Grundfragen der Umlautphonemisierung: Eine strukturelle Analyse des nordgermanischen i/j Umlauts unter Berücksichtigung der älteren Runeninschriften 9783110801781, 9783110161618


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German Pages 331 [332] Year 1998

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Table of contents :
Vorwort
I Einleitung und Problemstellung
II Umlauttheorie und Strukturalismus
1. Grundlagen der Phonologie: Jakobson 1931
2. Die Formulierung des strukturellen Grundansatzes: Twaddell 1938
3. Phonetische Umlautlosigkeit?
4. Rückumlaut?
4.1 Junggrammatischer Rückumlaut
4.2 Die klassischen nordischen Rückumlauttheorien
A. Seip 1919
B. Hesselman 1945
C. Taylor 1956-57
D. Reid 1990
E. Penzl 1951/1988
5. Zwischenresumé
6. Die Crux traditioneller Ansätze: Phonemisierung durch Eliminierung
7. Ein integraler Neuansatz: Phonemisierung durch Schwächung
8. Die Rolle des Zeitfaktors
9. Ein Ost/Westgefälle?
III Runische Evidenz
1. Stentoftens -gestumR in der Umlautdiskussion: Ein kurzer Beitrag zum Problemkreis (Ortho-)Graphie
2. Die By-Form hroReR: Kronzeugin einer Qualitätsreduktion
3. Runische Evidenz für Vokalabschwächungen
3.1 Methodische Vorüberlegungen
3.2 Materialsammlung
3.3 Interpretationsansatz
3.4 Diskussion des Belegmaterials (Beleggruppen A-G)
Exkurs 1: Zum Nom. Sg. der maskulinen n-Stämme (an. hani) – Reflex einer Ultimalänge *-æ?
4. Abschließende Bemerkungen zum Gesamtbefund
IV Gesamtanalyse des nordgermanischen i/j-Umlauts
1. j-Umlaut contra i-Umlaut
1.1 Zur Differenzierung vokalischer und konsonantischer Umlautfaktoren: Typologisch-sprachgeschichtliche Überlegungen
1.2 Außergermanische Evidenz: Das Britannische
1.3 Zur Skalierung der Palatalisierungsfaktoren: j > i > e > æ
1.4 Divergierende Resultate durch Palatalisierung
1.5 Resumé: Der Sonderstatus des Halbvokals j
2. Der j-Umlaut
2.1 j-Umlaut in den Strukturtypen *kunja, *kunju, *harjaz Phonemisierung durch Schwächung, d.h. saṃprasāraṇa
2.2 Zur zeitlichen und kontextuellen Einordnung des j-Umlauts (Strukturtypen *kunja, *kunju, *harjaz)
2.3 j-Umlaut in den Strukturtypen *waljē, *waljēz Phonemisierung durch j-Schwund
3. Der ī-Umlaut
3.1 Probleme mit Längen: Kocks jüngerer i-Umlaut
3.2 Phonetisch-phonologische Vorüberlegungen
3.3 Restriktionen des ī-Umlauts: Das Stellungskriterium
3.4 Die Ultimalänge *ī: Etymologische Herkunft und Umlautwirkung
3.5 Umlauttransfer und Fernumlaut
3.6 Kombinierter i/j- und u/w-Umlaut
3.7 Phonologische Interpretation des ī-Umlauts: Der Initialimpuls durch Senkung *-ī(-) >*-ē(-)
Exkurs 2: Natürliche Phonologie und Markiertheitstheorie
3.8 Zur zeitlichen und kontextuellen Einordnung des ī-Umlauts (Strukturtypen *fallīz, *budīz, *dõmiđīz, *waliđīz)
4. Der ĭ-Umlaut
4.1 ĭ-Umlaut in den Strukturtypen *gasti(z), *dõmiđõ, *bandilaz Phonemisierung durch Schwächung
4.2 ĭ-Umlaut durch suffixales *-ing- (Strukturtypen *karling-, *lating-, *ađuling-)
5. Die sog. Sekundärumlaute
5.1 gi/ki-Umlaut
5.2 iR-Umlaut
5.3 R-Umlaut (R-Palatalisierung)
V Schlußteil. Resumé und Ausblick
VI Anhang
1. Allgemeine und linguistische Abkürzungen
2. Symbole und Zeichen
3. Sigla und Abkürzungen von Werktiteln und Textausgaben
4. Bibliographie
5. Wortindex
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Grundfragen der Umlautphonemisierung: Eine strukturelle Analyse des nordgermanischen i/j Umlauts unter Berücksichtigung der älteren Runeninschriften
 9783110801781, 9783110161618

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Grundfragen der Umlautphonemisierung

Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde Herausgegeben von Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer Band 17

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Walter de Gruyter · Berlin · New York 1998

Grundfragen der Umlautphonemisierung Eine strukturelle Analyse des nordgermanischen //^'-Umlauts unter Berücksichtigung der älteren Runeninschriften von Michael Schulte

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Walter de Gruyter · Berlin · New York 1998

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — ClP-liinheitsaufnahme Schulte, Michael: Grundfragen der Umlautphonemisierung : eine strukturelle Analyse des nordgermanischen i/j-Umlauts unter Berücksichtigung der älteren Runeninschriften / von Michael Schulte. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1998 (Reallexikon der germanischen Altertumskunde : Ergänzungsbände ; Bd. 17) Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-11-016161-3 Rrgänzungsbände / hrsg. von Heinrich Beck . . . Bd. 17. Schulte, Michael: Grundfragen der Umlautphonemisierung. - 1998

© Copyright 1998 by Walter de Gruyter GmbH & Co., D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer GmbH, Berlin

Vorwort Dieser Arbeit liegt eine Dissertation zugrunde, die der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn im November 1996 vorgelegt wurde. Die überarbeitete und erweiterte Fassung erscheint hiermit im Druck. Das Zustandekommen der vorliegenden Studie wurde von verschiedenen Seiten gefördert, allen voran von Prof. Dr. Heinrich Beck, der sie mit Langmut betreute. Den Mitarbeitern des Indologischen Seminars, besonders aber Prof. Dr. Claus Vogel und Dr. Helmut Eimer, gilt mein aufrichtiger Dank für die Einbeziehung in das Seminargeschehen; nicht zuletzt aber lernte ich ihre Toleranz zu schätzen, meine wissenschaftliche Hauptbetätigung auf dem für sie abgelegenen Feld der Skandinavistik suchen zu dürfen. Für konstruktive Kritik, anregende Diskussionen und die Bereitstellung manchen Manuskripts oder Sonderdruckes danke ich im weiteren PD Dr. Thomas Birkmann (Universität Greifswald), Prof. Dr. Hans-Peter Naumann (Universität Zürich), Prof. Dr. Klaus Düwel (Universität Göttingen), Prof. Dr. Gert Kreutzer (Universität Köln), Prof. Dr. Hans-Rainer Kämpfe (Universität Bonn), Prof. Dr. Michael P. Barnes (University College London), Prof. Dr. James E. Knirk (Universitetet i Oslo), Prof. Dr. Anatoly Liberman (University of Minnesota), Prof. Dr. Elmer H. Antonsen (University of Illinois at UrbanaChampaign), Prof. Dr. Lennart Elmevik (Uppsala Universitet), Dr. Henrik Williams (Uppsala Universitet), Dr. Tomas Riad (Stockholms Universitet), Prof. Dr. Ottar Gronvik1 (Universitetet i Oslo), Prof. Dr. Hreinn Benediktsson (Häskoli Islands), Prof. Dr. Kristjän Arnason (Häskoli Islands), Dozent Dr. Harry C. B. Perridon (Universiteit van Amsterdam), Dr. Timothy G. Reid (Sidney Sussex College) und Dr. Robert Nedoma (Universität Wien). Prof. Dr. Terje Spurkland (Universitetet i Oslo) war so freundlich, mir seine unveröffentlichte MA-Schrift mit dem Titel Nordisk omlyd og spräkvitenskap (Oslo 1978) einstweilen zur Verfügung zu stellen. Dr. Damaris Nübling verdanke ich wertvolle Hinweise in ihrem Spezialgebiet der Klitika. Die Bonner Indogermanisten Dr. Jürgen Uhlick (jetzt Humboldt-Universität zu Berlin) und Uwe Seefloth halfen mir, über die

1

Ottar Granviks neue Arbeit Fra Vitnose til 0demotland. Nye studier over runeinnskrifter fra f0rkristen tid i Norden (Oslo: Universitetsforlaget 1996) wurde allerdings nicht mehr aufgenommen.

VI

Vorwort

Grenzen meines eigenen Fachbereichs hinauszuschauen, indem sie mich in die Umlautphänomene des keltischen und albanischen Sprachgebiets einwiesen; hieraus ergab sich manche auch für das (Nord-)Germanische relevante Einsicht. Besonders aber eine längere lebhafte Umlautdiskussion mit Prof. Dr. Otmar Werner (Universität Freiburg) im Frühjahr des Jahres 1995 bleibt mir in guter Erinnerung. Allen Genannten und manchen Ungenannten spreche ich hiermit meinen Dank aus.

Bonn im August 1997

Michael Schulte

Inhaltsverzeichnis Vorwort

V

I

Einleitung und Problemstellung

1

II

Umlauttheorie und Strukturalismus 1. Grundlagen der Phonologie: Jakobson 1 9 3 1 2. Die Formulierung des strukturellen Grundansatzes: Twaddell 1938 3. Phonetische Umlautlosigkeit? 4. Rückumlaut? 4.1 Junggrammatischer Rückumlaut

5. 6. 7. 8. 9. III

4 . 2 Die klassischen nordischen Rückumlauttheorien A. Seip 1 9 1 9 B. Hessel man 1945 C.Taylor 1956-57 D. Reid 1 9 9 0 E. Penzl 1951/1988 Zwischenresume Die Crux traditioneller Ansätze: Phonemisierung durch Eliminierung Ein integraler Neuansatz: Phonemisierung durch Schwächung Die Rolle des Zeitfaktors Ein Ost/Westgefälle?

17 20 26 30 34 35 38 45 47 48 55 58 63 68 74

Runische Evidenz 1. Stentoftens -gestumR in der Umlautdiskussion: Ein kurzer Beitrag zum Problemkreis (Ortho-)Graphie 2. Die By-Form hroReR: Kronzeugin einer Qualitätsreduktion . . . . 3. Runische Evidenz für Vokalabschwächungen 3.1 Methodische Vorüberlegungen 3 . 2 Materialsammlung 3 . 3 Interpretationsansatz

76 83 87 90 91

Inhaltsverzeichnis

Vlll

3.4 Diskussion des Belegmaterials (Beleggruppen A-G) Exkurs 1: Zum Nom. Sg. der maskulinen «-Stämme (an. hani) - Reflex einer Ultimalänge 4. Abschließende Bemerkungen zum Gesamtbefund IV

96 149 152

Gesamtanalyse des nordgermanischen ///-Umlauts 1. /-Umlaut contra /-Umlaut 1.1 Zur Differenzierung vokalischer und konsonantischer Umlautfaktoren: Typologisch-sprachgeschichtliche Überlegungen . 1.2 Außergermanische Evidenz: Das Britannische 1.3 Zur Skalierung der Palatalisierungsfaktoren: j > i > e > ce 1.4 Divergierende Resultate durch Palatalisierung 1.5 Resume: Der Sonderstatus des Halbvokals /

159 164 165 167 171

2. Der /-Umlaut 2.1 /-Umlaut in den Strukturtypen *kunja, *kunju, *harjaz Phonemisierung durch Schwächung, d.h. samprasärana . . . . 173 2.2 Zur zeitlichen und kontextuellen Einordnung des /-Umlauts (Strukturtypen *kunja, *kunju, *harjaz) 183 2.3 /-Umlaut in den Strukturtypen *walje, *waljez Phonemisierung durch /-Schwund 189 3. Der f-Umlaut 3.1 3.2 3.3 3.4

Probleme mit Längen: Kocks jüngerer /-Umlaut Phonetisch-phonologische Vorüberlegungen Restriktionen des i-Umlauts: Das Stellungskriterium Die Ultimalänge *t: Etymologische Herkunft und Umlautwirkung 1. Etymologisches *-/(-) 2. Kontraktionsprodukt aus germ. *-///(-) 3. Kontraktionsprodukt aus nwgerm. *-ija{-), *-iju{-) 4. Monophthongierungsprodukt aus nwgerm. *-iu 5. Monophthongierungsprodukt aus späturgerm. *-iwz/-iuz. 6. Assimilationsprodukt aus nwgerm. *-in 3.5 Umlauttransfer und Fernumlaut 3.6 Kombinierter ///- und w/if-Umlaut

192 196 199 205 207 207 208 210 216 219 223 226

ix

Inhaltsverzeichnis

3.7 Phonologische Interpretation des i-Umlauts: Der Initialimpuls durch Senkung *-«(-) > * - « ( - ) 229 Exkurs 2: Natürliche Phonologie und Markiertheitstheorie . 2 3 0 3.8 Zur zeitlichen und kontextuellen Einordnung des

f-Umlauts (Strukturtypen *falltz, *budiz, *dömidtz, *walidiz). 235

4. Der Γ-Umlaut

4.1 /-Umlaut in den Strukturtypen *gasti(z), *dömidö, Phonemisierung durch Schwächung 4 . 2 Γ-Umlaut durch suffixales *-ing-

(Strukturtypen *karling-, *lating-, *aduling-)

*bandilaz 237

241

5. Die sog. Sekundärumlaute 5.1 ^ / - U m l a u t 5 . 2 z'K-Umlaut 5.3 R-Umlaut (K-Palatalisierung) V

Schlußteil Resume und Ausblick

VI

243 244 247

249

Anhang 1. 2. 3. 4. 5.

Allgemeine und linguistische Abkürzungen 263 Symbole und Zeichen 264 Sigla und Abkürzungen von Werktiteln und Textausgaben . . . 2 6 5 Bibliographie 266 Wortindex 299

χ

Inhaltsverzeichnis

Tabellen Tab. 1: Kocks 3-Periodentheorie Tab. 2: Runische Evidenz für Vokalabschwächungen Tab. 3: z-Umlaut und Konsonantenpalatalisierung im Albanischen (Verbalflexion, 1.-3. Sg. Präsens) Tab. 4: Konsonantenpalatalisierung und ///-Umlaut: 4 Teilprozesse . . . . Tab. 5: Chronologisches Stufenschema zur Opposition *stadi versus *kunja, *kunju Tab. 6: Zur funktionalen Relevanz des /-Umlauts im Altnordischen . . . . Tab. 7: Zum Ursprung der Ultimalänge frühngerm. *t

6 157 171 173 180 205 206

I. Einleitung und Problemstellung „Die Untersuchung über die Vocallaute und Umlaute ist, wenigstens für mich, das allerschwerste in der Grammatik mit und wir werden noch lange nicht aufs Reine kommen. Ich will geben, was ich kann." (Jacob Grimm 1889: 110 in einem Brief an Georg Benecke)

Die vorliegende Studie befaßt sich eingehend mit der Problematik des nordgermanischen ///-Umlauts aus struktureller Perspektive.1 Sie versteht sich aber primär nicht als ein moderner Forschungsüberblick; hierzu liegen bereits umfassende Arbeiten vor, die immerhin bis in die 90-er Jahre hineinreichen. 2 Vielmehr setzt sie sich zum Ziel, die heute offensichtlich erlahmte Umlautdebatte kritisch wiederaufzunehmen und ihre Prämissen von Grund auf zu überprüfen. Intendiert ist eine strukturelle Gesamtanalyse des Phonemisierungsprozesses, losgelöst vom weithin akzeptierten Primat der Synkope. Es gilt, die scheinbar unumstößlichen Vorgaben der älteren Forschung zu hinterfragen und zugleich eine neue Perspektive der Umlautinterpretation für alle nordisch-westgermanischen Sprachen aufzuzeigen. Ohne Zweifel ist Axel Kock mit seinem gängigen 3-Periodenmodell nicht erst in jüngster Zeit einem Ikonoklasmus ausgesetzt. Ob sich mit Thomas S. Kuhn (1976) die Möglichkeit eines Paradigmenwechsels, also einer Ablösung bisheriger Erklärungsmuster durch ein adäquateres Grundmodell anbahnt, soll erst im Schlußteil erörtert werden. Meines Wissens wurde die radikale Forderung nach einem neuen sprachanalytischen Paradigma in diesem Zusammenhang nie gestellt. 1

2

In dieser Arbeit wird eine konsequente Differenzierung zwischen vokalischen und konsonantischen Umlautfaktoren i/t versus / vorgenommen (siehe dazu IV. 1). Demgemäß wird mit »'-Umlaut nur ein durch vokalische Werte i/t hervorgerufener Palatalumlaut bezeichnet; sein entsprechendes Gegenstück ist der/'-Umlaut. Diese Unterscheidung ist unabdingbar zur adäquaten Beurteilung der Strukturtypen Nom., Akk. Sg./Pl. *kunjal*kunju > an. kyn aufgrund der inhärenten samprasärawa-Problematik. Wie sich zeigen wird, kommt sie auch der strukturellen Gesamtanalyse zugute. Einen umfassenden Forschungsüberblick zum nordischen «//'-Umlaut (von den Anfängen an) bieten die Dissertation Antonsens (1961a) und die MA-Schrift Spurklands (1978). Zur Aufarbeitung der moderneren Wissenschaftsliteratur siehe Benediktsson (1982) und Widmark (1991).

2

Einleitung

Konkret werden verbindliche Phonemisierungskriterien und Sukzessionsregeln für die einzelnen ///-Umlaute (in verschiedenen Strukturtypen) zu erarbeiten sein. Naturnotwendig liegt der Hauptakzent dieser Arbeit auf dem primären Umlautvorgang und den sog. Sekundärumlauten,3 weniger auf später eintretenden Vorgängen wie Vokalharmonie und Vokalbalance.4 Es versteht sich jedoch von selbst, daß ein derartiger Ansatz zugleich Rechenschaft über den historischen Gesamtverlauf ablegen muß und daher nicht umhin kommt, alle Arten von Palatalumlaut - also beispielsweise auch den sog. R-Umlaut - zumindest im Streifflug zu sichten. Im Anschluß daran wäre eine umfassende Diskussion der Umlaut- und Brechungsthematik wünschenswert; diese würde aber den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Umlaut und Brechung sind Teil eines umwälzenden Sprachwandels, der seinen Ausgang in der Brakteatenzeit nimmt und das sprachliche System sodann in einer relativ kurzen Zeitspanne von Grund auf transformiert. Der Übergang von einer äußeren zu einer inneren Flexion veranschaulicht diese Umstrukturierung; um nur ein Beispiel zu nennen, wird der ältere, analytische Flexionstyp der Wurzelnomina Nom. Sg. *fötuz : Nom. PI. fötiz im Altnordischen durch den jüngeren, synthetischen Typus fotr : fetr ersetzt. Der iUmlaut dient hier zur Kennung des Nom., Akk. Plurals, wie dies auch in nhd. Mann ·. Männer, Fuß : Füße, Maus : Mäuse entsprechend ne. man : men, foot : feet, mouse : mice der Fall ist. Im Althochdeutschen wird die Pluralmarkierung durch /-Umlaut über die lautgesetzliche Domäne hinaus generalisiert.5 In ähnlicher Weise wird auch der Konjunktiv (ursprüngliche Optativbildung auf *-/-) durch /-Umlaut gekennzeichnet; vgl. an. urdu : yrdi entsprechend nhd. wurden : würden (zum Inf. an. veröa s nhd. werden). Dieser morphologische Aspekt des /-Umlauts und seine Relevanz für die Phonemisierung wurden besonders von Ingerid Dal (1967) hervorgehoben.6 Der frühen Forschung widerstrebte es, dem Umlaut einen derart hohen Stellenwert in funktionaler Sicht einzuräumen. Demgemäß argumentiert

3

D e r T e r m i n u s „Primärumlaut" soll zum Ausdruck bringen, daß es sich u m eine durchgreifende Stufe des nordischen »'//-Umlauts handelt. Die Unterscheidung zwischen Primärund Sekundärumlauten,

die auf d e m terminologischen

Inventar der J u n g g r a m m a t i k e r

gründet, m u ß jedoch weitestgehend relativiert w e r d e n ; siehe Teil I V . 5 . 4

D a m i t wird sogleich eine Gegenposition zu den Ansätzen Bengt Hesselmans ( 1 9 4 8 I) und G u n W i d m a r k s ( 1 9 9 1 ) bezogen. W i e sich zeigen soll, ist es nicht sinnvoll, einen fließenden Übergang v o m i'-Umlaut zu späteren Regelungen v o n V o k a l h a r m o n i e (und Vokalbalance) einzukalkulieren; siehe II.8.

5

Siehe dazu P r o k o s c h 1 9 2 1 : 4 7 3 sq. (mit weiterer L i t e r a t u r ) .

6

Z u einer integralen sprachlichen W e r t u n g des U m l a u t s siehe im weiteren L i b e r m a n ( 1 9 9 1 ) .

Einleitung

3

Georg Benecke (1813), daß umgelautete Gen. und Dat. Sg.-Formen wie hende im Althochdeutschen ein umgelautetes (verlorenes) Grundwort voraussetzen, also nicht unmittelbar zu ahd. hant (got. handus) zu stellen sind.7 In einem Kommentar dazu betont Jacob Grimm (1813: 174) aber höchst anschaulich, welch massiver sprachlicher Eingriff seitens des Umlauts möglich ist: „Der Umlaut greift in unsere Sprache, in ihr innerstes Mark, so sehr ein, daß man ihm auch diesen Einfluß im voraus zuzusprechen geneigt wird [sc. den Wurzelvokal anzutasten; M.S.]." In dieser Aussage könnte der moderne Linguist zugleich einen Versuch erblicken, die Neubildung von Phonemen bildhaft durch „Trübung" zu beschreiben. 8 Tatsächlich produziert der ///-Umlaut der Velarvokale eine ganze Reihe neuer Phoneme durch systematische Einführung des distinktiven Merkmals [ + vorn]. Die Ausdifferenzierung des Stammsilbenvokalismus läßt sich anhand folgender Beispiele aus dem Altnordischen veranschaulichen: a > ce > e (*gastiz > gestr m. „Gast"), ä > Λ > ώ (*käti, *-ϊη > kceti f. „Freude"), ο > 0 (Konj. Prät. 3. Sg. *poledJ > polÖi „würde dulden"), 0 > 0 > ά (*dömija > demi n. „Beispiel"), u > y (*hulpt, *-in > hylli f. „Huld"), ü > y > y (*müsiz > myss f. „Mäuse"), au > ey (*hlaupijan > hleypa „zum Laufen bringen"), iu > y > y (Ind. Präs. 2. Sg. *briutiz > brytr „brichst"), eo > jo > 0 > ό (Konj. Prät. 3. Sg. *hleopi > hl6pi „würde laufen"). Der «-Umlaut steuert ebenfalls zur Bildung neuer Phoneme bei: a > ρ {*landu > Ignd n. „Länder") und ä > φ (*rädu > rgÖ n. „Ratschläge").9 Interessant ist, daß das Umlautprodukt 0 verschiedenen Ursprungs sein kann; demgemäß ist an. S0kkva die lautliche Entsprechung zu nhd. sinken (intrans.) und senken (trans.). Unter anderem resultiert das Phonem 0 aus einem kombinierten i/j- und κ/if-Umlaut von stedvir m. „Beruhiger" (siehe IV.3.6). Die Bezeichnung „nordgermanischer ///-Umlaut" legt sogleich liche thematische Eingrenzung nahe; der sog. ältere /-Umlaut e dem Rahmen dieser Untersuchung heraus. Er verdankt seinen Umstand, daß er schon verhältnismäßig früh zur Durchführung

eine wesent> i fällt aus Namen dem kommt.

7

Dazu bemerkt Grimm (1813: 174) treffend: „Geumlautete Casus sind aber gerade so Abweichung von der Wurzel, wie andere aus dieser geleitete Bildungen; der Grund warum Männer und männlich den reinen Laut von Mann ablegen, ist ganz derselbe."

8

In einer Note zu obigem Zitat spezifiziert Grimm ausdrücklich, daß er sich auf den „trüben" Umlaut (d.h. i'-Umlaut) bezieht, „wo a in & (e), e in ie, ο in 6, u in δ übergehen" (ebd.).

9

Zu den besonderen if-Umlauten siehe AislEb, §§ 7 2 - 7 4 ; ferner Brosnahan/Turner 1958: 120.

4

Einleitung

Immerhin stehen altrunische Belege bereit, die diesen Übergang dokumentieren; vgl. nur die //^-Ableitung £>irbijaR (Barmen; 4 ) zum Adj. nwgerm. *perbaz

- an. pjarfr.10

Entscheidender Unterschied zwischen den beiden /-

Umlauten ist aber weniger der zeitliche Kontext, als vielmehr das Resultat. W ä h r e n d der spezifisch nordische ///-Umlaut der Velarvokale eine ganze Reihe neuer Phoneme mit dem additiven Merkmal [ + vorn] bildet und somit wesenhaft als Färbungsprozeß charakterisierbar ist, führt der ältere /-Umlaut „nur" zu einer Umverteilung von haupttonigem */, *e. Das resultierende Umlautprodukt aus *e vor /, j der Folgesilbe schließt sich dem bereits bestehenden Phonem */i/ des Vokalsystems a n . u In diametralem Gegensatz zum nordischen ///-Umlaut ist dieser Vorgang nicht primär als Färbung in horizontaler Richtung (front mutation),

sondern als Hebung beschreibbar. 1 2 Der

ältere /-Umlaut ist dem ii-Umlaut / > e (nebst u > o) auf vertikaler Ebene entgegengerichtet. 1 3 T r o t z intensiver Forschung stellt der nordische ///-Umlaut noch heute ein ebenso heiß debattiertes wie ungelöstes Problem dar. Junggrammatiker, Generativisten und Strukturalisten haben sich daran gleichermaßen erprobt. Dabei geht es keineswegs nur um Präzisierungen und Detailfragen. Das ungeklärte Grundproblem betrifft in erster Linie die historische Schichtung, d.h. die interne Chronologie der Einzelprozesse. Diese Frage steht heute ebenso im Raum wie zu Kocks Zeit. Ihre Klärung ist zugleich unabdingbare Voraussetzung für die richtige Beurteilung umlautloser Formen wie talöa, valöa *talidö,

*walidö nebst staö < *stadi


i v o r i, j der Folgesilbe eine Färbungsintensivierung.

13

Vgl. Riad 1 9 8 8 : 1 1 . D a h e r spricht W i d m a r k von „sänkningsomljud"; siehe 1 9 9 1 :

14

D a die Realität des iR-Umlauts in Teil I V . 5 . 2 anerkannt wird, umlautlosen N o m . Sg.

stadr < *stadiR natürlich

des

sehr eingeschränkt; vgl. Bibire 1 9 7 5 : 1 8 9 ;

Benediktsson 1 9 8 2 : 3 5 . Als potentielle A n a l o g i e f o r m wird g e n d e A r g u m e n t a t i o n einbezogen.

102-117.

ist die Relevanz

stadr

d a h e r nicht in die fol-

Einleitung

5

Es handelt sich um ein e b e n s o vielbeachtetes wie umstrittenes n o r d i s c h e s Lautgesetz. 1 5 Für die adäquate Beurteilung des Materials ist mit Axel K o c k ( 1 8 9 3 - 9 4 : 4 4 2 ) das Faktum maßgebend, „dass sich in den von Larsson [ 1 8 9 1 ] behandelten ältesten isl. handschriften auch nicht ein einziges beispiel für irgend eine /-umgelautete prät.- oder part.-prät.-form dieser verba finden lässt (...). M a n findet ausschliesslich formen wie beria : barpa : barpr, duelia : dualpa : dualet, fremia : frampa : framepr, hylia : hulpa : hul{e)pr etc. etc." Die F o r d e r u n g nach verbindlichen, allgemeingültigen Regeln zur Beschreibung des spezifisch altnordischen (altskandinavischen) G r u n d m u s t e r s umgelauteter und nicht-umgelauteter F o r m e n fand in K o c k s 3 - P e r i o d e n m o d e l l zweifellos seinen eindrucksvollsten Niederschlag. K o c k versuchte das Problem dadurch zu lösen, daß er drei getrennte Perioden ansetzte: (1.) älterer /-Umlaut = 1. Umlautperiode: die frühzeitig eintre-

gest

tende /-Synkope im Akk. Sg. „urteilte" (
an.

dämdi, velöi) versus Ind. Prät. *dömide, *walide (> an. dämdi, valÖi). Kock zufolge müßte der /-Umlaut des schwersilbigen Typus an. d0mdi (< *dömidi) ein älterer /-Umlaut sein (bedingt durch /-Synkope), der des leichtsilbigen Gegenstücks an. velÖi (< *walidt) aber ein jüngerer /-Umlaut (bedingt durch eine verkürzte Ultima *-t). 35 Eine adäquate Beurteilung des Umlautvorgangs darf sich jedoch nicht auf atomistische Lautübergänge gründen, die wie einzelne mathematische Formeln abrufbar sind. Bereits im Jahr 1 8 8 5 veröffentlichte Hugo Schuchardt eine kurze Abhandlung, in der er massive Kritik an der junggrammatischen Operation mit isolierten Lautgesetzen übte:

33

Z u diesem traditionellen Ansatz siehe Kock 1 9 1 1 - 1 6 : 6 2 ; ferner W i d m a r k 1 9 9 1 :

126:

„Den första fonematisering s o m leder fram tili nya fonem, äger r u m dä /' synkoperas i längstnviga ord. S o m det tidigaste belägget brukar anföras barutR = brytr pä Björketorpsstenen (...)." 34

Vgl. auch die A r g u m e n t a t i o n Riads 1 9 8 8 : 1 8 : „The /'-umlaut is a little bit m o r e sensitive t o stress than syncope. T h e p r o o f o f this is t h e very fact that we d o have umlaut in w o r d s with long stems. H e n c e , i-umlaut begins t o w o r k a little earlier than syncope. [...] In t h e initial stages, i-umlaut is 'ahead' o f syncope."

35

In diesem Z u s a m m e n h a n g

muß auch die F r a g e nach einem F e r n u m l a u t

aufgeworfen

werden. Die F o r d e r u n g nach einheitlicher Beurteilung des /'-Umlauts im Konj. Prät. an. dämdi,

veldi neben gcefi, skyti (zu den ; a « - V e r b a detna,

skjöta)

spricht v o n vornherein für die Möglichkeit eines solchen Fernwirkungsprozesses;

siehe dazu Teil I V . 3 . 5 .

velja und den starken V e r b a

gefa,

14

Einleitung „Welchen Sinn haben alle die tausende etymologischer und morphologischer Correspondenzen, die tausende von Lautgesetzen, so lange sie isolirt bleiben, so lange sie nicht in höhere Ordnungen aufgelöst werden? [...] in dem Einzelnen müssen wir das Allgemeine finden lernen, und demnach ist auch die Erkenntnis einer Thatsache welche das ganze Sprachleben beherrscht, von weit grösserer Wichtigkeit als die Erkenntniss irgend welcher besonderer Erscheinungsformen." (Schuchardt 1 8 8 5 : 3 6 )

Der Synkopezentrismus der älteren Umlautforschung dürfte ein anschauliches Beispiel für die atomistische Denkweise der Junggrammatiker sein. Anläßlich einer Besprechung Rooths (1935) betont Björn Collinder die Notwendigkeit, das Wort als phonetisch-psychische Einheit aufzufassen: „[...] ein beliebiges W o r t besteht nicht nur aus den verschiedenen Abschnitten, in die es mechanisch [...] zerlegt werden kann, sondern es gibt ausser diesen Teilen noch etwas, das man nach Goethe füglich das geistige Band nennen könnte." (Collinder 1 9 3 9 : 6 6 )

Hierauf aufbauend, kann der /-Umlaut in struktureller Sicht als regressiver Transfer des Merkmals [ + vorn] definiert werden. Diese Sichtweise kommt der Grundanschauung eines sprachregulierenden Kompensationsprozesses entgegen; die akzentbedingte Verwitterung des Endsilbenvokalismus wird durch simultanen Ausbau des Stammsilbenvokalismus phonologisch aufgefangen. Die Vokale der Stammsilben absorbieren die entscheidende Information der Folgesilbenvokale. Dieser Verlagerungsprozeß sprachlicher Information beugt einer Unterdeterminierung des phonologischen Systems vor. Darüber hinaus ist die Sprachstruktur mit ihrer internen Vernetzung verschiedener Strukturtypen von äußerster Wichtigkeit für den Gesamtverlauf des ///-Umlauts. Gibt es womöglich bestimmte Strukturen, die auf die Einzelabläufe einwirken? Demgemäß deutet Trygve Skomedal (1980) die Notwendigkeit an, die Interrelation von /- und /-Umlaut auf etwaigen Zwischenstufen des Sprachsystems zu berücksichtigen; dies setzt freilich eine adäquate Beurteilung der samprasärana-Problematik voraus, d.h. die Möglichkeit einer Vokalisierung des Halbvokals / > / (siehe IV.2.1). Konkret wird zu untersuchen sein, wie sich die Strukturtypen *gasti, *stadi und *kunja, *kunju in ihrer weiteren Entwicklung zueinander verhalten. Möglicherweise liegt hier der Schlüssel zur Erklärung des restringierten /-Umlauts. Synchronic und Diachronie interagieren und sind gleichermaßen relevant. 36 In dieser Erkenntnis liegt der entscheidende (leider oftmals verkannte) Vorzug eines strukturellen Interpretationsansatzes. Die integrale Betrachtung führt von der rein phonetischen Ebene über das Wort als sprachlicher Einheit zur Sprache als übergeordnetem Ganzen.

36

Vgl. die Ausgangsposition Widmarks 1 9 9 1 : 9 3 : „I anslutning tili klassisk strukturalism vill jag se omljudet mera i ett synkront perspektiv som en serie successive skeenden."

Einleitung

15

Damit sind die Grundlinien für die folgende Gesamtanalyse des ///-Umlauts vorgezeichnet. Die inhaltliche Gliederung und Progression der Arbeit deutete sich bereits an. Den Hauptteil der Untersuchung bilden drei Abschnitte: II. Umlauttheorie und Strukturalismus; III. Runische Evidenz; IV. Umlautanalyse. Teil II gibt einen forschungsgeschichtlichen Uberblick unter besonderer Berücksichtigung der klassischen Rückumlauttheorien. Die anstehenden Fragen sollen hier bereits aus struktureller Perspektive so weit wie möglich eingegrenzt werden. In Teil III wird die runische Evidenz zum ///-Umlaut (sei sie direkter oder indirekter Art) ausgewertet. Dies betrifft zunächst die (nicht unbedingt aussagekräftige) Stentoften-Sequenz -gestumR als unmittelbares Zeugnis des /-Umlauts von /a/, dann aber vor allem diverse Interimsformen mit graphischem Niederschlag der Vokalreduktion. Der interpretatorische Grundansatz zur Auswertung des runischen Belegmaterials wird in III.3.3 vorgeführt. Die Abschnitte II und III dienen als Vorarbeiten für die eigentliche Umlautanalyse (Teil IV). Ausgangsbasis der Analyse ist eine strikte Scheidung zwischen /- und /-Umlaut, die sprachhistorisch zu rechtfertigen ist (IV. 1). Notwendigerweise werden /-, t- und ί-Umlaut zunächst einzeln interpretiert, um hernach unter Heranziehung von Phonemisierungskriterien in den Gesamtverlauf eingegliedert zu werden (IV.2-4). Es folgt ein kurzer Abschnitt über die sog. Sekundärumlaute (IV.5). Die vorliegende Arbeit unterscheidet sich in ihrer Akzentsetzung von ihren Vorläufern. Die hier vorgenommene Sortierung der Problemfälle ist grundverschieden von der Kocks (und seiner Anhänger). Während der eigentliche f-Umlaut in Abschnitt IV.4 nur kurz abgehandelt wird, konzentriert sich das Forschungsinteresse auf /-Umlaut und f-Umlaut (siehe IV.2-3). Dies hat mehrere Gründe. Zunächst zum /-Umlaut: In der Folge Kocks wurde der /-Umlaut durchaus stiefmütterlich behandelt. Kock integriert nur den Typus velja < *waljan (mit bewahrtem /) in sein Periodensystem; den Typus kyrt < *kunja hingegen klammert er aufgrund von Einordnungsschwierigkeiten gänzlich aus. Zur adäquaten Beurteilung dieses Strukturtypus wird seine exakte Weiterentwicklung auf etwaigen Zwischenstufen zu untersuchen sein; dies schließt die Möglichkeit einer samprasärana-Operation mit weiteren phonologischen Auswirkungen ein (IV.2.1). 37 In Anlehnung an Skomedal wurde bereits angedeutet, daß der Typus *kunja eine bestimmende Rolle im Gesamtgeschehen

37

Anders zu beurteilen ist die Phonemisierung des / - U m l a u t s im T y p u s siehe dazu I V . 2 . 3 .

veli(r) < *ivalje{z);

16

Einleitung

des ///-Umlauts einnimmt; höchstwahrscheinlich ist er für die Restriktionen des Γ-Umlauts in

allen nordisch-westgermanischen Sprachen verantwortlich

(siehe IV.2.2). 38 Ein ebenso augenfälliges Desiderat besteht beim ί-Umlaut. Gemeinhin wird er durch Kocks maßgeblichen Einfluß zu einer Spielart des i-Umlauts - in Form von jüngerem /-Umlaut - degradiert (IV.3.1). Phonetisch-phonologische Überlegungen zeigen, daß diese Einschätzung nicht richtig sein kann (IV.3.2). Zur unvoreingenommenen Beurteilung dieses Umlauts ist eine umfassende Analyse einzelner Strukturtypen mit */ in Binnen- und Endsilben nötig. Es ist zu erwarten, daß dieser Teil der Untersuchung ganz neue Ergebnisse zutage fördert. Nach Erarbeitung eines Stellungskriteriums (Binnenposition versus Ultimaposition) in Abschnitt IV.3.3 gilt das Hauptaugenmerk der Ultimalänge *t und ihrem Umlautverhalten. Besonderes Gewicht wird auf die systematische Erfassung aller möglichen Kontexte mit *-/(-) gelegt, sei dieser Langvokal etymologisch begründet oder erst sekundär entwickelt (IV.3.4). Nur eine derartige Gesamtschau eröffnet die Möglichkeit einer ebenso umfassenden wie geschlossenen Auswertung. Die ältere Forschung erging sich häufig in isolierten Betrachtungen einzelner Formgruppen; anschauliches Beispiel hierfür ist der Dat. Sg. der «-Stämme

(an. vendi, syni < *wandiu, *suniu). leti < *latt(n) staÖ < *stadi Umlaut zeigt; eine Gleichsetzung des Umlautverhal-

Von vornherein ist auffällig, daß der leichtsilbige m-Typus gegenüber

tens beider Gruppen empfielt sich daher nicht (IV.3.7). Im weiteren wird auch die Möglichkeit eines translatorischen Fernumlauts in Strukturtypen wie

velöi < *u/alidi diskutiert (IV.3.5). Soweit möglich, sollen exakte zeitliche Einordnungskriterien für die einzelnen ///'-Umlaute gegeben werden. Bei den sog. Sekundärumlauten, speziell beim g//&/-Umlaut und iR-Umlaut, wird wiederum zu fragen sein, ob die Kocksche Einstufung adäquat ist, oder ob sich eine zwanglosere Erklärung anbietet (IV.5). Insgesamt wird eine stimmige Gesamtanalyse des Phonemisierungsverlaufs angestrebt, die so viele Irregularitäten und Anomalien wie möglich beseitigt. Erklärtes Ziel und Leitprinzip der Interpretation sind innere Geschlossenheit und Stringenz.

38

Am Rande soll die Frage gestreift werden, ob dem Strukturtypus *kunja diese dominierende Rolle (unter Hinzutreten eines Zusatzfaktors x) auch in den westgermanischen Sprachen zukommt.

II. Umlauttheorie und Strukturalismus II. 1 Grundlagen der Phonologie: Jakobson 1931 Die Idee der strukturellen Phonologie, wie sie in der Prager Schule entwickelt wurde, geht wesentlich auf Saussures Dichotomie von langue und parole zurück; im terminologischen System Trubetzkoys erscheint sie als „Sprachgebilde" und „Sprechakt".1 Diese Differenzierung ermöglichte die Ausbildung der Phonologie als eigenständiger Disziplin, die fortan der Phonetik selbstbewußt, teils sogar militant gegenübertritt. Die Prager Phonologen waren zunächst bestrebt, diese beiden Ebenen so sorgfältig wie möglich voneinander abzugrenzen. 2 Bei Trubetzkoy heißt es: „Die Sprachlaute, welche die Phonetik zu untersuchen hat, besitzen eine grosse Zahl von akustischen und artikulatorischen Eigenschaften, die für den Phonetiker alle wichtig sind [...]. Für den Phonologen sind aber die meisten dieser Eigenschaften ganz unwesentlich, da sie nicht als Unterscheidungsmale der Wörter fungieren. Daher decken sich die Laute des Phonetikers nicht mit den Einheiten des Phonologen. [...] Der Phonologe hat am Laut nur dasjenige ins Auge zu fassen, was eine bestimmte Funktion im Sprachgebilde erfüllt." (Trubetzkoy 1939: 14)

Im Cercle Linguistique de Prague wird die Phonologie kurz und bündig als der Teil der Linguistik gefaßt, welcher die lautlichen Phänomene in bezug auf ihre sprachliche Funktion definiert. Mithin handelt es sich um eine Grundlagendisziplin struktureller Sprachforschung. Dies gilt zunächst im Hinblick auf die Definition des Phonems als Bündel distinktiver Merkmale, d.h. als abstrakte phonologische Einheit (unite abstraite) oder als Lautvorstellung, sodann auch für die Zusammenstellung eines universalen phonologischen

1

Vgl. Trubetzkoy 1939; ferner Hjelmslev 1942. Die Strukturalisten, die sich gemeinhin auf Saussures Cours de linguistique genitale als theoretischer Grundlage beriefen, setzten auch andere Theorien fort, so die Lehre de Courtenays und - im Falle Trubetzkoys - die Sprachfunktionslehre Bühlers; vgl. dazu Durovic 1978: 39.

2

Hjelmslev (1958: 103) übt Kritik an der Vieldeutigkeit des Terminus „Phonologie". Im Laufe seiner Geschichte sei dieser Begriff von verschiedenen Schulrichtungen und Forschern (um nur Saussure und seinen Schüler Grammont zu nennen) mit den verschiedensten Bedeutungen überladen und keineswegs konsequent von der „Phonetik" abgegrenzt worden.

Umlauttheorie und Strukturalismus

18

Merkmalinventars zur Beschreibung aller Sprachen dieser Welt (siehe Jakobson/Fant/Halle 1 9 5 2 ) . Das Streben nach Grenzziehung und Selbstdefinition dieser jungen Wissenschaft leitet sich in erster Linie aus ihrer neuen Betrachtungsweise her; dies manifestierte sich nicht zuletzt in terminologischen Bemühungen wie dem Projet de terminologie phonologique standardisee (1931 ).3 Im Brennpunkt steht die Ausarbeitung des Phonembegriffs als kleinster phonologischen Einheit. 4 Auch der Hauptstrom der amerikanischen Phonologie, deren Schulrichtung Phonemics genannt wird, teilt diese Grundideen, wenngleich sie sich in methodischen und theoretischen Fragen von der Prager Schule abhebt und bald in verschiedene Richtungen auffächert. 5 In seinem Beitrag „Prinzipien der historischen Phonologie" formuliert Roman Jakobson, ein Mitglied des Prager Kreises um Trubetzkoy, den Grundgedanken einer Theorie zum phonologischen Lautwandel. 6 Er spricht von „phonologischer Mutation" (ausgedrückt durch die Formel Α : Β > A r : Β,). Mit Jakobson sind zwei Arten phonologischen Wandels zu unterscheiden: „[...] die Beseitigung eines phonologischen Unterschieds kann als Entphonologisierung und die Entstehung eines phonologischen Unterschieds als Phonologisierung bezeichnet werden." (Jakobson 1931: 250)

Die Phonologisierung wird dabei wie folgt definiert: „ P h o n o l o g i s i e r u n g : zwischen Α und Β gibt es keinen phonologischen Unterschied, wogegen zwischen A, und B[ ein solcher besteht. [...] Was die Beziehung zwischen Α und Β anbelangt, so halten Polivanov und van Ginneken das Vorhandensein einer außerphonologischen [= subphonematischen; M.S.] Variation für eine unentbehrliche Vorraussetzung einer Phonologisierung. Tatsächlich ist das Identitätsverhältnis zwischen Α und Β anscheinend ausgeschlossen. Dementsprechend ist phonetisch Aj = A, Β, = B. Meistens sind Α und Β kombinatorische Varianten." (Jakobson 1931: 2 5 2 sq.)

3

Siehe Travaux

4

Zum phoneme heißt es: „Unite phonologique non susceptible d'etre dissociee en unites phonologiques plus petites et plus simples" (ebd., 311). Zum klassisch-strukturellen Verständnis des Phonembegriffs siehe Trubetzkoy 1939: v.a. 33-36.

5

Grundsätzlich ist die Prager Schule um Trubetzkoy am funktionalen Aspekt der Phonemanalyse und am Prinzip von Korrelation und Opposition ausgerichtet, die amerikanische Richtung hingegen mehr an distributionellen Kriterien. Zur ersten Orientierung über die amerikanische Phonologie siehe Koekkoek 1958: 4 2 Anm. 2 und 5 0 Anm. 1.

6

du Cercle linguistique

de Prague 4, 3 0 9 - 3 2 6 .

Siehe Jakobson 1931: 250. Er weist darauf hin, daß die von Polivanov statt „Phonologisierung" und „Entphonologisierung" gebrauchten Termini „Divergenz" und „Konvergenz" mißverständlich sind, da sie mit anderen Vorstellungen verknüpft werden. So bezeichne Konvergenz im linguistischen Sinne „ähnliche Erscheinungen in der selbständigen Entwicklung verschiedener Sprachen" (ebd., Anm. 5).

Grundlagen der Phonologie

19

Damit formuliert Jakobson eine Phonologisierungstheorie, derzufolge Phonemvarianten in selbständige Phoneme umgebildet werden. Dieser Erklärungsansatz ist auch für die Phonologisierung (Phonemisierung) des Umlauts relevant; er wird in der Folgezeit von W . Freeman Twaddell und anderen Strukturalisten auf den althochdeutschen und nordgermanischen /-Umlaut angewendet (siehe II.2). Jakobson bringt aber noch einen weiteren Grundaspekt der Phonologisierung zum Ausdruck: „Falls ein Lautwandel sich im phonologischen System kundtut, kann er als Realisation einer phonologischen Mutation oder eines Bündels phonologischer Mutationen angesehen werden. W i r sprechen von Mutation, um den sprunghaften Charakter der phonologischen Veränderungen hervorzuheben." (Jakobson 1931: 2 4 9 )

Die Grundverschiedenheit phonetischer und phonologischer Prozesse wird anhand des Südgroßrussischen illustriert: „Im Südgroßrussischen ist das unbetonte ο mit dem α zusammengeschmolzen. Vielleicht waren hier Zwischenstufen vorhanden: ο entwickelte sich zu einem sehr offenen oVokal, dann zu einem a° und endlich allmählich die Rundung verlierend zu a. Aber vom phonologischen Standpunkt sind hier nur zwei Stufen vorhanden: 1. ο (oa, a°) unterscheidet sich von a, es sind zwei verschiedene Phoneme; 2. der Reflex von ο unterscheidet sich nicht mehr von a, die beiden Phoneme sind in ein einziges zusammengeschmolzen; tertium non datur." (Jakobson 1931: 2 5 0 )

Der sprunghafte Charakter phonologischer Prozesse ist besonders hervorzuheben. Im Gegensatz dazu kann der phonetische, d.h. subphonematische, Prozeß als graduell und kontinuierlich betrachtet werden. 7 Nur auf phonologischer Ebene ist abrupter Lautwandel vorauszusetzen. Dies erweist sich als Wesensunterschied zwischen phonetischen und phonologischen Vorgängen. Mit Steblin-Kamenskij: ,,[...] only subphonemic change, that is, change in allophonic variation of a phoneme, can be gradual (though it would seem that even in this case the necessity of gradualness can be questioned), while phonemic change is necessarily a jump from one discrete entity to another, in other words - a phoneme at no period of its existence can be something intermediate between two phonemes." (Steblin-Kamenskij 1965: 3 7 0 )

7

In bezug auf den altnordischen i-Umlaut vgl. Sommerfeit 1927: 4 3 (mit Literatur). Auch Leumann (1958: 123) betont den graduellen Aspekt der Allophonbildung: „die Phonemvariante nähert sich stufenweise in Verfolg der die akustische Perception approximativ wiedergebenden Artikulation, einem anderen schon bestehenden Phonem bis zum Zusammenfall." Vgl. im weiteren II.3.

20

Umlauttheorie und Strukturalismus

Auf phonologischer Ebene muß es daher einen entscheidenden Moment geben, in dem die Phonembildung stattfindet. 8 Überdies konstatiert Jakobson ( 1 9 3 1 : 2 6 1 ) in Anlehnung an Evgenij D. Polivanov, daß eine Phonologisierung stets von anderen Neuerungen im Sprachsystem begleitet wird. Dieser wichtige Aspekt des phonologischen Ansatzes wurde von vielen Kritikern übersehen. 9 Die strukturbezogene Betrachtungsweise führt weg von den atomisierenden Lautgesetzen der Jungrammatikcr; statt dessen betrachtet sie Sprache als ganzheitliches System. Insgesamt hat sich mehr und mehr die Erkenntnis durchgesetzt, daß Phonetik und Phonologie durchaus komplementär zu verstehen sind. Zugleich entschärft sich damit das ursprüngliche Spannungsverhältnis der beiden Disziplinen.

II.2 Die Formulierung des strukturellen Grundansatzes: Twaddell 1938 Beginnend mit Jacob Grimm, hat der Hauptstrom der Forschung - von den Junggrammatikern bis zu den Strukturalisten - einen kausalen Zusammenhang zwischen Endsilbenverfall und Umlaut in den nordisch-westgermanischen Sprachen gesehen. 1 Nur wenige Forscher stellten diesen Nexus grundsätzlich in Abrede. 2 Es dauerte indes lange, bis sich die strukturelle Anschauung eines biplanen Prozesses in der Umlautforschung durchsetzte. Dieser 2Phasenverlauf mit zunächst allophonischer, dann erst phonematischer Variation gilt heute zweifellos als ein Axiom der historischen Phonologie. Exponenten diese Ansatzes sind unter anderem Elmer H. Antonsen, Hreinn Benediktsson und Herbert Penzl. Im skandinavischen Raum vertreten Alf Sommerfeit und Paul Diderichsen aber keineswegs die Communis opinio ihrer Zeit, wenn sie die Notwendigkeit einer differenziert phonetisch-phonologischen

8

Damit ist allerdings noch nichts darüber ausgesagt, was diesen Moment im Einzelfall ausmacht und den nötigen Anstoß zur Phonologisierung gibt. Zum nordgermanischen i/jUmlaut siehe II.5-8.

9

Vgl. Erdmanns ( 1 9 7 2 ) Kritik der strukturellen Erklärungsversuche zum nordgermanischen «-Umlaut; siehe dazu II. 6.

1

Siehe nur Grimm 1 8 4 0 : 34; Brenner 1 8 8 2 : 55; Wilmanns 1 9 1 1 I: § 2 1 2 . 6 ; van Hamel 1 9 2 8 : 8 sqq.; Brinkmann 1 9 3 1 : 8 1 sq.; ferner Szulc 1 9 6 4 : 8 1 . -NB.·. Anhänger der sog. Moullierungstheorie wie Sievers, Scherer und Rooth sehen den Anstoß zur Durchführung des «-Umlauts nicht unmittelbar in der Endsilbenreduktion, sondern in der Depalatalisierung der vermittelnden Konsonanten; siehe u.a. Wilmanns 1 9 1 1 I: § 2 1 2 . 1 ; ferner unter Vergleichung des Livischen Posti 1 9 4 6 - 4 8 : 47, 56.

2

Siehe insbesondere Hesselman 1 9 4 5 und Jansson 1 9 5 1 zum nordischen i-Umlaut.

21

Der strukturelle Grundansatz

Betrachtungsweise hervorheben. 3 Im Zusammenhang mit dem skandinavischen Akzent erklärt Diderichsen: „Fra et fonologisk Synspunkt er det af Vigtighed at fastholde, at Omlyd (og Brydning) (selvom de paagaeldende Vokalfarvninger er blevet fonetisk realiseret paa et tidligere Stadium) ferst er blevet diakritisk relevante efter Synkopen, idet den bevarede omlydsvirkende Vokal var en tydelig kombinatorisk Betingelse for de s e k u n d e r e Vokalers Realisation. Foran bevaret (opr. lang) Infortisvokal indtraadte Neutralisation, idet man her ikke künde have distinktiv Modsaetning mellom Omlydsvokal og Primservokal." (Diderichsen 1 9 3 8 : 6)

Aus heutiger Sicht konstatiert Hreinn Benediktsson: „As regards umlaut, a distinction is commonly made between two stages [...]: the phonetic umlaut, which consisted in the development o f front allophones o f the nonfront vowels before an i (or /) o f the following syllable (or o f rounded allophones o f the unrounded vowels before an μ or a w);

and the phonemic umlaut, consisting in the

phonemicization, through the reduction and/or loss o f unstressed vowels, of the subphonemic distinctions produced during the period o f phonetic umlaut. W h i l e the phonetic umlaut would represent the real phonetic change and thus be the umlaut proper, the traditional chronology o f umlaut would in fact apply to the phonemic umlaut." (Benediktsson 1 9 7 0 : 9 4 sq.)

Das Erscheinen eines Artikels von W . Freeman Twaddell im Jahre 1 9 3 8 markierte den eigentlichen Wendepunkt in der Umlautforschung.

Twaddell

untersuchte die frühen Stadien des althochdeutschen /-Umlauts aus phonologischer Sicht. Er nahm an, daß dem historischen /-Umlaut ein allophonischer, d.h. nicht-distinktiver, Umlaut vorausgegangen sei. Das / / / - E l e m e n t der Folgesilbe führe zunächst auf phonetischer Ebene zur Bildung einer Reihe von Stellungsvarianten der Velarvokale, die orthographisch aber noch nicht relevant seien. Diese Entstehungsphase des subphonematischen Umlauts geht nach struktureller Auffassung bis weit in die Präsynkopezeit, d.h. konkret bis ins Urgermanische, zurück. 4 Twaddell argumentiert, daß sich Stellungsvarianten durch Schwund oder Schwawerdung des konditionierenden Faktors zu eigenstän-

3

Siehe Sommerfeit 1 9 3 4 : 3 5 6 - 3 6 0 ; Diderichsen 1 9 3 8 : 6; ders. 1 9 4 7 : 7 5 ; weiterhin in neuerer Zeit Widmark 1 9 9 1 : 9 3 ; Elmevik 1 9 9 3 : 8 0 sq. Selbst Hesselman, der einen N e x u s von Umlaut und Reduktion sonst abstreitet, macht folgendes geltend: „Pä dette [tidiga] Stadium har omljudet endast fonetisk betydelse, men har ingen spräklig funktion. En spräklig funktion eller ett spräkligt värde fär det först, när [...] detta utal blir fixerat som normaluttal [...]. Verkligt inlemmat i spräkets värdesystem blir dock omljudet först när det ensamt för sig börjar användas i ordskillnadens tjänst. Dette inträffar först efter Synkopen, när den nya vokalen fär fungera pä egen hand utan stöd av vokalen i ändelsen" ( 1 9 4 5 : 9 sq.).

4

Vgl. Penzl 1 9 5 1 : 4 ; ders. 1 9 8 2 : 1 7 7 und Dyvik 1 9 7 3 : 1 5 2 ; indes kritisch hierzu Voyles 1991: 167.

22

Umlauttheorie und Strukturalismus

digen Phonemen entwickeln. Damit ist der Grundgedanke von Twaddells Umlauttheorie umrissen.5 Mit Twaddell: „In the earlier phase, as long as -i [that is: i, Ϊ, ;'] remained distinct from other suffixal vowels, then there would be no need, indeed no occasion, to record the phonetic difference between [y] and [u]. For, in that phase, the difference between [y] and [u] was not the significant difference; it was a secondary difference, dependent upon and induced by the difference between -i and -a. As soon as the difference between -i and -a has ceased to be significant, then (and not until then) does the difference between [y] and [u] become a significant difference, which must be represented orthographically." (Twaddell 1938: 179)

Twaddell selbst beschreibt diese beiden Phasen, ohne sich dabei des Phonembegriffs zu bedienen. 6 Er spricht nur von „secondary/phonetic difference" versus „significant difference", weist aber ausdrücklich auf den Terminus „Phonologisierung" der Prager Schule hin (vgl. II.l). Ihm zufolge läuft die Phonemisierung nicht in allen Umgebungen gleichzeitig ab, da i, i, / zu verschiedenen Zeiten schwinden oder assimiliert werden. Der Prozeß der Phonembildung muß im Zeitkontinuum betrachtet werden, da alle relevanten Kontexte sukzessiv erfaßt werden. Twaddell folgt somit nicht dem Dogma once a phoneme - always a phoneme wie andere amerikanische Phonologen seiner Zeit. 7 In diesem Übergangsstadium sei daher nur mit partieller Phonemisierung zu rechnen: „What is here paradigmatically and over-simply referred to as the dephonologization of the difference -i/-a was in reality of course a series of processes: [j] was lost or assimilated earlier than the weakening of [-i] to [-a]; many of the [ϊ] suffix vowels were long maintained. There must have been a period in which the opposition [y/u] was in part

5

Penzl (1984: 3 4 2 ) spricht vom „Twaddellschen Umlautgesetz", um die Unumstößlichkeit dieses Prinzips zu bekunden. Seine Operation mit „Rückumlaut" steht hiermit jedoch nicht in Einklang (siehe II.4.2.E). Seinem Wesen nach handelt es sich bei dem 2-Phasenmodell um eine Theorie, die - wie plausibel sie auch immer sein mag - empirisch weder verifiziert noch falsifiziert werden kann. Haugen charakterisiert sie als „artifact of the analyst's structural point of view" (in Benediktsson 1970: 132). Ablehnend äußern sich u.a. Voyles 1991: 167 sq. und Liberman 1982: 249-252, 310; ders. 1991: 137; vgl. auch Venäs 1 9 7 3 : 158. Allgemeine Skepsis der diachronischen Phonologie gegenüber zeigt Leumann 1958: 124: „die bisherige vor-phonologische Behandlung [erklärte] die Vorgänge vielleicht unzureichend, aber verständlich und situationsgemäß; die phonologische Darstellung dagegen verdeckt gerade das, was sie eigentlich aufklären will, nämlich: wie die Erscheinungen in der Psyche des Sprechers geordnet sind."

6

In anderen Arbeiten operiert Twaddell jedoch mit dem Terminus „Phonem"; siehe Twaddell 1935, ders. 1 9 4 2 und 1948.

7

Zu diesem Dogma siehe Hockett 1955: 164 sq.; ferner Penzl 1951: 9. Vgl. weiterhin II.4.2.E.

Der strukturelle Grundansatz

23

independent (where [-j] had been lost) and in part dependent (where [-i] remained)." (Twaddell 1 9 3 8 : 1 7 9 )

Für diese Zwischenphase räumt Twaddell eine inkonsistente, konservative Orthographie ein. Ansonsten setzt er Phonemwandel mit Graphemwandel gleich: Ein phonologisches Phänomen sei stets auch ein orthographisches Phänomen. 8 Die Streitfrage, ob Nichtmarkierung des Umlauts ohne weiteres mit seinem Fehlen gleichgesetzt werden darf, läßt sich sehr weit zurückverfolgen. Bereits Moritz Haupt (1854: 5 0 2 ) bestritt diese von Jacob Grimm geäußerte Annahme. 9 In der Tat erweist sich ein radikaler Schreibungspositivismus als verfehlt. Die kausale Verknüpfung von Phonem- und Graphemwandel in Twaddells Modell läßt sich methodisch nicht halten. Es besteht nicht die zwingende Notwendigkeit, sondern allenfalls die Möglichkeit, neue Phoneme konsistent durch neue Grapheme zu bezeichnen (vgl. III. 1). Oftmals sind hierzu gezielte Orthographiereformen notwendig, die naturgemäß erst bedeutend später durchgeführt werden als der betreffende Lautwandel. Überdies zeigen Einzeluntersuchungen, daß Schriften nicht nur phonematische Gesichtspunkte berücksichtigen. 10 Die geschriebene Sprache ist daher keineswegs als getreues und aktuelles Spiegelbild der phonologischen Sprachebene zu betrachten. Twaddells Kritiker haben diesen kausalen Fehler in seiner Argumentation deutlich herausgestellt. 11 Darüber hinaus weist Henry Kratz darauf hin, daß moderne Linguisten den Phonembegriff verabsolutieren und erwarten, daß mittelalterliche Schriften konsequent nach phonologischen Prinzipien ausgerichtet sind. 12 De facto ist auch das Phonem definitionsgebunden und somit keine absolute Größe. 1 3

8

Siehe Twaddell 1 9 3 8 : 181: „[this discussion; M.S.] is presented as a sketch of the main trends of the earlier stages of umlaut in High German, viewed as a phonetic and phonological (therefore orthographical) phenomenon."

9

Äußerst prägnant kommt dieser Schreibungspositivismus in Rasmus Rasks Wortprägung

10

Vgl. Einar Haugen (in Benediktsson 1 9 7 0 : 131): „Orthography reflects a variety of analy-

„bogstavovergang" zum Ausdruck; vgl. auch Κ. M. Nielsen 1 9 7 8 : 23 Anm. 6. ses on the part of the writer, ranging from purely phonetic through phonemic to morphophonemic and morphemic." Zu morphemischen Kriterien siehe speziell Vachek 1 9 4 5 : 92. 11

Siehe beispielsweise Kratz 1 9 6 0 : 4 7 1 sqq.; Szulc 1 9 6 4 : 5 5 sq.; Antonsen 1 9 6 4 : 191; ders.

12

Siehe Kratz 1 9 6 0 : 4 7 8 sq.; ferner Κ. M. Nielsen 1 9 7 8 : 3 0 ; Widmark 1 9 9 1 : 99.

13

Zu verschiedenen Phonemtheorien siehe Hjelmslev 1 9 4 4 : 4 3 3 - 4 3 8 ; weiterhin Fischerj0rgensen 1 9 7 5 . Hierbei spielt selbstverständlich auch der phonologische Status des Indifferenzvokals Schwa eine zentrale Rolle. Probleme der Phonemanalyse werden von Martinet ( 1 9 6 2 : 7 sqq.) anhand der französischen Gegenwartssprache aufgezeigt. Zur prä-phonologischen Anwendung des Phonembegriffs siehe Κ. M. Nielsen 1 9 7 8 : 2 6 mit Anm. 12.

1 9 6 6 : 1 1 6 (mit Anm. 5); Κ. M. Nielsen 1 9 7 8 : 30, 32; ferner Voyles 1 9 9 1 : 1 6 1 - 1 6 4 .

24

Umlauttheorie und Strukturalismus

Erik Rooth führte als Gegenbeispiele eine Reihe von Wörtern an, in denen die Umlautbezeichnung trotz frühalthochdeutschen Wandels ja > e ausgeblieben ist; vgl. /'an-Verb scutten „schütteln", jan-Stamm mucca/mugga (älter mucke) „Mücke", /ö-Stamm sunta (älter sunte, suntea) „Sünde".14 Diese Formen verstoßen gegen Twaddells Ausformung der 2-Phasentheorie, da sie keinen graphematischen Umlaut aufweisen. Rooth ( 1 9 4 0 / 4 1 : 116) bemerkt, „dass der »-Umlaut von « in mhd. Handschriften gewöhnlich nicht, in mnd. Handschriften recht selten bezeichnet wurde. Es scheint also, als ob die mittelalterlichen deutschen Schreiber im allgemeinen keinen tieferen Sinn für die feinen Differenzen gehabt hätten, die Twaddell beobachtet hat." Wie Rooth zeigt, führt die Gleichsetzung von Phonem- und Graphemwandel zu einem widersprüchlichen Ergebnis. Eine andere Erklärung ist daher näherliegend als die Twaddells: „Solange die Möglichkeit besteht, das Nichtbezeichnen des Umlauts von u darauf zurückzuführen, dass das lateinische Alphabet kein Zeichen für diesen Laut hatte, der sich übrigens noch im Entwickeln befand, ist Twaddells Hypothese unnötig. Twaddell meint offenbar, dass wenn in ahd. Zeit wirklich ein Bedürfnis eines Umlautzeichens bestanden hätte, so hätte man es erfunden. Er sagt: ,if new symbols were invented in the 13th, they could have been invented in the 9th.' (178). Dazu möchte ich nur bemerken, dass die Vorausetzungen für die Erfindung von Schriftzeichen mit der Entwicklung der Schreibkunst zunehmen. Es g i b t Versuche den Umlaut von u im Ahd. zu bezeichnen [Anm.], im Mhd. werden diese Versuche zahlreicher." (Rooth 1940/41: 115 sq.)

Auch Antonsen schränkt das Schreibungsargument weitgehend ein: „Die Bezeichnung der Umlautphoneme im Dt. ist bekanntlich durch reinen Zufall zustande gekommen. Die Monophthongierung des/iü/ > /u/ hat dem /-Umlaut des/ü/ ein Zeichen tu, « ' zur Verfügung gestellt. Der Uml. von luol, selbst auch ßfi geschrieben, wurde durch ue, U bezeichnet. Durch Übertragung entstanden oi, 6, oe, ob, ae, aä, und endlich ü, ö, ä." (Antonsen 1964: 191)

In der Tat hat sich die Einführung adäquater Umlautgrapheme im Deutschen als ein langwieriger Vorgang erwiesen, der zunächt mancher Willkür und Inkonsequenz unterworfen war. 15 Dieser Prozeß ist von verschiedenen Vorgaben - nicht zuletzt einem ausbaufähigen Grapheminventar - abhängig und wird durch den bewahrenden Charakter der Schrift verzögert oder sogar verschleiert.

14

Siehe Rooth 1940/41: 112-117; vgl. hierzu auch Penzl 1982: 177 sq.; ferner Voyles 1991: 188 sq. Voyles (1991: 161-64) spricht in diesem Zusammenhang von einem „orthographischen Dilemma".

15

Zur Entstehung der Umlautgrapheme im Deutschen siehe Wilmanns 1911 I: § 2 0 2 (mit Anm.) und Jellinek 1914 II: 25 sq.

Der strukturelle Grundansatz

25

Dies hat zur Konsequenz, daß Phonem- und Graphemwandel als getrennte Vorgänge zu betrachten sind, die separate (wenn auch vernetzte) Untersuchungen erfordern. 16 Am Beispiel von ahd. hören = nhd. hören got. hausjan) illustriert Antonsen (1966: 118), daß sich das phonologische System einer Sprache nicht unbedingt durch eine rein synchronische Analyse schriftlicher Dokumente erschließt. Die Schrift ist an der etablierten Norm orientiert und der Sprache gegenüber konservativ. 17 Hieraus resultiert das stetige Spannungsfeld zwischen orthographischer und phonologischer Ebene. Twaddells Theorie muß daher auf strikt lautlicher Ebene angewendet werden. Eine Phonemisierung (Phonologisierung) bedeutet nicht notwendigerweise eine „Graphemisierung". Einige Kritiker zweifeln die Relevanz von Twaddells Phonemisierungsfaktoren an. Sie betonen, daß nicht erst völliger Schwund oder Schwawerdung der konditionierenden Faktoren /, f, j den ///-Umlaut auf phonematischer Ebene initiieren, sondern daß dies bereits frühzeitige Vokalabschwächungen tun (siehe II.7). Beispielsweise ist es naheliegend, daß < i > in ahd. gesti ebenso wie in an. gestir (< *gastiz) bereits deutliche Reduktionstendenzen erfahren hat. Damit dürfte es seine Umlautwirkung wahrscheinlich schon eingebüßt haben. Ähnlich wie Twaddell argumentiert auch Kock, daß im Altnordischen bewahrtes i im Nom. PI. gestir erst zu einem Zeitpunkt /-Umlaut herbeiführt, da es zu einem Kurzvokal reduziert und de facto auch qualitativ geschwächt ist. Die Phonemisierung des f-Umlauts hat zweifelsfrei aber vor der Verkürzung des Extremwerts */ stattgefunden (siehe IV.3.7). Diese Erkenntnis dürfte sodann in modifizierter Form vom Nordgermanischen auch auf das Althochdeutsche übertragbar sein. Insgesamt muß die Reduktion also genauer betrachtet werden, als es Twaddell tut. Dennoch ist der Vorwurf des Ahistorismus nicht berechtigt; im Gegenteil eröffnet der strukturelle Ansatz prinzipiell die Möglichkeit einer differenzierten diachronischen Sichtweise.18 In der Tat wurde sein Grundge-

16

Vgl. die folgende Aussage Harveys 1990: 180: „a more general awareness has been growing up that the connection between spelling and pronunciation is by no means as straightforward as had been thought, even in languages whose history is attested by texts dating from their earliest stages."

17

Siehe z.B. Uldall 1944: 14: „our alphabet was originally designated to be used for the manifestation of a structurally quite different language, the orthography is often more conservative than the pronunciation, and has further been artificially tampered with by printers and grammarians and sometimes even by politicians."

18

Zu diesem Vorwurf siehe u.a. Rooth 1940/41: 117; ferner Leumann (1958: 121), der „die Ergebnisse dieser Bemühungen [der diachronischen Phonologie; M.S.] als die fragwürdigsten der ganzen Phonologie" bezeichnet.

26

Umlauttheorie und Strukturalismus

danke aber häufig verkannt und sein Wert unterschätzt. 19 Im Prinzip ist Twaddells Modell durchaus berechtigt. Ihm anhaftende methodische Unzulänglichkeiten tangieren nicht die Ratio des Grundansatzes, sondern Fragen seiner konkreten Applikation. Nichtsdestominder handelt es sich natürlich - wie bei jeder anderen Erklärung - um eine Theorie. 2 0

II.3 Phonetische Umlautlosigkeit? Verschiedene Forscher suchten phonetische Erklärungen für das Ausbleiben des /-Umlauts in den altnordischen Leichtsilbern (Strukturtypen *talidö und *stadi). Die ältere Forschung begründete die partielle Umlautlosigkeit durch frühen /-Verlust in der Präumlautzeit. 1 Bemerkenswert ist, daß auch noch die phonologische Umlautinterpretation Herbert Penzls ( 1 9 5 1 ) mit dieser Konstruktion operiert (siehe im weiteren II.4.2.E). Subtilere phonetische Erklärungsansätze setzen verschiedene Silben-, Rhythmus- und Akzentstrukturen einzelner Worttypen voraus. Vorrangig zu nennen sind die Theorien Alois Waldes ( 1 9 0 0 ) , Alf Sommerfelts ( 1 9 2 7 ) und Erik Neumans ( 1 9 2 9 - 3 0 ) . 2 In Kombination mit der Mouillierungstheorie erklärte Walde ( 1 9 0 0 : 1 9 0 ) die Umlautlosigkeit der altnordischen Leichtsilber durch zwei verschiedene Silbentrennungen:

19

Beispielsweise heißt es in AhdGr, § 51 Anm. le, mit Verweisung auf Twaddell (1938) und andere Strukturellsten: „[die phonologische Theorie; M.S.] hat [...] das Verständnis der Fakten sehr gefördert, kann aber keine kausale Erklärung der beobachteten Tatsachen beibringen".

20

Vgl. die kritische Gegenposition Bibires (1975: 204), der das junggrammatische Rüstzeug „aufwendigen" Theorien vorzieht: „The scholars who use a specific theory of linguistics assume of course that this theory is 'true'. Others need to adhere to the same school in order to be able to accept their conclusions. Further, such scholars in general demonstrate the ancient truth that descriptive techniques do not have explanatory force." Indes erscheint gerade diese Kritik gegenüber dem strukturellen Grundansatz unangebracht, da er die Perspektive eines phonologischen Kompensationsprozesses eröffnet und damit eine direkte Erklärung des Umlauts in funktionaler Sicht bietet; siehe Teil II.5-7.

1

Siehe insbesondere Sievers 1878: 64 sqq.; ferner Hoffory 1885: 4 6 sq., 54.

2

Vgl. zudem C. J . Olsen 1949: 3 3 4 sqq. - Waldes „Silbentrennungsgesetze" werden in der Folgezeit von Per Wieseigren (1944) aufgegriffen, der wie Rooth zur Moullierungstheorie tendiert und weiteres (transbaltisches) Sprachmaterial zur Illustration heranzieht. Waldes Ansatz steht und fällt mit den hypothetischen Syllabierungen *stad-i und *tal-i-dö (mit neuem Einsatz des i); vgl. nur Heusler, AislGr, § 42. Eine prinzipielle Einwendung betrifft sodann die (heute überholte) Grundannahme des vermittelnden Einflusses palatalisierter Zwischenkonsonanten durch „Palatalinfektion" (Moullierungstheorie).

Phonetische Umlautlosigkeit?

27

„In *stad-i, *tal-i-don war nach dem Schwunde des i kein dem i in der Silbe vorangehender Konsonant vorhanden, der die Übertragung der Palatalität auf den vorhergehenden Silbenträger bewirken konnte; denn der vorhergehende Konsonant gehörte zur ersten Silbe. Dagegen in *al-gi, *dö-mi-dOn gehörte der Konsonant zur i-Silbe und bildete bei der Reduktion des i die Brücke zum Eindringen des Restes des i in die vorhergehende Silbe. Mit anderen Worten: bei stad-i wurde t mit neuem Einsätze gesprochen, und während und nach der Reduktion des i war daher keine Möglichkeit zu Verbindung mit der vorhergehenden Silbe gegeben. Dagegen in *algi, *dömidön war eine solche Verbindung von jeher vorhanden." (Walde 1900: 191)

In späterer Zeit wird eine entsprechende Erklärung von Erik Rooth, einem Verfechter der Moullierungstheorie, lanciert. Rooth setzt zwei grundverschiedene Anschlußtypen in Schwer- und Leichtsilbern voraus: losen Anschluß bei *dö/midö versus festen Anschluß bei *wal/idö.3 Interessanterweise nimmt Walde bereits in den Verbesserungen und Nachträgen seiner Auslautgesetze (1900) Abstand von dieser Erklärung; er wendet sich nunmehr der Antizipationstheorie zu: „Ich möchte mich nun doch der Ansicht anschliessen, dass der nord. i-Umlaut auf einer Vorwegnahme der Mundstellung des im Schwinden begriffenen i beruht. Dabei ist es dann ganz besonders leicht verständlich, dass diese Vorwegnahme nur nach langer Silbe erfolgte, wo dem i ein tautosyllabischer und daher auch mit der Zungenstellung des i gesprochener Konsonant voranging, nicht aber nach kurzer Silbe, wo der trennende Konsonant wegen seiner Zugehörigkeit zur vorher-gehenden Silbe an der Zungenstellung des folgenden i noch keinen Antheil hatte und daher beim Schwinden dieses i die Vorwegnahme seiner Zungenstellung in die erste Silbe nicht zu vermitteln oder zu begünstigen vermochte." (Walde 1900: 197 sq.)

Indes bleibt das Grundproblem bestehen. Waldes und Rooths differenzierte Syllabierungs- bzw. Anschlußregeln wirken ad hoc. Die natürliche Sprechsilbenstruktur von *dömidö und *talidö dürfte identisch sein, da als Silbenauftakt {onset) in beiden Fällen ein Konsonant fungiert: *ta-li-dö ut *dö-mi-dö. Die Silbentrennung bietet sich daher als Grund für die Umlautlosigkeit von an. talda und staÖ nicht an. Des weiteren operieren Alf Sommerfeit (1927) und Erik Neuman (1929-30) mit verschiedenen Rhythmus- und Akzenttypen. Sommerfeit konstatiert: „I *gasti er ferste stavelse det dominerende element gjennem sin aksent og sin kvantitet og suger op i sig den feigende stavelses i sä resultatet av gruppens utvikling blir en stavelse med en vokal som er en kombinasjon av de to." „I *välidö kan derfor ikke den ferste stavelse ha hatt den nedvendige artikulatoriskpsykiske styrke til ä ta op i sig den feigende i fordi der ogsä i ordet forekom en lang stavelse. Den er i en svak stilling, plasert som den er mellem en aksentuert rotstavelse og en feigende lang stavelse." (Sommerfeit 1927: 43, 44)

3

Siehe Rooth 1935: 31; äußerst skeptisch hierzu Selmer 1937: 122.

28

Umlauttheorie und Strukturalismus

Dieser Ansatz ist in mehrfacher Hinsicht aufwendig: Es müssen Einzelerklärungen für die beiden Strukturtypen * Stadl und *talidö gefunden werden. 4 Darüber hinaus erweist sich der artikulatorisch-psychische Stärkegrad der Silben als ein sehr vager Erklärungsfaktor. Ausgehend von verschiedenen Betonungsmustern, argumentiert Neuman (1929-30: 245), daß *walidö gegenüber *arbidö einen starken Nebenakzent auf der Ultima aufweist, der frühen /-Verlust in der Präumlautzeit erzwingt. Daher rühre der Umlautkontrast von an. valöa versus erföa (zu den jan-Verba velja < *tvaljan und erfa < *arbijan). Bereits Sievers (1878: 64 sqq.) operierte mit zwei verschiedenen Akzenttypen *d6midö (mit Nebenton) versus *wälidö (ohne Nebenton), um frühe /-Synkope in Leichtsilbern zu rechtfertigen. Die Zirkularität dieser Argumentationslinie wird an anderer Stelle aufzudecken sein (siehe II.4.2.E).5 Der bemerkenswerteste Versuch, die Umlautlosigkeit der Leichtsilber durch die Silbenstruktur zu erklären, geht zweifellos auf Μ. I. SteblinKamenskij (1959) zurück; er wertet open juncture in Leichtsilbern als Ursache für die Umlautlosigkeit. Diese Argumentation, die deutlich in der Tradition Waldes und Rooths steht, bietet wiederum aus phonetischer Sicht eine große Angriffsfläche und erweist sich letztendlich als perfekter Zirkelschluß.6 Bezeichnenderweise wurden in späterer Zeit nur vereinzelte Erklärungsversuche dieser Art vorangetrieben. Neuerdings hat Hans Basbell (1993) in der Folge Rooths und SteblinKamenskijs einen durchaus modernen, wiederum aber arbiträren Syllabierungsansatz formuliert: Die Crux der Trennungen stad-i (bzw. sta-d-i) und tal-idö (bzw. ta-l-idö) ist offensichtlich nicht zu beseitigen.7 Ein weiterer Schwachpunkt dieser Erklärungsversuche besteht in ihrer einzelsprachlich-nordischen Ausrichtung: Ausbleibender /-Umlaut innerhalb der nordisch-westgermanischen Sprachen kann schon deswegen nicht auf eine gemeinsprachliche Allophonphase zurückgeführt werden, weil er verschiedene Kontexte betrifft; vgl. die altnordischen Leichtsilber staö, talÖa, valöa (Inf. telja, velja) gegenüber den althochdeutschen Schwersilbern gast, branta, stalta staö

4

Zu einer Spezialerklärung des umlautlosen Akk. Sg. an.

5

Vgl. dazu die kritische Bemerkung Rooths (1935: 30): „Det förefaller mig, som om anhängarna tili teorien o m fjärrverkan skulle laborera med mycket stora svärigheter och nödgas tillgripa ganska krystade antaganden om de obetonade stavelsernas accentuering"; siehe auch Liberman 1982: 2 2 2 sq.

6

Vgl. zusammenfassend die Kritik Dyviks 1973: 154; sodann auch Benediktsson 1982: §§ 5.2, 6.5-7.

7

Ergänzend fügt Basball (1993: 43) hinzu: could perhaps be called ambisyllabic or neither syllable-initial nor syllable-final, if not simply "phonologically syllable-final'." W i e Basbell selbst anmerkt, lehnt Theo Vennemann die Syllabierung stad-i ausdrücklich ab; siehe ders. 1993: 4 6 mit Anm. 10.

siehe S. 162, Anm. 10.

Phonetische Umlautlosigkeit?

29

(Inf. brennen, stellen)} Insgesamt haftet den angesprochenen Syllabierungs-, Rhythmus-, Akzent- und Junkturtheorien ein auffällig zirkuläres Gepräge an. Aus Mangel an Beweiskraft und Plausibilität dürften sie als realer Grund für die Umlautlosigkeit altnordischer Leichtsilber ausscheiden. 9 Aufgrund der anstehenden Probleme ist Trygve Skomedal (1980: 121-24) zu einer Kompromißlösung geneigt. Er rechnet von vornherein nur mit einer schwachen (nichtsdestoweniger vorhandenen) Umlauttendenz bei den Leichtsilbern (Typus *stadi und *talidö), die niemals distinktiv gewesen sei und daher im Regelfall keinen phonematischen /-Umlaut herbeigeführt habe. Dabei könnte immerhin auf den graduellen Aspekt des subphonematischen Umlauts, also die Allophonbildung, hingewiesen werden. 10 Van Coetsem (1964: 42) folgend, müssen sich die Allophonvarianten zum Zeitpunkt der Phonemisierung genügend weit von den Ausgangswerten und ihrer „phoneme amplitude" distanziert haben, um Phonemstatus erlangen zu können. Demgemäß interpretiert eine Gruppe von Forschern den althochdeutschen /-Umlaut als langanhaltenden phonetischen Prozeß im Zeitkontinuum (vgl. Schweikle 1964; Voyles 1991; ferner Kratz 1960). Dennoch widerspricht die Annahme schwach ausgeprägter Allophonvarianten in *stadi(z) und *talidö der Anschauung eines durchgreifenden phonetischen Prozesses im Vorfeld der Phonemisierung. Sie ignoriert zudem den Befund des Altgutnischen mit durchgeführtem /-Umlaut in stepr, step und telpa, sofern diese Formen lautgerecht beurteilt werden (siehe Teil V). Daher ist Skomedals phonetisch orientierte Erklärung aus struktureller Sicht unbefriedigend. Wie sich zeigen wird, erheischt die Umlautlosigkeit der Strukturtypen *stadi und *talidö eine strukturell-phonologische Erklärung (siehe IV.2.2). Ein markant ausgeprägter, subphonematischer /-Umlaut muß sowohl

8

Daher ist der Ansatz Szulcs (1964: v.a. 81-85) nicht tragfähig: „Wir müssen also von vorn herein von allen germanischen Formen mit kurzer Stammsilbe, die mit an Masse schwächeren Silben kontaktieren, annehmen, dass dort die Wahrscheinlichkeit eines Umlauts 'a priori' gering war" (ebd., 85). Auch die Argumentation Janssons (1945: 199 sq.) geht in diese Richtung; vgl. dazu noch Widmark 1991: 119.

9

Vgl. die abschließende Wertung Spurklands 1978 II: 746. Demgemäß steht Antonsen (1966: 119) den phonetischen Anschauungen Szulcs (1964: 82) mit dem Leitprinzip „Überwindung der Masse des Trennungsgipfels" äußerst skeptisch gegenüber; Seip (1971: 24) hält die Theorie Sommerfelts (1927: 44) für „schwer zu beweisen".

10

Vgl. Wessen 1918: 63; Sommerfeit 1927: 43; ferner Κ. M. Nielsen 1978: 31. Zur N o t wendigkeit markant ausgeprägter Allophone für die Phonembildung vgl. prinzipiell van Wijk (1939: 304): „je crois d'ailleurs que la mouillure extra-phonologique qui a precede la naissance des phonemes mouilles doit avoir eu dejä, eile aussi, un caractere assez prononce, parce que sans cela eile n'aurait guere reussi ä obtenir une fonction phonologique. Dans une periode plus reculee, la palatalisation extra-phonologique etait plus faible".

30

Umlauttheorie und Strukturalismus

für Schwersilber als auch für Leichtsilber vorausgesetzt werden; Herbert Penzl veranschaulicht dies anhand der Gallehus-Inschrift:11 „Ob wir die gleichen Umlautwerte wie im Nhd. dafür [sc. für die i-Umlautallophone; M . S . ] ansetzen können, scheint nicht ganz sicher. Aber für < A > in GASTIZ, TAWIDO und für < 0 > in HOLTIJAZ ist jedenfalls eine palatale Umlautaussprache anzunehmen, die wir ungefähr mit den phonetischen Zeichen [ae], bzw. [ö] andeuten können." (Penzl 1 9 8 9 : 8 9 )

Damit ist die Interpretationsbasis deutlich vorgegeben. Warum eine reguläre Phonemisierung über weite Strecken und Formgruppen nicht stattgefunden hat, wird im folgenden zu untersuchen sein. Auf phonetischer Erklärungsebene bietet sich zunächst das Feld der klassischen Rückumlauttheorien an. Diese sollen im folgenden kritisch diskutiert werden.

II.4 Rückumlaut? II.4.1 Junggrammatischer Rückumlaut Der von Jacob Grimm geprägte Terminus „Rückumlaut" wurde immer wieder - nicht zuletzt auch im Bereich der generativen und strukturellen Phonologie - als relevantes Erklärungsprinzip für das Ausbleiben des /-Umlauts in bestimmten Formkategorien des Althochdeutschen und Altnordischen präsentiert. 1 Es bleibt zu fragen, ob es sich hierbei um eine ernstzunehmende Erklärung oder ein windiges Kalkül handelt. Obschon dieser Begriff von verschiedenen Seiten als mißlich und irreführend aufgefaßt wurde, hat er sich - in Ermangelung einer treffenderen Bezeichnung - längst fest eingebürgert, was zweifellos der Autorität Grimms zuzuschreiben ist.2

11

Vgl. außerdem Dyvik 1 9 7 3 : 154, 1 5 6 sq.; ferner Benediktsson ( 1 9 8 2 : 26), der ausdrücklich „phonetic umlaut as a homogeneous, unitary process" wertet. Zu einem weiteren triftigen Argument für einen durchgreifenden phonetischen Prozeß siehe Widmark 1 9 9 1 : 1 1 8 .

1

Z u m „Rückumlaut" vom generativen Blickwinkel aus siehe Vennemann ( 1 9 8 6 a ) . Z u r strukturellen Adaption des „Rückumlauts" siehe I I . 4 . 2 . C - E .

2

Z u r kritischen Wertung dieses Terminus siehe u.a. Hoefer 1 8 7 0 : 5 3 ; Blatz 1 8 9 5 I: 5 3 6 sq. Anm. 6; Wilmanns 1 9 0 6 III.lt 8 1 ; Kauffmann 1 9 1 7 : 1 1 7 ; Paul 1 9 7 5 : 2 0 0 . M i t W i l manns: „Die synkopierten Präterita entbehren des Umlauts. Seit Grimm pflegt man diese Erscheinung als Rückumlaut zu bezeichnen; nicht eben sachgemäss, denn die Formen haben nie Umlaut gehabt; sie sind entstanden, ehe i Umlaut bewirkte" (ebd.). Dagegen bemerkt Vennemann ( 1 9 8 6 a : 7 0 5 ) aus generativer Sicht: „as a term for the original Old and early Middle High German morphological rule (the original inverse rule) Rückumlaut strikes me as exceptionally felicitous, and since I tend t o view the entire development as

Rückumlaut?

31

Zum näheren Verständnis und zur Wertung dieses Prinzips wird zunächst eine forschungsgeschichtliche Erörterung des Begriffes sinnvoll sein. Das Interesse gilt dabei allenfalls am Rande generativen Ansätzen, die den Rückumlaut wesentlich als inverse rule auffassen. 3 Grimm hatte den Terminus „Rückumlaut" ursprünglich speziell zur Erklärung nicht-umgelauteter Präterital- und Partizipialformen der althochdeutschen jan-Werba eingeführt; dabei dachte er an die „Aufhebung" des Umlauts durch Verlust folgender /-Laute.4 Zugleich zog er eine scharfe Trennungslinie zwischen Umlaut/Rückumlaut einerseits und Ablaut andererseits. Der Rückumlaut wird grundsätzlich als ein Umlautphänomen eingestuft: „in schwacher conj. gibt es keinen umlaut, in der zweiten jedoch das, was ich rückumlaut nenne, nämlich in den präteriten, welche das i ausgestoßen, (wodurch bei der ableitung das a in e umgelautet worden war) kehrt natürlich der reine laut zurück [...]. in lerta, kerta geschieht es nicht, weil ihr vermuthliches primitivum bereits auf e lautete." (Grimm 1819: 570) „wird die Ursache des umlauts fühlbar aufgehoben, so tritt rückumlaut ein, d.h. der ungetrübte vocal wieder an seine stelle, doch war der umlaut der älteren spräche fremd, entsprang erst später und gewann immer größeren umfang, die geschwächte, erlöschende endung flüchtete gleichsam in den laut der wurzel." (Grimm 1840: 34)

Unter Rückumlaut versteht Grimm somit die Umkehrung des Umlautvorganges, wobei er allerdings nicht angibt, in welchem Sprachstadium dieser Vorgang eintreten soll. Das damit verbundene Problem ist grundsätzlicher Art: Wenn man bedenkt, daß der Umlaut normalerweise gerade in den Kontexten fixiert wird, in denen der umlautwirkende Faktor wie bei an. gestr < *gastiz reduktionsbedingt schwindet, erscheint Grimms Erklärung keineswegs plausibel. Auch die von Twaddell begründete 2-Phasentheorie des Umlauts erhebt gerade den Nexus zwischen Umlaut und Reduktion zum entscheidenden Faktor der Phonemisierung. Dabei wird betont, daß Umlautwerte durch den Schwund des konditionierenden Elements normalerweise in Phoneme umgewandelt werden (siehe II.4.2.E). Selbstverständlich liegt der Erklärung a [...] case of rule inversion, it seems to me that Grimm's coinage was a most happy choice." 3

Mit Vennemann (1986a: 717) sind drei verschiedene Arten des Rückumlauts (RUL) zu unterscheiden: 1. phonologischer RUL, 2. morphologischer RUL ( = „the original inverse rule"), 3. verallgemeinerter morphologischer RUL; siehe auch Vennemann 1972.

A

In Anlehnung an Rasmus Rask, z.B. 1818: 83 (§ 149), versteht Jacob Grimm den Umlaut als regressiven Assimilationsprozeß, d.h. als „eine von der endung ausgehende trübung des wesentlich unveränderten wurzelvocals: der laut biegt und wendet sich um, bleibt jedoch derselben art" (Grimm 1840: 34). Darüber hinaus erkennt Grimm die Bedeutung der Endsilbenreduktion für den Umlautvorgang.

32

Umlauttheorie und Strukturalismus

Grimms aber noch keine streng phonetisch-phonologische Auffassung vom Umlaut zugrunde. Franz Bopp war es, der als erster die Möglichkeit einer Rücknahme der Umlautvokale anzweifelte: „wir wollen dem germanischen sprachstamm die Erscheinung des rückumlauts, d.h. Rückkehr des ursprünglichen vocals, wenn die veranlassung zum umlaut wegfällt, noch nicht streitig machen, allein wir gestehen, daß wir nicht wohl begreifen können, daß z.B. prartta ich brannte, früher prennita gelautet habe, analog dem gothischen brantiida, und daß diese Form in früherer Periode etwa Jahrhunderte bestanden haben könnte; daß aber nach Ausstoßung des i der Geist der Sprache sich noch hätte bewußt sein können, daß das e von prennita ein durch das folgende i getrübtes α gewesen sei, weshalb nunmehr das α wieder an seine Stelle hatte treten können. Der Verf. fühlt sehr wohl diese Schwierigkeit; seine Gründe sie zu beseitigen sind sehr scharfsinnig aber nicht überzeugend." (Bopp 1836: 58 sq.)

Bopp nimmt an, daß eine Präteritalform wie ahd. branta keinen Umlaut erfahren hat, „weil der ursprüngliche vocal hier niemals durch ein folgendes i getrübt worden war" (ebd., 59). Er betont die Möglichkeit, umlautlose Formen wie an. talÖa, ahd. branta durch ursprünglich bindevokallose Primärbildungen zu erklären; vgl. im Gotischen waurhta versus tawida, brannida.5 Eduard Sievers (1878: 99) glaubt ebenfalls, daß ahd. zalta, gizalt, ae. tealde, geteald regulär ohne Bindevokal entwickelt sind. Folgerecht würde sich Grimms Erklärungsprinzip gänzlich erübrigen. Bopp meint, daß gotische Formen wie tawida, brannida für das Althochdeutsche nicht unbedingt aussagekräftig sind, „da das Althochdeutsche nicht die Fortsetzung des Gothischen, sondern ein von demselben verschiedener Dialekt ist, der uns manche grammatische Form treuer überliefert hat, und der unmittelbaren Anschließung des t, welche dem Gothischen nicht fremd ist, von jeher eine größere Ausdehnung mochte gegeben haben." (Bopp 1836: 60)

Wenngleich das Althochdeutsche und das Gotische - genetisch gesehen - verschiedenen Entwicklungszweigen des Germanischen angehören, wird eine Gleichsetzung got. tawida ^ nwgerm. *tawidö durch den altrunischen Typus tawido (Gallehus) unmittelbar gestützt. Es bietet sich daher nicht an, die Umlautlosigkeit durch /-lose Ausgangsformen zu begründen; vgl. andererseits got. waurhta ^ an. orta ^ arun. worahto (Tune). Im Hinblick auf die umlautlosen Partizipialformen an. taliÖr, bariÖr bemerkt Bopp, daß i hier sekundär sei und keine etymologische Beziehung zwischen ihm und dem j der umgelauteten Infinitive telja, berja bestehe: „[...] wenn das i von talidhr wirklich identisch wäre mit dem j von telja, was ich leugne, und zwar neben vielen anderen Gründen auch aus dem, weil es nicht wie dieses ; den Umlaut zeugt [...]." (Bopp 1836: 61 Anm.)

5

Siehe im weiteren Antonsen 1966: 120.

Rücku miaut?

33

Diese Argumentation ist jedoch auffällig zirkulär. Wilhelm Scherer, neben Sievers ein Verfechter der sog. „Mouillierungstheorie", verteidigte Grimms Rückumlaut und berief sich dabei vor allem auf das Wirken der Analogie: )rsanta

ta,

für

sentita

beruht keineswegs auf unmittelbarer Composition der Wurzel

sondern lediglich auf Formübertragung von Perfectis wie

sand brähta, dähta, mähta.

mit Die

'rückumgelauteten' Formen sind also in der T h a t die geschichtlich jüngeren, verglichen mit den umgelauteten." (Scherer 1 8 6 8 : 1 8 0 )

Scherer betrachtet den Rückumlaut seinem Wesen nach nicht als phonetischphonologischen Prozeß, sondern als Analogiewirkung. Ein derartiger Morphemwandel könnte als „analogischer Rückumlaut" oder „Neurückumlaut" bezeichnet werden. 6 Aus phonologischer Sicht setzt er immerhin die Bildung der Umlautphoneme in einem früheren Sprachstadium voraus. Einen weiteren Versuch, die junggrammatische Konzeption des Rückumlauts zu präzisieren und aufrechtzuerhalten, unternahm Albert Hoefer (1870: 51). Dagegen operiert sein Zeitgenosse Richard Heinzel nicht mit einem Rückumlaut; in bezug auf an. talÖa, tamda (zum Inf. telja, temja) postuliert er frühzeitigen /-Verlust in der Präumlautzeit und macht verschiedene Analogieeinflüsse geltend: „Ein äusserer Einfluss muss in den schwachen Perf. kurzer Wurzel vorzeitigen Abfall des i in vorletzter Silbe bewirkt haben. Das können nur die Praeteritopraesentia, an welche sich formal das Verbum .wollen' schliesst; s. Scherer Zs. 19, 1 5 7 , gewesen sein, Perfectbildungen, welche mit denen der schwachen Verba eine gewisse Aehnlichkeit haben, vielleicht aber ganz anderer Herkunft sind; s. Windisch Beiträge zur vergleichenden Sprachforschung 8, 4 5 7 ff. Ihnen hatten sich schon sehr früh in allen germanischen Sprachen eine Reihe von schwachen Verben angeschlossen, deren Wurzel auf Gutturalis endigt. Die gebräuchlichsten sind got.

brahta ...

an.

orta (worahto

T u n e ) . " (Heinzel 1 8 7 7 : 4 1 8 )

Auch bei Heinzeis Erklärung spielt die Analogiewirkung (in Form von analogischer Synkope) eine wesentliche Rolle.7 Es bleibt festzuhalten, daß Grimms Rückumlaut vornehmlich dazu dienen sollte, das Ausbleiben des /'Umlauts in den Präterital- und Partizipialformen schwacher /tfM-Verba im Nordisch-Westgermanischen zu erklären.8

6 7

Z u r Anwendung dieser Begriffe siehe Sonderegger 1 9 7 9 : 3 1 2 und Penzl 1 9 8 8 : 1 0 7 sq. Analogische Erklärungen wurden auch für das Ausbleiben des «-Umlauts in altnordischen Leichtsilbern vorgeschlagen (Typusstod und

talda); siehe

die Literaturangaben in Steblin-

Kamenskij 1 9 5 9 : 1 0 7 Anm. 7 - 9 . 8

Der „Rückumlaut" stellt sich bei den

jan-Verba im

Althochdeutschen anders dar als im Alt-

nordischen. Im Altnordischen betrifft er primär Leichtsilber {talda),

im Althochdeutschen

dagegen Schwersilber ( b r a n t a ) ; vgl. I V . 2 . 2 . Darüber hinaus ist im Altnordischen nur der Indikativ Präteriti betroffen, im Althochdeutschen aber sowohl Indikativ als auch Konjunktiv Präteriti (vgl. AhdGr, § 3 6 1 mit Anm. 1). D i e Mehrzahl der Forscher erklärt den

34

Umlauttheorie und Strukturalismus

Dieser junggrammatischen Anschauung Grimms stellten einige Forscher (u.a. Bopp, Heinzel, Sievers) die Alternative entgegen, daß der /-Umlaut aufgrund von Hause fehlender /-Werte oder frühen /-Schwundes niemals eingetreten sei (vgl. II.3). 9 Auch aus neuerer Sicht bemerkt Theo Vennemann: „Whatever the attitude to the term Rückumlaut may be, there exists agreement nowaday that the forms santa, branta, etc. never did have umlaut but lost their stem-forming + i by syncope prior to the operation of umlaut [...] or else never added an +i in those environments with the same result." (Vennemann 1986a: 705)

Wie bereits in Teil II.3 gezeigt wurde, erscheinen diese Positionen aus phonetisch-phonologischer Sicht höchst problematisch. Es ist daher verständlich, daß viele Forscher an der (nichtsdestominder vagen) Vorstellung des Rückumlauts festhielten. Einige seiner Befürworter wichen auf die morphologische Ebene aus; es würde sich demnach nicht um die Rücknahme eines phonetischen, nicht-distinktiven Umlauts, sondern um Morphemersatz handeln. 10 Grimms Grundkonzeption wurde in der Folgezeit von Anhängern verschiedener Schulrichtungen - nicht zuletzt auch von Strukturalisten - aufgegriffen und modifiziert. Bei der folgenden ausführlichen Diskussion der nordgermanischen Rückumlauttheorien wird sich herausstellen, ob derartige Ansätze haltbar sind (siehe speziell II.4.2.E).

II.4.2 Die klassischen nordischen Rückumlauttheorien Bevor die terminologische Adaption des „Rückumlauts" an den phonologischen Strukturalismus untersucht wird, sollen einige nahestehende Erklärungsansätze vor allem der skandinavischen Umlautforschung erörtert werden. Die sog. „Rückumlauttheorien" sind nicht zuletzt als Alternativerklärung zu Kocks umlautloser Zwischenperiode zu verstehen. 11 Erklärungsbedürftig ist das divergierende Umlautverhalten von Schwerund Leichsilbern im Altnordischen; vgl. Nom., Akk. Sg. gestr, gest (< *gastiz, *gasti) versus staÖr, staö (< *stadiz, *stadi), Nom. PI. bendlar (< *bandilöz)

fehlenden «-Umlaut im althochdeutschen Konjunktiv Präteriti analogisch; siehe Penzl 1949: 2 2 7 sq.; Russ 1977: 229; Robinson 1980: 4 5 5 - 4 5 9 (mit weiterer Literatur). 9

Zu dieser Auffassung siehe auch Wilmanns 1906 III. 1: 81; weiterhin GS I, § 37.

10

Vgl. Vennemann 1986a: 705, 717; Penzl 1988: 101.

11

Der Terminus „Rückumlauttheorien" wird als Sammelbezeichnung aller Umlauttheorien verstanden, die mit einem partiellen Rückumlaut auf phonetischer Ebene operieren. Sie können insgesamt als prä- oder semistrukturell charakterisiert werden, weil sie junggrammatischen Prämissen (v.a. dem Primat der Synkope) verpflichtet sind und phonetischphonologischen Natürlichkeitsüberlegungen zuwiderlaufen; siehe das Folgende.

Riickumlaut?

35

versus katlar (< *katilöz) und Prät. demda (< *dömidö) versus talöa (< *talidö). Die im folgenden zu besprechenden Rückumlauttheorien (mit Ausnahme der Penzls) führen den ausbleibenden /-Umlaut nach leichter Stammsilbe auf einen restringierten Lautübergang i > Θ, i > e oder auch i > α in Schwachtonsilben zurück und sehen darin die Motivation eines rückläufigen phonetischen Prozesses. Sie bewegen sich damit in einer Erklärungsnische, die durch das konsensual geltende Primat der Synkope ermöglicht wird. Unter Betonung des phonetischen Aspekts wird eine geschlossene und einheitliche /-Umlautphase in der Präsynkopezeit vorausgesetzt; Ausgangsformen wie *stadi, *katilöz und *talidö weisen demzufolge ebenso allophonische i-

Umlautwerte auf wie *gasti, *bandilöz und *dömidö.n Diese Grundeinschätzung erscheint insbesondere im Hinblick auf das Altgutnische zutreffend. Denn Formen wie agutn. step, telpa sprechen dafür, daß die phonetischen Grundvoraussetzungen für die Durchführung des iUmlauts auch in Leichtsilbern vorhanden waren. 13 Eine frühzeitige Beseitigung des vokalischen Extremwerts [i] in Kontexten wie *stadi und *talidö ist daher für das Gemeinnordische unwahrscheinlich. Der Schluß liegt nahe, daß sich erst im Verlauf der späteren phonologischen Entwicklung unterschiedliche Resultate innerhalb des Skandinavischen herausbildeten (an. staö versus agutn. step u.ä.).

A. Seip 1919 Urheber der nordgermanischen Rückumlauttheorien ist Didrik Arup Seip (1919). Um Kocks umlautlose Zwischenperiode zu eliminieren, postuliert Seip eine Phase mit partiell durchgeführtem /-Umlaut in Leichtsilbern; diese wird zugleich als direkte Alternativerklärung zu Kocks Spezialfall des iRUmlauts präsentiert. 14 Seip betont den Vorzug einer in sich geschlossenen Umlautphase:

12

Dies ist eine der beiden Alternativen Steblin-Kamenskijs (1959: 109): „although umlaut allophones arose during the phonetic period of umlaut in all words with i in the ending, at the moment when the umlaut phonemes were created these allophones became umlaut phonemes only where i had been at that moment lost (i.e. in long-syllable words of the type dSmpa), and that in words where i has not been lost at all (i.e. in words of the type ketill, bendill) umlaut phonemes appeared only later, after the loss of i in short-syllable words of the type talpa, whence the absence of umlaut phonemes in these words."

13

Vgl. Hessel man 1945: 3 0 sq.; Jansson 1945: 200; ferner Benedilctsson 1982: § 6.7. Vgl. dazu Kortlandt 1992: 27. Eine ähnliche Grundanschauung wie Seip vertritt Pipping (1902: 14), der ebenfalls Kocks umlautlose Zwischenperiode samt dem iR-Umlaut beseitigen möchte. Zur Einordnung des iR-Umlauts siehe Teil IV.5.2.

14

36

Umlauttheorie und Strukturalismus „Vi fär en omlydsperiode, som begynner med omlyd virket av synkopert vokal og fortsetter med omlyd virket av bevart vokal." (Seip 1919: 88)

Um das Ausbleiben des /-Umlauts im Akk. Sg. staö „Stätte" ( s auf Leichtsilber beschränkt sein sollte. Aufgrund der Fixierung des Initialakzents müssen alle Schwachdruckvokale vor der Synkopierung graduelle Reduktionstendenzen erfahren, die schließlich zur Verschmelzung mit dem Indifferenzvokal Schwa führen. In diesem Rahmen ist die Synkope als maximale Reduktion definierbar. 18 Von der Forschung wurde durchaus vorschnell betont, daß Zwischenstadien der Vokalreduktion in den Runeninschriften schlechterdings nicht auszumachen seien. Diese Einschätzung ist jedoch inadäquat. In den Ubergangsinschriften finden Abschwächungstendenzen von Extremvokalen durchaus ihren Niederschlag: 19 -Schreibungen für ursprüngliche iLaute dokumentieren einen signifikanten Grad der Vokalabschwächung; umgekehrte -Schreibungen für etymologische e-Laute weisen in dieselbe Richtung. Insbesondere aber die Wiedergabe ursprünglich palataler und labialer Vokale mit den Graphemen signalisiert weitestgehend zentralisierte/entfärbte Reduktionsvokale mit annähernd demselben Lautwert wie Svarabhaktis. 20 Die reale Existenz derartiger Schwächungserscheinungen steht somit außer Frage. Sie können nicht prinzipiell, sondern allenfalls zeitlich von der Schwere der Stammsilbe und der Stellung im Wort abhängig gemacht werden. Der völlige Schwund unbetonter Vokale erweist sich damit nur als Endpunkt einer sukzessiv fortschreitenden Reduktion, die sich ebenso auf qualitativer wie auf quantitativer Ebene niederschlägt. 3. Seips Hypothese gründet sich auf die unhaltbare Annahme, daß der Schwund, nicht aber vorausgehende Vokalabschwächungen für die Umlautphonemisierung entscheidend sind; in der Tat aber ist genau das Gegenteil der Fall (siehe II.7). Aus phonologischer Sicht steht außer Frage,

17

Zu diesem Kritikpunkt vgl. Hesselman 1945: 11.

19

Zur graduellen Vokalreduktion aus Sicht der moderner Phonetik vgl. Eriksson 1974: 9 0 sq.; Dressler 1975: 3 6 sq.; weiterhin Lindblom 1963 a/b (mit Literatur). Scharfsichtig bemerkte bereits Lindroth (1911-12: 161 Anm. 1) im Zusammenhang mit dem nordischen κ-Umlaut: „Wer annimmt, daß der ältere Umlaut eben mit dem Schwunde eintritt, der wird auch zu der Annahme geführt, es handle sich dabei nicht bloß um eine Schwächung des exspiratorischen Druckes; denn dann wäre zweifelsohne eine Annäherung an die 'Indifferenzlage' (θ) dem Schwunde vorausgegangen."

19

Zur Auswertung des runischen Gesamtbefundes siehe Teil III.3; zum Befund der Blekinger Inschriften siehe auch Birkmann 1995: 122-125. Siehe Teil III.3.4, Beleggruppen D und E. Vgl. dazu auch Schulte 1996b: 124.

20

38

Umlauttheorie und Strukturalismus

daß die Reduktion schrittweise zum Abbau des Phoneminventars im unbetonten Bereich führt, was mit einer Verringerung der phonologischen Kontraste verbunden ist. Dabei bleibt zunächst die von Steblin-Kamenskij (1959: 107) angesprochene Frage offen, ob auch der Übergang eines Phonems zu einem anderen Phonem möglich ist. Schon an dieser Stelle sollte generell festgestellt werden, daß der Phonemzusammenfall umlautwirkender und nicht-umlautwirkender Vokale das entscheidende Phonemisierungskriterium darstellt. Senkungen und Zentralisierungen scheiden daher als Hinderungsgrund für den Eintritt des /-Umlauts aus. Im Gegenteil müssen sie als direkte Auslöser des Phonemisierungsvorganges betrachtet werden. In diesem Licht verliert die Synkope als Endpunkt der Reduktion merklich an Bedeutung. Seips Theorie erweist sich damit aus phonetisch-phonologischer Sicht als unhaltbar.

B. Hesselman 1945 In seiner Monographie Omljud och brytning (1945) führt Bengt Hesselman den Terminus „omljudsväxling" in die Forschung ein. 21 Schon vom Wort her klingt dieser Begriff an Grimms „Rückumlaut" an. Bei seiner Erklärung beruft Hesselman sich wesentlich auf Parallelen in der Entwicklung moderner skandinavischer Dialekte. Sein methodischer Grundansatz besteht darin, von jüngeren, besser kontrollierbaren Sprachentwicklungen - also empirisch - auf ältere Sprachstufen und -entwicklungen zurückzuschliessen. Den theoretischen Ansatz Seips weiterverfolgend, betrachtet er den Rückumlaut wiederum als Alternative zu Kocks umlautloser Zwischenperiode; dies soll der Leitidee eines ebenso gleichförmigen wie kontinuierlichen Gesamtprozesses Vorschub leisten. 22 In diametralem Gegensatz zu Kock verfolgt Hesselman einen von Synkope und Reduktion losgelösten Ansatz - sein Grundaxiom lautet: „Omljudet har gätt före Synkopen och inträtt oberoende av den; i plur. gäster har tills dato ingen synkope ägt rum." (Hesselman 1945: 5)

Dieser Ansatz ist zweifellos als Gegenreaktion auf das Primat der Synkope zu verstehen, das Forscher aller Schulrichtungen konsensual akzeptiert haben.

21

Siehe Hesselman 1945: 13, 15, 28 sq., 43 sq.

22

Siehe Hesselman 1945: v.a. 12, 103; „Förloppet är likformigt och enhetligt och lämnar icke rum för teorier om skilda perioder med olika arter av omljud eller omljudslösa mellanperioder" (ebd., 103). Vgl. dazu Sturtevant 1946: 3 4 7 sq.; weiterhin Bibire 1975: 202.

Rückumlaut?

39

Wenngleich Hesselmans Arbeit noch in der Phase einer wissenschaftlichen Isolation Schwedens entstanden ist, markiert sie zugleich einen Wendepunkt in der skandinavischen Umlautforschung. 23 Ohne sich eines modernen terminologischen Inventars zu bedienen, nimmt Hesselman ansatzweise eine Differenzierung zwischen allophonischem und phonematischem Umlaut vor (die allerdings für seine Argumentation nicht bestimmend ist): „[...] omljudet bör ha gjort sig gällande redan före synkopetiden, alltsA medan det ännu existerade et skarpt artikulerat t i ändelsen a ν gestr, staö med förmäga att assimilera. Jag antar att omljudet dä ännu inte nätt längre än tili det labila ('omedvetna') stadiet [...]·" (Hesselman 1 9 4 5 : 12 sq.)

Ohne Zweifel trifft diese Charakterisierung auf die erste, rein phonetische Umlautphase zu, die Twaddell und andere Strukturalisten als Vorstadium zum phonematischen Umlaut ansetzen. Bereits van Haeringen ( 1 9 1 8 ) betrachtete Umlaut als regressiven Assimilationsprozeß auf phonetischer Ebene. Auch Hesselmans Prinzip „omljudsväxling" basiert auf Angleichung, wobei dieser Ansatz noch der Epenthesetheorie verpflichtet ist ( - N B . : Mit a' usw. bezeichnet Hesselman schwach /-gefärbte, phonetische Umlautvokale bzw. Kurzdiphthonge mit /-haltigem Zweitsegment): „[...] övergängen av i > e (...) i absolut slutljud och i öppen mellanstavelse: sta'di

>

sta'Öe, ka'tiläR (plur.) > ka'teläR, va'lidä > va'ledä. Den nya svagtonsvokalen ansluter sig naturligt till i spräket redan förut existerande e i ändelser: dat. dale, plur. part. farenäR, prät.

habedä.

Kombinationen av ett ι-färgat a i stammen och ett e i ändelsen är i övrigt främmande för spräket, som alltigenom är byggt p4 harmoni mellan närstäende vokaler: sta'de, ka'teläR bli Stade, kateläR genom omljudsväxling: 'e-omljud' i stället för i-omljud." (Hesselman 1 9 4 5 : 13)

Hesselman setzt den regulären Eintritt des phonetischen /-Umlauts in allen Strukturtypen voraus. Dies entspricht der Grundanschauung eines durchgreifenden phonetischen Prozesses, der simultan — womöglich aber mit unterschiedlicher Intensität — alle relevanten Kontexte erfaßt. Mithin können kontextuelle Assimilationstendenzen die Umlautwerte automatisch regeln: „Det är här tydligen fräga om en sekundär regiering av tidigare omljudsvokaler pä grund av vokalassimilationens krav i ett senare spräkskede." (Hesselman 1 9 4 5 : 15)

23

Vgl. dazu Haugen 1 9 6 9 : 113, 117; Benediktsson 1 9 8 2 : 7 sq. Κ. M. Nielsen merkt an, daß Hesselman wahrscheinlich mit dem junggrammatischen Phonembegriff Adolf Noreens arbeitet; siehe Nielsen 1 9 7 8 : 2 5 sq mit Anm. 12. Überdies stellt Widmark ( 1 9 9 1 : 1 2 1 ) generell fest, daß Hesselmans Argumentation nicht strukturell ausgerichtet ist und das Gesamtsystem der Sprache vernachlässigt.

40

Umlauttheorie und Strukturalismus

Dennoch soll der rückläufige Vorgang „omljudsväxling" auf Leichtsilber mit / in offener Silbe oder in Auslautposition restringiert sein. 24 Hesselman siedelt dieses Phänomen nicht in einem Frühstadium des Umlauts an, sondern in einer späteren Entwicklungsphase, in der andere Strukturtypen (an. gestr, bendlar, domda) bereits umgelautet sind.25 Ihm zufolge ist dieser Prozeß operativ, weil die Assimilationstendenzen der Sprache fortwährend wirksam sind; die phonetische Umlauttendenz ist demnach permanent aktiv. 26 Diese Prämisse ist aber höchst fraglich (s.u.). Damit steht der chronologische Ansatz Hesselmans (und Seips) dem Penzls diametral gegenüber. 27 Die Reaktionen auf diese neue Umlauttheorie fielen insgesamt sehr unterschiedlich aus. Valter Jansson und Arnold Nordling, Teilnehmer der Kopenhagener Nordistentagung 1946, würdigten das Prinzip „omljudsväxling" und sahen darin eine Alternative zu Kocks 3-Periodenlehre. 28 Uberaus positiv äußert sich auch Albert Morey Sturtevant: „H's theory satisfactorily explains the absence o f ί-Umlaut after short stems because it is in accord with the principle o f umlaut, the relation o f the umlaut-producing vowel to the stem vowel. H. shows the validity o f the progressive character o f the umlaut as long as the i preserved its palatal quality. After the i had lost this palatal quality, a reversed type o f vowel balance took place, resulting in a reversion to the original stem vowel ( = Kock's absence o f umlaut)." (Sturtevant 1 9 4 6 : 3 4 8 )

In jüngerer Zeit haben Gun Widmark und Lennart Elmevik die Erklärung Hesselmans im Grundansatz aufgegriffen.29 Doch bereits auf der Nordistentagung in Kopenhagen 1946, wo neue Umlaut- und Brechungstheorien diskutiert wurden, geriet Hesselman ins Kreuzfeuer massiver Kritik.30 Insgesamt fiel die Rezeption des Terminus „omljudsväxling" eher negativ aus, was in Assar Janzens Wertung als „nödfallsätgärd" gipfelte.

24

Die N o m . S g . - F o r m

staör wird

als Umbildung nach dem Akk. Sg.

stad (< *stadi)

erklärt;

siehe Hesselman 1 9 4 5 : 3 1 sq.; ferner Elmevik 1 9 9 3 : 7 9 . 25

Diese zeitliche Einordnung erscheint aus phonetisch-phonologischer Sicht durchaus plausibel; zumindest steht sie mit dem realen Reduktionsverlauf in Einklang und berücksichtigt, daß der i-Umlaut als phonetisch-phonologischer Prozeß zu einem gewissen Zeitpunkt abgeschlossen und damit fossilisiert sein dürfte (was Hesselman selbst allerdings bestreitet; s.o.); siehe im weiteren Teil II.8.

26

Z u dieser Beobachtung vgl. Seip 1 9 7 1 : 2 4 (mit Literatur); ferner Widmark 1 9 9 1 : 1 2 0 .

27

W i e sich zeigen wird, ist Penzls Ansiedlung des „Rückumlauts" in der allophonischen Frühphase des Umlauts ebenfalls problematisch und nicht dazu geeignet, das spezifische Verteilungsbild des nordgermanischen /-Umlauts zu erklären; siehe unter E.

28

Siehe Jansson 1 9 4 5 : 1 9 7 , 199 sq.; Nordling 1 9 4 7 : 4 3 ; ferner Sturtevant 1 9 4 6 : 3 4 7 sq.; Gordon 1 9 5 7 : 2 7 2 (§ 3 5 ) ; zurückhaltender Iversen, NorGr, § 1 2 . 3 .

29

Siehe Widmark 1 9 9 1 : 9 1 - 1 0 1 , 1 1 8 - 1 3 7 ; Elmevik 1 9 9 3 : 8 1 - 8 3 .

30

Siehe Johannisson [u.a.] 1 9 4 7 : 3 - 6 1 ; ferner Svensson 1 9 4 5 : 1 9 4 sqq.

Rückumlaut?

41

Es genügt, die wesentlichen Schwachpunkte kurz herauszustellen: 1. Hesselman betrachtet Umlaut/Rückumlaut als Epenthesephänomene und operiert mit Kurzdiphthongen (s.o.). Diese Auffassung ist heute zweifelsfrei überholt. 31 2. Ein von der Reduktion losgelöster Ansatz ist inkompatibel mit dem von Strukturalisten postulierten biplanen Verlauf des Umlauts, mithin der geforderten Dichotomie von allophonischem und phonematischem Umlaut. 32 Bemerkenswert ist, daß dieses Desiderat von dem norwegischen Sprachforscher Alf Sommerfeit bereits frühzeitig erkannt wurde: „If one wants t o understand how a phonological development has been carried through, one must take into account more than purely phonetic factors." „But this purely phonetic process furnishes no real explanation o f the phonological changes, which have taken place. T h i s phonetic process must be taken into account, o f course, because no element o f the development may be neglected if one wants to understand a phonological alternation, but the determining factor must be sought in the existing phonological system, which is subject to certain structural principles." (Sommerfell 1 9 3 4 : 3 5 8 , 3 5 9 )

3. Hesselmans Umlautinterpretation haftet ein wesenhaft ahistorischer Charakter an, da sie keine diachronische Perspektive aufzeigt und die relative Chronologie der Einzelvorgänge vernachlässigt.33 Entgegen Hesselman sind auch die phonetischen Assimilationstendenzen zeitlich restringiert; nisl. britdir „Bräute" hat nicht den Lautwert [brydir], sondern [brüdir]. Außerdem läßt dieser Grundansatz die zeitliche Begrenztheit des (primären) /-Umlauts als phonologischen Vorgang außer Acht (siehe II.8). 4. Hesselman stützt sich bei seiner Interpretation wesentlich auf modernes Dialektmaterial. Dieses methodische Konzept wurde kontrovers beurteilt. Anders als Jansson (1945: 2 0 4 sq.) zieht Johannisson (1947: 5) die Relevanz moderner Dialekte für den historischen Umlautprozeß in Zweifel; er

31

Vgl. hierzu die grundsätzliche Kritik Kings 1 9 7 1 : 3 . Um diesen Einwand zu entkräften, hebt Nordling ( 1 9 4 7 : 4 3 ) den Aspekt der Fernassimilation an Hesselmans Erklärungsansatz hervor; zur Verteidigung der Epenthesetheorie siehe andererseits Svensson 1 9 4 7 : 6 1 .

32

Vgl. Elmevik 1 9 9 3 : 8 0 sq. mit Anm. 1; ferner Schulte 1 9 9 6 a : 4 1 8 .

33

Vgl. Hesselman 1 9 4 5 : 1 0 3 : „Assimilationstendensen gjorde sig gällande i urnordisk tid och är verksam in i nutiden. Den har verkat bäde i huvudtoniga och i svagtoniga stavelser. [...] Det bekanta undantaget frän i-omljudet beror pä tidsförhällandet mellan omljudet och vissa andra ljudförändringar samt därpä att assimilationsprocessen fortgick utan avbrott." Zu diesem Angriffspunkt siehe Höfler 1 9 5 6 : 15; ferner Widmark 1 9 9 1 : 1 2 0 : „[Hesselman] egentligen inte ser de olika omljuden som en i tiden fortgäende process."

42

Umlauttheorie und Strukturalismus

wertet Hesselmans Beobachtungen als rein lokale Indizien, die kaum im gesamten nordischen Raum Geltung gehabt haben dürften. In der Tat ist es methodisch äußerst fragwürdig, ob moderne sprachliche Entwicklungstendenzen ohne weiteres auf eine weit zurückliegende Sprachstufe projeziert werden dürfen. 5. Die Kritiker nahmen Anstoß an einem „e-omljud"; sie wiesen darauf hin, daß e kein Extremvokal und damit kein Umlautfaktor sei: „e-omljud" sei per definitionem ein Widerspruch in sich selbst.34 Da e selber ein Vorderzungenvokal ist, könne es nicht zur Reversion der /-Umlautwerte führen. 35 Andere Rückumlauttheorien entgehen diesem Kritikpunkt, da sie einen Übergang i > Θ voraussetzen. 36 Dies gilt insbesondere für die Rückumlauttheorie Reids, der mit einem Wandel i > α operiert (siehe unter D). 6. Hesselman zufolge tritt der Übergang i > e nur im absoluten Auslaut und in offenen Binnensilben von Leichtsilbern ein; vgl. Akk. Sg. *sta'di > *sta'de, Nom. PI. *ka'tliläR > *ka'teläR, Prät. Ind. *wa'lidä > *waHedä. Interessanterweise äußert er sich späterhin zurückhaltender zu dieser Annahme und bezeichnet sie nur noch als „en rimlig hypotes" (1952 II: 373). Diese Argumentation setzt voraus, daß i nach schwerer Silbe qualitativ unverändert synkopiert wird, wogegen nach leichter Silbe eine partielle Schwächung i > e dem Vokalschwund vorausgehen soll. Hesselman postuliert einen restringierten „e-Umlaut", um den einheitlichen Charakter des «-Umlauts zu demonstrieren. 37 Verschiedene Forscher wiesen mit Nachdruck darauf hin, daß eine unterschiedliche Behandlung des Reduktionsvokals i je nach Stellung sehr unwahrscheinlich ist.38

34

Mit Hesselman 1945: 2: „en skarpt (klart) artikulerad vokal".

35

Vgl. Bibire 1975: 2 0 2 sq. (Zitat: 202): „the 'e-mutation' suggested by Hesselman is phonetically improbable: Pr[oto-]N[orse] »-mutation involved fronting of back vowels. But e is itself a front vowel; it could therefore hardly have caused retraction of preceding front vowels produced by «-mutation"; ebenfalls kritisch Kratz 1960: 478; Dyvik 1973: 152 und Reid 1990: 31; vorsichtiger formuliert von Steblin-Kamenskij (1959: 107): „It has not been proved that the change of t to e must have involved a reverse umlaut".

36

Vgl. Bibire 1975: 203: „This objection is partly answered by the suggestion of Seip and Taylor that unaccented i was not lowered to e, but retracted to a central vowel such as θ."

37 38

Vgl. Johannisson 1947: 4; referiert von Elmevik 1993: 7 9 sq. Siehe z.B. Dyvik 1973: 152; Bibire 1975 : 203; Reid 1990: 31 sq. mit Anm. 12; ferner Widmark 1991: 122. —NB.: Der von Bibire herangezogene Dat. Sg. syni zum «-Stamm sunrlsonr ist jedoch nicht beweiskräftig, da ein echter Diphthong *-iu zugrundeliegt; siehe Teil IV.3.4 unter 4.

Rücku miaut?

43

Allenfalls eine zeitliche Staffelung wäre möglich. 39 Bibire (1975: 202) führt ein weiteres Argument gegen die differenzierte Behandlung von unbetontem / in offenen und geschlossenen Silben ins Feld; eine Präteritalform nwgerm. *dömidö = /dö-mi-dö/ weist ebenso wie *talidö = lta-li-döl eine offene Mittelsilbe auf. Verschiedene Forscher nahmen Zuflucht zur Sprechsilbenstruktur, um das Umlautproblem zu lösen (vgl. II.3). Hesselman zufolge müßten demnach beide Formen umlautlos sein. Die altnordischen Kontinuanten lauten aber demda versus talÖa. Ähnliches gilt für *gasti versus *staÖi (> an. gest versus staö). Daher besteht Bibires Einwand zu Recht: „Hesselman's theory does not, therefore, explain the basic problem: why short-stemmed words lack «'-mutation caused by lost i, whereas long-stemmed words do not lack such mutation." (Bibire 1975: 202)

Aufs Ganze gesehen, weist Hesselmans Rückumlauttheorie mehrere nicht behebbare Schwachpunkte auf. Insbesondere ein restringierter Übergang i > e wirkt gezwungen (vgl. Bibire 1975: 202 sq.). Auch das runische Belegmaterial spricht eindeutig gegen eine derartige Restriktion.40 In den Ubergangsinschriften finden sich zahlreiche Formen, die Vokalabschwächungen bekunden. 41 Derartige Reduktionstendenzen sind aber keineswegs restringiert; sie treten nicht nur im absoluten Auslaut und in offenen Binnensilben ein, sondern auch in geschlossenen Silben; vgl. die Diskussion der spätaltrunischen Formen hroReR (By) und wate (Str0m) in Teil III. Darüber hinaus ist fraglich, ob ein prinzipieller Unterschied bei der /-Reduktion nach schwerer und leichter Silbe besteht. 42 39

40

41

42

Vgl. Laferriere (1976: 38) zur Staffelung der Endsilbenreduktion im Althochdeutschen: „Reduction to [θ] is an example of the gradual generalization of a phonological process [Anm.]. Short vowels in closed syllables were affected first, next short vowels in open syllables, and lastly long vowels in both open and closed syllables (Braune/Mitzka 1967: pars. 1, 58, 59)". Vgl. Bibire 1975: 202: „there is no evidence in the runic inscriptions [...] of any distinction between unaccented i in open and closed syllables"; ebenso Reid 1990: 31; Elmevik 1993: 79. — Zur Diskussion des relevanten Belegmaterials siehe Teil III.3. Von einigen Forschern wurde vorschnell betont, daß es keine runische Evidenz für eine Vokalabschwächung i > e gäbe (was jedoch unzutreffend ist; vgl. II.4.2 unter A): „It has not been proved [...] that the change in question [sc. i > e] occurred at all. No traces of such a change are to be found in runic inscriptions, and from a phonemic point of view the change of an unstressed i to another phoneme during the period of a general reduction of unstressed vowels, is improbable" (Steblin-Kamenskij 1959: 107); „there is no evidence in the runic inscriptions for a lowering of unaccented i to e" (Bibire 1975: 202). Siehe Hesselman 1945: 57; ferner Elmevik 1993: 82.

44

Umlauttheorie und Strukturalismus

Mit John Svensson: „Man frägar sig, vad det är som gör att ändelsevokalen i det ena fallet, efter kort stavelse (dar trycket pä ändelsen varit starkast) kvalitativt försvagas före bortfallet, medan den i det andre fallet, efter läng stavelse faller utan denna kvalitativa försvagning." (Svensson 1947: 9)

Hesselmans Restriktion ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil jede lautgerechte Synkopierung über graduelle Schwächungsstadien im Zeitkontinuum - also keineswegs abrupt - verläuft.43 Es kann somit keinen prinzipiellen, sondern allenfalls einen zeitlichen Unterschied in der /-Reduktion nach schwerer und nach leichter Silbe geben: erst/-Reduktion und /-Synkope nach schwerer, dann nach leichter Silbe.44 Wenn es zutreffend wäre, daß ein Reduktionsübergang / > e den /-Umlaut verhindert, so müßte dieser folgerecht im Altnordischen auch in Schwersilbern (Strukturtypen *gastiz, *gasti und *dömidö) ausbleiben. Das ist bekanntlich jedoch nicht der Fall. Abschließend bleibt festzustellen, daß Hesselmans „omljudsväxling" aus phonetisch-phonologischer Sicht unhaltbar ist. Ähnlich wie Seip sieht Hesselman den /-Umlaut als einheitlichen und kontinuierlichen Prozeß. Dabei wird allerdings der phonetische Aspekt über Gebühr betont und ein Nexus zwischen Reduktion und (phonematischem) Umlaut kategorisch negiert: „Omljudet har intet direkt samband med de i nordiska spräk liksom i andra europeiska spräk vanliga försvagnings- och bortfallsförändringarna (synkope etc.)." (Hesselman 1945: 3)

Hesselman findet aber keine adäquateren Phonemisierungsfaktoren als die Synkope. 45 Wie andere Forscher seiner Zeit mißachtet er die phonologischen Auswirkungen von Vokalabschwächungen.

43

Vgl. oben S. 37 mit Anm. 18. Daher abzulehnen Elmevik 1993: 82: „Det finns enligt mitt förmenande inte skäl att tro annat än att det var ett »'-ljud som synkoperades i bäde t.ex. *ba'ndile (> bend.li) och *ka'tile (> katli). Nägon försvagning tili θ el.dyl. före bortfallet torde man alltsä inte ha att räkna med."

44

Auch Jansson (1945: 199), an sich ein eifriger Fürsprecher Hesselmans, erkennt diesen Widerspruch; er rechnet deshalb auch nach schwerer Silbe mit einem Ubergang a, i > θ in druckschwachen Silben. Wie seine aufwendigen Modifikationen und Hilfskonstruktionen zeigen, ist damit zugleich Hesselmans Erklärung der Boden entzogen. Siehe besonders Hesselman 1945: 9 sq. Vgl. hierzu oben S. 21, Anm. 3.

45

Ruckumlaut?

45

C. Taylor 1 9 5 6 - 5 7 In der Folgezeit unternimmt Arnold R. Taylor einen ähnlichen Versuch, umlautlose Formen im Altnordischen zu erklären. Mit „reversion" intendiert er wiederum einen Rückumlaut auf phonetischer Ebene: „If, after the short syllable, the unaccented i was lowered and centralised before the stabilisation of the palatalised allophone, the new lowered, centralised and more open sound would cease to exert its palatalising influence on the stem vowel, which would then revert to its original quality." (Taylor 1956-57: 300)

Dabei ist festzustellen, daß Taylor den Ansatz Hesselmans weiterverfolgt, ohne eine neue Leitidee in die Diskussion einzubringen. Der inhärente Schwachpunkt seiner Argumentation tritt sogleich im Zusammenhang mit der einzigen Prämisse offen zutage: „The full assumption, and the only assumption necessary, then, is that in Primitive Norse, before the period of syncope, unaccented i was lowered and centralised in open syllables when it followed a short stem syllable." (ebd.)

Die Unwahrscheinlichkeit einer restringierten Schwächung von unbetontem i wurde bereits im Zusammenhang mit Seips und Hesselmans Ansatz betont (s.o.). Der Extremvokal *i müßte demnach bereits in der Präsynkopezeit partiell abgesenkt oder zentralisiert worden sein. Dies ist jedoch höchst fraglich. Sommerfeit betont zu Recht, daß im „Urnordischen" noch keine signifikante Schwächung der End- und Mittelsilbenvokale stattgefunden hat: 4 6 „Dette system har ikke kjent reduserte, «neurale» vokaler uten besternt klangpreg. Trykkaksenten har ennu ikke den kraft den har fätt i senere tid; vokalene i de uaksentuerte stavelser har alle i slutten av den urnordiske periode sitt besternte klangpreg, og man har hatt kvantitetsforskjeller ogsä utenfor stavelser med hovedaksent." (Sommerfeit 1927: 43)

Taylor zufolge müßte es schon in der phonetischen Frühphase des /-Umlauts eine Opposition */stada/, Vwaledö/ versus */gasti/, Vdömidö/ gegeben haben, d.h. phonetisch notiert: *[stada], *[waledö] versus *[ga2sti], *[di3midö]. Diese Annahme ist aber mit dem Reduktionsverlauf, der anhand der älteren Runeninschriften nachzuzeichnen ist, unvereinbar. 47 Im übrigen wird das Präteritalsuffix schwacher /'an-Verba in der altrunischen Periode völlig einheitlich mit

46

Damit wandte Sommerfeit sich ausdrücklich gegen den von Seip postulierten Übergang *stadi > * Stade; vgl. oben die Besprechung Seips 1919 unter A.

47

Die Annahme Sievers (1878: 131), daß i im Nordgermanischen - diametral entgegengesetzt zum Westgermanischen - erst nach leichter, dann nach schwerer Stammsilbe synkopiert wird, gilt heute als widerlegt (vgl. Steblin-Kamenskij 1959: 106). Siehe weiterhin die Besprechung Penzls 1951/1988 unter E.

46

Umlauttheorie und Strukturalismus

realisiert, und nicht etwa partiell mit . Folgende Belege sind als Präterital- oder Partizipialformen von /««-Verba auszuweisen: h ( l ) a i w i d a R Amla -

f a i h i d o Einang/Vetteland - rAisidokA Ellestad - t a w i d o Gallehus -

t a w i d e Illerup Schildbeschlag 2/Garb0lle - f a h i d e H a l s k o v Brakteat - h l a a i w i d o Kjelevik - t a l g i d a i N a v l i n g Fibel - t a l g i d a Udby Fibel - s a t i d o R ö - f a h i d o R ö -

f(a)hidu

Väsby/Askatorp Brakteat - d a l i d u n Tune.·"

Die konsistente Graphemrealisierung des Bindevokals mit spricht für einen einheitlichen Lautwert [-i-]. Taylor berücksichtigt den runischen Befund nicht. Er müßte die leichtsilbigen Belegformen arun. tawido, tawide und satido als konservative Schreibungen erklären, die dem tatsächlichen Lautstand nicht mehr entsprechen: müßte hier lautlich als [-ε-] oder [-Θ-] interpretiert werden. Diese Annahme ist jedoch wenig überzeugend, zumal reduzierte Vokale in den Übergangsinschriften (vor allem in der Blekinger Gruppe) je nach Schwächungsgrad mehr oder weniger differenziert durch die Grapheme < e > , < o > und , < a > repräsentiert werden. Wäre der Bindevokal bereits in einigen Strukturtypen auf frühaltrunischer Stufe signifikant geschwächt, hätte dies zumindest sporadisch auf graphematischer Ebene seinen Niederschlag gefunden; vgl. exemplarisch das Nebeneinander der spätaltrunischen Formen hideR- und bAriutiJ) in der Stentoften-Inschrift (siehe III.3.4 unter C.l). Taylor ist sich dieser Problematik durchaus bewußt. Er argumentiert, daß eine partielle Senkung oder Zentralisierung des / von allgemeinen Schwächungsphänomenen abzugrenzen ist: „[...] it s h o u l d not be assumed, as Hesselman does, that t after a short syllable w a s w e a k e n e d t o e but rather that it was lowered and centralised t o [j] or e v e n [e]." (ebd.)

Diese Differenzierung wirkt durchaus artifiziell und ist schwer zu rechtfertigen. Im Gesamtzusammenhang müssen die Ubergänge i > [e] und i > [θ] als zwei Etappen der Vokalabschwächung aufgefaßt werden, die letztlich auf der Durchführung des germanischen Initialakzents beruhen (vgl. die Diskussion der Erstglieder gino- versus ginA- in III.3.4). Ein partieller Übergang i > [}] oder i > [e] ist schwerlich von diesen allgemeinen Reduktionserscheinungen abzugrenzen. Die Crux der Rückumlauttheorien bleibt damit bestehen.

48

Vgl. SuR, § 1 0 4 ; ferner Syrett 1 9 9 4 : § 7 . 1 0 . Zur B e l e g f o r m t a l g i d a auf der Udby-Fibel vgl. Exkurs 1. - M i t Antonsen (CGORI, N r . 9 und 6 0 ) kämen n o c h m a r i d a i (Vimose, O r t b a n d ) u n d a i w u i d a i (Darum, Brakt. 3 ) hinzu; mit Recht kritisch hierzu aber Syrett 1994: 2 4 7 Anm. 31.

Rückumlaut?

47

D. Reid 1990 Die besondere Variante einer Rückumlauttheorie wurde neuerdings von Timothy G. Reid (1990) für das Nordgermanische vorgeschlagen. Reid schließt zunächst eine Schwächung i > e bzw. i > θ als Ursache für den Rückumlaut aus. Im Gegenzug postuliert er einen Ubergang i > α nur nach leichter Stammsilbe (1990: 3 4 4 1 ) . Hiermit versucht er einen der Einwände zu entschärfen, der gegen die älteren Rückumlauttheorien vorgebracht wurde: [e] oder [θ] ist ungeeignet zur Eliminierung von phonetischen Umlautwerten, weil es selbst kein Extremvokal ist. Reid faßt seine Theorie wie folgt zusammen: „[...] i-mutation affects long stem-syllables motivated by loss of syncope enters its initial phase in short-stemmed forms when it ones, it does not motivate «-mutation here because the change of these forms does not constitute the necessary loss of information

following i; although does in long-stemmed i to a that it caused in (...)." (Reid 1990: 38)

Reids Argumentation läuft phonetisch-phonologischen Natürlichkeitsüberlegungen zuwider; sie muß aus folgenden Gründen abgelehnt werden: 1. Es bleibt wiederum offen, warum der postulierte Ubergang nur nach leichter Stammsilbe zur Durchführung kommen soll. Mit dieser Hilfskonstruktion operieren alle besprochenen Rückumlauttheorien (s.o.). 2. Aus phonetischer Sicht erscheint ein reduktionsbedingter Wandel [i] > [a] höchst unwahrscheinlich. Die beiden folgenden Argumente, die Reid ins Feld führt, sind für sich genommen noch keineswegs tragfähig: „Firstly a seems to have been the least marked unaccented vowel in P[roto-]N[orse] and sound-change tends to involve change to unmarked sounds (Hawkins 1984; 117). Secondly a was apparently syncopated before i and u which suggests that it had weaker articulation." (Reid 1990: 34)

Der Übergang des hohen Vokals / zum tiefen Vokal α kann nicht durch Vokalabschwächung begründet werden. 49 Eine derartige Zickzackbewegung ist insgesamt viel weniger wahrscheinlich als eine reguläre, d.h. lineare Abschwächung in Richtung auf die Indifferenzlage neutraler Zungenstellung.

49

Daß zentralisierte und entfärbte Reduktionsvokale in den Übergangsinschriften vorzugsweise durch wiedergegeben werden, ist primär eine Frage der günstigsten Phonem-Graphem-Relationen. Da auch Svarabhaktis typischerweise mit bezeichnet werden, wäre es eindeutig verfehlt, hier den Lautwert des volltonigen [a] vorauszusetzen. Siehe hierzu Teil III.3.4, Beleggruppen D, Ε und G.

48

Umlauttheorie und Strukturalismus

3. Entgegen Reid impliziert auch ein Wandel i > α den Informationsverlust des alten /, zumal die zwei distinktiven Merkmale [+ hoch] [+ vorn] verlorengehen. Einer konsequenten phonologischen Argumentation folgend, müßte dieser Übergang den phonematischen /-Umlaut initiieren ebenso wie ein Übergang *-/(-) > *-Θ(-). Im Regelfall führt ein Reduktionsvorgang *-/(-) > *-a(-) zum /-Umlaut, weil die Kurzvokale */a/, Vi/, */u/ vor ihrer endgültigen Synkopierung eine gemeinsame Schwächungsstufe /a/ durchlaufen (vgl. IV.4.1). Reids Hinweis darauf, daß der Wandel / > α zur Verschmelzung mit einem bereits existierenden Phonem führt, ist eben nicht als ausschlaggebendes Argument gegen, sondern für eine Phonemisierung zu werten. Denn ein partieller Phonemzusammenfall {phonemic merger) im Endsilbenbereich wird unverzüglich durch Phonemspaltung {phonemic split) im Haupttonbereich kompensiert. 50 Der Zusammenfall muß daher als zentraler Vorgang zur Bildung neuer Umlautphoneme eingestuft werden (siehe im weiteren II.5). 51 Auch ein (hypothetischer) Übergang /if > /a/ in Levissilben würde den /Umlaut auf phonematischer Ebene initiieren. Als Fazit bleibt daher festzuhalten, daß die oben angesprochenen Rückumlauttheorien aus phonetischphonologischer Sicht unhaltbar sind und mit unwahrscheinlichen Restriktionen operieren. Das Problem umlautloser Formen im Altnordischen wird dadurch allenfalls verlagert. Das Kalkül eines phonetischen Rückumlauts erweist sich in keinem Fall als plausibel.

E. Penzl 1951/1988 Der erste Umlautforscher, der einen geschlossenen strukturellen Deutungsversuch des nordgermanischen /-Umlauts vornimmt, ist Herbert Penzl (1951). Zugleich aber adaptiert er die junggrammatische Grundkonzeption „Rückumlaut" zur Erklärung umlautloser Formen, die ursprünglich ein suffixales Element mit den zwei Merkmalen [+ hoch] [+ vorn] aufwiesen/ 2 50

Zur Beschreibung dieser beiden Vorgänge vgl. Penzl 1957: 194-196; ferner Leumann 1958: 123.

51

Vgl. Hoenigswald 1960: 94: „allophones become phonemes when part or all of their determining environments fall together without at the same time canceling the phonetic difference between the allophones in question"; ebenso Lehmann 1969: 136 sq.

52

Interessant ist festzustellen, daß Penzl (1949: 229) bei seiner strukturellen Erklärung des althochdeutschen «-Umlauts noch von dieser Möglichkeit absieht: „If a form without umlaut is not analogical (...), it can only go back to a form from which the i-sound was lost before the development of those allophonic variants, that led to umlaut [Anm.]. This

Rücku miaut?

49

Penzl erklärt diesen Vorgang wie folgt: „Während der phonetischen Periode des «-Umlauts führte also der Schwund von i zu einem wirklichen Rückumlaut [...]. Erst das Beharren der Umlautsqualität trotz des iSchwundes in langen Wurzelsilben [...] führte zum phonemischen Abschluß des Umlauts als eines historischen Vorgangs." (Penzl 1951: 12) „Nach diesem Schwund wurde das Umlautallophon, wie zu erwarten, durch die nichtumgelautete Variante des Velarvokals ersetzt. Das nennt man mit Recht Rückumlaut." (Penzl 1988: 101) „Rückumlaut finden wir in allen germanischen Sprachen, solange der «-Umlaut noch nicht zu Umlautphonemen geführt hatte. Später kann es nur zu einem „Neurückumlaut" (...) kommen." (Penzl 1988: 101 sq.)

Im Gegensatz zu den bislang besprochenen Rückumlauttheorien operiert Penzl nicht mit restringierten /-Schwächungen, sondern unmittelbar mit der /-Synkope. 53 Ihm zufolge tritt die Phonemisierung zunächst regulär durch /'Schwund in *gastiz, *dömidö und *bandilöz ein. Dem Leitsatz amerikanischer Strukturalisten once a phoneme - always a phoneme folgend, sollen Allophone dann auch in anderen Kontexten automatisch in Phoneme umgewandelt werden: „Aber wir müssen annehmen, daß in dem Augenblick, wo die Umlautsvokale als Phoneme in der Sprache sind, alle mit ihnen lautlich identischen Einheiten, wo immer sie sich finden, sich mit diesen Phonemen vereinigen." (Penzl 1951: 9)

Diese Anschaung ist höchst umstritten und kann heute als überholt gelten. 54 Außerdem bedient sich Penzl einer weiteren Hilfskonstruktion: In seinem bekannten Artikel „Zur Entstehung des /-Umlauts im Nordgermanischen" ( 1 9 5 1 : 15) hält er an dem von Sievers postulierten Reduktionsverlauf fest, wonach im Nordgermanischen erst /'-Synkope nach leichter, dann nach schwerer Silbe erfolgt sein soll.

is true of the preterits and past participles of weak /aw-verbs which have an umlauted vowel in the present tense: O H G sezzen, sazta, gisazter; stellen, stalta, gistalter [usw.]." 53

54

Zu dieser Beobachtung vgl. Robinson 1980: 4 5 4 mit Anm. 3. Penzl zieht die Synkope, d.h. den Vollschwund der Vokale, als entscheidendes Kriterium für die Umlautphonemisierung im Nordgermanischen heran. Wie bereits mehrfach angedeutet, muß das Primat der Synkope für Phonemisierungsprozesse aber weitgehend relativiert und zugunsten eines phonologischen Kriteriums (Phonemzusammenfall) aufgegeben werden. Damit deutet sich bereits ein Schwachpunkt in Penzls Argumentation an, der beinahe der gesamten Umlautforschung anhaftet. Siehe besonders Martinet (1962: 1-38), der die Problemlage anhand verschiedener Beispiele vornehmlich aus dem Französischen veranschaulicht. Vgl. dazu die strukturellen Umlautinterpretationen Haugens 1969 und Dyviks 1973; weiterhin Κ. M. Nielsen 1978: 29; Benediktsson 1982: 2 2 sqq. — Zu Twaddells Formulierung des strukturellen Grundansatzes siehe Teil II.2.

50

Umlauttheorie und Strukturalismus

Sievers hatte zunächst festgestellt, daß die Synkope/Apokope nicht gemeingermanisch, sondern einzelsprachlich ist.55 Aus dem divergierenden Umlautverhalten der nordisch-westgermanischen Sprachen folgerte er, daß für das Nordgermanische andere Auslautgesetze gelten als für das Westgermanische: ,An die stelle des allgemeinen syncopierungsgesetzes tritt eine reihe von specialgesetzen. Vor allem zweigen sich wider die westgermanischen sprachen von den ostgermanischen, richtiger vielleicht vom nordischen ab. Bei der syncopierung spielt die quantität der stammsilben die wichtigste rolle, genau entsprechend dem einflusse, den dieselbe bei der syncope innerer unbetonter vocale hat. Der gegensatz zwischen nordisch und westgermanisch besteht darin, dass das erstere den vocal nach langer silbe bestehen lässt, das zweite ihn nach einer kürze besser conserviert." (Sievers 1878: 161)

Diese Lehrmeinung Sievers wurde auch von anderen Forschern seiner Zeit geteilt, vornehmlich um die Umlautlosigkeit der altnordischen Leichtsilber zu erklären.56 Um den frühen /-Schwund nach leichter Silbe zu begründen, plante Sievers (1878: 64 sqq.) zwei verschiedene Akzenttypen ein: *dötnidö mit Nebenton versus *tälidö ohne Nebenton (vgl. II.3). Steblin-Kamenskij und andere Forscher nach ihm wiesen darauf hin, daß die Deduktion des Reduktionsverlaufs vom spezifischen Verteilungsbild des nordgermanischen /-Umlauts her natürlich ein Zirkelschluß ist.57 In einem berühmten Aufsatz hat bereits Axel Kock (1888) klargestellt, daß die Synkope im Nordgermanischen prinzipiell denselben Regeln folgt wie im Westgermanischen. 58 Kock berief sich zum einen auf Vokalbalance (aschw. bitte versus liva), zum anderen auf wikingzeitliche Formen mit bewahrtem -i und -M nach leichter Stammsilbe. Selbst wenn die Evidenz seiner runischen Belege im Einzelfall eingeschränkt ist, hat als Vorgabe für alle germanischen Sprachen zu gelten, daß unbetonte Vokale früher nach schwerer als nach leichter Silbe schwinden. Mit Meillet: „In the beginning, this disappearance [of short interior unaccented vowels; M.S.] depended on the quantity of the preceding accented syllable. What illustrates the persist-

55 56

57

58

Siehe Sievers 1878: 110, 131, 170 sq.; dazu Κ. Μ. Nielsen 1978: 21 sq. Siehe z.B. Heinzel 1877: 418, der sich im weiteren auf analogische Synkope beruft (vgl. II.4.1): „im nordischen [finden wir] bei durchgehendem Ausfall des Ableitungsvokals Umlaut gerade in den langen, reinen Laut in den kurzen Wurzeln, doemda, tarn da. Die kurzwurzeligen müssen also ihr i schon vor Eintritt der Umlautsperiode verloren haben. Das ist nicht die Regel; dypt, hoens, betri lehrt uns, dass i in der vorletzten Silbe zur Zeit des Umlauts noch gesprochen wurde, diupidhu, hönisu." Siehe insbesondere Steblin-Kamenskij 1959: 106; ferner Kratz 1960: 476; King 1971: 6; Dyvik 1973: 152 sq. Siehe Kock 1888: 141 sqq.; zustimmend Neuman 1929-30: 244; Κ. M. Nielsen 1978: 22; Elmevik 1993: 77.

Rücku miaut?

51

ence o f the Indo-European importance o f long syllables is that a short vowel disappears sooner after a long syllable than it does after a short syllable." (Meillet 1 9 7 0 : 4 1 sq.)

Das angesprochene Auslautgesetz gilt sowohl für Mittelsilbenvokale als auch für Endsilbenvokale. Divergenzen innerhalb der germanischen Sprachen dürften die Grundregel nicht tangieren, sondern vielmehr den Durchführungsgrad der Reduktion. 59 Diese Annahme wird sowohl durch runische Evidenz als auch durch phonetisch-phonologische Natürlichkeitsüberlegungen bestätigt.60 Die Fixierung des germanischen Initialakzents bedingt (ceteris paribus) einen stärkeren Betonungsverlust nach schwerer als nach leichter Silbe; in Leichtsilbern weist die Endung im Verhältnis einen stärkeren Betonungsgrad auf. 61 Die spätere Forschung hat diese Vorgabe Kocks konsensual akzeptiert. Die /'-Synkope in Leichtsilbern wird also im Regelfall nicht vor der /-Synkope in Schwersilbern durchgeführt. Damit war Penzls Ansatz sogleich heftiger Kritik ausgesetzt.62 Penzl räumte später selbst ein, daß ausbleibender /-Umlaut nach leichter Silbe (stadr, talöa) einerseits, phonematischer /-Umlaut nach schwerer Silbe (gestr, demda) andererseits, nicht durch die von Sievers angenommene Staffelung der beiden Synkopen erklärbar ist.63 Diese auf den ersten Blick ansprechende Annahme erwies sich in der Tat als unhaltbar; kritisch bemerken Steblin-Kamenskij und Erdmann: „One is surprised that Η. Penzl, who was the first to give the Scandinavian »-umlaut a phonemic interpretation [·••] has returned to the assumption made by Sievers." (SteblinKamenskij 1 9 5 9 : 1 0 6 ) .

59

Vgl. UrgGr, 1 7 0 ; GS I, § 4 6 . 2 ; Wessen 1 9 6 8 : 11; Dyvik 1 9 7 3 : 1 5 1 ; ferner Szulc 1 9 6 4 : 8 7 - 8 9 ; Kaleta 1 9 8 5 : 2 2 sqq. (mit weiterer Literatur). Meillet scheint von Sievers nicht unbeeinflußt, wenn er im folgenden konstatiert: „We observe analogous phenomena in Old English and in Scandinavian, but in each language the manner is independent and follows rules o f detail peculiar to each" (ebd., 4 2 ) .

60

Generell kann festgestellt werden, daß entsprechende Reduktionsphänomene früher nach schwerer als nach leichter Silbe eintreten (vgl. die Diskussion der Erstglieder gino-/ginAin I I I . 3 . 4 ) . Dabei spielen die unsynkopierten Formen sitiR und karuR im metrischen Teil der Rök-Inschrift ( Ö G 1 3 6 ) nur eine untergeordnete Rolle.

61

Siehe z.B. Janzen 1 9 4 7 : 14; Posti 1 9 4 6 - 4 8 : 5 5 ; Haugen 1 9 7 0 : 5 9 ; Dyvik 1 9 7 3 : 1 5 3 ; K. M . Nielsen 1 9 7 8 : 2 1 ; „Efter en kort stavelse var i starkare betonat än efter en läng stavelse" (Posti, ebd.).

62

Siehe Steblin-Kamenskij 1 9 5 9 : 1 0 9 ; Kratz 1 9 6 0 : 4 7 5 - 4 7 7 ; King 1 9 7 1 : 3 - 7 ; Bibire 1 9 7 5 :

63

Siehe Penzl 1 9 8 8 :

1 9 9 sq. und Benediktsson 1 9 8 2 : 2 6 1 0 6 : „Meine Kritiker (King ( 1 9 7 1 ) , Venäs ( 1 9 7 3 ) , Bibire

(1975),

Benediktsson ( 1 9 8 2 ) u.a.) haben mich davon überzeugt, daß diese relative Chronologie aus der ungewöhnlichen Verteilung im 12. J h d . nicht beweisbar ist."

52

U m l a u t t h e o r i e und S t r u k t u r a l i s m u s „ D u r c h die m e t h o d i s c h nicht g e r e c h t f e r t i g t e A n n a h m e , d a ß d i e « - S y n k o p e kausal mit d e r P h o n e m i s i e r u n g d e r U m l a u t a l l o p h o n e z u s a m m e n h ä n g t , hat m a n sich e i n e n a h e l i e g e n d e Antwort verbaut. W e n n synkopiertes Ν

im F a l l e d e r S c h w e r s i l b e r i - U m l a u t b e w i r k t ,

s o l l t e das e b e n f a l l s für die L e i c h t s i l b e r gelten. D a s ist a b e r nicht d e r F a l l . S o ist m a n a u f A n a l o g i e n u n d e i n e n ' R ü c k u m l a u t ' angewiesen, d e r d e n b e k a n n t e n S y n k o p i e r u n g s r e g e l n des G e r m a n i s c h e n w i d e r s p r i c h t . " ( E r d m a n n 1 9 7 2 : 2 1 )

Ebenso wie bei den Ansätzen Seips, Hesselmans, Taylors und Reids soll dieser Rückumlaut phonetisch motiviert sein. Er ist damit allenfalls vom analogischen Rückumlaut einzelner Junggrammatiker (z.B. Scherer, Hoefer) abzugrenzen. Als wichtige Vorgabe stellt Penzl den zeitlichen Kontext heraus, in dem die Reduktion erfolgen soll: „Lautgesetzliche F ä l l e v o n U m l a u t s l o s i g k e i t v o r historischen «-Lauten k ö n n e n n u r a u f d e r e n S c h w u n d o d e r V e r ä n d e r u n g e n v o r der P h o n e m i s i e r u n g , also in d e r b l o ß ' p h o n e t i s c h e n ' U m l a u t s p e r i o d e z u r ü c k g e h e n . " (Penzl 1 9 5 1 :

15)

„Aus den U m l a u t s a l l o p h o n e n des G e r m a n i s c h e n e n t w i c k e l t e n sich in d e n E i n z e l s p r a c h e n mit g r o ß e n Z e i t u n t e r s c h i e d e n U m l a u t s p h o n e m e , w e n n nach V e r l u s t o d e r W a n d e l d e r «L a u t e d e r F o l g e s i l b e n die U m l a u t w e r t e d e r S t a m m s i l b e n e r h a l t e n b l i e b e n , also z . B . v o r a e . *[fö:ti]

zu ae.

foet

lfö:tl

' F ü ß e ' nach A p o k o p e v o n

Iii.

V o r der Zeit dieser Phonemisie-

r u n g d e r A l l o p h o n e e r f o l g t e n a c h B e s e i t i g u n g eines /'-Lautes R ü c k u m l a u t , d.h. Ersatz des u r s p r ü n g l i c h e n U m l a u t s a l l o p h o n s v o r » durch das A l l o p h o n v o r K o n s o n a n t ( o h n e f o l g e n d e n «-Laut)." (Penzl 1 9 8 8 :

107)

„Ich s e h e d a h e r in t a l b a zu teilianlsicl frühen R ü c k u m l a u t , w i e e r a u c h in e i n e r g r ö ß e r e n G r u p p e v o n a n d e r e n s c h w a c h e n V e r b e n mit k u r z e r S t a m m s i l b e zu f i n d e n ist: k r a f b a . b a r b a , vanfra. flutta (zu flvtia). busta (zu bysia) u. dgl. ( N o r e e n 1 9 0 3 3 , § 5 0 2 f.)." (Penzl 1988:

106)

Damit grenzt Penzl sich deutlich von Seip und Hesselman ab, die den Rückumlaut erst in einem späten Entwicklungsstadium ansetzen, in dem der iUmlaut in gestr, bendlar, d0mda bereits durchgeführt ist (vgl. unter B). Penzl liefert mit seinem Ansatz jedoch keinen determinierenden Faktor, der Beharren oder Reversion der Umlautwerte regeln könnte.64 Die Annahme eines rückläufigen phonetischen Prozesses ist umso problematischer, als der lautliche Kontext in valda, talÖa exakt derselbe ist wie in nefnda, dSmda.65

64

Z u e i n e r äußerst k r i t i s c h e n W e r t u n g siehe K r a t z 1 9 6 0 : 4 7 6 sq.; f e r n e r Naes 1 9 7 1 : 8 6 , d e r

65

Z u d i e s e m A n g r i f f s p u n k t siehe u.a. S t e b l i n - K a m e n s k i j 1 9 5 9 : 1 0 6 - 1 0 8 ; Nass 1 9 7 1 : 8 6 und

Penzls Ansatz als „vill-ledet" b e z e i c h n e t . Κ . M . N i e l s e n 1 9 7 8 : 2 8 . D a h e r ist Penzls H i n w e i s a u f den lautlichen K o n t e x t nicht aussagekräftig: . A b e r als *[lykila-] d u r c h «-Synkope zu * [lykla-], * [ v e l i j j a ] zu "'[νεψβ] w u r d e , w a n d e l t e n sich die U m l a u t s a l l o p h o n e [y], [ε] in d e r S t e l l u n g v o r α zu [u], [a], den gew ö h n l i c h e n A l l o p h o n e n in d e r S t e l l u n g v o r a" (Penzl 1 9 5 1 : 1 2 ) .

53

Riickumlaut?

Mit Kratz: „It does not help the situation to qualify that assumption by maintaining that this 'riickumlaut' t o o k place in the 'phonetic period', because obviously, by Penzl's own terminology, the phonemic period does not begin until this i-syncope occurs, and is to be ascribed entirely to this syncope." (Kratz 1 9 6 0 : 4 7 6 )

Allenfalls in isolierten und niederfrequenten Bereichen wäre theoretisch ein Riickumlaut denkbar, der durch frühzeitigen Schwund oder Wandel von iElementen eintritt. Die Leichtsilber *stadiz, *talidö sind jedoch hochfrequent und in dieser Hinsicht nicht von den Schwersilbern *gastiz, *dömidö unterscheidbar. Es handelt sich hierbei keinesfalls um eine Minorität oder Randgruppe von Wörtern. Ansonsten wird aus struktureller Sicht gerade der Schwund des konditionierenden Faktors zum auslösenden Moment der Phonemisierung erhoben.66 Äußerst skeptisch bemerkt Steblin-Kamenskij zu Penzls Erklärung: „It is just from the phonemic point of view that this assumption is untenable: if i had been lost after short root-syllables earlier than after long ones, the phonemization o f umlaut allophones should have resulted from this loss, and the absence o f umlaut in such syllables could not have become the rule (...)." (Steblin-Kamenskij 1 9 5 9 : 1 0 6 )

Das entscheidende Problem bleibt somit ungelöst: Unter welchen Umständen kommt es zielgerecht zur Phonemisierung und unter welchen Umständen nicht?67 Mit Hreinn Benediktsson: „But the question is, as later put by King: 'why do allophones sometimes remain and other times revert?' [...]. T h e principle that phonetic variants, in consequence o f the loss o f the conditioning factors, may 'revert to the neutral starting-point', as Skomedal formulates it [...], though perhaps consistent with the tenets o f generative theory, seems hardly compatible with those o f structural phonology; at any rate, if it is accepted, the principle o f phonemization is then reduced to an ad-hoc postulate, o f little or no explanatory value." (Benediktsson 1 9 8 2 : 9)

Insgesamt muß festgestellt werden, daß Penzls Ansatz von zwei fraglichen Prämissen ausgeht: zum einen von der Sieversschen Synkopierungsabfolge, zum anderen vom Leitprinzip once a phoneme - always a phoneme. Nur in Kombination sind beide Prämissen dazu geeignet, das Verteilungsbild des

"

Siehe Penzl

1951:

5;

ferner Diderichsen

1947:

75

und Martinet

1981:

222-226.

Twaddells ( 1 9 3 8 : 1 7 9 ) Grundansatz zum althochdeutschen i-Umlaut wertet den Zusammenfall aller Schwachdruckvokale in Schwa als ausschlaggebenden Phonemisierungsimpuls; siehe Teil II.2. 67

Vgl. King 1 9 7 1 : 4 . M a n u Leumann ( 1 9 5 8 : 123) stellt die grundsätzliche Frage: „Wann oder wie wird eine rein phonetisch-kombinatorische Phonemvariante zu einem eigenen Phonem im Sinne der Phonologen?"

54

Umlauttheorie und Strukturalismus

nordischen /-Umlauts zu erklären: Prämisse Α zieht Prämisse Β nach sich und umgekehrt. Wie gesagt, sind beide Vorgaben aber unwahrscheinlich und münden in ein zirkuläres System. Die gegen die Rückumlauttheorien vorgebrachten Einwände bleiben insgesamt bestehen. Ebenso wie andere linguistische Schulen hat sich die strukturelle Forschung schwer damit getan, konkrete Lösungswege zur Erklärung umlautloser Formen aufzuzeigen. Antonsen ist konsequent genug, die Realität eines Rückumlauts zu verneinen. Mit aller Deutlichkeit stellt er fest: „If a form without umlaut is not analogical, it can only go back to a form which already lacked /-i-/ in Proto-Germanic." (Antonsen 1966: 120)

Damit bezieht er eine deutliche Gegenposition zu Penzl (1951/1988). W o der /-Umlaut ausbleibt, habe keine reguläre /-Synkope stattgefunden. 68 Dementsprechend weicht Antonsen auf die morphologische Erklärungsebene aus. Bei den /-Stämmen setzt er massive morphologische Umgestaltungen basierend auf dem Einfluß der konsonantischen Deklination voraus: „When the repatterning of these paradigms took place and forms with /-i/ (and therefore umlaut allophones in the root) were replaced by forms without /-i/ (and therefore without umlaut allophones in the root), no phonemicization of the umlaut allophones could result, since it was not a matter of 'losing the /-i/', but of replacing, for example, */ansti/ = [aensti] by/anst/ = [anst] in analogy with /gans/ = [gans] 'goose'. At this stage of the language, it was impossible to have a mutated vowel without a following /-i/, nor an /-i/ in a postroot syllable without an umlauted vowel in the root. Each presupposed each other." (Antonsen 1969-70: 69 sq.)

Antonsen führt umlautlose Formen auf durchgreifende Umgestaltungen zurück. Diese Erklärung bezieht sich auf ein Sprachstadium mit allophonischem ///-Umlaut, das deutlich vor der lautgerechten Reduktionsphase von unbetontem /, t, j anzusetzen ist. Das Paradoxe an Antonsens Formulierung ist natürlich die Einbeziehung einer Analogie auf phonetischer Ebene. Denn subphonematische Analogie dürfte ein Widerspruch in sich selbst sein. Man könnte dann ebensogut einen „Rückumlaut" beanspruchen. Sollte aber nicht die Möglichkeit eingeräumt werden, daß auch die Umgestaltung einer /-haltigen Endung zur Phonemisierung von Umlautwerten führen kann? 69

68

Vgl. ausdrücklich Antonsen 1966: 120: „I would suggest, however, that phonological syncope has no legitimate place in the explanation of unmutated forms." Zur Erklärung umlautloser Formen im Nordisch-Westgermanischen siehe Antonsen 1966: 120-122; ders. 1969: 2 0 1 - 2 0 7 und 1969-70: 68-70.

69

Vgl. die gestumR-Diskussion in Teil III. 1.

Zwischenresume

55

Alles in allem erscheint es höchst fraglich, ob der durchgängige Unterschied zwischen schweren und leichten Stämmen im Altnordischen auf morphologischer Ebene erklärbar ist. Noch komplexer erscheint die Problemlage unter Hinzuziehung westgermanischer Sprachen; vgl. die Schwersilber ahd. gast, branta, hangta versus an. gest(r), brendi, hengdi. Hiermit bahnt sich der Schluß an, daß die Anwesenheit eines unbetonten /-Elements mit den Merkmalen [+ hoch] [+ vorn] per se noch kein Garant für die Durchführung des /-Umlauts in der Synkopezeit ist (siehe dazu IV.2.2). Es bleibt zu untersuchen, warum im Nordgermanischen vorrangig Leichtsilber umlautlos sind, im Westgermanischen dagegen Schwersilber (siehe IV.2.2). Angesichts altrunischer Belegformen vom Typus tawido (mit Bindevokal *-/-) erscheint eine morphologische Erklärung zumindest für den Verbalbereich nicht akzeptabel, da sie dem phonologischen Grundproblem ausweicht (vgl. die Besprechung Taylors unter C). Auch die konsequente Durchführung des /-Umlauts im Altgutnischen spricht gegen durchgreifende Umgestaltungen bei den Leichtsilbern auf gemeinnordischer Ebene. Das Fazit ist sehr ernüchternd: „It is true that neither Twaddell nor Penzl (nor any other historical linguist, whether structurally oriented or not) has provided us with an adequate phonological explanation for c e r t a i n

unmutated forms in Scandinavian and German." (Antonsen 1966: 117) 7 0

„Die Annahme von zwei Phasen hat nicht zur Lösung der existierenden Umlautprobleme beigetragen." (Κ. M. Nielsen 1978: 31)

II.5 Zwischenresume Die klassischen Rückumlauttheorien können als prä- oder semistrukturell charakterisiert werden, da sie allesamt auf phonetischer Ebene operieren. Unter Berufung auf das junggrammatische Primat der Synkope ignorieren sie mögliche phonologische Auswirkungen von Vokalabschwächungen. Bereits Alf Sommerfeit (1934) hat jedoch betont, daß eine rein phonetische Betrachtungsweise den gestellten Anforderungen nicht gerecht wird. In der Tat vernachlässigt sie den systemimmanenten Sprachnexus, der das Gleichgewicht auf phonologischer Ebene wahrt und damit sprachliche Differenzierungsmöglichkeiten aufrechterhält.71 70

Hervorhebung von M.S.

71

Demgemäß wertet Leumann (1958: 124) als Vorzug der phonologischen Theorie, „dass sie die Lautbetrachtung von der Phonetik weg wieder zu den Grundelementen als psychologischen Realitäten zurückgeführt hat, zu den als Phoneme bezeichneten Lautideen oder

56

Umlauttheorie u n d Strukturalismus

Gefordert ist demnach keine Operation mit isolierten Lautübergängen, sondern eine ganzheitliche, systembezogene Sprachbetrachtung. Auf phonetischer Ebene erweist sich ein restringierter Übergang / > e oder / > θ als implausibel, weil die Vokalreduktion bis hin zum Segmentverlust niemals abrupt, sondern stets graduell verläuft. Es kann daher keinen prinzipiellen, sondern allenfalls einen zeitlichen Unterschied in der /-Reduktion nach schwerer und nach leichter Silbe geben: erst /-Reduktion und /-Synkope nach schwerer, dann nach leichter Silbe (vgl. Schulte 1996a). Auf phonologischer Ebene wird ein kausaler Zusammenhang zwischen Reduktion einerseits und Umlautphonemisierung andererseits in der Regel ignoriert. Als auslösendes Moment der Phonemisierung werden ausschließlich Synkope und Apokope gewertet, nicht aber andere Reduktionstendenzen wie Senkungen/Zentralisierungen. 72 Die Interpretation ist daher inkonsequent und weist eine Erklärungslücke auf. Unter dieser zweifelhaften Prämisse bräuchten reduktionsbedingte Veränderungen im Endsilbenbereich (graduelle Schwächungen mit Verlust der Extremwerte) in der Tat keinen phonematischen /-Umlaut herbeizuführen, sondern könnten als direkter Hinderungsgrund für den Eintritt des Umlauts gewertet werden. 73 Helge Dyvik macht auf den inhärenten Widerspruch dieser Argumentationslinie aufmerksam: „Hvis dette er riktig, ville en reduksjon i > θ naermest ha det motsatte resultat av det s o m h e v d e s i «omljudsväxlings»-teorien. H v i s -i hadde falt s a m m e n med -e i [θ] ville det ha hatt s a m m e resultat s o m synkopen: O m l y d s a l l o f o n e n ville ha blitt fonemisert, ettersom endevokalen ikke lenger ville ha vsert distinktiv. (Eksempel: [veliöa] skrevet eller fonemisert /valijja/ ville ha blitt til [veleÖa], s o m mätte skrives/vflejja/, o g etter synkopen /ν^ψβ/.)" (Dyvik 1 9 7 3 : 1 5 2 )

Dyvik stellt den theoretischen Nexus zwischen Reduktion und Umlautphonemisierung deutlich heraus. Richtungsweisend betonte schon Alf Sommerfeit in seinem Beitrag zur 7. skandinavischen Philologentagung in Lund 1932 die

Lautvorstellungen; es ist ein weiteres, dass sie versucht den Lautbestand einer Sprache als ein System v o n P h o n e m e n zu betrachten." 72

Z u r C o m m u n i s o p i n i o siehe z.B. Penzl 1 9 5 1 : 12; Riad 1 9 9 2 : 1 6 8 sq. Anm. 5 9 ; e b e n s o B e n e d i k t s s o n 1 9 8 2 : 3 2 : „In accordance w i t h the traditional view, t h e syncope of unstressed v o w e l s is regarded as the decisive factor in the p h o n e m i z a t i o n of umlaut, and there is i n d e e d n o evidence w h i c h w o u l d permit o n e to question this as a general p r o p o sition. T h e r e f o r e , in the step-by-step analysis of the process of umlaut phonemization, the s y n c o p e necessarily acquires fundamental significance."

73

A u s g e h e n d v o m Primat der Synkope, k o m m t auch Steblin-Kamenskij ( 1 9 5 9 : 1 0 7 ) zu d e m z w e i f e l h a f t e n Schluß: „Ii, o n the other hand, this change w a s merely a reduction of », then it c o u l d n o t have caused an umlaut."

Zwischenresu me

57

Notwendigkeit einer integralen phonologischen Erklärung, die auf den modus operandi des Umlauts zielt: „What was it that made the new vowels of the y- and the 0-types possible in the Scandinavian languages - and in the other Germanic idioms? And why was the equilibrium of the existing system broken? What is explained is the process of change and how the new forms are determined by the phonological system, not the factors responsible for the alteration of the old system." (Sommerfelt 1934: 362)

Aus verschiedenen Gründen liegt der Schluß nahe, daß reduktionsbedingte Senkungs- und/oder Zentralisierungstendenzen im langen und kurzen Endvokalbereich wirksame Phonemisierungsimpulse auslösen. Diese Vorgänge bedeuten aus artikulatorischer Sicht den Verlust der Extremwerte; zudem heben sie bestehende phonematische Kontraste in Nebentonsilben auf (z.B. durch Phonemzusammenfall */ϊ/ < */ij/, Viu/ mit */e/ < */eV und */ai/). Diese Argumentationslinie kann übrigens auch in bezug auf die spätaltrunischen Formen hroReR (By) und wate (Strom) verfolgt werden (siehe speziell IV.3.7). Durch reduktionsbedingte Phonemverschmelzungen wird das Gleichgewicht des alten phonologischen Systems in der Tat gestört. Sprache basiert prinzipiell auf phonologischen, d.h. distinktiven Oppositionen. Damit das phonologische System nicht Gefahr einer Unterdeterminierung läuft, werden simultan mit den ersten Verschmelzungen neue phonologische Oppositionen im Haupttonbereich durch Umlaut (und Brechung) geschaffen. 74 Hierbei handelt es sich schlichtweg um das Prinzip von actio und reactio. Die mit der fortschreitenden Reduktion verbundenen Systemstörungen werden unverzüglich durch die Ausdifferenzierung des Stammsilbenvokalismus behoben. Darin erblicken wir das sprachimmanente Regulativ/Korrektiv, dessen oberstes Leitprinzip neben der Ökonomie die Wahrung des sprachlichen Differenzierungspotentials ist. Im Spannungsfeld dieser beiden widerstreitenden Prinzipien verläuft der Lautwandel; er kann sich daher nicht verselbständigen. 75 Die Neutralisation phonematischer Oppositionen im Endsilbenbereich wird im phonologischen Gegenzug durch die Neubildung von Umlautphonemen kompensiert. Mithin handelt es sich um einen Transfer distinktiver Eigenschaften von einem Phonem zum anderen. Diese simultane Verlagerung sprachlicher Informationen führt zur Ausdifferenzierung des Stammsilbenvokalismus bei gleichzeitigem Abbau des Endsilbenvokalismus (phonemic split **

phonemic merger). 74

75

Zum ständigen Spannungsverhältnis zwischen Reduktion/Abbau der phonetischen Masse und Erhalt der Informationsmenge vgl. auch Küspert 1988: 160 (mit weiterer Literatur). Zur Sprachökonomie siehe besonders Martinet 1981: 85 sqq.; ferner ders. 1962: 2 Anm. 1 (mit weiterer Literatur).

58

Umlauttheorie und Strukturalismus

Demgemäß charakterisiert Gun Widmark (1991: 92) den Umlautprozeß als „samspel mellan starktonsystem och svagtonsystem." Obschon die Funktion des Umlauts als Kompensationsprozeß 76 von der Forschung deutlich hervorgehoben wurde, geschah dies gemeinhin mit Ausrichtung auf den Endpunkt der Reduktion, d.h. die Synkope. 77 Haugen beispielsweise konstatiert: „When *mannaz 'man' and *manniz 'men' both lost their second vowel, the contrast of /a/ : /i/ was transferred to the first syllable of the new form *mannR vs *m$nnR and transformed into a contrast of vocalic features." (Haugen 1969a: 108)

Einige Forscher betonen, daß die Synkope bzw. Apokope für einen phonologischen Kompensationsakt viel zu spät eintreten würden und folgerecht zu einer Lakune im phonetisch-phonologischen Verlauf des Umlauts führen müßten. 78 Eine solche kann und darf es natürlichen ebensowenig geben wie eine umlautlose Zwischenperiode. Dieser Erkenntnis zufolge entfällt zugleich die Möglichkeit, Vokalabschwächungen im Vorfeld der Synkope für das Ausbleiben des ϊ-Umlauts verantwortlich zu machen. Die Rückumlauttheorien leiten somit zu dem ebenso grundlegenden wie umfassenden Problem der Umlautphonemisierung über.

II.6 Die Crux traditioneller Ansätze: Phonemisierung durch Eliminierung? Der Grundgedanke des strukturellen Ansatzes besteht in nuce darin, daß allophonische Stellungsvarianten durch Schwund oder Wandel des determinierenden Faktors phonemisiert, d.h. fossilisiert werden. Typischerweise wird die Eliminierung des konditionierenden Faktors für diesen Merkmalstransfer verantwortlich gemacht. Martinet veranschaulicht diesen kombinatorischen Lautwandel anhand der Konsonantenpalatalisierung im Lateinischen: „Prinzipiell ist es aber wohl so, daß eine phonologische Variation nur dann distinktiven Status erlangen, d.h. ein neues Phonem ergeben kann, wenn - zumindest in bestimmten Fällen - die auslösende Ursache für die Variation nicht mehr vorhanden ist. Damit die Spaltung des lateinischen /lc/ in die beiden Phoneme /k/ und /k/ (hieraus Hl) zu Ende geführt werden konnte, mußte in /kia/ das / i / eliminiert werden und seine distinktiven Eigenschaften a u f / k / übertragen werden, also /k/." (Martinet 1981: 224)

76

Aus qualitativer Sicht kann dieser Kompensationsvorgang treffend mit Otto Höfler als Entfärbung (Färbungsreduktion) ** Ersatzfärbung

(Umlaut) charakterisiert werden; siehe dazu

Teil II.7. 77

78

Siehe v.a. Sigurd 1962: 10-21; ferner Haugen 1969a: 108; Reid 1990: 33 sq.; vgl. oben S. 5 6 mit Anm. 72. Siehe insbesondere Höfler (1955/56) und Liberman (1991); dazu im folgenden mehr.

Die Crux traditioneller Ansätze

59

Dennoch ist dieser /-Schwund nicht als mechanische Ursache des Phonemwandels /k/ > /k1 zu betrachten. Vielmehr wird dieser Schwund erst durch kompensatorische Übertragung des Merkmals [ + palatal] auf den Konsonanten ermöglicht. Auch beim parallelen Übergang /ki/ > /ki/ ( > /ci/) erfolgt der Phonemwandel offensichtlich nicht durch Tilgung des /i/. Dementsprechend werden als Phonemisierungskriterien des ///-Umlauts gemeinhin /-Synkope und /-Schwund herangezogen. 1 Diese Einschätzung ist aber nicht unbedingt adäquat. Zunächst kann der phonetische /-Umlaut mit van Haeringen ( 1 9 1 8 ) als regressiver Fernassimilationsprozeß verstanden werden, der zu einer komplementären Distribution führt. Unabhängig voneinander kommen verschiedene Forscher zu dem Schluß, daß ein rein phonetischer Assimilationsprozeß durch Ausstoßung des konditionierenden Faktors theoretisch zurückgenommen werden müßte. Regulär wäre somit nicht die Fossilisierung der Umlautallophone, sondern ihre Reversion, d.h. ein Rückumlaut. 2 Von unterschiedlichen Blickwinkeln aus bemerken Erdmann und Liberman: „Twaddell verband die Phonologisierung von Stellungsvarianten kausal mit der Eliminierung des lautlichen Kontextes, die er als Grund ihrer Phonemisierung ansah. Diese Annahme ist methodisch nicht gerechtfertigt. Allophone werden nicht phonemisiert, weil die bedingenden Faktoren wegfallen. Allophone verschwinden, wenn der betreffende phonologische Kontext aufgehoben ist." (Erdmann 1972: 22) „Phonetic coarticulation, even if it could account for the beginning of umlaut, cannot account for its final stage, because coarticulation presupposes the presence of all the 'actors': while there is /j/, there is fronting; when 1)1 is gone, fronting is also gone. The paradox of phonologization, as it is presented by Twaddell's school, is that /i/ and /j/ allegedly cause fronting, but this fronting is retained (and even comes into its own as a distinctive feature) after /i j/ are lost. Why did the front vowels not become back again, why did the frontness stay, once the influence of /i j/ was removed?" (Liberman 1991: 126)

Liberman betont die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Sprachbetrachtung; es gibt keine isolierten, mechanischen Lautübergänge, die wie mathematische

1

2

Bei der folgenden Diskussion wird der /'-Umlaut zunächst gänzlich ausgeklammert, da er eine separate Analyse mit aufwendigen Vorüberlegungen erfordert. Wiederum stellt sich die grundsätzliche (und kontrovers beurteilte) Frage, ob Schwund oder Wandel des Halbvokals, d.h. in erster Linie samprasärana, den phonematischen /'-Umlaut in an. kyn < *kunja, *kunju initiiert. Siehe hierzu IV.2.1-2. Siehe v.a. Erdmann 1972: 22; Benediktsson 1982: 9; Liberman 1991: 126 sq. Auch Dals (1967) Argumentation geht in diese Richtung, wobei sie den morphologischen Aspekt bei der Phonemisierung des althochdeutschen «'-Umlauts betont. Der /'-Umlaut übernimmt nachweislich die Funktion eines Plural- und/oder Optativmorphems; vgl. nhd. Gast : Gäste; wurden : würden entsprechend an. uröu : yrdi.

60

Umlauttheorie und Strukturalismus

Formeln operativ sind. 3 Dieser Kritikpunkt ist berechtigt. Zugleich leitet er zu der Erkenntnis über, daß bereits im Vorfeld der Synkope eine Phonemspaltung zu erwarten ist. Konsensual stellen Erdmann und Liberman fest: „Die Tilgung der bedingenden Faktoren ist nicht der terminus quem.

post quem,

sondern

ante

Die Umlautallophone werden bereits vor der schwa-Werdung des unbetonten I'll

oder dessen Synkope zu den neuen gerundeten vokalischen Vorderzungenphonemen." (Erdmann 1 9 7 2 : 18) „We should first and foremost discard the notion that there is a causal connection between lengthening and apocope. [...] Actually, it [sc. open-syllabe lengthening; M.S.] was caused by the weakening of endings, not by their loss. [...] T h e new vowels were phonologized before apocope, and medieval spelling reflects this fact with some accuracy." (Liberman 1 9 9 1 : 1 3 0 sq.)

Damit trennen sich jedoch die Wege der beiden Forscher. Während Liberman auf die Relevanz von Schwächungen hinweist, lehnt Erdmann einen Nexus zwischen Umlaut und Reduktion kategorisch ab. Ihm zufolge ist der /-Umlaut ein kombinatorischer Lautwandel, der vor und unabhängig von der Beseitigung des determinierenden Kontextes stattgefunden hat. Aufgrund dieser Differenzierung zwischen kombinatorischem Lautwandel und subphonematischer Variation könne Kocks 3-Periodenmodell angeblich aufrecht erhalten werden. Allophone seien permanent, d.h. in allen drei Perioden, vorhanden, Phoneme indes nur in Kocks erster Periode: „In Kocks dritter Periode (bei Erhalt des palatalen Elementes) wirkt der «-Umlaut nach wie vor als allophonische Variation. [...] Mit Hilfe des phonologischen Ansatzes läßt sich der i-Umlaut im Altnordischen unter zwei Gesichtspunkten

beschreiben:

als allo-

phonische Variation und als kombinatorischer Lautwandel. Letzterer gilt ausschließlich für Kocks erste Phase. Als allophonische Variation ist er in allen drei Perioden zugegen." (Erdmann 1 9 7 2 : 2 2 )

Dies ist eine ungewöhnliche phonologische Formulierung, die sich nicht mit den Definitionen Jakobsons und Twaddells deckt (vgl. II.1-2). 4 Denn laut

3

Siehe Liberman 1 9 9 1 : 1 2 9 - 1 3 7 . Ohne Zweifel sind außerphonologische (nicht zuletzt morphologische) Faktoren funktional mitverantwortlich für die Phonemisierung; vgl. besonders Dal 1 9 6 7 : 6 1 ; ferner Hooper 1 9 7 6 : 8 7 : „Examination of actual cases less ancient (and therefore more accessible) than German umlaut suggests that the loss of the phonetic environment is not a condition on morphologization, but rather that morphologization may occur even where the phonetic conditioning is still present and transparent." Zu weiteren außerphonologischen Faktoren, die für die Phonemisierung relevant sein können, siehe Liberman, ebd.

4

Vgl. Κ. M . Nielsen 1 9 7 8 : 3 0 sq. mit Anm. 2 3 ; ferner Widmark 1 9 9 1 : 9 8 . In einer Mitteilung an Karl Martin Nielsen bemerkt Eli Fischer-J0rgensen, daß Erdmann „den Terminus Phonologisierung auf eine Weise verwendet, die kein Phonologe in Anspruch nehmen würde" (ebd.).

Die Crux traditioneller Ansätze

61

Jakobson und Polivanov wird eine Phonologisierung stets von anderen Neuerungen im phonologischen System begleitet; sie ist kein unabhängiger Vorgang (siehe II.l). Erdmann bezieht damit eine radikale Gegenposition zu Twaddell und verwirft den strukturellen Grundansatz in toto. 5 Seine Alternativdeutung des altnordischen /-Umlauts ist jedoch kaum haltbar. Er adaptiert nicht nur Kocks 3-Periodenmodell, sondern wertet zudem Kocks jüngeren /'-Umlaut als allophonische Variation. Diese Argumentation beinhaltet gleich zwei Fehlschlüsse. In der Tat ist es für verschiedene Forscher verlockend, Kocks zweite Umlautperiode mit dem subphonematischen Umlaut der Strukturalisten zu identifizieren. Demgemäß wäre eine langanhaltende Produktivität des /-Umlauts (durch bewahrtes /) vorauszusetzen.6 Ähnlich wie Erdmann konstatieren Gun Widmark und Tomas Riad: „Efter de fonematiseringar som ägde rum dä i synkoperades, kvarstod ett allofoniskt iomljud framför kvarstäende i. Enligt Kock skulle i detta fall räda ett i princip undantagslöst omljud." (Widmark 1991: 130) „Throughout, where the i remains unsyncopated (because of accent 2, nasal protection, etc.), »-umlaut is effected, whether the target syllable is light or heavy. This, of course, is our proof that /-umlaut per se remains in effect." (Riad 1988: 18)

Indes besteht kein Zweifel daran, daß auch der /-Umlaut im Nora. PI. gestir < *gastiz oder im Konj. Prät. νάη < *wärt Phonemstatus hat.7 Dies kommt schon durch die graphematische Wiedergabe der Umlautvokale zum Ausdruck (vgl. auch die gestumR-Diskussion in III. 1). Wie Hesselman vernachlässigt Erdmann die zeitliche Begrenztheit des /'Umlauts; schließlich handelt es sich um einen historischen Vorgang (siehe im weiteren II.8). Wäre der /-Umlaut in an. gestir, ferÖir, bendill, ketill wirklich noch stellungsbedingt, dürfte es daneben natürlich keine umlautlosen Formen

wie naudir, brüdir, stadir, vaöill geben.

5

6

7

Siehe Erdmann 1972: 18: „Der Begriff der Phonemisierung besagt lediglich, daß Allophone einer Sprachstufe distinktive Einheiten auf einer anderen bilden können. [...] Der kausale und chronologische Aspekt, der dem Begriff der Phonemisierung in der Deutung Twaddells unterstellt wird, läßt sich methodisch nicht halten." Vgl. auch das folgende (Schein-)Argument Widmarks (1991: 131): „För en fortsatt produktivitet hos omljudet ocksä efter Synkopen künde tala det faktum att det fortfarande hade en ganska bred bas i spräket, eftersom tvästaviga ord med i i senare stavelsen var vanliga." Vgl. prinzipiell die folgende Kritik Κ. M. Nielsens (1978: 23) gegenüber Penzl (1951): „Man kann also nicht, wie Penzl es tut, Kocks jüngeren Umlaut mit dem phonetischen Umlaut der Phonologen gleichsetzen."

62

Umlauttheorie und Strukturalismus

Die Differenzierung zweier verschiedener Umlautphänomene im Altnordischen erweist sich in jedem Fall als eine Hilfskonstruktion, die den sprachlichen Gegebenheiten widerspricht. Nichtsdestoweniger ist auch Twaddells Modell kritikanfällig und deshalb präzisierungsbedürftig. Der kardinale Fehler liegt aber nicht im strukturellen Grundansatz, sondern in seiner konkreten Anwendung. Das junggrammatische Primat der Synkope, welches Kocks System zugrunde liegt, wurde allzuselten angefochten. 8 Selbst Strukturalisten berufen sich unkritisch auf den Vokalschwund als Phonemisierungskriterium. 9 Immerhin stellt Einar Haugen in allgemeiner Form fest: „Even before umlauting and breaking were completed, certain mergers and other changes began obscuring its operation. It had ceased to be a productive phonological process, its results often enshrined in the morphological system as a set o f alternations between different forms o f the same or related words." (Haugen 1 9 8 2 : 3 4 )

Demgemäß ist Hesselmans und Janssons Abwendung von der Synkope als Gegenreaktion auf die vorherrschende Lehrmeinung verständlich; ähnlich wie Hesselman stellt auch Erdmann den Nexus zwischen Umlaut und Synkope generell in Abrede. Der Zugang zu einer adäquaten Analyse des historischen Umlauts wurde durch den Synkopezentrismus buchstäblich verbaut. Diese überkommene Fehleinschätzung hat auch den Wert struktureller Erklärungsversuche sehr eingeschränkt. 10 Dabei hat der Strukturalismus seine Möglichkeiten bei der Interpretation von Umlaut und Brechung keineswegs ausgeschöpft. Als weiterer Gesichtspunkt kommt hinzu, daß Synkope und Reduktion als unmittelbare Auswirkungen der Akzentballung kein phonologisches, sondern ein rein phonetisches Kriterium abgeben, das sich zunächst auf rein quantitativer Meßskala bewegt. Erst durch das Argument des Phonemzusammenfalls (oder der Neutralisation phonematischer Oppositionen) ist eine adäquate Analyse auf phonologischer Ebene möglich. In jedem Fall ist eine scharfe ter-

8

Diese Einschätzung geht maßgeblich auf Axel Kock zurück; vgl. Kock 1 9 1 1 - 1 6 : 6 2 : „Da der ältere ί-Umlaut durch den Verlust des i in langsilbigen W ö r t e r n hervorgerufen worden ist, versteht es sich von selbst, dass er gleichzeitig mit diesem i-Verlust eingetreten ist."

9

Siehe expressis verbis Dyvik 1 9 7 3 : 1 5 6 und Benediktsson 1 9 8 2 : 3 2 ; „den betingende faktor /i/ er borte, og [ε] fonemiseres. M a n gär over fra έ notere gastiR til ä notere gpstR" (Dyvik, ebd.).

10

Beispielsweise kommen Voyles ( 1 9 9 1 : 1 5 9 sqq.) und Liberman ( 1 9 9 1 : 1 3 7 ) zu einem entschiedenen Negativurteil; „It seems that the study o f each [sc. o f umlauts and vowel shifts; M . S . ] has grown around its own pet fallacy: the two-step reconstruction for umlaut and a view o f the shift as a mere rearrangement of vocalic segments explainable from within the system o f phonemes. Progress in historical Germanic phonology is hardly possible as long as these fallacies are treated as truths" (Liberman, ebd.).

Ein integraler Neuansatz

63

minologische und funktionale Grenzziehung vonnöten. 11 Abschließend muß daher festgestellt werden, daß die /-Synkope als Phonemisierungskriterium für den /-Umlaut in mehrfacher Hinsicht ungeeignet ist. Ein adäquater Neuansatz muß sich in jedem Fall von diesem Primat lösen. Hreinn Benediktsson eröffnet in seinem Forschungsbericht dieselbe Perspektive: „If t h e umlautless middle period can be removed, t h e p r o b l e m [of z-mutation;

M.S.]

b e c o m e s a n a l o g o u s t o that of t h e N o r d i c « - u m l a u t , t h e classical periodization o f which collapses immediately, if o n e abandons t h e traditional idea [...] o f umlaut as an abrupt mutation inextricably b o u n d up with syncope." (Benediktsson 1 9 8 2 : 2 6 )

II.7 Ein integraler Neuansatz: Phonemisierung durch Schwächung Bereits im Jahr 1 9 3 2 hielt Alf Sommerfeit ein glänzendes Plädoyer für einen phonologischen Interpretationsansatz; dabei schränkte er zugleich die Relevanz der Synkope/Apokope deutlich ein: „The m u t a t i o n and t h e d r o p p i n g o f the vowel which caused m u t a t i o n must not necessarily be simultaneous. M u t a t i o n has taken place in a period w h e n quantitative differences existed also in unstressed syllables, and the reduction o f t h e unstressed syllables has evidently mainly been a reduction in quantity. An intermediate stage w h e r e the stressed vowel had already been influenced, but the unstressed vowel still existed as syllablecarrier, may very well be imagined. T h e later m u t a t i o n s have not g o n e further than t o this stage." ( S o m m e r f e l t 1 9 3 4 :

360)

Sommerfelts wenig beachteter Beitrag erscheint umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, daß die ernsthafte Auseinandersetzung der skandinavischen Forschung mit dem Strukturalismus erst sehr spät begonnen hat. 1 Ohne Übertreibung kann heute festgestellt werden, daß seine Grundeinsicht dem Forschungsstand der Zeit weit voraus war. Auch Anatoly Liberman verwirft die Synkope/Apokope als möglichen Phonemisierungsfaktor. Mit aller Deutlichkeit weist er auf die Auswirkungen frühzeitiger Vokalabschwächungen hin und verlagert damit den Blickwinkel in ein Frühstadium der Reduktion: „The entire avalanche of changes [of the great vowel shift; M.S.] was caused by the morphological factor of prime importance, namely, by the weakening of endings" ( 1 9 9 1 : 136).

11

Vgl. die V o r ü b e r l e g u n g e n , die D o n k a M i n k o v a ( 1 9 8 3 : 1 9 2 sq.) bei d e r p h o n o l o g i s c h e n Interpretation des mittelenglischen -e anstellt.

1

Bezeichnenderweise wird die Diskussion der K o p e n h a g e n e r N o r d i s t e n t a g u n g im J a n u a r 1 9 4 6 noch ausschließlich von prästrukturell-junggrammatischen U m l a u t - und Brechungst h e o r i e n beherrscht; siehe J o h a n n i s s o n [u.a.] 1 9 4 7 .

64

Umlauttheorie und Strukturalismus

Liberman verweist insbesondere auf A. F. Birsert, der im Hinblick auf die russische Konsonantenpalatalisierung folgende Erklärung geltend macht: „It would, however, be wrong to assume that the palatalization o f consonants became phonologically relevant only after the loss o f the word-final high front vowel. Even before the loss o f the final vowel the softness of the preceding consonant became an important element in meaning differentiation, which made the weakening and then the complete loss o f the final vowel possible without impairing or obscuring meaning differentiation in Russian. Anyway, by the time o f apocope, palatalization could not have been only a combinatory quality, because in that case it would have had to disappear together with the disappearance o f the conditions that determined its emergence." (Birsert 1 9 4 0 : 4 7 )

Birsert betrachtet Reduktion und Konsonantenpalatalisierung als interagierende Prozesse, die sich gegenseitig bedingen und miteinander verwoben sind. Dasselbe dürfte ebenfalls für Reduktion und Umlaut gelten. In beiden Fällen ist die Vorstellung von sprachregulierenden Kompensationsprozessen angebracht; im ersten Fall erfolgt die Übertragung des distinktiven Merkmals [ + vorn/palatal] auf einen Konsonanten, im zweiten Fall auf einen Vokal. 2 In seinem berühmten Aufsatz zur „Stammbaumtheorie, Wellentheorie und Entfaltungstheorie" geht Otto Höfler auf den Nexus zwischen Reduktion und Umlaut näher ein. Dabei nimmt er ausdrücklich eine Differenzierung zwischen Qualitäts- und Quantitätsreduktion vor. 3 Die Reduktion, die ihrerseits durch zunehmende Akzentballung bedingt ist, manifestiert sich in zweifacher Weise: Ursprünglich vollartikulierte Vokale erfahren eine Einbuße ihrer exspiratorischen Betonung und werden zugleich qualitativ in ihrer Färbung abgeschwächt. 4 Höfler zufolge ist nicht Quantitätsreduktion, sondern Qualitätsreduktion (Färbungsreduktion) für den Umlaut entscheidend, zumal dieser selbst ein Färbungsprozeß ist: „Eine solche Färbungs-Reduktion - die verschiedene Stufen durchmachen kann - möchte ich auch für das frühe Germanische annehmen, und zwar in fester Korrelation zu der stufenweise fortschreitenden .Akzentballung', die für die Geschichte sämtlicher germanischer Sprachen so charakteristisch ist. W i r hätten dann in der germanischen Grammatik außer mit den quantitativen Reduktionen auch mit (fortschreitenden) QualitätsReduktionen zu rechnen."

2

Vgl. die Beobachtungen zu den albanischen Palatalisierungsphänomenen in Teil IV. 1.4.

3

Siehe H ö f l e r 1 9 5 5 : 6 2 - 6 5 ; ders. 1 9 5 6 : 1 3 - 1 6 ; dazu H . F. Nielsen 1 9 8 9 : 1 3 7 .

4

Auch Meillet ( 1 9 7 0 : 3 7 - 4 2 ) weist ausdrücklich auf diese beiden Auswirkungen des germanischen Initialakzents hin: „except for the initial syllable, the quantity and often the quality o f the vowels have been profoundly disturbed" (ebd., 3 8 ) .

Ein integraler Neuansatz

65

„Der bei sämtlichen Umlauten wirkende Faktor wäre dann das Prinzip der .ErsatzFärbung': was den Nebensilben bei diesem Prozeß der .Qualitäts-Reduktion' an ,Farbe' verloren ging und infolge der Akzentballung verlorengehen mußte, das wurde durch eine Farb-Anderung der Haupttonsilben aufgewogen." (Höfler 1 9 5 6 : 14, 16)

Hierin offenbart sich für Höfler „das Prinzip der germanischen Umlaute" und zugleich der einheitliche Charakter aller Umlautvorgänge. Dieser Grundansatz eröffnet eine integrale Lösungsperspektive, die alle nordisch-westgermanischen Sprachen einbezieht. 5 Basierend auf dieser Erkenntnis, sollte eine umfassende, d.h. sprachübergreifende Umlautinterpretation möglich sein (siehe weiterhin Teil V). Höflers Färbungsreduktion betrifft gleichermaßen Langund Kurzvokale - unabhängig davon, ob sie synkopierbar sind oder nicht: „Wir müßten außer der Möglichkeit des Schwundes und der quantitativen Verkürzung von Nebentonvokalen auch verschiedene Formen und Stufen eines bei der Reduktion eintretenden ,Färb-Verlustes', einer qualitativen Reduktion annehmen." (Höfler 1 9 5 6 : 13)

Übergeordnete Ursache dieser zweifachen Reduktion ist mit Höfler der Intensivierungsverlauf des germanischen Akzents (Akzentballung). Bedingt durch die Stammsilbenbetonung, nimmt das energetische Gefälle zwischen Hauptund Nebentonsilben mehr und mehr zu.fi Andere Forscher haben sich dieser Sichtweise angeschlossen. 7 Mit Eva Mayerthaler ( 1 9 8 2 : 53) kann Vokalreduktion als „segmentale Zusatzinformation" definiert werden, durch die der unsichtbare Wirkfaktor „stress" erst sichtbar wird. Es handelt sich um einen durchgreifenden phonetischen Prozeß, von dem alle Nebensilbenvokale betroffen sind. Schwund oder Bewahrung von /-Lauten sind daher als Kriterium für die Durchführung (bzw. Nicht-Durchführung) des /-Umlauts ungeeignet. Damit grenzt Höfler sich mit aller Deutlichkeit von Kock ab, demzufolge die rein quantitativen Übergänge Γ > 0 (älterer /'-Umlaut durch /-Synkope) und / > Γ (jüngerer /-Umlaut durch bewahrtes i) für den /-Umlaut relevant sind. 8

5

Es versteht sich von selbst, daß diese Grundanschauung des Umlautvorganges (Färbungsreduktion

u

Ersatzfärbung) nicht nur für das Altnordische, sondern für alle germanischen

Sprachen gleichermaßen relevant ist. Auch hierin unterscheidet sich Höflers Ansatz von dem Kocks. Diese Färbungsreduktion ist auch in den Ubergangsinschriften nachzuweisen; siehe Teil III.3. 6

Siehe z.B. Höfler 1 9 5 5 : 6 5 ; ders. 1 9 5 6 : 14; dazu H. F. Nielsen 1 9 8 9 : 1 3 7 .

7

Siehe z.B. Gutenbrunner, HLFA, § 3 ; Brosnahan/Turner 1 9 5 8 : 1 2 8 ; Riad 1 9 8 8 : 1 7 sq.;

8

Als Verfechterin der Kockschen Lehre argumentiert Gun Widmark ( 1 9 9 1 : 92), daß der

mit einem umfassenderen Erklärungsansatz jedoch Liberman 1 9 8 2 : 2 5 1 et passim. jüngere i-Umlaut durch einen rein quantitativen Ubergang / > Γ initiiert werde: „Omljudet framför läng vokal kan dock tänkas ha haft samma bakgrund som det framför kort

66

Umlauttheorie und Strukturalismus

Kocks gezwungene Unterscheidung zwischen älterem und jüngerem iUmlaut ist demnach hinfällig. 9 Wenn man sich von dem Gedanken löst, daß erst der Vollschwund des konditionierenden Faktors i (bzw. eine entsprechende Kürzung t > Ϊ ) zur Umlautphonemisierung führt, ergibt sich in der Tat die Möglichkeit einer differenzierteren und womöglich adäquateren Analyse des phonologischen Umlautvorganges. Auf diese Weise eröffnet sich ein historischer Zugang zum /-Umlaut, der nicht auf den quantitativen, sondern auf den qualitativen Aspekt der Reduktion ausgerichtet ist. Zugleich distanziert Höfler sich aber auch von der betont phonetischen Interpretation Hesselmans, weil diese den chronologischen Aspekt und damit den historischen Gesamtverlauf vernachlässigt (vgl. II.4.2.B): „In Hesselmans Untersuchung wird die Frage nicht beantwortet, weshalb jene Assimilationserscheinungen [...] im Laufe von mehr als 2 0 0 0 Jahren in z.T. sehr genau beobachtbaren zeitlichen Stufen (und Unterstufen) sich vollzogen haben und weshalb jene Assimilationsvorgänge just in der beobachtbaren Abfolge eingetreten sind [Anm.]." (Höfler 1 9 5 6 : 1 5 )

Höflers Behandlung des Umlauts ist durchaus richtungsweisend. Unabhängig von der Synkope wird der graduelle Aspekt der Reduktion berücksichtigt. Denn aus phonetischer Sicht gibt es nicht nur eine Schwastufe und eine Nullstufe, sondern diverse Zwischenstadien der Vokalreduktion. Die Stammsilbenvokale absorbieren gradweise die Färbung der Nebentonvokale. Phonetisch betrachtet, sind sowohl Endsilbenreduktion als auch Allophonbildung in Stammsilben graduelle Vorgänge (vgl. II.3). Der /-Umlaut verlagert das Merkmal [ + vorn] in einem zeitaufwendigen Prozeß vom Nebentonvokal auf den Stammsilbenvokal. Es besteht ein Kausalzusammenhang zwischen Vokalreduktion als „Ursache" und Umlaut als „Folge". 10

synkoperad vokal. Eftersom den länga vokalen förkortas, vore det ocksä i det fallet möjligt att tänka sig att omljudet uppkommer genom [...] att den förra övertar den del av Informationen som läg i den senares kvantitet." Vgl. aber Widmarks divergierenden Erklärungsversuch ebd., 1 2 5 . 9

Kock ( 1 8 8 8 : 1 5 9 ) räumte ein, daß älterer und jüngerer i-Umlaut wesensverschieden seien, da ersterer durch «-Schwund eintrete, letzterer aber infolge der Bewahrung von i; weiterhin stellt Kock ( 1 9 1 6 - 2 0 III: 3 8 ) fest: „Sedan denna tendens [sc. det äldre »'-omljudet; M . S . ] hade upphört, förflöt nägon tid, innan en annan (om ock naturligtvis med den förra besläktad) tendens framträdde, nämligen tendensen att läta ett kvarstäende i värka omljud (*lukilR

> lykill)."

Siehe auch Wessen 1 9 6 1 : 2 2 und Elmevik 1 9 9 3 : 7 8 (mit weiteren

Literatu rangaben). 10

Höfler ( 1 9 5 5 : 6 5 ) betont zugleich, daß es sich nicht um einen mechanischen, sondern um einen geistigen Zusammenhang handelt: Die gemeinsame Voraussetzung sei der (unbewußte) W i l l e zur Vielfalt, auf daß „etwas von der einst nicht nur Deutlichkeit, sondern auch Mannigfaltigkeit spendenden Verschiedenheit der -a-, -e-, -«'-, -o-, -u- der Nebenton-

Ein integraler Neuansatz

67

Nichtsdestominder bleiben Höflers Termini „Qualitätsreduktion" (Farbverminderung) und „Ersatzfärbung" durchaus abstrakt. In dieser Form sind sie nicht konkret auf phonematischer Ebene applizierbar. 11 Phonologisch betrachtet, muß es aber einen entscheidenden Augenblick geben, in dem die Phonemisierung erfolgt (vgl. II. 1). Ein solches phonologisches Kriterium ist durch den Phonemzusammenfall umlautwirkender und nicht-umlautwirkender Vokale in unbetonten Silben gegeben. Mit Lehmann: „Außerdem können A l l o p h o n e phonologisch relevant werden, w e n n die lautlichen Elemente, v o n denen sie abhängig sind, mit anderen Elementen zusammenfallen; vor-ae. [y] und andere gerundete A l l o p h o n e wurden zu Phonemen, als das ursprünglich f o l g e n d e i oder j mit den Entsprechungen anderer N e b e n t o n v o k a l e zusammenfiel oder ganz schwand. D e r Zusammenfall kann deshalb als der eigentlich zentrale Vorgang bei e i n e m Lautwandel angesehen werden." (Lehmann 1969: 1 3 6 sq.)

Bereits mit der ersten Verschmelzung umlautwirkender und nicht-umlautwirkender Vokale ist die Bildung neuer Umlautphoneme in den betreffenden Kontexten motiviert. Hiermit wird das entscheidende Phonemisierungskriterium vorgegeben. Wie bereits Jakobson (1931) klargestellt hat, sind Phonemzusammenfall (Neutralisation) und Phonembildung abrupte Vorgänge (siehe II. 1). Sie treten in einem bestimmten Moment ein und können kompensatorisch wirken; es handelt sich also - wie im Falle von Umlaut und Reduktion - um zwei interdependente Prozesse. In der Sprachwissenschaft ist die Erkenntnis keineswegs neu, daß bereits Schwächungen der Extremvokale im Vorfeld der Synkope eine Phonemisierung herbeiführen können. Hier sei besonders auf die Arbeiten Warren Cowgills (1969: 36) und David Greenes (1973: 131 sq.) zur sog. Ersten Palatalisierung im Irischen hingewiesen. Beide Forscher betonen, daß die palatalisierten Konsonanten im Altirischen durch partiellen Zusammenfall der Kurzvokale */i/ und */e/ in unbetonten Silben (vor *a oder *o der Folgesilbe) Phonemstatus erlangen, z.B. frühuir. *aliyah

> spätuir.

*al'eyah.

silben bewahrt bleibe, oder, w e n n man es gefühlsbetonter ausdrücken wollte, .gerettet 1 werde" (ebd.). Nüchterner ausgedrückt, meint dies die Wahrung des sprachlichen Informationsgehalts als oberstes Leitprinzip des Kompensationsvorganges; vgl. Teil II.5. 11

Prinzipiell sind Termini w i e „Farbverminderung/Entfärbung" phonetisch ausgerichtet; siehe z.B. Dressier 1 9 7 5 : 3 6 sq. D e n n o c h ist H. F. Nielsens ( 1 9 8 9 : 137) Kritik an H ö f l e r s Grundkonzept „Ersatzfärbung" nicht berechtigt. Selbstverständlich tangiert dieser Vorgang nicht nur die subphonematische, sondern auch die phonematische Ebene. Die Interpretation des Umlauts als phonologischer Kompensationsprozeß gründet auf d e m modernen Strukturalismus (vgl. II.5).

68

Umlauttheorie und Strukturalismus

Mit Greene: „While the palatalization in *atiyah

lat. alius·, M.S.] was conditioned, the palatal-

ization in the next stage *al'eyah (Olr. aile) was phonemic [...]." (Greene 1973: 131)

Was für die Konsonantenpalatalisierung gilt, dürfte prinzipiell auch für den /-Umlaut zutreffen und auf seine Interpretation übertragbar sein. Als implizite Grunderkenntnis dieser Arbeiten bleibt richtungsweisend festzuhalten, daß bereits Senkungen und Zentralisierungen im Vorfeld der Synkope für die Phonemisierung verantwortlich sind. Die eigentliche Synkope/Apokope, die sich in Form von Segmentverlust niederschlägt, verliert damit für den Phonemisierungsvorgang sichtlich an Bedeutung.12

II.8 Die Rolle des Zeitfaktors Das Grundproblem des nordischen /-Umlauts konstituieren umlautlose Leichtsilber wie an. staÖ und talÖa (< *stadi, *talidö).x Es bleibt zu fragen, warum der phonologische /-Umlautprozeß zu einem gewissen Zeitpunkt außer Kraft getreten ist, bevor er alle potentiellen Kontexte erfaßt hat. Die Vorstellung der Ausnahmslosigkeit, die durch den junggrammatischen Terminus „Lautgesetz" evoziert wird, erscheint in jedem Fall unpassend. Es versteht sich zunächst von selbst, daß nicht in Kocks Sinne an eine periodische Aus- und Wiedereinschaltung der Umlautfunktion zu denken ist. Vom Altgutnischen abgesehen, teilen alle altskandinavischen Sprachen das Charakteristikum der Umlautlosigkeit. Wie sich zeigte, bieten die klassischen Rückumlauttheorien, die rein phonetische Erklärungsfaktoren (v.a. restringierte Vokalabschwächungen) beanspruchen, keine befriedigende Lösung des Problems (siehe II.4). Indes wurde die zeitliche Erstreckung und Begrenztheit als genereller Aspekt phonetischphonologischer Prozesse von der Umlautforschung zu Recht hervorgeho-

12

Mit Skomedal (1980: 122-25) muß freilich eingeräumt werden, daß die a-, «-Apokope mittelbar als Phonemisierungsfaktoren des /-Umlauts fungiert, und zwar durch die Auslösung der samprasärana-Ke%e\ in *kunja, *kunju > *kyni (an. kytt); vgl. dazu Benediktsson 1982: § 8.2. Denn auch die Vokalisierung j > i ist als Schwächung klassifizierbar. Damit erfährt der Grundansatz „Phonemisierung durch Schwächung" wiederum Bestätigung. Siehe im weiteren Teil IV.2.1.

1

Indes weniger problematisch erscheint die Erklärung umlautloser i-Feminina mit schwerer Stammsilbe wie brüdr „Braut", PI. brüdir, naudr „Not", PI. nauötr. Hier bieten sich morphologische Erklärungsmöglichkeiten an; siehe Antonsen 1969-70: 68-70; Widmark 1991: 131-37; Syrett 1994: 98-102. Vgl. hierzu auch Teil IV.3.4 unter 2.

D i e Rolle des Zeitfaktors

69

ben. 2 Bereits Heinzel erkennt die zeitlichen Schranken des Umlautvorganges: „Vor allem aber gibt es in [Periode] III [ = klass. Altnordisch; M . S . ] eine Reihe von i der Endung, welche keinen Umlaut wirken und historisch betrachtet, auch nicht auf i oder j mehr Vocal [sic] zurückweisen. Sie können erst entstanden sein, nachdem eine Periode vorhergegangen, in welcher der «-Umlaut gewirkt und sich erschöpft hatte." (Heinzel 1 8 7 7 : 4 4 2 )

Diese Feststellung entspricht der gängigen Formulierung, daß der /-Umlaut nicht durch sekundäres / hervorgerufen wurde; vgl. Dat. Sg. an. armi *arme


*bant > batt (Prät. Sg. zu binda) versus *banda > band (neutraler Λ-Stamm) nicht erklärbar. 7 Der progressiv-dynamische Charakter des Umlautvorganges in Korrelation mit der Staffelung des Reduktionsverlaufs bringt es ebenfalls mit sich, daß dieser Prozeß erlahmt, bevor alle möglichen Kontexte erfaßt worden sind. Dem Zeitfaktor, mithin der Vorstellung einer zeitlichen Erstreckung phonetisch-phonologischer Vorgänge, muß daher eine maßgebliche Rolle auch beim Umlautvorgang eingeräumt werden. Daß dies zugleich eine deutliche Abkehr vom (zu Recht umstrittenen) strukturellen Dogma once a phoneme — always a phoneme bedeutet, sei nur am Rande bemerkt (vgl. II.4.2.E). In genereller Form kommt diese Grundanschauung auch in einer Formulierung Otmar Werners im Zusammenhang mit der Konsonantenpalatalisierung im Färingischen zum Ausdruck: „The idea that palatalization operates only with some palatal vowels - with the most elementary ones, we might say - could possibly be based on the general concept that (also regular) sound change makes its way gradually through the system and can lose its power before all of the respective items have been affected." (Werner 1996: 48)

Es ist allgemein bekannt, daß phonetisch-phonologische Prozesse nicht unbedingt durchgreifend sind, sondern möglichen Restriktionen unterliegen. Im Lateinischen entwickelte sich die Sequenz /ki/ regulär zu /k/, das im Italienischen zu /cj wurde; ebenso wurde /ki/ (mit gespanntem i) später zu /ci/. Dagegen war /k/ in der Sequenz /kui/ durch /u/ vor Palatalisierung geschützt. Als /k/ durch den Schwund des /u/ in Kontaktstellung mit Iii geriet, war die Palatalisierungsregel offensichtlich inaktiv und es trat kein Phonemwandel über /ki/ zu /ci/ mehr ein.

6

Wie sich zeigen wird, können die Leichtsilber vadill, talidr, farinn prinzipiell auf eine Stufe mit dem Typus *stadi gestellt werden. Sie sind ebenfalls von den durchgreifenden Systemstörungen betroffen, welche der Fortsetzer des Strukturtypus *kunja auslöst (siehe IV.2.2). Der Typus ketill : katlar ist demnach gegenüber vadill : vadlar analogisch zu beurteilen; als enscheidendes Analogiemuster bietet sich der Typus lykiU : luklar (mit g)'//h'-Umlaut) an. Zu diesem Problemkreis siehe im weiteren Teil IV.4.1.

7

Siehe Wessen 1961: 22; ferner Elmevik 1993: 81.

Die Rolle des Zeitfaktors

71

„Wenn das /u/ in /kui/ verschwindet, erhält man /ki/, das sich von /ki/ ( >

Icl)

Mit Martinet: unterscheidet, und es ist offensichtlich, daß /i/ keine Palatalisierung eines vorangehenden Dorsals mehr bewirkt." (Martinet 1 9 8 1 : 2 2 4 )

Die fragmentarische Konsonantenpalatalisierung im Lateinischen ist somit intern-chronologisch begründbar. Dabei spielen andere Lautveränderungen innerhalb des phonologischen Systems sicherlich eine wesentliche Rolle. 8 Auch im Falle des /-Umlauts ist der Zeitfaktor von großer Wichtigkeit; er bietet aber alleine noch keine befriedigende Erklärung der Restriktionen. Zu verzeichnen ist zunächst eine (mehr oder weniger deutliche) Staffelung im Reduktionsverlauf: Die /-Synkope in Leichtsilbern ist gegenüber der entsprechenden /-Synkope in Schwersilbern zumindest um Jahrzehnte verzögert. 9 Unklar bleibt vorerst, welche innersprachlichen Vorgänge die Operation des /-Umlauts ausgeschaltet haben. Man mag zunächst an vokalharmonische Tendenzen denken, die einige Forscher in der Eggjum-Inschrift zu erkennen glauben. 10 Diese könnten einen funktionalen Sprachwandel signalisieren, zumal Vokalharmonie eine Neugewichtung der Nebentonvokale und damit eine mögliche Antiumlauttendenz bekundet. In der Tat wirkt Vokalharmonie als progressive Assimilation in entgegengesetzter Richtung zum Umlaut selbst (vgl. Lehmann 1 9 6 9 : 144). Daher bezieht Gun Widmark das Aufkommen vokalharmonischer Regeln in ihre Erklärung ein: 11

8

Beispielsweise führt Otmar Werner ( 1 9 9 6 : 4 8 sqq.) die fragmentarische Palatalisierung im Färingischen auf den Wandel vokalischer Lautwerte zurück (z.B. fä. t, y > [ ω Y]). Vgl. andeutungsweise Martinet 1 9 8 1 : 2 2 4 , der allerdings offen läßt, welcher „andere Lautwandel" die romanische Palatalisierung von /ki/ < /kui/ verhindert haben könnte.

9

Siehe Teil I I . 4 . 2 . E und III.3.4 unter gino-/ginA- ( D . l ) . Vgl. im weiteren die Extremposition Wessens ( 1 9 3 6 : 3 6 5 ) , der zwei getrennte Synkopeperioden mit Hiatus voraussetzt; siehe ferner Kaleta 1 9 8 5 : 2 2 sqq. und Riad 1 9 9 2 : 1 0 6 - 1 6 9 . Eine Staffelung wird auch durch sitiR und karuR im metrischen Gefüge der Rök-Inschrift (Theoderich-Strophe) bestätigt, egal ob diese Formen gegenüber dem Prosateil als altertümlich eingestuft werden oder nicht. Entscheidend ist die relative, nicht die absolute Chronologie der Einzelvorgänge. Indes klammert Birkmann ( 1 9 9 5 : 1 7 9 ) dieses Belegpaar als „Sonderfall" aus. Syretts ( 1 9 9 4 : 2 9 0 ) Argumentation in diesem Punkt ist ebenfalls unklar: Die tangiert die unsynkopierte Rök-Form sitiR < *sit(j)iz

samprasärana-Vtoh\emax\\i

in keiner Weise; siehe Teil I V . 2 . 3 .

10

Siehe Jacobsen 1 9 3 1 : 8 3 ; SuR, § 6 0 . 1 3 und Nr. 16; Grenvik 1 9 8 5 : 1 6 9 - 1 7 2 ; ferner Syrett

11

Siehe Widmark 1 9 9 1 : 121, 124, 131, 168 im Anschluß an Hesselman 1 9 4 8 I: 2 8 1 . Hier

1 9 9 4 : 2 8 6 - 2 9 1 mit kritischer Diskussion. wird ein Kausalzusammenhang zwischen restringiertem nordischen i-Umlaut und möglichen vokalharmonischen Tendenzen einzelner Ubergangsinschriften (speziell Eggjum) angedeutet. Widmarks Operation mit den Prozessen „omljudsväxling" und „e-omljud" wirkt in jedem Fall gezwungen; vgl. II.4.2.B. —NB.: Der Endungswechsel der Strem-Formen

72

Umlauttheorie und Strukturalismus „Omljudets försvinnande har jag vid bäde palatal- och labialomljudet satt i samband med att det gled över i nya system, vokalharmoni och vokalbalans. Island saknar visserligen bäde vokalharmoni och vokalbalans och det förefaller alltsä som o m omljuds- och synkopetiden här i all tysthet har ebbat ut. Det behöver inte vara ett ursprungligt förhällande och under alia omständigheter har man skäl att tro att norskt spräk ger en inblick i pä vad sätt omljudet uppgick i nägot annat." (Widmark 1 9 9 1 : 1 6 7 )

Dennoch bleibt dieser Lösungsvorschlag in mehrerer Hinsicht spekulativ. Nicht zuletzt bereitet er in chronologischer Hinsicht massive Probleme. Denn er impliziert eine langanhaltende Produktivität des /-Umlauts, sei es in der Folge Hesselmans oder im Sinne der Kockschen 3-Periodenlehre (vgl. II.4.2.Β und IV.3.1). Die altskandinavischen Literatursprachen (Altisländisch, Altnorwegisch, Altschwedisch, Altgutnisch, Altdänisch) setzen natürlich viel zu spät ein, um in irgendeiner Form direkten Aufschluß über das Erlöschen des primären ///Umlauts geben zu können. Zur Zeit der Besiedelung Islands und der Konsolidierung einer isländischen Nationalität dürfte der nordische ///-Umlaut als historischer Prozeß längst abgeschlossen sein. Mit anderen Worten: Vokalharmonie und /-Umlaut gehören zeitlich und typologisch ganz verschiedenen sprachlichen Entwicklungsphasen an; sie gehen keineswegs direkt ineinander über. Die zentralen Vorgänge, die zur Durchführung und zum nachmaligen Erlöschen des ///-Umlauts führen, erschließen sich nur in direkter Beziehung zu den frühnordgermanischen Reduktionsvorgängen des 6. Jahrhunderts. Des weiteren empfielt es sich, die Restriktionen des nordischen /'-Umlauts nicht isoliert aus einer nordischen Perspektive heraus, sondern im nordischwestgermanischen Kontext zu beleuchten. Dies beinhaltet die Forderung, zumindest das Althochdeutsche als Vertreter der westgermanischen Sprachen hinzuzuziehen. Ein plausibler Erklärungsansatz muß das unterschiedliche Verteilungsmuster des /-Umlauts in allen nord- und westgermanischen Sprachen berücksichtigen; divergierende Endstufen dürften auf Unterschieden in der gesamtsprachlichen Entwicklung basieren (siehe dazu IV.2.2). Eine isolierte nordgermanische Umlautinterpretation unter Ausschluß des Westgermanischen ist daher defizitär und nicht tragfähig. Insgesamt gesehen, ist der Zeitrahmen, in dem der ///-Umlaut zur Durchführung kommt, von vorrangiger Bedeutung. Dies gilt natürlich auch für die interne Sukzession aller seiner Teilprozesse. Zu untersuchen ist, ob erste Durchführungstendenzen mit Sophus Bugge (und Gustav Neckel) bereits um 5 0 0 n.Chr. vorauszusetzen sind oder aber mit Axel Kock frühestens gegen 6 0 0 / 6 5 0 n.Chr. und noch weit danach.

wate ~ skat>i, ligi ist keinesfalls vokalharmonisch; siehe III.3.4 unter B . 2 .

Die Rolle des Zeitfaktors

73

Hiermit ist zugleich die Frage verbunden, in welchem Gesamtintervall der nordische ///-Umlaut wirkt. Kock zufolge wäre er in zwei großen Schüben wenigstens über zwei Jahrhunderte hinweg produktiv gewesen: 6 0 0 - 7 0 0 n.Chr. älterer /'-Umlaut; 7 0 0 - 8 0 0 n.Chr. umlautlose Zeit; 8 0 0 - 9 5 0 n.Chr. jüngerer /-Umlaut.12 Wie sich zeigen wird, bildet aber nicht erst die Eggjum-Inschrift, sondern schon die Blekinger Gruppe (speziell die Stentoften- und Björketorp-Inschrift) eine klare untere Zeitgrenze für die Durchführung einzelner ///-Umlaute: Die genannten Inschriften markieren bereits den historischen Abschluß des primären ///-Umlauts. Die runische Evidenz spricht demnach eindeutig gegen Kock. In allgemeiner Form kann konstatiert werden, daß die entscheidenden Phonemisierungsstufen des nordischen ///-Umlauts noch in einem wenig ausdifferenzierten nordischen Sprachkontinuum des 6. Jhds. angesiedelt sind (vgl. II.9). Die Durchführungszeit der primären Einzelumlaute dürfte insgesamt kaum mehr als 1 0 0 Jahre betragen, wenn überhaupt so lange. 13 Divergenzen in Form von lokalen Umlautkontrasten dürften sich erst später - teils durch sporadische Ausweitung der ursprünglichen Umlautregeln (z.B. durch Überwindung umlauthindernder Morphemgrenzen), teils durch analogischen Ausgleich - herausgebildet haben (vgl. II.9). Bezeichnenderweise zeigt auch Kocks R-Umlaut, der mit Fug und Recht als sekundäres Umlautphänomen (wenn überhaupt als Umlaut) zu bezeichnen ist, keine gleichmäßige Durchführung innerhalb des skandinavischen Sprachraums (siehe dazu IV.5.3). Von vornherein steht fest, daß der Zeitfaktor für Durchführung bzw. Nicht-Durchführung des nordgermanischen /'-Umlauts relevant ist: Der //;'Umlaut als phonetisch-phonologischer Prozeß dürfte bereits gegen 600/625 n.Chr. erloschen sein. Die Inschriften von Stentoften und Björketorp markieren einen verbindlichen Terminus post quem non für seine Durchführung (vgl. III.3).

u

Z u r klassischen Datierung von Kocks Einzelperioden siehe die Literatur in Penzl 1 9 5 1 : 8 Anm. 3 - 5 ; ferner Brosnahan/Turner 1 9 5 8 : 119, 1 2 7 und Haugen 1 9 7 6 : 1 5 3 ; ders. 1 9 8 2 : 3 1 . Indes zum realen Zeitrahmen des nordgermanischen i-Umlauts siehe Teil II.8.

13

Demgemäß setzt auch Riad ( 1 9 8 8 : 18; Tab. 2 8 ) den Beginn des historischen «-Umlauts schon vor 5 5 0 an. Der von Riad erst um 7 5 0 datierte Endpunkt beruht sicher noch auf Kocks maßgeblichem Einfluß.

74

Umlauttheorie und Strukturalismus

11.9

Ein Ost/Westgefälle?

Im Eingangsteil seiner jüngst erschienenen Studie merkt Martin Syrett ( 1 9 9 4 : 10) an, daß die Gesamtproblematik des nordischen /-Umlauts nur dann adäquat erfaßbar ist, wenn dialektale Unterschiede innerhalb des Altskandinavischen hinlänglich berücksichtigt werden. Im Anschluß an Hreinn Benediktsson (1982: 3 4 ) ist dabei vor allem an die Sonderstellung des Altgutnischen zu denken; vgl. Prät. Ind. 3. PI. agutn. berpu, flyttu versus an. bgrdu, fluttu (zu den jati-Verba berja „schlagen", flytja „transportieren"), ferner /-Stamm agutn. step(r) m. „Stätte", sleg(r) m. „Schlag" versus an. stad(r), slag(r).' Nichtsdestoweniger scheint dies den primären ///-Umlaut nicht mehr zu tangieren, oder - anders ausgedrückt - gerade seine Endphase auszumachen. Er dürfte den gesamten skandinavischen Sprachraum noch zu einer Zeit erfaßt haben, als dialektale Unterschiede nicht signifikant ausgeprägt waren (oder doch gerade erst in der Entstehung begriffen). Mit Oskar Bandle: „Wie bekannt hat der i-Umlaut gerade im Nordischen eine besonders reiche Entfaltung erlebt, wobei primär keine innernordischen Differenzen zu erkennen sind." (Bandle 1 9 7 3 : 3 4 )

Damit erübrigt sich zugleich die Anschauung eines wellenförmig fortschreitenden Prozesses. 2 Die obige Arbeitshypothese erweist sich im Verlauf der folgenden Untersuchung als durchaus zutreffend. Der Versuch, ein Ost/Westgefälle mit irgendeinem lokalen Umlautmaximum festmachen zu wollen, sei es im Osten oder Westen gelegen, erscheint ebenso müßig wie ad hoc. 3 Im übrigen negiert die strukturelle Forschung die Möglichkeit der sprachgeographischen Ausbreitung des Umlauts. 4

1

Z u m J-Umlaut im Altgutnischen siehe speziell Carlsson 1 9 2 1 ; ferner AschwGr, §§ 4 0 9 . 3 a-b; 5 4 9 . 2 a ; Pipping 1 9 0 1 b : 9 5 sqq.; ders. 1 9 0 2 : 4 sq. und 1 9 0 5 - 0 7 : L X X I sq.

2

Otto Höfler ( 1 9 5 5 / 5 6 ) führt überzeugende Argumente gegen die Wellentheorie ins Feld; er rechnet mit phylogenetischer Entwicklung des Umlauts in den verschiedenen Dialekten, welche letztlich auf der Intensivierung des germanischen Initialakzents (Akzentballung) beruht; vgl. Teil II.7. Z u r Wellentheorie in der älteren Umlautdiskussion siehe auch H. F. Nielsen 1 9 8 9 : 1 3 4 - 3 7 .

3

Z u r Anfechtung eines Westzentrums zugunsten eines Ostzentrums siehe neuerdings Syrett 1 9 9 4 : 1 9 6 - 2 0 2 contra Wessen 1 9 6 8 : 3 3 und Bandle 1 9 7 3 : 3 4 - 3 6 . Vgl. dazu aber Schulte 1 9 9 6 b : 1 2 2 sq.

4

Vgl. Penzl 1 9 4 9 : 2 3 6 : „This assumption, that umlaut after its rise in one central area was borrowed extensively by other dialects, disagrees with the theory that sees in umlaut, o r rather in the allophonic variation potentially resulting in umlaut a common germanic feature."

Ein Ost/Westgefälle?

75

Immerhin dürfte der zeitliche Abstand des primären ///-Umlauts zu den altskandinavischen Literatursprachen mehr als 500 Jahre betragen. Die zwischenzeitlichen Umgestaltungsvorgänge und Regelausweitungen erscheinen aus der Sicht des Verfassers keineswegs so transparent wie die durchgreifenden Primärstufen der Umlautphonemisierung, welche im Brennpunkt dieser Arbeit stehen. 5 Auch das von Syrett angeführte Material ist keineswegs zur Untermauerung eines ostskandinavischen Umlautmaximums geeignet; vgl. nur aschw. ypin, cerin ~ an. opinn, arinn, aschw. befdinge ~ an. hgfÖingi, adän. Esbiom, Esger, adän. Thorgils, Thurgils ~ Thyrgils, anorw. Pyriör ~ PuriÖr. Hier dürften einzelsprachliche, sporadische Entwicklungen am Werke sein, die in streng historischer Sicht meist nichts mehr mit dem primären ///-Umlaut zu tun haben. Zu fragen bleibt allerdings, ob altschwedische Formen wie ypin (< *upina-) und heföinge regulären /-Umlaut zeigen, der im Altnordischen nivelliert worden ist.6

5

Ein Anschauungbeispiel für paradigmatische Umgestaltungen bieten altschwedische Präteritalkonjunktive wie skuti, gävi, töki (< *skuti usw.) und valdi, krafpi (< *walidt usw.) gegenüber an. skyti, g&fi, täki, velöi, kreföi (vgl. Hesselman 1 9 1 2 I: 8; ferner Bandle 1973: 34). Aus diesem Material darf aber nicht gefolgert werden, daß der »"-Umlaut im Konj. Prät. dialektal ausblieb. Vielmehr handelt es sich um analogische Umgestaltungen, welche die Fossilisierung des Umlauts voraussetzen; vgl. Haugen 1976: 2 0 0 und 1982: 35.

6

Der Gegensatz an. opinn ~ aschw. ypin nebst an. morginn — anorw. merginn, myrginn ist durch das Bestehen verschiedener Suffixvarianten *-ana- — *-tna- erklärbar; vgl. auch SuR, § 81.2b mit Anm. Zur Beurteilung der ma-Bildungen siehe Teil IV.3.3; zum i-Umlaut durch suffixales *-ing- siehe Teil IV.4.2.

III. Runische Evidenz III.l Stentoftens -gestumR in der Umlautdiskussion: Ein kurzer Beitrag zum Problemkreis (Ortho-)Graphie Die Stentoften-Form -gestumR, die aus der Sequenz niuhagestumR herausgelesen wurde, spielte lange Zeit eine maßgebliche Rolle in der Umlautdebatte. Sie wurde als früher Beleg mit graphematisch markiertem und daher bereits durchgeführtem i-Umlaut des Wurzelvokals /a/ gewertet: -gestumR = /-gaestumR/ < germ. *gastim(i)z.1 Diese Einschätzung geht auf Sophus Bugge zurück: „jeg formoder da ogsaa, at Ligheden mellem GESTUMR S.a 2 og oldn. gestum

ikke er

tilfasldig, men at vi i de to forste Linjer har almindeligt oldnordisk Sprok dog med affekteret Efterligning af en seldre Tids Former." (Bugge 1 8 6 7 : 3 4 4 )

Linguisten verschiedener Schulrichtungen erblicken darin einen ungewöhnlich frühen oder sogar verfrühten /-Umlaut; auch Herbert Penzl (1988: 105) spricht von „überraschend frühe[r] Phonemisierung". Dies gilt insbesondere aber für die junggrammatische Sicht, die ihre eindrucksvollste Prägung in Kocks 3-Periodensystem fand.2 Kock selbst erklärte die vermeintliche Umlautform gestumR = an. gestum analogisch nach dem synkopierten Nom. und Akk. Sg.: 3 „Dat. PI. gestumR

med i-omljud i inskriftens begynnelse bör som bekant s l förklaras, att

infortis-vokalen i uti nom. ack. sg. 'gastiR,

*gasti vid sitt bortfallande verkade äldre i-

1

Siehe v.a. Bugge 1 8 6 7 : 3 4 4 sq.; ders. 1869: 2 0 1 ; ferner Heinzel 1 8 7 7 : 4 4 1 , 4 4 6 ; von Friesen 1 9 1 6 : 4 4 ; Boer 1920a: § 2 3 8 ; NIseR I, 106 und II, 6 8 7 ; DR, 8 6 9 ; Hesselman 1 9 4 5 : 12; Andersen 1 9 4 6 : 157, 163, 166; ders. 1 9 5 6 : 9; Penzl 1 9 5 1 : 2, 6; Κ. M. Nielsen 1 9 6 0 : 17; ders. 1 9 6 2 : 1 0 2 sq.; HLFA, § 3 6 . 2 ; SuR, § 4 4 . 2 a ; CGORI, § 4 . 9 .

2

In diesem Sinne bemerkt Hofman ( 1 8 6 6 : 122) zur -Schreibung in -gestumR, daß

3

Ausgehend vom zweifelhaften Primat der Synkope, wurde sodann allgemein konstatiert, daß Stentoftens -gestumR einen Nom., Akk. Sg. *gcestR, *gcest (< *gastiz, *gasti) voraussetze; vgl. Noreen 1 9 1 3 : 68; von Friesen 1916: 51; Boer 1 9 2 0 b : 2 2 0 ; NlaeR I, 106; DR, 8 7 1 Anm. 1; Pipping 1922: 86; Harding 1 9 4 7 : 183 Anm. 1; ders. 1 9 5 2 : 2 0 2 ; ferner Granvik 1 9 8 7 : 132. Außerdem wird von Lindquist ( 1 9 2 3 : 182, 189) ein lautgerechter Übergang *gastimR (mit ί-Synkope und sekundärem «-Einschub) > gestumR vorgeschlagen; vgl. dazu auch Jacobsen 1935b: 4 1 ; ferner Heinzel 1 8 7 7 : 4 4 6 .

„natürlich noch an keinen Umlaut zu denken ist".

Stentoftens -gestumR in der Umlautdiskussion

77

omljud: gcestR, gcEst; frän dessa former överfördes därefter ce (e) til dat. pi. gestumR." (Kock 1921: 14)

Dagegen werteten Kocks Opponenten -gestumR als den lang gesuchten Stolperstein seiner 3-Periodentheorie; sie wiesen insbesondere auf die unsynkopierte Parallelform bAriutifj hin. 4 Harry Andersen kommt zu dem Schluß, daß Kocks älterer und jüngerer /-Umlaut de facto zeitgleich eingetreten sein müssen; der /-Umlaut in -gestumR basiere auf der Wirkung von bewahrtem /' i m N o m . , A k k . PI. *gcestiR,

*gcesti

o d e r i m D a t . PI.

*gcestimR.5

Die Stentoften-Form -gestumR wurde daher als schlagender Beweis dafür angeführt, daß Kocks 3-Periodentheorie falsch sein müsse; der jüngere iUmlaut wäre auf einer Stufe bezeugt, auf welcher der ältere /-Umlaut noch nicht einmal eingetreten ist. Mit Andersen: „Formen -gestumR ophasver bogstaveligt talt den Axel Kockske periodeinddeling. Formen mä, hvad enten man opererer med analogi eller ikke, vaere udtryk for: 1. *gastimR > *gcestimR > gcestumR eller 2. *gastTR, *gasti (med nasaleret i) > gcestiR, geesti, der gav analogisk gcestumR for gcestimR. I begge tilfcelde har vi efter Axel Kocks syn ρέ «-omlyden at g0re med yngre ί-omlyd." (Andersen 1956: 14)

In ähnlicher Weise wertete Valter Jansson ( 1 9 5 1 : 151, 155) die Form -gestumR als Indiz für ein in sich geschlossenes Umlautstadium, das vor dem Eintritt der /-Synkope anzusetzen ist. Hiermit deutet sich ohne Zweifel der ahistorische Charakter der Kockschen Umlautlehre an (vgl. oben II.6-8). Dennoch muß aus heutiger Sicht zugleich festgestellt werden, daß die gestumR-Diskussion mehrere Unsicherheitsfaktoren birgt und letztlich sogar verfehlt ist. Hierfür können im wesentlichen vier Argumente ins Feld geführt werden: 1. Zwar wurde das Primat der Synkope von Kocks Gegnern (u.a. Hesselman und Jansson) zu Recht angefochten, es wurden aber keine adäquateren Phonemisierungsfaktoren gefunden, welche die Funktion der Synkope hätten übernehmen können. Von der Synkope losgelöste Beschreibungsmodelle wie das Hesselmans sind aber mit dem von Strukturalisten geforderten biplanen Verlauf des Umlauts, d.h. der Dichotomie von allophonischem und phonematischem Umlaut unvereinbar. Sie bewegen sich nicht auf phonologischer, sondern auf phonetischer Ebene. 6

4

5 6

Siehe Andersen 1954: § 2 2 ; ders. 1956: 9 sq.; Κ. M. Nielsen 1960: 18; ders. 1962: 102 und 1978: 23. Vgl. außerdem C. J. Olsen 1949: 334 sqq. Siehe Andersen 1956: 14; ferner Jansson 1951: 151 und Κ. M. Nielsen 1960: 18. Vgl. Haugen 1969a: 113, 117; ferner Schulte 1996a: 417, 420. - Siehe außerdem Teil II.4.2.B und II.5.

Runische Evidenz

78

Zunächst signalisiert das Nebeneinander der Formen hideR- und bAriutiJj, daß auf der Stufe von Stentoften zwar nicht unbedingt /-Synkope nach schwerer Silbe, wohl aber ein signifikanter Grad der Vokalabschwächung vorauszusetzen ist. 7 Daher dürfte der /-Umlaut im Nom., Akk. Sg. *gastiz, *gasti (durch Zentralisierung i > θ; siehe IV.4.1) bereits durchgeführt sein; der iUmlaut im N o m . , Akk. PI. *gasttz, *gastf ist noch früher anzusetzen (vgl. die folgende Diskussion zur By-Form hroReR und zur Str0m-Form wate in Teil III.3.4). Diesem Umstand hat eine stimmige phonologische Interpretation Rechnung zu tragen, zumal die Synkope für den Phonemisierungsvorgang per se irrelevant ist (siehe oben II.5-7). Der /-Umlaut in -gestumR stellt somit keinesfalls ein chronologisches Problem dar. 2. Einige Forscher weisen darauf hin, daß der i-Umlaut in -gestumR lautgesetztlich durch Endungsübertragung *-imR —» -umR (in Analogie zu den a- und «-Stämmen) eingetreten sein könnte. 8 Mit Basbell: „-gestumR is exactly parallel to syncopated forms, in that the factor which conditioned the Umlaut (viz. i) is no longer present." „If the substitution o f *-imR by *-utnR in D. pi. (by analogy) occurs approximately when the syncope starts, we shall get -gestumR just like *gcestR. [...] If this is so, the vowel would be umlauted just like the first vowel of *gastiR when the i is reduced." (Basbell 1 9 8 2 : 70, 8 0 )

Diese Deutung des /-Umlauts in -gestumR erscheint prinzipiell vorteilhaft gegenüber einer analogischen Erklärung. 9 Sie setzt allerdings voraus, daß die Umgestaltung *-imR -* -umR innerhalb der Phonemisierungsphase stattfindet. Da aber nicht zu ermitteln ist, wann sie durchgeführt wurde, bleibt die Beurteilung dieser Form (und Formgruppe) höchst unsicher. 10

7

Demgemäß setzt von Grienberger ( 1 9 0 7 : 9 4 ) für bAriuti|> einen annähernden Lautwert [beryte{>] an. Z u r Diskussion der Stentoften-Form hideR- siehe Teil III.3.4 unter C . l .

8

Für die theoretische Möglichkeit lautgerechten /'-Umlauts in -gestumR sprechen sich u.a. aus: Jansson 1 9 5 1 : 1 5 1 ; Andersen 1 9 5 6 : 1 2 - 1 4 und Gutenbrunner, HLFA, § 3 6 . 2 ; indes für analogischen i-Umlaut: Penzl 1 9 5 1 : 6; Höfler 1 9 5 5 : 5 1 ; Steblin-Kamenskij 1 9 5 9 : 1 1 0 ; Seip 1 9 7 1 : 2 3 und Hofmann 1 9 8 2 : 152.

9

Eine deutliche Gegenposition hierzu nimmt Antonsen ( 1 9 6 9 - 7 0 : 69) ein. Er argumentiert, daß der «'-Umlaut prinzipiell nur durch loosing, nicht aber durch replacing des Umlautfaktors /i/ phonemisiert werde. Mit Basbell ist die Ratio dieser Differenzierung fraglich. Warum sollte die Art des Schwundes im Resultat einen Unterschied machen? Zumindest ist nicht erwiesen, daß nur lautgerechter Schwund oder Wandel eines Umlautfaktors Iii zur Phonemisierung von Stellungsvarianten führt; vgl. II.4.2.E.

10

Zum ungewissen Zeitfaktor vgl. Elmevik 1 9 9 3 : 8 2 . Dietrich Hofmann ( 1 9 8 2 : 1 5 2 sq.) rechnet mit Verdrängung der ursprünglichen Gen.- und Dat.-Pluralendungen *-iö -» *-ö und *-imR -* *-umR bereits in altrunischer Zeit.

Stentoftens -gestumR in der Umlautdiskussion

79

3. Darüber hinaus ist festzustellen, daß eine Belegform -gestumR mit markiertem /-Umlaut im Korpus der älteren Runeninschriften ganz singular ist; ansonsten wird der /-Umlaut nicht markiert. 11 Dies gilt insbesondere auch für das Umlautprodukt /äe/ < */ä/; vgl. die Eggjum-Formen manR = mcen(n)R und lAgi = lceg(g)i. Selbst in den Stentoften-Formen ArAgeu = /azrgeu/ und hAri- = /ha*ri-/ bleibt der ///-Umlaut unbezeichnet (die auf Bugge, NIaeR I, 2 4 zurückgehende Lesung mA(gi)u = /maegiu/ ist zu unsicher, um hier angeführt zu werden). 12 Grundsätzlich muß eine scharfe Trennungslinie zwischen Phonemisierung einerseits und „Graphemisierung" andererseits gezogen werden. Entgegen Twaddell ( 1 9 3 8 ) , dessen Ansatz auf die Graphembildung zielt, ist die Umlautphonemisierung noch kein zwingender Grund für die schriftliche Wiedergabe von Umlautwerten (vgl. II.2). Die Orthographie weist nur in seltenen Fällen eine Idealentsprechung zwischen Graphem- und Phoneminventar auf. 1 3 H. J . Uldall und Josef Vachek bemerken, daß die Schrift einer Eigengesetzmäßigkeit und Eigenfunktionalität verpflichtet ist; sie ist daher nicht als inferiores Abbildungssystem der Sprache zu betrachten: „The system of speech and the system of writing are thus only two realizations out of an infinite number of possible systems, of which no one can be said to be more fundamental than the other. [...] Another thing is that for practical purposes it is probably more convenient to have one system than two, and as it is less difficult to change the orthography than the pronunciation, it might be an advantage to bring the graphic system into harmony with the phonic system." (Uldall 1 9 4 4 : 16) „Writing cannot be flatly dismissed as an imperfect, conservative quasi-transcription as has often been done up to the present day. On the contrary, writing is a system in its own right [...]." (Vachek 1 9 4 5 : 9 3 )

Diese Beobachtungen leiten zu der allgemeinen Erkenntnis über, daß Schrift und Sprache keinesfalls gleichwertig sind. 14 Mit Andre Martinet ( 1 9 6 2 : 2 5 ) besitzt geschriebene Sprache zudem ihre eigene Struktur. Paul Diderichsens Einschätzung erscheint deshalb angemessener als die W . Freeman Twaddells:

11

Zum älteren runischen Gesamtbefund vgl. SuR, §§ 1 0 und 4 4 . 2 ; ferner Heinzel 1 8 7 7 : 4 4 1 (mit älterer Literatur).

12

Vgl. Andersen 1 9 4 6 : 1 6 6 mit Anm. 1; ferner Birkmann 1 9 9 5 : 164. - Zum Phonemstatus des /'-Umlauts in hAri- < *harja- siehe unten S. 1 8 2 mit Anm. 29; zur Lesung mA(gi)u siehe unten S. 2 1 2 mit Anm. 27.

13

Als Anschauungsbeispiel für ein nahezu vollkommenes Schriftsystem kann die Devanägari dienen. Sie gibt das phonologische System des Altindischen im Ganzen adäquat wieder, weist allerdings ein redundantes Zeichen für [ή] auf, welches nur Stellungsvariante von /n/ ist (vgl. Scharfe 1 9 7 7 : 82).

u

Vgl. W . Nelson Francis ( 1 9 5 8 : 3 6 ) : „Writing is not language, and language is not writing."

80

Runische Evidenz „Det er altsaa ferst efter Synkopen, at Forskellen mellem Grundvokal og Omlydsvokal kan ventes at gere sig gasldende i Ortografien, der altid tilstrasber at ν as re en fonematisk Notation og ikke en grov Lydskrift, et Forhold, der allerede stod klart for den islandske Scholasticus, som forfattede den »Ferste grammatiske Afhandling«. Man kan altsaa ikke paa dette Punkt drage Slutninger af den aeldre Runeortografis manglende Tegn for Omlydsvokalerne." (Diderichsen 1947: 75)

Sicherlich ist es generell zutreffend, daß Schriften auf das Phoneminventar ihrer Sprachen ausgerichtet sind. 15 Dies gilt mit Kenneth L. Pike ( 1 9 4 7 : 1 4 1 ) natürlich auch für die Einrichtung eines Notationssystems für schriftlose Sprachen. Doch wenn Diderichsen zum Vergleich den Ersten grammatischen Traktat heranzieht, überschätzt auch er die Orthographie und verkennt den gravierenden Unterschied zwischen einem konservativen Schriftsystem und der künstlichen Neuschöpfung eines gelehrten Reformgeistes. Daß die (durchaus gerechtfertigten) Reformvorschläge des Ersten Grammatikers von seinen Zeitgenossen nicht konsequent befolgt wurden, läßt den hohen Stellenwert der Tradition erahnen. 16 Der Einfluß einer etablierten Schrift- oder Alphabettradition ist nicht zu unterschätzen; er wirkt zweifelsohne retardierend und steht der Aktualisierung von Schrift und Schriftgebrauch häufig im Wege. 1 7 Tendenziell hinkt der Schreibungswandel dem Lautwandel also nach. Treffend bemerkt Otmar Werner im Zusammenhang mit der Konsonantenpalatalisierung im Färingischen: „(ortho-)graphy often sticks to an old tradition with the sounds having moved away; the speakers do not even notice that their correspondence between writing and pronunciation has changed or has become unusual compared to international standards (cp. Ic a? [ai], 6 [ou])." (Werner 1996: 51)

15

16

17

Vgl. Harvey 1990: 187. Demgemäß bemerkt McManus (1991: 31) zum Ogam-Alphabet: „The evidence suggests that they had a language with a phonemic inventory of its own in mind, that the creation was accompanied by a careful analysis of the sounds of that language, and that the alphabet was designated as a vehicle for them." Zutreffend erscheint auch die Schlußbemerkung Haugens in der ersten Auflage seiner Edition des First Grammatical Treatise (1950: 62): .Apparently even the best of phonemic analyses cannot offset the advantage to scribe and reader of stable, traditional word images." Zum Problemkreis (Ortho-)Graphie siehe z.B. McLaughlin 1963: 18 sqq.; ferner Penzl 1 9 5 7 : 2 0 8 : „Orthography and its deviations (the occasional spellings) reveal shifts and mergers but they indicate often only belatedly phonemic splits." Einen wertvollen Ansatz zur Auswertung der Schreibungsevidenz liefert Harvey (1990/91) mit seiner „spiral methodology"; siehe v.a. ders. 1990: 185.

Stentoftens -gestumR in der Umlautdiskussion

81

Wie gesagt, sind auch die Bemühungen des Ersten Grammatikers gerade aus dem Bewußtsein heraus verständlich, daß die Orthographie seiner Zeit unzureichend und das Grapheminventar unvollständig oder teilweise inadäquat ist: „hefir[sic] ek ok ritat oss islendingum stafröf baeöi latinustQfum gllum }?eim er mer Jjötti gegna til värs mäls vel svä at rettraeäir maetti veräa ok J?eim cjärum er mer Jaotti ί Jjurfa at vera en or väru teknir J>eir er eigi gegna atkvaeäum värrar tungu."

(Erster

grammatischer Traktat, 8 4 : 1 5 - 1 9 ) „I have composed an alphabet for us Icelanders as well, both of all those Latin letters that seemed to me to fit our language well - (viz.,) in such a way that they could retain their proper pronunciation - and of those others that seemed to me to be needed in (the alphabet), but those were left out that do not suit the sounds of our language." (Ubers, nach Benediktsson 1 9 7 2 : 2 0 9 )

Hreinn Benediktsson (1972: 53 sq.) weist darauf hin, daß der Terminus rittraör „korrekt auszusprechen" (i.e. nach den Regeln der lateinischen Aussprache) hierbei eine zentrale Rolle spielt. Einem Trägheitsprinzip folgend, hinkt die Schrift also dem aktuellen Sprachstand hinterher. Dies gilt natürlich auch für die Wiedergabe der phonematischen Umlautwerte; es genügt darauf hinzuweisen, daß in den frühen altisländischen Handschriften der /-Umlaut von ο nur inkonsistent durch V bezeichnet wird.18 Bereits Sophus Bugge machte geltend, daß der nordgermanische /-Umlaut lange eingetreten war, bevor er in der Runenschrift bezeichnet wurde. 19 Diese Einschätzung ist zweifellos richtig. Andererseits aber ist die Phonemisierung mit Diderichsen (1947: 75) als Conditio sine qua non für die graphematische Repräsentation zu betrachten. 20 Karl Martin Nielsen (1978: 32) bemerkt zu Recht: „Die Phonemisierung verlangt also nicht notwendigerweise orthographische Konsequenzen, vielmehr ist sie deren Bedingung." Auch die Björketorp-Form bArutR mit für /y/ statt älterem /iu/ kann durch das etymologische Notationsprinzip der Umlautvokale erklärt werden, da /y/ nicht nur das Resultat des /-Umlauts von /iu/ ist, sondern auch das von

18

Siehe Benediktsson 1 9 7 2 : 120; ferner Heinzel 1 8 7 7 : 4 4 1 (mit älterer Literatur).

19

Siehe NIseR I, 107. Damit steht Bugges Einschätzung dem Schreibungspositivismus Kocks diametral gegenüber; vgl. dazu Teil VI.2.

20

Vgl. Moulton 1 9 6 1 : 5 0 6 sq.; Penzl 1 9 8 2 : 1 7 7 ; ders. 1 9 8 8 : 1 0 2 : „Muttersprachliche Schreiber sind sich der Allophone nie bewußt". Dies ist auch der Grundgedanke Diderichsens ( 1 9 3 8 : 6), wenn er von „diakritisch relevanten" Umlautwerten erst nach der Phonemisierung/Synkope spricht.

82

Runische Evidenz

/ü/. 21 Es ist also nicht der /-Umlaut einer Form -gestumR, der ein chronologisches Problem bereitet, sondern die Umlautsbezeichnung selbst.22 Eine singuläre -Schreibung für das Umlautprodukt /ae/ auf der Sprachstufe der Blekinger Inschriften ist durchaus interpretationsbedürftig. Hierfür liefert allenfalls Antonsen einen Erklärungsansatz. Ihm zufolge würde sie auf ostnordischer Vokalabsenkung /!/ > / der gängigen runischen Schreiberpraxis der Übergangszeit widerspricht. 4. Spätestens aber durch Lillemor Santessons Neudeutung der Stentoftener Eingangszeilen (mit Segmentierung niu#hagestumR = niu ba{n)gestumR < germ. *bangistumz) verliert die Sequenz -gestumR jegliche Beweiskraft für die Analyse des nordgermanischen /-Umlauts. Als entscheidenden Vorteil ihrer Neudeutung kann Santesson verbuchen, daß der einzige Beleg mit einer e-Rune zur Bezeichnung des /-Umlauts von α entfällt. 25 Damit entbehrt die spätaltrunische Form -gestumR letztlich einer realen Grundlage und ist allenfalls noch in forschungsgeschichtlicher Hinsicht interessant. 26

21

Vgl. AislEb, § 57; HLFA, § 43.11; NorGr, §§ 11.8 und 11.11.

22

Vgl. SuR, § 44.2a und Nr. 91; Birkmann 1995: 135, 164. Santesson (1989: 227b) ist offenbar noch Kocks 3-Periodeneinteilung verhaftet, wenn sie als Vorteil ihrer Neudeutung betont: „Problemet att förklara det tidiga i-omljudet i formen gestumR försvinner - och därmed ocksä det absolut fällande beviset mot Kocks omljudsteori."

« Siehe CGORI, § 4.9; dazu Barnes 1977: 448, 456. 24 Barnes (1977: 456) bemerkt zu Recht, daß diese Sichtweise sehr radikal ist und bereits um 600/650 n.Chr. eine forgeschrittene dialektale Ausdifferenzierung impliziert. Dieser Ansatz ist außerdem schwer vereinbar mit der späteren runischen Evidenz, da der postulierte Übergang hier nicht durchscheint (vgl. Rök). Mit Barnes: „The distinction /&/ < /I/ (through /-mutation), l&l < and /e/ < /ai/ is preserved not only in literary Old Swedish but even in the modern language (gäst, kväde, väst(er), knä vs. ren), so it is hard to imagine that these phonemes had coalesced in seventh-century Blekinge" (ebd.). 25 26

Siehe Santesson 1989: 227b; dies. 1993: 250. Zu dieser Einschätzung vgl. Widmark 1991: 132; Syrett 1994: 52 sq., 208 sq.; ferner Schulte 1996a: 416 sq.

Die By-Form hroReR

83

III.2 Die By-Form hroReR : Kronzeugin einer Qualitätsreduktion W i e sich zeigte, ist der unmittelbare Aussagewert runischer Belegformen für den ///-Umlaut sehr gering. Ihr eigentlicher diesbezüglicher W e r t sollte vielmehr darin gesehen werden, daß sie Aufschluß über den realen Reduktionsverlauf geben können. Wahrscheinlich ist, daß die wesenhaft träge Orthographie auf systemvereinfachende Reduktionserscheinungen (Phonemverschmelzungen) viel sensitiver reagiert als auf systemverkomplizierende Differenzierungsprozesse (Phonemspaltungen). Aus dieser Perspektive heraus ist es einsichtig, daß sich die phonematische Reduktion früher im Schriftbild widerspiegelt als der Umlaut. Die Forschung hat sich insgesamt schwer getan, die By-Form hroReR überzeugend und stringent zu erklären. Die Probleme zentrieren sich um die graphematische Repräsentation der Endung < - e R > , die in der Tat erklärungsbedürftig ist. Offenbar handelt es sich um die frühnordgermanische Kontinuante eines gängigen germanischen Formtyps, der möglicherweise bereits signifikante Schwächungstendenzen erfahren hat. W e n n hroReR mit Elmer H. Antonsen, J o h n Kousgärd S0rensen und einigen anderen als linguistisch unmögliche Form abgetan wird, kann diese Einschätzung nur als Ultima ratio verstanden werden. 1 Bevor ein derartiges Negativurteil gefällt wird, sollte aber überprüft werden, ob die traditionellen Vorstellungen von Reduktion, wie sie auch für Kocks etabliertes 3"Periodensystem maßgebend sind, Gültigkeitsanspruch haben (vgl. IV.3.2). Traditionelle Ansätze dürften schon deshalb zum Scheitern verurteilt sein, weil sie auf rein quantitative Schwächungsvorgänge ausgerichtet sind; der Parameter der Qualitätsreduktion taucht gemeinhin nicht auf. Zur Eingrenzung des Problems bietet sich eine kurze Interpretation der Form hroReR im Umfeld der frühen Ubergangsinschriften an. 2

1

Siehe Antonsen, CGORI, Nr. 111; Grenvik 1 9 8 1 : 2 1 8 ; Kousgärd Serensen 1 9 8 4 : 3 4 nebst Anm. 6 (mit weiterer Literatur); ferner Boer 1920a: § 2 2 8 . Zu verschiedenen Lesungs- und Deutungsvorschlägen der By-Sequenz hroRaR hroReR (bzw. hroReRo) siehe das Folgende.

2

Der Terminus „Übergangsinschriften" ist zweideutig, da er sowohl auf die sprachliche Situation (Sprachwandel und dialektale Ausdifferenzierung) als auch auf das Schriftsystem (Übergang vom älteren zum jüngeren FuJjark) abheben kann. Im Kontext der Vokalreduktion ist jedoch eine streng linguistische Definition erforderlich. Als Ubergangsinschriften werden demgemäß solche Inschriften eingestuft, die erste Spuren von Reduktion sowie Kontraktionserscheinungen zeigen (z.B. Seeland-Brakt. 2, By und St rem); diese Übergangsphase setzt wenigstens um 5 0 0 n.Chr. ein. - Zu einer graphisch ausgerichteten Definition

84

Runische Evidenz

Ausgehend von einer kontextuell-syntaktischen Analyse, kann eine formale Bestimmung des Strukturtypus vorgenommen werden, die endlich eine konsequente lautliche Erklärung der Belegform im Gesamtkontext der Inschrift ermöglicht. Die verschiedenen Deutungsversuche sind in Kürze abzuhandeln. Insgesamt wurden vier Interpretationsansätze vorgeführt: 1. Der klassischen Deutung Sophus Bugges (NlajR I, 98) zufolge repräsentiert hroReR ein //a-Patronymikon (Kontinuante von germ. *hrözijaz). Wenngleich diese Herleitung im traditionellen Rahmen auf lautliche Schwierigkeiten stößt, so ist sie syntaktisch doch von vornherein bestechend (s.u.). 2. Ivar Lindquist und Ernst Albin Kock vertreten eine Lesung E(i)rilaR hroRaR hroReRo = „Erilar rask ibland (de) raske"; dabei wird ein starke Adjektivform Gen. PI. *hrözezö zugrundegelegt. 3 Diese Segmentierung wirkt schon deshalb implausibel, weil damit der folgenden Sequenz orte (= orte}) der Stammsilbenvokal entzogen wird. 3. Elmer H. Antonsen (CGORI, Nr. 111) liest hrozaz hroze worte: „[Rune] 20 w is read by some as ζ (giving a linguistically impossible form *hrozez [sic])." Antonsens syntaktische Interpretation wirkt ebenfalls gezwungen, weil das Simplex Dat. Sg. hroze (bzw. hroRe) dem identischen Wort im N o m . Sg. (hroRaR bzw. hrozaz) folgt. Zudem äußert Kousgärd Serensen (1984: 34) massive Bedenken aus graphologischer Sicht: „Den sidstes [sc. Antonsens; M.S.] lzesning af sidste R som w er dog nieppe mulig." 4. In jüngster Zeit hat Martin Syrett den Versuch einer Neudeutung unternommen: „A further possibility which o n formal grounds would fit excellently with the arguments raised below would be to reinterpret the By inscription ek irilaR hroRaR hroReR orte ..., talcing K[rause] J[ankuhn] 7 1 hroReR as a qualifier like some of those in the many ek erilaR ... formations within Germanic along the lines of *HroRaR and *HroRiR, cf. OE hrOr 'active' with hrer 'half-cooked', the latter presumably from *hrözi(z) and both from the root *hrö- 'to stir, mix, (therefore) cook'; see Pokorny 1959: 582. In this way -eR would represent an ending *-ez, the expected late urnordisch reflex of Germanic *-aiz." (Syrett 1994: 9 4 Anm. 32)

und Analyse von „Übergangsinschriften", die notwendigerweise erst spätere Inschriften anvisiert, siehe dagegen Antonsen 1986: 3 2 1 und v.a. Barnes 1998. 3

Siehe Lindquist 1939: 20; Ε. A. Kock, N N , §§ 2 9 9 2 und 3 0 0 4 Anm.; dazu Lindblad 1952: 39.

Die By-Form hroReR

85

Selbst wenn diese Deutung von lautlicher Seite akzeptiert wird, erweist sie sich doch als sophistisch. Syntaktisch ist sie ebenso bedenklich wie die Antonsens. Einem ίΖ-Stamm Nom. Sg. hroRaR würde unmittelbar ein «-Stamm Gen. Sg. hroReR folgen. Dies setzt natürlich voraus, daß zwei verschiedene Personennamen *Hrömz, *Hröziz mit divergierendem Themavokal involviert sind. Eine semantische Differenzierung durch Stammvokale, wie sie Syrett andeutet, wird in den älteren Runeninschriften aber keinesfalls konsequent durchgeführt; vgl. /-Stamm Akk. Sg. hali (Strom; 94) zum Nom. Sg. *halliz versus Λ-Stamm Nom. Sg. halaR = *hallaz (Stenstad; 90) entsprechend an. hallr „Stein(platte)"; vgl. ferner «-Stamm got. hallus „Stein", „Fels". Diese Beobachtungen laufen letztlich auf die Annahme eines Wortspiels in Form einer variierenden Wiederholung durch Stammklassenwechsel hinaus. Insgesamt bleibt festzuhalten, daß die klassische Patronymdeutung der Form hroReR am überzeugendsten wirkt, zumal sich die Syntagmen hlewagastiR holtijaR (Gallehus) und hA^uwulafR hAeruwulafiR (Istaby) als Parallelfälle anbieten. 4 Mit Fredrik Otto Lindeman: „Cependant, la forme norr. runique hroReR peut tres bien remonter ä une form plus ancienne *hröRiiaR, comportant le suffixe patronymique germ. *-(i)ja-. L'inscription de By date du 7~ i m c siecle. On peut en 1" espece se reporter ä 1' inscription de Gallehus, datant de la premiere partie du 5~ e m e siecle: ek hlewaeastiR holtijaR horna tawido. Une forme *hröRiiaR 'fils de HröRaR' serait parallele ä holtijaR 'fils de Holta-'." (Lindeman 1 9 6 4 : 5 9 Anm. 3 1 )

Es sei nur am Rande bemerkt, daß John Kousgärd Serensen insgesamt eine kritische Gegenposition zur altrunischen Patronymbildung auf *-ija- bezieht.5 Demgegenüber betont Lena Peterson (1985) im indogermanischen Kontext, daß es sich um eine gängige Formbildung handelt, die auch in den älteren Runeninschriften nachweisbar sein sollte. In der Tat ist der Bildungstypus auf *-i(o-, der von Hause die Zugehörigkeit oder Beziehung zum Grundwort ausdrückt, in vielen indogermanischen Sprachen anzutreffen. 6 Es ist durchaus naheliegend, die drei Formen holtijaR, hroReR und hAeruwulafiR hieran anzuknüpfen.7 4

Vgl. DR, 8 9 9 , s.v. Patronymika;

5

Siehe Kousgärd Sarensen ( 1 9 8 4 : 3 2 - 5 1 ) mit dem Fazit: „Det er da forsvarligt at se bort fra

ferner RäF 1 , 5 6 0 ; R ä F 2 , 1 6 0 ; SuR, §§ 2 5 . 2 ; 110.

suffilcset -ia i den nordiske patronymdannelse" (ebd., 51). s

Vgl. Grundriß II. 1, § 1 1 4 ; „[das Suffix] -(i)io-, mittels schaffen worden sind, z.B. nymbildungen auf *-(i)ioNIseR I, 9 9 .

ferner AindGr II.2, § 6 5 2 mit Verweisung auf GrSct, § 1 9 6 ; dessen seit uridg. Zeit Adjektiva zu beliebigen Substantiva ge*petriio-s "patrius"' (Grundriß, ebd.). Speziell zu den Patrosiehe Grundriß II. 1, § 4 7 4 . 3 a ; AindGr II.2, § 6 5 2 . e ; ferner

7

Vgl. dazu Peterson 1 9 8 5 . - Andererseits können mit Kousgärd Serensen ( 1 9 8 4 : 3 4 sq.) zwei Argumente gegen Olsens ( 1 9 3 6 : 14 sqq.) Patronymdeutung der Barmen-Form

86

Runische Evidenz

Wie bereits angedeutet, entspannte sich seit Bugge eine lange Diskussion zum Lautwert und zur Herleitung der By-Form hroReR. Von linguistischer Seite wurde neben der frühen ö-Synkope/Suffixkontraktion (gegenüber irilaR, hroRaR) besonders die -Schreibung als problematisch empfunden. Die traditionelle Forschung würde in diesem Fall vielmehr eine kontrahierte Form *hroRiR = /hröRlR/ entsprechend got. hairdeis erwarten. Zu fragen bleibt, ob diese Sichtweise (mitsamt ihren Vorgaben) adäquat ist. Zunächst dürfte außer Frage stehen, daß der Endsilbenvokal von hroReR noch zweimorig ist.8 Demgemäß kann grundsätzlich festgestellt werden, daß die ehwaz-Rune (M) in den älteren Runeninschriften oftmals einen Langvokal vertritt, wenngleich der Lautwert im zugehörigen Runennamen selbst kurz ist. Mit Antonsen: „It is quite clear [...] that in our runic inscriptions we have countless examples of Μ and ^ representing long vowels." (Antonsen 1987: 25 sq.)

Von dieser Ausgangsbasis her dürfte hroReR = [hröReR] zu lesen sein.9 Dabei ist die Endung als Kontraktionsprodukt aus *-ij-az zu fassen. 10 Nichtsdestoweniger bleibt die -Schreibung dieser Form erklärungsbedürftig. Die graphematische Realisierung des Ultimavokals deutet unmißverständlich auf eine qualitative Umwertung des *-/- < *-ij- im Gesamtsystem des frühnordgermanischen Endsilbenvokalismus hin. Mit Kock (1906: § 174) lassen sich Parallelen aus den skandinavischen Sprachen anführen. Man vergleiche das Nebeneinander von an. svivirÖa, svivirÖning, aschw. sivirpa, stvirpning versus agutn. sueverpa, aschw. sewyrdha, sewerdha, s&uyrdha, sewerdhning, s&virdhning mit unterschiedlicher Intonation des Präfixes im Kompositum: ϊ bei Hauptton auf dem ersten Glied, e (e), it bei Hauptton auf dem zweiten.

8

9 10

t>irbijaR ins Feld geführt werden: 1. Ein entsprechendes Simplex *pjarf- < * perba- ist unbekannt; 2. Es sollte ein Name - und kein Personalpronomen ek - vorausgehen. Daher ist (>irbijaR eher mit Marstrander (1938: 3 6 1 sqq.) als N o m e n agentis zum jan-Verb *perbijatt „schlaff machen" interpretierbar, oder - weniger wahrscheinlich - mit Lindquist (1939: 18 sq.) als Deadjektivum zum Simplex *perba- - an. pjarfr „ungesäuert"; vgl. RäF 2 , 145; Andersen 1961: 101 Anm. 32 und Hast 1976: 42. Vgl. Sievers 1894: 139 sq. und Brate 1895: 369 contra Bugge, NLeR I, 99. Einer Lesung hrOReR gibt auch Gutenbrunner (HLFA, § 7 Nr. 34) den Vorzug. Zum phonologischen Status des «-Umlauts siehe IV.3.7. Um dem Einwand verfrühter α-Synkope zu entgehen, sollte die Möglichkeit einer besonderen Kontraktion *-ija(-) > *-«"(-) ins Auge gefaßt werden; vgl. III.3.4 unter B . l . Hiermit ergibt sich eine gewisse Parallele zum allerdings haupttonigen Übergang *-iwa- >* -t-, wie er in wiR (Eikeland; 18) durchgeführt sein dürfte. Demgemäß kann mit Seebold (1972: 88 Anm. 190) auf das Baltische verwiesen werden, wo ija selbst in denjenigen Mundarten kontrahiert wird, wo ansonsten keine α-Synkope eintritt. Natürlich ist auch in diesem Fall von einem regulären Kontraktionsprodukt nicht -e- auszugehen.

Runische Evidenz für Vokalabschwächungen

87

Daß die Senkung der Ultima in hroReR unabhängig von dem auslautenden Block-R erfolgt ist, wird unmittelbar durch die jüngere Istaby-Form hAeruwulafiR mit der Auslautsequenz bestätigt. Bys hroReR ist somit als wichtiges Indiz für einen qualitativen Übergang *-/(-) > *-£(-) heranzuziehen, der unmittelbar von der Akzentschwächung herrührt (zu den phonologischen Implikationen dieser Qualitätsreduktion siehe besonders IV.3.7). Offenbar handelt es sich um eine frühzeitig eintretende Reduktionstendenz an der Schwelle zur Synkopezeit (um 500/525 n.Chr.). 11 Im folgenden soll das runische Material systematisch auf Vokalabschwächungen hin untersucht werden.

III.3 III.3.1

Runische Evidenz für Vokalabschwächungen

Methodische Vorüberlegungen

Nach erfolgter Sichtung der By-Form hroReR soll nun der Versuch unternommen werden, Zwischenstadien der Vokalreduktion im runischen Korpus möglichst konsequent nachzuweisen. Zu untersuchen ist, inwieweit markante Etappen dieses Prozesses inschriftlich überhaupt dokumentiert sind und welche Graphemzuweisungen für palatale, labiale und tiefe Reduktionsvokale je nach Schwächungsgrad in Frage kommen. Schwächungserscheinungen im konsonantischen Bereich werden hierbei prinzipiell vernachlässigt. Insgesamt wird eine breite Datenbasis angestrebt, damit diverse Einzelbeobachtungen als Teile der Gesamtinterpretation ein stimmiges Ganzes ergeben. Isolierte Betrachtungen einzelner Belegformen sind erst dann aussagekräftig, wenn sie in den Kontext integrierbar sind und generelle Entwicklungslinien unterstreichen. Auf diese Weise wird zugleich jener Unsicherheitsfaktor minimiert, der bei der Interpretation runischer Belege stets gegeben ist. Formen wie asni (Eikeland; 18), haitika (Seeland Brakt. 2 ; 8 1 ) oder wate (Str0m; 9 4 ) sind für sich genommen in der Tat unsicher; folgerecht könnten sie mit dem Hinweis auf zweifelhafte Interpretationen oder ungenaue Schreibungen gänzlich ausgeklammert werden. Wie sich zeigen wird, liefern sie jedoch wichtige Mosaiksteine für die Gesamtinterpretation; sie bestätigen allgemeine Entwicklungstendenzen.

11

Die By-Inschrift ist mit Antonsen (CGORI, Nr. 111) grob zwischen 5 0 0 und 5 5 0 n.Chr. datierbar. Birkmann ( 1 9 9 5 : 152, 176) weist dieser mV-Inschrift die Zeit um 5 0 0 zu. Aus runologischer Sicht spricht insbesondere die Form der algiz-Runen für ein relativ hohes Alter. Darüber hinaus weist der Gebrauch von Binderunen (ek, hr in hroReR) in die zeitliche Nähe zur Stram-Inschrift (ha in hali, haha, ha|>u). Diese Einschätzung wird durch den linguistischen Befund direkt bestätigt; siehe III.3.4 unter B.2.

88

Runische Evidenz

Das Argument ungenauer oder inkorrekter Schreibungen sowie rein graphisch motivierter Phänomene (einschließlich Verkürzungstendenzen) darf nicht über Gebühr beansprucht werden; es bietet sich zwar insbesondere bei Brakteatinschriften an, sollte aber auch hier nur als Ultima ratio verstanden werden. Ungenaue oder schwankende Graphien sind nicht unmotiviert. Es dürfte kein Zufall sein, daß sie gerade in den frühnordgermanischen Brakteatinschriften offen zutage treten, stehen diese doch am Anfang einer Periode umwälzenden Sprachwandels, die durch Endsilbenverwitterung, Umlaut und Brechung gekennzeichnet ist. Formen wie hroReR, wate, haitika (sowie eventuell auch asni) sind daher Vorboten der Vokalreduktion und Synkope im Nordgermanischen. Bereits mehrfach wurde betont, daß die Synkope nur den Endpunkt eines graduellen Schwächungsprozesses darstellt. Auch von experimental-phonetischer Seite wird diese Einschätzung bestätigt; siehe B j 0 r n Lindbloms (1963a/b) experimentelle Studie anhand schwedischer Vokale. Daher sind theoretische Überlegungen, wie Wolfgang Dressler (1975) sie anstellt, unabdingbare Voraussetzung für die adäquate Sichtung und Auswertung des Materials (siehe III.3.3). Zwei wesentliche Vorstadien der Synkope sind Senkungen und Zentralisierungen, wobei hohe Vokale graduell in Richtung auf die Indifferenzlage hin abgesenkt werden (vgl. dazu Harris 1 9 9 4 : 108-113). Ahnliches dürfte prinzipiell auch für tiefe Vokale gelten, wobei hier eine Hebung in Richtung auf den indifferenten Schwalaut vorauszusetzen ist. Die Existenz von Vokalabschwächungen erweist sich — zumindest aus phonetischer Sicht — als ebenso real wie die der Synkope. Wenngleich sich der Vollschwund, d.h. Segmentverlust, graphisch viel augenfälliger manifestiert als seine etwaigen Vorstadien, ist dennoch zu erwarten, daß auch jene speziell in den Übergangsinschriften ihren Niederschlag finden. 1 Es bleibt nach typischen Realisierungsformen der Reduktionsvokale in verschiedenen Etappen der Vokalabschwächung zu fragen. Gibt es beispielsweise eine graphematische Idealzuweisung für den Indifferenzvokal mit neutraler Zungenstellung? Wie sich zeigen wird, ist diese Frage aufs engste mit dem Phänomen der Sproßvokale verknüpft, deren Lautwert und typische Realisierungsform(en) ebenfalls zu berücksichtigen sein werden. In der neueren Forschung wurden wiederholt Zweifel geäußert, ob einzelne Runenritzer wirklich einer bestimmten Schreibertradition folgen; selbst für die Sprache der älteren Runeninschriften ist die Annahme eines stark normativen Einflusses keineswegs zwingend. Insgesamt ist festzustellen, daß das Postulat einer maßgebenden orthographischen Norm in der modernen For-

1

Z u r Begriffsklärung in puncto „Übergangsinschriften" siehe Teil III.2, Anm. 2.

Runische Evidenz für Vokalabschwächungen

89

schung mehr und mehr zurücktritt; der Hauptakzent liegt dafür auf der Umsetzung gesprochener Sprache. 2 Demgemäß bemerkt Antonsen zum Befund des Altrunischen: „Ich finde also keine zwingenden Gründe, mit Makaev und Moltke die Sprache der ältesten Runeninschriften als eine 'übermundartliche literarische Variante' aufzufassen. Sie scheint alles in allem das phonologische, morphologische und syntaktische System einer wirklich gesprochenen nordwestgermanischen Sprache genau so gut zu vertreten wie das Schreibsystem einer jeden anderen altgermanischen Sprache." (Antonsen 1986: 343)

Daher bleibt grundsätzlich zu fragen, wie die Einheitlichkeit der Lautwiedergabe in den ältesten Runeninschriften erklärbar ist. Wenn sie nicht auf einer Runen-Koine nebst einer normativen Orthographietradition beruht, bleibt die Eindeutigkeit der Zuordnungsrelation zwischen Phonem- und Graphemebene als entscheidender Faktor. 3 Syrett (1994: 21) tendiert zu der Auffassung, daß die (Ortho-)Graphie der älteren Runeninschriften keineswegs in allen Fällen so einheitlich und konsequent geregelt ist, wie die traditionelle Forschung annimmt. Er weist besonders auf die schwankende Orthographie in Ultima von talgida (Udby, Fibel), talgidai (Nevling, Fibel; 69) und tawide (Illerup, Schildgriffbeschlag 2) hin. 4 Ihm zufolge handelt es sich bei diesen frühaltrunischen Belegen um formal identische Präteritalformen der 3. Sg. Ind., denen ein und derselbe Lautwert *[-d-je] < germ. *-ide1(d) zukommt; siehe weiterhin Exkurs 1. Derartige inkonsistente Schreibungen dürften primär auf einer Unschärferelation bei der Phonem-Graphem-Zuweisung gründen. Syretts zunächst ebenso kühn wie simpel anmutende Arbeitshypothese, „that runesmiths speit as they spoke" (1994: 21), eröffnet im weiteren die Möglichkeit, innovative Schreibungen in den Übergangsinschriften des 6. Jhds. unvoreingenommen, d.h. ohne die Hilfskonstruktion besonderer Schreiberkonventionen, auszuwerten.

2 3

Vgl. Antonsen 1986: 341-43; ferner Syrett 1994: 20 sq.

Zur traditionellen Auffassung vgl. Rkd, 15 sq: „Einige stilistische Eigentümlichkeiten charakterisieren die Koine: knapper und formelhafter Stil, magische Formelwörter wie alu usw., vereinzelter Gebrauch des Stabreims in rhythmisch gegliederten Inschriften. Die Tradierung dieser Eigentümlichkeiten kann man sich am besten in Schreibschulen vorstellen, in denen auch runen-orthographische Besonderheiten entstanden sein werden." « Siehe Syrett 1994: 246-255, 268; dazu auch Schulte 1996b: 120.

90

Runische Evidenz

III.3.2 Materialsammlung In den Übergangsinschriften, vornehmlich im Umfeld der Blekinger Gruppe, läßt sich für den unbetonten Vokalismus eine aufschlußreiche (Ortho-)Graphie nachweisen, welche die Annahme einer stark fortgeschrittenen Vokalabschwächung unmittelbar bestätigt; hiermit werden umwälzende sprachliche Veränderungen auf phonetisch-phonologischer Ebene signalisiert. Einzelne Interpreten versuchten sich bereits in einer geschlossenen und systematischen Auswertung der (ortho-)graphischen Eigentümlichkeiten der Blekinger Inschriften (vgl. insbesondere Marstrander 1952: 148 sq.). Dabei wurde allerdings der entscheidende Faktor der Reduktion mit seinen mannigfaltigen Niederschlägen bis auf die Synkope kaum berücksichtigt. 1 Für eine umfassenden Analyse sind vor allem die folgenden Belege relevant (—NB.: Die Gliederung des Belegmaterials erfolgt primär nach chronologischen Gesichtspunkten, sodann auch nach Quantität und Qualität der involvierten Reduktionsvokale): A . l ik Äsum; Sender Rind — B . l hroRcR By — B.2 wate versus ska(>i, ligi Stram — B.3 haitika Seeland-Brakt. 2 — B.4 runoaRsni Eikeland — B.5 hwatin, fahi Noleby — C. 1 hideR- Stentoften versus hAidR- Björketorp — C.2 ArAgeu Stentoften/Björketorp — C.3 hagestumR Stentoften — D . l gino-ronoR Stentoften versus ginA-runAR Björketorp — D . 2 run-schwed. ak versus auk, uk, ok — E.l felAh-ekA Stentoften versus fAlAh-Ak Björketorp — E.2 utiAR Björketorp — F . l uti versus welAdAude Björketorp — F.2 sAte Gummarp — F.3 hAcruwulafiR Istaby — G. 1 hAriwulafa Istaby — G.2 hAt>uwolAfA Gummarp (vgl. Tab. 2).

Verschiedentlich wurde auch der Vokalismus anderer Belegformen auf Akzentverlust zurückgeführt. Bei einigen Formen beruhen die Interpretationen aber auf unsicheren Lesungen.2 Außerdem bieten sich im Einzelfall oft andere, plausiblere Erklärungsmöglichkeiten an; dies gilt insbesondere für die beiden Formen after (Tune; 105) und swestar (Opedal; 70), deren Endsilbenvokalismus von einzelnen Interpreten tentativ auf Schwächung zurückgeführt wurde. 3 1 2

Siehe dazu besonders die Diskussion des Belegpaares gino-ronoR versus ginA-runAR (D.l). Beispielsweise liest Seebold (1991: 4 7 0 sq.) auf dem Brakteaten von Broholm/Fünen dreimal dasselbe Wort in unterschiedlicher Orthographie: uihu - wi'ho - wuiuu, in allen drei Fällen entwickelt aus *wthiju·, vgl. auch die Formen wiju (Kragehul; 47), ui'u (Nebenstedt Brakt. 1; 62) und uiuu (Overhornbsek Brakt. 2; 71). - NB.: Eine Gleichsetzung wiju =

wt(g)ju zu an. vtgja (nach RäF2, 67) würde zudem die Durchführung der i-Synkope voraussetzen. Zur Ausgangsform *wthiju bzw. *u/tgiju siehe NIaeR I, 127; von Grienberger 1907: 55, 99; RäF 2 , 60, 67, 270; SuR, § 37.3b; Granvik 1987: 146, 182. Mit Birkmann (1995: 79) könnte das Endsilbengraphem < - o > statt < - u > in wi'ho eine Vokalabsenkung signalisieren; vgl. die folgende Argumentation zum Fugenvokal von gino-ronoR (D.l).

Runische Evidenz für Vokalabschwächungen

III.3.3

91

Interpretationsansatz

Die Fixierung des Initialakzents im Germanischen bringt es mit sich, daß die ursprüngliche Autonomie der Silbe, wie sie im Indogermanischen o d e r auch n o c h im Frühurgermanischen Bestand hatte, verlorengeht. 1 Es gibt demnach keine Kongruenz zwischen betontem und unbetontem Vokalismus mehr. D e m g e m ä ß betont Syrett ( 1 9 9 4 : 3 8 - 4 0 ) , daß der unbetonte Vokalismus des „Urnordischen" keineswegs als direktes Subsystem {subset)

des betonten

Vokalismus aufzufassen ist. Vielmehr hat er als a u t o n o m zu gelten und ist einer Eigengesetzmäßigkeit in F o r m der Auslautgesetze verpflichtet. Dieser generelle Strukturwandel kann mit Bengt Sigurd ( 1 9 6 1 ) als

code

shift charakterisiert werden. Im End- und Mittelsilbenbereich führt diese Auslagerung sprachlicher Information zwangsläufig zu neuen (nicht unbedingt eindeutigen) Phonem-Graphem-Entsprechungen, die ihren Niederschlag in innovativen, teils schwankenden Schreibungen finden. Dies gilt zumindest dann, wenn die gesprochene, jeweils aktuelle Sprache für die (ortho-)graphische Umsetzung maßgebend ist (vgl. III.3.1). M i t Antonsen (und Syrett) ist orthographic

confusion

die Folge solcher

phonetisch-phonologischer Veränderungen. 2 Es erscheint aber sehr fraglich, ob dieser an sich rein deskriptive Ansatz den orthographischen

Besonder-

heiten der Übergangsinschriften (speziell der Blekinger Gruppe) gerecht wird und eine ausreichende Erklärung für den Schreibungswandel bietet (vgl. Schulte 1 9 9 6 b ) .

3

1

2

Durchaus vage wurde Tunes after statt *aftar (Präposition im Gegensatz zur Adverbbildung *aftiri < *afteri) durch Reduktion *-a- > -e- erklärt; siehe Grenvik 1981: 217 sq.; ders. 1987: 182; Stiles 1984: 3 6 Anm. 9. Da die Parallelform wiwaR {Tune; 1 0 5 ) aber keinerlei Anzeichen von Reduktion aufweist, führt Syrett (1994: 223-231) die Schreibung < - e r > auf senkenden Einfluß der Liquida - r # zurück: „allophonic confusion of the reflexes of *a and *e in the position before final *-r#" (ebd., 229). Marstrander (1965: 251) spricht bei der Behandlung der Opedal-Inschrift unbestimmt von „den reduserte sluttvokal i swestar". Vgl. noch Antonsen (1980: 11), der ngerm. "Vfa^r/, */mö}jr/ ansetzt und die runisch-wikingzeitlichen und altnordischen Kontinuanten mit -isj-ir (an. fadir, mödir) durch Epenthese erklärt; dagegen aber Stiles 1984: 19 sq. Das Frühnordgermanische der Ubergangszeit kennt demnach längst keine Autonomie der Silbe mehr; zum Indogermanischen vgl. Meillet 1970: 32: „Each vowel of the Indo-European word has its autonomy, and the vocalic element of the syllable does not depend to any degree on the neighboring consonants or vowels. In Germanic, on the contrary, the quality of the vowels [...] is ordered by their place in the word and by the consonant and vowel elements which follow them in the same word." Vgl. Antonsen 1978: 284b-288a; ferner Syrett 1994: 209, 285 sqq.; „In such transitional inscriptions there are signs that orthographic confusion may already have been beginning, possibjy as a preliminary stage in the loss of several runes from the futhark" (ebd., 209).

92

Runische Evidenz

Bereits Haugen konstatierte zum runischen Gesamtbefund: 3 „The Pr[oto-]Sc[andinavian] runic writing [of i and «; M.S.] varies just like the 0 [ l d ] Icelandic]: cf. welAdAuÖe Björketorp, orte By, urti Salvesborg, sAkse Eggjum, hah Stram, wate Strem, liubu Opedal, rurto Noleby, fahido R0, fahidu Väsby." (Haugen 1949: 386)

Ob die Problematik von diesem Blickwinkel aus hinlänglich erfaßt wird, sei dahingestellt. Immerhin ist mit Antonsen geltend zu machen, daß umgekehrte Schreibungen (reverse spellings) Phonemverschmelzungen voraussetzen und somit Aufschluß über die Durchführung eines bestimmten Lautwandels oder Reduktionsvorgangs geben können. 4 In diesem Licht dürfte auch eine „irreguläre" Orthographie wie haitika (B.3) mit < i > statt < e > erste deutliche Schwächungstendenzen unbetonter Vokale (in Form von Qualitätsreduktion) verraten und somit den Befund der By-Form hroReR (B.l) bestätigen; vgl. dazu III.2. Mit ähnlichen Problemen, wie sie sich den Runenritzern bei der Lautwiedergabe der End- und Mittelsilbenvokale stellten, wird auch der moderne Phonetiker konfrontiert, beispielsweise wenn er den Lautwert verschiedener nebentoniger und unbetonter Vokale im Neuhochdeutschen bestimmt (vgl. Mangold 1961). Die adäquate Notation von Schwachdruckvokalen in Sprachen mit ausgeprägtem exspiratorischem Akzent dürfte nie ganz unproblematisch sein. Die in Abschnitt III.3.2 angeführten Interimsformen und -Sequenzen divergieren in ihrem Schriftbild deutlich von der (Ortho-)Graphie der älteren Runeninschriften. Aufgrund der Reduktion verschieben sich die ursprünglich (zumeist) eindeutigen Phonem-Graphem-Relationen. Demgemäß signalisieren < e > - und -Schreibungen für unbetontes /!/ und /ü/, daß die Vokalreduktion bereits eingesetzt hat. Die Frage nach der graphematischen Realisierung von Reduktionsvokalen ist m.E. bislang nicht adäquat behandelt worden. Sofern es typische Graphemrealisierungen für bestimmte Zwischenetappen der Vokalreduktion gibt, sind theoretische Vorüberlegungen unabdingbar. Zu untersuchen ist, ob idealtypische Realisierungsformen bestimmter Schwächungsetappen auszumachen sind. Gibt es beispielsweise Idealzuweisungen für abgesenkte oder zentralisierte Vokale? 3

4

Im folgenden greift Haugen allerdings undifferenziert auf verschiedene Sprachstufen zurück. Während einige seiner Belegformen eine junge Entwicklungsstufe dokumentieren (z.B. Eggjum), gehören andere noch zu den älteren Runeninschriften (z.B. Rö). Vgl. Antonsen 1986: 338 sq. und CGORI, § 1.5, zur Navling-Form talgidai (für talgidce bzw. talgide): „[...] sound philological method requirfes us to interpret inverse spellings as reflections of coalescences" (ebd.); tendenziell kritisch hierzu aber Syrett 1994: § 8.6.2.

Runische Evidenz für Vokalabschwächungen

93

Die wesenhaft graduelle Vokalabschwächung schlägt sich sowohl quantitativ, als auch qualitativ nieder. Sie manifestiert sich nicht nur in einer Verminderung der Schallfülle (Sonorität), sondern auch in einer Entfärbung (vgl. II.7). Bei der Beschreibung zentrifugaler und zentripetaler Prozesse konstatiert Wolfgang Dressler: „Den Gegensatz zu den zentrifugalen Prozessen stellen die zentripetalen Prozesse dar. Wiederum handelt es sich nicht nur um Verlust von Eigenton (Färbung), sondern auch von Schallfülle (Sonorität): Durch Entfärbung ('bleaching') werden labiovelare und palatale Vokale zentralisiert, typischerweise in Schwächungsprozessen (die gleichzeitig die Schallfülle betreffen) 151 [...]. Das ideale Ergebnis der zentripetalen Prozesse wäre der Zusammenfall aller Vokale in einem einzigen zentralen Vokal, was bei Schwächung häufig vorkommt [...]." (Dressler 1 9 7 5 : 3 6 sq.)

Darüber hinaus läßt sich mit Otto Jespersen ( 1 9 1 2 ) bei konstantem Atemdruck eine klare Hierarchie in bezug auf die relative Schallfülle (Sonorität) von Vokalen tiefer, mittlerer und hoher Zungenlage nachweisen: Auf der Meßskala besitzt [a] mehr Sonorität als [e, o], letztere ihrerseits wiederum mehr als [i, u]; vgl. dazu Exkurs 2. 6 Zweifellos erfordert [θ] aus artikulatorischer Sicht den geringsten Aufwand. Daher dürfte das günstigste Abbildungsverhältnis zwischen einem neutralen, entfärbten Zentralvokal [Θ] und den beiden Graphemen < A > , < a > bestehen, die an sich tiefe Vokale repräsentieren (in Entsprechung zu haupttonigem /a, ä/ in *a(n)suz und *(j)ära).7 Derart stark zentralisierte a-Vokale, deren Lautwert mit dem von Svarabhaktis weitestgehend identisch sein dürfte, liegen höchstwahrscheinlich nicht nur in der Kompositionsfuge von ginArunAR ( D . l ) vor, sondern auch in hAerAmA-lAusR, welA-dAude, sowie (weniger sicher) in den Sequenzen uf>ArAbA-sbA und niuhA/niuha. Siehe im weiteren die Besprechung der Belegformen ginA-runAR (D.l), hAriwulafa ( G . l ) und hAjrnwolAfA (G.2). Demgemäß ist es kein Zufall, daß < A > , < a > am weitaus häufigsten zur Bezeichnung von Sproßvokalen eingesetzt werden, die qualitativ weitgehend reduzierten und entfärbten Schwachdruckvokalen (speziell dem Schwalaut der Indifferenzlage) entsprechen. 8 Dies erklärt sodann auch, warum < A > den

s

M i t Verweisung auf Miller 1 9 7 2 : 4 8 2 - 4 8 9 und dies. 1 9 7 3 : 3 8 6 - 3 9 7 .

6

Siehe Jespersen 1 9 1 3 : §§ 1 3 . 1 2 - 1 3 . 1 4 ; dazu aus neuerer Sicht Donegan 1 9 7 8 : § 2 . 3 . 1 .

7

Zu denken ist außerdem an das „zentrale a", den zweiten Reduktionsvokal im Deutschen, der - prozeßphonologisch nicht unbedingt adäquat - als „vokalisiertes r" bezeichnet wird; vgl. nhd. über [y:be], Uhr

8

[U:B].

Siehe u.a. Pompino-Marschall 1 9 9 5 : 2 1 1 , 2 5 9 .

Im Vergleich dazu fungiert < e > in den Inschriften des älteren Fu^ark bedeutend seltener als Svarabhaktigraphem und für < u > , < o > sind jeweils nur ein potentieller Beleg greifbar: mit Bugge (w)oruma-(la)ib(a) (Myklebostad; 5 9 ) und mit Santesson hAborumR (siehe dazu unter C.3).

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Runische Evidenz

unakzentuierten Vokal des Enklitikons -Ak (E.l) und der Kopula AR (E.2) wiedergibt. Ferner ist zu berücksichtigen, daß die phonetische Bandbreite einzelner Phoneme des Endsilbenvokalismus durch fortschreitende Reduktion und Entfärbung zunimmt, so daß oft mehr als ein Graphem für die Realisierung bestimmter Schwachdruckvokale in Frage kommt. 9 Im Zuge der Reduktion nimmt die Zahl distinktiver Einheiten im Endsilbenbereich stetig ab, womit zugleich die phonetische Amplitude einzelner Phoneme weiter und diffuser wird. Die Phonem-Graphem-Relationen werden somit ambig und führen zu schwankenden Graphien. Als weiterer Indikator für einen fortgeschrittenen Schwächungsgrad nebentoniger Vokale in der Synkopezeit kommt die gehäufte Setzung von Svarabhaktigraphemen hinzu. Mit Birkmann: „So verstanden wären die Sproßvokale, die in späturnordischer Zeit vermehrt auftauchen, nicht als zusätzliche Vokale des Systems aufzufassen, sondern würden im Gegenteil belegen, daß aufgrund von Veränderungen in der Sprachverwendung ein Systemwandel in die andere Richtung, zu Reduktion und Schwund, im Gange ist. Die Sproßvokale wären also ein Indiz für die Synkope." (Birkmann 1995: 166)

Solche Svarabhaktirealisierungen, z.B. auf dem Lanzenschaft von Kragehul (hagala = hag"la, asugisalas = A(n)sugtsalas) und auf dem Stein von Järsberg (harabanaR = H"rab"naR, waritu = wantu), können zunächst die grundsätzliche Möglichkeit zeigen, die Aussprache einer Konsonantenverbindung (v.a. mit Nasalen/Liquiden) durch Epenthese zu erleichtern, wie dies späterhin bei nisl. hestur < an. hestr regulär der Fall ist.10 Bezeichnenderweise sind derartige „parasitäre Vokale" hochfrequent in einem relativ eng umgrenzten Stadium der Vokalreduktion. Es handelt sich um eine Reduktionsphase, in der die Vokalabschwächung einerseits schon einen signifikanten Grad erreicht hat, andererseits aber über weite Strecken und Formgruppen noch nicht zur Synkopierung geführt hat.

9

Vgl. grundsätzlich Syrett 1994: 292: „[...] the accented and unaccented vowel systems do not necessarily match up with each other. Rather the unaccented vowel system can have both a divergent distribution and phonetic realisation of its various components, almost always entailing a larger amount of available phonetic space to operate in since there are fewer contrastive units."

10

Vgl. SuR, §§ 52 sq.; ferner Birkmann 1995: 166: „einerseits können Vokalgrapheme ungeregelt im Wort auftauchen (vielleicht wäre harabanaR ein Beispiel) - andererseits der wahrscheinlichere Weg, daß ein Schreiber das fragliche Wort laut und langsam ausspricht [...]. Dabei werden dann in phonetisch natürlichen Kontexten, also v.a. in der Umgebung von Nasalen/Liquiden, Vokalisierungen stattfinden [...]". —Zur (alt-)westnordischen Svarabhakti-Entwicklung vor - r # siehe AnGr, § 161.

Runische Evidenz für Vokalabschwächungen

95

Demgemäß können Sproßvokale in Verbindung mit einem Zeitansatz um oder kurz nach 5 0 0 zugleich „als erste Anzeichen für den Beginn der Synkope" und damit als Vorboten der umwälzenden Reduktionsvorgänge interpretiert werden, die sich dann im Laufe des 6. Jhds. in den nordgermanischen Runeninschriften massiv niederschlagen. 11 Erste deutliche Reduktionstendenzen in Form von Vokalschwund und/ oder Schwächung manifestieren sich bereits gegen Ende der Brakteatenzeit, d.h. spätestens im 1. Quartal des 6. Jhds. 12 Unter diesem Gesichtswinkel ist es bemerkenswert, daß Svarabhaktis gehäuft in einer Reduktionsetappe auftreten, in der Schwachdruckvokale bereits weitgehend zentralisiert und entfärbt sein dürften. Während die relativ frühen (wahrscheinlich zwischen 5 0 0 und 5 5 0 n.Chr. anzusiedelnden) Ubergangsinschriften von By, Strom und Eikeland erst begrenzte Reduktionsphänomene zeigen und dem eigentlichen „Svarabhaktistadium" noch vorausgehen, kulminiert der Gebrauch solcher Hilfsvokale in den Blekinger Inschriften. Sodann tauchen epenthetische Vokale in den relativ späten (der Zeit nach 625/650 angehörenden) Inschriften von Eggjum, Vatn und Strand nur vereinzelt oder gar nicht auf. Theoretisch muß es eine Reduktionsstufe geben, auf welcher der Lautwert synkopierbarer End- und Mittelsilbenvokale mit dem Indifferenzlaut identisch ist; damit dürfte der phonetische Unterschied zwischen ursprünglichen Schwachdruckvokalen und parasitären Vokaleinschüben synchronisch einstweilen aufgehoben sein. Die Schreiberunsicherheit betrifft somit nicht nur das Problem der Phonem-Graphem-Zuweisung, sondern auch die Frage, wo überhaupt etymologisch berechtigte Reduktionsvokale vorliegen und wo nicht. Thomas Birkmann (1995: 157) spricht in diesem Zusammenhang von „hyperkorrekten Schreibungen". Nach diesen allgemeinen Vorüberlegungen sollen die angeführten runischen Belegformen kritisch diskutiert werden.

11

Siehe Birkmann 1 9 9 5 : 1 5 7 . Zu den runologischen Kriterien, welche diese zeitliche Einord-

12

Vgl. SuR, § 6 0 ; ferner Birkmann 1 9 9 5 : 97, 1 7 6 sq. mit Anm. 5.

nung von Kragehul und Järsberg stützen, siehe ebd., 1 5 8 .

96

Runische Evidenz

III.3.4 Diskussion des Belegmaterials Beleggruppe A A.l ik (Äsum; 125/S0nder Rind; 97) versus ek (Gallehus; 30 [u.a.m.])1 Der i'-Vokalismus der Pronominalform ik in den Brakteat-Inschriften von Äsum und Sender Rind ist beachtenswert. Den weitaus überwiegenden altrunischen -Schreibungen, die im Altnordischen durch e- fortgesetzt werden (an. ek, nisi, eg), steht immerhin die zweimal belegte Form ik auf den Brakteaten von Äsum und Sender Rind gegenüber, so daß sich in den älteren Runeninschriften insgesamt ein ungefähres Belegverhältnis von 1 0 : 1 zugunsten der -Formen ergibt. Was die Brakteat-Form ik angeht, bietet sich ein direkter Vergleich mit dem weitgehend verallgemeinerten /-Vokalismus des Westgermanischen an (vgl. ae. ic, afries. ik, ahd. ih, mndl. ic, icke versus anfränk. ec/ek ~ ic/ik, as. ek ~ ik).2 Der ursprüngliche Vokal ist zweifellos mit e- anzusetzen (vgl. lat. ego, gr. έ γ ώ , alit. es, lettl. es), wogegen i- durch Schwachtonigkeit erklärt werden kann. 3 Bezeichnenderweise finden sich die /^-Formen in Brakteatinschriften und gehören der Zeit um 500 n.Chr. an. Diese -Schreibungen dürften auf schwachtoniger Stellung des Personalpronomens im Satzzusammenhang beruhen. Sie werden verständlich, wenn man bedenkt, daß im unbetonten Vokalismus der älteren Runensprache höchstwahrscheinlich nur ein kurzer Vorderzungenvokal in Form des Extremwerts Vi/ vorhanden ist.4 Historisch gesehen, ist nicht-haupttoniges germ. *£ in vielen Kontexten regulär zu Ϊ gehoben worden, so insbesondere vor hohem i und « ursprünglicher Endsilben. Aus diesem Grund dürfte eine 1

Die Pronominalform ek findet sich in folgenden Inschriften (mit Inschriftennummer in SuR): Stein von Barmen: 4; Fibel von Bratsberg: 8; Stein von By: 10; Fibel von Eikeland: 18; Brakteat von Feme: 25; Goldenes Horn Β von Gallehus: 30; Fibel von Gärdlösa: 33; Stein von Järsberg: 42; Stein von Kjelevik: 45; Lanzenschaft von Kragehul: 47; Felszeichnung von Kärstad: 51; Amulett von Lindholm: 57; Schrapmesser (Fragment) von Nedre Hov: 63; Stein von Nordhuglo: 65; Stein von Reistad: 72; Stein von Rosseland: 74; Stein von Rö: 76; Stein von Tune: 105; Felsinschrift von Valsfjord: 111; Felsinschrift von Veblungsnes: 113. - Zur Gruppe der e£-Inschriften vgl. Olsen 1937: 63-66.

2

Vgl. SuR, § 100.1; H. F. Nielsen 1985: 164 und ders. 1989: 8.

3

Siehe beispielsweise GdGr V, § 561; HbUrg II, § 68; GS I, § 45; GS II, § 32; Andersen 1969: 250; ferner H. F. Nielsen 1985: 164; ders. 1989: 8: - Alternativ hierzu könnten die ιέ-Formen durch intra-paradigmatischen Ausgleich erklärt werden. Vgl. Antonsen, CGORI, § 6.2, der mit analogischem Einfluß von unbetontem */miz/ < germ. */mez/ rechnet. Weniger ansprechend erscheint Krauses Annahme einer westgermanischen Beeinflussung oder ungenauen Schreibung (SuR, § 101.1).

4

Siehe beispielsweise Meillet 1970: 33; ferner Syrett 1994: 2 8 2 et passim.

97

Runische Evidenz für Vokalabschwächungen

kurzvokalische Einheit /e/ als Entsprechung zu langem /e/ im unbetonten Vokalismus der älteren Runensprache (abgesehen von möglichen Varianten z.B. im Kontext _r) nicht mehr vorhanden sein (vgl. auch IV.4.1). Wenn ursprünglich betontes e in das phonologische System der Schwachdruckvokale integriert wird, muß es in das Phonem Iii einmünden. Demgemäß „springt" ursprüngliches e akzentbedingt zu i über und wird mit Vi/ identifiziert. Es ergibt sich eine graphematische Realisierung mit < i > . Die Dublettenform ik dürfte somit durch das begrenzte Phoneminventar im Schwachdruckbereich zu erklären sein. Eine reale Schwächung und Zentralisierung unbetonter Kürzen wird dann auf der Stufe der Blekinger Inschriften (Ende des 6. Jhds.) nachweisbar; vgl. die Beleggruppen C, D und E. Dabei erscheint das Enklitikon eka einmal mit auffälliger -Schreibung in der Sequenz fAlAh-Ak (E.l).

Beleggruppe Β B . l hroReR (By; 1 0 ) Analog zur linguistisch älteren Gallehus-Form holtijaR handelt es sich bei der By-Form hroReR höchstwahrscheinlich um ein z/'fl-Patronymikon (siehe III.2). 1 Die Endung -eR = -eR (< *-tR < *-ijaz) dokumentiert zunächst Kontraktion des //a-Suffixes, die im Resultat regulärer α-Synkope (in Ultima von Dreisilbern mit schwerer Stammsilbe) gleichkommt. In bezug auf die relativ frühe Suffixkontraktion kann Eikelands wiR = WiR n.pr. (sofern < *wiwaz) vergleichend herangezogen werden. 2 Die unkontrahierte Ausgangsform würde demgemäß in wiwaR (Tune; 1 0 5 ) und wiwila(n) (Veblungsnes; 1 1 3 ) vorliegen. 3

1 2

Vgl. auch SuR, § 2 5 . 2 ; ferner Peterson 1994b: 137, 155; Birkmann 1 9 9 5 : 176. Peterson ( 1 9 9 4 b : 1 4 7 - 1 4 9 ) tendiert mit Kousgärd Serensen ( 1 9 8 9 : 9 sq.) zu der Annahme,

*wtwaz oder *wihaz zurückführbar sei. Zur Herleitung wiR < *wiwaz siehe Krause, SuR, §§ 36.1, 3 7 . 3 b und Granvik 1 9 8 7 : 5 4 sq. Mit Krause, SuR, 144, müßte *wtwaz lautgerecht zu *yr führen. KousgArd Serensen, ebd., kritisiert obige

daß Eikelands wiR eher auf

Interpretation wegen des angeblich verfrühten intervokalischen if-Schwundes und der Parallelform wiwio mit bewahrtem -tu-. In der Tat aber ist keiner der beiden Einwände zwingend. Eine Form wiR (Eikeland; 1 8 ) gegenüber frawaradaR (Möjbro; 61), owl{)uJjewaR (Thorsberg; 99), (irawijan (Kalleby; 43), hlewagastiR (Gallehus; 3 0 ) bereitet keine chronologischen Probleme, wenn für Eikeland ein Zeitansatz um 5 5 0 n.Chr. akzeptiert wird (vgl. Birkmann 1 9 9 5 : 142, 1 7 6 et passim). Immerhin zeigt auch Ärstad mit hiwigaR (sofern als ein W o r t zu lesen) noch keine Synkope und kann zeitlich vor Eikeland angesiedelt werden. - Zu wiwio siehe das Folgende. 3

Z u r Lesung wiwilan mit schließendem < - n > siehe Marstrander 1 9 5 1 : Nr. 52; Peterson 1994b: 175.

19;

CGORI,

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Runische Evidenz

Aufgrund von intervokalischem tf-Schwund tritt ein besonderer Übergang *-iwa- > -t- ein, der im Resultat regulärer tf-Synkope mit weiterem Lautwandel gleichkommt. 4 Derartige Kontraktionsvorgänge, die nicht durch die Synkope selbst, sondern durch intervokalischen Halbvokal- bzw. Konsonantenschwund motiviert sind, lassen sich im spätaltrunischen Korpus allenthalben nachweisen; vgl. exemplarisch Stentoftens hje = hie „Schutz" (< *hlewa) und eventuell Stroms hafm, sofern = häpu „Mahd" (< *hawipu).s Wenn derartige Kontraktionen grundsätzlich unabhängig von der regulären Synkope verlaufen, brauchen beide Vorgänge nicht unbedingt zeitgleich einzutreten. Syretts Einwand ist daher keineswegs zwingend: „However, such an interpretation [of ha|)U; M.S.] is rather difficult to justify on phonological grounds, since it presupposes medial syncope after a short syllable and loss of the semi-vowel despite the fact that the text [on the Strem whetstone; M.S.] preserves stem vowels intact as in horna." (Syrett 1994: 60 sq.)

Parallel hierzu verweist Elmar Seebold (1972: 87 sq. Anm. 190) auf baltische Mundarten, in denen *-ija- selbst dann kontrahiert ist, wenn ansonsten keine Λ-Synkope in Ultima erfolgte. Es erscheint daher gerechtfertigt, mit Seebold von einer „unstabilen Lautgruppe" auszugehen. Sofern die Ausgangsformen *wiwaz und *hawtpu akzeptiert werden, Iäßt sich auch im Falle von wiR und hajrn nichts gegen eine besondere Kontraktion einwenden, zumal bei regulärer a- bzw. /-Synkope die Interimsformen *wiwR und *hawp(u) resultieren müßten. Intervokalischer w-Schwund ist hernach nicht mehr möglich; er muß der Synkope naturnotwendig vorausgegangen sein. Daß Eikelands wiwio = wiwjö gegenüber wiR keinen ^-Schwund zeigt, muß auf die antekonsonantische Position des -w- in der Lautsequenz -wjzurückgeführt werden; reguläre Ausgangsform nach dem Sieversschen Gesetz ist *wiwjön, nicht *wiwijön.6 Hier dürfte -w- niemals zwischen Vokalen 4

Vgl. SuR, § 36.1. Indes interpretiert Antonsen (CGORI, Nr. 53) die Form wiR als Pronomen der 1. Pers. PI. Diese Deutung ist allerdings aufgrund des i-Vokalismus problematisch, zumal nicht nur an. ver, mir, sondern bereits Opedals meR den e-Vokal ismus zeigt; vgl. SuR, §§ 24, 35.2b.

5

Zu Strems ha{>u < *hawij?u siehe von Grienberger 1910: 389; GuR, Nr. 62; RäF2, 112 sq.; SuR, §§ 25.4, 90.1 u. Nr. 94; ferner Torp 1974: 23.8 (hm5 < *hatvada)·, vgl. prinzipiell auch Norden 1940: 3 2 0 sq. Anm. 2; Grenvik 1987: 27, 58, 89; Birkmann 1995: 86, 184. Indes kritisch hierzu: Olsen in NIaeR II, 6 9 7 Anm. 1; ferner Antonsen 1975b: 129; Syrett 1994: 6 0 sq. Granvik (1976: 138, 142) übersieht dieses Problem offenbar und legt zunächst dreisilbiges *wiwijön zugrunde; späterhin (1987: 59) setzt er jedoch *iviw(i)jön an, ohne sich auf die silbische Wertigkeit festzulegen. Auch Krause (SuR, § 60.6) geht von *wiwijön aus und bemerkt: „Die Form Wiwio ist vielleicht ein künstlicher Halbarchaismus". Birkmann (1995:

6

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Runische Evidenz für Vokalabschwächungen

gestanden haben. Zugleich wird damit der Einwand Kousgärd Serensens (1989: 9 sq.) entkräftet, daß eine kontrahierte Form wiR < *wiwaz neben wiwio (ohne Kontraktion und tf-Schwund) unmöglich ist. Kehren wir zum Ausgangsproblem zurück. Die obigen Beobachtungen zeigen, daß Kontraktionsvorgänge nicht unbedingt mit der eigentlichen Synkope gekoppelt sind und möglicherweise auch früher eintreten. Bei einer ijaBildung *hrözijaz kann zudem geltend gemacht werden, daß im Gegensatz zu *hrözaz ein Dreisilber vorliegt, dessen Ultima stärkerem Akzentverlust ausgesetzt ist. Im Rahmen eines gestaffelten Reduktionsverlaufs ist eine frühe aSynkope in Ultima von schweren Dreisilbern durchaus plausibel. Es bleibt festzuhalten, daß hroReR neben hroRaR, irilaR keineswegs suspekt ist. Offensichtlich identifizierte der Runenmeister von By das Kontraktionsprodukt aus *-/;- aber nicht mit hohem /!/, sondern mit nicht-hohem /e/; zur ursprünglichen Qualität des Kontraktionsvokals vgl. got. hairdeis.7 Die < e > Schreibung indiziert eine Senkung der Ultimalänge *-t- > -e- nach schwerer Stammsilbe *hröz-·, vgl. nur as. hrör „hurtig" und an. hrera „rühren".8

B.2 wate versus ska^i, ligi (Strom; 94) Die drei Strem-Formen skafü, ligi und wate sind von der Forschung kontrovers beurteilt worden. Nach einer ersten eingehenden Behandlung der Inschrift im Jahre 1908 nahm Magnus Olsen in NIasR II richtungsweisend die metrische Segmentierung haha skaj>i hajm ligi vor, die hahaska J>i ha|?u ligi ablöst. 9 Nach reiflicher Erwägung deutete er skaf>i, ligi Imperativisch ( < nwgerm. *skapt, *ligi), wate jedoch optativisch ( < nwgerm. *wätije < germ. *wetijai).10 Mit diesem Moduswechsel lieferte er einen (wenngleich gezwungenen) Erklärungsansatz für die unterschiedlichen Ausgänge < - e > versus < - i > . Basierend auf diesem Ansatz, nahm Vilhelm Kiil (1953: 84 sq.) späterhin eine Ergänzung zugunsten von (h)wate = hwäte vor und stellte diese Form zum starken Verb an. hväta, Part. Prät. hvätinn „durchbohren" ( < germ.

1 6 1 ) spricht von „Synkopeerscheinungen [...] in wiwjo aus *wiwijon".

— Im übrigen deutet

Antonsen (CGORI, Nr. 5 3 ) die Form wiwio als Gen. PI. eines »/a-Patronymikons *wtwijaz (wtwiö = „of the descendents of Wtwaz")·, vgl. auch Syrett 1 9 9 4 : 2 1 3 Anm. 1 6 6 . 7

Das Zuordnungsprinzip unbetonter Vokale zum jeweiligen Haupttonvokalismus wurde ansatzweise von Einar Haugen ( 1 9 4 9 ) , dann systematisch von Hreinn Benediktsson ( 1 9 6 2 ) bei der Untersuchung des altisländischen Endsilbenvokalismus exemplifiziert.

8

Vgl. A E W , 2 6 4 a und fOSB, 3 8 4 a , s . w . hrcera,

9

Der metrische Status der Stram-Inschrift erscheint aus heutiger Sicht unangreifbar; vgl.

10

Siehe Olsen in NIaeR II, 6 8 7 sq. [ad wate], 6 9 4 sq. [ad ska(>i, ligi]; in dieser F o r m akzep-

hrcxra.

Krause, RäF 2 , Nr. 5 0 ; H0st 1 9 7 6 : 2 9 sq.; Antonsen 1 9 7 5 b : 1 2 3 - 3 2 ; ders. 1 9 8 6 : 3 3 5 sq. tiert von Johannesson in GuR, Nr. 62.

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Runische Evidenz

*hwetan).n Er rechtfertigte diesen Eingriff am Anfang der Inschrift mit der Vervollständigung des markanten ^-Stabes: 'hwate 'hali 'hino 'horna, 'haha ska^i, 'ha|ju ligi. Von dieser metrischen Konjektur abgesehen, folgte er der Deutung Olsens: (h)wate = hwäte = Optativ, skajji, ligi = skapt, ligi = Imperative. Da offenbar eine Parataxe vorliegt, dürfte nur ein Ansatz akzeptabel sein, der bei allen drei Verba denselben Modus voraussetzt. Es stehen daher grundsätzlich nur zwei Optionen offen: Entweder es liegen drei Imperative oder drei Optative vor. Diese Vorgabe haben sowohl Antonsen als auch Krause bei ihrer Interpretation berücksichtigt. Die Plausibilität beider Alternativen dürfte wesentlich davon abhängen, wie die unterschiedlichen Ausgänge versus mit dem Reduktionsstand der Inschrift in Einklang gebracht werden. Antonsen deutet wate, ska]?i und ligi als Imperative der 2. Pers. Sg.12 Bereits von Grienberger (1910: 390), der nur zwei Verba wate und ligi aus der Strem-Inschrift herauslas, ging von zwei gleichwertigen Imperativformen aus und setzte sich damit von der ersten Deutung Olsens (1908) ab; vgl. GuR, Nr. 62. Eine Erklärung der unterschiedlichen Endungsgrapheme sah er darin, daß wate (gegenüber ligi) die „2. sing, imperativi eines alten en-verbums, got. -ai (habai), ahd. -e {habe), an. -e (vake)" sei: „Das empfiehlt sich sowohl stilistisch als auch aus dem gründe, dass man für die in rede stehende optativflexion einerlei form mit der des konjunktivs ligi, d.h. -t, nicht -e erwarten müsste." (von Grienberger 1910: 390)

Diese Interpretation basiert auf der Annahme, daß der Endungswechsel ~ die etymologische Verteilung der Ultimalängen *-/"(-) versus *-e(-) noch direkt und ungestört reflektiert. Demgemäß stuft Antonsen (1986: 336) Str0m nicht als Übergangsinschrift, sondern als eine der älteren Runeninschriften ein, die nicht später als 450 n.Chr. entstanden sei.

11

Vgl. AnGr, § 505; ferner fOSB, 393b, s.v. Dagegen weist De Vries (AEW, 271b) an. hväta als schwaches Verbum aus. Das Partizip hvätaÖ ist aber als sekundär einzustufen; vgl. AnGr, § 5 0 5 Anm. 3.

12

Siehe Antonsen 1975b: 127 sq.; CGORI, Nr. 45: „wät-e = 2d. sg. imp. wk verb III; skapt, 2d sg. imp., wk verb I or str. verb VI (/-pres.); lig-ϊ, 2d sg. imp., str. verb V (j-pres.)". Indes rechnen einige Interpreten (z.B. Harding 1947: 184; Krähe, HLFG, § 97) mit frühzeitiger Verkürzung idg. *-iie > germ. *-»# > *-ϊ und Apokope (an. dem, sek ut vet)·, vgl. noch SuR, 128. Überdies setzt Haugen (1982: 123) als Ausgangsformen germ. *wali, *dömi ohne Berücksichtigung des Sieversschen Gesetzes an. In diesem Licht sind got. dömei, walei gegenüber der Vokativbildung hatrdi (zu hairdeis m.) jedoch problematisch und müssen als sekundäre Umbildungen erklärt werden (vgl. HbGot, § 257; HLFG, § 97).

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101

Scharfsichtig konstatierte jedoch bereits der norwegische Keltizist und Runologe Carl J. S. Marstrander: „Men behandlingen av e i senere innskrifter i gammelt alfabet er ennä et äpent problem (Strems ska[>i, ligi imp. eller opt.?)." (Marstrander 1952: 152)

Mithin muß zunächst offen bleiben, ob Imperativ- oder Optativformen vorliegen. Gegen Antonsens Erklärung räumte Martin Syrett treffend ein, daß der kausativisch-faktitive Charakter eines Verbums mit Bedeutungsansatz „naß machen", „benetzen" nicht für ein en-Verb, sondern vielmehr für ein jan-Verb spricht.13 Denn eine wesentliche Funktion des Suffixes idg. -ie-l-i6- ist es, Denominativa (Faktitiva) zu Adjektiven zu bilden (z.B. got. hailjan „gesund machen", „heilen" zum Adj. hails „heil", „gesund").14 In der Tat sind auch die Verba an. vceta, ae. w&tan (< germ. *wetijan) typische nordisch-westgermanische Vertreter dieser Gruppe; vgl. daneben die Adjektiva an. vätr, ae. wctt, ne. wet „naß".15 Dem Einwand Syretts versuchte bereits von Grienberger (1910: 390 sq.) mit dem Hinweis auf got. ga-ainan „vereinzeln" (zu ains „eins"), ana-piwan „dienstbar machen", ga-piwan „knechten" (zu pius „Diener") und weihan „weihen" (zu weihs „heilig") zuvorzukommen. Es handelt sich bei diesen schwachen en-Verba jedoch um Denominativa mit ausgesprochen durativer Aktionsart.16 Indes ist der inchoative Aspekt bei dieser Verbklasse deutlich untergeordnet (z.B. ahd. fülett „faul werden", „dahinfaulen") und tritt allenfalls durch ein Präfix stärker hervor (got. ana-silan „stumm werden", „verstummen"). Die Strem-Form wate ist gegenüber got. ga-ainan, ana-silan aber unpräfigiert. Mithin kann prinzipiell eine scharfe Trennungslinie zwischen faktitiv-kausativischen jan-Verba und durativ-statischen en-Verba gezogen werden. An. νώΐα gibt sich sowohl durch seine Etymologie als auch durch seinen Bedeutungsansatz unschwer als schwaches /an-Verbum zu erkennen. 13

Siehe Syrett 1994: 241 sq. Zu weiteren altnordischen Deadjektiva auf *-jan vgl. Schnieders 1938: 91-113; ferner Torp 1974: 42.

14

Vgl. Kluge 1911: §§ 95, 127; GS II, §§ 84 sq.; HLFG, §§ 9 0 sq.; HbGot, §§ 238 sq.; ferner im indogermanischen Kontext: Grundriß II.3, 204 sqq., 225 sq.; IS II, 54; Thumb 1959: §§ 606-609.(mit weiteren Literaturangaben) und Bammesberger 1986: 38. Siehe insbesondere Schnieders 1938: 103; ferner AEW, 672a und lOSB, 1157a, s.v. vceta. Zur dehnstufigen Wurzelform *wet- in an. vätr, ae. wcet, ne. wet siehe Pokorny 1959: 80. Meines Wissens ist Kiil (1953: 84 sq.) der einzige Interpret, der die Verbalform wate nicht an diese Wurzel anknüpft. Vgl. Kluge 1911: § 129; Meillet 1970: 85; HbGot, § 244.2; weniger prägnant formuliert in GS II, § 84.3. Überdies vgl. Primärbildungen wie germ. *pag-e- (> got. pah an) = lat. tacere „schweigen" ( < idg. *tak-e-) und germ. *wit-e- (> got. witan „achtgeben", „bewachen") = lat. videre „sehen" ( < idg. *wid-e-)·, siehe Bammesberger 1986: 39.

15

16

102

Runische Evidenz

Es bleibt festzuhalten, daß eine plausible Deutung der Strem-Formen wate, skajii, ligi zwei wesentliche Vorgaben berücksichtigen muß: 1. Die drei Verba sind formal gleichwertig, d.h. als Vertreter einer Formkategorie zu interpretieren. 2. wate ist seinem faktitiv-kausativischen Charakter gemäß an ein deadjektivisches /Vm-Verbum germ. *wetijan = an. υάΐα anzuknüpfen. 17 Krauses Deutung wirkt daher zunächst am plausibelsten. Er entscheidet sich für die Option, daß drei formal identische Optative der 3. Pers. Sg. Präsens vorliegen. 18 Bei der Besprechung der Halbvokale geht er auf die divergierenden Endungen < - i > versus < - e > ein: „Besonders früh geschwunden ist ein ursprüngliches / vor hellem Vokal: urn. wäte (—» Strem, um 600) < frühurn. *wätije

< urg. *wetiai

.möge nässen'. Nach kurzer Wurzel-

silbe tritt eine weitere Verkürzung ein in den Optativformen skapi

(frühurn.

*skapje)

,möge schaden' und lig(g)i (frühurn. *lig(g)je) ,möge liegen', ebenfalls auf dem Wetzstein von — St rem." (SuR, § 15)

Die Formen ska^i, ligi versus wate gründen demnach auf unterschiedlicher Halbvokalrealisierung *-j— *-ij- nach dem Sieversschen Gesetz. Das denominative Verbum germ. *skapjan, welches einzelsprachlich durch an. skeÖja, got. skapjan, ae. scieööan, afries. skathia vertreten wird, hat eine leichte Stammsilbe mit Struktur [vc]. 19 Dasselbe gilt für das /-Präsens *ligjan (< *legjan)·, vgl. nur an. liggja, woneben - ohne /-Erweiterung - got. ligan und ahd. ligan (< *legan) stehen. 20 Interessant ist zu bemerken, daß die Erklärung Krauses bereits von Magnus Olsen vorgeschlagen wurde. Olsen machte jedoch darauf aufmerksam, daß eine frühzeitige Verkürzung der Ultimalängen in skajji, ligi schwer mit den sprachgeschichtlichen Fakten vereinbar ist: „Rigtignok skulde man i Overenstemmelse med wate overalt vente en KonjunktivEndelse -e; men Kvantitetsforholdene er ikke de samme i skaf>i og ligi som i wate. I de to ferste Ord er Rodstavelsen kort, derimod i wate lang, og da vi ellers ved, at denne Kvantitetsforskjel er af gjennemgribende Betydning for Lydudviklingen i det ferhistoriske nordiske Sprog, kan vi ikke uden videre afvise den Mulighed, at *ιvätie lydret skulde vaere blevet wate, men derimod *skapje og *ligje til ska()i og ligi.

17

Mit dieser Klassifizierung ist zugleich Antonsens (1975b: 128) Argument entschärft, daß

analog zu an. skedja, ae. scieööan, got. skapjan, as. skathan, ahd. skadön, ahd. skaden mit Stammklassenwechsel zu rechnen ist. West- oder ostgermanische Verbalbildungen auf -en, -δη (die im Falle von an. väta, ae. ivätan nicht einmal erwiesen sind) haben für eine nordgermanische Inschrift nur begrenzten Aussagewert. Darüber hinaus ist die janlenMischkonjugation einiger altnordischer Verba (z.B. hafa, segja, pegja) als sekundäres Phänomen einzustufen; siehe Sturtevant 1921: 519 sq. mit Anm. 2; ders. 1957: 15. 18

Siehe RäF 2 , 111 sq.; SuR, Nr. 94; ferner Syrett 1994: 2 4 1 sq.; Birkmann 1995: 176.

19

Vgl. AEW, 4 8 7 a und fOSB, 834a, s.v.

20

Vgl. AEW, 3 5 5 b und fOSB, 562a, s.v. liggja.

skedja.

Runische Evidenz für Vokalabschwächungen

103

Imidlertid turde Sandsynligheden snarest tale for, at Endevokalen i Ord med kort Rodstavelse havde holdt sig uforandret Isengere end i Ord med lang Rodstavelse (jfr. t. Eks. stinu og asmut, af

hinö, samtidigt

*-mundu, paa Sölvesborg-Stenen, samt *u>ätie)." (NIseR II, 6 9 5 )

Stram-Indskiftens hino, d.h.

med wate, af

Die Bedenken Olsens sind berechtigt.21 Neuerdings hat Syrett das Problem nochmals aufgegriffen und zu lösen versucht: „Phonologically the most natural approach must still be to relate the divergence to the length of the preceding syllable, and perhaps argue that while watc reflects the vocalic reflex of the semi-vowel in the ending

*-je

to something like

*-(j)t."

*-ije,

ska|>i and ligi exhibit a local assimilation of

(Syrett 1 9 9 4 : 2 4 2 )

Dies klingt insgesamt vagie. Es bleibt offen, wie der Ansatz eines gehobenen Langvokals *-(j)t bei den Ausgangsformen *skapje, *ligje gerechtfertigt werden soll. Die Berufung auf eine lokale Assimilation kommt einer ad hocErklärung gleich. An anderer Stelle geht Syrett aber nochmals auf diese Frage ein: „If the forms K J 5 0 skaj», ligi are finite verbal forms as seems most likely, then it is quite possible these reflect urnordisch ϊ from the proto-Germanic sequence *-»/-, but as noted above (§ 8.4), this is difficult to demonstrate either way. On comparative grounds, the presence of a unit i within urnordisch is confirmed by other morphemes which happen not to be attested, such as the »-stem nom.pl. and the verbal preterite subjunctive endings." (Syrett 1 9 9 4 : 2 6 7 )

Nunmehr wirkt die Argumentation zirkulär. Syrett selbst hatte zunächst optativische Ausgangsformen *skapje, *ligje mit unsilbisch realisiertem *-/- akzeptiert. Folgerecht kann kein ursprüngliches *Hij zugrundeliegen. Dies wäre nur bei Imperativformen *skapt, *ligt der Fall. Das Problem der divergierenden Endungsgrapheme bleibt somit bestehen.22 Krause selbst erklärt wate als synkopierte Form aus *wätije. Die StremInschrift zeigt demnach bereits Synkope- bzw. Kontraktionserscheinungen.23 21

22

Es kann allenfalls argumentiert werden, daß skapj-, ligj- bis zum Schwund oder Wandel des Halbvokals (i.e. samprasärana) de facto als schwere Silben mit Struktur [vcc] zu messen sind; vgl. die Einstufung des Strukturtypus *kunja in IV.2.1. Entscheidend ist aber, daß die Strem-Inschrift noch keine Synkope zeigt, sondern allenfalls Kontraktionserscheinungen. Daher ist eine Verkürzung *-je(-) > * - ' ( - ) in der Tat als ad hoc-Annahme abzulehnen; siehe das Folgende. Vgl. die Einschätzung Antonsens 1 9 7 5 b : 1 2 7 : „Actually, the optative forms of these verbs would derive from Proto-Germanic forms with the suffixes */-(i)j-ai/, which would have produced the runic forms *watije, *skaf>je, and "ligje, or even if we were to accept the implausible loss of *-(i)j-, then the forms would have to be *watc, "skajje, and Mige."

23

Demnach wäre der j-Umlaut bereits durchgeführt: wate = /wsete/; vgl. Olsen 1 9 0 8 : 11; NlaeR II, 6 8 7 . Angesichts der Tatsache, daß auch Bys hroReR ( B . l ) phonematischen «-Umlaut voraussetzt, dürften sich in dieser Hinsicht keinerlei chronologische Bedenken erge-

104

Runische Evidenz

Die Parallelformen s k a ^ i , ligi < *skapje, *ligje führt Krause auf eine Verkürzung zurück, die ihrerseits von postkonsonantischem /-Schwund „vor hellem Vokal" begleitet wird. Die Formen skaj)i, ligi würden somit gleichzeitig eine Hebung von *-je in Richtung auf *-(/)' dokumentieren. Diese Annahme ist notwendig, um den postkonsonantischen /'-Schwund in den zugrundegelegten Optativ-Formen zu erklären. Wenn Syretts Annahme einer spontanen Assimilation *-je > *-(j)t abgelehnt wird, bleibt in der Tat nur die Möglichkeit einer derartigen Verkürzung. 24 Angesichts des Reduktionsstandes der Str0m-lnschrift ist diese Interpretation jedoch bedenklich. Die Formen hali = hal(l)i, horna und ha|>u sind nicht apokopiert. Im Demonstrativum Akk. Sg. m. hino liegt offenbar eine ungekürzte Ultimalänge vor ( < germ. *hinön). M i t Grenvik ( 1 9 8 7 : 1 7 0 ) setzt ein natürlicher Reduktionsverlauf voraus, daß die Synkope/Apokope der Verkürzung entsprechender Ultimalängen vorausgeht. Andernfalls müßten auch die bereits verkürzten Langvokale von der Synkope/Apokope erfaßt werden. Altnordische Formen wie 3. Sg. Konj. Präs.

skedi, liggi (zu skedja, liggja) zeigen aber gegenüber Akk. Sg. hall, horn (zu hallr m., horn η.) keine Synkope/Apokope. Bereits Olsen (NIasR II, 6 9 5 ) erkannte den inhärenten Widerspruch dieser Deutung und faßte s k a ^ i , ligi deshalb als Imperative auf (s.o.). Damit gerät aber zugleich die optativische Deutung der Parallelform wate ins Wanken. Krauses Interpretation ist unvereinbar mit dem Reduktionsstand der S t r 0 m Inschrift, welcher ein relativ hohes Alter bekundet. 25 W i e sich zeigte, stoßen die Interpretationen Antonsens und Krauses auf unüberwindbare Schwierigkeiten, weil sie das Schlußgraphem < - e > von wate als direkten Fortsetzer von altem *-e bzw. *-ije werten.

ben; vgl. IV.3.8. - Zu weiteren möglichen Kontraktionstendenzen in frühnordgermanischer Zeit vgl. Strams ha[)u, sofern < Eikelands asni, sofern < 24

*ös(a)nije

*hawipu,

Eikelands wiR, sofern
[vj], aber [VjV2] > [v 2 ]; vgl. Donegan 1 9 7 8 : 5 6 sq. et passim.

25

Im Gegensatz zu Krause (RäF 2 , Nr. 5 0 ) befürwortet Antonsen (CGORI, Nr. 4 5 ) eine Frühdatierung der Stram-Inschrift um 4 5 0 n.Chr. Vgl. auch Antonsens Fazit in 1 9 7 5 b : 1 3 2 : „We can therefore be relatively certain that our work-song is a product of the fifth century, or of the beginning of the sixth century at the latest." Aufgrund runologischer Kriterien (v.a. F o r m der k-Rune) hält Birkmann ( 1 9 9 5 : 1 4 5 sq., 1 7 6 ) an einem späten Zeitansatz zwischen 5 5 0 und 6 0 0 fest; dagegen aber Antonsen 1 9 8 6 : 3 3 5 sq. Ohne Zweifel beruht die Spätdatierung auf einem Kompromißversuch, der die vermeintlichen Übergänge

*ivätije > wate

und

*skapje, *ligje

> ska|>i, ligi einbezieht. De facto steht der Ein-

ordnung Strams um 5 0 0 / 5 2 5 n.Chr., d.h. in engster zeitlicher Nähe zu By, nichts im Weg.

105

Runische Evidenz für Vokalabschwächungen

Indes ist es wahrscheinlich, daß die Endungsvokale < - e > ~ < - i > von wate, ska(>i, ligi nicht mehr die etymologische Verteilung von altem *-e versus *-t adäquat widerspiegeln. Vielmehr kann Strems wate < *wätt ähnlich eingestuft werden wie Bys hroReR < *hröRiR (< *hrözijaz). Beide Belege sind Paradebeispiele einer frühnordgermanischen Qualitätsreduktion *-/(-) > *-£(-) nach schwerer Silbe. Demgemäß können die drei Verbalformen wate, ska^i, ligi im Anschluß an Antonsen als formal identische Imperative gedeutet werden: wate < *wät-i, skajji < *skap-t, ligi < *lig-f. Allerdings wird wate nicht an ein en-Verb, sondern an ein schwersilbiges ijan-Verb angeknüpft, wie es dem Charakter

von an. νάΐα (und ae. w&tan) entspricht.

Die divergierende Endungswiedergabe ist dann auf zweifache Art und Weise erklärbar: 1. Möglich ist eine zeitliche Staffelung dieser Senkungstendenz in Abhängigkeit vom Schweregrad der Stammsilbe. Wie andere Reduktionserscheinungen dürfte auch der Übergang *-/(-) > -e(-) früher nach schwerer als nach leichter Stammsilbe eintreten (zur entsprechenden Staffelung der Reduktion von Kurzvokalen siehe unter D . l ) . Folglich repräsentiert die StremInschrift eine Zwischenstufe, auf der *-/(-) vorerst nur partiell, d.h. nach schwerer Stammsilbe, abgesenkt ist. 26 2. Alternativ hierzu können quantitativ verschiedene Ausgänge nach dem Sieversschen Gesetz angesetzt werden: wate mit Ultimalänge *-e < *-t < *-i{-e, skajji, ligi mit Ultimakürze *-ϊ < *-ii < *-(i)(-e.27 Beide Erklärungen erweisen sich als plausibel. Die apokopierten Kontinuanten des Imperativs 2. Sg. an. ska5, ligg (nebst dem, vel) sprechen vielleicht eher für die zweite Möglichkeit, wobei im diametralen Gegensatz zum Gotischen ( d ö m e i , walei) die kürzere Endung im Altnordischen verallgemeinert worden wäre. 28 Aus dieser Perspektive fügen sich die Formen wate, ska^i und ligi zwanglos in das Gesamtbild ein und sind ohne weitere Hilfskonstruktionen interpretierbar. Sie liefern ein wichtiges Indiz für frühzeitige nordgermanische Vokalabschwächungen im Vorfeld der Synkope. Diese Beobachtungen stehen

26

Dies bedeutet zugleich, daß der »-Umlaut vorerst nur in Schwersilbern wie wate und hroReR ( = /wafete/ bzw. /hröReR/) phonematisch verankert ist, nicht aber in einem Leichtsilber wie skat>i ( = /ska^T/). Für die entsprechende Senkung t > e nach leichter Stammsilbe fehlen aussagekräftige Belege.

27

Z u m Ansatz einer Ultimakürze -« bei ska(>i, ligi vgl. Olsen in NIaeR II, 6 9 5 .

28

Zur lautgerechten Beurteilung der Form got.

sOkei ( = *-t
für < R a > bei einer Binderune ohne weiteres möglich. Anders wird die Sequenz runoaRsni von Ottar Grenvik beurteilt. 38 Er übernimmt zwar Krauses Lesung und Segmentierung mit Umstellung von < a R > , deutet den Schlußkomplex asni aber ohne weitere Konjektur als Kontinuante eines i/d-Stammes *ps(a)nijaz „Geliebte(r)", hier im Dat. Sg. abhängig vom Verbum writu. Die Form wäre somit cpsni zu lesen und ginge auf älteres *Qs(a)nije < germ. *ans(a)nijai zurück. Den Bedeutungsansatz „Geliebte(r)" rechtfertigt Granvik (1987: 53) damit, daß er asni zur Wurzel germ. * aus-

stellt und in die Sippe von an. äst, unna (Prät. ann - unnum) einreiht; Grenvik zieht die Tune-Sequenz asijosteR vergleichend heran. 39 Dieser Herleitung schließt sich Martin Syrett prinzipiell an, wobei er jedoch eine direkte Anknüpfung an den belegten //ö-Stamm got. asneis „Tagelöhner" sowie ahd.

asni „Knecht", ae. Esne n.pr. vorzieht.40

Auch bei dieser Interpretation wäre die -Schreibung des Endsilbenvokals nicht etymologisch gerechtfertigt. Gr0nvik rechnet mit dem Einfluß der Interimsform Nom. Sg. *$sniR (bzw. schon *#sntR) und postuliert darüber hinaus einen besonderen Ubergang *-ije > *-iji > -Γ.41 Aus historischer Sicht wäre -e zweifellos als regulärer Reflex eines alten Ausgangs *-ije zu betrachten, egal ob mit lautgerechter Synkope der Mittelsilbe oder mit besonderer Kontraktion gerechnet wird. Theoretisch bestehen zwei Erklärungsmöglichkeiten für die irreguläre < i > Schreibung: 1. Aufgrund der Senkung *-*(-) > *-e(-) ist bei asni (wie bei haitika) die Möglichkeit einer umgekehrten Schreibung gegeben. Durch partielle Aufhebung des phonologischen Kontraste *-/"(-) : *-e (-) wird das Graphem < i > funktional frei, um unbetontes *e zu bezeichnen. Zudem kann auf phonetischer Ebene argumentiert werden, daß die Varianzbreite des Phonems */e/ aufgrund der partiellen Neutralisation des Kontraste */V : */e/

38

Siehe Granvik 1 9 7 6 : 148 sqq.; ders. 1 9 8 7 : 5 3 , 5 9 ; referiert von Peterson 1 9 9 4 b : 1 3 8 und Birkmann 1 9 9 5 : 8 5 sq.

39

Granvik 1 9 7 6 : 1 5 9 - 1 6 3 ; ders. 1 9 8 7 : 5 3 ; kritisch hierzu Syrett 1 9 9 4 : 8 9 sq. Im übrigen gibt Antonsen ( 1 9 8 6 : 3 3 0 ) Krauses Lesung arjosteR (gegenüber asijosteR) den Vorzug.

40

Syrett 1 9 9 4 : 9 0 Anm. 2 3 ; vgl. G E D , 45a, s.v.

asneis

(A 2 0 9 ) . Syrett weist zudem auf den

Gebrauch dieses Stammes bei Eigennamen hin; zu ae. 1897: 236. 41

Siehe Granvik 1 9 7 6 : 163 [Nom. Sg.

#sntR]·,

Esne

siehe die Belege bei Searle

ders. 1 9 8 7 : 5 9 , 1 1 0 [Nom. Sg.

äsniR]. -NB.:

W i e sich zeigte, ist der Ausgang der Eikeland-Form asni nicht mit dem der S t r a m - F o r m wate vergleichbar, da letztere nicht aus leiten ist; siehe B . 2 .

*wätije

(Opt.), sondern aus

*wäti (Imper.)

herzu-

110

Runische Evidenz

zunimmt. Der vergrößerte Realisierungsspielraum der Ultimalänge */e/ führt zu einem (ortho-)graphischen Schwanken < i > ~ < e > . Diese Erklärung ist allerdings nur für ein frühes Übergangsstadium anwendbar, in dem noch keine Synkope der Ultimakürze *i nebst Verkürzung der Ultimalängen *i, *e stattgefunden hat. 42 2. Weniger ansprechend erscheint die Annahme einer Verkürzung *-e(-) > *-!{-) in Verbindung mit phonetischer Hebung des resultierenden Kurzvokals. Demzufolge müßte bereits um 550 n.Chr. mit partieller Kürzung der Ultimalängen *-