins zurückzuführen. Ibn al-ʿArabī zufolge spiegelt sich im Menschen die Einheit und Vielfalt der beiden Hände Gottes wider – und in diesem Zusammenhang gibt es den reinen Aspekt der Seele (Einheit), der der Göttlichkeit gegenübersteht, und den Aspekt, der den Körper berührt (Vielfalt). Genau dies ist die Beschreibung der Polysemie des menschlichen Daseins, also ihrer Vielschichtigkeit. Vgl. Rahmati: Der Mensch als Spiegelbild Gottes, S. 58. Darüber sagt er: »aber was ich bin, das gehört keinem Menschen sonst zu als mir allein, keinem Menschen noch Engel noch Gott«, Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 321.

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Tatsächlich wird daraus geschlossen, dass der äußere Aspekt der Seele im Körper ist. Je niedriger der Körper ist, desto tiefer sinkt die Seele. Auch Eckhart vertritt die Überzeugung, dass die Seele zwei Aspekte hat und dass es einen existenziellen Bezug zwischen dem seelischen Bild des Körpers und dem göttlichen Bild der Welt gibt. Während sich der göttliche Geist in der Welt manifestiert, tut dies der menschliche Geist im Körper. Die Seele wird verkörpert und vollendet so die Realisierung des Menschseins. Nach dieser von beiden Mystikern vertretenen Auffassung ist die Tatsache, dass der Mensch die letzte Erscheinung ist, auf seine Erhaben­ heit und Inklusivität zurückzuführen. Basierend auf der Vorstellung des »letzten Kindes« behauptet Ibn al-ʿArabī, dass die Erde dem Menschen anvertraut und der Mensch als Kalif benannt wurde. Er wurde als Geist ins Universum gesandt, um den ultimativen Zweck der Existenzgabe zu erfüllen. In diesem Sinne entfernt er sich von negativen Weltdeutungen und insbesondere von christlicher Sündenlehre. Er wird sogar behaup­ ten, dass diese Welt dem Jenseits in mancher Hinsicht überlegen ist. Denn einige freiwillige Handlungen (die Manifestationen sind) werden nicht im Jenseits erfahren.777 Eckhart legt kein derartig deutliches positives Weltbild dar; er betrachtet die materielle Welt trotz aller metaphorischen Beschreibungen als Welt des von Gott abgefallenen Menschen. Aber das bedeutet nicht, dass er die Welt ausschließt: In beiden mystischen Lehren wird die Beziehung zwischen Gott-Mensch-Welt als Spiegelbild des jeweils anderen betrachtet. Dabei ist göttliche Vollkommenheit im Uni­ versum detailliert verbreitet (tafṣīlī) und im Menschen zusammengefasst vereint (iğmālī).778 Für Eckhart erschien die Gottheit als Sohn in dem aus Erde geschaffenen Körper. Aus dieser Sicht lässt sich feststellen, dass beide Mystiker eine positive Wahrnehmung der Körperwelt haben. Ibn al-ʿArabī ging noch weiter und betonte den Wert der Welt und fügte ihrem Erleben eine spirituelle Bedeutung hinzu. Wie im Thema der spirituellen Reinheit erörtert, unterscheiden sich die Welt und der Körper von

777 »Es besteht kein Zweifel, dass ein Mensch in dieser Welt in seinen göttlichen Eigenschaf­ ten vollkommener ist als im Jenseits.« Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 5, S. 302. 778 »Da Ādam mit zwei Händen (Gottes) erschaffen wurde, konnte er nach dem Bild von Ḥaqq existieren. Daher wurden alle Wahrheiten der Welt (ʿālam) in Ādam gesammelt. Die Welt verlangt nach göttlichen Namen, und alle göttlichen Namen sind zweifellos im Men­ schen versammelt.« Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 65. »Denn alle Krea­ turen sind versammelt (= zusammengefasst) im Menschen« Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 3, S. 559, 29. Vgl. Flasch: Philosoph des Christentums, S. 148

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3. Anthropologische Prinzipien

Weltlichkeit und Körperlichkeit. Denn die Neigung zur Vergänglichkeit ist kein Mangel des Körpers, sondern ein Anliegen der Seele.

Gleichartigkeit und Andersartigkeit Es sind entweder interne Faktoren wie Glaube und Denken oder externe Faktoren wie Macht und Schönheit, die den Rahmen von Gleichheit und Differenz zwischen Menschen bestimmen. Im Zuge solcher Voraus­ setzungen erlangt eine Person eine bestimmte privilegierte Stellung, indem sie einen definitiven Wert erlangt. Ibn al-ʿArabī und Eckhart sind sich einig, dass der Wert, den alle Menschen gleichermaßen haben, von der gleichen Substanz herrührt. Beide Denker zögern nicht, dass jeder Mensch aufgrund der jedem Menschen immanenten Essenz gleich ist, ungeachtet seiner kulturellen oder ethnischen Unterschiede. Äußer­ liche Merkmale wie Stärke oder Schönheit unterscheiden Menschen voneinander, bestimmen aber nicht ihre wesentliche Identität. Daher sind sie kein Grund für eine Kategorisierung. Hoheit kann nur erreicht werden, indem in der Seele die inhärente Wahrheit offenbart wird, die jeder gleichermaßen besitzt. Das heißt, durch die Erscheinung göttlicher Namen für Ibn al-ʿArabī und durch Geburt für Eckhart kann der Mensch verglichen mit anderen privilegiert sein. Ibn al-ʿArabī beschäftigt sich speziell mit der Frage des Wertes. Er unterscheidet das Göttliche hauptsächlich von der Ehre (šaraf), die als Überlegenheit verstanden werden kann, und definiert Würde und Respekt (iḥtirām) so: Jeder Mensch wird aufgrund seines angeborenen Rechtes seinem Wesen nach respektiert. Die Würde des Menschen beruht eigentlich auf den Tugen­ den, die ihn anderen Kreaturen überlegen machen. In Bezug auf die menschliche Kompetenz ist er dabei nur mit der Welt zu vergleichen: er ist erhabener als alle Teile der Seienden. Da die gesamte Schöpfung die Manifestation von verschiedenen göttlichen Namen ist, wird eine gleichberechtigte Beziehung zwischen ihnen ins Auge gefasst. Laut Ibn al-ʿArabī haben sich mit dem menschlichen Dasein drei Arten von Überlegenheit herausgebildet: (a) Schöpfung mit zwei Händen Gottes; (b) die (göttlichen) Namen lernen, die die Engel nicht kennen; (c) Kalif auf Erden zu sein.779 Trotz dieses Stellenwerts muss das Verhalten des Menschen gegenüber der Welt im Rahmen seiner grundlegenden Essenz 779

Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 4, S. 455.

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stehen, und so sollte anderen Menschen aufgrund ihrer angeborenen Würde Respekt entgegengebracht werden. Denn es bedeutet, den göttli­ chen Namen zu beachten, also Gott zu respektieren. Verbreitet gibt es Macht und Reichtum, die durch die Herkunft gewonnen werden, und zweitens die Ehre, die durch Beruf und soziale Stellung erlangt wird. Ibn al-ʿArabī präsentiert ein Panorama des Adels seiner Zeit, wobei einige die Ehre als erblich, andere als erworben ansehen.780 Dem stellt er seine eigene Ansicht entgegen, dass nämlich das, was den Menschen ehrenhaft macht, die geistige Stufe ist: Respekt ist weder erblich noch das Ergebnis eines erworbenen sozialen Status, sondern jeder ist wegen seiner Menschlichkeit ehrwürdig. Und die Ehre, die er im Verhältnis zu anderen gewinnt, ist nur der Grad, in dem er seine eigene Würde erlangt – dies ist die geistige Harmonie und hat keine offensichtliche weltliche Bedeutung.781 Eckhart spricht gleich zu Beginn der vierten Predigt davon, in allem die göttliche Ehre zu suchen und damit alles nach göttlichem Wert zu betrachten. Nichts kann existieren, was nicht wesentlich von der göttlichen Geburt beeinflusst und in ihr vom heiligen Geist berührt wird. Daraus folgt, dass grundlegend, wenn auch mehr oder weniger deutlich, jeder Mensch die Ehre Gottes widerspiegelt, nicht seine eigene.782 Die Überlegenheit unter den Menschen ergibt sich nicht aus einer äußeren Realität, ob erblich oder erworben. Eckharts Verständnis von Gleichheit basiert wie bei Ibn al-ʿArabī grundsätzlich auf der Einheitsidee, die eigentlich in der Seele verwurzelt ist. Durch die Betonung der Gleichheit von Gott-Geist und Gott-Sohn schließt Eckhart, dass jeder Mensch das gleiche Prinzip mit Gott hat. Der Seelengrund, der Gott und Mensch gleich macht, macht auch die Menschen untereinander gleich.783 Auch im Verständnis der Knechtschaft zeigte sich, dass seine Lehre grundsätzlich darauf abzielte, Gleichheit zu erreichen. Wenn jemand im Schatten der Knechtschaft bleibt (aufgrund der Unterscheidung zwischen Gott und Mensch), wird er in die Dualität verfallen. Denn die Kategorisierung des Seins kann hier derart interpretiert werden, dass sie in gewisser Weise zwischen Menschen klassifiziert, ohne sie zu vereinen. Eckhart aber verbindet Einheit mit Frieden; wenn eine Person das Leben mit Spaltung betrachtet, gerät sie in Konflikt und wird des Friedens beraubt. Daraus Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 5, S. 274. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 7, S. 429. 782 Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 947. 783 Alle haben das gleiche Urbild in Gott: Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 109; Gott ist keine Kreatur edler als die andere: Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 43. 780 781

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lässt sich schließen, dass das allgemeine geistige Prinzip von Eckhart und das wesentliche (fiṭrī) Prinzip von Ibn al-ʿArabī dasselbe bedeuten. Nach Eckhart sollte sich das Grundprinzip der ontischen Gleichheit so in dem moralischen Leben widerspiegeln, dass »wer Sohn Gottes wer­ den will, seinen Nächsten lieben muss«.784 Denn in essentieller Gemein­ samkeit hat die Person das einheitliche Selbst erreicht, indem sie sich von sich selbst entfernt. Damit ist der Mensch gleich allen, denn er ist gleich dem Sohn, und der Sohn ist gleich Gott. Gleichheit ist daher für Eckhart ein universelles Prinzip. In der scholastischen Welt waren jedoch religiöse und soziale Differenzen sehr ersichtlich. Die feudale Gesellschaft wurde machtzentriert klassifiziert und die Überlegenheit der Aristokraten nach Abstammung und die institutionelle Hoheit des Klerus wurde gesell­ schaftlich und religiös akzeptiert. Eckhart wagte es, König und Papst im Zentrum der mittelalterlichen Gesellschaftshierarchie mit den geistigen Fähigkeiten des einfachen Menschen gleichzusetzen. Er behauptete, dass Adel von der Seele ausgeht. Als Ergebnis tritt für Ibn al-ʿArabī und Eckhart Gleichheit im gemeinsamen göttlichen Ursprung auf, und Unterschied entsteht in der Erfahrung des menschlichen Wesens. Eine weitere Frage, die im Kontext menschlicher Würde und Gleich­ artigkeit beantwortet werden muss, ist, ob religiöse Unterschiede in der Erfahrung der Göttlichkeit einen Platz haben. Vor allem sind nach beiden alle Unterschiede in der Kreatur auf die Vielfalt der Gottesnamen und die ständigen Neuerungen in den Erscheinungen zurückzuführen. Schöpfungsunterschiede haben in dieser Hinsicht einen ontologischen Rahmen. Die Menschen sind sowohl in ihrer äußeren Wahrnehmung als auch in ihren inneren Betrachtungen mit Differenzen konfrontiert und erfahren dadurch die Vielfalt des Göttlichen in Erscheinungen. Laut Ibn al-ʿArabī hängen religiöse Divergenzen damit zusammen, wie existentielle Vielfalt wahrgenommen wird. Heidentum ist zum Beispiel das Ergebnis der Betrachtung göttlicher Namen als separate Mächte. Daher sind alle Glaubensarten in gewisser Weise auf Gott ausgerichtet, weil sie aus einer Art Wahrnehmung von göttlichen Namen bestehen. Ob eine Person die Natur als Gott nimmt oder einem Teil der Natur ein göttliches Merkmal zuschreibt, letztendlich wendet sie sich unter diesem Gesichtspunkt dem göttlichen Namen zu.785 So wie die Vielfalt der gött­ 784 Vgl. Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 3, S. 242. Vgl. Kern: Die Anthropologie des Meister Eckhart, S. 28–29. 785 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 7, S. 63. Für eine Analyse seines Ansat­ zes zum religiösen Pluralismus siehe: Chittick, William: Imaginal Worlds, S. 137–165.

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lichen Wirkung sie nicht trennen sollte, sollte die Divergenz zwischen den Menschen nicht verhindern, dass die einzige Menschheit erkannt wird. Nach Eckhart wird der Mensch leibhaftig in die Divergenz geboren, aber wenn er sie in sich geistig beseitigt, wird er in die Einheit hineingeboren, indem er mit dem Sohn identisch wird. Laut Ibn al-ʿArabī und Eckhart unterscheiden Religionen sich nicht in der Sehnsucht nach Seligkeit, die grundlegende Würde: »Alle Menschen begehren Seligkeit.«786 Es ist jedoch klar, dass sie ihrer eigenen Religion in Vollkommenheit treu blieben, um wesentliche Göttlichkeit zu erlangen. Mehr als Eckhart hat Ibn al-ʿArabī seine Sicht auf andere Religionen zum Ausdruck gebracht und akzeptiert, dass es in anderem Glauben Spuren der Wahrheit gibt.787 Eigentlich verwendet Ibn al-ʿArabī das Wort ad-dīn (Religion) nicht in der Pluralform, weil bei ihm nur eine Religion existiert: Wenn man zum Beispiel vom Judentum zum Islam konvertiert, wechselt man seine Religion nicht, sondern verzichtet auf die jüdischen Normen und verfolgt die islamische Lebensart. Zum Beispiel beim Thema takfīr (Bezichtigung als Ungläubigen), das uns in der zeitgenössischen Polemik häufig begegnet, verwendet er das Wort kufr (Unglaube) in einem ganz anderen Zusammenhang. Bereits betont wurde die wörtliche Bedeutung von kufr als Bedeckung, die er als Bedeckung der Wahrheit versteht, und dies gilt nicht nur für Heiden, sondern auch für Gläubige.788 Denn seiner Meinung nach gibt es keine schlechthin Ungläubigen: Jede Art von Erkenntnis richtet sich auf Gott. Jenseits monotheistischer Religionen betrachtet er auch das Heidentum als eine Art Suche nach Göttlichkeit. Es ist jedoch weder ein Anspruch auf die Einheit der Religionen noch eine Beeinträchtigung der islamischen Priorität.789 Ihm zufolge vervoll­ kommnete und versammelte das Muhammadanische Bekenntnis die Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 481. »Wenn diejenigen, die nicht an die offenbarte Scharia glauben, in Angelegenheiten wie Frömmigkeit, Kampf und Befreiung der Seele vom Einfluss der Natur wie wir sind, können auch sie reine und gereinigte Seelen erreichen; und es kommt deshalb zum selben Urteil sowohl bei ihnen als auch bei den Gläubigen, die in Übereinstimmung mit der offenbarten Scharia handeln. Aus diesem Grund ist an dieser Stelle in den Augen der Menschen eine Ähnlichkeit zwischen uns und ihnen entstanden.« Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 5, S. 150. 788 Vgl. Izutsu: Ethico-Religious Concepts, S. 122; Izutsu: Sufism and Taoism, S. 253–256. 789 Al-Ğazzār, Aḥmad Maḥmūd: Al-Fanā wa’l-maḥabba ›inde Ibn ›Arabī, Kairo 1990, S. 272–273. In seiner Studie analysiert al-Ğazzār die transzendentale Einheit der Religio­ nen (waḥdat al-adyān), durch die die göttliche Wahrheit nicht auf eine Religion begrenzt werden kann. Gewiss akzeptiert Ibn al-ʿArabī die Spuren der Wahrheit in verschiedenen Religionen und unterschiedlichen Glauben, aber er versucht nicht die Religionen zu ver­ 786

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von anderen Glaubensrichtungen angeregten Wahrheiten. Diesbezüglich wird, wenn auch nicht so sehr wie in der islamischen Kompetenz, in anderen religiösen Traditionen ein gewisses Maß an Göttlichkeit erfahren und Ehre erlangt. Aus der Perspektive von Eckhart wird keinem Menschen die Erfahrung der Sohnschaft vorenthalten. Er behauptet nicht, dass Gott nur Christen Göttlichkeit verleiht. Obwohl Eckhart dies nicht mit interreligiösen Vergleichen verdeutlicht, braucht jemand keine traditionelle und institutionelle Zugehörigkeit, da jeder Mensch die Geburt in sich selbst erleben und damit sogar eine meditative und kontemplative Reifung zeigen kann, bei der selbst religiöse Rituale keine zentrale Rolle spielen. Dieser Ansatz führt uns jedoch nicht zu dem Schluss, dass er das Christentum nicht für privilegiert hält. Alle seine religiösen und spirituellen Begriffe und Ansätze sind christlichen Fundamenten entnommen. Um zu verstehen, wie beide Mystiker ideelle Unterschiede bewer­ ten, liefern ihre Perspektiven auf Philosophen wichtige Aspekte. Im Mittelalter beschuldigten führende Theologiegelehrte wie al-Ġazzālī und Thomas Philosophen des Unglaubens. Peripatetikern wurde sowohl im christlichen Europa als auch in der islamischen Welt aufgrund von Behauptungen wie der Ewigkeit des Universums und der Unsterblichkeit der Seele vorgeworfen, Ketzer zu sein. Ibn al-ʿArabī entwickelt eine interessante Konzeptualisierung im Hinblick auf das Verständnis, wie er Philosophen in der Glaubensgeschichte positioniert. Er stellt heraus, dass Gottesfreunde in der Zeit des Interregnums (fatrat) lebten, als kein Prophet gesandt wurde. Sie haben sich entweder durch Denken (naẓar) oder durch die Manifestation (tağallī) im Herzen der Wahrheit zuge­ wandt.790 Obwohl er keine Namen nennt, bezieht er sich wahrscheinlich auf Philosophen wie Pythagoras, Sokrates und Platon, die laut ihm die Wahrheit durch Denken suchten. Eckhart erwähnt deutlicher, dass das philosophische Erbe eine Quelle seiner Lehre ist. Beispielsweise zitiert er bei der Beschreibung des Inneren Menschen »die heidnischen Meister Tullius und Seneca«,791 wenn er nämlich Senecas Wort als Beweis für die Perfektion präsentiert. Das zeigt Eckharts Ansatz, dass auch ein Mensch, der nicht in abrahamitischen Glaubenstraditionen aufwächst, Vollkom­

einen, sondern die vielfältigen geistigen Erfahrungen der Wahrheit zu betonen. Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 4, S. 131. 790 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 4, S. 500. 791 Eckhart, Werke, Bd. 2, 319.

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menheit erreichen kann.792 Auch bei der Bibelauslegung begegnet man diesem originellen Versuch, für die Interpretation die Ansichten »heid­ nischer Meister« heranzuziehen. Diese Auffassung ist bemerkenswert und im Vergleich zur islamischen Tradition sogar ungewöhnlich. Es erstaunt, wenn sich ein Gelehrter, der den Koran in der Madrasa von Bagdad oder Fez interpretiert, häufig auf einen nicht-muslimischen Gelehrten bezieht. Ein Pariser Lehrer hingegen kann sich bei der Inter­ pretation von Genesis oft auf Avicenna oder Rabbi Moses beziehen, und behaupten, dass Wahrheit außerhalb der religiösen Erfahrung verstan­ den werden kann. Es sollte daran erinnert werden, dass sich Eckhart bemüht eine Interpretation zu entwickeln, die sowohl mit der Offenba­ rung als auch mit dem philosophischen Denken übereinstimmt.

3.3. Das Ziel des Lebens: Vollkommenheit Warum wurde der Mensch ins Sein gebracht und wie wird er erkennen, was dieser Grund erfordert? Nach Ansicht beider Mystiker ist der Zweck des Menschseins die Perfektion zur Erlangung der Göttlichkeit durch Reinigung. Am Anfang steht Gottes Selbsterkennen, das seiner eigenen Natur entspringt, daher die Existenz hervorbringt. Gottes Selbst­ erkenntnis und bei dieser Gelegenheit seine Selbstoffenbarung wird durch die Gotteserkenntnis des Menschen in dessen Selbsterkenntnis vervollständigt. So wie Ibn al-ʿArabī den Grund der Herabsendung in die Welt dem Kalifat zuschreibt, was bedeutet, als glänzende Spiegel die göttlichen Namen zu reflektieren, schreibt Eckhart dem Mensch­ sein zu, dass Gott durch seine Menschwerdung alles Seiende segnete. Der Grundgedanke der verschiedenen Argumente ist der gleiche: Die menschliche Existenz ist das ultimative Ziel der Schöpfung, denn er ist die perfekte Manifestation des einen Seins. Da die göttliche Natur auf den Menschen herabgestiegen ist, ist der Aufstieg des Menschen zur göttlichen Einheit seiner eigenen Natur zu verdanken. So ergänzen sich die beiden Naturen, ebenso wie die Einigung zweier Erkenntnisse und zweier Lieben. Dies betont Eckhart als Gott ähnlich werden und Ibn al-ʿArabī als Moralisierung mit göttlicher Moral (taḫalluq bi-ḫuluqillāh) und Vereigenschaftung mit göttlichen Eigenschaften: »taṣawwuf ist reine Weisheit, weil taṣawwuf lediglich Moral ist«.793 792 793

Eckharts Vorstellung der Heiden: Eckhart, Werke, Bd. 2, 249; Werke, Bd. 1, S. 323. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 5, S. 462.

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Zunächst einmal muss die Person zur göttlichen Einheit und damit zur Moralisierung vorhanden sein. Beide Mystiker interpretieren die Reinheitsprinzipien, die seit den Gründungstexten ihrer religiösen Tra­ ditionen gefördert und sogar systematisiert wurden. Zwei Offenbarungen stimmen darin überein, dass Gläubige sich durch Reinigung des Herzens Gott nähern können: »Selig sind, die reinen Herzens sind« (Mt 5,8); »Selig ist, wer sich läutert« (Koran: 87,14). Vor Ibn al-ʿArabī gab es bereits eine umfangreiche Literatur über spirituelle Vervollkommnung, und als Dominikaner hatte Eckhart einen breiten geistlichen Hintergrund von der Zeit der Kirchenväter bis ins Mittelalter. Es gab viele Ideen und Strömungen zur inneren Erleuchtung, von streng asketischen Ein­ stellungen bis hin zu rein intellektuellen Haltungen, die sich je nach ihrem Verständnis von Religiosität unterschieden. Viele der von Ibn al-ʿArabī beschriebenen Sufis zeigen tatsächlich unterschiedliche Auffas­ sungen von Askese und allgemeiner Frömmigkeit. Beide akzeptierten zwar die besonderen Grundsätze ihrer Zeitgenossen und ihre eigenen Traditionen, wichen aber auch gravierend davon ab. Es ist möglich, ihre gemeinsamen Ansichten über seelische Reinheit und Perfektion in den folgenden Punkten zusammenzufassen: (a) In geistlichen Traditionen werden verschiedene Stufen der Reinigung der Seele erwähnt, die von den Gemeinschaften mit syste­ matischem Verständnis umgesetzt wurden. Nach der Einweihung der Novizen kommen stufenweise Fortschritte der Reinigung, die eigentlich die Perfektionierung bedeutet. Ibn al-ʿArabī und Eckhart bieten dagegen keine definitive Roadmap, beschreiben keine genaue Methode. Der spi­ rituelle Aufstieg, von dem sie sprechen, ist auch nicht das Ergebnis einer institutionalisierten Disziplin und eines Programms.794 Der Grund dafür kann darin gesehen werden, dass jeder Mensch eine Disziplin und eigene Methode entsprechend seiner Einzigartigkeit und Erfahrung braucht.795 (b) Reinheit ist kein Verlassen der Welt und der Gesellschaft. Besonders in seiner Jugend zog sich Ibn al-ʿArabī in die Einsamkeit zurück und erlebte Phasen intensiver Anbetung und Meditation. Aus Eckharts Predigten kann abgeleitet werden, dass er Erfahrungen in Sachen Gottesdienste hat. Aber nach ihrer Lehre ist Weltverzicht keine reine Frömmigkeit. Beide ziehen sich weder ins Kloster noch in die Zāwiya (Ordenshaus) zurück. Weder gar nicht mit Menschen zu spre­ »Wie lieb wir Gott haben sollen, dafür gibt es keine (bestimmte) Weise: so lieb, wie wir nur immer vermögen, das ist ohne Weise«. Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 107. 795 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 3, S. 506; Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 346. 794

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chen, noch auf Essen oder Trinken zu verzichten sind unabdingbare Voraussetzung für die Reinigung. Wovon gereinigt wird, ist nicht die Welt oder der Körper selbst: es ist die Körperlichkeit und Weltlichkeit, das ist die Welt in der Seele. Das Ziel ist die Überwindung der zeitlichen und räumlichen Beschränkungen, sowie Aufgabe oder Entwerdung der inneren Weltlichkeit. Der Mystiker gibt also tatsächlich seine geistigen Einstellungen auf und verbindet seinen eigenen Willen mit dem göttli­ chen Willen.796 (c) Es ist notwendig, den Geist von äußeren Reflexionen zu befreien, um das Leben als göttliche Handlungen zu erfahren. Beide stellen diesen Prozess als Entleerung des Herzens dar, aber in gewisser Weise kann diese auch als intellektuelle Transformation angesehen werden. Natürlich geschieht dies nicht mit den Begründungen des theoretischen Denkens, aber letztlich gibt es einen gewissen Wissenserwerb. Es wird als notwendig erachtet, den Geist von den durch äußere Einbildungen und Gedanken verursachten Vorstellungen zu leeren und sie durch reine Intuitionen zu ersetzen, die durch verschiedene Arten der Gebete gewonnen werden. (d) Die Schritte der spirituellen Reifung führen zur Entwerdung der eigenen Existenz und zur Einheit mit dem göttlichen Sein. Dieser Punkt, wo der Sohn auf den Vater trifft und die Manifestation (Namen) auf Gott, kann nur durch vollständige Verlassenheit erreicht werden. Dabei verfolgen beide dasselbe Ziel. Sie verwenden Wörter, die sich fast voll­ ständig überschneiden: Abgeschiedenheit-ʿuzla, Gelassenheit-fanā etc. So versucht Eckhart neue Begriffe zu prägen. Er verwendet jedoch diese Wörter für Gott, wie er sie für den Menschen verwendet. Das liegt daran, dass er an der Wurzel eine fraglose Einheit zwischen Mensch und Gott dachte. Bei Ibn al-ʿArabī findet man keinen derartigen begrifflichen Über­ gang. (e) Ihr Seins- und Weltbild vereinen sich in einer gemeinsamen Haltung, die auch ermöglicht, von den gängigen Frömmigkeitsverständ­ nissen abzuweichen. Religiosität, die von den vorherrschenden Institu­ tionen akzeptiert wird, basiert meist auf dem Jenseits. Die Frommen richten ihre Gebete im Vorgriff auf das Jenseits. Während beide Mystiker verständlicherweise das Ideal des Paradises beibehalten, erzielen sie die Ergebnisse der spirituellen Reifung in ihrem weltlichen Leben: Einheit und Geburt werden im gegenwärtigen Dasein erfahren. Aus diesem Grund verschieben sie die Ideale des Himmels nicht, sondern erleben 796

Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 151; Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 69.

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sie in dieser weltlichen Realität. Die Errichtung des Paradieses und die Schau Gottes im Inneren erfordern Vollkommenheit. Dies ist eine weitere Antwort auf die Frage, warum sie die Welt nicht unterschätzen. Denn was im Jenseits geschehen wird, kann hier in der menschlichen Seele gelebt werden.

Mystisches Erkennen und Offenbarungsniveau Nach der Einteilung der Wissenschaften präsentierte Aristoteles die Theologie als den höchsten Teil der Metaphysik. Dem folgte fast jeder mittelalterliche Denker – wie auch Ibn al-ʿArabī und Eckhart. In Bezug auf den Erwerb und die Natur des göttlichen Wissens haben die beiden Mystiker jedoch eine abweichende Haltung: (a) Ibn al-ʿArabī und Eckhart zufolge nimmt das Herz eine zentrale Stellung bei dem Erkenntniserwerb ein. Aber das Herz definiert kein bestimmtes physisches Organ; es ist der Name des Feldes, in dem göttliche Erscheinungen den Menschen ansprechen. Eingebungen im Herzen sind der Sinneswahrnehmung und dem Denken überlegen. Nach Ibn al-ʿArabī ist die Vernunft tanzīhī tätig, das heißt – mit einem heutigen Ausdruck – kategorisch und perspektivisch. Der Verstand betrachtet ein Objekt aus einem bestimmten Blickwinkel und analysiert es, indem er es von anderen Dimensionen unterscheidet. Demgegenüber hat das Herz die Fähigkeit, das Göttliche so zu empfangen, wie es ist. Eingebungen im Herz enthalten jedoch Mehrdeutigkeiten und bedürfen einer Interpreta­ tion (wie der Interpretation von Träumen), da sie imaginativ sind. Hier kommen Vernunft und Wissen ins Spiel. Wissen umfasst sowohl religiöse als auch weltliche Aspekte. Aus diesem Grund leugnet Ibn al-ʿArabī die Wichtigkeit der Vernunft nicht, sondern schränkt sie ein und setzt einen angemessenen Gebrauch voraus. Eckhart andererseits gibt dem göttlichen Erkennen Vorrang vor dem Sein und erhebt die Vernunft auf die höchste Ebene der seelischen Vollkommenheit. Die Erkenntnis der Person, die Einheit erlangte, vereint sich mit dem Göttlichen. Aber seine Absicht ist nicht der sinnliche oder rationale Verstand, sondern im Gegenteil die Erkenntnis, die von allen äußeren Formen gereinigt und mit der göttlichen Geburt identisch ist. Eckhart macht keinen Unterschied in der Verstand-Herz-Beziehung wie Ibn al-ʿArabī und stellt sie durch ihre Integration als Vernunft dar, die Kognitionen umfasst. Dieser Unterschied sollte jedoch die gemeinsame Herangehensweise der beiden Mystiker nicht überschatten. Denn der

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Kapitel III. Komparative Mystik

Hauptzweck beider ist das Innerliche, wobei das wichtigste übergreifende Zentrum die Seele ist. (b) Mystisches Erkennen ist in erster Linie das Bewusstsein über sich selbst. Genauer gesagt folgen beide einem Weg, der ausgehend vom Menschen zu Gott führt: »Wer sich selbst kennt, kennt seinen Herrn«.797 »Wie sollte denn auch der Mensch sich als Gott-erkennend erkennen, der sich selbst nicht erkennt?«798

Während die dogmatische Theologie das Erlernen göttlicher Attribute priorisiert, ist die Verknüpfung des höchsten metaphysischen Wissens mit der Selbsterkenntnis eine der Säulen der anthropologischen Mys­ tik. Das Selbsterkennen an die Spitze der epistemischen Bemühungen stellend, traten die menschlichen Eigenschaften, die aus den göttlichen Attributen hervorgingen, d.h. das Menschliche im Göttlichen als die andere Seite der Medaille, aus dem ontologischen Grund hervor. (c) Neben dem existenziellen Rahmen des Erkennens ist es uner­ lässlich, die Individualität hervorzuheben. Genau wie seinsmäßige Ori­ ginalität ist die spirituelle Erfahrung für jedes Individuum einzigartig. Ibn al-ʿArabī, der besonders die Authentizität betont, konzeptualisiert sie als »wağh hās«, um ihre Eigenart in der individuellen Erfahrung auszudrücken.799 Auf der anderen Seite rät Eckhart jedem in seinen Predigten, die Geburt in sich selbst zu erfahren. (d) Die Wörter Erleben und Erfahren werden vor allem im Zusam­ menhang mit Erkennen bewusst bevorzugt. Denn solange ein Mensch lebt, werden die Erkenntnisse in seinem Herzen geboren und lebt die Erkenntnis, die in seinem Herzen gezeugt wird. Der wichtigste Charakter des mystischen Erkennens ist also mit den ethischen Handlungen ver­ bundene Erfahrung. Infolgedessen ist Wissen im Bereich der Theologie nicht nur das Erlernen beständiger fester Prinzipien: Eine Person kann ihr Wissen erneuern, indem sie brandneue Manifestationen erlebt. (e) Mystische Erfahrung bezieht sich auf das eigene Leben, zum Beispiel auf seine moralische Haltung, sowie auf den Ort, an dem die Handlung stattfindet. Ibn al-ʿArabī und Eckhart beziehen Weltkenntnisse in das Selbsterkennen ein, da die Welt das Feld ist, in dem die Handlungen Gottes auftreten. So betont Ibn al-ʿArabī, dass die Welt in Bezug auf 797 798 799

Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 9, S. 180. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 331. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 9, S. 164.

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3. Anthropologische Prinzipien

diesen epistemischen Wert nicht vernachlässigt werden darf. Aber dabei findet das Lernen des Externen auf interne Weise statt. Bei ihm wird das Universum in eine innere Erfahrung verwandelt und der Sufi hört Gottes Sprechen in der Kreatur zu.800 Nach Eckhart verbindet sich das Universum mit dem eigenen Erkennen;801 wenn jemand sich selbst kennt, kennt er die gesamte Existenz, was tatsächlich ein Beweis dafür ist, dass das gesamte Seiende in der menschlichen Seele gesammelt ist. So stellt das mystische Erkennen einen Kreis dar, der aus Individuum, Universum und Gott besteht und sich gegenseitig vervollständigt.802 (f ) Beide sehen mystisches Erkennen als eine Art Offenbarung. In der islamischen Theologiegeschichte gibt es in Hauptströmungen kein Zweifel, dass die Offenbarung nach dem letzten Propheten Muhammad endete. Ibn al-ʿArabī ist der Meinung, dass die Art der Offenbarung, die mit dem Propheten endet, eine spezielle war, aber die universelle Offenbarung weitergeht. Was ihn zu dieser Überzeugung veranlasste, war seine Idee der ununterbrochenen Manifestation und Rede Gottes. In dem herrschenden christlichen Paradigma ist, da Gott in einer bestimmten menschlichen Gestalt manifestiert ist und der Heilige Geist in den Gläu­ bigen (in der Kirche im weiteren Sinne) wirksam ist, die Offenbarung nicht zeitlich begrenzt.803 Eckhart zweifelt nicht an der Aktualität der Offenbarung, und da er bereits jedem Menschen göttliche Merkmale zuweist, sollte jeder Mensch der Adressat der Rede Gottes sein. Auf der anderen Seite hat Ibn al-ʿArabī angenommen, dass die Eingebung (im Herzen) eines vollkommenen Menschen und die Offen­ barung des Propheten aus derselben Quelle stammen, um eine gegenwär­ tige Beziehung mit Gott herzustellen. Beruhend auf dem Prinzip, dass zwischen Gott und Menschen eine permanente Relation besteht, wird das Problem der Unterbrechung der Offenbarung mit der Annahme einer gewissen Zeitdauer überwunden. Infolgedessen erhalten die Got­ tesfreunde auch nach dem Propheten besondere Offenbarungen, die eigentlich das oben erläuterte mystische Erkennen sind. 800 Aus diesem Grund stellt Ibn al-ʿArabī fest, dass eine Person, wenn sie beginnt, sich selbst zu erkennen, zuerst den Wahrheiten der Welt begegnet, die sie wahrnimmt. Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 5, S. 116. 801 »Wer sich selbst erkennt, der erkennt alle Kreaturen«. Eckhart: Die Deutsche Werke, Bd. 3, S. 315. 802 »Gott erschafft die Welt als offenbar und verborgen, damit wir das Verborgene in unserer Verborgenheit und das Offenbare in unserer Offenbarkeit verstehen.« Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 45. 803 Für christliche Offenbarung siehe: Balz, Horst: Offenbarung, in: Theologische Rea­ lenzyklopädie, Bd. 25, Berlin 1995, S. 135–146.

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Kapitel III. Komparative Mystik

(g) Es gibt ähnliche Benennungen von Ibn al-ʿArabī und Eckhart bezüglich der Definition von Menschen, die vollkommene Manifestation sowie Offenbarung erhalten: Gut(er), Perfekt(er), Göttlich(er), Weise(r), Freund, Liebhaber. Auch Gottesfreund (walī) und Innerer Mensch bezeichnen diejenigen, die die Einheit mit Gott erkennen. »Freunde der Liebe«804 haben in sich das göttliche Ebenbild des ersten Menschen (Adam) verwirklicht. Sie haben den Zweck der Existenzgabe erfüllt, indem sie die menschliche Wahrheit, die auf der ersten Ebene der göttli­ chen Manifestation herausgetreten ist, in ihrer eigenen Seele erfahren.805 Aufgrund der ewigen Manifestation des Namens Gottes erweitert Ibn alʿArabī die Auffassung der Gottesfreundschaft um das der Gottesbotschaft. Laut ihm muss es nach dem Propheten Menschen geben, die diesen Namen Gottes zu erhalten verdienen. Da die Offenbarung fortwährend andauert, muss auch irgendeine Form der Gottesbotschaft weitergehen. Dem Islam zufolge ist das Prophetentum, das mit dem letzten Propheten Muhammad endete, das legale; die allgemeine Gottesbotschaft setzt sich nach Ibn al-ʿArabīs Überzeugung fort. Auch hiermit versucht er, die historische Begrenzung der Gott-Mensch-Beziehung zu überwinden. Er wünscht, dass jeder Mensch in irgendeiner Weise eine ähnliche Erfahrung erlangt wie die Propheten mit Gott. Ibn al-ʿArabīs Erweiterung der Gottesbotschaft entspricht Eckharts Erweiterung der Heiligkeit, die aus der Sohnschaft stammt. Jeder Mensch kann ein Sohn werden, indem er die göttliche Geburt in sich selbst voll­ zieht. Wenn seine Konzeption an das System von Ibn al-ʿArabī angepasst wird, sieht er es für möglich an, zur Muhammadanische Wahrheit zu gelangen. Allerdings unterscheidet er zwischen Jesus Christus als ewigem Sohn und sonstiger Sohnschaft. Ibn al-ʿArabī hält es nicht für möglich, dass irgendjemand die Muhammadanische Erfahrung im gleichen Maße wie der Prophet selbst erlebt. Durch seine Vorbildfunktion erhalten seine Nachfolger jedoch einige seiner Erfahrungen. In dieser Richtung ordnete Ibn al-ʿArabī die Heiligen nach ihrem spirituellen Grad in der Geschichte der Menschheit ein. Eckhart aber sieht in allen Menschen dieselbe Kompetenz zur Sohnschaft und gründet in dieser Hinsicht auf einer breiten geistigen Gleichheit. Er ist nicht nur ein Freund Gottes in Corbin vereint beide Auffassungen in einem Konzept Fedeli d’A more, das auch der Name einer Gemeinschaft in der europäischen Geschichte ist. Vgl. Corbin: Creative Ima­ gination, S. 97. 805 »Was das Verhältnis von Augapfel zu Körper ist, ist das Verhältnis vom vollkommenen Menschen zu Gott… Allah schaut (mit ihm) zu seinen Geschöpfen und erbarmt sich (durch ihn).« Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 50. Vgl. Chittick: Imaginal Worlds, S. 23. 804

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4. Neuinterpretation der Geschlechter

gleichem Maße wie der Papst seiner Zeit, sondern er kann auch den Grad der Sohnschaft erfahren, und er behauptet oft, dass er der Sohn Gottes selbst ist. Infolgedessen ordnet er die Heiligen nicht nach ihrem spirituellen Niveau ein. Beide sind der Meinung, dass die Freundschaft Gottes nicht an soziale oder religiöse Schichten gebunden ist. Nach Ibn al-ʿArabī sind die höchsten Heiligen unter Menschen, die niemand kennt; in Eckharts Predigten sind sie unter dem »einfachen Volk«. Damit erreichen wir wieder das Prinzip und Ideal der Einheit und Gleichheit. In diesem Zusammenhang kann die Frage, ob Gleichstellung geschlechtsspezifische Unterschiede einschließt, beantwortet werden.

4. Neuinterpretation der Geschlechter 4.1. Geschlechterdeutung: Rekonstruktion von Sprache und Denken Der Genderaspekt von Aktivität mit geistiger Kompetenz und Körper­ kraft und Rezeptivität als Unterordnung wurde im Zusammenspiel von Religion und Philosophie in mittelalterlichen Gesellschaften zu einem Paradigma entwickelt, das alle Lebensbereiche reflektiert, und dessen Ergebnis war die soziale Rechtfertigung männlicher Macht und Überlegenheit. Ibn al-ʿArabī und Eckhart greifen auf viele Themen wie die Identifizierung von körperlicher Passivität mit Weiblichkeit und die nachgeordnete Stellung der Frau in der Schöpfung als allgemein-übli­ che Lehren in ihren Schriften zurück. Obwohl sie sich in bestimmten Aspekten von den gängigen Denkweisen entfernt haben, mussten sie sich zumindest mit vorgefertigten Annahmen als wissenschaftlichen Urteilen auseinandersetzen. Aufgrund der Einheitslehre waren sie jedoch bestrebt, alle Ebenen des Seins auszugleichen und ein Gleichgewicht zwischen verschiedenen menschlichen Erscheinungsformen herzustel­ len. Die grundlegende Relation zwischen Gott-Welt-Mensch und die Vergänglichkeit äußerer Differenzen führte zur Entwicklung des Gleich­ heitsansatzes. Das Verständnis von Gleichheit aus der Einheit erforderte eine Neuinterpretation der Gender-Merkmale. Ausdrücke mit männ­ licher Überlegenheit in religiösen Quellen wurden entweder durch eine neu entdeckte Bedeutung der Wörter oder durch Bezugnahme auf die Bedeutungsvielfalt interpretiert. Es ist anzumerken, dass sich Ibn al-ʿArabī und Eckhart bemühen, die Sprache im Einklang mit der Lehre von der schichtenweisen Seinsgabe zu verwenden: Die absolute

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Schönheit Gottes beispielsweise verhindert nicht, dass die Natur als schön bezeichnet wird. Das deutet darauf hin, dass die Priorität des ersteren nicht die Relativität der letzteren erfordert. Die Angleichung der Schönheit an die verschiedenen Erscheinungsformen des Seins erfordert die wörtliche Verwendung des Wortes für jede Angleichung. So wird das Wort, das die Schönheit Gottes bezeichnet, auch für die Schönheit der Natur verwendet; da beide seinsmäßig in der Einheit aufeinandertreffen, haben beide eine gewisse Realität auf ihrer eigenen Ebene des Seins. Die Deskriptionen der Göttlichkeit sorgen für die Etablierung einer Sprache, die die theologische Transzendenz für den menschlichen Verstand begreiflich macht. Auch in der geistigen Erfahrung werden sie durch imaginäre Vorstellungen in mögliche Grenzen für die Sprache gebracht. An dieser Stelle werden Ibn al-ʿArabīs und Eckharts Beschrei­ bungen auch in geschlechtliche Kategorien eingepasst: Die Geburt bei Eckhart und die sexuelle Vereinigung bei Ibn al-ʿArabī dienen der Darstellung der Einheit-Vielfalt-Beziehung. Sein und Sprache werden so weit wie möglich sexualisiert, und dahinter steht die Idee, dass die Mystik das Göttliche für die menschliche Erfahrung öffnet, die im weiteren Sinne die Einheit des Seins ist. Die beiden folgenden Zitate weisen beispielsweise darauf hin, wie eng die ideelle Bindung zwischen Geschlecht-Mensch-Sein aufgebaut ist: »Geschlechtsverkehr ist wie Gottes Neigung zu einer Person, die er nach seinem Ebenbild geschaffen hat, um seinen Nachfolger zu machen. Also sieht er sich darin. Mit dieser Neigung hat Allāh den Menschen ausgestattet, Gleichgewicht gegeben und seine Seele, die aus seinem Atem besteht, eingehaucht. Sein Äußeres ist geschaffen und sein Inneres ist die Wahrheit.«806 »Darum also ging er aus und kam gesprungen wie ein Rehböcklein und erlitt seine Pein aus Liebe; und nicht ging er so aus, ohne wieder eingehen zu wollen mit seiner Braut in seine Kammer. Diese Kammer ist das stille Dunkel der verborgenen Vaterschaft. Dort, wo er ausging aus dem Allerhöchsten, dort wollte er wieder eingehen mit seiner Braut im Aller­ lautersten und wollte ihr offenbaren die verborgene Heimlichkeit seiner verborgenen Gottheit, wo er mit sich selbst und allen Kreaturen ruht.«807

Geschlechtsbeschreibungen gehören also nicht nur bei Kreatürlichem im Allgemeinen zur physischen Wirklichkeit, sondern wurzeln in der 806 807

Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 204. Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 265.

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4. Neuinterpretation der Geschlechter

Metaphysik. Mensch zu sein ist nicht nur eine somatische Äußerlichkeit, es ist direkt eine übersinnliche Angelegenheit. Da die Lehre von der Einheit im Sein das Sichtbare und Verborgene als Ganzes umfasst, werden auch die Merkmale in den Kreaturen (durch göttliche Namen) im Schöpfer gesucht. Deshalb wird versucht, die metaphysische Bedeutung des Geschlechts, das eines der markantesten Merkmale der Menschheit ist, in der Sprache zu etablieren.808 Auf dieser sprachlichen Grundlage kann man zur Unterschei­ dung zwischen Vater und Mutter übergehen, die im Vordergrund der Geschlechtsdefinition steht und es ermöglicht, unterschiedliche Ebe­ nen des Seins zu beschreiben. Da die Mutter nach Ibn al-ʿArabī alle Einzelmerkmale des Kindes enthält, definiert sie Schöpfung, während der Vater die Wirkung (in der Kreatur) bestimmt. Insofern ist die Mutter, die alle materiellen Formen umfasst, unten, aber der Vereinigung bewirkende Geist (Vater), der ihr Vitalität verleiht, kommt von oben. Kind(er) sind diejenigen, die aus dieser Beziehung hervorgehen.809 Nach Eckhart definiert Vater die Hauptquelle alles Seienden, und der von ihm geborene Sohn ist die Essenz, in der die Wahrheiten alles Geschaffenen gesammelt sind. Vater bezieht sich auf Gott als das erste Prinzip der Dreieinigkeit und implizit auf die reine Göttlichkeit, während Ibn al-ʿArabī das Wort »Vater« verwendet, um die Wirkung göttlicher Namen zu beschreiben. Darüber hinaus ist die folgende Aussage von Ibn al-ʿArabī bemerkenswert, um den Bereich aufzuzeigen, in dem sich beide Lehren überschneiden: »Ich bin allein das Kind des Einen Einzigen, Die ganze Menschheit hat einen Vater, doch verschiedene Mütter«.810

Die Menschheit, die die Verbindung zwischen metaphysischer Einheit und physischer Vielheit herstellt, wird nach Eckhart mit dem Begriff des Sohnes ausgedrückt. Er weist sogar auf seine Rezeptivität gegenüber dem Vater hin, von der wir wissen, dass sie als weiblich dargestellt wird. Obwohl das Wort »Sohn« eine maskuline Konnotation hat, ist seine alles­ bestimmende Verwendung hier passiv; dies führt zur Zusammenschau der Geschlechter bzw. zur Geschlechterlosigkeit als seelische Wahrheit. Vgl. Shaikh: Sufi Narratives of Intimacy, S. 117–129. »Umm ist der Ort (maḥal) des Hervorbringens (īğād)… Umm ist die universale (kullī) Summe (ğāmiʿa)«. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 111. 810 Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 138. Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt almakkiyya, Bd. 2, S. 308. 808

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Vor diesem Hintergrund ist es möglich, die Hauptunterschiede zwischen Ibn al-ʿArabī und Eckhart in den folgenden Punkten zusammenzufassen: (a) Laut Ibn al-ʿArabī repräsentiert die Vaterschaft, da sie die Wirkung göttlicher Namen beschreibt, nur die von Gott als dem Einzigen hervorgebrachte Göttlichkeit. Für Eckhart kann die Vorstellung sowohl für die göttliche Wirkung als auch für das göttliche Selbst verwendet werden. Dabei begründen es beide mit Inhalten, die mit Aktivität verbunden sind. Daher sieht Ibn al-ʿArabī die Kreaturen sogar als Mütter und gehört für Eckhart zur Sohnschaft Rezeptivität. (b) Für Ibn al-ʿArabī werden Redewendungen wie Vater und Sohn als deskriptive verwendet, um das Sein(s-Hervorgehen) anhand bestimmter Merkmale zu verdeutlichen. Sie sind also keine absolute – sondern relative Nomenklatur. Für Eckhart aber werden sie zu unbedingten Bezeichnungen, ohne auf irgendein Merkmal reduziert zu werden. (c) Ibn al-ʿArabī verwendet die Worte Sohn oder Kind, um die Wirkung der göttlichen Namen auf die Schöpfung zu beschreiben, also den Zustand der physischen Realität. Bei Eckhart weist der Sohn vor allem auf permanente metaphysische Wahrheit hin. Trotz dieser grundlegenden Unterschiede haben beide gemeinsame Gender-Ansätze. Gegenüber der gewohnten Beschreibung von männli­ che Aktivität und weibliche Passivität finden sie dadurch eine theologi­ sche Entgegnung.

a. Das weibliche Prinzip Hinter dem formgebenden Effekt und der körperlichen Passivität (der Vater-Mutter-Darstellung) steht die Ansicht, dass Werden durch die Einheit der beiden Parteien entsteht. Das wahrnehmbare Ding besteht aus der Einheit von Materie und Form, der Mensch aus Seele und Körper und das Sein aus Gott und Kreatur. Die beiden Parteien, die Einheit schaffen, werden gemäß der antiken Kodifizierung als männlich und weiblich festgelegt.811 Die mit der Idee der Einheit verursachte Annahme, dass es in jeder Existenzkategorie geschlechtliche Merkmale gibt, führt dazu, dass sowohl die Stellung der Weiblichkeit als auch ihre metaphy­ sischen Gründe miteinander verflochten sind. Dank derselben Idee 811 Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 337; Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 124.

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war es jedoch möglich, zwei Differenzen zusammen zu behandeln und sogar austauschbar zu verwenden. Grundsätzlich ergänzen sich aktive und rezeptive Kräfte in einer univoken Beziehung. Das eine erfordert das andere und kann nicht als separate Dimension vorgestellt werden. Beide Mystiker verstehen die Rezeptivität nicht als bloße Annahme der Wirkung, sondern als eine Beteiligung am aktiven Prozess. Diesbezüg­ lich können die Gemeinsamkeiten der beiden Ansätze folgendermaßen zusammengefasst werden: (a) Notwendige Interaktion: Jedes neue Auftreten des Werdens schreitet in der Kontinuität des vorherigen fort. Es gibt eine Transitivität in Form von rezeptiv-aktiv-rezeptiv; das heißt, jedes Aktive steht auch unter der Wirkung des Vorherigen als Empfangendes.812 Dies liegt an der Notwendigkeit füreinander; sie brauchen ein Vorheriges, damit sie existieren können. (b) Generelle Weiblichkeit: Aufgrund der (obigen) kontinuierlichen Beziehung gibt es eine Art Empfänglichkeit in jedem Seienden. Dies liegt daran, dass alle Wesen göttliche Wirkungen aufnehmen. Daher hat alle Kreatur einen weiblichen Charakter.813 (c) Weibliche Quelle: Das Hervorbringen (des Seins) bezeichnet den weiblichen Charakter in der Existenzgabe. Da der Hadith über die drei beliebten Dinge mit einem femininen Wort beginnt und mit einem femininen endet, wird auf empfangene Aspekte der Schöpfung hingewiesen.814 Es gibt Aussagen von beiden, dass es eine Quelle gibt, die im Fluss der Emanation als feminin dargestellt wird, und dass sie die nächsten Schöpfungsgrade erzeugt. (d) Ehekonzept: Ibn al-ʿArabī schildert die kosmischen Prinzipien zusammen mit der Ehe. Sie sorgt für die Kontinuität in der Verei­ nigung von gegensätzlichen Kräften, die in Beziehung zueinander existieren können; deshalb ist die Ehe auch eine kosmische Not­ wendigkeit. Diese Darstellung ähnelt Eckharts Geburtsanalogie. Während er die Geburt zwischen Vater und Sohn in Betracht zieht, nennt er im Rahmen der Brautmystik auch die Vereinigung Vgl. Tsopurashvili, Tamar: Sprache und Metaphysik. Meister Eckharts Prädikations­ theorie und ihre Auswirkung auf sein Denken, Amsterdam 2011, S. 137. 813 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 3, S. 132; Bd. 1, S. 507. Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 4, S. 434. 814 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 202–204. Hakīm, Suad: »Ibn ›Arabî's Twofold Perception of Woman«, in der Zeitschrift Journal of the Muhyiddin Ibn ›Arabi Society, Band 31, 2002, S. 1–29. 812

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von Sohn und Seele. So beseitigt das ontologische Ehekonzept als Notwendigkeit des Werdens auf jeder Ebene des Seins die Dualität der kosmischen Prinzipien, die den geschlechtsspezifischen Wider­ sprüchen zugeschrieben werden.815

b. Neutralität der menschlichen Essenz Es wurde oft betont, dass der Seins-Grund jenseits aller materiellen Überlegungen eine transzendente und unbegreifliche Lauterkeit besitzt. Eckhart stellt durch die Seele eine Verbindung zwischen der grundle­ genden Lauterkeit und dem menschlichen Dasein her. Es wird auch eindringlich herausgestellt, dass die seelische Essenz der Menschlichkeit keine körperlichen Merkmale hat. Der Begriff Ebenbild, mit dem beide den ersten Menschen identifizieren, hat eine direkte geistige Form und spiegelt die göttliche Reinheit wider. In dieser Hinsicht haben sowohl Männer als auch Frauen die gleiche Wurzel: Der in ihrem eigenen Körper tätige Geist hat die gleiche göttliche Kompetenz der Ebenbildlichkeit. Doch wenn auch beide die menschliche Essenz von der vorübergehenden Körperlichkeit trennen, schreiben sie doch der Seele, die eigentlich derselben Essenz entspricht, sexuelle Unterscheidungen zu, indem mit der Tradition bei beiden der pure Aspekt der Seele, der der Gottheit zugewandt ist, als männlich und der in Wechselwirkung mit der Materie als weiblich dargestellt wird. Aber beide Mystiker belassen die Sache nicht dabei. Sie behaupten, dass auch der als männlich beschriebene obere Teil der Seele in gewisser Weise passiv ist, weil er göttliche Mani­ festation empfing. Insofern schließt die Auffassung, dass Rezeptivität in jeder Wirkung steckt, auch die Seele mit ein. Eckhart verwendet ein weibliches Wort, wenn er die Reinheit der Seele von ihrer als weiblich charakterisierten materiellen Seite her konzeptualisiert: Jungfräulichkeit. Von körperlicher Abhängigkeit gereinigt, nimmt die Seele als Jungfrau einen weiblichen Charakter an und wird bereit, eins mit Gott zu werden. Beide akzeptieren die Begrenzung der Weiblichkeit auf eine bestimmte Dimension nicht, um die Einheit des Seins zu sichern.816 Jungfräulichkeit wird aus dem Zeichen von Materialität herausgenommen und in gleicher Weise für die lautere Seele verwendet. Es ist das Einbringen einer femi­ Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 1, S. 513; Eckhart: Werke, Bd. 1, S. 265. Vgl. Mieth: Einheit mit Gott, S. 114. Vgl. auch Shah-Kazemi, Reza: »Jesus in The Qurʾan: Selfhood and Compassion. An Akbari Perspective«, in Sufism: Love and Wisdom, hrsg. von J.L. Michon, R. Gaetani, S.H. Nasr, Indiana 2006, S. 22.

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ninen Besonderheit in das kosmische Prinzip. Gleichzeitig wird durch die Vereinheitlichung der männlich-weiblichen Unterscheidungen unter allen Umständen auf die Übergeschlechtlichkeit des Seelengrundes und damit auf die Unmöglichkeit seiner sexuellen Bestimmung verwiesen. Eckhart kommt in diesem Zusammenhang zu einer sehr ungewöhn­ lichen Begriffsbildung und stellt die gemeinsame Verknüpfung zwischen Gott und Mensch durch das Wort Geschlecht her. Eigentlich ist das Geschlecht ein Begriff, der direkt auf der Grundlage äußerer Merkmale interpretiert wird, und bestimmen üblicherweise geschlechtsspezifische Besonderheiten die biologische und soziale Identität von mittelalterli­ chen Menschen. Eckhart betont aber mit Verweis auf die gemeinsame Herkunft aller Menschen allen äußerlichen Unterschieden zum Trotz: »Nun sagte ein Meister: Gott ist Mensch geworden, dadurch ist erhöht und geadelt das ganze Menschengeschlecht.«817

Auf diese Weise entwickelt er den Begriff des »Gottesgeschlechts« (gotes geslehte) und betont, dass der Mensch demselben Geschlecht angehört aufgrund der Ebenbildlichkeit.818 Dies liegt daran, dass Gott die ihm innewohnende menschliche Natur offenbart. Hier hat Eckhart ein Wort mit körperlicher Markierung umgedreht, um die geistige Gleichheit auszudrücken.819 Gerade durch diese Begriffsbildung kann die mystische Anthropologie deutlich werden. Durch die umgekehrte Konstruktion der Semantik wird das Paradigma entdoktriniert, denn sie kehrt die in der Gesellschaft identifizierten physischen Merkmale zur ihnen zugehö­ rigen metaphysischen Gegenseite um. Es ist die grundlegende Lehre der Mystik, dass der Mensch zum Geschlecht Gottes gehört und dass jeder, ungeachtet seiner Äußerlichkeit, am Sakralen teilhat. Auch Ibn al-ʿArabī beteiligt sich gewissermaßen an dieser Annäherung. Er stellte deutlich fest, dass körperliche Erscheinungsformen keinen Einfluss auf das Menschsein haben.820 Daher beeinflussen sexuelle Identitäten, gleichgültig in welchem Rahmen sie sich entwickeln, nicht die Natur des Menschseins, sei es biologisch oder sozial. Die wahre Identität des Menschen ist seine Neutralität in Bezug auf barzaḫiyya, und die eigentliche Identität durch die Göttlichkeit ist seine Menschlichkeit.

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Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 67. Vgl. Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 236; Bd. 2, S. 237. Vgl. Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 3, S. 303. Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 3, S. 185.

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Der erste Prototyp der geistigen Wurzel ist Adam. Er ist das mensch­ liche Modell, in dem Muhammadanischen Wahrheit und Logos zuerst verkörpert wurden. Bei Ibn al-ʿArabī wurde festgestellt, dass Adams erster Prototyp, der alle menschlichen Besonderheiten umfasst, und sein sekundärer Zustand, d.h. seine Männlichkeit, die durch die Tren­ nung Evas gebildet wird, voneinander unterschieden werden sollten. Er beschreibt Adam sogar als Mutter, weil Eva aus ihm hervorgegangen ist.821 Die Lehre von der direkten assoziativen Relation zwischen Gott und Mensch führt dazu, dass Adam dazu bestimmt ist, alle menschlichen Besonderheiten einzubeziehen.822 In dieser Richtung analysierte er im Gegensatz zu vielen zeitgenössischen Gelehrten den Hadith von Evas Schöpfung aus Adams Rippe in einem psychologischen Rahmen, nicht in einem biologischen. Während er akzeptiert, dass die erste Frau von Adam geboren wurde, entwickelt er außerdem eine Interpretation, die die Ambivalenz im Koran über die Geschlechtlichkeit des ersten Adams bewahrt. Eckhart auf der anderen Seite glaubt entsprechend nach dem Bibelwort, dass Gott den Menschen zu seinem Ebenbild als Mann und Frau schuf. In diesem Zusammenhang musste Ibn al-ʿArabī den Koran-Vers über den Gradunterschied zwischen Männern und Frauen interpretie­ ren. Den Gradunterschied versteht er als Abfolge in den Schöpfungspro­ zessen. Da der Mann zeitlich vor der Trennung des Weibes vom ersten Menschen stand und im ersten Körper verblieb, bildete sich zwischen ihnen eine gewisse Stufung. Doch ausgleichend sind auch Vorteile der Frau auf göttliche Manifestationen zurückzuführen. Im Ergebnis entwickeln beide Mystiker ihre Interpretationen unter Berücksichtigung der Schöpfungsgeschichte in den Haupttexten der Religionen, denen sie angehören. Die Richtung ihrer Auslegung ist die Definition des Menschen in Übereinstimmung mit seiner göttlichen Relation. Dies bedeutet, alles in seiner Bezogenheit auf den einzigen Gott geistig als geschlechtsneutral darzulegen, indem sie so weit wie möglich von der äußeren Vielfalt entfernt wird.

»Aber Adam wurde aus der Erde (min’al-ard) erschaffen. So ist er (Adam) Mutter von Eva ( fahuwa umm ’al-Ḥawwā) und Sohn der Erde; und die Erde ist seine Mutter.« Ibn alʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 4, S. 415. Vgl. Hirtenstein: The Unlimited Mercifier, S. 77. 822 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 23.

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Wie besonders Ibn al-ʿArabī betont, wurden mit Mann und Frau Paare geschaffen, damit sie wieder vereint werden können.823 Daher besteht die Geschlechtervielfalt für beide Mystiker aus männlich und weiblich. Das Verständnis der Vereinigung der Paare (a) blockiert die Wahrnehmung von mehr als zwei Geschlechtern, (b) reflektiert die Vereinigung zwischen zwar äußerlich gleichen, doch innerlich männlich und weiblich entsprechenden Geschlech­ tern nicht. Insofern sind Geschlechter-Vielfalt und -Einheit kein Pluralismus im vollen Sinne. Nach Ibn al-ʿArabī sind Mann und Frau wie zwei Hälften einer Frucht, und nur wenn sie wiedervereint werden, können sie als Ganzes bezeichnet werden. Unter diesem Gesichtspunkt brauchen die Menschen die Wiedervereinigung, sowohl geistig als auch physisch. Es ergibt sich aus dem Bedürfnis der menschlichen Natur, durch die andere Seite ergänzt zu werden. So wie die kosmischen Prinzipien zusammenkommen, um die Einheit im Sein zu modellieren, vereinen sich Menschen, um die Übergeschlechtlichkeit des ersten menschlichen Wesens zu modellieren.

4.2. Geschlechterverhältnis: Einheit und Gleichheit Da davon ausgegangen wird, dass existentielle Vielfalt aus der Einheit entsteht und sich wieder zur Einheit ausrichtet, neigen die Menschen dazu, sich sowohl seelisch als auch körperlich zu vereinen. Grundlage dieser Orientierung ist das Heraustreten der ersten Frau von Adam. Denn mit dieser Trennung ist Liebe in der von beiden gespürten Leere entstanden. Ibn al-ʿArabī betrachtet die zwischenmenschliche Zuneigung im Kontext kosmischer Beziehung als notwendige Aktion. Der Wunsch nach Vereinigung, der sich von den kleinsten Teilchen des Universums bis zu Gattungen erstreckt, entstammt der Liebe in der Schöpfung, denn die Schöpfung ist ein Akt der Liebe.824 Es gibt Liebe zwischen Mann und Frau als Spiegelbild der Liebe zwischen Gott und der ganzen Schöpfung. Nach diesem Ansatz, den Eckhart teilt, haben die Menschen die Lust als eine Reflexion der Liebe von Gott-Kreatur und Gott-Mensch. Eckhart Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 203. Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 2, S. 323; Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 345, 667.

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versteht unter Liebe ebenfalls vollständige Einheit, gleichgültig worin sie erscheint.825 Bei Ibn al-ʿArabī liebt Gott Adam und liebt Adam Eva mit der gleichen Liebe, weil Adam das existentielle Modell imitiert. Er ist eine göttliche Exemplifikation, dahingehend hat seine Liebe den Grund des Ebenbild-seins. Ibn al-ʿArabī glaubt, beim Geschlechtsverkehr geben sie sich einan­ der hin, sie geben dem anderen, was sie haben. An diesem Punkt kann der Mann zwar nicht das Weibliche physisch erhalten, aber die Frau schließt das ein, was im Männlichen ist, aufgrund ihres integrativen Wesens. Damit erlangt sie einen höheren Status. Von hier aus kommt er zu einer bemerkenswerten Schlussfolgerung: Es ist höher (himmlisch), eine Frau zu schauen (daher zu lieben) wegen der Erhabenheit in ihrer Aufnahmekapazität.826 Ibn al-ʿArabī beschäftigt sich speziell mit der Frage der Überlegenheit. Dafür lassen sich zwei offensichtliche Gründe ausmachen. Erstens konnte er nicht mit der Interpretation der Koran­ verse übereinstimmen, dass eine Gattung der anderen überlegen ist. Dazu gehört zweitens, dass eine solche Auslegung nicht seiner Lehre von der Einheit des Seins entspricht. Der Ursprung der Vielfalt bei den Kreaturen ist derselbe göttliche Einfluss und daher muss trotz der körperlichen Verschiedenheit Gleichberechtigung gegenüber der seelischen Wurzel herrschen. Aus diesem Grund hat er an vielen Stellen die Überlegen­ heit zwischen verschiedenen Ebenen des Seins wie Gott-Mensch und Mensch-Natur verglichen. Die Ergebnisse dieses Vergleichs lassen sich wie folgt zusammenfassen: (a) Wenn die Überlegenheit in Frage steht, ergibt sie sich nicht aus der männlichen Natur, sondern aus dem Zustand des Seins im Mann. Alle Arten der Erhabenheit gehörten dem Sein selbst zu, nicht einer bestimmten seiner Erscheinungen. (b) Die Manifestation im Zeitintervall hat zu besonderen (zusätzlichen) Betrachtungen des Mannes geführt. Daher wird der Frau diese Erfahrung vorenthalten. Obwohl die Überlegenheit nicht von der männlichen Person herrührt, hat sich dank der Erfahrung eine gewisse Differenz herausgestellt; dies ist der Grad, von dem der Koran spricht. (c) Laut Ibn al-ʿArabī gab Gott den Frauen einige Tugenden, um diesen Gradunterschied auszugleichen. Er stellt fest, dass Frauen den Män­ nern überlegen sind, und beweist das mit der das Männliche und 825 826

Vgl. Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 309. Vgl. Barrāḍa: Al-Unūṯa fī-fikr Ibn ʿArabī, S. 106.

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das Weibliche einschließenden weiblichen Fruchtbarkeit (Geburts­ kapazität), der umfassenden kosmischen weiblichen Kraft. In diesem Sinne versucht er auch, die Gleichstellung durch sprachliche Nach­ weise sicherzustellen. Bei Eckhart gibt es kein Bemühen, die Überlegenheit aus semantischen oder somatischen Gründen zu stützen. Das mag an seiner Konzentration auf die Seele liegen. Er verspürte auch nicht das Bedürfnis, eine auf körperlichen Merkmalen beruhende geistige Hierarchie abzulehnen. Wichtig ist ihm jedoch eine Bibel-Interpretation für das Gleichgewicht gegen die traditionelle Annahme der Inkompetenz, die sich aus der weiblichen Nachordnung ergibt, die durch den Vers von der Erschaffung Evas aus der Rippe Adams nahegelegt wird. Eckhart entwickelt die außer­ gewöhnliche Lesart, dass der Hauptzweck der Schöpfung Gottes von Eva aus Adam darin besteht, die Gleichheit der beiden zu gewährleisten: Der Rippenknochen verschwand von Adam und ermöglichte die Erschaffung der Eva. Gott wollte die beiden gleich stellen, indem er sie aus einer gemeinsamen Struktur schuf, nicht aus einem anderen Material. Der gemeinsame Ursprung beider Geschlechter ist die menschliche Ganzheit. Daher kehren beide Mystiker, während sie Gleichheit begründen, zur Veranlassung der Schöpfung zurück und behaupten, dass die zeitliche Nachordnung der Frau eigentlich der Einheit dient.827 Nach Eckhart gibt es eine ähnliche Situation zwischen Gott-Mensch, welche den Ausgleich gewährleistet. Laut Ibn al-ʿArabī weisen einige Hadithe (zwei Seiten des Gesichts, die Hälfte der Frucht etc.) auf schöpfungs-basierte Gleichheit hin. Von einem anderen Standpunkt aus passen beide die Gott-MenschBeziehung an die Adam-Eva-Beziehung an: Gott hat den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen, um ihn genauso wie sich selbst zu bilden, und das verwirklicht sich durch ein analoges Verhältnis zwischen Adam und Eva auf dem Hintergrund, dass die göttliche Erscheinung stufenweise von einer zu anderen Ebene überfließt. So spiegelte sich Gott im Menschen wider, und im Menschen spiegelte er sich in den Geschlechtern wider.828

827 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 3, S. 505; Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 2, S. 263. 828 Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Fuṣūṣ al-ḥikam, S. 3; Eckhart: Werke, Bd. 2, S. 145. Siehe auch Ḥakīm: al-Muʿğam aṣ-ṣūfī, S. 144.

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Kapitel III. Komparative Mystik

Geschlechterrollen in Leben und Religion Die Gleichstellung, die heute das Hauptthema der Geschlechterverhält­ nisse ist, wird vor allem in gesellschaftlichen Feldern gesichert. Insofern erscheint die Frage der Gleichberechtigung, insbesondere im Arbeitsund Bildungsleben, zunächst als Regelung des öffentlichen Raums. Obwohl es im islamischen Mittelalter weit verbreitete Meinungen über die Stellung der Geschlechter in geistlichen Ämtern gibt, ist es nicht möglich, von einer konsequenten Praxis zu sprechen, in der sich alle Gelehrten einig sind. Wie bereits erwähnt, kann von der Existenz einer übergeordneten Autorität, die alle geistlichen Aktivitäten in der dama­ ligen islamischen Welt bestimmt, nicht gesprochen werden. Trotzdem sind rechtswissenschaftliche Verwaltungspositionen mit der sozialen Sichtbarkeit von Frauen nicht zufrieden, und die Gelehrten akzeptieren Frauen nicht auf der Ebene von Männern in wissenschaftlichen Einrich­ tungen.829 Ähnliches galt auch für das geistliche Leben: in den religiösen Institutionen tritt mehr männliche Verwaltung in den Vordergrund. Aus diesem Grund sind der Vielfalt, die als Ergebnis geschlechtsspezifischer Auseinandersetzungen von dominanter Werturteile bewertet werden können, Grenzen gesetzt. Angesichts der relativen religiösen Autonomie in der islamischen Welt waren die sozialen Bedingungen, in denen sich Eckhart befand, viel klarer gestrickt. Im mittelalterlichen Katholizismus gab es die Kirche, die als universelle Autorität die Bestimmungen über die Stellung der Geschlechter festlegt. Die Tatsache, dass katholische religiöse Einrichtungen für Frauen ähnlich wie in der islamischen Welt geschlossen sind, ist jedoch das Ergebnis der gemeinsamen mentalen Parameter, die die Einschränkung der Geschlechterrollen bestimmen. Wenn wir uns die Biografien von beiden Mystikern genauer anse­ hen, stoßen wir auf wichtige Daten, die darauf hindeuten, dass weder der Entwicklungsstand ihrer Lehre noch ihre Vermittlungsprozesse ohne Frauen bewertet werden können. Ibn al-ʿArabī akzeptierte eine alte Frau namens Fāṭima als eine seiner ersten Meisterinnen. Er zitierte ihre Wunder als Beweise in seinen späteren Werken, während er seine Behauptungen begründete, dass Frauen den Männern geistig gleich sind. Er war nicht nur mit der Kommunikation im Kontext der Spiritualität zufrieden, nahm auch wissenschaftliche Lektionen von einer anderen Fāṭima in Mekka. Während er darlegte, dass Frauen wie Propheten die Vgl. Bauer, Karen: Gender Hierarchy in the Qurʾān Medieval Interpretations. Modern Responses, Cambridge 2015, S. 271–275.

829

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höchsten Geistlichen ihrer Zeit sein könnten, gab es auch Frauen unter seinen Gesprächspartnern. Noch auffälliger ist, dass er einige weibliche Schüler autorisierte, seine spirituelle Führung(sposition) fortzusetzen. Auf der anderen Seite wuchs Eckhart mit den Legenden von Mechthild und weiblichen Mystikern auf. Er nimmt die Ideen der Beginen und insbesondere von Marguerite in seine Werke und verwendete deren Rhetorik in seinen Predigten. Seine Aktivitäten können eher als Parti­ zipation denn als Aufsichtsmission angesehen werden. Er hielt Reden zu ihnen, damit jede die ihnen innewohnende Göttlichkeit erlangen kann. Das heißt, beide wurden von Frauen beeinflusst, während sie ihre eigenen Lehren entwickelten, und sie beeinflussten auch Frauen. Es war nicht zu erwarten, dass sie ihren Ansatz, der Frauen als gleichberechtigt mit Männern ansieht, ohne Frauen entwickeln würden. Aus diesem Grund lässt sich feststellen, dass sich das Menschenbild in Theorie und Praxis unmittelbar im Verhältnis der Geschlechter widerspiegelt. Neben dieser biografischen Gemeinsamkeit steht Ibn al-ʿArabī direkt in einer vielschichtigen Beziehung zum weiblichen Individuum. Er genoss die weibliche Schönheit und Liebe und besang sie mit seiner Poesie. Diese Erfahrung beeinflusste auch seine Schreibweise, er hat seine Ideen zu Liebe und Sexualität offen niedergeschrieben. Andererseits gibt es keine klaren Informationen über Eckharts Erfahrungen mit dem weiblichen Körper bzw. mit weiblicher Schönheit, Liebe und Sexualität. Zweifellos steckten hinter dem vielfältigen Leben der beiden Denker originelle Ansätze. Bei Eckhart ist die Geburt keine einmalige und kör­ perbezogene Erfahrung, denn jedes Geschlecht kann als lauterer Geist und als vollkommenes Abbild alles tragen, was der Sohn vom Vater über­ nommen hat.830 Infolgedessen macht er keinen Unterschied zwischen der Administratoren religiöser Institutionen und einer ungebildeten Frau, die sich aus der geistlichen oder gesellschaftlichen Stellung ergibt. Laut Ibn al-ʿArabī können Frauen das Niveau der quṭbiyya erreichen, den höchsten Grad der Gottesfreundschaft, und auch der Offenbarung. Er akzeptiert, dass einige Frauen, deren Namen im Koran erwähnt werden, Propheten waren und daher die Bedingungen hatten, ihre Anhänger zur Religion zu führen. Er hat keine Zweifel daran, dass Frauen Gelehrte und Heilige seien können, indem er seinen Studentinnen die Autorität der spirituellen Führung gab.831 Auch ist der Inhalt von Eckharts Reden in Vgl. Eckhart: Deutsche Predigten und Traktate, S. 185, 357. Vgl. Ibn al-ʿArabī: al-Futūḥāt al-makkiyya, Bd. 3, S. 89. Vgl. Barrāḍa: Al-Unūṯa fī-fikr Ibn ʿArabī, S. 215–218. 830 831

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Frauenklöstern ein klarer Ausdruck seiner Zustimmung zu weiblicher spiritueller Kompetenz. Das Religionsrecht stellt die Verbindung von theologischer Auffas­ sung und sozialem Leben her. Wenn die Lesart religiöser Quellen darauf abzielt, die soziale Sphäre zu definieren, steht das Religionsrecht als Instrument zur Verfügung. Leider hat man nur begrenzte Informationen über mystische Herangehensweisen an die Rechtsnormen, die die Gesell­ schaft – beruhend auf den heiligen Schriften oder in der Tradition – bestimmen. Die vorhandenen Angaben weisen darauf hin, dass sich ihre rechtlichen Haltungen nicht wesentlich von ihren mystischen Ansichten unterscheiden. In dieser Hinsicht ist der Wunsch von Ibn al-ʿArabī bemerkenswert, die Scharia zu diversifizieren, um den Gewohnheiten oder dem guten Handeln von Gesellschaften religiöse Bedeutung zu verleihen. Dazu ist es notwendig, die Themen verschiedener Diszipli­ nen, wie seine neue Auslegung der Scharia, seine Perspektive auf die Geschlechter und seine Idee der Einheit des Seins, gemeinsam zu analy­ sieren. Bedeutend ist die Frage der weiblichen Vorbeterrolle als Imam in der Gemeinschaft. Denn der Imam ist sowohl der Anführer in Bezug auf die Gebetsleitung als auch Vorbild in Bezug auf Wissenschaft und Moral. Da jedoch die Geschlechterrollen bestimmende Normen und nicht auf die genannten Beispiele beschränkt sind, weiß man nicht, wie weit Ibn alʿArabī die Grenzen für eine allgemeine Meinungswende verschoben hat. Sein Festhalten an vielen Prinzipien der Scharia lässt aber auch Zweifel, in welchem Maße er die Gleichberechtigung verteidigen kann. Eckhart, der sein Leben unter viel stärkerer institutioneller Kontrolle fortsetzte, war sehr begrenzt darin, den Grundsatz der Gleichstellung auszusprechen und in die Praxis umzusetzen. Auch er hat das Religionsrecht mit einer ähnlichen Haltung wie Ibn al-ʿArabī nicht vollständig verworfen. Im seiner zeitigen Ordensleben versuchte er, Gleichberechtigung in den Bereichen umzusetzen, in denen seine Lehre die Möglichkeit hatte, sich zu reflektieren. Infolgedessen ist es beiden Denkern nicht möglich, eine praktische Anwendung zu finden, die mit dem modernen Verständnis von Gleichheit vollständig übereinstimmt. Eigentlich bemühten sich beide, als Folge der Einheitslehre, in ihren begrenzten Lebensbereichen Gleichheit zu etablieren. Diese Gleichstellung umfasste kulturelle und ethnische Felder sowie zweifellos geschlechtsspezifische Unterschiede.

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Epilog Mystik als anthropologische Herausforderung

In der vorliegenden Arbeit wurden die Menschenbilder zweier mittel­ alterlicher Mystiker unter Berücksichtigung ihrer Geschlechterbilder untersucht. Die ideellen Strukturen der Lehren von Ibn al-ʿArabī und Eckhart, die in ihrem einheitlichen Verständnis von Sein-ErkenntnisMoral eine interreligiöse Gemeinsamkeit aufweisen, beziehen sich expli­ zit auf die Wahrnehmung von Geschlechter. Auf diese Weise wurden die Grundprinzipien einer mystischen Anthropologie im Einklang mit den Problemen hinterfragt, die sich mit dem thematischen Rahmen der philosophischen und theologischen Anthropologie kreuzen. Vor allem entwickelten beide Mystiker ihre Lehren im Schatten der vorherrschen­ den Vorstellungen des Mittelalters, die sich zwischen Philosophie-Reli­ gion-Gesellschaft ihrer Zeit entwickelten. Die ursprünglichen Einheits­ lehren von Ibn al-ʿArabī und Eckhart, beruhend auf der Identifizierung von Gott und Sein, bilden die Grundlage der neuen Definition des Menschen. Demgemäß erreicht die aus einem mit Gott identifizierten Sein abgeleitete Existenzgabe die Ebene der Menschheit, was bedeutet, in Gott von der Einheit zur Vielheit herabzusteigen und in der Welt von der Vielheit zur Einheit heraufzusteigen. Während beide Mystiker die transzendente Lauterkeit anerkennen, akzeptieren sie zugleich, dass die menschliche Essenz im ersten Hervorgehen des Seins zurückgeht. Die menschliche Essenz als immanente Grundlage aller Erscheinungsformen ist am vollkommensten im Menschen verkörpert, der als letzter in der Natur auftaucht. Die Bedeutung dieser Relation besteht in der Ebenbild­ lichkeit, dass die Gott zugeschriebenen Attribute in dem menschlichen Wesen perfekt harmonieren können. Ontologische Zwischenkategorien, die durch die strikte Unterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf in der gängigen Theologie vorausgesetzt werden können, werden von den Mystikern eindeutig verweigert. In dieser Hinsicht wird, um die Relation zwischen Gott und Mensch durch Geburt oder Manifestation herzustel­ len, direkt auf das göttliche Handeln Bezug genommen: Das Menschsein ist das Ziel Gottes in seiner Erfahrung des immanenten Erkennens und

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Epilog

in dem Hervorgehen seiner eigenen Liebe. Im Vergleich zur theologischanthropologischen Begründung, wie Karl Rahners Bemerkung, dass ›der Mensch Horcher auf eine mögliche Offenbarung sei‹, vereint die Mystik beide in einem Akt, weil der Mensch die Offenbarung selbst darstellt, die Erschaffung eine Art von Gottes Sprechen ist. Die Bedeutung des Menschseins wird in seiner göttlichen Substanz gesucht. Da jedes Individuum gleich und eins im gemeinsamen Ursprung ist, vereint dasselbe existentielle Prinzip auch den Menschen mit der Welt. Hierbei ist die Idee Mensch (a) im Wesentlichen dem Universum grundsätzlich gemein, da es sich auf alle Kreaturen bezieht; (b) umfasst es alle Aspekte des existenziellen Spektrums. Somit hat jedes Individuum zwei Aspekte in sich selbst: in gewisser Hinsicht göttlich, in anderer Hinsicht kreatürlich; in gewisser Hinsicht ist die gleiche Essenz mit jedem menschlichen Wesen gegeben, und in anderer Hinsicht ist sie in sich einzigartig. Das Individuum beruht auf der Beziehung zwischen diesen beiden Aspekten. Das Gemeinsame bei allen Menschen ist, wie Eckhart es formuliert, der ›Seelengrund‹; die Originalität in jedem ist die autonome Persönlichkeit, die Ibn al-ʿArabī als Gottesname im ›festen Archetyp‹ bezeichnet. Es gibt bei allen Menschen sowohl in der Seele als auch im Körper eine gemeinsame Wurzel und differenzierte Verzweigung. Körper haben eine fundamentale Gleichartigkeit, weil sie Kinder derselben Natur sind. Oder jede Seele ist in der Manifestation im Grunde gleich, doch unterscheiden die Seelen sich aufgrund ihrer ständigen Erneuerung voneinander. Eine weitere Folge der grundlegen­ den Göttlichkeit lautet, dass jeder Mensch gleich gestaltet ist, da keine angeborene oder erworbene Eigenschaft die wesentliche Identität einer Person bestimmt. Menschen werden nicht nach religiösen und sozialen Sichtbarkeit geschätzt; sie erlangen ihre Ehre durch die Relation, die sie mit sich selbst eingehen. Dank des gleichen existenziellen Verhältnis­ ses werden die höchsten Stufen der Geistlichkeit als eine gemeinsame Fähigkeit jedes Einzelnen angesehen, die für jeden erreichbar ist. Aus dem gleichen Grund hat jedes Individuum – wie jedes Objekt in der Natur – eine essenzielle Beziehung zur Heiligkeit. Der Mensch (a) hat das Heilige von Natur aus, (b) ist durch die Erfahrung seiner Natur von anderen unterschieden. Nach Ibn al-ʿArabī ist es der in jedem Menschen wirksame göttliche Name, der die wesensmäßige Identität ausmacht. Eckhart behauptet, dass es eine Einheit zwischen dem menschlichen Geist und dem göttlichen Grund gibt. Die Erfahrung der eigenen Innerlichkeit bringt spirituelle und ethische Verantwortung mit sich: die Verwirklichung der Gottesbot­

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Epilog

schaft oder die Erlangung der Sohnschaft. Laut Ibn al-ʿArabī ist der perfekte Mensch derjenige, der göttliche Offenbarung erlangt; in diesem Zusammenhang ist die Gottesbotschaft überzeitlich und begründet die Aktualität der Gott-Mensch-Beziehung auf der höchsten Ebene. Auf der anderen Seite erweitert Eckhart den Rahmen der Sohnschaft Christi und macht seine Reichweite zum Prinzip seiner Spiritualität. So bedeutet nach Ansicht beider Mystiker die Reifung der Seele durch Reinheit die Erfahrung der göttlichen Ebenbildlichkeit. Wenn ein Mensch sein essentielles Prinzip durch Liebe und Abgeschiedenheit erfährt, ist in seiner Seele das Sein sein Leben. Um diese geistige Ebene zu erreichen, ist es zwar nicht möglich, den Körper zu verlassen, aber es ist notwendig, sich von der Weltlichkeit abzuwenden. Genauso wie die Natur eine Mani­ festation Gottes ist, ist der Körper eine Erscheinung des Menschseins. Geistige Einheit offenbart sich in materieller Vielfalt. Die Differenzen in der Vielfalt bestimmen nicht die eigentliche Identität; deswegen kann die zur Selbsterkenntnis notwendige Reinheit als Verzicht auf äußere Identifikation verstanden werden. Reinheit bedeutet in der religiösen Terminologie die Vorbereitung des Menschen auf die Erfüllung seiner Verantwortung vor Gott. Beide Mystiker glauben, um jegliche Art der Objektivierung zu überwinden, müsse der Mensch zunächst von der Stellung der Andersheit befreit werden. Sie interpretieren die Knecht­ schaft in Richtung der Einheit mit Gott, nicht außerhalb von ihm. So befreit der anthropologische Grundsatz der Mystik von den drei Arten der Subjektivierung: (a) Widerspruch gegen die alleinige Zentra­ lität eines bestimmten metaphysischen Prinzips: durch Betrachten der kreisläufigen Seinsbewegung und das Erkennen des Seins, womit Gott nicht als externer Schöpfer subjektiviert wird. (b) Traditionelle und institutionelle Dezentralisierung: keine Verabsolutierung einer einzigen Erkenntnismethode aufgrund der inhärent vielfältigen Erfahrung der Wahrheit. (c) Entfernung einer Selbstsubjektivierung des Individuums: die Einzigartigkeit kann nicht als absolute Wahrheit gesehen werden, sondern als ihre Reflexion; daneben gibt es die Möglichkeit individueller Erfahrung, gleichgültig in welchem Ausmaß. Die Einheitslehre, die der mystischen Anthropologie zugrunde liegt, bewahrt die Gott-WeltMensch-Beziehung vor der Verfremdung in der Subjekt-Objekt-Dicho­ tomie und sorgt dafür, dass jede Beziehung zwischen Gott, Welt und Mensch im Gleichgewicht der Einzigartigkeit-Universalität den anderen verinnerlicht wird. Alle Seienden erfahren den anderen in sich, und der Mensch vereint Gott und Welt in seinem Selbsterkennen.

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Epilog

Nach der mystischen Anthropologie verwirklicht sich die Diversifi­ zierung der menschlichen Einheit in gewisser Weise durch die Erschei­ nung der Geschlechter. Eine ähnliche Situation wie die verdoppelte Entstehung im Universum findet im Körper statt, wo das männliche und weibliche Paar vorkommt. Die vieldeutige Breite der Definitionen des Menschen durch die beiden Mystiker setzt sich in ihrem Verständnis der Gattung fort. Männlichkeit und Weiblichkeit, die in der Materiali­ sierung der Seele heraustreten, werden über die Körperlichkeit hinaus­ getragen und zur Beschreibung existentieller Zustände verwendet. Auf geschlechtsbezogene Merkmale wie Zeugung und Geschlechtsverkehr wird zurückgegriffen, um Situationen darzustellen, die auf der Beziehung zwischen den Seinsebenen basieren. Körperliche Merkmale werden also nicht innerhalb ihrer Wahrnehmungsgrenzen gehalten und damit sind nicht nur spezifische Definitionen bestimmter Realitäten. Transzendenz von biologischen Gegebenheiten dient nicht dazu, Gattungen universelle Werte anzudichten, sondern sie im Rahmen dynamischer Beschreibun­ gen zu verstehen. Der Zweck besteht darin, zu begründen, wie Einheit in der Existenz erreicht wird. Unter diesem Gesichtspunkt kann die Überwindung der Geschlechterdualität gerechtfertigt werden, so dass ein anthropologischer Dualismus vermieden wird. Dadurch können die Geschlechter nur zusammen (in einer Einheitsbeziehung) existieren. Weder das Männliche noch das Weibliche allein können ihre Existenz im Raum des Werdens aufrechterhalten. Beides kommt zusammen, um das Wesen des Existierens zu formen und seine Beständigkeit zu sichern. Deshalb ist die Menschheit nur in der Einheit von Männlichen und Weiblichen von Dauer. Der Mensch ist wie die Welt, erfasst andauernd die männlichen und weiblichen Bestimmungen durch ihre notwendige Beziehung. Zusammenfassend wird das mystische Verständnis von Geschlechter entwickelt durch (a) Universalisierung (b) Dynamisierung und (c) Interaktion von Körpermerkmalen. Auf dieser Grundlage kann die Mystik rekonstruiert werden, um neue Perspektiven für die zeitgenössischen Debatten zu eröffnen. Die Aufhebung der Existenz- und Lebensbestimmung aufgrund der biologischen Herkunft macht die religiösen und sozialen Rollen, die die Männlichkeit durch die Identifikation mit der Aktivität gewinnt, bedeutungslos. Da diese Mystik die unteilbare Zusammenheit beider Geschlechter auf alle Bereiche der Seinserscheinung ausdehnt, ist es nicht möglich, einen direkten und definitiven Zusammenhang zwi­ schen sexuellen Kennzeichen und sozialer Determination herzustellen. Geschlechts-Merkmale können nicht einem festen Zustand zugeschrie­

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Epilog

ben werden, weil in allen Entstehungsphasen des Körpers die Bestim­ mungen zusammen sind. Da das geistige Prinzip in der Essenz des Menschen die Einheit der verschiedenen Aspekte verlangt, wird der Mensch durch die wechselseitige Durchdringung der diversen Seiten gebildet. Aus diesem Grund: (a) Die primäre Identität des Menschen ist die Ganzheit, weil diese ausgewogene Verbindung mit allen Zuständen der Seinsgabe herstellt. (b) Wenn von der gemeinsamen Essenz her ver­ körpert wird, in Richtung Diversifizierung, ist die dominante Charakter die Weiblichkeit. (c) Nach der essenziellen Inklusivität und generellen Weiblichkeit wird das Geschlechtsmerkmal erscheint und führt zur Definition von Mann oder Frau. Diese Phasen, die der Entstehung jedes Menschen innewohnen, werden nach Ibn al-ʿArabī auch beim ersten Menschen betrachtet: Inklusiv geboren aus der Neutralität der Erde, empfängt die geschlechtslose Seele und wurde später durch die Trennung des Weibes zum Mann. Auch Eckharts Menschenverständnis gründet auf der Einheit: Gott will die Gleichheit in der Erschaffung der Frau aus dem Mann sicherstellen, und wie der Seins-Begriff alle Vielfalt vereint, umfasst das Menschsein auch alle Geschlechtsmerkmale. Daher kann die Ebenbildlichkeit nicht auf Männlichkeit beschränkt werden, und der­ artige spirituelle Interpretationen, die auf der Geschlechtsidentifikation basieren, werden nicht geteilt. In diesem Zusammenhang wird das auf der Männlichkeit des ersten Menschen aufbauende Überlegenheitsverständ­ nis nicht wesentlich. Geschlechterstellungen, die sowohl dem von der Einheitslehre geforderten Gleichheitsprinzip als auch der Neutralität der geistigen Essenz nicht entsprechen, werden transformiert interpretiert und ver­ lieren daher ihren verabsolutierten Wert. Um ein Gleichgewicht zu erreichen, sieht Ibn al-ʿArabī die Frau als Gott geistig näher und als natürlich stärker an; weil das weibliche Wesen umfassend ist. Er dreht tradierte verbreitete Ansichten um, die auf bestimmten Interpretationen religiöser Urteile beruhen. Mystische Entdoktrination setzt die Frau mit erhabenen Tugenden gleich, wie auch mit dem Mann, dem eine gewisse Überlegenheit unterstellt wird. Der Status kann nicht in Bezug auf das Leben begründet werden: Abstammung, Rang, Reichtum, Macht oder Sex sind nicht die Quelle der Ehre. Der Wert kommt von Sein, der sich im Leben durch die Tugend reflektiert, die grundsätzlich in jedem Menschen gleich verteilt ist. Doch die Auffassung, dass unter den Seinserscheinungen keine Überlegenheit in Betracht gezogen werden kann und die als Erhabenheit manifestierte Kompetenz eigentlich zum Ganzen gehört, gleicht auch die Geschlechter aus. Das Verhältnis von

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Epilog

Mann und Frau beruht in verschiedenen Aspekten auf Gleichberechti­ gung, und auch die Offenbarung kann aus dieser Perspektive verstanden werden. Die religiösen Urteile können ausgelegt werden, um die Gleich­ berechtigung zu rechtfertigen; solche Exegese ermöglicht es Frauen, als Imame der Gemeinde vorzubeten oder eine höhere Spiritualität als ein Priester zu erreichen. Die Gleichberechtigung bleibt angesichts der religiösen Normen, die das gesellschaftliche Leben regulieren, dank der Entfernung der geistigen und körperlichen Überlegenheit bestehen. Ausgehend von diesen Gemeinsamkeiten beider Mystiker geht diese Untersuchung davon aus, dass aus den grundlegenden Prinzipien der Mystik ein originelles Geschlechterbild entwickelt wird, das sich an dem eigenständigen Menschenbild orientiert. Die im Mittelalter entwickelte Mystik beleuchtet die Neuinterpretation von Religion und dadurch die Interpretation universeller Werte und trägt auch dazu bei, das Spannungsverhältnis zwischen der extremen Individualisierung und der ausgrenzenden Vergemeinschaftung zu überwinden. Daher können neben philosophischen und theologischen Perspektiven die Sprache und die Begriffe, in denen die Mystik ihre eigenständige Lehre errichtete, als neues anthropologisches Grundlagenfeld bewertet werden.

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